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German Pages 1080 Year 2014
Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Wolff Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts
Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Wolff
Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts
Deutschland – Österreich – Schweiz
ISBN 978-3-11-030377-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-030378-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038114-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer gewidmet.
Vorwort Aufgrund der engen Verbindung von Praxis und Theorie in der Schweiz, in Österreich und Deutschland besitzt die wissenschaftliche Durchdringung des Staatsrechtes nicht nur einen akademischen, sondern einen darüber hinausgehenden Wert. Wissenschaftliche Leistungen sind immer personenbezogen. Daher macht sich das beiliegende Sammelwerk, in der Wahlverwandtschaft zu dem von Stefan Grundmann und Karl Riesenhuber herausgegebenen Band „Deutschsprachige Zivilrechtler des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler“ und dem Band „Die deutschsprachigen Strafrechtswissenschaftler in Selbstdarstellungen“, herausgegeben von Eric Hilgendorf, zum Gegenstand, 67 namhafte Staatsrechtslehrer der Schweiz, Österreichs und Deutschlands zusammenzustellen. Bereits vor diesen biographischen Darstellungen juristischer Fächer hat der Mitherausgeber dieses Sammelbandes, Peter Häberle, in den von ihm herausgegebenen Jahrbüchern des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR) Selbstdarstellungen und Würdigungen von Staatsrechtslehrern angeregt. Erstmals geschah dies 1983 im JöR Bd. 32, 31 ff. (v. Simson), als weitere Beispiele seien genannt JöR 58, 337 ff. (Bernhardt), 62, 485 ff. (Hangartner), 499 ff. (Fromont), 511 ff. (Oppermann), 528 ff. (Thürer) sowie Bd. 61, 599 ff. (Stern). Als Geehrte fiel die Wahl auf solche Staatsrechtslehrer, deren Wirken schwerpunktmäßig in das 20. Jahrhundert fällt, die mittlerweile verstorben sind und deren Wirken vornehmlich auf wissenschaftlichem Gebiete liegt. Die Autoren wurden zunächst formal danach ausgewählt, ob sie unter die Kategorie der Schülerin oder des Schülers, des Staatsrechtslehrers oder einer sonstigen wissenschaftlichen Verbindung fielen. Die Herausgeber haben sich sowohl bei der Auswahl der Geehrten als auch bei der Auswahl der Bearbeitung bemüht, die genannten formalen Kriterien einzuhalten und in diesem Rahmen möglichst Pluralität zu bewirken. Sie sind sich dabei bewusst, dass jeder Auswahl etwas Willkürliches anhaftet. Sicher gibt es sowohl unter den Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts als auch unter denen des 21. Jahrhunderts Persönlichkeiten, deren Mitwirkung in gleicher Weise berechtigt wäre wie die der ausgewählten. Da der Band sich auf maximal 70 Öffentlich-Rechtler der drei Länder beschränken sollte, war eine Auswahlentscheidung jedoch unumgänglich. Zwei Staatsrechtslehrer wurden bzw. werden von Michael Kilian gesondert gewürdigt, so Roman Schnur in: „Roman Schnur – Ein deutscher Staatsrechtslehrer in Polen“, erschienen 2012 in P. Kardas/T. Sroka/W. Wrobel (Hg.), Panstwo Prawa I Prawo Karne, Krakauer Festschrift für Andrzej Zoll, Warszawa, Wolters Kluwer Polska, Band I, S. 207-227; sowie Otto Kirchheimer in W. Kohte u. a. (Hg.), Festschrift für Armin Höland, erscheint in Halle im Frühjahr 2015. An dieser Stelle möchten die Herausgeber ganz herzlich all denen danken, die an der Fertigstellung dieses Werkes in vorliegender Form mitwirkten, an erster Stelle zunächst den Autoren und dem Verlag, genannt seien hier Herr Jan Martin
VIII
Vorwort
Schmidt, Frau Maria Erge und Frau Virginia Engels. Aber auch den Familien der Geehrten sei für das Heraussuchen der Fotos und für die Abdruckgenehmigung ganz herzlich gedankt. Peter Häberle Bayreuth
Michael Kilian Halle (Saale)
Heinrich Amadeus Wolff Bayreuth
Inhaltsverzeichnis Bearbeiterverzeichnis
XVII
I Paul Laband (1838–1918) Reinhard Mußgnug
3
II Georg Meyer (1841–1900) Pascale Cancik
29
III Otto Mayer (1846–1924) Dirk Ehlers
47
IV Georg Jellinek (1851–1911) Jens Kersten V Hugo Preuß (1860–1925) Dian Schefold
59
71
VI Gerhard Anschütz (1867–1948) Christian Waldhoff VII Fritz Fleiner (1867–1937) Giovanni Biaggini
111
VIII Heinrich Triepel (1868–1946) Andreas von Arnauld IX Richard Thoma (1874–1957) Kathrin Groh
93
129
147
X
Inhaltsverzeichnis
X Max Huber (1874–1960) – Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts Andreas Kley XI Walther Schücking (1875–1935) Christian Tietje XII Hans Nawiasky (1880–1961) Yvo Hangartner †
175
187
XIII Erich Kaufmann (1880–1972) Jochen Rozek
201
XIV Hans Kelsen (1881–1973) Horst Dreier
219
XV Rudolf Laun (1882–1975) Walter Pauly
243
XVI Rudolf Smend (1882–1975) Helmuth Schulze-Fielitz
255
XVII Ottmar Bühler (1884–1965) Ekkehart Reimer
273
XVIII Walter Jellinek (1885–1955) Martin Schulte
299
XIX Carl Schmitt (1888–1985) Matthias Jestaedt
313
161
Inhaltsverzeichnis
XX Alfred Verdross (1890–1980) Bruno Simma XXI Adolf Merkl (1890–1970) Herbert Schambeck
339
353
XXII Mein Vater Ludwig Adamovich (1890–1955) Ludwig Adamovich XXIII Dietrich Schindler (sen.) (1890–1948) Daniel Thürer XXIV Hermann Heller (1891 – 1933) Uwe Volkmann
393
XXV Karl Loewenstein (1891–1973) Oliver Lepsius
411
371
381
XXVI Zaccaria Giacometti (1893–1970) – Staatsrechtslehre als Kunst? Andreas Kley XXVII Hermann von Mangoldt (1895–1953) Heinrich Amadeus Wolff XXVIII Hans Peters (1896–1966) Wilfried Berg XXIX Carlo Schmid (1896–1979) Michael Kilian
471
485
457
439
XI
XII
Inhaltsverzeichnis
XXX Hans J. Wolff (1898–1976) Markus Möstl
507
XXXI Friedrich Berber (1898–1984) Albrecht Randelzhofer XXXII Ernst Fraenkel (1898–1975) Alexander von Brünneck
519
529
XXXIII Hans Huber (1901–1987) – der „Preis der Unsicherheit und der Unruhe“ Andreas Kley XXXIV Carl Joachim Friedrich (1901–1984) Stephan Kirste XXXV Theodor Maunz (1901–1993) Peter Lerche XXXVI Gerhard Leibholz (1901–1982) Von Christian Starck XXXVII Ernst Friesenhahn (1901–1984) Hans Meyer
555
575
581
593
XXXVIII Ernst Forsthoff (1902–1974) Hans Hugo Klein
609
XXXIX Arnold Köttgen (1902–1967) Peter Badura
629
539
Inhaltsverzeichnis
XIII
XL Ernst Rudolf Huber (1903–1990) – Vom neohegelianischen Staatsdenken zur etatistischen Verfassungsgeschichte 641 Christoph Gusy XLI Ulrich Scheuner (1903–1981) Wolfgang Rüfner
655
XLII Werner Weber (1904–1976) Eberhard Schmidt-Aßmann
671
XLIII Herbert Krüger (1905–1989) Thomas Oppermann
689
XLIV Wolfgang Abendroth (1906–1985) Ulrich K. Preuß
703
XLV Hans Peter Ipsen (1907–1998) Klaus Stern
717
XLVI Walter Antoniolli (1907–2006) Karl Korinek
735
XLVII Den Staat denken – Werner von Simson (1908–1996) Wolfgang Graf Vitzthum XLVIII Georg Schwarzenberger (1908–1991) Heinhard Steiger XLIX Werner Kägi (1909–2005) Walter Haller
779
759
743
XIV
Inhaltsverzeichnis
L Wilhelm G. Grewe (1911–2000) Jochen A. Frowein LI Hans Schneider (1912–2010) Reinhard Mußgnug
791
799
LII Hermann Mosler (1912–2001) Christian Tomuschat
813
LIII Karl August Bettermann (1913–2005) Detlef Merten LIV Otto Bachof (1914–2006) Dieter H. Scheuing
825
847
LV Karl Josef Partsch (1914–1996) Rüdiger Wolfrum
867
LVI Max Imboden (1915–1969) – Aufbruch in die Zukunft Andreas Kley LVII Konrad Hesse (1919–2005) Peter Häberle
893
LVIII Karl Doehring (1919–2011) Torsten Stein
909
LIX Helmut K. J. Ridder (1919–2007) Karl-Heinz Ladeur
921
877
Inhaltsverzeichnis
LX Günter Dürig (1920–1996) Walter Schmitt Glaeser
933
LXI Der Elefant – Ein Gespräch mit Peter Schneider (1920–2002) über das Recht. 951 Erhard Denninger LXII Felix Ermacora (1923–1995) 967 Christoph Schlintner/Gerhard Strejcek LXIII Helmut Quaritsch (1930–2011) Bernd Grzeszick
981
LXIV Dimitris Th. Tsatsos (1930–2010) – Ein Mann der Vielfalt Martin Morlok LXV Klaus Vogel (1930–2007) Paul Kirchhof LXVI Peter Saladin (1935–1997) Diemut Majer LXVII Klaus Schlaich (1937–2005) Stefan Korioth Bildnachweis
1057
1005
1021
1045
993
XV
Bearbeiterverzeichnis Adamovich, Ludwig, O. Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. mult.; Geboren 1932 in Innsbruck. Doktor iuris 1954. Insgesamt 25 Jahre im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes; dazwischen 3 Jahre Professor an der Universität Graz. Von 1984 bis Ende 2002 Präsident des Verfassungsgerichtshofes. Seit September 2004 ehrenamtlicher Berater des Bundespräsidenten für verfassungsrechtliche Fragen. Ehrenmitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 3 Ehrendoktorate und zahlreiche weitere in- und ausländische Ehrungen. von Arnauld, Andreas, geb. 1970, Promotion 1998, Habilitation 2005, ist seit 01.10.2013 Professor für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völker- und Europarecht und Ko-Direktor des WaltherSchücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel. Badura, Peter, geb. 1934 in Oppeln/OS, Promotion in Erlangen 1969, Habilitation in Erlangen 1962, o. Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie in München 1970, emeritiert 2002 Berg, Wilfried, Prof. Dr. jur.; em. Ordinarius für Öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bayreuth, Mitglied des Bay. Verfassungsgerichtshofs Biaggini, Giovanni, Prof. Dr.; Ordinarius für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht, Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich (Freiestrasse 15 CH-8032 Zürich) von Brünneck, Alexander, geb. 1941, Promotion 1976, Habilitation 1983, von 1992 bis 2006 Professor für Öffentliches Recht, insbes. Staatsrecht und Verfassungsgeschichte an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Cancik, Pascale, Prof. Dr.; geb. 1967, Direktorin des Instituts für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück. Forschungsgebiete: Parlamentsrecht, Umweltrecht, Geschichte des Verwaltungsrechts. Forschungsinteresse: Rechtspraxis, Rechtskommunikation, Implementation, Disziplinenkontakt. Denninger, Erhard, Dr. jur., Dr. iur. h.c. (Universität Florenz), emeritierter o. Prof. für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dreier, Horst, geb. 1954, Promotion 1985, Habilitation 1989, hat nach Stationen in Heidelberg und Hamburg seit dem WS 1995/96 den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg inne. Ehlers, Dirk, Habilitation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, 1981, Ehrenpromotion an der Chuo-Universität Tokio, 2014; war von 1982 bis zu seiner Emeritierung (2013) Universitätsprofessor der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster und leitete dort das Institut für öffentliches Wirtschaftsrecht. Nunmehr ist er Leiter des Zentrums für öffentliches Wirtschaftsrecht. Frowein, Jochen Abr., geb.1934, Professor Bochum 1967, Bielefeld 1970, Heidelberg 1981–2002, Direktor Max-Planck-Institut für Völkerrecht 1981–2002, Mitglied Europäische Kommission für Menschenrechte 1973–1993.
XVIII
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Groh, Kathrin, geb. 1969, Promotion 2003, Habilitation 2008, hat seit 2011 eine Professur für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr in München. Grzeszick, Bernd, Prof. Dr., LL.M.; Nach Professuren in Münster, Erlangen und Mainz seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Instituts für Staatsrecht, Verfassungslehre und Rechtsphilosophie der Universität Heidelberg, seit 2011 zudem Direktor des Heidelberg Center for American Studies (HCA). Seit 2013 ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Gusy, Christoph, Dr. jur, Universitätsprofessor (seit 1993 an der Uni Bielefeld) für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte. Häberle, Peter, Prof. Dr. Dr. h.c. mult.; Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht, Universität Bayreuth; em. ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie St. Gallen; Gastprofessuren in Rom und Granada sowie Lateinamerika, Autor von 55 Büchern, Übersetzungen in mehr als 15 Sprachen. Haller, Walter, geb. 1939, Prof. für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsvergleichung an der Universität Zürich von 1975–2004 und Leiter des dortigen Instituts für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht ab 1990 bis zur Emeritierung. Hangartner, Yvo † (1933–2013) war Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen (1971–1996) und Leiter des dortigen Instituts für Verwaltungskurse (heute Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis), das H. Nawiasky gegründet hatte. Jestaedt, Matthias, geb. 1961, Promotion 1992, Habilitation 1999, hatte 2002–2011 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg und hat seit 2011 einen gleichnamigen Lehrstuhl an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. inne. Kersten, Jens, 1967; 1989–1994 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Leeds (GB) und Bonn; 1999 Promotion und 2004 Habilitation an der Juristischen Fakultät der Humbildt-Universität zu Berlin; seit 2008 Professur für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Kilian, Michael, Prof. em. Dr., Juristische und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt a. D., seit 2014 Rechtsanwalt in Dresden Kirchhof, Paul, Professor Dr. Dr. h.c. mult.; Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg, Forschungsstelle für Staats-und Steuerrecht, Bundesverfassungsrichter a. D. Kirste, Stephan ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie im Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg. Interessenschwerpunkte sind: Rechtsphilosophie (Menschenrechte, Rechtspaternalismus, Recht und Zeit, Gerechtigkeit, Geschichte der Rechtsphilosophie) und Verfassungsvergleichung. Klein, Hans Hugo, geb. 1936, Promotion 1961, Habilitation 1967, 1969 bis 2001 Univ.-Prof. für Öffentliches Recht an der Georg-August-Universität zu Göttingen, 1972 bis 1983 MdB, 1982 bis 1983 Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, 1983 bis 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts
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XIX
Kley, Andreas, geb. 1959, Promotion 1989, Habilitation 1995, ist seit 01.09.1997 Professor an der Universität Bern, und seit 1.3.2005 an der Universität Zürich für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie. Korinek, Karl, geb. 1940, Promotion Wien 1963, Habilitation Salzburg 1970, Dr. Dr. h.c. mult., o Univ.Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Graz (1973–1976), der Wirtschaftsuniversität Wien (1976–1995) und der Universität Wien (1995–2004). Seit 1978 Mitglied und seit 2003 Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (bis 2008). Korioth, Stefan, geb. 1960, Promotion in Bonn 1990, Habilitation in Bonn 1996, 1996–2000 Lehrstuhl für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte und Staatslehre an der Universität Greifswald, seit 2000 Lehrstuhl für öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität München. Ladeur, Karl-Heinz, em. Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Hamburg, ehem. Distinguished Bremen Professor an der Bremen International Graduate School of Social Sciences, zwischen 1994–2002 auch Professor am Europäischen Hochschulinstitut, Florenz, zuletzt erschienen: Das Recht der Netzwerkgesellschaft, Gesammelte Aufsätze, Mohr: Tübingen 2013 Lepsius, Oliver, geb. 1964, Dr. jur. 1993, LL.M. (Univ.of Chicago) 1993, Habilitation 2000, lehrt öffentliches Recht, ausländisches öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Bayreuth. Lerche, Peter, Professor Dr. Dr. h.c., geboren 1928 in Leitmeritz, heute Tschechien; 1961 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht an der FU Berlin, von 1964 bis zur Emeritierung 1996 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians Universität München; lebt in Gauting bei München. Majer, Diemut, Prof. Dr. jur. utr., Tit.prof. (em.) Universität Bern, Lehrbeauftragte für Europarecht und Umweltrecht an der Universität Karlsruhe (KIT) Morlok, Martin; geboren 1949; Promotion 1986; Habilitation 1991; Professuren an den Universitäten Augsburg, Jena, FernUniversität Hagen. Seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Außerdem seit 1997 Direktor des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Merten, Detlef, o. em. Univ.-Prof. Dr. Dr.; geboren 29.11.1937; Dr. rer. Pol. (1964); Dr. jur. (1969); Habilitation 1971, FU Berlin („Negative Grundrechte“); venia legendi für Staats- und Verwaltungsrecht, Sozialrecht; 1972 bis 2006 Lehrstuhlinhaber an der (Deutschen) Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; 1974 bis 1983 Richter i. N. OVG Koblenz; 1983 bis 2007 Mitglied des VerfGH Rheinland-Pfalz Meyer, Hans, geb. 1933, Promotion 1967, Habilitation 1971, Professor für Staats-, Verwaltungsund Finanzrechtrecht an der Frankfurter Universität von 1974 bis 1996, an der Humboldt-Universität ab 1996, dort bis 200O Präsident, 1993 jur. Ehrendoktor, 2000 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 2013 Ernennung zum Großoffizier des Verdienstordens der italienischen Republik. Möstl, Markus, Prof. Dr.; Lehrstuhl für Öffentliches Recht II, Universität Bayreuth Mußgnug, Reinhard, geb. 1935 in Mannheim, Promotion 1964, Habilitation 1969, beide in Heidelberg. Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Finanzund Steuerrecht in Berlin (1971), Mannheim (1975) und Heidelberg (1978); seit 2001 emeritiert.
XX
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Oppermann, Thomas, geb. 1931, em. o.Professor Dr. iur. Dres h.c. Eberhard- Karls- Universität Tübingen (seit 1967) Pauly, Walter, Univ.-Prof. Dr. Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Friedrich-Schiller-Universität Jena Preuß, Ulrich K. ist Professor i. R. der Freien Universität Berlin, wo er von 1996 bis 2005 Öffentliches Recht und Politik lehrte, sowie Professor emeritus der Hertie School of Governance, Berlin, an der er von 2005 bis 2010 die Professur für Law and Politics innehatte. Von 1992 bis 2011 war er Mitglied des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen. Randelzhofer, Albrecht, seit April 1976 ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Europarecht. 1982–1990 mehrfach Gastprofessor an der Universität Cambridge (UK). 1985–1997 Mitglied des Permanent Court of Arbitration in The Hague. 1992–2000 Fachgutachter für Völkerrecht der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1992–2002 Mitglied des Völkerrechtswissenschaftlichen Beirates des Auswärtigen Amtes. 1997–2004 Richter am Verfassungsgerichtshof Berlin. Reimer, Ekkehart, geb. 1969, nach Promotion und Habilitation an der Universität München (2004) seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europäisches und Internationales Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Direktor des dortigen Instituts für Finanz- und Steuerrecht. Von 2009 bis 2013 Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Rozek, Jochen, Prof. Dr.; ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig sowie stellv. Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes Rüfner, Wolfgang, geb. 1933, Promotion 1962, Habilitation 1966, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Kiel 1969, an der Universität des Saarlandes 1979, Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität zu Köln 1985, emeritiert 1998, Leiter des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands 1998–2010. Schambeck, Herbert Dr. Dr. h.c. mult. em. Uni-Prof. für öffentliches Recht, Politische Wissen schaften und Rechtsphilosophie an der Universität Linz, Präsident des Bundesrates der Republik Österreich i.R., Wien Schefold, Dian, Dr. jur. Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Universität Bremen (i. R.). Scheuing, Dieter H., Prof. Dr.; 1983–2006 Ordinarius an der Bayerischen Julius-MaximiliansUniversität Würzburg (Lehrstuhl für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht/Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht), nunmehr im Ruhestand Schlintner, Christoph, Mag.; geboren 1983 Wien, Dipl stud. Rechtswissenschaften Wien ab 2003 Mag.iur. 2008, 2008–2013 Wiss. Projektmitarbeiter am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, seit 2013 Jurist für studienrechtliche Angelegenheiten an der Universität Wien Schmidt-Aßmann, Eberhard, Dr. (em.) Professor für Öffentliches Recht an der Universität Heidelberg.
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XXI
Schmitt Glaeser, Walter, geb. 1933, Dr. Dr. h.c., ist em. Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth, war Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Mitglied des Bayrischen Verfassungsgerichtshof und Präsident des Bayrischen Senats. Schulte, Martin, Dr. Universitätsprofessor; seit 1994 Ordinarius für Öffentliches Recht und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Technik- und Umweltrecht der Juristischen Fakultät der TU Dresden Schulze-Fielitz, Helmuth, (* 1947) Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften an den Universitäten Göttingen, Frankfurt a. M. und Marburg; Dipl.-Sozialwirt Göttingen 1977; Promotion Augsburg 1977; Habilitation Bayreuth 1986; Professur an der Universität der Bundeswehr München 1989; Ordinarius für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg 1994–2012. Simma, Bruno, Professor an den Universitäten München (seit 1973) und Michigan (seit 1986); Mitglied der UN-Völkerrechtskommission 1997–2002; Richter am Internationalen Gerichtshof 2003–2012; Richter am Iran-United States Claims Tribunal seit 2012; Schiedsrichter in zwischenstaatlichen und Investitionsstreitigkeiten; assoziiertes Mitglied des Institut de Droit international. Starck, Christian, geb. 1937; Promotion 1963, Assessor 1964, Habilitation 1969, seit 1971 o. Professor des Öffentlichen Rechts an der Universität Göttingen, Rektor 1976/1977, Richter des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs 1991–2006, o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen seit 1982, 2008–2012 deren Präsident. Ehrenpräsident der International Association of Constitutional Law (seit 2004) und der Societas Iuris Publici Europaei (seit 2007), korrespondierendes Mitglied der Real Academia de Jurisprudencia y Legislación (Madrid) seit 2010, Ehrenmitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Republik Korea seit 2012. Steiger, Heinhard, LL.M. (Harvard) 1959, Promotion Münster 1963, Habilitation Münster 1970, Wissenschaftlicher Rat und Professor Münster 1971, Professur für Öffentliches, Europarecht, Völkerrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen 1975, Emeritierung 2001. Stein, Torsten, Prof. (em.) Dr.; Lehrstuhl für Europarecht und Europäisches Öffentliches Recht und Direktor des Europa- Instituts (Sektion Rechtswissenschaft), Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Stern, Klaus, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., em. ord. Professor für öffentliches Recht, Universität zu Köln, Richter des Verfassungsgerichtshofes für das Land Nordrhein-Westfalen, a. D. Strejcek, Gerhard, ao. Univ.-Prof. Dr.; geboren 1963 in Wien, ebendort Studium der Rechtswissenschaften; 1986: Mag.iur.; 1989: Dr.iur.; bis 1989 Vertragsassistent am Institut für Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Wirtschaftsuniversität Wien ab 1990 Universitätsassistent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien; 1991/1992 dem Verfassungsgerichtshof zugeteilt; 2000: Habilitation in den Fächern Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie allgemeine Staatslehre, Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor Thürer, Daniel, Prof. Dr. iur. Dr. rer. publ. h.c., LL.M. (Cambridge), bis 2010 Professor an der Universität Zürich für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und Verfassungsvergleichung. Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Mitglied der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates, Mitglied des ‚Institut de droit international‘, Mitglied des Cour permanant d‘arbitrage.
XXII
Bearbeiterverzeichnis
Tietje, Christian, Prof. Dr., LL.M. (Michigan); Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht und Leiter der Forschungsstelle für Transnationales Wirtschaftsrecht an der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Tomuschat, Christian, Dr. Dr. h.c. em. Professor an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Präsident des Vergleichs- und Schiedsgerichtshofs innerhalb der OSZE Vitzthum, Graf Wolfgang, Prof. Dr. Dr. h.c. LL.M. (Columbia), Universität Tübingen. Volkmann, Uwe, geb. 1960, Promotion 1992, Habilitation 1998, ist seit Dezember 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Waldhoff, Christian, Prof. Dr.; Jahrgang 1965, Studium der Rechtswissenschaft in Bayreuth, Fribourg, München und Speyer, 2003 bis 2012 Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht in Bonn, seit 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wolff, Heinrich Amadeus, geb. 1965, Promotion 1996, Habilitation 1998, hat seit 01.03.2014 eine Professur für Öffentliches Recht, Recht der Umwelt, Technik und Information an der Universität Bayreuth. Wolfrum, Rüdiger, em. Prof. Dr. Dr. h.c.; Juristische Fakultät Heidelberg, Direktor am Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
I Paul Laband (1838–1918) Reinhard Mußgnug Paul Laband kam am 24. Mai 1838 in Breslau zur Welt und starb am 23. März 1918 in Straßburg, wo er seit 1872 gelebt und gelehrt hat. Wer darauf besteht, daß das Staatsrecht des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nicht nach dem Kalender, sondern erst mit dem Verfassungswandel von 1918/19 genommen hat, wird sich daher mit Paul Labands Zuordnung zu den Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts, denen dieser Band gewidmet ist, schwer tun. Für ihn steht Laband, auch wenn er den 1. Januar 1900 um fast zwei Jahrzehnte überlebt hat, eher am Ende des 19. als am Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Staatsrecht des Kaiserreichs, als dessen Großmeister Laband in die Verfassungsgeschichte eingegangen ist, trennt freilich kein allzu breiter Graben von dem neuen Verfassungsrecht der Weimarer Republik und der Bundesrepublik. Das eine wäre ohne das andere nicht zu denken, und ohne die von Laband mit seinem vierbändigen „Staatsrecht des Deutschen Reiches“1 gelegten Fundamente wären sowohl die Weimarer Reichsverfassung als auch das Bonner Grundgesetz in vielem anders ausgefallen. Daß andere die Brücke vom Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie zu dem der parlamentarischen Republik geschlagen haben, ändert nichts daran, daß Laband es war, der auf der Seite der Monarchie den Brückenkopf befestigt hat. Deshalb gilt Philipp Zorns vielzitierte Würdigung „Alle staatsrechtliche Arbeit nach Laband steht auf seinen Schultern“2 nach wie vor. Laband hat dem modernen Umgang mit dem Verfassungsrecht den Weg gewiesen und ein bis heute andauerndes fruchtbares Nachdenken darüber ausgelöst, ob dieser Weg der richtige ist. Das rechtfertigt es zur Genüge, ihn, wenn auch nicht nur, so immerhin auch den Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts zuzurechnen.
1 Von 1876 an in fünf Auflagen, die letzte 1911 sowie unter dem Titel „Deutsches Reichsstaatsrecht“ als einbändige Studienausgabe erschienen, die von 1894 bis 1919 sieben Auflagen erreicht hat, die letzte in einer Bearbeitung Otto Mayers. 2 Die Entwicklung der Staatsrechts-Wissenschaft, JöR 1 (1907), 47 ff., 72
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I. Biographisches 1. Herkunft Über Labands Vita wissen wir dank seiner posthum erschienen „Lebens erinnerungen“3 verhältnismäßig gut Bescheid. Lückenlos informiert uns Laband allerdings nicht. Er berichtet anrührend über seine Kindheit und seine Schulzeit. Das Familienleben im Elternhaus, bei der Großmutter und bei den Verwandten im schlesischen Hirschberg, in Wien und in Berlin nimmt breiten Raum ein. Von der Begeisterung des Zehnjährigen für die Revolution von 1848 erzählt Laband mit der behaglichen Ironie des älter und konservativer Gewordenen. Man erfährt, daß ihm die Musik und das Klavierspiel wichtig gewesen sind. Selbst die Gründe seiner lebenslangen Ehelosigkeit deckt Laband bereitwillig auf.4 Um so mehr erstaunt, daß er sich über die Herkunft seiner Familie nur spärlich und über seinen Übertritt vom Judentum zur protestantischen Kirche überhaupt nicht äußert. 5 Daß Laband der älteste Sohn des jüdischen Arztes Ludwig Laband und dessen Frau Jeanette, geb. Schnitzler war, belegen die üblichen Quellen.6 Daß die Familie väterlicherseits aus „einem sehr unbedeutenden oberschlesischen Städtchen“7 nach Breslau gekommen ist, erwähnt Laband beiläufig; ebenso bei-
3 Unter dem Titel „Lebenserinnerungen von Paul Laband“ 1918 hrsg. von seinem Neffen Wilhelm Bruck. 4 Er hat in Königsberg die Frau des Strafrechtlers Karl Güterbock, eines engen Freundes, kennen und verehren gelernt. „Sie hatte nur einen, für mich sehr schmerzlichen Fehler, nämlich daß sie verheiratet war, und zwar an meinen besten Freund. … Dies gebot eine Zurückhaltung, die nicht ohne Wehmut und Seelenschmerzen war“ schreibt er in seinen Erinnerungen und kommt immer wieder darauf zurück (S. 56 f., 66 f., 71, 110). 5 Das registrieren auch Bernhard Schlink, Laband als Politiker, in: DER STAAT 31 (1992), S. 554 ff., 556 und Walter Pauly, Paul Laband – Staatsrechtslehre als Wissenschaft, in: Heinrichs/ Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 301 ff., 305. 6 U. a. ein posthum von seinem Erben verfaßter Lebenslauf und Labands Antrag auf Zulassung zur Habilitation in Heidelberg, die sich in seinem im Bundesarchiv Berlin unter N 2161/19, fol. 1 und 11 f. verwahrten Nachlaß befinden. 7 Erinnerungen (Fn. 3), S. 27. Dem Eintrag des Vaters in die Matrikel der Universität Bonn für das Sommersemester 1823 zufolge handelt es sich um das 30 km südwestlich von Kattowitz gelegene Sohrau (heute Żory). Die eigentliche Heimat der Familie könnte die 1964 von Gleiwitz eingemeindete Kleinstadt Laband (heute Łabędy) sein. Dafür spricht, daß sich die Juden bei der ihnen von § 3 des preußischen Emanzipations-Edikts vom 11.3.1812 auferlegten Wahl eines Familiennamens häufig an den Namen ihres Heimatorts gehalten haben. Zu verifizieren ist das freilich nicht, weil
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läufig spricht er von seinen Geschwistern.8 Über seine Taufe am 28. November 1857 in der Breslauer Hofkirche9 sagt er in seinen Lebenserinnerungen indessen nichts. Ob er sich aus religiöser Überzeugung zur Konversion entschlossen oder mit ihr nur das von Heinrich Heine so bezeichnete „Entréebillet zur europäischen Kultur“ gelöst hat, wissen wir daher nicht. Es gibt Anhaltspunkte für das Letztere.10 Ihnen nachzugehen oder gar aus ihnen Schlüsse zu ziehen, verbietet sich jedoch. Es wäre reine Spekulation. Wir müssen respektieren, daß Laband uns nicht hat mitteilen wollen, warum er zum Protestantismus übergetreten ist. Sicher und vielfach belegt ist allerdings, daß seine jüdische Herkunft Laband keine nachweisbaren Benachteiligungen oder gar Anfeindungen eingetragen hat. Über sie haben sich seine frankophilen elsässischen Widersacher alteriert, die ihm sein stramm reichstreu-preußisches Reden und Agieren11 verübelt haben.12 Seinen deutschen Zeitgenossen indessen war Labands jüdische Herkunft zwar
Labands Erben aus Furcht vor antisemitischen Repressalien 1933 alle auf ihre jüdische Herkunft hindeutenden Unterlagen vernichtet haben; dazu Nachlaß (Fn. 6), fol. 4. 8 Laband hatte einen Bruder Lutz und zwei Schwestern Louise und Rosalie. Ausführlicher geht Laband jedoch nur auf seine Verwandtschaft mit seinem Vetter mütterlicherseits Heinrich Caro ein, „dem später so berühmt gewordenen Farbenchemiker“ und BASF-Vorstand; Erinnerungen (Fn. 3), S. 35. 9 Urkundlich belegt durch den im Bundesarchiv verwahrten Taufschein; Nachlaß (Fn. 6), fol. 4. 10 Neben Labands wahrscheinlich beredtem Schweigen nicht nur über seine Konversion, sondern schlechthin über alles Religiöse u. a. seine „burschenschaftliche Karriere“ bei den Breslauer Arminen; Erinnerungen (Fn. 3), S. 22, 37 f. Sein Mokieren über Julius von Stahls „Frömmelei“ (aaO. S. 35), läßt sich ebenfalls als Indiz gegen eine Konversion aus Glaubensgründen deuten. In diese Richtung weist auch die Vermutung, daß seine Familie nicht sonderlich tief im Judentum verwurzelt gewesen sein dürfte, wenn sie ihren Erstgeborenen nach dem Apostel Paulus benannte. Mutmaßungen über Labands Konversion auch bei Pauly (Fn. 5), S. 305 und Schlink (Fn. 5), S. 555 f. 11 Zu ihm bekennt sich Laband in seinen Erinnerungen auf Schritt und Tritt und mitunter in einem für die Ohren der Gegenwart erstaunlich harschen Ton, insbesondere z. B. mit einem Bericht über einen Streit mit seinem „deutschfeindlich gesinnten“ Hauswirt um die Beflaggung seiner Wohnung mit der preußischen und der Reichsfahne (S. 75). 12 Dafür findet sich ein Beleg bei Schlink, aaO. (Fn. 5), S. 554, der ihn der Colmarer Zeitung „Le nouvelliste d’Alsace-Lorraine“ vom 18.12.1911 entnommen hat. Das Blatt schrieb über Laband: „S’appelait d’abord Laban sans toutefois descendre de l’échelle qu’entrevit l’ancêtre Jacob dans un rêve biblique“. An dem antisemitischen Stereotyp, Laband habe „früher“ Laban geheißen, ist kein Wort wahr. Schon Labands Vater hat sich 1823 in Bonn unter diesem Namen immatrikulieren lassen. Sein Sohn führte ihn also zumindest in der zweiten, wahrscheinlich aber schon in der dritten oder gar vierten Generation.
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sicherlich nicht unbekannt;13 aber sie hat sie nicht interessiert. Seine akademische Karriere und seine gesellschaftliche Anerkennung hat sie jedenfalls nicht berührt. Laband war an der kaiserlichen Tafel und bei der Hochzeit des Hohenzollernprinzen August Wilhelm zu Gast.14 Kronprinz Friedrich gab ihm im Gespräch zu erkennen, wie aufmerksam er den ersten Band seines Staatsrechts studiert habe.15 Reichskanzler von Bülow gratulierte ihm zum 70. Geburtstag.16 Die Stadt Straßburg benannte anläßlich seines Goldenen Doktorjubiläums eine ihrer Straßen nach ihm.17 Preußen ernannte ihn zum Geheimrat mit dem Titel Exzellenz. Daß Laband zu den höchstgeachteten Zelebritäten des Kaiserreichs gezählt wurde, bestätigt nicht zuletzt das sogenannte „Manifest der 93“ vom 4. Oktober 1914,18 mit dem berühmte Literaten, Künstler, Forscher und Gelehrten das Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs gegen die Propaganda der Kriegsgegner zu verteidigen versuchten. Laband steht zusammen mit Gerhard Hauptmann, Max Liebermann, Max Reinhardt, Franz von Stuck, Paul Ehrlich, Adolf von Harnack, Friedrich Naumann, Max Planck, Wilhelm Röntgen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff auf der Unterzeichnerliste. Keine Spur also von antisemitischen Behinderungen.19 Laband zum „Juden Laband“ abzustempeln und ihm damit die Relevanz abzusprechen,20 blieb der
13 Dank der von Gustav Toepke herausgegebenen, seit 1907 im Druck vorliegenden „Matrikel der Universität Heidelberg (6. Teil): 1846–1870“ war sie leicht zu ermitteln. Laband ist dort unter dem 17.10.1855 noch mit der Religionsangabe „jüd.“ eingetragen. 14 Erinnerungen (Fn. 3), S. 103, 106 f. Ein ausführlicher, in die Druckfassung der Erinnerungen nicht aufgenommener Bericht über die Prinzenhochzeit befindet sich im Nachlaß (Fn. 6), fol. 51 ff. An „Prinz Auwis“ umstrittener Straßburger Promotion bei Gustav Schmoller (zu ihr Lothar Machtan, Einen Doktor für einen Prinzen, in: DIE ZEIT vom 22.10.2009 Nr. 44) war Laband nur am Rande beteiligt; er hat dem Prinzen ein staatsrechtliches Privatissimum erteilt. 15 Erinnerungen (Fn. 3), S. 79 16 Erinnerungen, S. 102 17 Erinnerungen, S. 101 18 Unter diesem Namen im Internet aufzurufen. 19 Daß Laband als „getaufter Jude“ „in der Deutschen Wissenschaft nur den Rang eines geduldeten Volksfremden“ gehabt habe, wie das Schlüter; Reichswissenschaft – Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, 2004, S. 387, Fn. 186 annimmt, entbehrt jeden Belegs. Ein „geduldeter Volksfremder“, der mit dem Kaiser speiste und von ihm mit dem Titel Exzellenz ausgezeichnet wurde: das reimt sich nicht. 20 „Mit deutscher Rechtswissenschaft haben die Rechtswerke jüdischer Autoren nicht das geringste zu tun“, so hat es Hans Frank im Oktober 1936 bei der Eröffnung jener unsäglichen Tagung des NS-Rechtswahrerbundes „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ verkündet; Heft 1 des Tagungsbandes, S. 7 ff., 15.
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nationalsozialistischen Rechtswissenschaft vorbehalten, die das dafür um so blindwütiger, aber eben doch erst posthum besorgte.21
2. Die Studenten- und Privatdozentenjahre Labands Schul- und Studentenzeit verlief ganz in der Normalität des preußischen Bildungsbürgertums. Sein Jurastudium begann Laband im Sommer 1855 in Breslau, wo er Theodor Mommsen hörte. Er hatte sich die Jurisprudenz freilich anders vorgestellt, als Mommsen sie lehrte,22 und war daher am Ende seines ersten Semesters zum Umsatteln entschlossen. Auf Drängen seines Vaters unternahm er jedoch im Wintersemester 1855/56 in Heidelberg einen zweiten Anlauf, wo ihn Karl Adolph von Vangerow zum Juristen bekehrt hat. Von ihm lernte Laband vor allem „mit welchem Recht die Jurisprudenz eine Wissenschaft ist, … die Wissenschaft der Vernunft und die Tochter des Scharfsinns.“23 Dem Staatsrecht, das er bei Robert von Mohl hörte,24 konnte Laband allerdings nichts abgewinnen. Daran vermochte auch Julius von Stahl nichts zu ändern. Dessen Vorlesungen besuchte Laband während seiner beiden auf das Heidelberger Jahr folgenden Berliner Semester zwar mit regerem Interesse als Robert von Mohls „Staatsrecht“. Aber Stahl war ihm „wegen seiner ultrareaktionären Richtung und seiner Frömmelei sehr unsympathisch“.25 Zur Promotion und zum Referendarexamen kehrte Laband im Winter 1857/58, dem letzten seiner sechs Semester, nach Breslau zurück. Das Thema seiner Dissertation über „Die Pfandprivilegien der Ehefrau zum Schutze ihrer Mitgift“ verdankte er einer Anregung aus Vangerows Pandektenvorlesung. Da er es vier Semester mit sich herumgetragen hatte, konnte er das Promotionsverfahren
21 Tonangebend Carl Schmitt mit seinem Vortrag „Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte“ aus dem Jahr 1936; zit. nach dem Abdruck in „Positionen und Begriffe, 1939, S. 229 ff., 232. 22 In seinem Antrag auf Zulassung zur Habilitation schrieb er über Mommsens Vorlesung: „Statt einer logischen und klaren Darstellung der Rechtsordnung, statt einer Erschließung ihrer Prinzipien, hörte ich nur Antiquitäten, deren Zusammenhang mit dem modernen Rechtszustand mir damals unverständlich blieb. Da es mir darum zu tun war, über die rechtlichen Grundlagen des heutigen sozialen Lebens aufgeklärt zu werden, so schien mir die fortwährende Beschäftigung mit Quiriten und Latinen keineswegs zweckentsprechend.“ Nachlaß (Fn. 6), fol. 11 23 Erinnerungen (Fn. 3), S. 27 24 Mohls Vorlesung fand Laband „sehr langweilig und wenig anregend“; Erinnerungen (Fn. 3), S. 62. 25 Erinnerungen (Fn. 3), S. 35
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schon am Ende seines sechsten Semesters, zwei Monate vor seinem 20. Geburtstag abschließen. Auf seine Dissertation hat Laband nicht allzu viel gegeben; in seinen Augen war sie „wissenschaftlich wertlos“.26 Als seinen eigentlichen Erstling sah Laband deshalb eine alsbald nach der Promotion mit mehr Hingabe verfaßte Studie über die „Lehre vom Connosement“ an, in der er, damals gerade eben 21 Jahre alt, eine rechtsdogmatische Kontroverse mit dem 20 Jahre älteren Rudolf von Ihering riskierte. Laband hat das Manuskript „mit großer Schüchternheit“ bei der „Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft“ eingereicht. Es wurde aber nicht nur prompt angenommen.27 Carl Friedrich von Gerber würdigte es in der 1860 erschienenen 7. Auflage seines „System des deutschen Privatrechts“ darüber hinaus eines zustimmenden Zitats.28 Damit und mit einer zweiten Publikation in der gleichen Zeitschrift, einer rechtshistorisch fundierten Studie über das Recht der Handelsmakler,29 begann Labands steile Karriere als juristischer, freilich zunächst noch ausschließlich der Deutschen Rechtsgeschichte und dem Privatrecht zugewandter Autor. Bei der „Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft“ fand Laband in dem 1859 von Königsberg an die Universität Breslau gekommen Otto Stobbe, einem ihrer drei Herausgeber, den Mentor, der ihn zur akademischen Laufbahn ermutigte und ihm den Wechsel vom römischen zum deutschen Recht nahelegte, ein Rat, den Laband mit gewissenhafter Konsequenz befolgt hat. Statt sich mit einem bloßen Bücherstudium zu begnügen, stürzte er sich neben seinem Referendardienst in die Archivarbeit und in die Handschriftenforschung, aus denen unter anderem seine Habilitationsschrift „Beiträge zur Kunde des Schwabenspiegels“30 hervorgegangen ist. Mit dem Abschluß der Habilitationsschrift fiel endgültig die Entscheidung für den Hochschullehrerberuf. Laband ließ es bei dem 1860 mit „gut“ bestandenen Referendarexamen bewenden; auf das Assessoren-Examen, das seine Habilitation um eineinhalb Jahre verzögert hätte, ohne seinen Werdegang als Profes-
26 Erinnerungen (Fn. 3), S. 38 27 Bd. 19 (1859), S. 121–139 28 A. a. O. § 184, Fn. 8 29 Bd. 20 (1860), S. 1–65 30 1861 nach Abschluß des Habilitationsverfahrens im Druck erschienen. Für heutige Verhältnisse wirkt die Schrift sehr knapp; mit ihren 80 Seiten entsprach sie jedoch dem Standard ihrer Zeit.
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sor nennenswert zu fördern, hat er verzichtet.31 Die Antwort auf die Frage, wo er seine Schwabenspiegel-Studie als Habilitationsschrift einreichen solle – Laband schwankte zwischen Bonn, Halle und Leipzig – nahm ihm Levin Goldschmidt32 ab, der ihn einlud, sich in Heidelberg zu habilitieren, wo man wegen zweier Vakanzen auf die Verstärkung durch einen Privatdozenten für das Deutsche Recht hoffte und Laband mit offenen Armen empfing.33 Sein Antrag auf Zulassung zur Habilitation34 datiert vom 15. Juni 1861; schon 40 Tage später fand der Probevortrag statt.35
3. Straßburg Labands Heidelberger Privatdozentenzeit dauerte nur fünf Semester, bescherte ihm aber erste Erfolge. Er zog immerhin so viele Hörer an, daß er „mit großer Genugtuung die Kosten seines Aufenthalts in Heidelberg zum größten Teile selbst bestreiten konnte“ und den Wert schätzen lernte, „den die durch Arbeit erworbene ökonomische Selbständigkeit besitzt“.36 Im Februar 1864 erreichte ihn ein Ruf nach Königsberg, wo er die Nachfolge des nach Kiel wegberufenen Albert Hänel antrat und schon bald vom Extraordinarius zum Ordinarius aufstieg.37 Von Königsberg ging Laband im April 1872 an die neueröffnete Kaiser-Wilhelm-Universität in dem von Frankreich am Ende des Krieges von 1870/71 mit Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich abgetretene Straßburg. Anders als Karl Binding und Heinrich Brunner, die mit ihm als Erstbesetzung der Juristischen Fakultät nach Straßburg gekommen waren, aber Straßburg bereits 1873 wieder verließen, blieb Laband Straßburg bis zu seinem Tode treu. Labands Straßburger Standorttreue war allerdings keine ganz freiwillige. Einen Ruf nach Tübingen lehnte er 1873 zwar kurzentschlossen ab; er kam zu früh, und es hat ihn nicht gerade unwiderstehlich in „das schwäbische Musennest“ gezogen.38 Auch den Versuchen, ihn 1879 als Richter an das Reichsgericht und
31 An dem als weitere Habilitationshürde drohenden Wehrdienst führte Labands Ausmusterung wegen „Fehlens fast sämtl. Zähne im Oberkiefer“ vorbei; der Ausmusterungsbescheid vom 20.9.1861 befindet sich im Nachlaß (Fn. 6), fol. 14. 32 Über ihn Klaus-Peter Schroeder, ‚Eine Universität für Juristen und von Juristen‘, 2010, S. 174 ff. 33 Erinnerungen (Fn. 3), S. 47 f. 34 S. o. Fn. 6 35 Auch das war nichts Ungewöhnliches; vgl. Schroeder, aaO. (Fn. 32) S. 90 ff. 36 Erinnerungen (Fn. 3), S. 49 37 Erinnerungen, S. 63 f. 38 Erinnerungen, S. 85
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wenig später als Ministerialrat in das Reichsjustizamt zu berufen, hielt Laband stand. Er fand sie verlockend, fürchtete aber, daß ihm die Arbeitslast im Reichsgericht und im Reichsjustizamt nicht genügend Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit lassen werde. Dem Ruf nach Heidelberg, den er 1887 erhielt, wäre Laband jedoch nur allzu gerne gefolgt. Auch der Heidelberger Ruf er kam jedoch im falschen Augenblick. In ElsaßLothringen waren die Reichstagswahlen 1887 betont antideutsch ausgegangen, und die Reichsregierung schob die Schuld daran der Universität zu, die ihren Germanisierungsauftrag nicht energisch genug erfüllt habe.39 Deshalb erfuhr die Universität von Seiten des Reichs und der elsass-lothringischen Regierung Unfreundlichkeiten, die sich unter anderem darin niederschlugen, daß man sich nicht nachdrücklich genug um die Abwehr von Wegberufungen angesehener Professoren bemühte. Die Juristische Fakultät hatte vor allem mit dem Weggang von Rudolf Sohm nach Leipzig einen schmerzlichen Verlust erlitten. Hätte auch Laband sie verlassen, so hätte das nicht nur bei ihr, sondern auch in den Nachbarfakultäten einen Professoren-Exodus ausgelöst, der den Rang Straßburgs im Konzert der deutschen Universitäten gefährdet hätte. Deshalb warben der Rektor, seine Kollegen und die Studentenschaft derart überwältigend um Labands Bleiben, daß er den an sich bereits angenommenen Ruf buchstäblich im letzten Augenblick doch noch ausschlug. In seinen 30 Jahre später niedergeschriebenen Erinnerungen verhehlt Laband freilich nicht, daß er lieber nach Heidelberg gegangen wäre.40 Eine zweite ersichtlich noch willkommenere Gelegenheit zum Weggang von Straßburg schien sich 1894 abzuzeichnen. Friedrich Althoff, der Universitätsreferent im preußischen Kultusministerium, hatte Laband wissen lassen, daß man sich im preußischen Justiz- und im Kultusministerium ihn als Nachfolger Rudolf von Gneists sowohl im preußischen Oberverwaltungsgericht als auch in der Juristischen Fakultät wünsche. Althoff hatte auch sogleich konkrete Vorstellungen über die etwas komplizierte Verknüpfung der beiden Ämter im Gericht und an der Universität entwickelt, so daß Laband seine Berufung nach Berlin für abgemacht hielt. Aber „es begann eine komödienhafte Intrige, welche sie vereitelte“.41 Als Drahtzieher verdächtigte Laband Josef Kohler, Heinrich Brunner, Otto von Gierke
39 Zu den Einzelheiten siehe E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1782, Bd. IV, 2. Aufl. 1969, S. 460, Stephan Roscher, Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg 1872–1902, 1991, S. 102 ff. 40 Dazu Erinnerungen (Fn. 3), S. 91 ff. 41 Erinnerungen, S. 96 ff., 98
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und Gustav Schmoller.42 Auch von Althoff fühlte er sich hinters Licht geführt. Wie dem auch sei, zu Labands Verbitterung erging der Ruf nach Berlin statt an ihn an den Bonner Strafrechtler Wilhelm Kahl. 43 Laband mußte sich damit abfinden, in Straßburg zu bleiben. So hat sich Labands Name dauerhaft mit dem Namen Straßburgs verbunden, wie umgekehrt die Straßburger Wilhelms-Universität vor allem als Labands Universität in der Erinnerung weiterlebt. 1880 wählte ihn die Universität zu ihrem Rektor. Seine Vorlesungen und Seminare waren weit über Straßburg hinaus berühmt. Nach Straßburg zu gehen, um Laband zu hören, war en vogue. Labands Ruf, ein wohlwollender Prüfer zu sein, trug das Seine zu seiner Beliebtheit bei.44 Straßburg und das Reichsland Elsaß-Lothringen überhäuften ihn mit vielen Ämtern.45 Unter ihnen ragen die Mitgliedschaft in dem 1880 eingerichteten Elsässisch-Lothringischen Staatsrat und ab 1911 in der Ersten Kammer des ElsässischLothringischen Landtags heraus,46 wo Laband sich energisch für die Germanisierung Elsaß-Lothringens einsetzte,47 aber sich auch bei seinen frankophilen Gegnern Respekt erwarb.48
42 Kohler und Brunner, weil er mit ihnen im Handelsrecht und in der Deutschen Rechtsgeschichte konkurriert hätte, Gierke wohl wegen dessen Kritik an seinem „Staatsrecht“ im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, NF. 7 (1883) und Schmoller „ich weiß nicht aus welchem Grunde“; Erinnerungen, S. 98. 43 Daß bei dem Widerstand der Berliner Fakultät gegen Laband habe dessen jüdische Herkunft eine Rolle gespielt, liegt, wie Bernd Schlüter (Fn. 19), S. 387, Fn 186 ganz richtig formuliert, „nicht außerhalb jeder Möglichkeit“; hinzuzufügen ist jedoch, daß es auch keinen greifbaren Anhalt gibt, daß sie verhohlen oder unverhohlen ins Spiel gebracht worden wäre. Alles, was in dieser Sache – auch von Laband selbst – geschrieben worden ist, dringt über die Sphäre des Argwöhnens nicht hinaus. Sicher ist daher nur, daß Althoff den Mund zu voll genommen hatte, als er Laband in Aussicht stellte, daß er ihn nach Berlin holen werde. 44 Dazu ein im Nachlaß (Fn. 6), fol. 73 befindlicher Nachruf aus der Straßburger Lokalpresse, der den Prüfer und Doktorvater Laband ungemein lebendig schildert. 45 Laband listet sie in seinen Erinnerungen (Fn. 3), S. 84 auf. 46 Über beide Gremien berichtet er u. a. in dem von ihm mitherausgegebenen „Handbuch der Politik“, Bd. 3, 2. Aufl. S. 203 ff. unter der Überschrift „Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens“. 47 Zu Labands Wirken im Staatsrat und der Ersten Kammer Schlink (Fn. 5), S. 557 ff. 48 „Germanist germanisant. Aime, à sa façon, l’Alsace-Lorraine. … Adore les gros havanes authentiques. Est très chatouilleux. On admire unaniment sa verdeur juvénile et proverbiale autant que son talent de professeur. Ce qui n’est pas peu dire. Compte finir ses jours en Alsace-Lorraine, sauf imprévu.“ schreibt der Laband an sich nicht gerade wohlgesonnene „Nouvelliste de l’Alsace-Lorraine“ (s. o. Fn. 12).
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Laband war auch als Rechtsgutachter gesucht.49 Das verschaffte ihm die Genugtuung, „als eine Autorität zu gelten, deren Urteil in wichtigen und schweren Fällen eingeholt wurde“. Seine ausgedehnte Gutachtertätigkeit sicherte ihm zudem „den Zusammenhang mit dem wirklichen Rechtsleben und gewährte einen Schutz vor theoretischen Schrullen.“50 Nachhaltig zu Labands Popularität trug ferner seine Herausgeberschaft bei wichtigen Fachzeitschriften bei, allen voran bei der „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht“, beim „Archiv für öffentliches Recht“,51 dem „Jahrbuch des öffentlichen Rechts“ und der „Deutschen Juristenzeitung“. In allen diesen Zeitschriften trat er regelmäßig als Autor auf, besonders intensiv in der DJZ, in der er von Anbeginn an bis 1917, dem Jahr vor seinem Tode, kontinuierlich zu aktuellen Rechtsfragen Stellung genommen hat.52 Labands Goldenes Doktorjubiläum, zugleich sein 70. Geburtstag, wurde zu einem öffentlichen Fest, an dem sich die gesamte deutschsprachige Staatsrechtslehre mit drei Festschriften und sämtliche deutschsprachigen Juristenfakultäten mit Glückwunschadressen beteiligt haben. Auch im Ausland fand Laband Anerkennung. Sein „Staatsrecht“ wurde 1900 ins Französische übersetzt.53 Die Republik Frankreich verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel eines „Officier de l’Instruction Publique“.54 Seine französischen Kollegen sahen in ihm den „fondateur du formalisme constitutionnel“.55 Bologna ernannte Laband zum auswärtigen Mitglied der Akademie der Wissenschaften, die Universitäten Freiburg und Genf zum Ehrendoktor.
49 Das bekannteste seiner Gutachten betraf den Lippischen Thronfolgestreit; zu ihm Erinnerungen (Fn. 3), S. 106 f. 50 Erinnerungen (Fn. 3), S. 80 51 Mit dem er freilich nicht durchweg zufrieden gewesen ist. Dazu Volkmar Heyen, Die Anfangsjahre des Archivs für öffentliches Recht, in: ders. (Hrg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984, S. 347 ff. 52 Labands Beiträge zur DJZ sind in deren Heft 9/10 vom 1.5.1918 zusammengestellt im Anschluß an einen bewegenden Nachruf aus der Feder von Gerhard Anschütz. Sie behandeln neben staatsrechtlichen Kardinalproblemen auch manches Alltägliche. Lesenswert ist alles, besonders lesenswert der Artikel „Die Kommandogewalt und die Kabinettsorder von 1820“, mit dem Laband in DJZ 1914, Sp. 185 ff. zu der Zaberner Affäre von 1913 Stellung genommen hat; er steht in auffälligem Kontrast zu der temperamentvolleren Stellungnahme von Gerhard Anschütz in DJZ 1913, Sp. 1457 ff.; Laband verbirgt das auch ihm eigene Temperament hinter dem von ihm immer wieder eingeforderten „rein juristischen Vorgehen“. 53 Le droit public de l’empire Allemand, 1900–1903. 54 Nachlaß (Fn. 6), fol. 79 ff. 55 Paul-Marie Gaudemet, Paul Laband et la Doctrine Française de droit public, in: Revue de droit public et de la science politique en France et à l’étranger, 1989, S. 957 ff.
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In den letzten Jahren seines Lebens beherrschte der Erste Weltkrieg Labands juristisches Wirken. Wie von ihm nicht anders zu erwarten, stand er fest auf der Seite der „vaterländisch“ empfindenden Mehrheit. Das von ihm mitunterzeichnete „Manifest der 93“ wurde bereits erwähnt.56 Vor allem aber trat Laband in der DJZ mit staats- und völkerrechtlichen Kommentaren zum Kriegsgeschehen hervor. Als chauvinistisch abzutun, was er zwischen 1914 und 1917 schrieb, ginge zu weit, wäre aber auch nicht gerade arg übertrieben. Laband sprach die Sprache seiner Zeit und er lebte in der Gedankenwelt des Kaiserreichs. Dennoch hob er sich von der Masse der Kriegsbegeisterten ab. „Right or wrong, my country“ war seine Sache nicht. Er rang um juristische Objektivität. Das zeigt u. a. sein Kommentar „Zum Falle Liebknecht“,57 in dem es um die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf Aufhebung des gegen Karl Liebknecht wegen einer Rede am 1. Mai 1916 erlassenen Haftbefehls durch die Mehrheit des Reichstags ging. Laband stellte klar, daß die Verantwortung für die bis in die letzten Kriegswochen andauernde Inhaftierung Liebknechts nicht von den Gerichten zu verantworten war, die sie verhängt hatten, sondern vom Reichstag, der sie gemäß Art. 31 Abs. 3 RV ohne viel Aufhebens hätte beenden können, aber sie mit mehr als 2/3 Mehrheit gutgeheißen hat. In einem Artikel über „Die Kriegsgefangenen“58 tritt Laband, auch dies ein Zeichen seiner Objektivität jedenfalls im Juristischen, unausgesprochen, aber unübersehbar und ungeachtet einiger antibritischer und antirussischer Ausfälle dafür ein, daß die Haager Landkriegsordnung nicht nur die in Feindeshand gefallenen eigenen Soldaten, sondern ebenso auch die von den deutschen Truppen in Gefangenschaft genommen Soldaten der Gegner schützt. Laband war bis ins hohe Alter aktiv. Um seine Emeritierung kam er erst im September 1917 ein, als ihm gesundheitliche Beschwerden das weitere Ankündigen von Vorlesungen verboten. Noch als 79 Jähriger hatte er im Sommer 1917 die ganze Woche über, die Samstage eingeschlossen, jeweils von 12 bis 1 Uhr „Deutsches Reichs- und Landestaatsrecht“ gelesen. Sein Tod am 23. März 1918 im Alter von knapp 80 Jahren hat ihm das Miterleben des Untergangs der deutschen Monarchie, seiner geistigen Heimat, und des Endes der deutschen Universität Straßburg, seiner akademischen Heimat, erspart. Der Rückfall Elsaß-Lothringens an Frankreich hätte für ihn die Ausweisung aus Straßburg bedeutet. So indessen blieb ihm vergönnt, in Straßburg begraben zu werden.
56 S. o. bei Fn. 18 57 DJZ 1916, Sp. 656 ff. 58 DJZ 1915, Sp. 3 ff.
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II. Der Begründer der modernen Staatsrechtslehre 1. Labands Weg zum Staatsrecht Laband war, wie gesagt, von Haus aus Zivilrechtler. Nach Königsberg wurde er als Germanist und Handelsrechtler berufen; staatsrechtliche Vorlesungen hat man nicht von ihm erwartet. Er hatte „für dieses Fach kein wissenschaftliches Interesse“; es war für ihn, „auch was die wissenschaftliche Behandlung anlangt, ein Nebenfach“.59 Selbst bei seiner Berufung nach Straßburg fehlte das Staatsrecht anfangs noch in Labands Fächer-Kanon; es wurde dem Deutschen Recht und dem Handelsrecht erst in dem abschließenden Berufungsschreiben hinzugefügt. 60 Hätte ihn die Königsberger Fakultät nicht dazu gedrängt, die durch den Weggang des einen und den Ausfall des anderen für das Staatsrecht zuständigen Kollegen61 ab dem Wintersemester 1866 verwaiste Staatsrechtsvorlesung zu übernehmen, so hätte Laband wohl nie zum Staatsrecht hingefunden. Dem Drängen der Fakultät ist Laband nur widerstrebend gefolgt. Er fühlte sich in der staatsrechtlichen Literatur nicht bewandert genug. Die damals üblichen Lehrbücher empfand er zudem samt und sonders als wenig stimulierend. Aber mit der Gründung des Norddeutschen Bundes im August 1867 „wurde die bisherige Art der Darstellung veraltet“. Die bis dahin vorherrschenden historischpolitischen Reflektionen über die Staatsangelegenheiten interessierten nicht mehr. Das Staatsleben hatte eine neue positiv-rechtliche Grundlage erhalten, die nach einer systematischen, „streng juristischen Erörterung“ verlangte, eine den Vertretern der traditionellen Staatsrechtslehre eher ungelegene Herausforderung, der sich der Zivilrechtslehrer Laband indessen um so lieber stellte, zumal er in Carl Friedrich von Gerbers 1865 erschienen „Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts“62 das ihm gemäße Vorbild gefunden hatte.63 Damit war
59 Erinnerungen (Fn. 3), S. 62 60 Schlüter (Fn. 19), S. 209 f. 61 Carl von Kaltenborn-Stachau, der 1864 in den Dienst der Kurhessischen Regierung trat, und Richard Eduard John, der als Mitglied des preußischen Landtags von seinen Lehrverpflichtungen freigestellt werden mußte. 62 Zu Gerber und seinem „System“ Michael Stolleis, Geschichte des öff. Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 331 ff. 63 In einer anonymen, aber wohl ihm zuzuschreibenden Rezension im „Literarischen Centralblatt für Deutschland“ 1866, Sp. 56 ff. (zu ihr Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkon-
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Laband für das Staatsrecht gewonnen, ohne freilich seine germanistische und privatrechtliche Lehr- und Publikationstätigkeit je gänzlich aufzugeben.64 Seine erste staatsrechtliche Stellungnahme, einen kurzen, aber aufsehenerregenden Artikel in der Kreuzzeitung65 über „Das Recht des Abgeordnetenhaues zu Budget-Aenderungen“, hat Laband allerdings schon während seiner Heidelberger Privatdozentenzeit unter dem Pseudonym „Ein nichtpreußischer Rechtslehrer“ veröffentlicht. Sie enthielt in nuce, was er acht Jahre später in seiner Schrift „Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preussischen Verfassung und unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes“ – wenn man so will seine nachgereichte staatsrechtliche Habilitationsschrift – ausführlicher dargestellt hat. „Seit dieser Schrift war das Staatsrecht mein eigentliches Arbeitsgebiet, neben welchem das Handelsrecht und die deutsche Rechtsgeschichte mehr und mehr zurücktraten“, hält er in seinen Erinnerungen fest.66 Nachdem 1874 der erste Band seines „Staatsrechts des Deutsches Reiches“ erschienen war, wurde Laband in der breiteren Öffentlichkeit vollends nur noch als Staatsrechtler wahrgenommen, genauer: als der Staatsrechtler des Kaiserreichs.
2. Labands staatsrechtliche Entdeckungen Labands Ruhm wie auch sein bis heute fortdauernder Nachruhm beruhen auf der mit enzyklopädischer Vollständigkeit und enger Praxisnähe gepaarten Einzigartigkeit seines „Staatsrechts des Deutschen Reiches“, seines opus maximum.67 Den Juristen des Kaiserreichs hat es als Handbuch und Nachschlagewerk der
stitutionalismus, 1993, S. 161) rühmt Laband Gerbers „System“ wegen dessen „in der deutschen Staatsrechtsliteratur bisher vermißten systematischen Abrundung des Stoffes“. 64 In den Straßburger Vorlesungsverzeichnissen ist Laband auch mit Vorlesungen über Sachenrecht, Familienrecht, Handels-, Wechsel- und Schiffahrtsrecht, Deutsche Rechtsgeschichte und Grundzüge des deutschen Privatrechts vertreten. Von 1910 an las er im Wechsel im Winter „Handels-, Wechsel- und Schiffahrtsrecht“ und im Sommer „Deutsches Reichs- und Landestaatsrecht“ sowie „Bürgerliches Recht: III. Teil Familienrecht“. 65 Vom 21.2.1863. In seinen Erinnerungen (Fn. 3), S. 51 datiert Laband den Artikel fälschlich auf den 12.12.1862. Auch das von ihm gewählte Pseudonym gibt er ungenau wieder. Hinter ihm hat er sich versteckt, um nicht mit der ihm „gründlich verhaßten“ Kreuzzeitung identifiziert zu werden. Weil sein Artikel das von den Liberalen erbittert bekämpfte budgetlose Regiment der preußischen Regierung während des Verfassungskonflikts von 1862–1866 rechtfertigte, hatte er jedoch in der liberalen Presse keine Chance. 66 Fn. 3. 67 Darin kam „dem Laband“ in der Zeit vor 1918 allenfalls Max von Seydels ebenfalls vierbändiges „Staatsrecht des Königreichs Bayern“, 3. Aufl. 1903 gleich.
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ersten Wahl gedient. Die verfassungsgeschichtliche Forschung nutzt es nach wie vor als historische Quelle von besonderer Authentizität. Aber Laband war mehr als nur ein staatsrechtlicher Enzyklopädist. Die Staatsrechtslehre verdankt ihm auch eine Reihe gewichtiger, noch immer gültiger Erkenntnisse, die es verdienen, zu den „großen Entdeckungen“ der Rechtswissenschaft gerechnet zu werden. Seinen Entdeckerruhm hat Laband allerdings schon während der frühen zivilrechtlichen Phase seiner Laufbahn mit einer Untersuchung begründet, mit der er aufgedeckt hat, daß bei der Stellvertretung zwischen dem Innenverhältnisses des Vertreters mit dem Vollmachtgeber und dem Außenverhältnis mit dem Dritten unterschieden werden muß, gegenüber dem der Vertreter im Namen des Vollmachtgebers rechtsgeschäftlich handelt.68 Labands staatsrechtliche Entdeckungen sind nicht minder bedeutsam. Zumindest drei von ihnen verdienen als seine Entdeckungen in Erinnerung behalten zu werden.
a) Die Dichotomie des Gesetzesbegriffs Mit Labands Namen verbinden wir allem voran die Zweiteilung des Gesetzesbegriffs in das Gesetz im materiellen und das Gesetz im formellen Sinne. Laband hat sie in seiner bereits erwähnten Studie über das „Budgetrecht“ aus dem Jahre 187169 entwickelt, um mit ihrer Hilfe zu bekräftigen, daß der Staatshaushaltsplan keine Rechtsnormen aufstelle, sondern nur ein „Rechenwerk“ enthalte, und daß aus diesem Grunde das Staatshaushaltsgesetz, das ihn feststellt, als Gesetz im bloß formellen Sinne nicht die Kraft habe, die Rechtsnormen der Gesetze im materiellen Sinne außer Geltung zu setzen. Ob das unhinterfragt so stehen bleiben kann, wird man mit Fug und Recht bezweifeln können. Es kommt zu kurz, daß auch das Gesetz im formellen Sinne, obgleich keine Rechtsnorm, so doch, gleichgültig was es sagt, verbindlich ist. Deshalb stünde die Regel „lex materialis derogat legi formali“ auf schwachen Füßen. Aber das hat Laband so auch nicht behauptet. Die raison d’être seiner Zweiteilung des Gesetzesbegriffs liegt auch für ihn nicht etwa darin, ein Rangverhältnis zwischen dem materiellen und dem formellen Gesetz zu begründen. Sie hat
68 „Die Stellvertretung bei dem Abschluß von Rechtsgeschäften nach dem ADHGB“ in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 10 (1866), S. 183 ff. Zu ihm Dölle, Juristische Entdeckungen, in: Verhandlungen des 42. deutschen Juristentags 1957, Bd. 2, 1958, S. 1 ff., der Labands Differenzierung zwischen dem Innen- und dem Außenverhältnis bei der Stellvertretung in eine Reihe stellt mit Iherings culpa in contrahendo, Staubs positiver Vertragsverletzung, Kipps Doppelwirkung im Recht und Savignys Lehre vom Sitz des Rechtsverhältnisses. 69 S. 15.
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sich bewährt, weil sie dem Gesetzgeber die Macht des Zugriffs auf alle politischen Entscheidungen verschafft, auf die er zugreifen möchte.70 Der Gesetzgeber kann mit anderen Worten nicht nur Rechtsnormen erlassen; er kann auch Regierungsund Verwaltungsanordnungen, die an sich außerhalb seines Aufgabenbereichs liegen, in der Form des Gesetzes treffen und sie so mit gesetzesgleicher Verbindlichkeit ausstatten. Das hat Laband kaustisch, aber gerade deshalb eindrucksvoll illustriert:71 „Daß die Eisenbahnwagen I. Kl. gelb lackiert werden sollen, oder daß die Stempelmarken eine gewisse Zeichnung erhalten sollen, oder daß der Hufbeschlag der Kavalleriepferde in gewisser Weise erfolgen, oder daß eine Behörde ihren Bedarf an Schreibmaterial von einem namhaft gemachten Lieferanten beziehen solle, oder die Einführung irgend eines neuen Formulars für amtliche Zusammenstellungen oder Rechnungen usw.“, das alles sind keine Rechtssätze, und dennoch kann es, wenn es der Gesetzgeber so will, zum Gegenstand eines Gesetzes erhoben werden und dann am Vorrang des Gesetzes vor allen anderen hoheitlichen Anordnungen teilnehmen.72 „Es gibt mit einem Wort keinen Gegenstand des gesamten staatlichen Lebens, ja man kann sagen, keinen Gedanken, welcher nicht zum Inhalte eines Gesetzes gemacht werden könnte.“73 Der Allmacht, die daraus dem Gesetzgeber zufließt, zog in der konstitutionellen Monarchie die Abhängigkeit der Gesetzgebung von der Übereinstimmung von Krone und Parlament eine feste Grenze. Es konnte weder der Monarch gegen den Willen des Parlaments, noch das Parlament gegen den Willen des Monarchen Gesetze erlassen. In der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart, in der die Gesetzgebung (jedenfalls de iure)74 allein in der Hand des Parlaments liegt, besitzt Labands zweigeteilter Gesetzesbegriff indessen eine beträchtliche Sprengkraft. Er macht aus der Macht der Gesetzgebung als Staatsfunktion die Macht des
70 Das stellt Laband in Bd. 2 des „Staatsrechts“ (Fn. 1), S. 61 ff. klar, wo er losgelöst vom Budget recht erklärt, was es mit dem Gesetz im formellen Sinn auf sich hat. In der Budgetrechts-Schrift wird das noch nicht hinreichend klar; insbesondere wird nicht deutlich, wie die Dichotomie des Gesetzesbegriffs bei der Bewältigung des „budgetlosen Regiments“ weiterhelfen soll. 71 In einer Rezension von Gustav Seidlers „Budget und Budgetrecht im Staatshaushalte der constitutionellen Monarchie“, in: AöR 1 (1886), S. 172 ff. 72 Ausgenommen natürlich die Akte, für die höherrangiges Recht das ausdrücklich verbietet, wie das z. B. bei den dem Richtervorbehalt unterstehenden Urteilen und Beschlüssen in Rechtssachen und bei der von Laband erwähnten Auftragsvergabe per Gesetz der Fall ist, der neuerdings die Europäischen Vergaberichtlinien Grenzen ziehen. 73 Staatsrecht (Fn. 1),Bd. 2 S. 63; kritisch dazu E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 280 ff. 74 Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG: „Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen.“
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Parlaments als Staatsorgan. Damit hebt er die Gewaltenteilung aus den Angeln. Aber er stärkt die Demokratie. Wie das verfassungspolitisch zu würdigen ist, muß hier dahingestellt bleiben.75 Es muß sein Bewenden dabei finden, daß die demokratische Allmacht des Gesetzgebers und mit ihr die moderne Hypertrophie der Gesetzgebung auf Laband zurückgeht, der dem Gesetz im materiellen Sinne das Machtinstrument des Gesetzes im formellen Sinne hinzugefügt hat.
b) Die Subordination der Haushaltsplanung unter die materielle Rechtsordnung Labands zweite Entdeckung ist weniger bekannt, dafür aber nicht minder beachtlich. Auch sie hat er in der Budget-Studie von 1871 ausgebreitet; sie steht aber schon in seinem 8 Jahre jüngeren Artikel in der Kreuzzeitung76 im Mittelpunkt. Es ging um die mit dem preußischen Verfassungskonflikt von 1862 bis 186677 akut gewordene Frage, was gilt, wenn das Staatshaushaltsgesetz nicht zustande kommt. Fehlt der Regierung dann die erforderliche gesetzliche Ermächtigung zum weiteren Leisten der öffentlichen Ausgaben, so daß sie zurücktreten muß?78 Oder lebt der vorkonstitutionelle Urzustand wieder auf, in dem die Regierung ohne die Autorisation des Haushaltsgesetzes über die Staatsfinanzen verfügen darf und damit handlungsfähig bleibt?79 Labands Antwort knüpft am Inhalt des Haushaltsgesetzes an: Dieses stellt den Haushaltsplan fest und begrenzt damit die Staatsausgaben. Aber als „bloßes Rechenwerk“ hebt es die außerhalb des Haushaltsplans durch Gesetz oder Vertrag begründeten Zahlungspflichten des Staates nicht etwa auf. Es läßt sie vielmehr unberührt mit der Folge, daß sie auch dann ohne Abstriche erfüllt werden müssen, wenn dafür die haushaltsgesetzliche Deckung fehlt. Die rechtliche Verpflichtung zu einer bestimmten Ausgabe geht mit anderen Worten der rechnerischen Veranschlagung der für ihre Erfüllung benötigten Gelder vor. Der Sozialhilfeberechtigte erhält die Sozialhilfe nicht, weil der Haushaltsplan sie dem
75 Darum hat u. a. die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1984 unter dem Stichwort „Der Verwaltungsvorbehalt“ gerungen; VVDStRL 43 (1985), S. 135 ff. 76 S. o. bei Fn. 63. 77 Zu ihm E. R. Huber (Fn. 37), Bd. 3, 3. Aufl. 1988, S. 269 ff.; Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rdnr. 1889 ff. 78 So die Auffassung der liberalen Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus. 79 So Bismarcks „Lückentheorie“.
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Finanzminister bewilligt, sondern weil das Sozialhilfegesetz ihm einen einklagbaren Anspruch auf sie einräumt. Damit – und nicht etwa mit der Qualifikation des Haushaltsgesetzes als eines Gesetzes „nur“ im formellen Sinne – glaubte Laband nachweisen zu können, daß das budgetlose Regiment der preußischen Regierung während des Verfassungskonflikts rechtlich nicht zu beanstanden gewesen sei. Die Haushaltsgesetze 1862 bis 1866 waren gescheitert, weil das Abgeordnetenhaus die von der Regierung geforderten Mehrausgaben für eine Erhöhung der jährlichen Einberufungen von 40.000 auf 63.000 Rekruten verweigert hatte. Für Laband war jedoch die Rechtsgrundlage für diese zusätzlichen Einberufungen keineswegs entfallen. Für ihn lag sie nicht in dem gescheiterten Haushaltsgesetz, sondern in dem Wehrgesetz von 1814,80 das zwar seit 1815 nicht mehr in seiner vollen Strenge angewendet worden war, aber die umstrittene Truppenverstärkung mehr als gedeckt hat. Auch dabei ließ Laband – was den Verfassungskonflikt anging – einige naheliegende Fragen offen. Er unterstellte mit allzu kurzer Hand eine rechtliche Verpflichtung des Staates zur vollen Ausschöpfung des von dem Gesetz von 1814 begründeten Einberufungspotentials. Daß die Regierung 57 Jahre lang davon ausgegangen war, daß es in ihrem Ermessen liege, sämtliche Wehrpflichtigen oder nur einen mehr oder weniger großen Teil von ihnen einzuberufen, vernachlässigte er ebenso wie die sich nachgerade aufdrängende Annahme, daß darüber die allgemeine Wehrpflicht kraft derogierenden Gewohnheitsrechts zum bloßen ius dispositivum herabgesunken sei, das – anders als das ius cogens – auch nach seinem Dafürhalten nur nach Maßgabe des Haushaltsgesetzes vollzogen werden durfte. Aber das setzt lediglich Labands Rechtfertigungsversuch zugunsten des budgetlosen Regiments Bismarcks einigen Zweifeln aus. Der Bedeutung seiner Entdeckung von der Unabhängigkeit der rechtlichen Verpflichtungen des Staates von den Ausgabebewilligungen des Haushaltsgesetzes tut es keinen Abbruch. Mit ihr hat Laband einer lange andauernden Verwirrung abgeholfen. Noch auf dem Deutschen Juristentag 1928 hat Adolf Merkl auf einer vorrangigen Bindung des staatlichen Finanzgebarens an den Haushaltsplan bestanden,81 ohne jedoch eine rechte Antwort darauf zu wissen, was rechtens sein soll, wenn das Parlament die Ansätze für die Beamtengehälter streicht, das Besoldungsgesetz aber unberührt fortgelten läßt.82 Bei Laband hätte er die Lösung dieses Dilemmas finden können. Sie ergibt sich daraus, daß der Haushaltsplan die gesetzlich begründe-
80 pr. GS, S. 79 81 Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, Bd. 1, S. 335 ff. 82 AaO. (Fn. 81), Bd. 2, S. 458 f.
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ten Verpflichtungen des Staates nicht regulieren, sondern nur rechnerisch erfassen kann. Das ist so über das preußische Staatshaushaltsgesetz von 1898 und die Reichshaushaltsordnung von 1922 in das Haushaltsgrundsätzegesetz des Bundes, die Bundeshaushaltsordnung und in sämtliche Haushaltsgesetze der Bundesländer mit der ebenso einleuchtenden wie unmißverständlichen Klausel eingegangen: „Durch den Haushaltsplan werden Ansprüche oder Verbindlichkeiten weder begründet noch aufgehoben“.83 Sie verdiente den Namen „lex Laband“.84
c) Der überregionale Hoheitsakt Last not least ist Labands Scharfblick für die Folgen zu nennen, die die Reichsjustizgesetze von 1877 für die Bundesstaatlichkeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der Bundesrepublik mit sich gebracht haben. Diese Gesetze haben eine einheitliche auf die Länder und das Reich verteilte Gerichtsbarkeit geschaffen und damit eine Grenze gesprengt, die der Staatsgewalt der Länder bis dahin wie selbstverständlich gezogen war: Die Hoheitsgewalt der Länder war auf ihr Landesgebiet beschränkt mit der Folge, daß die Urteile ihrer Landesgerichte in den anderen Ländern nur galten, wenn diese sie ausdrücklich anerkannten. Laband hat sogleich durchschaut, daß die Reichsjustizgesetze das „grundlegend umgestaltet“ haben.85 Mit ihnen hat das Reich seinen Ländern die Macht verliehen, mit Gültigkeit für das gesamte Reichsgebiet Recht zu sprechen, also mit Wirkung über ihre Landesgrenze hinaus hoheitlich zu handeln. Laband hat auch nicht versäumt, das einleuchtend zu begründen: „Diese Gewalt kann nicht aus der Staatsgewalt des Einzelstaates hergeleitet werden. … Die wahre Quelle dieser einheitlichen, das ganze Reich umfassenden Gerichtsgewalt kann nur die Reichsgewalt selbst sein. Wenngleich die Gerichte von den Staaten errichtet, besetzt und verwaltet werden, so üben sie doch auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein Hoheitsrecht aus, welches in der Reichsgewalt wurzelt und dessen oberstes Subjekt das Reich ist.“86 Es fällt auf, daß Laband mit dieser Erkenntnis bei der Justiz stehen geblieben ist. Ihre Übertragung auf die Verwaltung hätte nahegelegen. Aber so weit wollte
83 § 3 Abs. 2 HGrG, BHO und LHO BW 84 Zu ihr Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976, S. 168 ff., 307 ff. 85 Staatsrecht (Fn. 1), Bd. 3, S. 399 ff. und „Die Wandlungen der Reichsverfassung“, 1895, S. 34 f. 86 Die Wandlungen der Reichsverfassung, S. 35
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Laband nicht gehen.87 Deshalb brauchte es länger, bis sich die Einsicht Bahn gebrochen hatte, daß z. B. auch die in einem Reichsland erteilte Fahrerlaubnis als sogenannter überregionaler Verwaltungsakt im gesamten Reichsgebiet gilt. Vollends durchgesetzt hat den überregionalen Hoheitsakt erst das Bundesverfassungsgericht mit seiner „Dampfkesselentscheidung“ aus dem Jahre 1960, dem es den Leitsatz vorangestellt hat „Ein Land ist mit seiner Verwaltungshoheit grundsätzlich auf sein eigenes Gebiet beschränkt. Es liegt aber im Wesen des landeseigenen Vollzugs von Bundesgesetzen, daß der zum Vollzug eines Bundesgesetzes ergangene Verwaltungsakt eines Landes grundsätzlich im gesamten Bundesgebiet Geltung hat“.88 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht das nicht von Laband hat übernehmen können, so ist nicht zu übersehen, daß Laband dabei Pate gestanden hat.
III. Der Begründer der juristischen Staatsrechtslehre 1. Der Erfolg des Labandschen Staatsrechts Mehr noch als durch seine staatsrechtlichen Entdeckungen lebt Laband freilich fort, weil er es war, der das Staatsrecht aus seiner bis dahin dominierenden Verknüpfung mit den anderen Staatswissenschaften gelöst und damit der genuin juristischen Betrachtungsweise erschlossen. Das tat not, weil unter dem Dach der Staatswissenschaften die normative Dimension des neuen Reichsverfassungsrechts zu kurz gekommen wäre. Mit der Reichsverfassung von 1871 war die Zeit reif geworden für ein sorgfältigeres Auseinanderhalten von Staatsrecht und Staatslehre. Laband hat daraus die Konsequenz gezogen.89 In seinem „Staatsrecht“ fehlt die Allgemeine Staatslehre, die in den älteren Lehrbüchern durchweg die Erläuterung des konkret geltenden Verfassungsrechts überlagert, wenn nicht gar erstickt hatte. Laband konzentrierte sich statt dessen auf die Auslegung des Verfassungstextes mit den Methoden der juristischen Dogmatik, wie sie das Zivilrecht lehrt, freilich nicht ohne
87 Staatsrecht (Fn. 1), Bd. 1, S. 196, wo Laband zwar auf seine Ausführungen zur reichsweiten Rechtskraftwirkung der landesgerichtlichen Urteile in Bd. 3 verweist, aber sonderbarerweise keine Brücke zu ihnen schlägt. 88 BVerfG 11, S. 6 ff. 89 Erinnerungen (Fn. 3), S. 62
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gehörige Warnung vor einer „einfachen Übertragung zivilrechtlicher Begriffe und Regeln auf die staatsrechtlichen Verhältnisse“. Ebenso dezidiert verwahrt Laband sich gegen die auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch verbreitete „Abneigung gegen die juristische Behandlung des Staatsrechts“, die, „indem man die Privatrechtsbegriffe vermeiden will“, die Rechtsbegriffe überhaupt verstößt, „um sie durch philosophische und politische Betrachtungen zu ersetzen.“90 Eine unreflektierte „‚zivilistische‘ Behandlung des Staatsrecht ist eine verkehrte“ schrieb er im Vorwort zur ersten Auflage des „Staatsrechts“; aber es gelte vom Zivilrecht zu lernen; damit das Staatsrecht nicht „unjuristisch wird und auf das Niveau der politischen Tagesliteratur hinabsinkt.“ 91 Drum kam es Laband auf „die Konstruktion der Rechtsinstitute“ an sowie auf die „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe“ und auf „die Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen“ an, also auf „eine rein logische Denktätigkeit“. „Alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen“ sind dagegen „für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang und dienen nur zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen.“92 Auf dieser an den Verfassungsnormen anknüpfenden Methode93 beruht der überwältigende Erfolg des Labandschen Staatsrechts. Statt vom Staat zu erzählen, erklärt sie, wie dessen Verfassung funktioniert, und was sie von denen ver-
90 Staatsrecht (Fn. 1) S. VII 91 Diese Gefahr war selbst den Studentenjargon des 19. Jhd. vertraut; er kommentierte sie mit der Redensart „Staatsrecht ist wie Singen in der Schule“. 92 So das Vorwort zur 2. Auflage von 1887, aaO. (Fn. 1), S. IX. Wichtig für das Verständnis dieses methodologischen Credo und seiner Terminologie, insbesondere der termini „Rechtsbegriff“ und „Rechtsinstitut“, Maximilian Herberger, Logik und Dogmatik bei Paul Laband, in: Volkmar Heyen (Fn. 51), S. 91 ff. 93 Typisch für sie neben vielem anderem Labands Stellungnahme zum Luciusschen Steuerstreit, einer Affäre um den Erlaß der Fideikommiß-Steuer, den der König von Preußen dem aus dem Amt scheidenden Landwirtschaftsminister Robert Lucius von Ballhausen 1890 ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung bewilligt hatte. Laband rechtfertigte das im AöR 7 (1891), S. 31 ff. unter der Überschrift „Das Gnadenrecht in Finanzsachen nach preußischem Recht“, mit einer Zuordnung des Steuer-Erlasses zu dem Begriff „Gnade“, der generell „die Zuwendung eines Vortheils ohne rechtliche Verpflichtung“ meine und daher auch den Steuerdispens einschließe. Sonderlich überzeugend wirkte das schon damals nicht. Von Gerber, Labands staatsrechtliches Vorbild und Positivist wie er, hat schon 1871 („Über Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate“, in: Zeitschrift für Staatswissenschaft 1871, S. 430 ff.) aus der Mitwirkung des Landtags an der Gesetzgebung gefolgert, daß in der konstitutionellen Monarchie das Begnadigungsrecht des Monarchen auf die Aufhebung und Milderung von Strafurteilen beschränkt sei; das Dispensationsrecht der Exekutive setze dagegen eine von der Zustimmung des Parlaments abhängige gesetzliche Ermächtigung voraus; denn die Mitwirkung des Parlaments an der
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langt, die sie zu vollziehen und zu befolgen haben. Damit gab Laband seinen Lesern, was sie suchten: nicht staatsphilosophische Erbauung und politische Rückenstärkung, sondern profunde Vorbereitung auf die juristischen Anforderungen ihrer jeweiligen Arbeit in der Reichsleitung, den Landesregierungen, in der Beamtenschaft, als Abgeordnete oder Presseberichterstatter, im Falle des Kronprinzen Friedrich94 auf die Anforderungen seines künftigen Amtes als König von Preußen und Deutscher Kaiser. Labands Positivismus war für die Adressaten seines „Staatsrechts“ keine Verengung des Blicks auf den Staat; sie war die bis dahin vermißte Fokussierung auf das, was bei der Verwirklichung der Reichsverfassung vor allem interessierte.
2. Die Kritik am „Labandismus“ Die Kritik an Labands Positivismus blieb freilich nicht aus.95 Sie setzte an Einzelthesen an; dafür liefert Albert Hänels Auseinandersetzung mit Labands zweigeteiltem Gesetzesbegriff das prominenteste Beispiel.96 Sie zielte aber auch auf den Kern seiner Sichtweise; dafür steht Otto von Gierke, der Labands „Staatsrecht“ unmittelbar nach der Fertigstellung der ersten Auflage einer prinzipiellen Prüfung auf seine „Bedeutung für unsere Rechtswissenschaft“ unterzog.97 Diese Prüfung fiel nicht rundum negativ aus. Gierke billigt „das bewußte und energische Bestreben Labands, das Staatsrecht des Deutschen Reiches durchweg juristisch zu behandeln, ohne Einschränkung“.98 Laband verkehre jedoch „diesen richtigen Gedanken in den unrichtigen Gedanken einer genetischen Isolierung des Rechts“ von „den übrigen Manifestationen des sozialen Lebens; seine Methode entbehre „der vollen Kraft historischer Begründung“.99 Noch schärfer tadelt Gierke Labands in seinen Augen allzu schlicht privatrechtlich schaltende
Gesetzgebung laufe leer, wenn nicht auch der Monarch strikt an die mit ihm „vereinbarten“ Gesetze gebunden bleibe. 94 Der wohl Prominenteste unter denen, die Labands Lesern; s. o. bei Fn. 15. 95 Zusammenfassend Manfred Friedrich, Paul Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit, AöR, 111 (1986) S. 197 ff. 96 Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne, 1888 97 Im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, NF. 7 (1883), S. 1097–1195; hier zitiert nach dem Nachdruck von 1861. 98 AaO. (Fn. 97), S. 6 99 AaO. (Fn. 94), S. 17, 19.
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Qualifikation des Staates als juristische Person.100 In ihr kommt für Gierke nicht genügend zum Tragen, was die Eigenheit des Staates als nationaler Gemeinschaft seiner Bürger ausmacht und ihn – in Gierkes Sprache – zur „realen Verbandsperson“ erhebt.101 Diese Kritik hat die Breitenwirkung des Labandschen „Staatsrechts“ freilich nicht geschmälert. Sie bot dem engen Kreis der Staatstheoretiker Diskussionsstoff. Die Praxis indessen hat sich wenig um sie gekümmert. Breiteren Widerhall fand sie daher erst nach dem Umbruch des Jahres 1918. Der Untergang der Monarchie hatte die staatsrechtliche Selbstsicherheit des Kaiserreichs zerbrochen. Die neue Republik verlangte nach Legitimation, ihre aus der Revolution geborene Verfassung nach Neubesinnung auf ihren Geltungsgrund. Die Staatsrechtslehre sah sich daher herausgefordert zu einem auch emotionalen Engagement für die Verfassung, das Labands „rein juristische“ Methode nicht hinreichend stimulierte. So kam es zu dem „Weimarer Methodenstreit“, der die Staatsrechtslehre in Auseinandersetzungen um den rechten Umgang mit der Verfassung von einer bis dahin ungekannten Heftigkeit verstrickte.102 Darüber geriet Laband posthum ins Kreuzfeuer. Die Distanzierung von ihm überwog. Hermann Heller gab ihr mit Apostrophierung des Labandschen Positivismus als „Labandismus“ das Stichwort.103 Für Rudolf Smend tat sich mit Laband „ein wahrer Abgrund des Formalismus auf“;104 er verurteilte Labands „mangelnden Ernst gegenüber den verfassungspolitischen Gewissens- und Lebensfragen des deutschen Volkes“ auf das
100 Staatsrecht (Fn. 1), Bd. 1, S. 88 ff. und gipfelnd in der zum Klassiker gewordenen Kennzeichnung des Kaisers als „dasjenige Organ, welches man bei einer Privatkorporation den Vorstand oder Direktor nennt.“ (aaO., Fn. 1, S. 228). An ihr hat Laband in allen Auflagen des „Staatsrechts“ unbeirrt festgehalten. Den Protest Gierkes (Fn. 97), S. 40 f., der den Kaiser „eine in ihrer Art einzige und höchste Gliedpersönlichkeit“ nannte, tat Laband als das ab, was heute als „Verfassungslyrik“ belächelt wird; für ihn war es „ganz verfehlt …, die juristische Natur eines Rechtsinstituts durch unjuristische Schilderungen charakterisieren zu wollen“, die alle „unzweifelhaft ebenso richtig als juristisch nichtssagend sind.“ 101 AaO. (Fn. 97), S. 34 ff. 102 Zu ihm Max-Emanuel Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, in: NJW 1989, S. 91 ff. 103 Die Krisis der Staatslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 55 (1926), S. 300 104 Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; hier zitiert nach dem Abdruck in Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 119 ff., 271.
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Schärfste; es mißfiel ihm „das tiefe Unrecht von Labands Werk und die Ursache seiner geringen aufbauenden und überwiegend ungünstigen Wirkung.“105 Insbesondere dominierte der Vorwurf, Laband habe hinter seinem positivistischen Ansatz verborgen, daß es ihm im Grunde nicht um die Auslegung der Reichsverfassung, sondern um die Abwehr aller gegen ihre konservative Ausrichtung abzielenden Versuche ihrer Weiterentwicklung zu tun gewesen sei. Die bevorzugten Steine des Anstoßes bildeten zum einen Labands Festhalten an der noch in der Weimarer Zeit fortlebenden Ansicht, die Freiheits- oder Grundrechte seien „überhaupt keine Rechte im subjektiven Sinne“, sondern nur „Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst gibt“,106 und zum anderen in seiner strikt ablehnenden Haltung gegen alle Bestrebungen, das monarchische Regierungssystem durch eine parlamentsfreundlichere Auslegung erst des Budgetrechts107 und dann des Interpellationsrechts108 näher an das parlamentarische heranzurücken. Bei beidem diene, so wurde gesagt, Labands Methode nicht der juristischen Erkenntnis, sondern allein dem Verhüllen von Labands konservativer politischer Einstellung, wobei allerdings erheblich zu kurz kam, daß Laband in diesen und vielen anderen Punkten nicht seinen, sondern den Konservativismus der Bismarckschen Reichsverfassung verteidigt hat.109
105 AaO. (Fn. 104), 336 mit dem unschönen obiter dictum „Von dem tieferen Grund braucht hier nicht die Rede zu sein“ (S. 338). 106 So im Anschluß an Gerber in Staatsrecht (Fn. 1), Bd. 1, S. 150 f. Daran übte selbst Hugo Sinzheimer (Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1937, S. 145 ff., 155), Labands engagiertester Fürsprecher, verhaltene Kritik. 107 Dafür paradigmatisch Smend, aaO. (Fn. 100), S. 336: Labands Lösung des Verfassungskonflikts sei „keine Lösung des Problems, sondern seine Eskamotierung durch einen Trick.“ 108 Staatsrecht (Fn. 1), Bd. 1, S. 307: „Das Interpellationsrecht des Reichstags … ist weiter nichts als die allgemeine, recht vielen Menschen zukommende Fähigkeit, an die Regierung Fragen zu stellen, welche dieselbe je nach ihrem Belieben einer Antwort würdigen oder unbeantwortet lassen kann.“ Im gleichen Sinne der Aufsatz „Das Interpellationsrecht“ in: DJZ 1909, Sp. 677. 109 Davon abgesehen wird die Klassifizierung als „konservativ“, wenn nicht gar „stockkonservativ“ Laband nicht gerecht. Laband war ein National-Liberaler. Das kommt nicht nur in seinen Lebenserinnerungen zum Ausdruck. Es zeigte sich auch bei einer Umfrage der DJZ 1911, Sp. 10 ff. über die Todesstrafe; Labands Stellungnahme hebt sich wohltutend von denen der meisten anderen Befragten – darunter Karl Binding, Ludwig Fulda, Ernst Haeckel, Gustav Schmoller – ab. Auch seine Hörer haben Laband nicht als „Konservativen“ erlebt; dazu Wilhelm Beyer, Paul Laband: ein Pionier des öffentlichen Rechts, in: NJW1988, S. 2227 f.
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3. Laband im Urteil der Gegenwart Im Urteil der Gegenwart widerfährt Laband mehr Gerechtigkeit.110 Man erkennt an, daß Laband selbst alles andere als ein dogmatischer Verfechter seiner Methode war, sondern sehr wohl wußte, „daß die ausschließliche Herrschaft der logischen Behandlungsart des Rechts eine höchst nachteilige Einseitigkeit wäre und in gewisser Beziehung die Verkümmerung unsrer Wissenschaft herbeiführen würde.“111 Man hält Laband auch wieder zu Gute, daß dies kein bloßes Lippenbekenntnis war. Laband verstand es sehr wohl, die Verfassungsgeschichte, die Allgemeine Staatslehre, die Politik und die Rechtsphilosophie in die Erklärung des positiven Verfassungsrechts einzubinden, wo sie zur Verdeutlichung oder Vertiefung beitrugen. Er hat sie nicht an die erste Stelle seiner Verfassungsinterpretation gestellt; aber wo sie weiterhalfen, hat er auf sie zurückgegriffen.112 Seine mittlerweile im Druck vorliegenden Vorlesungsmanuskripte liefern dafür den Beleg.113 Der Vorwurf, Laband habe die Allgemeine Staatslehre aus dem „Staatsrecht“ vertrieben und damit das geistige Niveau der Staatsrechtslehre auf das der BrotJurisprudenz abgesenkt, ist vergessen. Labands Selbstverteidigung, er halte keineswegs „rechtshistorische, philosophische und politische Erörterungen über staatsrechtliche Gegenstände für wertlos“, sei aber der Meinung, daß „nicht in jedem Buche alles geleistet werden kann und eine vernünftige Selbstbeschränkung die unerläßliche Voraussetzung des Gelingens ist“,114 wird als schlüssig
110 Zu nennen sind vor allem Michael Stolleis, aaO. (Fn. 62), S. 341 ff.; Bernhard Schlink (Fn. 5) Walter Pauly (Fn. 63), 177 ff.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 10. Aufl. 2011. Rdnr. 445 ff. 111 Staatsrecht (Fn. 1), S. IX 112 Beispielhaft dafür sein Vortrag „Die Wandlungen der Reichsverfassung“, 1895, in dem Laband gleich zu Beginn darauf hinwies, daß die Unverletzlichkeit der Verfassung nicht nur von den Vorkehrungen abhänge, mit denen sie sich selbst vor vorschnellen Änderungen oder unbedachten Durchbrechungen schütze, sondern ihren wirksamsten Schutz finde „in dem Rechtsbewußtsein des Volkes, welches in der Verfassung die Grundfeste der Freiheit und der Rechtssicherheit erblickt und welchem daher eine Verfassungsverletzung als ein besonders schwerer Rechtsbruch erscheint.“ Dieser Satz schlägt eine zwar schmale, aber doch tragfähige Brücke über jenen „wahren Abgrund des Formalismus“, den Laband Smend zufolge aufgerissen haben soll. Die Pointe, daß Laband mit ihm ein Stück Integrationslehre antizipiert hat, kommt hinzu. 113 Laband, Paul Staatsrechtliche Vorlesungen. Vorlesungen zur Geschichte des Staatsdenkens, zur Staatstheorie und Verfassungsgeschichte und zum deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts gehalten an der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg 1872–1918. Bearb. und hrsg. von Bernd Schlüter, 2004. 114 Staatsrecht (Fn. 1), S. X
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akzeptiert. Laband wird wieder nachgesehen, daß er nicht alle Erkenntnisse späterer Generationen vorweggenommen, nicht alle Neuerungen späterer Verfassungen schon unter der Geltung der Reichsverfassung von 1871 propagiert und hin und wieder Thesen vertreten hat, die nicht recht überzeugen. Weit mehr als das alles zählt, daß es Laband war, der das Staatsrecht als vollwertiges Fach in die Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts inkorporiert und die Fundamente für die dem modernen Verfassungsstaat gemäße Staatsrechtslehre gelegt hat.115
Literaturhinweise Wilhelm Bruck (Hrsg.), Lebenserinnerungen von Paul Laband, 1918 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1–4, 5. Aufl. 1911 Paul Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde, 1871 Paul Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. 1895 Bernhard Schlink, Laband als Politiker, in: DER STAAT 31 (1992), S. 554 ff. Walter Pauly, Paul Laband – Staatsrechtslehre als Wissenschaft, in: Heinrichs/Franzki/ Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 301 ff.
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II Georg Meyer (1841–1900) Pascale Cancik Inhaltsübersicht I. Einführung 29 II. Biographisches 31 III. Nationalliberale Politik und Staatsrechtspraxis 34 IV. Wissenschaft: Themen, Methode, Disziplinen 36 1. Themen 36 a) Auf dem Weg zum Bundesstaat: Staatsrecht und Kolonialrecht 36 b) Weitere Themen: Verwaltungsrecht, Wahlrecht, Rechtsgeschichte 37 2. Meyers Methode: Zwischen Aufnahme und Modifikation der „juristischen Methode“ 39 3. Disziplinenbildung durch Lehre und Didaktik 41 V. Schluss: Staatsrechtslehrer des langen 19. Jahrhunderts 44
I. Einführung Georg Meyer (1841 bis 1900) ist nach seinen Lebensdaten kein Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Drei zentrale Werke indessen ragen ins 20. Jahrhundert hinein. Sein Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, in erster Auflage erschienen 1878, ist als „Meyer-Anschütz“ ein letztes Mal herausgekommen 1919.1 Sein Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts von 1883 erschien als „Meyer-Dochow“ in vierter Auflage im Jahre 1913, das monumentale Buch über „Das parlamentarische Wahlrecht“ im Jahre 1901, posthum herausgegeben von Georg Jellinek. Unser Wissen über Georg Meyer ist eigentümlich. Es gibt keine Monographie über ihn und sein Werk. Die offiziellen Eckdaten seines Lebens sind überliefert in verschiedenen Biographie-Sammelwerken.2 Nähere Informationen zum ‚Menschen‘ Meyer finden sich, offenbar ausschließlich, in Äußerungen des seit 1891
1 Es wurde als unveränderter Nachdruck der Öffentlichkeit leichter zugänglich gemacht durch eine Ausgabe von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin 2005. 2 Deutscher Parlamentsalmanach, Bd. 14, Leipzig 1881; Hirth’s Parlaments-Almanach, Bd. 15, Berlin 1878; Hirth’s Parlaments-Almanach, Bd. 16, Berlin 1887; Manfred Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), 339–340 [Onlinefassung].
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ebenfalls in Heidelberg wirkenden Kollegen Georg Jellinek,3 sie stammen aus Beiträgen nach Meyers Tod.4 Sie werden in den 1990er Jahren einmal aufgegriffen im Versuch, ihn der „unverdiente[n] Vergessenheit“ zu entreißen.5 Seit 2010 gibt es einen Eintrag in Wikipedia, kein Bild.6 Es gibt keine Festschrift, keine Gedenkschrift und offenbar keine „Schüler“.7 Einen kurzen Beitrag (mit Bild) bietet eine 2010 erschienene Geschichte der Heidelberger Juristischen Fakultät,8 an die Meyer im Jahre 1889 wechselte. Und es gibt Meyers Schriften sowie Protokolle seiner Reden im Reichstag. Letztere sind, da mittlerweile digitalisiert,9 gut zugänglich. Erstere findet man an ganz jungen Universitäten oft gar nicht, an älteren am ehesten in späteren Auflagen. Schließlich gibt es Meyer als Gegenstand wissenschaftlicher Befassung oder Auseinandersetzung, bei seinen Zeitgenossen10 und in späteren Arbeiten zu(r) Staats- und Verwaltungsrecht(swissenschaft) des 19. Jahrhunderts.11
3 Zu Jellinek in Heidelberg vgl. Klaus-Peter Schroeder, Eine Universität für Juristen und von Juristen. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2010, 287 ff. Zur Freundschaft mit Meyer ebd., 291, berichtet wird von „gemeinsamen täglichen Spaziergängen“. 4 Georg Jellinek, Worte der Erinnerung gesprochen bei der Trauerfeier am 2. März 1900, Heidelberg 1900; Jellinek, Nachruf zu Georg Meyer, in: DJZ 1900, 130 f.; Jellinek, Meyer, Georg, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Band 5: Vom 1. Januar bis 31. Dezember 1900, Berlin 1903, 336 ff.; Jellinek, Georg Meyer, in: Weech, Friedrich von/Krieger, Albert (Hrsg.): Badische Biographien, Teil 5, Band 2, Heidelberg 1906, 559 ff. Persönliche Aufzeichnungen von Georg Meyer sind nicht überliefert, so Carsten Doerfert, Georg Meyer (1841–1900). Staatsrechtslehrer und Politiker aus Lippe, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, Heft 62 (1993), 191 Fn. 1.; kurze autobiographische Ausführungen finden sich in: A. Hinrichsen, Das literarische Deutschland, 2. A. 1891, Sp. 897 f. = Deutsches Biographisches Archiv (DBA) Fiche 836 Nr. 167 f. 5 Im regionalhistorischen Kontext: Doerfert (FN 4), 191. 6 [http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Meyer_%28Politiker%29], Aufruf 6.4.2012. 7 Franz Dochow (Privatdozent und Extraordinarius der Universität Heidelberg), der das Verwaltungsrechtslehrbuch weiterführt, ist wohl nicht als Schüler Meyers zu sehen. Dem trockenen Vorwort zur dritten Auflage mit zugehöriger Fußnote zufolge sollte zunächst Schücking das Verwaltungsrecht übernehmen, über eine Beziehung Dochows zu Meyer findet sich kein Wort. Zur enttäuschten Erwartung der Heidelberger Fakultät bzgl. Dochow, vgl. Schroeder (FN 3), 354 f. Ein Habilitationsgutachten erstattete Meyer für den (früh verstorbenen) Bruno Schmidt (Schroeder (FN 3), 350). Auf Meyers Stelle folgte Gerhard Anschütz, der kurz zuvor nach Tübingen berufen worden war, vgl. Schroeder (FN 3), 402 f. 8 Schroeder (FN 3), 278 ff. 9 www.reichstagsprotokolle.de/treffer.html?anfrage1=PND_117558680 (Aufruf: März 2012). 10 Vgl. etwa die Rezensionen von Juraschek, Stoerk, Rosin, Fricker, Landesberger, Rehm, Otto Mayer, Loening, Niedner. 11 Eine Auswahl: Peter Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaats. Methodische Überlegungen zur Entstehung des wissenschaftlichen Verwaltungsrechts, Göttingen 1967, 11 ff.,
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II. Biographisches12 Georg Meyer wurde in Detmold geboren, am 21. Februar 1841. Sein Vater (Georg Heinrich Meyer, 1803–1866, gebürtig in Melle) war Gastwirt und ab 1847 Oberbürgermeister der Stadt. Seine Mutter (Ida Sophie Wilhelmine Meyer, geb. Caspari, 1809–1842, gebürtig in Schieder) starb kurz nach der Geburt einer Tochter, die nur einen Tag alt wurde. Zur Zeit der 1848er-Umbrüche war Meyer sieben Jahre alt. Er besuchte das Gymnasium in Detmold und soll dort in einer Schülerverbindung „Teutoburgia“ gewirkt haben.13 Jellinek berichtet, dass Meyer als Gymnasiast erstmalig politisch in Erscheinung getreten sei, indem er sich an einer öffentlichen Verbrennung des „Heidelberger Katechismus“ beteiligte, eines 1563 formulierten, weitverbreiteten Katechismus, der in Lippe gegen den Widerstand der Bevölkerung wieder eingeführt werden sollte.14 Ob diese Demonstration Folgen für Meyer hatte, erfahren wir nicht. Nach dem Abitur begann Meyer im Frühjahr 1860 sein Studium der Rechte an der Universität Jena, hörte juristische Vorlesungen u. a. bei Leist, Hahn, Michelsen, Daub,15 außerdem Geschichte und Philosophie. In Jena soll er begeisterter Burschenschaftler bei der „Germania“ gewesen sein,16 der ehemaligen germanis-
51 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958, 259 ff.; Martin Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt. Zu den Handlungsformen und Handlungsprinzipien der öffentlichen Verwaltung nach deutschem und englischem Recht, Stuttgart 1962, 187 ff.; zentral: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zweiter Band (Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914), München 1992, 351 ff., 398 ff.; Stolleis, Verwaltungswissenschaft und Verwaltungslehre 1866–1914, Verw 15 (1982), 45 ff., 51, 58 ff. 12 Die biographischen Hinweise orientieren sich wesentlich an Doerfert (FN 4) und Jellinek, insbesondere sein Beitrag in: Badische Biographien (FN 4), und den im Einzelnen genannten Nachweisen. 13 So ein Eintrag der Burschenschaft Normannia-Nibelungen zu Bielefeld (gegr. 1905), die Georg Meyer als „berühmten Burschenschaftler“ ohne weiteren Nachweis der Burschenschaft führen (dazu aber im Text). Die Auswahlkriterien für die genannte Liste berühmter Burschenschaftler werden nicht erklärt. [http://www.normannia-nibelungen.de/article-11-beruehmte-burschenschafter-in-und-aus-bielefeld.htm], Aufruf: 6.4.2012. Die genannte Schülerverbindung Teutoburgia ist offenbar nicht verbunden mit der heute noch existierenden „Freie Burschenschaft Teutoburgia zu Lemgo“, gegründet als Freie technische Verbindung Teutoburgia am 26. April 1912, so die Selbstauskunft unter [http://www.teutoburgia.de/Teutoburgia/Seite1.htm], Aufruf: 6.4.2012. 14 Für die Hintergründe verweist Doerfert auf E. Kittel, Heimatchronik des Kreises Lippe, Köln 1978, 174, 238. Die Auseinandersetzung dürfte nicht untypisch für die Zeit der Reaktion nach dem Scheitern der 1848-Bewegung gewesen sein. 15 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 560. 16 Doerfert (FN 4), 192; Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 560.
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tischen Abspaltung der Jenaer „Urburschenschaft“ von 1815.17 Nach der Unterdrückung durch die Reaktion fanden sich hier vor allem diejenigen, die nach nationaler Einheit der deutschen Staaten strebten, während die vormals oft dazugehörigen liberalen und republikanischen Ideale der Vor-1848er-Zeit zunehmend in den Hintergrund traten.18 Nach drei Semestern wechselte Meyer im November 1861 an die berühmte Heidelberger Universität, wo er im März 1863 noch vor der ersten juristischen Staatsprüfung zum Doktor promoviert wurde.19 Die Staatsprüfung legte er im selben Jahr in Detmold ab und trat zunächst in den lippischen Staatsdienst ein. Dort ließ er sich rasch beurlauben, um zunächst in Berlin statistische Studien zu betreiben und dann im Jahre 1866 beim statistischen Bureau in Jena „als Hilfsarbeiter“ tätig zu sein.20 Offenbar arbeitete er parallel an einer wissenschaftlichen Laufbahn, jedenfalls habilitierte er sich am 21. Dezember 1867 an der Universität Marburg mit einer „Dissertation“ über das „Expropriationsrecht im römischen Reich“, die Teil seiner ersten Monographie über „Das Recht der Expropriation“ (Leipzig 1868) wurde. Im gleichen Jahr veröffentlichte er seine „Grundzüge des norddeutschen Bundesrechts“ (Leipzig 1868), als einer der ersten zu dieser neuen staatsrechtlichen Situation in Deutschland. 1869/70 führte ihn eine lange Studienreise nach England, seine vergleichende Beschäftigung mit dem Parlamentarismus, die in seinem letzten Buch (Das parlamentarische Wahlrecht, hrsg. von Georg Jellinek, Berlin 1901) aufgegriffen wird, scheint hier zu beginnen. Am deutsch-französischen Krieg 1870/71 konnte er nicht als Soldat teilnehmen – zu seinem großen Bedauern, wie Jellinek betont.21 Zum Sommersemester 1872 wurde Meyer außerordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Marburg. Im Jahr darauf heiratete er dort Ernes-
17 Dazu kurz Siegfried Schmidt in Verbindung mit Ludwig Elm und Günter Steiger, Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena, Weimar 1983, 169 (zu Aktivitäten in den 1830 Jahren (auch: „Zeit des Progresses“): 182 ff., zu den 1848er: 201 ff.). Ausführlicher: Herman (sic) Haupt, Die Jenaische Burschenschaft von der Zeit ihrer Gründung bis zum Wartburgfeste. Ihre Verfassungsentwicklung und ihre inneren Kämpfe, in: ders. (Hg.), Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 1, 2. A., Heidelberg 1966, 18 ff.; Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 3, Heidelberg 1929, 36 ff., 43. 1846 formierte sich der germanistische Flügel dieser Burschenschaft aufs Neue, er vertrat eine nationale, auf deutsche Einheit gerichtete Gesinnung (Wahlspruch: „Leben und Streben dem Vaterlande“). Die seit 1993 wieder in Jena residierende JD! Germania nennt Georg Meyer nicht. 18 Vgl. die Formulierung von der Zurückdrängung der „bürgerlich-demokratischen Traditionen aus der „heroischen Zeit“ der Jenaer Burschenschaftsbewegung vor 1848“, in: Siegfried Schmidt (FN 17), 224. 19 Dazwischen verbrachte er noch ein Semester in Göttingen. 20 So Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 560. 21 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 561.
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tine Schotten, die Tochter des Syndicus’ der Universität.22 Offenbar blieb die „glücklichste Ehe“ (Jellinek) kinderlos, jedenfalls finden wir keinerlei Informationen.23 Schon im Jahr nach Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung erschienen Meyers „Staatsrechtliche Erörterungen über die deutsche Reichsverfassung“ (Leipzig 1872), ein schmales Bändchen, das wesentliche Regelungen der Reichsverfassung vorstellt und insbesondere die viel behandelte Frage nach Staatenbund oder Bundesstaat und konkret: nach den Kompetenzen des Reichs, nicht zuletzt zur späteren Erweiterung seiner eigenen Kompetenzen, aufgreift. 1875 berief ihn die Universität Jena. In Jena beginnt seine aktive politische Zeit. 1878 wird er zum Abgeordneten des Weimarischen Landtags, im Oktober 1881 im Wahlkreis Jena-Neustadt24 zum Abgeordneten des Reichstages gewählt, dem er für die nationalliberale Partei bis 1890 angehören wird.25 Parallel arbeitet er wissenschaftlich weiter. Seine beiden Lehrbücher, die wie erwähnt bis ins 20. Jahrhundert weitertragen, entstehen hier. Das Lehrbuch des deutschen Staatsrechts erscheint 1878, das Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts 1883. Im Jahre 1888 veröffentlicht Meyer eine Schrift über „Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete“. Jellinek stuft sie ein als „der erste und gelungenste Versuch wissenschaftlicher Darstellung des Deutschen Kolonialrechts“, an dessen gesetzlicher Grundlegung Meyer im Reichstag erheblichen Anteil gehabt habe.26 Meyer erhält Rufe nach Marburg und Breslau, folgt aber 1889 der Berufung nach Heidelberg, auf den wegen des Todes von Hermann Schulze freigewordenen „Lehrstuhl des deutschen Staats- und Verwaltungsrechtes sowie der deutschen Rechtsgeschichte“.27 Sein Lehrerfolg muss groß gewesen sein. Neben den genannten Fächern las er Kirchenrecht, Grundzüge des deut-
22 Doerfert (FN 4), 193. 23 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 561. Meyers Frau starb 1931, Friedrich, Georg Meyer, in: NDB 17 (1994), 339 f. [www.deutsche-biographie.de/artikelNDB_n17–339–01.html], Aufruf: 10.10.2011. 24 So Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 562; vom „Wahlkreis 3 Sachsen Weimar“ spricht Doerfert (FN 4), 195. 25 Schmidt (FN 17), 224 und 233, konstatiert, dass „zahlreiche“ Jenaer Professoren für die Nationalliberale Partei gewirkt oder mit ihr sympathisiert hätten, so dass sie „starke Positionen an der Hochschule“ gehabt habe. Zu den politischen Konflikten jener Zeit im Reichstag vgl. Erich Brandenburg, 50 Jahre Nationalliberale Partei. 1867–1917, Berlin 1917, 12 ff. 26 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 562 f. auch zum folgenden. 27 Meyer erhielt ein Gehalt von 7.500 Mark, Schroeder (FN 3), 279. Georg Jellinek erhandelte sich als Anfangsgehalt nur 4.800 Mark (und war damit„verhältnismäßig gering besoldet“; dazu kamen aber Kolleggelder, die „das ein- bis zweifache des Grundgehalts“ ausmachen konnten, Schroeder (FN 3), 288).
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schen Privatrechts, Völkerrecht und Geschichte der deutschen Einheitsbestrebungen. Mit dem und wegen des Wechsels nach Heidelberg beendet Meyer sein Mandat im Reichstag, blieb aber, nun in Baden, politisch tätig: als Vorstandsmitglied des nationalliberalen Vereins (der Partei) in Heidelberg, im Zentralausschuss der Partei, in kommunalen Ausschüssen und Beiräten28 und, als Vertreter der Universität, in der badischen Ersten Kammer. 1897 wurde er Prorektor der Universität. Am 28. Februar 1900 stirbt er, offenbar ganz überraschend.
III. Nationalliberale Politik und Staatsrechtspraxis Wohl früh der nationalliberalen Politik zugeneigt, war Meyer, wie einige andere Staatsrechtslehrer des 19. Jahrhunderts, politisch sehr aktiv.29 Der Zeitgenosse Jellinek beschreibt Meyers politische Anschauung wie folgt: „Ein mächtiges, nach außen achtungsgebietendes, nach innen die gemeinsamen Interessen des deutschen Volkes schirmendes und förderndes Reich, Wahrung des bundesstaatlichen Charakters des Vaterlandes, gleich entfernt von eigensüchtigem Partikularismus der Bundesglieder und jedem dem sondertümlichen Leben der Einzelstaaten feindlichen Unitarismus, blieb ihm oberste politische Idee. In sozialer Hinsicht huldigte er der Anerkennung weitgehender Selbsttätigkeit des Bürgers von Seiten des Staates.“30 Gemeint ist hier die bürgerlich-liberale, nicht die demokratische Version von Selbsttätigkeit, wie sie etwa bei Behr und anderen Frühdemokraten vor 1848 formuliert worden ist.31 Gesellschaftliche Selbstorganisation, etwa die korporative Verfassung des Handwerks, wird begrüßt, staatlicher Zwang dazu abgelehnt. Meyer war Mitglied im Marburger Liberale[n] Verein32 und später der Nationalliberalen Partei. Diese entsteht – grob skizziert – in der Spannung zwischen
28 Jellinek nennt „z. B.“: Bezirksrat, Bürgerausschuss, Kirchengemeinderat, Vorsitz des Beirats des Gymnasiums, der Juristischen Gesellschaft und der Museumsgesellschaft, Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 564. 29 Genannt wird typischerweise noch Hänel. Im Vergleich zur Hoch-Zeit der „politischen Professoren“ im Vormärz und in der Paulskirche nahm die Zahl der Professoren in Parlamenten nach der Wende zur „Realpolitik“ allerdings deutlich ab, kurz: Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, Heidelberg 1996, 8 ff. 30 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 565. 31 Cancik, Volkstümlichkeit der Verwaltung, Der Staat 2004, 298 ff. (306 ff.). 32 Doerfert (FN 4), 195.
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preußischem Budgetkonflikt und der Schlacht von Königgrätz.33 Nach Konflikten zwischen den verschiedenen liberalen Gruppierungen bildet sich Ende 1866 diese neue ‚Fraktion‘, vor die Wähler tritt sie erstmals im Januar 1867. In einer Würdigung zum fünfzigjährigen Jubiläum werden als entscheidende Abgrenzungen zu den in „unfruchtbarer und erfolgloser Oppositionspolitik“ verharrenden (‚anderen‘) Liberalen genannt: „die entschlossene Abkehr des Liberalismus vom parlamentarischen System [… scil. v. a. im Bereich auswärtige Angelegenheiten, PC]“, das Setzen auf allmählichen Kompromiss, statt auf politischen Kampf; die Einsicht, „daß die Sicherung der staatlichen Machtstellung das unbedingt Erste und Notwendigste, die innere Ausgestaltung erst das Zweite ist“.34 Das weitgehende Arrangement mit Bismarck und die damit verbundene Anerkennung seines Primates von Außenpolitik und Reichsintegration vor liberalen Wirtschafts- und Konstitutionsvorstellungen bestimmten die Folgejahre nationalliberaler Politik.35 Sie führten zu parteiinternen Folgekonflikten: Meyers Zeit als Abgeordneter im Reichstag beginnt kurz nach der sogenannten Sezession von 1880 und der anschließenden, stark auf Bismarck bezogenen Reorganisation der Partei(politik).36 Bei Meyer kann wohl von einer „Abkehr vom parlamentarischen System“ im oben zitierten Sinne nicht pauschal die Rede sein.37 Fast hundert Jahre später fasst Doerfert Meyers Tätigkeit im Reichstag wie folgt zusammen: „Aktive Kolonialpolitik nach außen und Kampf gegen die Sozialdemokratie nach innen waren bestimmende Themen.“38
33 Viele der lange in strikter Opposition zu Bismarck stehenden Liberalen verlassen diese Position, um nicht jeglichen Einfluss zu verlieren. Die Zustimmung zum Indemnitätsgesetz, mit dem der Verfassungsbruch im Budgetstreit nachträglich legitimiert werden sollte, war zugleich der endgültige Bruch, der eine neue Justierung im Parteiensystem erforderlich machte. Alexander Burger, Geschichte der Parteien des deutschen Reichstags, Heft II, 2. A. Leipzig 1913, passim. Vgl. auch zum folgenden: Brandenburg (FN 25), 4 ff. 34 Brandenburg (FN 25), 5 ff. 35 Die Konflikte zwischen den verschiedenen Flügeln der Liberalen und die Trennungen und Kooperationen mit anderen Fraktionen können hier nicht aufgegriffen werden, vgl. dazu Burger (FN 33), passim. Zeitgenössische Beschreibung der Konflikte auch in: Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, hrsg. von Centralbüro des Nationalliberalen Partei Deutschlands, Berlin 1907, s. v. Nationalliberale Partei (= S. 765 ff.). Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 4, Stuttgart 1982, 65 ff. 36 Huber (FN 35), 68 f. 37 Wie Georg Meyer politisch zu verorten war, bedürfte genauerer Untersuchung. Immerhin tritt er ein für eine gewisse Beteiligung des Reichstages im Bereich des Kolonialrechts und auch an anderen Stellen. 38 Doerfert (FN 4), 195.
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Der Kampf um die deutsche Einheit und die Bemühung um Integration des Reichsgebietes sind prägendes und dauerhaftes Thema seiner politischen wie auch seiner wissenschaftlichen Bemühungen. In den für seine Schriften typischen kurzen historischen Hinführungen und Verweisen wird dieser Aspekt der Zeitgeschichte von Meyer immer wieder erwähnt. Bei der Mitarbeit an der Gesetzgebung konnte er seine spezifischen Kompetenzen im Staats- und Verwaltungsrecht einbringen und vertiefen. Für Meyers Zeit in der ersten badischen Kammer nennt Jellinek das Gesetz über Ortsstraßen und Baufluchtlinien und das Enteignungsgesetz, beides bekanntlich wichtige Bereiche des Verwaltungsrechts. Im Reichstag war Meyer zusammen mit Albert Hänel prägend an der Formulierung des „Gesetz(es) über die deutschen Schutzgebiete“ beteiligt, in welchem 1886 das in Form von Etatbereitstellungen und Verwaltungsorganisation schon praktizierte Kolonialrecht des Deutschen Reichs kodifiziert wurde. Die Konflikte zwischen Reichstag und Regierung um die etatmäßige Ausweisung von Unterstützungen der und Einnahmen aus den Kolonialgebieten, die Ausdruck des später ausgetragenen grundlegenden Kompetenzkonfliktes um die Stellung der „Schutzgebiete“ und die darauf bezogenen Regelungskompetenzen waren, greift Meyer in seinem Buch „Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete“ (1888) auf. Es ist ein prägnantes Beispiel für die Balancierungsbemühungen im schwierigen und noch nicht endgültig ausgehandelten Kompetenzgefüge zwischen dem Kaiser als zentraler und mittelbar preußischer Gewalt, dem Bundesrat als Institution der „verbündeten Regierungen“ und dem Reichstag. Dieser, resp. einige Abgeordnete, darunter Georg Meyer, erstrebte ein – aus heutiger Sicht durchaus bescheidenes – Mitwirkungsrecht, das auf die Gesetzgebung über Privatrecht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren begrenzt wurde, Verwaltungsrecht also nicht erfasste, das damit ggf. der Verordnungsgebung durch den Kaiser unterlag. Grundlegende Fragen des Staatsrechts, die Meyer wissenschaftlich aufgreift, stellen sich hier als konkrete Fragen der Staatspraxis.
IV. Wissenschaft: Themen, Methode, Disziplinen 1. Themen a) Auf dem Weg zum Bundesstaat: Staatsrecht und Kolonialrecht In Meyers staatsrechtlichen Arbeiten ist – zeitgemäß – die Erfassung des zunächst noch einzuordnenden Phänomens „Reich“ zentrales Thema. Es erscheint ihm
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„unzweifelhaft als ein Bund der einzelnen deutschen Staaten […]. Dieser Bund erscheint aber in der Form des Bundesstaats.“39 So zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht tastend und vorausschauend zugleich formuliert er 1872, sich schon abgrenzend von seinen Positionen zum Norddeutschen Bund.40 Zum Schwur kommt es bei Verfassungsänderungen, insbesondere bei Kompetenzerweiterungen: kommt dem Reich eine „Competenz-Competenz“ zu, oder wird die Zustimmung der Einzelstaaten erforderlich? Wie oben erwähnt, ist die Frage der Justierung der Kompetenzen zwischen den Organen Kaiser, Bundesrat und Reichstag auch für Meyers staatsrechtliche Analyse eines in Entstehung begriffenen Kolonialrechts zentral. Als Reichstagsabgeordneter kennt er die Bedeutung der kompetenziellen Auseinandersetzungen aus praktischer Anschauung. Seine Vorstellungen zur Bedeutung der (parlamentarischen) Gesetzgebung, gegenüber exekutiver, das heißt: kaiserlicher Verordnungsgebung, kann man in längerer verfassungshistorischer Perspektive vielleicht mit Parlamentarisierungsprozessen verbinden.41 Ein weiteres damals viel diskutiertes grundlegendes Thema des Staatsrechts ist zu erwähnen: die Wahrnehmung der Freiheitsrechte. Meyer konzipiert sie durchaus als subjektive Rechte, nicht nur als objektiv-rechtliche Selbstbeschränkungen des Staates.42
b) Weitere Themen: Verwaltungsrecht, Wahlrecht, Rechtsgeschichte Diese Konzeption des Verhältnisses von „Einzelnem“ und Staat (Verwaltung) ist konsequenterweise zugleich grundlegend für das andere Themenfeld Meyers, das Verwaltungsrecht. Allerdings darf man die erheblichen Differenzen zur
39 Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung, 1872, 81. 40 Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung, 1872, 65 oder 74 ff.; vier Jahre nach: Grundzüge des norddeutschen Bundesrechts, 1868. 41 1872 konstatiert Meyer, wohl in kritischer Absicht: der Reichstag „erscheint ebenfalls nicht als ein selbständiger Factor der Reichsgewalt, sondern als ein beschränkendes Element“ [nota bene: der von GM angenommen Regierungsgewalt des Bundesrates!, PC]. Das entspreche dem monarchischen Prinzip, an dessen grundsätzlicher Richtigkeit Meyer Zweifel andeutet, das er als rechtlich gegeben aber hinnimmt. Vgl. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung, 1872, 49. Eher kritisch hinsichtlich einer eigenständigen Stellung des Kaisers bei der Gesetzgebung auch Meyer, Der Antheil der Reichsorgane an der Reichsgesetzgebung, 1889. 42 So Böckenförde, Einleitung zu: Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, bearb. von Gerhard Anschütz, 8. A., Berlin 2005, XIII f., der auch auf die darin liegende Differenz zu Gerber und Laband hinweist.
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gegenwärtigen Konzeption nicht unterschätzen. Zwar beende die „gesetzliche Regelung des Verwaltungsrechtes“ und die daran anschließende Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (im Sinne des 19. Jh.) die Phase, in welcher der Einzelne „gegenüber der Verwaltung nur Pflichten, keinerlei Rechte [besitzt]“.43 Allerdings ist für Meyer „die Beilegung subjektiver Rechte und die Begrenzung subjektiver Pflichten weder die einzige noch die Hauptaufgabe“ des Verwaltungsrechts, vielmehr ist „prinzipale[r] Zweck die Aufstellung von Vorschriften für die Verwirklichung öffentlicher Interessen“. Dementsprechend ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, für Polizeiverfügungen keine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung erforderlich, der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt bei ihm also nicht anerkannt.44 Ähnlich staatszentriert – und damit deutlich im 19. Jahrhundert verhaftet – ist Meyers umfangreiches Buch zum Wahlrecht.45 Vierhundert Seiten sind der Geschichte des Wahlrechts in verschiedenen Staaten, darunter England, Frankreich, USA, aber auch vielen kleineren Staaten des kontinentalen Europa und – natürlich – der deutschen Staaten gewidmet. Auf weiteren dreihundert Seiten wird das Wahlrecht systematisch behandelt, jeweils unter Rückgriff auf Geschichte und Rechtsvergleich: aktives Wahlrecht, Wählbarkeit, Abgeordnetenentschädigung, Wahlsysteme und Wahlverfahren, Wahlbezirke, Wahlperiode sind zentrale Kapitel. Die Diskussion um das Frauenwahlrecht wird erwähnt, die Tatsache, dass der „europäische Kontinent von diesen Bestrebungen noch ziemlich unberührt geblieben“ sei, zufrieden wahrgenommen. Die „Frau gehört dem Hause und der Familie an; sie würde durch das Hineinziehen in politische Bewegungen ihrem eigentlichen Berufe entfremdet.“46
43 Meyer, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechtes, 3. A (bearb. v. Dochow), 1910, 37, auch zum folgenden. 44 Meyer, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechtes, 3. A (bearb. v. Dochow), 1910, 85; vgl. auch anhand der Beispiele Eisenbahn und Bauplanung vertiefend: Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, in: Jellinek/Meyer (Hg.), Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen, 1895, H. 2 (keine durchlaufende Seitenzählung). 45 Vgl. nur die, damals offenbar ganz herrschende, Einstufung des aktiven Wahlrechts als öffentliche Funktion (nicht als angeborenes Recht), Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht, 1901, 411 f. Schon 1897 hat Meyer das Thema im Rahmen einer akademischen Feier in seiner Rede als Prorektor der Universität Heidelberg aufgegriffen und sich gegen die damals diskutierte Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts gewandt, zugleich die öffentliche Pflicht der Bürger zur Einmischung, zur Aktivität betont: Meyer, Über die Entstehung und Ausbildung des allgemeinen Stimmrechts. Akademische Rede zur Feier des Geburtsfestes der höchstseligen Großherzogs Karl Friedrich […], Heidelberg 1897. 46 Außerdem stünden die Frauen im Zweifel unter fremdem Einfluss, Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht, 1901, 455.
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Um einen Eindruck von der Breite von Meyers Interessen zu geben, soll schließlich ein wohl singulär gebliebener Beitrag zum mittelalterlichen Recht genannt werden: Die Verleihung des Königsbannes und das Dingen bei markgräflicher Huld aus dem Jahre 1881. Zwar handelt es sich bei dieser Untersuchung zu Fragen der Zuweisung von Gerichtsgewalt und Strafgeldberechtigung um ein schmales Bändchen. Dennoch ist es bemerkenswert, erfordert doch die Untersuchung von Quellen wie dem Sachsenspiegel oder dem Schwabenspiegel rechtssprachliche und historische Kompetenzen, die auch im rechtshistorisch noch so anders gebildeten akademischen Milieu der Juristen des 19. Jahrhunderts eher selten gewesen sein dürften. Ob die Thesen Meyers in der rechtshistorischen Forschung rezipiert wurden, kann hier nicht geklärt werden. Deutlich wird daran jedenfalls die massive Veränderung der thematischen Aufmerksamkeit und Kompetenzen der Staatsrechtslehrer über die letzten hundert Jahre hinweg.
2. Meyers Methode: Zwischen Aufnahme und Modifikation der „juristischen Methode“ Der mit der Chiffre 1866 umschriebene historische Kontext ist nicht nur politisch prägend, sondern auch methodisch. In Abgrenzung von der sog. staatswissenschaftlichen wird nun die „juristische“ oder „konstruktive Methode“ prominent. Unabhängig von ihrer tatsächlichen Umsetzung in der Literatur der Zeit, die eher zweifelhaft ist, kann man sie wissenschaftshistorisch als Paradigmenwechsel verstehen.47 Die mit diesen Bezeichnungen verbundene Methodendiskussion hat, wie heutige Methodendiskussionen auch, viel mit Abgrenzung, Selbstfindung und Disziplinenkonstitution zu tun. Auch deshalb ist die Zuordnung von Rechtswissenschaftlern zu ‚der einen Methode‘ nicht immer eindeutig möglich. Georg Meyer ist insofern nicht untypisch: Er greift die Diskussion auf, vollzieht eine gewisse Anpassung nach, bewahrt aber auch Distanz. Sichtbar wird das insbesondere bei seiner Darstellung des Verwaltungsrechts, immerhin des ersten in der Reihe der ‚neuen‘ Verwaltungsrechts-Lehrbücher, das zwar stark juristisch geprägt ist, die Verbindung zur Verwaltungswissenschaft aber nicht aufgeben will.48 Kritik an einer überschießenden juristischen Methode, auch Kritik an
47 Stolleis (FN 11), Verw 15 (1982), 45 (47). Zur Differenz zwischen methodischem Anspruch und Umsetzung: 49 ff. Was genau die sog. juristische Methode ausmacht, wie sie sich verhält zur rechtspositivistischen und zu anderen, etwa der sog. staatswissenschaftlichen, ist viel diskutiert und bleibt doch in Teilen unklar. 48 So auch Stolleis (FN 11), Verw 15 (1982), 45 (59 f.).
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der rechtspositivistischen Schule,49 verbindet er mit grundsätzlicher Akzeptanz der juristischen Methode.50 Sein Anspruch auf Vollständigkeit lässt ihn festhalten am Sammeln und Wiedergeben des Stoffes. Diese, als alt wahrgenommene „erzählende“ Darstellungsweise wird umgehend kritisiert. Sie erreicht die Entlastungsfunktion nicht, die mit der juristisch-konstruktiven Darstellung, mit der Ausbildung der Disziplin Verwaltungsrecht gerade durch Abschottung vom materialen Zugriff auf Verwaltung verbunden sein könnte. Sie bleibt aber auch nicht unkritisch alten Zeiten verhaftet. Vielmehr geschieht die Selbstverortung methodisch bewusst: Verwaltungsrecht soll sein und bleiben: Teil der Verwaltungslehre (-wissenschaft).51 Diese Haltung, mit der Meyer bei Unterschieden im Detail durchaus nicht allein stand, gibt damals Anlass zu teils heftiger Kritik.52 Auf längere Sicht erscheint die Weigerung, die Verbindungen zu den Staatswissenschaften einfach vollständig zu kappen, als eine durchaus abgewogene und zukunftsfähige Position. Das schließt die Wahrnehmung seines Verwaltungsrechts als zeitlich und methodisch repräsentativ für den „Zustand des Fach vor Otto Mayer“ und damit einen gewissen Defizitbefund nicht aus.53
49 Georg Jellinek habe bei Georg Meyer starke Unterstützung bei seiner Kritik an der rechtspositivistischen Schule gefunden, so Schroeder (FN 3), 292, u.a im Kontext der Kritik Jellineks an Laband und seinen Anhängern, welche die subjektiven Rechte Einzelner zu wenig beachteten. 50 Eine Bewertung, sein Verwaltungsrecht sei noch ganz „der herkömmlichen staatswissenschaftlichen Methode verpflichtet“ (Schroeder (FN 3), 281), greift insofern zu kurz, auch wenn die Stoffpräsentation in der Tat weiter der alten Einteilung nach Ressorts folgt. 51 Vgl. auch Stolleis’ Wiedergabe von Meyer: „Es wäre zu bedauern, wenn dasselbe [das Verwaltungsrecht, PC] ganz in formal juristischen Erörterungen aufginge und seine Fühlung mit der Verwaltungslehre vollständig verlöre.“ Das ist zitiert bei Stolleis, Geschichte (FN 11), 399 m. Fn. 95, die dortige Quellenangabe kann allerdings nicht nachgehalten werden. Meyer erkennt die Notwendigkeit methodischer Veränderung durchaus früh an; in: Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 17, plädiert er für: „ juristische Durchdringung des Stoffes und eine rechtswissenschaftliche Construction der verwaltungsrechtlichen Institute […]“. Meyer hat diese Forderungen selbst nicht (mehr?) eingelöst, Stolleis (FN 11), Verw 15 (1982), 45 (63). 52 Sehr kritisch zu Meyers Systematisierungsversuchen als Beitrag zu einer Art allgemeinem Teil in Meyers Verwaltungsrecht äußerte sich Otto Mayer in einer Rezension zur zweiten Auflage, Otto Mayer, Über G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 2. A. Leipzig 1893 und 1894, in: AöR 11 (1896), 157 ff. Mayer kritisiert zum einen das Festhalten an der ‚alten‘ Darstellungs- und Systematisierungsweise, wegen der damit verbundenen Unauffindbarkeit der „reinen Rechtsbegriffe“ und „allgemeinen Rechtsinstitute“. Zum anderen bemängelt er die Versuche Meyers, durch Bildung eines allgemeinen Teils auf jenes Defizit zu reagieren, als ganz unzureichend. Verdeutlicht wird das daran, wie Meyer – nach Mayer ganz unzulänglich – den Begriff des Verwaltungsaktes fasst. 53 Stolleis (FN 11), Verw 15 (1982), 45 (62).
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Das gilt, cum grano salis, auch für den Bereich des Staatsrechts. Meyers Staatsrechtslehrbuch galt als damals innovativ, weil er Territorial- und Reichsstaatsrecht integrierte.54 Auch hier schließen sich juristische Methode – was immer das genau sei – und Einbindung von Politikwissen und insbesondere Geschichte nicht aus.55 Die Begriffsbildung erfolgt deduktiv, durchaus geleitet von einem kritischen Verständnis der Begriffs-Bildung, und setzt sich damit von eher idealistischen Zugriffen früherer Zeit ebenso ab, wie von einer propagierten ‚rein juristischen‘ Begriffsbildung.56
3. Disziplinenbildung durch Lehre und Didaktik Meyer nimmt die (Um-)Bildung der Disziplinen Staatsrecht und Verwaltungsrecht im Kontext der Entstehung und Integration des Deutschen Reichs aufmerksam wahr und versucht dazu beizutragen. Er tut dies, anders als andere Kollegen, die das kollektive Gedächtnis der Disziplin offenbar mehr geprägt haben, wie etwa Otto Mayer,57 intensiv durch Lehre: zentral durch seine, einem Ideal der Vollständigkeit folgenden Lehrbücher, aber auch durch Formulierung didaktischer Vorstellungen. Eine frühe Äußerung Meyers soll hier exemplarisch für seine ‚disziplinäre‘ Aufmerksamkeit stehen: die akademische Antrittsrede zu Beginn seiner akademischen Laufbahn 1875 in Jena. Dort formuliert Meyer die Folgen der Entwicklung des öffentlichen Rechts für das Studium desselben. Er moniert sehr deutlich den „entschiedene[n] Rückschritt“ des akademischen Unterrichts im Bereich der öffentlichen Rechts- und Staatswissenschaften:58 „Ein unbefangener Blick auf die Zustände unserer Universitäten zeigt uns, dass das Studium des öffentlichen Rechts und der Staatswissenschaften geradezu darnieder liegt.“ Meyers Zugriff auf das Thema ist historisch, politisch und praktisch-konkret. Der zentrale Grund für das Darniederliegen ist die unzureichende Verankerung der entscheidenden Fächer im Prüfungskanon: „[…] bei Feststellung der Bedingun-
54 Schroeder (FN 3), 282. 55 Nicht zuletzt diese Verbindung machte Meyer auch für Anschütz offenbar anschlussfähig. So habe Anschütz sich Georg Meyer methodisch eng verbunden gewusst. Wie Meyer habe auch Anschütz sich dem geltenden positiven Recht verpflichtet gefühlt, sich aber zugleich zu historisch-positivistischem Rechtsverständnis bekannt; Schroeder (FN 3), 403 f.; Stolleis, Geschichte (FN 11), 351 f.: „historisch fundierter Positivismus“. 56 Ähnlich Böckenförde (FN 42), XIII, der Meyers Zugriff beschreibt als nicht „abstrakte, sondern historisch konkrete, und gleichwohl juristische Begriffsbildung“. 57 Stolleis, Geschichte (FN 11), 403 ff. 58 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 6.
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gen für die Qualification der Staatsbeamten [wird] auf diese Fächer viel zu wenig Gewicht gelegt […]“. Eine besondere Laufbahn für Verwaltungsbeamte oder besser noch: eine so generelle Qualifikation aller Juristen auch im öffentlichen Recht und den Staatswissenschaften, dass potentiell jeder für den Verwaltungsdienst befähigt werde, ist Meyers Ziel. Konkreter Bezugspunkt sind Ausbildungsordnungen in Süddeutschland und ein von Meyer deutlich kritisierter Gesetzesentwurf Preußens.59 Ob seine Kritik Einfluss auf diesen Entwurf oder die spätere Entwicklung der Juristenausbildung hatte, wäre weiter zu untersuchen. Meyer nutzt die Gelegenheit, um ein Curriculum der erforderlichen Vorlesungen zu entwerfen und bei den Staaten einzufordern. „Deutsches Staatsrecht“ und „Allgemeines Staatsrecht“ machen den Anfang, letztere Vorlesung ausdrücklich verbunden mit dem Fach Politik, das nicht in einer eigenständigen Vorlesung gelehrt werden solle.60 Auch das Völkerrecht dürfe nicht weiter vernachlässigt werden, es sei nicht nur praktisch zunehmend bedeutsam, sondern auch wissenschaftlich und geradezu ein Feld allgemeiner Bildung.61 Was das Verwaltungsrecht angeht, konstatiert Meyer „ein völliges Chaos von Disciplinen, in denen nur schwer ein bestimmtes System zu erkennen ist: theoretische und praktische Nationalöconomie, Volkswirthschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik, Polizeiwissenschaft, Finanzwissenschaft, Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht, und wie sie sonst noch alle heissen mögen.“62 Auch hier plädiert er für eine Kombination von allgemeiner Verwaltungslehre, angelehnt an Lorenz von Stein, und (deutsches) Verwaltungsrecht. Letzteres soll „eine wesentlich juristische Disciplin sein“, dürfe aber nicht zu einer bloßen Gesetzeskunde herabsinken, denn eine solche Vorlesung müsse „geradezu geisttödtend wirken“. Hellsichtig prognostiziert Meyer die Bedeutung der seinerzeit entstehenden Verwaltungsgerichtsbarkeit wie auch der Entstehung eines „gemeinen Verwaltungsrechts“ durch Reichsgesetzgebung, welches der Rechtswissenschaft bedürfe, diese aber auch anregen werde.63 Die Vorlesung Deutsches Verwaltungsrecht könne danach nicht weniger als sechsstündig sein, sie wäre zu ergänzen durch
59 Dazu Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972, 163 ff. 60 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 13 u. ö. Auch die ebenso vorgesehene Allgemeine Staatslehre soll Politik mit aufnehmen, damit Zusammengehörendes nicht zerrissen werde, letztlich kann Meyer sich eine aus den Komponenten: Allgemeines Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Politik zusammengefügte Vorlesung vorstellen. 61 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 15: „ […] seine [des Völkerrechts, PC] Entwicklung [ist] eine der bedeutendsten Seiten menschlicher Culturentwicklung, seine Kenntnisse für Jeden erforderlich, der überhaupt die Geschichte des Menschheit verstehen will.“ 62 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 16. 63 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 18.
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Vorlesungen zur Verwaltungslehre (im Sinne einer Lehre von der inneren Verwaltung und einer Vorlesung zur Finanzwissenschaft). Schließlich bedarf der Jurist volkswirtschaftlicher Kenntnisse und einer Vorlesung über Statistik.64 Hier dürfte die biographische Erfahrung Meyers, der selbst im Bereich Statistik gearbeitet hatte, Pate gestanden haben. Seine Einschätzung, dass für die Arbeit sowohl der Staatsbeamten als auch der Wissenschaftler entsprechende Vorkenntnisse hilfreich wären, dürfte weiterhin zutreffend sein. Diese Vorstellungen zum Verwaltungsrecht kennen noch keine Trennung von Allgemeinem und Besonderen Verwaltungsrecht, markieren aber repräsentativ den anderen Orts viel untersuchten Beginn der dahin führenden Entwicklung.65 Der Beitrag Meyers zu Lehre und Didaktik als Beitrag gerade auch zur Bildung der wissenschaftlichen Disziplin ist vielleicht bisher unterschätzt.66 Nur am Rande sei erwähnt, dass die didaktischen Strategien, mit denen die „Studirenden“ zur Nutzung des Angebots gebracht werden sollen, den gegenwärtig diskutierten frappierend ähneln. Wo Teilnahmezwang als wenig hilfreich erkannt wird, ist der Kampf um Aufnahme in den Prüfungskanon der ersten Staatsprüfung, heute ergänzt um die universitäre Schwerpunktprüfung, entscheidend, offenbar auch damals.67 Dass Meyer die Bildung der Disziplin Verwaltungsrecht aufmerksam beobachtet, wird schließlich auch in seinem Beitrag im Sammelband über die deutschen Universitäten von 1893 deutlich.68
64 Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 19. 65 Vgl. nur Stolleis, Geschichte (FN 11), 394 ff. 66 Vgl. aber Stolleis (FN 11), Verw 15 (1982), 45 (56 ff.). 67 Meyer plädiert letztlich für eine umfassende Rechtsausbildung und Verwaltungsausbildung, ähnlich der derzeit noch verfolgten Konzeption des Volljuristen und Generalisten, und gegen eine Aufspaltung nach Berufszielen. Auch die im preussischen Entwurf vorgesehene Studienzeit von drei Jahren wird als zu kurz kritisiert, sie sei zu verlängern, dafür die Vorbereitungszeit zu verkürzen, die ohnehin durch „mechanische Geschäfte“ überladen sei, die besser von „Subalternbeamten“ besorgt würden. Konsequenterweise folgt dann die Forderung nach Vermehrung der bisherigen Lehrkräfte und nach Gründung von „juristisch-staatswissenschaftlichen Facultäten“ (Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts, 1875, 27, eine Forderung, die u. a. gegen Robert von Mohl gerichtet ist). Vgl. dazu auch Bleek (FN 59). Zusammenfassend gilt: Studien- und Ausbildungsreformen sind ein latentes Thema. Zum späteren Einsatz Meyers, der die Ausdehnung sog. „seminaristischen Unterrichts“ auch auf die öffentlich-rechtlichen Disziplinen unterstützte, kurz Schroeder (FN 3), 229. 68 Meyer, Staats- und Verwaltungsrecht, in: Lexis (Hg.), Die Deutschen Universitäten, 1893, 362 ff., zum Verwaltungsrecht: 370 ff. Auffällig ist allenfalls, dass F. F. Mayer, der doch als einer der Pioniere des Verwaltungsrechts als Disziplin gelten muss, nicht genannt wird. Vielleicht ist das dessen Stellung geschuldet. In anderen Zusammenhängen wird er zumindest erwähnt, Meyer, Grundbegriffe, Wesen und Aufgabe der Verwaltungslehre in: Gustav Schönberg (Hg.),
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V. Schluss: Staatsrechtslehrer des langen 19. Jahrhunderts Wie steht es um Meyers Bedeutung als Staats- und Verwaltungsrechtler? Ein kurzer Beitrag kann einem reichen Leben nicht gerecht werden. Die Rezeption seiner Publikationen ist zwiespältig. In seiner Rezension von Meyers Lehrbuch zum Verwaltungsrecht schließt Otto Mayer nach seiner vorher geübten Kritik durchaus mokant: „In seinem ruhigen, vertrauenerweckenden Gang bewährt sich an diesem Lehrbuch die rechte Kunst des Lehrens“.69 Wissenschaftliche Bedeutung, so mag man schließen, spricht ihm Otto Mayer ab. Eine Haltung, die sich in der späteren Rezeption Meyers mehr oder weniger deutlich fortgesetzt hat. Meyers Freund Jellinek hingegen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts überzeugt, dass ihm „ein bleibendes Andenken durch sein Wirken als Politiker und Gelehrter gesichert“ sei.70 In der Bundesrepublik wird Meyer aufgegriffen in älteren wissenschaftlichen Untersuchungen zu Einzelthemen,71 zunehmend erscheint dann nur noch ein kurzer Hinweis auf eins seiner Lehrbücher, vorwiegend auf den „Meyer-Anschütz“. Das Kolonialrecht spielt keine Rolle mehr, das Wahlrecht des 19. Jahrhunderts ist ebenfalls (nur) rechtshistorisch interessant. Wer in neueren Methodendiskussionen eine erneute Anbindung an ‚staatswissenschaftliche‘ Disziplinen fordert, könnte auf Georg Meyer verweisen, greift aber im Zweifel auf Lorenz von Stein zu. So bleibt Meyer vor allem ein früher Beiträger „auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht“.72 Seine Bedeutung für die schließlich gelungene Institutionalisierung der Disziplin sollte indessen nicht unterschätzt werden. Ist Meyer ein Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts? Historische Periodisierungen und Zäsuren sind gewillkürt. Meyers früher Tod hat verhindert, dass er die Entwicklungen wenigstens des frühen 20. Jahrhunderts erleben und begleiten konnte. Der vielleicht intensivste Konkurrent, der nur fünf Jahre jüngere Otto Mayer überlebte Georg Meyer um vierundzwanzig Jahre. Versteht man die zeitliche Verortung indessen als (auch) inhaltliche Kennzeichnung dürfte für beide
Handbuch der politischen Ökonomie. Dritter Band: Finanzwissenschaft und Verwaltungslehre, 2. A., Tübingen 1885, 687 (698). 69 Otto Mayer, Über G. Meyer (FN 52), 160. 70 Jellinek, in: Badische Biographien (FN 4), 564. 71 Zum Beispiel Bullinger (FN 11), 190 ff., im Kontext des Beamtenverhältnisses. 72 Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. A., München 2012, § 2, Rn. 53 ff.
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gelten, dass sie eher Staatsrechtslehrer des langen 19. als des 20. Jahrhunderts sind. Spuren in letzterem hinterlassen haben beide.
Auswahl wichtiger Werke Das Recht der Expropriation, Leipzig 1868 Grundzüge des norddeutschen Bundesrechts, Leipzig 1868 Staatsrechtliche Erörterungen über die deutsche Rechtverfassung, Leipzig 1872 Das Studium des Öffentlichen Rechts und der Staatswissenschaften in Deutschland. Akademische Antrittsrede, Jena 1875 Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Auflage, Leipzig 1878, 2. Auflage, Leipzig (Duncker & Humblot) 1885, 3. Auflage, Leipzig 1891, 4. Auflage, Leipzig 1895, 5. Auflage, Leipzig 1899, 6. Auflage bearb. von Gerhard Anschütz, Leipzig 1905, 7. Auflage bearb. von Gerhard Anschütz in drei Teilen, München u. a. (Duncker & Humblot) 1914, 1917, 1919, 8. Auflage (= unveränderter Nachdruck der 7. Auflage), hrsg. von Böckenförde, Berlin (Duncker & Humblot) 2005 Die Verleihung des Königsbannes und das Dingen bei markgräflicher Huld, Jena 1881 Der Begriff des Gesetzes und die rechtliche Natur des Staatshaushaltsetats; In: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart (Grünhut’s Zeitschrift), VIII. Band 1881, S. 1–53 Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, 2 Bde, 1. Auflage, Leipzig (Duncker & Humblot) 1883, 1885, 2. Auflage, Leipzig 1893, 1894, 3. Auflage bearb. von Franz Dochow, Leipzig 1910, 4. Auflage bearb. von Franz Dochow, Berlin (Duncker & Humblot) 1913, 1915 Das Staatsrecht der Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach, in: Marquardsen, Heinrich (Hrsg.): Handbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Dritter Band: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches und der Deutschen Staaten, Zweiter Halbband, zweite Abtheilung, S. 3–28, Freiburg und Tübingen 1884 Grundbegriffe, Wesen und Aufgabe der Verwaltungslehre; Behördenorganisation der Verwaltung des Inneren, in: Schönberg, Gustav (Hrsg.): Handbuch der politischen Ökonomie. Dritter Band: Finanzwissenschaft und Verwaltungslehre, 2. Auflage, Tübingen 1885, S. 687–698; 719–758 Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete, Leipzig 1888 Der Antheil der Reichsorgane an der Reichsgesetzgebung, Jena 1889 Staats- und Verwaltungsrecht, in: Lexis, W. (Hrsg.): Die Deutschen Universitäten. Für die Universitätsausstellung in Chicago 1893, Erster Band, Berlin 1893, S. 362–373. Der Staat und die erworbenen Rechte, in: Jellinek, Georg/Meyer, Georg (Hrsg.): Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen, Band 1, Heft 2, Leipzig 1895 Das parlamentarische Wahlrecht, posthum hrsg. von Georg Jellinek, Berlin 1901
III Otto Mayer (1846–1924) Dirk Ehlers Die klassische deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft sieht sich seit rund 20 Jahren einer starken Kritik ausgesetzt. Ihr Gegenstand (das Verwaltungsrecht) wird als zu eng, das wissenschaftliche Anliegen (Auslegung des geltenden Rechts) als zu einseitig und das überkommene methodische Instrumentarium (vor allem die klassischen Canones der Auslegung) als zu altmodisch empfunden. Demgegenüber wird eine „neue“ Verwaltungsrechtswissenschaft propagiert, die steuerungswissenschaftlich fundiert sein soll und das Anliegen verfolgt, Recht und Wirklichkeit, Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften sowie Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (letzteres jedenfalls in Gestalt von Referenzgebieten) stärker miteinander zu verbinden.1 Ein Schuldiger für den kritisierten Zustand der Disziplin scheint schnell gefunden: mit Otto Mayer wird kein Geringerer als der „Begründer“ der deutschen allgemeinen Verwaltungsrechtslehre für deren beanstandete Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht.2 Um klären zu können, was daran berechtigt ist (III.), wird zunächst ein kurzer Blick auf sein Leben (I.) und Werk (II.) geworfen.
I. Leben Eine Biographie Otto Mayers wurde, soweit ersichtlich, noch nicht geschrieben. Bislang liegt nur eine Werkbiographie vor, die Mayers Verwaltungsrechtswissenschaft in den geistigen Kontext ihrer Zeit stellt.3 An weniger umfänglichen Lebensbeschreibungen, vor allem Lexikoneinträgen, besteht kein Mangel.4 Mayer hat
1 Vgl. die von Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann (sowie teilweise auch Gunnar Folke Schuppert) herausgegebenen zehn Bände zur Reform des Verwaltungsrechts, 1993– 2004; nunmehr Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I-III, 2. Aufl. 2012. 2 Vgl. exemplarisch Christoph Engel, JZ 2006, S. 1168 f. 3 Erk Volkmar Heyen, Otto Mayer – Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981. 4 Vgl. einerseits die Artikel zu Otto Mayer von Alfons Hueber, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. III, 1. Aufl. 1984, Sp. 402–405; Erk Volkmar Heyen, in: Otto zu StolbergWernigerode (Hrsg.), Neue deutsche Biographie (NDB), Bd. 16, 1990, S. 550–552; Walter Pauly,
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sich selbst, jeweils auf Anfrage, zweimal ausführlicher zu seinem Lebensweg und insbesondere zu seiner Entscheidung für das öffentliche Recht geäußert.5 Otto Mayer wurde am 29. März 1846 als ältester Sohn von sieben Geschwistern in Fürth geboren. Der Vater war Apotheker, Magistratsrat und Abgeordneter im Bayerischen Landtag, die Mutter Tochter eines Eisenwerksbesitzers und einer Pfarrerstochter aus hugenottischer Familie. Nach der Reifeprüfung und Absolvierung des Studiums der Rechtswissenschaften in Erlangen, Heidelberg und Berlin legte er – noch unter der Geltung des preußischen Allgemeinen Landrechts – sowohl das Universitäts- als auch das Staatsexamen in seiner fränkischen Heimat ab. Die zwischenzeitlich in Erlangen vorgelegte Dissertation bei von Scheurl über die justa causa bei Tradition und Usukapion galt einem römisch-rechtlichen Thema. Ab 1871 arbeitete er in der Praxis, vor allem als (erster deutscher) Anwalt in Mühlhausen. Dort wurde er auch zum Präsidenten der Anwaltskammer und in den Vorstand der Anwaltskammer des Oberlandesgerichtsbezirks Colmar gewählt. Als „Advokat aller Behörden“ kam er erstmalig intensiv mit dem Verwaltungsrecht in Berührung. 1877 heiratete er die Tochter des elsässischen Pfarrers und Lyrikers Adolf Stoeber. 1880 gab Mayer die einträgliche Advokatur auf und zog mit seiner Familie nach Straßburg, um dort als Privatdozent ganz klein wieder anzufangen. Ein Jahr später habilitierte er sich an der dortigen Kaiser-Wilhelms-Universität mit einer wettbewerbsrechtlichen Arbeit über die concurrence déloyale. Ihm wurde die Venia für deutsches und französisches Zivil- und Handelsrecht verliehen. 1882 erhielt er in Straßburg – an derselben Universität wie Paul Laband – eine außerordentliche Professur und wandte sich in Lehre und Forschung, unter anderem angeregt durch das in Paris erworbene Verwaltungsrechtslehrbuch von Dufour (Droit administratif), alsbald dem Verwaltungsrecht zu. 1887 erfolgte die Ernennung zum Ordinarius für Verwaltungsrecht und französisches Zivilrecht. Später wurde die Venia auf Staatsrecht und Kirchenrecht erweitert. 1895/96 erschien dann nach siebenjähriger Vorarbeit sein großes Werk, das auf Aufforderung von Karl Binding verfasste, zweibändige „Deutsche Verwaltungsrecht“. Gleichzeitig nahm er verschiedenste weitere Funktionen wahr. So arbeitete er seit 1890 als Syndicus der Universität. 1896 wurde er in den Straßburger Gemeinderat berufen und kurz darauf zum ehrenamtlichen Beigeordneten der Stadt gewählt. In dieser
in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, 1995, S. 418 f.; Katja Jönsson/ Matthias Wolfes, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 15, 1999, Sp. 991–1011; andererseits Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 18, 21. Aufl. 2006, S. 73; Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 15, 9. Aufl. 1975, S. 796; Der große Herder, Bd. 6, 5. Aufl. 1955, Sp. 355. 5 Otto Mayer. Ein Stück curriculum vitae, DJZ 1909, Sp. 1041–1046; ders., in: Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1924, S. 153–176.
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Eigenschaft verwaltete er zunächst das Bauwesen und die Wegepolizei (was ihn dazu veranlasste, eine Verwaltungsvollstreckung einzuführen) und übernahm später die soziale Verwaltung (wobei er sich für Mindestlöhne zugunsten der für städtische Bauten beschäftigten Arbeiter einsetzte). Hinzu kamen die Mitgliedschaft im Oberkonsistorium – Landessynode – der Augsburgischen Kirche sowie die Vorstandstätigkeit in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen. 1902 wurde er zum Rektor der Universität Straßburg gewählt. Ein Jahr später trat er in die Leipziger Juristenfakultät ein und widmete sich nunmehr dem ganzen öffentlichen Recht: von der Allgemeinen Staatslehre über das Völkerrecht, das Reichs- und Landesstaatsrecht, das Deutsche Verwaltungsrecht, die verschiedenen Gebiete des Besonderen Verwaltungsrecht bis hin zum katholischen und evangelischen Kirchenrecht. Mayer war Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät (1905/06 und 1912/13) sowie Rektor der Universität Leipzig (1913/14). Außerdem ließ er sich in das Stadtverordnetenkollegium wählen und vertrat die Juristenfakultät in der Landessynode der evangelischen Landeskirche Sachsens. Eine in der Zeit des Krieges verfasste Kirchenverfassung für die deutsch-evangelische Kirche in Polen wurde nicht mehr praktisch. Kirchenrechtlich stand er seinem Fakultätskollegen Rudolph Sohm, politisch Friedrich Naumann nahe. 1918 wurde Mayer auf eigenen Wunsch emeritiert. Neben seiner juristischen Tätigkeit veröffentlichte er immer wieder Erzählungen, zumeist unter dem Pseudonym Eduard Dupré. Am 8. August 1924 verstarb er in Hilpertsau im Murgtal (Baden).
II. Werk 1. Verwaltungsrecht Berühmtheit hat Otto Mayer wegen seines Handbuchs (in Wahrheit Lehrbuchs) zum „Deutschen Verwaltungsrecht“ erlangt, das 1895/96, 1914/17 und 1924 in drei jeweils stark bearbeiteten Auflagen erschienen ist. Verschiedene größere Abhandlungen lassen sich als Vorwegnahmen oder Ergänzungen zum Lehrbuch lesen, so die „Theorie des französischen Verwaltungsrechts“ (1886), die „Lehre vom öffentlichen Vertrag“ (1888)6, die „Lehre von der materiellen Rechtskraft
6 AöR 3 (1888), S. 3–86.
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in Verwaltungssachen“ (1907)7 oder die Publikation zur „Frage des öffentlichen Eigentum“ (1907)8. Dem Vorhaben, ein für das Deutsche Reich einheitliches Verwaltungsrecht darzustellen, standen drei Hindernisse entgegen. Erstens gab es kein einheitliches deutsches Verwaltungsrecht, sondern nur einen partikularistischen Flickenteppich einzelstaatlicher Verwaltungsvorschriften. Zweitens war die herkömmliche Methode der Darstellung überwiegend „staatswissenschaftlicher“ Natur, ging also von den in den verschiedenen Verwaltungszweigen zu erledigenden Verwaltungsaufgaben aus. Drittens existierte für die Ableitung verwaltungsrechtlicher Prinzipien keine allgemein konsentierte Grundlage, weil Reichs- bzw. Landesverfassungen insoweit nicht weiterhalfen. Mayer löste die Schwierigkeiten rigoros, indem er losgelöst vom konkreten Rechtsstoff im Wege der Abstraktion eine Art „Theorie des Verwaltungsrechts“9 schuf. Die Gliederung seines Buches orientierte sich vielfach an den überkommenen zivilrechtlichen Kategorien (Sachenrecht, Recht der besonderen Schuldverhältnisse, Recht der juristischen Personen usw.), wobei allerdings die (mit der Fiskustheorie gerechtfertigte) Anwendung des Zivilrechts auf den Staat nur ausnahmsweise geduldet wurde. Mittels „fester Begriffe“10 sollte ein übersichtliches System geschaffen werden. Dabei ließ sich Mayer auch von französischen Rechtsbegriffen, wie dem acte administratif leiten. Andere Begrifflichkeiten fand er vor und präzisierte oder modifizierte sie: so das öffentliche Eigentum, das besondere Gewaltverhältnis oder die Anstalt. Zum Fixstern wurde für Mayer der bürgerliche Rechtsstaat, den er allerdings weniger normativ in der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 festmachte, sondern in einem mehr geschichtsphilosophischen Fortschrittsmodell als gegenwärtig dritte Stufe in der Nachfolge von fürstlicher Landeshoheit und Polizeistaat nachzeichnete. Für den Rechtsstaat ist Mayer zufolge charakteristisch, dass die Macht des Staates, ausgeübt durch die Verwaltung, in die Form des Rechts gebracht wird. „Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“.11
7 AöR 21 (1907), S. 1–70. 8 AöR 21 (1907), S. 499–522. 9 Bühler, VerwArch 27 (1919), S. 282 (286). 10 Vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 406. 11 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1924, S. 58.
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a) Methodische Grundlagen Sein Verständnis von der Aufgabe der Verwaltungsrechtswissenschaft hat Mayer bereits im Zusammenhang mit seiner Darstellung des französischen Verwaltungsrechts formuliert. Es komme der Rechtswissenschaft auf die Formen an, in welchen zwischen den Rechtssubjekten Willensherrschaft nach Maßgabe des objektiven Rechts in Erscheinung tritt. Die Art dieser Formen und deren Zusammenhang bilden für ihn das System der Rechtswissenschaft. Diese Betrachtungsweise, die sich anders als Verwaltungslehre und Staatswissenschaften nicht an den jeweiligen Aufgaben, Zwecken und Zuständigkeiten der Verwaltung orientiert, wird bis heute als „juristische Methode“ gekennzeichnet. Sie ist nicht formalistisch und ideologisch blind, sondern einem rechtsstaatlichen Anliegen verpflichtet. Hierbei geht Mayer zunächst von „Rechtsideen“ bzw. allgemeinen rechtlichen Leitprinzipien aus.12 Diese Leitprinzipien beziehen sich auf Verfassung, Staat und Rechtsstaat. Sie sind teils historisch-deskriptiv, teils stellen sie sich als normative Ableitungsgrundlagen dar und sind damit „Ursache und Axiom“13 zugleich. Daraus werden „Verwaltungsrechtsinstitute“ als „Hilfsmittel der Rechtswissenschaft zur Beherrschung der Fülle von Stoff“ abgeleitet. Sie bilden in ihrem Zusammenhang das System der Verwaltungsrechtswissenschaft, bringen in ihrer Ausdifferenzierung aber auch inhaltlich den Fortschritt vom Polizei- zum Rechtsstaat zum Ausdruck, da im Polizeistaat der „Wille der Obrigkeit … dem Untertan schlechthin Befehl“ und nichts anderes war.14 Sein Anliegen war es, einen reichsweit anschlussfähigen „Allgemeinen Teil“ des Verwaltungsrechts zu schaffen.
b) Bausteine des Verwaltungsrechts Den Begriff der Verwaltung definiert Mayer vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung negativ: „Verwaltung ist Tätigkeit des Staates zur Verwirklichung seiner Zwecke unter seiner Rechtsordnung, außerhalb der Justiz.“ Wo die Verwaltung nicht unter dem Gesetz steht, kommt ihre eigenständige öffentliche Gewalt zum Vorschein. Verfassung und Gesetz sind nicht Quellen
12 Vgl. auch Christian Bumke, Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (86). 13 Heyen (Fn. 3) S. 164. 14 Vgl. Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1924, S. 113 f.
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oder Grundlage, sondern Grenzen der öffentlichen Gewalt. Das öffentliche Recht ist die „Ordnung von Verhältnissen, an welchen ein Träger öffentlicher Gewalt als solcher und damit die öffentliche Gewalt selbst beteiligt ist“. Verwaltungsrecht ist „das dem Verhältnisse zwischen dem verwaltenden Staate und seinen ihm dabei begegnenden Untertanen eigentümliche Recht“. Unter den Rechtsquellen der Verwaltung ist das Gesetz wegen seiner rechtsstaatlichen Funktion von überragender Bedeutung. Mayer definiert es als „eine Bestimmung dessen, was Rechtens sein soll für jedermann, bei dem ein nach allgemeinen Merkmalen bezeichneter Tatbestand sich verwirklicht findet.“15 Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes werden unterschieden. Der Vorrang habe die Wirkung, dass dasjenige Verwaltungshandeln, welches dem Gesetz widerspricht, aufgehoben oder gar nicht erst wirksam wird. Der Vorbehalt des Gesetzes gilt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum. Hier folgt Mayer ohne eigene Innovation der herrschenden Lehre seiner Zeit, die darüber hinwegsah, dass die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 expressis verbis keine Grundrechte enthielt. Die Handlungsform des Verwaltungsakts bildete für Mayer die Justizförmigkeit der Verwaltung ab, die den Konnex von Rechtsstaat und Verwaltung ausmache. Nach seiner klassisch gewordenen Definition ist der Verwaltungsakt „ein der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch, der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“.16 Mayer sieht das gerichtliche Urteil als Vorbild des Verwaltungsaktes an und gewinnt dessen begriffliche Eigenschaften aus der Gegenüberstellung zum Urteil. Allerdings bezieht er den Verwaltungsakt nicht nur auf die gesetzesgebundene Verwaltung. Hierin liege ein Unterschied zum Gerichtsurteil, das nur aufgrund Gesetzes ergehe. Das administrative bzw. freie Ermessen ist laut Mayer die Grundlage für nicht gesetzlich vorgegebene, also eigene Erwägungen der Verwaltung bezüglich „des Gemeinwohles („öffentlichen Interesses“), der Billigkeit, der Zweckmäßigkeit“. „Freie schöpferische Erzeugung der ganzen polizeilichen Verfügung“ und nicht lediglich freies Ermessen bezüglich der Art der Maßregeln zur Gefahrenabwehr seien aber im Rechtsstaat die Ausnahme. Zudem dürften (wohl entgegen der damals herrschenden Meinung) im Rahmen einer Rechtskontrolle die Nachprüfung des Tatbestandes sowie auch eine auf den verfolgten Zweck bezogene Willkürkontrolle nicht ausgeschlossen werden. Der öffentlichrechtliche Vertrag wird im Lehrbuch lediglich als die Form der freiwilligen Bildung eines Zweckverbands zwischen Verwaltungskörpern gestreift. Gegen öffentlichrechtliche Verträge zwischen Verwaltung und Bürger
15 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1924, S. 66. 16 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1924, S. 93.
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hatte Mayer bereits Jahre zuvor seine generelle Ablehnung mangels eines Gleichordnungsverhältnisses bekundet. Nachdrücklich, aber im Wesentlichen erfolglos hat sich Mayer für das öffentliche bzw. öffentlichrechtliche Eigentum eingesetzt. Hierbei ist es ihm vor allem darauf angekommen, die Eigenart der öffentlichrechtlichen Sachherrschaft vor dem Privatrecht abzuschirmen. Der Rechtsschutz in Verwaltungssachen ist für Mayer Kennzeichen des Rechtsstaates. Verwaltungsrechtspflege sei eine Bedingung für den Ausbau der Verwaltungsrechtswissenschaft. Als Verwaltungsgerichte wurden auch Behörden angesehen, welche dazu bestellt sind, Verwaltungsrechtspflege zu üben. Im Schutz subjektiver öffentlicher Rechte durch Verwaltungsbehörden und -gerichte sieht Mayer den alten Polizeistaat überwunden. Das Ob des Rechtsschutzes macht Mayer von gesetzlicher Gewährung abhängig, argumentierte aber für die Reichweite des einmal gesetzlich eröffneten Rechtsschutzes auch mit einem nicht positivierten Willkürverbot. Ausdrücklich anerkannt wurde, dass der Zugang zum Rechtsschutz in Verwaltungssachen auch von einer Generalklausel abhängen kann, was impliziert, dass der Rechtsschutz (anders als dies zum Teil später angenommen wurde) nicht zwangsläufig vom Vorliegen gerade eines Verwaltungsaktes abhängig sein sollte.
2. Sonstige Rechtsgebiete Neben dem Verwaltungsrecht hat sich Mayer insbesondere zum Verfassungsrecht, Völkerrecht, Abgabenrecht sowie Staatskirchenrecht und Kirchenrecht literarisch geäußert. Der viel zitierte Satz aus dem Vorwort der dritten Auflage seines Lehrbuchs, Groß Neues sei ja seit 1914 und 1917 nicht nachzutragen, „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“, lässt nicht erkennen, dass Mayer dem Verfassungsrecht sehr wohl grundlegende Bedeutung für das Verwaltungsrecht zugesprochen hat. Gleichwohl wird die neu geschaffene Weimarer Reichsverfassung in der dritten Auflage seines Verwaltungsrechtslehrbuchs nahezu ausgeblendet. Insbesondere hebt das Buch weder auf das Demokratieprinzip noch auf die Grundrechte ab. Dagegen hat sich Mayer in seinen verfassungsrechtlichen Abhandlungen mehrfach mit dem Bundesstaatsprinzip, dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Landesstaatsrecht befasst. Dem Völkerrecht, dem er sich in zwei Beiträgen während des Weltkrieges zuwandte, bescheinigte er, schwach und lückenhaft zu sein, da der Glaube an das Naturrecht verloren gegangen sei. Gleichwohl schwebte ihm eine Art Völkergemeinschaft vor. Die prägnante Mayer’sche Unterscheidung von Gebühren, Beiträgen und Steuern, die an die Diskussion im finanz- und staatswissenschaftlichen Schrifttum anknüpft,
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wurde vom Gesetzgeber der Reichsabgabenordnung 1919 aufgegriffen und wird heute noch von der Steuerrechtswissenschaft (mit) zugrunde gelegt. Das landesherrliche Kirchenregiment, das mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung sein Ende finden sollte, stellte Mayer schon 1905/06 in Frage und wies zwischen dem französischen Modell einer Laizität und dem Summepiskopat auf einen dritten Weg hin: Der Kirche als öffentlich-rechtlicher Körperschaft könne weitgehende „Selbstverwaltung“ gewährt werden. Dies haben Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz nicht anders gesehen.
III. Würdigung Die bahnbrechende Bedeutung des von Mayer vorgelegten Deutschen Verwaltungsrechts haben seine Anhänger und Gegner gleichermaßen anerkannt.17 Seine Ordnungsleistung und sein treffsicherer und eleganter Sprachstil wurden allseits gelobt. Dagegen brachte ihm die Anlehnung an das französische Recht zum Teil den Vorwurf der „Ausländerei“ ein.18 Schon zu Lebzeiten war Mayer eine Berühmtheit.19 Die juristische Methode hat Mayer zwar nicht erfunden. Sie hatte schon Eingang in die Zivilrechtsdogmatik (Carl Friedrich Gerber), das Staatsrecht (Paul Laband) und teilweise auch in die von ihm bereits vorgefundenen Verwaltungsrechtsdarstellungen (F. F. Mayer;20 Otto von Sarwey)21 gefunden. Die große Leistung bestand aber darin, erstmalig in dieser Eindringtiefe ein auf die inneren Zusammenhänge abhebendes System des Allgemeinen Verwaltungsrechts anhand aufeinander abgestimmter Rechtsfiguren geschaffen zu haben. Schwerpunktmäßig ging es um den Ausbau des Rechtsstaates durch die Bändigung des obrigkeitlichen Polizeistaates. Der Wohlfahrtstaat (Sozialstaat), die öffentlichen Unternehmen und die Infrastruktur (z. B. der Verkehrswege) werden von Mayer nicht ausgeblendet, die darauf bezogenen Begriffe und Institute blieben aber relativ „farblos und unscharf“22 (und sind es wohl bis heute). Ohne starke
17 Vgl. Georg Jellinek, VerwArch 5 (1897), S. 304. Ambivalent der Nachruf Erich Kaufmanns, VerwArch 30 (1925), S. 377 ff. 18 Vgl. Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1914, S. IX. 19 Vgl. Stolleis (Fn. 10), S. 404. 20 Grundzüge des Verwaltungs-Rechts und –Rechtsverfahrens, 1857; vgl. dazu Toshiyuki Ishikawa, Friedrich Franz von Mayer, Begründer der „juristischen Methode“ im deutschen Verwaltungsrecht, 1992. 21 Allgemeines Verwaltungsrecht, 1884. 22 Otto Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (213).
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Ausblendung der Verwaltungswirklichkeit wäre es andererseits kaum möglich gewesen, ein „Durchschnittsverwaltungsrecht“23 zu konstruieren, das es so in keinem deutschen Staat gab. Mayer hat die Verwaltungsrechtsrechtsprechung und verwaltungsrechtliche Literatur sowie zum Teil auch die Gesetzgebung über Jahrzehnte geprägt. Fritz Fleiner,24 Karl Kormann25 und Walter Jellinek26 wandelten teils mehr, teils weniger auf seinen Spuren. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Abstand größer. Ernst Forsthoff27 stellte den Staat der Daseinsvorsorge dem bürgerlichen Rechtsstaat gegenüber. Hans Julius Wolff28 war in vielem Otto Mayer verbunden, setzte aber auf der Höhe seiner Zeit umfassender an. Einiges von dem, was Mayer umtrieb, hat sich erledigt (z. B. Besonderes Gewaltverhältnis, freies Ermessen, Entgegensetzung von öffentlicher und fiskalischer Verwaltung). Anderes ist im Zusammenspiel mit der Gesetzgebung und Rechtsprechung erst später auf das Interesse der Verwaltungsrechtswissenschaft gestoßen (z. B. das verwaltungsinterne Organisationsrecht, das Verfahrensrecht, die Beteiligung der Bürger an der Verwaltung, die Rechtsgestaltung, das Planungsrecht und die Privatisierung). Vor allem aber konnte Mayer noch nicht den erst mit Inkrafttreten des Grundgesetzes einsetzenden Konstitutionalisierungsprozess heutiger Prägung und erst recht nicht den später folgenden Europäisierungs- und Internationalisierungsprozess vorhersehen. Heute haben sich juristische und staatswissenschaftliche Methode wieder aufeinander zubewegt, was nicht zuletzt in der Zuordnung von Recht und Wirklichkeit sowie von Allgemeinem und Besonderem Verwaltungsrecht zum Ausdruck kommt.29 Dies war aber nur auf einer Stufe möglich, die ohne Mayer kaum zu erreichen gewesen wäre. Im Übrigen dürfte die Verwaltungsrechtswissenschaft heute vor einer ähnlichen Aufgabe wie Otto Mayer vor mehr als einhundert Jahren stehen. Dieses Mal geht es nicht um die Schaffung eines deutschen, sondern eines gemeinsamen europäischen Verwaltungsrechts.
23 Ottmar Bühler, VerwArch 27 (1919), S. 282 (286). 24 Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 1. Aufl. 1911, 8. Aufl. 1928. 25 System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte, 1910. 26 Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1928, 3. Aufl. 1931. 27 Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 3. Aufl. 1953, S. 46 f., 49 f. 28 Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1. Aufl. 1956, Bd. 2, 1. Aufl. 1962, Bd. 3, 1. Aufl. 1966. 29 Zum heutigen Stand des Verwaltungsrechts „zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerwissenschaftlichem Anspruch“ vgl. statt vieler Ivo Appel u. Martin Eifert, VVDStRL 67 (2008), 226 ff., 286 ff.
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Auswahlbibliographie30 Die Justa Causa bei Tradition und Usukapion. Ein Versuch auf dem Gebiet des römischen Rechts, Erlangen 1871 (umgearbeitete und ergänzte Dissertation). Die concurrence déloyale. Ein Beitrag aus dem französischen Rechte zur Lehre vom geistigen Eigenthum, in: ZHR 26 (1881), S. 363–437 (Habilitationsschrift). Theorie des französischen Verwaltungsrechts, Straßburg 1886. Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bände, Leipzig 1895/96. Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, in: AöR 18 (1903), S. 337–372. Le droit administratif allemand. Edition française par l’auteur. T. 1: partie générale, Paris 1903. Staat und Kirche, in: Albert Hauck (Hrsg.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 18. Bd., 3. Aufl., Leipzig 1906, S. 707–727. Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft in Verwaltungssachen, in: AöR 21 (1907), S. 1–70. Der gegenwärtige Stand der Frage des öffentlichen Eigentums. Vortrag gehalten in der Wiener Juristischen Gesellschaft am 6. März 1907, in: AöR 21 (1907), S. 499–522. Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der DoktorPromotion, 1. Bd., Tübingen 1908, S. 1–94. Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, Tübingen 1909. Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bände, 2. Aufl., München/Leipzig 1914/17. Völkerrecht und Völkermoral, in: AöR 38 (1918), S. 1–37. Die Trennung von Staat und Kirche, was sie bedeutet und was sie zur Folge hat, Leipzig/Berlin 1919. Die Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg. Ihre Entstehung und Entwicklung. Berlin/Leipzig 1922. Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bände, 3. Auflage, München/Leipzig 1924. Otto Mayer, in: Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 153–176. Finanzwirtschaft und Finanzrecht, in: Wilhelm Gerloff/Franz Meisel (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, 1. Bd., Tübingen 1926, S. 86–101.
30 Eine Auswahl der Schriften hat Erk Volkmar Heyen besorgt: Otto Mayer, Kleine Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 1 und 2, 1981. Eine eigenhändig getroffene Auswahlbibliographie Mayers findet sich in Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, 1924, S. 175 f.; umfassende Bibliographien bei Alfons Hueber, Otto Mayer, Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982, S. 165–186, sowie Mayer, Kleine Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 2, S. 267–285.
IV Georg Jellinek (1851–1911) Jens Kersten Georg Jellinek wurde am 16. Juni 1851 in Leipzig geboren.1 Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Sein Vater Adolf Jellinek (1821–1893) war jüdischer Gelehrter, der zunächst in Leipzig und ab 1856 in Wien wirkte. Sein Onkel Hermann Jellinek (1823–1848) wurde 1848 aufgrund seines politischen und publizistischen Engagements als „Volksaufwiegler“ hingerichtet. Dieser Willkürakt prägte die liberale Grundüberzeugung Georg Jellineks, der seinem Onkel zum 50. Todestag einen biographischen Artikel in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“ widmete.2 Die Sympathie für die Paulskirchenverfassung und die Antipathie gegen das restaurative Metternichsystem sind in Jellineks Werk deutlich spürbar. Jellinek studierte Rechtswissenschaft in Wien, Heidelberg – dort im Sommersemester 1870 bei Johann Caspar Bluntschli – und Leipzig – dort zum Teil beim jungen Privatdozenten und späteren Freund Wilhelm Windelband. In Leipzig promovierte Jellinek mit der 1872 veröffentlichten Dissertation Die Weltanschauungen Leibniz und Schopenhauers. Ihre Gründe und ihre Berechtigung. Eine Studie über Optimismus und Pessimismus zum Doktor der Philosophie. Nach der juristischen Dissertation in Wien und einem kurzen Zwischenspiel in der österreichischen Verwaltung begann Jellinek seine akademische Laufbahn, die von Beginn an durch antisemitische Diskriminierung überschattet war. 1878 lehnte die Wiener Juristische Fakultät Jellineks Arbeit über Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe als Habilitationsschrift ab. Die Fakultät habe – so die die ablehnende Begründung – nicht die Überzeugung gewinnen können, dass Jellinek „bereits jenes Maß juristischer Reife und Bildung besitze, das von ihm als eine unerlässliche Vorbedingung für eine Dozentur an der Juristischen Fakultät betrachtet wird.“3 Dieses Urteil erscheint angesichts der internationalen Bedeutung, die diese Schrift bis heute in den strafrechtlichen und sozialphilosophischen Diskursen entfaltet, durch nichts gerechtfertigt. Jellineks Beschreibung
1 Vgl. hierzu und zum Folgenden K. Kempter, Die Jellineks (1820–1955), Düsseldorf 1998; J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000, S. 17 ff.; A. Anter, Jellinek, Georg, in: R. Voigt/U. Weiß/K. Adorján (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, Stuttgart 2010, S. 195 ff. 2 Vgl. G. Jellinek, Hermann Jellinek, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. v. W. Jellinek, 1. Bd., Berlin 1911, S. 266 ff. 3 Zit. n. C. Jellinek, Georg Jellinek. Ein Lebensbild entworfen von seiner Witwe Camilla Jellinek, in: G. Jellinek (Fn. 2), 1. Bd., S. 5* (22*).
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des Rechts als „ethisches Minimum“4 einer Gesellschaft und sein Versuch, einen sozialwissenschaftlichen Zugang zur Sozialethik zu entwickeln, haben eine nachhaltige Wirkung auf die Straftheorie und Kriminologie sowie die Sozial- und Rechtsphilosophie ausgeübt5 und schon zeitgenössisch eine internationale Ausstrahlung – etwa auf Emile Durkheim – entfaltet.6 Erst mit seiner Arbeit über Die Klassifikation des Unrechts und dem Probevortrag über Absolutes und relatives Unrecht wurde Jellinek 1879 für das Fach Rechtsphilosophie habilitiert. Die Erstreckung der Lehrbefugnis auf das Völkerrecht aufgrund der Monographie Die rechtliche Natur der Staatenverträge wurde 1880 erneut – wiederum antisemitisch motiviert – abgelehnt. In dieser Schrift stellt sich Jellinek der Frage, wie die rechtliche Bindung souveräner Staaten durch Verträge rechtlich überhaupt gedacht werden kann. Er beantwortet diese Frage mit seinem Konzept der normativen Selbstbindung der Staatsgewalt. Damit entwickelt er in einer ideengeschichtlichen Variation auf Immanuel Kants kategorischen Imperativ ein zwischen Faktizität und Normativität vermittelndes Konzept. Diese Selbstbindungslehre bildet nicht nur den zentralen dogmatischen Grundbaustein der jellinekschen Staatslehre,7 sondern strahlt bis in das Souveränitätsverständnis aus, das etwa das Bundesverfassungsgericht seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 zugrunde legt.8 Erst für die Publikation seiner Lehre von den Staatenverbindungen erhielt Jellinek 1882 die Lehrbefugnis für allgemeines Staatsrecht und Völkerrecht. In dieser Schrift bietet Jellinek auf der Basis seiner Selbstbindungslehre eine Typisierung der Staatenverbindungen, deren rechtsvergleichender Zugriff die Bundesstaats- und Völkerrechtstheorie bis heute beeinflusst. Zwischen 1883 und 1889 scheiterte zunächst die Berufung Jellineks zum außerordentlichen und sodann zum ordentlichen Professor an der Wiener Fakultät. Trotz dieser persönlichen wie akademischen Diskriminierung erweiterte Jellinek in diesen Jahren seine wissenschaftliche Reputation. 1887 erschien Gesetz und Verordnung, in der er sich den staatlichen Handlungsformen zuwendet, wobei der politische Grundkonflikt des 19. Jahrhunderts zwischen Parlament und monarchischer Regierung bereits im Buchtitel anklingt. Zugleich entwickelte Jellinek sein rechtspolitisches standing, für das seine Studie Ein Verfassungs-
4 G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, Neudruck Hildesheim 1967, S. 42. 5 Vgl. Kersten (Fn. 1), S. 328 ff. 6 Vgl. W. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, Frankfurt 1993, S. 326. 7 Vgl. Kersten (Fn. 1), S. 409 ff. 8 BVerfG, NJW 2009, S. 2267 (2270 [Rn. 223]) – Lissabon.
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gerichtshof für Österreich von 1885 sowie sein Gutachten für den 19. Deutschen Juristentag von 1888 Empfiehlt es sich, die Prüfung der Wahlen für die gesetzgebenden Körperschaften als eine richterliche Tätigkeit anzuerkennen und deshalb der Rechtsprechung eines unabhängigen Wahlprüfungsgerichtshofes zu unterstellen? charakteristisch sind. Bis heute lesen sich diese Studien, deren konkreter Anlass ein krasser Fall von Wahllistenfälschung im Jahr 1881 war, als grundlegender epistemologischer Beitrag zur rechtspolitischen Begründung von Verfassungsgerichtsbarkeit. Für Jellinek ist das Parlament aufgrund des Einflusses der politischen Parteien zu parteiisch, als dass ihm die rechtliche Prüfung der eigenen Wahl überlassen werden dürfte. Deshalb spricht sich Jellinek dafür aus, die Wahlprüfung einem unabhängigen Verfassungsgerichtshof zu übertragen. Die Pointe der Argumentation Jellineks liegt darin, dass er es durch „politische Weisheit“ für geboten hält, bei der Wahl der Verfassungsrichter einen Parteienproporz zu berücksichtigen, damit die juristischen Entscheidungen des Verfassungsgerichts auch politisch akzeptiert und umgesetzt werden.9 Diese „Klugheitsregel“ Jellineks erweist sich bis heute bei der Verfassungsrichterwahl als verfassungspolitisch tragfähig. Sie kann in der Bundesrepublik, aber auch darüber hinaus auf die belastbare verfassungsgerichtliche Praxis bauen, dass gerade ein parteienpluralistisch zusammengesetztes Richtergremium weniger nach parteipolitischer Anschauung, denn am verfassungsrechtlichen Maßstab orientiert entscheidet.10 Trotz der wissenschaftlichen Anerkennung, die auch dieses rechtspolitische Werben für eine Verfassungsgerichtsbarkeit fand, blieb Jellineks persönliche akademische Lage in Wien nach vielen gebrochenen ministeriellen Versprechen und antisemitischen Intrigen prekär. Im August 1889 reichte Jellinek seine Demission an der Wiener Fakultät ein. Daraufhin setzten sich Rudolf von Jhering, Karl Binding und Paul Laband für einen Ruf Jellineks an eine Universität im Deutschen Reich ein. Der an der Wiener Fakultät diskriminierte Jellinek war längst zu deren international berühmtesten Repräsentanten geworden. Im November 1889 erklärte die Berliner Juristische Fakultät Jellinek unter Erlass aller Formalitäten für habilitiert. Nach einer kurzen akademischen Station in Basel wurde Jellinek im Dezember 1890 zum ordentlichen Professor auf den Lehrstuhl Johann Caspar Bluntschlis und August von Bulmerincqs an der Universität Heidelberg berufen. Damit gehörte Jellinek zu dem, was Golo Mann später als „bestes Heidelberg, das sich freilich auch sehr ernst nimmt“,11 beschrieben hat: Max und Alfred Weber, Kuno Fischer, Wilhelm Windelband, Ernst Troeltsch, Emil Lask, Eberhard
9 Vgl. G. Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885, S. 66 f. 10 Vgl. J. Kersten, Der Staat 40 (2001), S. 221 (231, 241). 11 G. Mann, Erinnerungen und Gedanken, Frankfurt 1986, S. 354.
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Gothein und eben Georg Jellinek entfalten eine europäische und darüber hinaus weltweite wissenschaftliche Ausstrahlung. In Heidelberg schrieb Jellinek nun seine internationalen Beststeller. 1892 publizierte er sein „Lieblingsbuch“: das System der subjektiven öffentlichen Rechte.12 Mit ihm legt Jellinek den Grundstein für die Theorie des subjektiven Rechts, auf dem auch noch die aktuelle Verwaltungsrechts- und Grundrechtsdogmatik ruht. Dafür greift Jellinek auf die staatsrechtlichen Grundlagen und sein Verständnis der normativen Selbstbindung der Staatsgewalt zurück. Doch sein methodologischer Anspruch geht über die schlichte Anknüpfung an die brüchige Traditionslinie Albrecht-Geber-Laband hinaus, wenn er im System eine „Kritik der juristischen Urteilskraft“13 bieten will. Diesen neukantianischen Vorsatz löst er auch erkenntnistheoretisch ein, indem er seine Zwei-Seiten-Lehre anhand seines berühmt gewordenen Symphoniebeispiels entwickelt:14 Ein Gegenstand – eine Symphonie – hat eine naturwissenschaftliche Realität als durch Luftschwingungen erzeugte Tonempfindung, aber ebenso auch eine ästhetische Realität als Kunstwerk. Dieses methodologische Paradigma, nach dem die unterschiedlichen Perspektiven durch den perspektivierten Gegenstand integriert werden, überträgt Jellinek auf den Staat, der demzufolge über eine soziale und eine rechtliche Seite verfügt. Hans Kelsen wird dies bestreiten und vice versa erkenntnistheoretisch behaupten, die jeweilige Perspektive erzeuge ihren „eigenen“ Gegenstand:15 Staat und Recht seien identisch. Im Gegensatz dazu bringt die Zwei-Seiten-Lehre für Jellinek einen dreifachen Gewinn: Sie eröffnet ihm erstens auf der sozialen Seite die Möglichkeit, die gesellschaftliche und politische Begründung von Herrschaft und Staatlichkeit zu analysieren. Sie erlaubt ihm zweitens auf der juristischen Seite die Rechtsdogmatik, die Jellinek im Anschluss an Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband als die normative Entfaltung des Staatswillens begreift. Und sie zwingt ihn drittens, nach einer Vermittlung der beiden Seiten – von Sein und Sollen – zu suchen. Die Selbstbindungslehre ist eine solche Verbindung
12 Vgl. umfassend W. Pauly, Georg Jellineks „System der subjektiv öffentlichen Rechte“, in: S. L. Paulson/M. Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 227; ders./M. Siebinger, Staat und Individuum. Georg Jellineks. Statuslehre, in: A. Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsverständnis Georg Jellineks, Baden-Baden 2004, S. 135 ff. 13 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1905, S. 13. 14 Vgl. G. Jellinek, System (Fn. 13), S. 14 ff. 15 Vgl. H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922, S. 114 ff.; hierzu O. Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Paulson/Schulte (Fn. 12), S. 309 (329 ff.); ders., Die Zwei-Seiten-Lehre des Staates, in: Anter (Fn. 12), S. 63 ff.
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von Faktizität und Normativität: Der faktische Herrschaftswille reflektiert – wie gesagt – in Analogie zum kategorischen Imperativ Immanuel Kants normativ auf sich selbst und setzt sich in dieser Rechtsbindung als juristische Person Staat in ein Rechtsverhältnis zu seinen Bürgern. Dieses Rechtsverhältnis kategorisiert Jellinek in den vier Typen subjektiv-öffentlicher Rechte: dem status passivus als den Pflichten, dem status negativus als der Freiheit, dem status positivus als den Leistungsansprüchen und dem status activus als den Partizipationsrechten der Bürger. Die Beschäftigung mit diesen Kategorien der subjektiv-öffentlichen Rechte im System mochte Jellinek den Anstoß gegeben haben, sich mit dem politischen Ursprung der Grundrechte auseinander zu setzen. 1895 publizierte er mit Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte einen Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte. Der Ursprung der Menschenrechte sei – so Jellineks Grundthese – nicht in der französischen Revolution, sondern in den politischen Kämpfen um die Religions- und Gewissensfreiheit und damit vor allem in den nordamerikanischen Konstitutionen zu sehen. Die Auseinandersetzung um die historische Tragfähigkeit dieser These führte zu einer internationalen und interdisziplinären Diskussion, die bis heute nicht abgeschlossen ist.16 In der zeitgenössischen Kontroverse um 1900 spielten jedoch insbesondere auch nationale, antifranzösische Affekte in Deutschland eine Rolle. Darüber hinaus passte Jellineks These politisch zu einem Deutschen Reich und einer deutschen Staatsrechtslehre, die die universellen Ziele der französischen Revolution nicht anerkennen wollten.17 Nationalistisch gefärbt war auch Jellineks Intervention in den österreichischen Sprachenstreit in Folge der Badeni-Krise 1897/1898, die an den Rand eines internationalen Konflikts führte.18 Mit seiner Schrift Das Recht der Minoritäten (1898) nahm Jellinek gegen die amtliche Doppelsprachigkeit von Deutsch und Tschechisch Stellung und rechtfertigte die „Obstruktion der Deutschen“.19 Obwohl in Jellineks Positionen zum Sprachenstreit eine chauvinistische Grundhaltung irritierend deutlich aufblitzt, prägt sie dennoch nicht seine staatsrechtliche und rechtspolitische Argumentation. Er stellt die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit im Minoritätenstaat: Die Demokratie
16 Vgl. hierzu und zum Folgenden M. Stolleis, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Paulson/Schulte (Fn. 12), S. 103 ff. 17 Eine rühmliche Ausnahme bildete in dieser, wie in so vielen Fragen Hugo Preuß – H. Preuß, Die Jubelfeier der Französischen Revolution (1888), in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Bd., Tübingen 2007, S. 146 ff.; für eine differenzierte Einordnung der „Ideen von 1789“ freilich auch G. Jellinek, System (Fn. 13), S. 277 ff. 18 Vgl. J. Kersten, Der Staat 40 (2001), S. 221 (231 ff.). 19 Brief G. Jellinek/L. Felix vom 26.7.1898 – zit. n. C. Jellinek (Fn. 3), S. 107*.
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lebe davon, dass die Minderheit von heute zur Mehrheit von morgen werden könne. Wenn dies jedoch aufgrund von strukturellen Minderheiten ausgeschlossen sei, müsse die strukturelle Minderheit durch die „Anerkennung von Rechten der Minoritäten“20 vor der Mehrheit geschützt werden. In den 1890er Jahren arbeitete Jellinek auch an seinem Hauptwerk: der Allgemeinen Staatslehre, die 1900 in erster, 1905 in zweiter und – posthum – 1914 in dritter Auflage erscheinen sollte. Jellineks Allgemeine Staatslehre beendete die „große Dürre“21 des Fachs, in der – so pointiert Hugo Preuß – Johann Caspar Bluntschli als „letzter Mohikaner gehaust [habe], das Erbe einer reichen Vergangenheit mit treuem Fleiß hütend.“22 Die besondere, herausragende Bedeutung des jellinekschen Werks wurde unter den fast zeitgleich um die Jahrhundertwende publizierten Staatslehren Conrad Bornhaks (1896), Bruno Schmidts (1896), Hermann Rehms (1899) und Richard Schmidts (1901/1903) sofort anerkannt.23 In seiner Allgemeinen Staatslehre führt Jellinek die Stränge seines bisherigen Werks zusammen: Im Ersten Buch der Allgemeinen Staatslehre, den methodisch Einleitenden Untersuchungen, reflektiert Jellinek sein bereits zuvor in einer Vielzahl von Werken erprobtes und seit dem System neukantianisch abgesichertes Methodenprogramm. Er präsentiert seinen empirischen, zwischen Erkenntnis- und Werturteil unterscheidenden Wissenschaftsbegriff, führt in die Typenbildung als Grundlage für die soziale wie rechtliche Betrachtung des Staats ein und eröffnet sein erkenntnistheoretisches Zwei-Seiten-Konzept. Im Vorgriff auf Verfassungsänderung und Verfassungswandlung (1906) erläutert er seine Theorie des institutionellen Zweckwandels sowie seine beiden Regeln zur Bestimmung des Verhältnisses von Staatsrechtslehre und Politik: Erstens soll das politisch Unmögliche nicht ernsthaft Gegenstand juristischer Untersuchung sein; zweitens soll eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit des Handelns der obersten Staatsorgane sprechen. Im Zweiten Buch, der Allgemeinen Soziallehre des Staates, weist Jellinek in Anknüpfung an seine in den Einleitenden Untersuchungen dargestellte Institutionenlehre den Staat sozial als teleologische Verbandseinheit und juristisch als Körperschaft aus. Sodann unterscheidet er – wiederum im Anschluss an seine Theorie des institutionellen Zweckwandels – zwischen der Rechtfertigungssowie der Zwecklehre des Staats und bietet eine an der Stellung des Individuums zum Staat orientierte Staatstypenlehre. Schließlich widmet sich Jellinek
20 G. Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898, S. 43. 21 L. Gumplowicz, Geschichte der Staatstheorien, Innsbruck 1905, S. 521. 22 H. Preuß, AöR 18 (1903), S. 373 (374 [Klammerzusatz durch den Verfasser]). 23 Vgl. Kersten (Fn. 1), S. 69 ff.
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dem für sein ganzes Denken zentralen Problem – dem Verhältnis von Staat und Recht: Ausgangspunkt ist seine psychologische Rechtssatzlehre. Hier prägt er die Formel von der „normativen Kraft des Faktischen“,24 deren Bedeutung für das Staats- und Völkerrecht entfaltet wird. Den intellektuellen Schlussstein der sozialen Staatslehre bildet jedoch die Erläuterung der normativen Selbstverpflichtung des Staatswillens. In dieser Selbstbindung des Staats an sein eigenes Recht liegt der Brückenschlag vom Sein zum Sollen und damit der Schnittpunkt von sozialer und rechtlicher Staatslehre. Im Dritten Buch, der Allgemeinen Staatsrechtslehre, konstruiert er zunächst den juristischen Staatsbegriff in der Drei-Elemente-Lehre. Dazu setzt er Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis zur Staatsperson. In dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis integriert er nicht nur seine im System begründete Vier-Status-Lehre und seine in der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte entwickelte These vom gewissenhaften Ursprung der Grundrechte, sondern weist als dessen zentralen Fixpunkt die normativ selbstreflexive Staatsgewalt aus. Deren näherer Untersuchung widmet er sich anschließend mit der Präsentation seines rein formal-normativen und wiederum auf den Selbstbindungsgedanken bezogenen Souveränitätsbegriffs. Die Frage nach der rechtlichen Konstruktion der verfassungsrechtlichen Innenorganisation und völkerrechtlichen Außenordnung des Staats sowie nach den Garantien des öffentlichen Rechts runden das Werk ab. Mit Hilfe seiner Zwei-Seiten-Lehre sowie seiner Theorie vom Zweckwandel der Institutionen beschrieb Jellinek in Verfassungsänderung und Verfassungswandlung (1906) das Phänomen des Verfassungswandels. Jellinek erfasst den Verfassungswandel in der Vermittlung von Faktizität und Normativität offener als etwa Paul Laband, der zeitgleich Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung analysierte.25 Die knapp neunzigseitige Monographie konzentriert eine immense Themenvielfalt:26 Methodologische Reflexionen über das Verhältnis von Staatslehre und Politik stehen neben materiellen Ausführungen zum Verhältnis von Macht und Recht. Rechtsvergleichend werden Verfassungsänderung und Verfassungswandel typisiert und kontrastiert. Antiparlamentarisch gefärbte Institutionenkritik verbindet sich mit politischen Reformvorschlägen. Schließlich wird in den Schlusssätzen von Verfassungsänderung und Verfassungswandlung „Zukunftsstaatsrecht“ betrieben und ein
24 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914 S. 337 ff. 25 Vgl. P. Laband, JöR 1 (1907), S. 1 ff. 26 Vgl. umfassend H. A. Wolff, Verfassungswandlung und ungeschriebenes Verfassungsrecht im Werke Georg Jellineks, in: Paulson/Schulte (Fn. 12), S. 133 ff.
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„Verfassungswechsel“ für das Deutsche Reich konstatiert: In der großen und unleugbaren Tatsache, „daß über die Parlamente, über diese in vielen Staaten künstlichen Schöpfungen der neuesten Zeit hinweg, die beiden einzigen unzerstörbaren natürlichen Mächte des Staates: Regierung und Volk, einander unmittelbar gegenüberzustehen beginnen, liegt der gewaltigste Verfassungswechsel der neueren Geschichte verborgen. Wohin er führen wird, werden einst unsere Enkel erfahren.“27 – Diese Prognose von 1906 lässt ihren Leser bis heute bestürzt zurück. Mit dieser Beschreibung der Erosion der Legitimationsgrundlagen des späten Kaiserreichs hatte Jellinek zugleich das beherrschende Thema der ihm verbleibenden Lebensjahre gefunden.28 Es prägte seine Rektoratsrede Der Kampf des alten mit dem neuen Recht (1907), in der seine Auseinandersetzung mit der „dogmatisch-juristischen Schule der deutschen Staatswissenschaft“29 schon fast zur Abkündigung eines historisch überlebten Methodenpostulats gerät. Und schließlich sah Jellinek trotz seiner antiparlamentarischen Grundhaltung in seinen rechtspolitischen Stellungnahmen zur Daily-Telegraph-Affäre (1908/1909) letztlich keine politische Alternative zu einer Parlamentarisierung des Deutschen Reiches.30 Georg Jellinek starb am 12. Januar 1911 in Heidelberg. Sein Werk prägt die historische Entwicklung, die dogmatische Kontur und die politischen Fragestellungen des Öffentlichen Rechts bis heute: sein Staats- und Typusbegriff, seine Zwei-Seiten-, Drei-Elemente- und Vier-Status-Lehre, seine Beschreibung des Verhältnisses von Staatsrechtslehre und Politik, seine Staatszweck- und Selbstbindungslehre, seine Erklärung des Ursprungs der Grundrechte, des Verfassungswandels sowie der Verfassungsgerichtsbarkeit, sein Verständnis des Rechts als sozialethisches Minimum und der normativen Kraft des Faktischen, sein Souveränitätsbegriff und seine Völkerrechtstheorie. Dieser überwältigende Rezeptionsbefund erklärt sich aus Jellineks Versuch, zwischen Faktizität und Normativität
27 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906, S. 88; vgl. hierzu C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, Frankfurt 1997, S. 282 ff., 295 ff.; ders., Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille: Georg Jellinek und die Krise des staatsrechtlichen Positivismus um die Jahrhundertwende, in: Paulson/Schulte (Fn. 12), S. 31 f. 28 Vgl. Schönberger, Parlament (Fn. 27), S. 193, 214. 29 G. Jellinek, Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, Heidelberg 1907, S. 49. 30 Vgl. G. Jellinek, Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, in: ders. (Fn. 2), 2. Bd., S. 431 ff.; ders., Ein Gesetzentwurf betreffend die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und seiner Stellvertreter nebst Begründung, Heidelberg 1909; ders., DJZ 1909, Sp. 393 f.; 532; grds. ders., Regierung und Parlament in Deutschland, Leipzig 1909; hierzu umfassend Schönberger, Parlament (Fn. 27), S. 268 ff.; Anter (Fn. 1), S. 195.
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methodisch, begrifflich und konzeptionell zu vermitteln. Die kompaktbegriffliche Vermittlung zwischen Faktizität und Normativität erfolgt durch explikativ offene Gattungstypen. Diese reduzieren begrifflich die Komplexität der sozialen Welt. Sie zeichnen sich deshalb durch ein hohes Maß an argumentativer Anschlussund flexibler Entwicklungsfähigkeit aus, die ihre zeit- und systemübergreifende Rezeption begünstigen. Obwohl sich Jellineks Gattungs- und Max Webers Idealtypen31 methodologisch und begrifflich unterscheiden, ähneln sich beide in ihrer komplexitätsreduzierenden Erklärungsfunktion.32 So bringt Weber den Staat als „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“33 auf einen idealtypischen Begriff, ist sich aber zugleich auch bewusst, dass für politische Verbände „selbstverständlich die Gewaltsamkeit weder das einzige, noch auch nur das normale Verwaltungsmittel ist“.34 Wie Weber seine Idealtypen ergänzt Jellinek seine Gattungstypen um eine erklärende Funktion, die auf den sozialen, politischen und kulturellen Kontext der juristischen Begriffsbildung eingeht. Dabei ist die Erklärung des Typus bewusst offen gehalten und auf begrifflichen Wandel angelegt. Dies hat ebenfalls die zeit- und systemüberspannende Verwendung jellinekscher Begriffe ermöglicht. Die methodologische Leistung Jellineks wurde durch die nächste Staatsrechtslehrergeneration bereits wieder in Frage gestellt. Die Kontrahenten des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits radikalisierten sich in ihrer Selbststilisierung als methodologische lost generation entweder auf der faktischen (Carl Schmitt, Rudolf Smend) oder der normativen Seite (Hans Kelsen). Sie waren sich allein in dem einen Punkt einig, dass Jellineks Vermittlungsversuch zwischen Sein und Sollen methodologisch nicht haltbar sei. Doch auch die Risiken und Nebenwirkungen des Weimarer Methoden- und Richtungsstreits lenkt die Aufmerksamkeit nur noch mehr auf Georg Jellinek als dem „Jahrhundertjuristen“,35 auf dessen Schultern wir bis heute alle stehen.
31 Vgl. M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hsrg. v. J. Winkelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 146 (190 f.). 32 Vgl. Kersten (Fn. 1), S. 127 ff.; zum Verhältnis von Jellinek und Weber S. Breuer, Georg Jellinek und Max Weber, 1999; A. Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Paulson/Schulte (Fn. 12), S. 67 ff. 33 M. Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. v. J. Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505 (506). 34 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 29. 35 J. Isensee, JZ 2009, S. 949 (953); vgl. auch Anter (Fn. 1), S. 197: „Aufgrund seiner prägnanten Konstruktionen bleib J[ellinek] über 100 Jahre hinweg Bezugspunkt der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur.“ (Klammerzusatz durch den Verfasser).
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Schriften (Auswahl) Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, Neudruck Hildesheim 1967. Die rechtliche Natur der Staatenverträge. Ein Beitrag zur juristischen Construction des Völkerrechts, Wien 1880. Die Lehre von den Staatenverbindungen, Berlin 1882. Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Freiburg 1887. System der subjektiven öffentliche Rechte, 1. Aufl., Freiburg 1892, 2. Aufl., Tübingen 1905. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1. Aufl., Leipzig 1895, 2. Aufl., Leipzig 1904, 3. Aufl., München 1919. Das Recht der Minoritäten, Wien 1898. Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., Berlin 1900, 2. Aufl., Berlin 1905, 3. Aufl., Berlin 1914. Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906. Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, Heidelberg 1907. Regierung und Parlament in Deutschland, Leipzig 1909. Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. v. W. Jellinek, 2 Bände, Berlin 1911.
V Hugo Preuß (1860–1925) Dian Schefold
I. Wirkungsgeschichte und Bedeutung Hätte sich vor hundert Jahren die Aufgabe gestellt, die wichtigsten Staatsrechtslehrer der Gegenwart zu würdigen, so kann man sich fragen, ob für Hugo Preuß Raum in diesem Kreis gewesen wäre. Zwar war er habilitierter, durch viele, auch vielfach gewürdigte Arbeiten ausgewiesener Fachvertreter des öffentlichen Rechts. Er hatte auch seit 1906/7 eine Professur an der Handelshochschule Berlin inne; diese sollte ihn gar 1918 zum Rektor wählen.1 Aber damit stand er nicht im Zentrum der zeitgenössischen, von Paul Laband und Georg Jellinek bestimmten Staatsrechtslehre. Beide haben ihn zwar zur Kenntnis genommen und sich mit ihm auseinandergesetzt, aber doch vorwiegend kritisch.2 Auf die praktische Rechtswissenschaft der Zeit war Preuß’ Einfluss gering.3 Vor allem aber: an der eigenen, der Friedrich-Wilhelms-Universität, die Preuß 1889 habilitiert hatte, erhielt er nie eine Professur; er blieb lebenslang Privatdozent. Deutlicher noch wird diese Grenze der Reputation, wenn mit Preuß vergleichbare Kollegen einbezogen werden. Nahezu ein Altersgenosse des 1860 Geborenen war Conrad Bornhak (1861–1944), kurz vor Preuß von der Juristischen Fakultät der Friedrich Wilhelms-Universität habilitiert und zwar nie wegberufen, aber bald zum außerordentlichen Professor ernannt und als solcher – mit politisch während der Weimarer Zeit bedingter Unterbrechung – bis zu seinem Tod und
1 Zur wissenschaftlichen Laufbahn in Berlin jetzt Christoph Müller, Privat-Dozent Dr. Hugo Preuß, in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 701 ff., dort auch umfassende Nachweise zur früheren Literatur. 2 Für Labands durchaus differenzierte Haltung kennzeichnend die Besprechung von Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen (1902), in AÖR 18, 1903, S. 73–84; für Jellinek die kritische Bewertung der Selbstverwaltung in Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1911 (Neudruck 1960), S. 628 ff. (insb. S. 632 Fn. 3, 645 mit Fn. 1). 3 So nimmt Graf Hue de Grais, Handbuch der Verfassung und Verwaltung, 22. Aufl. Berlin 1914, von den unmittelbar zuvor veröffentlichten Abhandlungen von Preuß zur Verwaltungsreform keinerlei Kenntnis.
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durchaus mit Erfolg wirkend.4 Für Georg Jellinek war Gewährsmann bei seiner Preuß gegenüber kritischen Haltung5 Jellineks 1898 bei ihm habilitierter Schüler Julius Hatschek (1872–1926), später hoch angesehener Ordinarius in Göttingen. Vor allem aber zeigt der wenig jüngere Gerhard Anschütz (1867–1948), 1896 in Berlin habilitiert und in guter Verbindung, wenn auch nicht distanzloser Übereinstimmung mit Preuß,6 durch seine glanzvolle Karriere die möglichen Perspektiven für aus der Friedrich Wilhelms-Universität hervorgegangene Nachwuchswissenschaftler. Vergleichbare Perspektiven haben sich Preuß nie eröffnet. Mehr noch: Gerade der hundertjährige Abstand weist darauf hin, dass nach 1911 eine neue, in sich noch so inhomogene Generation von Staatsrechtslehrern die Fragestellungen des Fachs neu aufzuwerfen begann. Mit dem Erscheinen der ersten Schriften mit deutlichem theoretischen Anspruch von Hans Kelsen, Rudolf Smend, Erich Kaufmann und Carl Schmitt kündigte sich der Methoden- und Richtungsstreit an. Er sollte zwar die Diskussion unter der Weimarer Verfassung maßgeblich beeinflussen, war aber kein in dieser Verfassung gründender, sondern ihr vorangehender Konflikt.7 An diesem Konflikt war Hugo Preuß – wie auch Gerhard Anschütz – nicht unmittelbar beteiligt, sondern eher der Generation zuzurechnen, gegen die sich die genannten jüngeren Autoren wandten. Gewiss hat es auch vorher Methodenstreite gegeben – die Kontroverse zwischen Laband und Gierke, an der auch Preuß beteiligt war, kann in diesem Sinn eingeordnet werden.8 Aber wenn in Darstellungen der Weimarer Auseinandersetzungen vom damaligen
4 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 303 Fn. 159. 5 Der Gegensatz wird deutlich in Preuß’ Rezensionsabhandlung zu Hatscheks Habilitationsschrift: Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion (1900), jetzt in: Preuß, Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 121 ff., und dazu meine Einleitung S. 36 f. (vollständiger Nachweis der Edition unten Fn. 25). 6 Dazu einerseits die Aussagen bei Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, Frankfurt 1993, insb. S. 121 ff., 163, 239 ff., andererseits Preuß’ Rezension von Anschütz’ Kommentar zur preußischen Verfassungsurkunde (1912), und sein Vortrag über den konstitutionellen Gesetzesbegriff (1903), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 570 ff., 191 ff. 7 Dazu mit Nachweisen Dian Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: K. Acham u. a. (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, Stuttgart 1998, S. 567 ff.; vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (zit. Fn. 4), S. 448 ff.; Bd. 3, München 1999, S. 153 ff. 8 Vgl. namentlich Otto von Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, SchmollersJb 7, 1883, S. 1097 ff. (Neudruck separat 1971); zum Kontext meine Einleitung in Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 21 ff., 75 und Le costituzioni ed i due conflitti sui metodi e le tendenze, in: Il diritto fra interpretazione e storia. Liber Amicorum in onore di Angelo Antonio Cervati Bd. 5, Roma 2010, S. 29 ff.
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Richtungsstreit geprägte Autoren in Verbindung mit älteren gebracht werden, so gilt es, das Generationenproblem im Blick zu behalten:9 Preuß war zwar an der Interpretation seines Verfassungswerks, kaum aber an den darum aufgeflammten methodischen Kontroversen interessiert. Aber damit ist zugleich der Grund angesprochen, der es als fast selbstverständlich erscheinen lässt, Preuß im Zusammenhang des hier vorgelegten Bandes zu würdigen: Preuß ist vom Rat der Volksbeauftragten zum Staatssekretär des Reichsamts des Innern ernannt worden, später zum Innenminister, und er hat in dieser Funktion die Verfassung des demokratischen Deutschen Reichs, die Weimarer Verfassung entworfen und in der parlamentarischen Beratung vertreten.10 In den ihm danach verbleibenden Jahren hat er sein Werk, unter Hervorhebung der Grundlinien, immer wieder verteidigt und in seiner Bedeutung herausgestellt. Insofern ist sein Wirken eine maßgebende Schnittstelle in der Entwicklung nicht nur der deutschen Staatsrechtslehre, sondern auch ihres Gegenstands. Das könnte eine ihm zufällig zugefallene Rolle sein. Aber gegen eine solche einschränkende Sicht sprechen gewichtige Argumente, die hier zusammengefasst werden sollen und die – das sei als These vorausgeschickt – die Bedeutung schon der Grundlegung von Preuß’ wissenschaftlicher Haltung und die innere Konsistenz seines Wirkens belegen. Erste Zeugnisse dieser Bedeutung gehen schon auf Würdigungen nach dem Tod am 9. Oktober 1925 zurück.11 Es zeigte sich und wurde zu Editionen genutzt, dass die Aufsätze und hinterlassenen Manuskripte wesentliche Bausteine zum Verständnis des deutschen Verfassungsrechts und seiner Genese enthielten.12
9 Dieses Problem stellt sich namentlich bei einer Analyse des demokratischen Denkens in der Weimarer Republik, wie sie, auf der Grundlage des von Chr. Gusy herausgegebenen Sammelbands (Baden-Baden 2000), neuerdings von Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010, vorgelegt worden ist; zu den Problemen Dian Schefold, Demokratische Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, Festschrift Hans Peter Bull, Berlin 2011, S. 325 (insb. 327 f., 334 f., 337). 10 Zur Bedeutung insofern grundlegend Walter Jellinek, Entstehung und Ausbau der Weimarer Reichsverfassung, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts (Hrsg. G. Anschütz/R. Thoma), Bd. 1, Tübingen 1930, S. 127 ff. 11 Wichtig sind insb. der Nachruf von Hedwig Hintze, Hugo Preuß, in: Die Justiz 2, 1927, S. 223 ff. und die frühe Monographie von Ernst Feder, Hugo Preuß. Ein Lebensbild, Berlin 1926. 12 Dafür bedeutsam vor allem die von Else Preuß herausgegebene, von Theodor Heuss eingeleitete Sammlung: Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926; sodann Hedwig Hintze (Hrsg.), Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlagen zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, Berlin 1927, und Gerhard Anschütz (Hrsg.), Hugo Preuß, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1928.
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Auch in der Folge setzten sich mehrere Schriften mit Preuß auseinander,13 bis die nationalsozialistische Diskreditierung der Weimarer Demokratie und ihres als „Jude“ gebrandmarkten Verfassungsvaters weitere Diskussion abwürgte.14 Für die Zeit nach 1945 stellte sich daher wie die Frage der Bewertung der Weimarer Verfassung, so auch die der Würdigung von Hugo Preuß neu. Von großer Bedeutung dafür war die 1955 vorgelegte und auf Archivstudien sowie Gesprächen mit Preuß’ Sohn beruhende, aber zunächst ungedruckt gebliebene Freiburger geisteswissenschaftliche Dissertation Günther Gillessens. Sie beeinflusste die gleich darzustellende Auseinandersetzung und erschien schließlich, 45 Jahre nach ihrer Einreichung, auch als Buch.15 Speziell für die kommunalpolitische Seite, aber auch die Grundlagen der Preuß’schen Theorie ergänzt wurde die Untersuchung durch eine gründliche Studie von Siegfried Grassmann.16 In diese Phase gehörte neben kleineren Veröffentlichungen ferner der reprographischen Nachdruck der Habilitationsschrift, eines weiteren Buchs und der posthum erschienenen Aufsatzsammlung des Autors.17 Kann somit ein gewisses Fortwirken von Hugo Preuß, wenn auch zunächst in eng begrenztem Rahmen, festgestellt werden, so nahm es nach 1990 völlig
13 Namentlich Walter Simons, Hugo Preuß, Berlin 1930; Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930. 14 Zur Problematik antisemitischer Reaktionen auf Preuß Dian Schefold, Hugo Preuß (1860– 1925), in: H. Erler u. a. (Hrsg.), „Meinetwegen ist die Welt erschaffen“, Frankfurt 1997, S. 293 ff.; wichtig schon die Bemerkung von Theodor Heuss (zit. Fn. 12), S. 15. 15 Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Verfassungs- und Ideengeschichte der Weimarer Republik, Diss. Phil. Freiburg 1955, Buchveröffentlichung mit Vorwort von Manfred Friedrich, Berlin 2000. Interessant zuvor schon die Betonung der Rolle Preuß’ durch Costantino Mortati in seiner Introduzione alla Costituzione di Weimar, 1946 als eine der Grundlagen für die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung an der italienischen Verfassung vorgelegt; auch die zeitnahe Darstellung durch Karl Polak, Die Weimarer Verfassung, ihre Errungenschaften und Mängel, 3. Aufl. Berlin-Ost 1952. Umgekehrt ging Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958 (wiederabgedruckt im häufig nachgedruckten Sammelband: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, und in stw 886, Frankfurt 1991) kritisch mit dem auf Preuß zurückgeführten Konzept der Weimarer Verfassung ins Gericht. 16 Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965; dafür grundlegend schon Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950 (2. Aufl. 1969). 17 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, erschien als Neudruck Aalen 1964 (und erneut Dillenburg 1999); Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Erster Band: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung, Leipzig 1906, Neudruck Aalen 1965; Staat, Recht und Freiheit, 1926 (zit. Fn. 12), Neudruck Hildesheim 1964 (und erneut 2006).
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neue Dimensionen an. Ein zunächst kürzerer Aufsatz, der die Brücke zwischen Preuß’ Souveränitätskritik und der Feststellung eines demokratischen Pluralismus schlug, wurde von Detlef Lehnert zur Grundlage der Darstellung einer „Verfasssungsdemokratie als Bürgergenossenschaft“18 ausgearbeitet, die Darstellung Deutscher Juristen jüdischer Herkunft gab Anlass zu einer eingehenderen Würdigung von Hugo Preuß.19 Auch die historisch wohl angemessenere Würdigung der Weimarer Verfassung als eigenständiger verfassungsgeschichtlicher Periode richtete das Augenmerk auf Preuß und arbeitete die Fragestellung nach demokratischem Denken in der Weimarer Republik heraus.20 Zugleich stieß die schon früher angedeutete Rolle des Preuß’schen Denkens für die Kommunalpolitik auf neues Interesse.21 Einen entscheidenden zusätzlichen Anstoß erhielt die Beschäftigung mit Preuß, auch unter dem Aspekt der juristischen Methode, zusätzlich aus italienischer Feder.22 Deshalb fanden sich im Jahr 2000 Interessierte zur Gründung einer HugoPreuß-Gesellschaft e. V. unter Vorsitz Christoph Müllers zusammen; diese wird seit 2008 durch eine auf Initiative Detlef Lehnerts errichtete Hugo-Preuß-Stiftung ergänzt und fortgeführt. Neben der Veranstaltung von Tagungen, die der weiteren Erforschung des Werks von Hugo Preuß dienen und durch Veröffentlichung der Tagungsbeiträge inzwischen zu einer breiteren wissenschaftlichen Diskussion geführt haben,23 wurde damit das groß angelegte Projekt einer Herausgabe
18 So der Buchtitel, Baden-Baden 1998; der grundlegende Aufsatz erschien schon in Politische Vierteljahresschrift 33, 1992, S. 33 ff.; zu Lehnerts weiteren Veröffentlichungen sogleich im Folgenden. 19 Dian Schefold, Hugo Preuß (1860–1925). Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik, in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 429 ff. – Hinzuweisen ist auch auf die kurz zuvor erschienene Dissertation von Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt 1991. 20 Kennzeichnend, aber wohl auch im Zusammenhang mit Dietmar Willoweits Deutscher Verfassungsgeschichte zu sehen ist Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997; darauf folgte der von dems. herausgegebene Sammelband Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, mit den wichtigen Beiträgen zu Preuß von Jörg-Detlef Kühne, S. 115 ff. und Detlef Lehnert, S. 221 ff.; zu der darauf folgenden Studie von Groh vgl. schon oben Fn. 9. 21 Christoph Müller, Bemerkungen zum Thema Gemeinde-Demokratie, in: Festschrift Dian Schefold, Baden-Baden 2001, S. 73 ff.; ders., Zur Grundlegung der Kommunalpolitik bei Hugo Preuß, Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 18, 2006, S. 13 ff. 22 Sandro Mezzadra, La costituzione del sociale. Il pensiero politico e giuridico di Hugo Preuss, Bologna 1999. 23 Zu nennen sind vor allem Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9.10.2000, Baden-
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Gesammelter Schriften von Hugo Preuß auf den Weg gebracht. Diese umfasst zwar nicht die großen, als Neudrucke greifbaren und daher sinnvoller Weise in dieser Form zitierten Monographien,24 sucht aber die übrigen Schriften im wesentlichen vollständig in fünf Bänden zu präsentieren, durch Einleitungen, die den Inhalt und Zusammenhang der Schriften darstellen, sowie Kommentare und Register zu erschließen. Bisher erschienen sind die Bände 1, 2, 4 und 5;25 das Erscheinen von Band 326 steht unmittelbar bevor. Hinzu kommen weitere Publikationen.27 Das hat die aktuelle Diskussion angestoßen, speziell auch über die Bedeutung von Preuß für ein Konzept pluralistischer Demokratie.28 Es steht zu hoffen, dass dies die Bedeutung von Preuß für die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre präziser zu dokumentieren hilft.29
Baden 2003; Christoph Müller (Hrsg.), Gemeinde, Stadt, Staat: Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß. Hugo-Preuß-Symposion 2004, Baden-Baden 2005; Detlef Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. 24 Oben Fn. 17: Gemeinde, Staat, Reich (1889); Die Entwicklung des deutschen Städtewesens (1906); hinzu kommen Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902 (Neudruck Genschmar 2006); sowie Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa, Berlin 1927 (vgl. oben Fn. 12, Neudruck Genschmar 2008). 25 Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, im Auftrag der Hugo-Preuß-Gesellschaft e. V. herausgegeben von Detlef Lehnert und Christoph Müller (im folgenden: GS), Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, herausgegeben und eingeleitet von Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, Tübingen 2007; Bd. 2: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, herausgegeben und eingeleitet von Dian Schefold in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, Tübingen 2009; Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, herausgegeben und eingeleitet von Detlef Lehnert, Tübingen 2008; Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik, herausgegeben und eingeleitet von Christoph Müller, Tübingen 2012. 26 Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, herausgegeben und eingeleitet von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2014 (in Vorbereitung). 27 Hinzuweisen ist auf die von Detlef Lehnert herausgegebene Reihe „Historische Demokratieforschung“ (Köln, seit 2011). 28 Dazu neben der gewichtigen Monographie von Groh (zit. Fn. 9) neuerdings J.Kocka/G. Stock (Hrsg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie. Vorträge und Diskussion zum 150. Geburtstag des „Vaters der Weimarer Reichsverfassung“, Berlin 2011, mit dem Vortrag von Andreas Vosskuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, S. 23 ff.; Detlef Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012, mit aktueller Bibliographie S. 213 ff. 29 Aktuelles Beispiel: Der Sozialethiker Hartmut Kreß zitiert (Zeitschrift für Rechtspolitik 2012, S. 60) „ubi societas, ibi ius“, unter Verweis auf die in der Tat packende Antrittsrede von Preuß vom 19.10.1918 als Rektor der Handelshochschule Berlin, jetzt GS Bd. 1, S. 706 ff. (vgl. dazu oben Fn. 1). Das Sachverzeichnis GS Bd. 2, S. 884 verweist auf fünf vorherige Verwendungen dieser Formel durch Preuß seit 1891, und die Einleitung zu Bd. 2 führt (insb. S. 14 f., 29 f.) aus, dass die Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Recht für das Verständnis der Lehre von Preuß,
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II. Politische und staatstheoretische Orientierung Die dargestellte Entwicklung der Diskussion hat offengelegt, dass die Bedeutung von Preuß nicht primär von seinem Beitrag zur Entstehung der Weimarer Verfassung her verstanden werden kann, sondern dass dieser Beitrag nur die Folge der Entwicklung schon früh konzipierter staatsrechtlicher Ideen in Verbindung mit einem politisch-publizistischen Engagement ist. Dabei ging nach einem Jura-Studium in Berlin und Heidelberg sowie einer romanistischen Promotion in Göttingen30 der Anstoß zunächst von einer politischen Betätigung im Umkreis der „Liberalen Vereinigung“ unter Einfluss Theodor Barths und der Mitarbeit an seiner Zeitschrift „Die Nation“ aus.31 Natürlich implizierte dies auch verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Stellungnahmen. In diesen konkurrierte das politische Umfeld mit juristischen Einflüssen, etwa von Franz von Holtzendorff,32 Johann Caspar Bluntschli, Franz Lieber33 und, vor allem, dem in Berlin in seiner Spätphase überaus wichtigen Rudolf Gneist.34 Aber solche Ansätze wurden bald durch den Einfluss Otto von Gierkes überlagert und weitgehend absorbiert. Wohl bereits nach erstem Interesse für die Genossenschaftstheorie ergab sich seit Gierkes Berufung nach Berlin 1887 eine intensive Zusammenarbeit. Sie gipfelte in Preuß’ 1889 veröffentlichter Habilitationsschrift über „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“,35 nach dem Untertitel „Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie“ und „Dem Vorkämpfer deutscher Genossenschaftsthe-
speziell der Verbindlichkeit des internationalen Rechts und der Rechtsquellen im Mehrebenensystem zentral sind. Dazu jetzt auch Dian Schefold, Die Homogenität im Mehrebenensystem, JÖR 60, 2012, S. 49 (57 ff.). 30 Der in der Einleitung zu GS Bd. 2, S. 2 mit Fn. 1 begründete Nicht-Abdruck dieser handschriftlich im Universitäts-Archiv Göttingen aufbewahrten Arbeit ist kritisiert worden (Karsten Ruppert, Rezension in ZRG GA 129, 2012, S. 63), aber die Arbeit ist von Preuß selbst als „wenig nutzvoll“ bezeichnet worden, hängt mit den folgenden Schriften nicht zusammen und ist daher bewusst nicht publiziert worden. 31 Albertin, Einleitung zu GS Bd. 1, S. 13 ff.; vgl. die in GS Bd. 1, Nr. 2–7, 10, 12–19; Bd. 2, Nr. 3, 11–14,18, 21 abgedruckten Schriften. 32 Dazu die frühe Rezension: Ein neues Handbuch des Völkerrechts, jetzt in: GS Bd. 2, S. 281 ff. 33 Dazu die jetzt in GS Bd. 2, Nr. 14–16 und 21 abgedruckten Schriften und dazu m. w. Nachw. Einleitung, S. 6 f. 34 Dazu der von Preuß nach Gneists Tod 1895 veröffentlichte Nachruf in Die Nation, in: Staat, Recht und Freiheit (zit. Fn. 12), S. 503 ff. und, für den Einfluss auf die frühen Schriften, Einleitung zu Bd. 2, S. 5 ff.; auf die unterschiedliche Bewertung der Selbstverwaltung wird zurückzukommen sein. 35 S. o. Fn. 17, dazu Einleitung zu Bd. 2, S. 4, 10 ff.
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orie Herrn Dr. Otto Gierke, Geheimem Justizrath und ordentlichem Professor der Rechte an der Universität Berlin in Verehrung zugeeignet“. In der Tat folgt die Argumentation des Bandes zum großen Teil Gierkes Methode und Forschungsrichtung. Die Bildung menschlicher Verbände wird, mit umfangreichen rechts- und sozialhistorischen Begründungen, beschrieben und als im Wesen des Menschen angelegt, „organisch“ dargestellt. Dabei wehrt Preuß allerdings jede mystisch-irrationale Konnotation einer solchen Methode, wie sie etwa nach Bluntschli nahe liegt, ab. Aber Personen im Rechtssinn sind nicht nur Individuen, sondern auch aus solchen als Gliedpersonen gebildete Gesamtpersonen; auch diese können Gliedpersonen einer größeren Gesamtperson sein. Folglich stehen sich nicht Individuum und juristische Person als Rechtssubjekte gegenüber, sondern es kann zahlreiche und unterschiedliche Erscheinungsformen von Gesamtpersonen geben. Zwischen Gemeinde, Staat, Reich, ja auch der Weltgemeinschaft bestehen keine qualitativen Unterschiede. Lediglich der Anspruch der Herrschaft auf einem bestimmten Gebiet qualifiziert bestimmte, eben die Gebietskörperschaften, und die Gebietshoheit als Fähigkeit zur Umbildung der zugehörigen Gebietskörperschaften verleiht bestimmten Gebietskörperschaften – im damaligen Deutschen Reich: den Gliedstaaten – eine Sonderrolle. Aber auch deren Herrschaft ist in der Regel nicht ausschließlich. Folgt Preuß insoweit im wesentlichen von Gierke entwickelten Gedankengängen und auch dessen Konzeption eines Sozialrechts, so ist sein Untersuchungsgegenstand doch auf das öffentliche Recht hin orientiert.36 Ausgangspunkt im ersten Kapitel der Habilitationsschrift ist die Bundesstaatslehre, an der Preuß die Widersprüchlichkeit, „das absolut negative Resultat“37 des Versuchs, Gliedstaaten und Reich als Staaten mit Ausschließlichkeitsanspruch zu verstehen, herausarbeitet. Damit ist eine zweite, sachliche Differenz zu Gierke angesprochen. Während dieser der Vielfalt genossenschaftlicher Bildung von Gesamtpersonen gegenüber an der Souveränität des Staates festhält, zeiht ihn Preuß insofern der Inkonsequenz und setzt sich das Ziel, „das Spinnennetz des veralteten, zeitwidrigen Souveränitätsbegriffs zu zerreißen“.38 Souveränität mochte als Argument absolutistischer, vor allem patrimonialer Herrschaft dienen; aber sie verträgt sich nicht mit dem Mit- und Nebeneinander von Gesamtpersonen, das ein – wenn auch oft umstrittenes – organisches Zusammenwirken mit Abgrenzung der
36 Sinnfälliger und programmatischer Ausdruck dieser Orientierung ist die gleich nach der Habilitation gehaltene akademische Antrittsrede über „Entwicklung und Bedeutung des öffentlichen Rechts“ (1889), jetzt in: GS Bd. 2, S. 102 ff. 37 Gemeinde, Staat, Reich, S. 83. 38 Gemeinde, Staat, Reich, S. VI (dort das Zitat), 100 ff.
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Herrschaftssphären erfordert. Das wird in der Habilitationsschrift für die Ebenen politischer Herrschaft vom Reich bis zur Gemeinde dargestellt und für das Völkerrecht angedeutet; „Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens“ führt, zwei Jahre später, diesen Gedanken weiter aus.39 Er wendet sich gegen ein romanistisch, von der Fiktionstheorie der juristischen Person geprägtes Staatsrecht, wie es Laband vertreten hat,40 und öffnet sich von Anfang an einer Normierung des öffentlichen Rechts durch Verfassungsrecht auf allen Ebenen. Schon die Habilitationsschrift umreißt daher – hier nicht im Einzelnen weiter zu verfolgende – Forschungsthemen, die Preuß’ ganzes Leben bestimmen und als auf die Aufgabe der Verfassungsgebung orientiert gesehen werden können.
III. Folgerungen für Kommunalrecht und Kommunalpolitik Dazu trägt maßgeblich bei, dass Preuß, neben seiner publizistischen, vor allem auf das politische System des Reichs ausgerichteten Betätigung und seiner Lehrtätigkeit, aus dem Befund der Habilitationsschrift bald die Konsequenz zog, sich auch kommunalpolitisch zu betätigen. Er ließ sich, auf Grund seiner Vermögensverhältnisse und des preußischen Dreiklassenwahlrechts ohne Schwierigkeiten, 1895 in die Berliner Stadtverordnetenversammlung wählen, und entfaltete dort bald eine rege kommunalpolitische Aktivität.41 Sie war zunächst bestimmt durch die Aufgaben, die sich im Zuge der Urbanisierung und des enormen Wachstums städtischer Agglomerationen in der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert stellten und eine Betätigung der kommunalen Verwaltungen erforderten. Das politische Klima der Reichshauptstadt war dem günstig, da die Stadtverordnetenversammlung, auch unter dem Dreiklassenwahlrecht, mehrere zwischen einem dezidierten Liberalismus und Nähe zur Sozialdemokratie oszillierende Fraktionen umfasste. In diesem Rahmen schloss sich Preuß der von Theodor Barth geleiteten
39 Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens (1891), jetzt in: GS Bd. 2, S. 426 ff. 40 Insofern ist die Verbindung zur wenige Jahre zuvor formulierte Laband-Kritik durch Otto von Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Schmollers Jb 7,1883, S. 1097 ff. (Neudruck 1970) evident; dass demgegenüber auch Preuß’ Darstellung Einwänden begegnete, hat Albert Hänel, Zur Revision der Methode und Grundbegriffe des Staatsrechts, AÖR 5, 1890, S. 457 ff., differenzierend herausgearbeitet. 41 Dazu vor allem Grassmann (zit. Fn. 16); eine Detailwürdigung und Dokumentation durch Christoph Müller, Einleitung zu GS, Bd. 5.
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„Sozialfortschrittlichen Fraktion“ an42 und relativierte in der Folge seine noch 1891 dargelegte Kritik an der Sozialdemokratie vom Standpunkt eines den Klassenkampf überwindenden Parlamentarismus-Konzepts.43 Vor allem aber erhielt das Prinzip der Selbstverwaltung der Kommunen, 1889 noch als unterste von mehreren Stufen von Gebietskörperschaften behandelt, jetzt konkretere Aufmerksamkeit und Konturen. Ausgangspunkt war die Kritik an der von Georg Jellinek und damit von der staatlichen Souveränität bestimmten Habilitationsschrift von Julius Hatschek,44 die Jellineks Statuslehre auf die Selbstverwaltung übertragen und damit diese vor allem auf ein politisches Prinzip reduzieren wollte. Preuß argumentiert dagegen mit der seit der Habilitationsschrift begründeten „organischen“ Betrachtungsweise: als Gesamtperson setzt sich die Gemeinde, wie jede Gebietskörperschaft, ihren Zweck selbst; Zweckzuweisung von außen ist als Begriffsjurisprudenz zu kritisieren. Abgesehen vom methodenkritischen Aspekt,45 schimmert schon hier die Deutung der Selbstverwaltung als autochthone Selbstbestimmung durch, und sie setzt sich in den folgenden, der romanistischen Theorie diametral widersprechenden Beiträgen zur Organschaft für juristische Personen, vor allem dem großen Buch über „Das städtische Amtsrecht in Preußen“46 fort: Kommunalbeamte, wie sie das damals erlassene preußische Gesetz von 1899 regelte, sind nicht mittelbare Staatsbeamte, sondern Organwalter der sie bestellenden Gebietskörperschaft. Hieraus folgt ein Konzept eines republikanischen Beamtenrechts, das sich, gestützt auf die Stein’sche Städteordnung von 1808 und in Abweichung von den spätabsolutistischen Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts, von der Tradition des Fürstendiensts und des besonderen Gewaltverhältnisses absetzt.47 Damit ist z. B. ein staatliches Recht zur Bestätigung nach freiem Ermessen für gewählte Beamte unvereinbar.48 Wohl aber gibt ein solches Amtsrecht einen Schlüssel zum Verständnis herge-
42 Dazu und zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung Grassmann, S. 9 ff. 43 Preuß, Die Sozialdemokratie und der Parlamentarismus (1891), GS Bd. 1, S. 176 ff.; vgl. Schefold in: Deutsche Juristen (zit. Fn. 19), S. 445 f. 44 Julius Hatschek, Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Bedeutung, Leipzig 1898, dazu Preuß, Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion (1900), jetzt in GS Bd. 2, S. 121 ff. 45 Nicht zufällig wurde der Aufsatz im Sammelband von Werner Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976, S. 157 ff., wieder abgedruckt. 46 Zit. oben Fn. 24; voraus gingen die Aufsätze Über Organpersönlichkeit, sowie: Stellvertretung oder Organschaft? (beide 1902, jetzt in GS Bd. 2, S. 131 ff., 162 ff.). 47 Dazu im einzelnen Einleitung zu GS Bd. 2, S. 41 ff. 48 Dazu das besondere, auch separat veröffentlichte Kapitel über die Geschichte des Bestätigungsrechts in Preußen, GS Bd. 2, S. 527 ff., dessen Brisanz der Herausgeber, Hans Delbrück, durchaus erkannte und in einer Nachschrift (S. 553 f.) betonte, vgl. Einleitung S. 47 f. und Kommentar, S. 850.
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brachter Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinn heutigen Verfassungs- und Beamtenrechts. Da Preuß hier, wie schon seit der Habilitationsschrift, weitgehend historisch argumentierte, lag es für ihn nahe, seine Sichtweise auch insofern zu untermauern. Dem diente die Darstellung der „Entwicklung des deutschen Städtewesens“. Ein erster Band zur „Entwickungsgeschichte der deutschen Städteverfassung“ erschien 1906,49 blieb allerdings ohne Fortsetzung. Denn wichtiger noch war das hier entwickelte Selbstverwaltungsverständnis für die Deutung kommunaler Aufgaben. Diese sind grundsätzlich als eigenständig zu betrachten und staatlicher Aufsicht nur auf Gesetzmäßigkeit der Erfüllung unterworfen. Eine weiter gehende Aufsicht im Bereich staatlicher, den Gemeinden übertragenen Auftragsverwaltung ist nur nach Maßgabe spezieller Gesetze zulässig, aber als Durchbrechung des Prinzips der Selbstverwaltung die Ausnahme, eng, namentlich als Übertragung auf die Gemeinde als solche, nicht etwa als Organleihe zu interpretieren, und rechtspolitisch problematisch. Nach diesen Kriterien argumentiert Preuß vor allem zugunsten einer kommunalen Eigenständigkeit der Polizei50 und der damit verbundenen Verwaltungszweige sowie des Schulwesens.51 Das derart entwickelte Verständnis der Selbstverwaltung setzt sich allerdings ab von den Untersuchungsergebnissen und vor allem praktischen Folgerungen, die Rudolf Gneist in seinen einflussreichen Forschungen über das englische Selfgovernment52 entwickelt hatte. Ging es Gneist vor allem um das Ehrenamt als Form der Teilhabe lokaler Eliten an einer einheitlichen Verwaltung,53 auch als Modell für Preußen und dessen so umkämpfte, schließlich 1872 erlassene Kreisordnung, so war für Preuß die Organisation der Gebietskörperschaften, schon auf lokaler Ebene und insofern unabhängig von der staatlichen, primär. Die beiden Sichtweisen können wohl auf den unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkt, den Gegensatz zwischen der romanistisch verstandenen Rechtspersönlichkeit
49 Vgl. oben Fn. 17, zur Rezeptionsproblematik Schefold, in: Deutsche Juristen (zit. Fn. 19), S. 442 f. 50 So schon § 184 Buchst. b) RV 1849 (Paulskirchenverfassung), während „der böse § 166“ der Städteordnung 1808 (und § 105 der Städteordnung 1831) auf dem Staatsmonopol beharrten, vgl. Das städtische Amtsrecht, S. 215 ff. 51 Das städtische Amtsrecht, S. 235 ff.; dazu dann Preuß, Das Recht der städtischen Schulverwaltung in Preußen, Berlin 1905. 52 Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder des Selfgovernment, Berlin 1860, 2. Aufl. 2 Bde. Berlin 1863, 3. Aufl. Berlin 1871. 53 Dazu die Darstellung durch Erich J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816–1895, Frankfurt 1995, S. 64 ff., 144 ff.
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des souveränen Staates einerseits, der Mehrstufigkeit von Gesamtpersonen andererseits zurückgeführt werden.54 Sie sind wohl auch durch den Gegensatz zwischen Honoratiorenverwaltung, wie sie Gneist, und städtischem Amtsrecht, wie es Preuß verstand, bestimmt. Aber was sollte Preuß der so umfassenden Darstellung und Dokumentation Gneists entgegensetzen? Da traf es sich gut, dass 1901 der Österreicher Josef Redlich eine Darstellung der englischen Lokalverwaltung vorgelegt hatte, die Gneist auch unter historischen Aspekten eingehend zwar würdigte, aber in der Interpretation kritisierte.55 Das gab Preuß den Anlass, in einem umfangreichen Beitrag zur Festschrift für Paul Laband zum Goldenen Doktorjubiläum sein Konzept der Selbstverwaltung nochmals darzustellen:56 Die eigenständige Verwaltung jeder Ebene, von der Gemeinde über höhere Kommunalkörperschaften bis zu Gliedstaat und Reich, ist Selbstverwaltung; sie wird von Preuß im Anschluss an Redlich auch in Großbritannien verortet, auch wenn sie dort von aristokratischen und plutokratischen Elementen nicht frei ist. Jedenfalls ist sie von feudalistischen und patrimonialstaatlichen Herrschaftsformen zu unterscheiden, und sie erweist sich, vor allem seit der Einführung amtsrechtlicher Elemente durch die Reform von 1835 (die Gneist missbilligt hatte) auch als so leistungsfähig, dass weder eine staatliche Verwaltung auf lokaler Ebene, noch eine anstaltliche Indienststellung der Lokalverwaltung durch den Staat erfolgt. Damit lag das Werkzeug für eine kritische Analyse der preußischen Verwaltungsstruktur bereit. Nach dem Dienstantritt an der Handelshochschule und den Veröffentlichungen zum hundertjährigen Jubiläum der Stein’schen Städteordnung57 gab der Beitrag zur Festgabe für Otto Gierke die Gelegenheit, unter Berufung auf das Werk des Lehrers das Konzept einer auf Selbstverwaltung
54 Diese Deutung habe ich in dem Beitrag: Selbstverwaltungstheorien. Rudolf Gneist und Hugo Preuß, in: D. Lehnert/Chr. Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft (zit. Fn. 23), S. 97 ff. (116 ff.) entwickelt; grundlegend nach wie vor Heffter (zit. Fn. 16), insb. S. 753 ff. 55 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901, mit Hinweis schon in der Vorrede S. VII f. und eingehender kritischer Erörterung S. 745 ff. 56 Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum 50. Jahrestag der Doktor-Promotion, Bd. 2, Tübingen 1908, S. 199 ff., jetzt in: GS Bd. 2, S. 236 ff. Der Titel variiert Heinrich Rosin, Souveränetät, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung, München/Leipzig 1883 – eine wohl schon Preuß’ Habilitationsschrift beeinflussende Veröffentlichung. 57 Namentlich die in Preuß, Staat, Recht und Freiheit (zit. Fn. 12), S. 25 ff., 73 ff., abgedruckten Schriften über Ein Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung, sowie: Stadt und Staat (jetzt mit weiteren Schriften in GS Bd. 5), ferner: Verwaltungsreform und Politik. Eine Säkularbetrachtung, GS Bd. 2, S. 581 ff.
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beruhenden Verwaltungsreform zu entwickeln.58 Entgegen dem allerdings auch schon in der preußischen Reformzeit angelegten Modell einer Beschränkung auf „wirtschaftliche Selbstverwaltung“ mit Vorbehalt der obrigkeitlichen Befugnisse für den Staat, vor allem auf dem Gebiet der Polizei, gilt es, die genossenschaftlich strukturierten Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltung, also nächst den Gemeinden die Kreise und Provinzen, so auszugestalten, dass sie alle öffentlichen Aufgaben des Wirkungsbereichs, für den sie zugeschnitten sind, unter eigener Verantwortung erfüllen können. Dekonzentrierte staatliche Verwaltung, namentlich durch bürokratisch organisierte Regierungsbezirke, steht dem entgegen und ist zu vermeiden. Aber auch die von Gneist als Verbindung wirtschaftlicher und obrigkeitlicher Selbstverwaltung erdachten Kreis- und Bezirksausschüsse, die mehrere Ebenen zu verbinden suchen, verwischen die Eigenverantwortung der einzelnen Gebietskörperschaft und schaden daher der Selbstverwaltung mehr, als dass sie sie verwirklichen. Ein Auftrag der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin – auch der Trägerin der Handelshochschule – gab Preuß Gelegenheit, diese grundsätzliche Sichtweise historisch zu untermauern und rechtspolitisch zu konkretisieren. Daraus entstand die Denkschrift zur preußischen Verwaltungsreform,59 gefolgt von zahlreichen kleineren Veröffentlichungen zur Thematik. Sie stellt die preußische Reformpolitik seit den Arbeiten an der Kreisordnung von 1872 umfassend dar, rechnet damit schonungslos ab und sucht den Widerspruch zwischen dem Stein’schen Konzept einerseits, dessen Abwandlung durch Gneist und der Verwirklichung im späten 19. Jh. andererseits aufzudecken. Preuß betont, dass die Städteordnung nur Stückwerk war, auf den andern Ebenen nicht zu Ende geführt wurde, und dass die Neuerungen seit der preußischen Kreisreform das Übel nicht beseitigt, sondern verschlimmert haben.60 Schärfer als in früheren Schriften und immer deutlicher kommt zum Ausdruck, dass hier der Obrigkeitsstaat fortwirkt, namentlich in den Gutsbezirken und Rittergütern, feudalen Elementen der Kreis-
58 Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (1910), GS Bd. 2, S. 605 ff. 59 Zur preußischen Verwaltungsreform. Denkschrift verfasst im Auftrag der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin (1910), jetzt in GS Bd. 2, S. 645 ff. Die Folgeveröffentlichungen dort S. 732 ff., 750 ff., 760 ff. sowie Bd. 1, S. 372 ff., 542 ff., Bd. 4, S. 552 ff., 576 ff. Dazu zusammenfassend meine Einleitung in GS Bd. 2, S. 59 ff., und Dian Schefold, Ungelöste Probleme der Verwaltungsreform und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen, in: D: Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925 (zit. Fn. 23), S. 213 ff. 60 Das mehrfach dazu verwendete, von Botho Graf zu Eulenburg übernommene Motto dazu lautet: „Halb noch Rohbau und halb schon Ruine“, vgl. den Kommentar und die Nachweise in GS Bd. 2, S. 850, zu S. 541.
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verfassung, den Regierungsbezirken und dynastisch geprägten Gliedstaaten. Eine Reform müsste ihn zum Volksstaat – jetzt wird dieser Begriff ausdrücklich dem Obrigkeitsstaat entgegengesetzt61 – auf den Ebenen von Gemeinde, Kreis, Provinz und Gesamtstaat transformieren. Insgesamt erweist sich dieses Konzept als Schlüssel zu Preuß’ sogleich darzustellendem Wirken bei der Vorbereitung einer demokratischen Verfassung Deutschlands. Es wendet sich von Anfang an gegen die Relikte dynastisch-patrimonialstaatlicher Herrschaft62 und kann insofern als einem darauf gegründeten Föderalismus entgegengesetzt betrachtet werden. Aber es setzt diesem keinen zentralistischen Unitarismus, sondern das Prinzip konsequenter Selbstverwaltung im pluralistischen Mehrebenensystem entgegen und begründet durch diese Abgrenzung gegenüber beiden Positionen das Modell eines demokratischen Bundesstaates.63 Diese Verschärfung und Radikalisierung der Position dürfte auch Folge und Kehrseite der Behandlung gewesen sein, die Preuß inzwischen erfahren hatte.64 Preuß hatte schon 1896, ein Jahr nach seiner Wahl in die Berliner Stadtverordnetenversammlung, und gleichzeitig mit dem etwa gleichaltrigen und wissenschaftlich wohl weniger interessanten, aber stockkonservativen Conrad Bornhak65 beantragt, zum außerordentlichen Professor ernannt zu werden, scheiterte aber – anders als Bornhak – damit schon in der Fakultät. Schon dabei dürfte der
61 Besonders deutlich in einem ergänzenden Aufsatz von 1912, jetzt in GS Bd. 2, S. 732 (749), dazu Einleitung S. 76. 62 Grundlegend die Schrift über Die Junkerfrage (1897), jetzt in: GS Bd. 1, S. 201 ff., die abschließend (S. 267 ff.) die Problematik der Verwaltungsreform aufwirft, aber auch die Kritik im Artikel „Germany“ für die Americana-Enzyklopädie (1904), jetzt in: GS Bd. 2, S. 554 ff., wo die Territorialstaaten als „enlarged manors“ qualifiziert werden. 63 Insofern gibt es zwar Anhaltspunkte, Preuß als Gegner des Föderalismus in der Gestalt der Bismarck-Verfassung zu qualifizieren – so Dieter Langewiesche, Moderner Staat in Deutschland – eine Defizitgeschichte, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 2007, S. 1 (10) –; aber die Qualifikation als Unitarier durch Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, hrsg. von Walter Pauly, Frankfurt 1993, S. 121 f., 251, entspricht doch eher Anschütz’, nicht Preuß’ Position. Eine Gleichsetzung des Bundesratsprinzips mit Föderalismus, z. B. durch Albert Funk, Föderalismus in Deutschland (2008), S. 154 ff., wird daher Preuß nicht gerecht. Adäquater etwa Peter Brandt, Hugo Preuß – Der Verfassungspatriot, Institut für Europäische Verfassungswissenschaften IEV-Online Nr. 5/2009, S. 4; Christoph Müller, Hugo Preuß (zit. Fn. 1), S. 709 ff., der auf die amerikanische und schweizerische Bundesstaatslehre verweist. Umfassend jetzt Anke John, Der Weimarer Bundesstaat, Köln 2012, die freilich (S. 58 ff.) ebenfalls die unitarische Tendenz hervorhebt und dem Selbstverwaltungsgedanken zu wenig Rechnung trägt. 64 Dazu und zum Folgenden nunmehr eingehend und die Konfliktlinien herausarbeitend Christoph Müller, Hugo Preuß (zit. Fn. 1), S. 713 ff., 723 ff., mit Nachweis der früheren Literatur. 65 Zur Einordnung Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts Bd. 2 (zit. Fn. 4), S. 303 mit Fn. 159–161.
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Konflikt mit dem Kultusminister Bosse, gegen dessen Schulpolitik Preuß opponierte, eine Rolle gespielt haben. Dieser Konflikt verschärfte sich 1899, als Preuß in der Stadtverordnetenversammlung die Diskriminierung jüdischer Volksschullehrerinnen scharf und ironisch kritisiert und damit öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte: der Oberhofmeister der Kaiserin griff mit geheimen Schreiben an Kultusminister und Rektor ein, und die Fakultät, dadurch gedrängt, erteilte Preuß einen förmlichen disziplinarischen Verweis. Wohl stellte sie Ende 1902 ihrerseits den Antrag, Preuß zum Extraordinarius zu ernennen, aber auch dieser Antrag wurde im Ministerium abgelehnt, und ebenso ein dritter Antrag 1910.
IV. Der Weg zur Weimarer Verfassung Nicht nur durch die parteipolitische Option, sondern mehr noch durch die Entwicklung der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Positionen und durch die berufliche Bindung an die Handelshochschule – zu der 1910 noch die Wahl zum ehrenamtlichen Stadtrat des Berliner Magistrats kam – trat damit Preuß’ oppositionelle Haltung ins fachwissenschaftliche und politische Blickfeld. Zu dieser Entwicklung trugen die Zuspitzung der internationalen Lage und der Erste Weltkrieg bei. Preuß hatte seine volksstaatlichen Optionen ja in Auseinandersetzung mit der englischen Entwicklung, aber auch unter Einbeziehung des französischen parlamentarischen Systems dargestellt;66 schon hier kündigt sich das komparatistische westeuropäische Modell an, das in den nachgelassenen „Verfassungspolitischen Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa“67 dargestellt wird. Aber der Krieg stellte auch das von Preuß seit der Habilitationsschrift und den ersten Folgeveröffentlichungen (oben II) entwickelte Konzept einer Weltgemeinschaft auf die Probe. War es angesichts der Kriegsbegeisterung, der Hoffnungen auf einen Siegfrieden und der alldeutschen Bestrebungen aufrecht zu erhalten?
66 Aufschlussreich der Aufsatz „Verwaltung“ (1913), jetzt in GS Bd. 2, S. 750 (755 ff.). 67 Aus dem Nachlass herausgegeben von Hedwig Hintze, Berlin 1927 (Neudruck 2008); diese hatte ihrerseits, in Weiterführung von Preuß’ Gedanken, das große Werk über Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Stuttgart 1928 (Neuausgabe Frankfurt 1989), vorgelegt.
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Nach anfänglichem Zögern68 gab Preuß schon sehr früh, 1915, die Antwort durch sein Buch „Das deutsche Volk und die Politik“ und zahlreiche Folge-Veröffentlichungen.69 Bei aller Würdigung der für den Krieg gebrachten Opfer – drei Söhne von Preuß standen an der Front, einer wurde schwer verletzt und starb an den Folgen – anerkannte er auch die gegnerischen Positionen und legte den Finger in die Wunde der obrigkeitsstaatlichen Orientierung Deutschlands. Mit der längst geforderten volksstaatlichen Reform konnte die Isolierung, die Rolle als „Störenfried“ vermieden, ein Ausgleich gefunden und eine Friedensordnung ermöglicht werden. Aber diese bis heute lesenswerte und eindrückliche Stellungnahme war in der siegestrunkenen Anfangsphase des Ersten Weltkriegs in Deutschland nur schwer zu vermitteln. Gewiss, Gerhard Anschütz widmete ihr eine überwiegend positive Rezension, musste dafür aber die Kritik des Herausgebers des Publikationsorgans einstecken.70 Härter, feindselig und mit antisemitischer Stoßrichtung urteilte kein Geringerer als Gustav Schmoller.71 Preuß hielt an seiner Einschätzung fest, suchte aber noch 1917, das Kaisertum für eine volksstaatliche Orientierung zu legitimieren,72 und in seiner Antrittsrede als Rektor der Handelshochschule, „Nationaler Gegensatz und internationale Gemeinschaft“,73 am 19. Oktober 1918, zwischen nationalen und internationalen Interessen zu vermitteln. Auch zu den durch die innenpolitische Entwicklung im Krieg verursachten Überlegungen zu einer Verfassungsreform trug Preuß bei. Auf Anregung aus dem Umkreis der Obersten Heeresleitung verfasste er im September 1917 „Vorschläge zur Abänderung der Reichsverfassung und der Preußischen Verfassung, nebst Begründung“,74 und angesichts des Endes der Monarchie nahm er in einem dezidierten Artikel im Berliner Tageblatt vom 14. November 1918 zur Alternative „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?“75 Stellung: gerade die demokra-
68 Insb. Preuß, Aus dem Schuldbuche englischer Frömmigkeit (1914), jetzt in GS Bd. 1, S. 533 ff. und dazu die Einleitung durch Albertin, S. 45 f., dort auch zur gleich folgenden Rückkehr zur Kontinuität des eigenen Denkens. 69 Jetzt in: GS Bd. 1, S. 383 ff., 538 ff.; dort (S. 583 ff.) auch „Die Legende vom Störenfried“ (1916). 70 Die Rezensionsabhandlung in Preuß. Jahrb. 164 (1916), S. 339 ff., die Kritik daran durch H. Delbrück, ebenda S. 346. Vgl. Groh (zit. Fn. 9), S. 44 mit Fn. 15. 71 Gustav Schmoller, Obrigkeitsstaat und Volksstaat, ein missverständlicher Gegensatz, in: SchmollersJahrb. 40/2 (1916), S. 423 ff., wieder abgedruckt in ders., Walther Rathenau und Hugo Preuß, 1922; vgl. Dian Schefold, Rassistische Rechtswissenschaft, Kritische Justiz 1993, S. 249 ff. 72 Die Wandlungen des deutschen Kaisergedankens, jetzt in: GS Bd. 1, S. 616 ff. 73 Jetzt in: GS Bd. 1, S. 706 ff. 74 Abdruck in Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit (zit. Fn. 12), S. 290 ff.; eine eingehende Dokumentation und Wiedergabe ist für GS Bd. 3 vorgesehen. 75 Jetzt in: GS Bd. 4, S. 73 ff.
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tische Haltung verbiete es, die Revolution durch eine Diktatur des Proletariats durchzusetzen. Der Rat der Volksbeauftragten reagierte darauf, indem er Preuß zum Staatssekretär des Reichsamts des Innern ernannte. „Preuß … war wohl der am weitesten links gerichtete Staatsrechtslehrer des damaligen Deutschlands. Doch fiel die Wahl nicht nur deshalb auf ihn, weil es keinen sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer gab, vielmehr beabsichtigte Ebert vermutlich, durch Preuß eine Brücke zum Bürgertum zu schlagen.“76 So war Preuß’ Ernennung, glaubwürdig aufgrund seines bisherigen Lebenswegs, eine historische Weichenstellung, bald bestätigt durch die Wahl der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Preuß erhielt die Gelegenheit, auf die demokratische Verfassungsordnung Deutschlands maßgeblich einzuwirken und den der Nationalversammlung und vorher schon dem Staatenausschuss vorzulegenden Entwurf zu erarbeiten und zu begründen.77 Das sowie die kontinuierliche Begleitung der parlamentarischen Beratung bis zur Schlussabstimmung78 bestimmte seine eingangs angedeutete Bedeutung für die Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts, ist aber einerseits nur vor dem Hintergrund seiner hier dargestellten Entwicklung verständlich, andererseits durch die vielfältigen Einflüsse auf demokratisch-parlamentarische Verfassungsberatungen begrenzt, die das ursprüngliche Konzept beträchtlich verändert haben. Die Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung ist hier nicht im einzelnen darzustellen; sie soll – in Ergänzung der zahlreichen Quellenwerke und -darstellungen – in Band 3 der Gesammelten Schriften nachgezeichnet werden. Im Ergebnis lässt sich Preuß’ Konzept eines Mehrebenensystems sich selbst verwaltender, „höchstpotenzierter Gebietskörperschaften“79 zwar in Art. 17 WRV, auch in Verbindung mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung in Art. 127 WRV und mit der Anerkennung des Völkerrechts und damit einer internationalen Gemeinschaft in Art. 4 WRV wiederfinden, aber doch entscheidend abgeschwächt. Völ-
76 Walter Jellinek, Entstehung und Ausbau der Weimarer Reichsverfassung (zit. Fn. 10), S. 127. 77 Die Entwürfe sind vorerst am bequemsten greifbar bei Heinrich Triepel (Hrsg.), Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 3. Aufl. Tübingen 1922, S. 7 ff.; den dort nur durch Verweisungen abgedruckten Entwurf I hat Jasper Mauersberg (zit. Fn. 19), S. 87 ff. vollständig wiedergegeben, die begründende Denkschrift vom 3.1.1919, zunächst im Reichsanzeiger vom 20.1.1919 veröffentlicht, in Preuß, Staat, Recht und Freiheit (zit. Fn. 12), S. 368 ff. Vgl. nunmehr GS Bd. 3. 78 Erst als Staatssekretär des Reichsamts des Innern, dann als Reichsinnenminister, dann – nach dem Rücktritt des Kabinetts Scheidemann wegen des Versailler Vertrags, den mit den andern DDP-Ministern auch Preuß ablehnte – als Regierungskommissar für die Vertretung der Verfassung vor der Nationalversammlung. 79 So die Formulierung der in Fn. 77 zitierten Denkschrift, S. 379.
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kerrecht bindet nur, soweit es allgemein anerkannt ist; die zunächst vorgesehene Selbstverwaltungsgarantie mit Homogenisierungsklausel (Entwurf I, § 12) ist inhaltlich ausgedünnt und für die kommunale Selbstverwaltung in den Grundrechtsteil verlagert. Vor allem aber ist die Grundlage preisgegeben, nämlich eine Vergleichbarkeit der Dimensionen der Gliedstaaten des neuen Deutschland, die Preuß, in Fortsetzung seiner dargestellten Bestrebungen zur preußischen Verwaltungsreform, durch Neugliederung mit Erhebung der preußischen Provinzen zu Ländern neuen Typs und Zusammenlegung der Zwergstaaten herstellen wollte.80 Eine solche Neugliederung sollte künftig nur nach einem besonderen, während der Beratungen hoch kontroversen Verfahren möglich sein.81 Damit entfiel auch die von ihm angestrebte Schaffung eines Zweikammersystems nach dem Muster der Paulskirchenverfassung von 1849 durch ein gewähltes Staatenhaus und wurde der Bundesrat durch einen Reichsrat, allerdings mit geringeren Machtbefugnissen, ersetzt. Für den Grundrechtsteil der Verfassung bleibt festzustellen, dass Preuß, der Verfassungsgarantie von Grundrechten gegenüber skeptisch,82 darauf keinen maßgeblichen Einfluss nahm. Entscheidend waren für ihn, neben den Problemen der Selbstverwaltung, die demokratische Struktur der Reichsorganisation und das Verhältnis der obersten Reichsorgane zueinander. Insofern hat sich Preuß’ Entwurf mit Verhältniswahlrecht, parlamentarischem Prinzip, vom Volk gewähltem Reichspräsidenten und Staatsgerichtsbarkeit, wenn auch in Einzelheiten modifiziert, weitgehend durchgesetzt und die Verfassung, auch in der Ausgestaltung der technischen Modalitäten, im Wesentlichen bestimmt. Einzelne sich später als problematisch erweisende Regelungen sind entgegen dem ersten Entwurf ausgestaltet worden.83 Aber die Grundstruktur des Regierungssystems
80 Vg. Lehnert, Einleitung zu GS Bd. 4, S. 10 f.; zur Einzelausgestaltung des Plans unter Verweisung auf die frühere Literatur Michael Dreyer, Der Preußsche Neugliederungsplan von 1919 und sein Scheitern, in: Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925 (zit. Fn. 23), S. 279 ff. 81 Art. 18 WRV; dazu Preuß, Art. 18 der Reichsverfassung. Seine Entstehung und Bedeutung, Berlin 1922, sowie Reich und Länder (zit. Fn. 12); beide Schriften sollen in GS Bd. 3 abgedruckt werden. 82 Kennzeichnend die Rezension zu Anschütz’ Kommentar zur preußischen Verfassung (1912), jetzt in: GS Bd. 2, S. 570 ff. In den Vorschlägen zur Abänderung der Reichsverfassung (1917, zit. Fn. 74) erwähnt er (S. 300) die „in Misskredit geratenen ‚Grundrechte‘“ und argumentiert: „Einen Katalog solcher nach der Art der Paulskirche oder des Titels 2 der preußischen Verfassung wieder einzufügen, ist auch heute nicht ratsam.“ Entsprechend enthalten die ersten Entwürfe der Weimarer Verfassung nur ganz sparsame Hinweise auf Grundrechte. 83 So wurde das Erfordernis zehnjähriger Deutschen-Eigenschaft als Wählbarkeitsvoraussetzung des Reichspräsidenten (§ 53 II Entwurf I) gestrichen, die Notrechtskompetenz gem. § 58 Entwurf I in Art. 48 WRV unter Abschwächung der Rechte des Reichstags erweitert.
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mit vom Volk gewähltem, mächtigem Reichspräsidenten geht, wenn auch durch Max Weber und die zeitgenössische Diskussion beeinflusst, auf den von Preuß vorgelegten Entwurf zurück. Man kann darin schon einen Widerspruch zu republikanischen Prinzipien und zum Konzept der kollegialen Magistratsverfassung finden, das Preuß für die städtische Ebene vertreten hat. Aber es bleibt festzustellen, dass Preuß für die zentralstaatliche Ebene das Modell einer monokratischen Spitze immer vertreten hat, und dass er ihm auch 1918/19 treu geblieben ist, insofern wohl auch ein Gegengewicht gegen partikularistische Tendenzen suchend.84 Folglich hat sich die Kritik an der Weimarer Verfassung auch und besonders gegen das von Preuß erarbeitete Modell gerichtet.85 In der Tat lassen sich gegenwärtige Regelungen wie der Verzicht auf die Direktwahl des Staatsoberhaupts, Stärkung der Regierungsstabilität im parlamentarischen System und Vermeidung der Parteienzersplitterung im Wahlrecht als Korrekturen der Weimarer Ordnung verstehen. Aber die Anfälligkeit dieser Ordnung für den Weg in Diktatur und Totalitarismus ist ein weit darüber hinaus gehender und kaum zu begründender Vorwurf. Ihm ist zunächst entgegenzuhalten, dass Preuß durchaus Sicherungen vorgesehen hatte, die die Verfassung zu schützen geeignet waren – allerdings teilweise ohne Erfolg.86 Sodann war die Verteidigung der Weimarer Verfassung in der Früh- und Mittelphase der Republik noch Herzensangelegenheit vieler Verfassungspatrioten, unter denen Hugo Preuß in seinem umfangreichen literarischen Schrifttum zur Rechtfertigung, Interpretation und Ausgestaltung der Verfassung und als Verteidiger einer pluralistischen Demokratie herausragte,87 auch die verfassunggebende Tätigkeit durch die Mitarbeit an der preußischen Verfassungsgebung fortsetzte.88 Schließlich hatte der Umschlag der Wirtschaftskrise in eine Staats- und Verfassungskrise seit 1929, lange nach Preuß’ Tod, mit seinem Wirken nichts mehr zu tun. Wie sich die Krise unter andern verfassungsrechtlichen Rah-
84 Vgl. Schefold, in: Deutsche Juristen (zit. Fn. 19), S. 450. 85 Vgl. statt aller Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (1958, zit. Fn. 15, Ausgabe stw 1991), S. 153 (194 ff.). 86 Vgl. oben Fn. 83; zur Notwendigkeit der Ausgestaltung des Notverordnungsrechts unter Kritik des Missbrauchs vgl. Preuß, Reichsverfassungsmäßige Diktatur (1923), jetzt in GS Bd. 4, S. 523 ff. 87 Dies wird in den zahlreichen Schriften und Reden zur Verfassung deutlich, die jetzt in GS Bd. 4 zusammengestellt und kommentierend erschlossen sind, dazu das Gesamturteil in der Einleitung durch Lehnert, S. 67. Zum Pluralismus-Konzept bei Preuß jetzt, in Zusammenfassung und Weiterführung früherer Ansätze, insb. die oben Fn. 28 zitierten Arbeiten von Groh, Vosskuhle und Lehnert. 88 Dazu nächst den in GS Bd. 4, S. 117 ff., 173 ff. abgedruckten kleineren Schriften Preuß, Die Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920, JÖR 10 (1921), S. 222 ff. (Abdruck in GS Bd. 3 vorgesehen), dazu Fabian Wittreck, Verfassunggebende Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920, in: Lehnert, Hugo Preuß 1860–1925 (zit. Fn. 23), S. 317 ff.
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menbedingungen ausgewirkt hätte, kann nur spekuliert werden. Der Beitrag von Hugo Preuß zur Entwicklung und Konstituierung des demokratischen Prinzips, schweren Widrigkeiten des Lebenswegs abgerungen, bleibt ein Verdienst und ein wichtiger Faktor des Verfassungsdenkens in Deutschland.
Auswahlbibliographie A. Schriften von Hugo Preuß Gesammelte Schriften, im Auftrag der Hugo Preuß-Gesellschaft e. V. herausgegeben von Detlef Lehnert und Christoph Müller, Tübingen 2007 ff. Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, herausgegeben und eingeleitet von Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, 2007. Bd. 2: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, herausgegeben und eingeleitet von Dian Schefold in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, 2009. Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, herausgegeben und eingeleitet von Detlef Lehnert, 2008. Bd. 5: Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik, herausgegeben und eingeleitet von Christoph Müller, 2012 (im Druck). Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, herausgegeben und eingeleitet von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, 2014 (in Vorbereitung). Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, Neudrucke 1964, 1999. Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902, Neudruck 2006. Die Entwicklung des deutschen Städtewesens. Erster Band: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung, Leipzig 1906, Neudruck 1965. Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik. Aus dem Nachlass. Herausgegeben und eingeleitet von Hedwig Hintze, Berlin 1927, Neudruck 2008. Staat, Recht und Freiheit, herausgegeben von Else Preuß mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, Tübingen 1926, Neudrucke 1965, 2006.
B. Sekundärliteratur Günther Gillessen, Hugo Preuß, mit einem Vorwort von Manfred Friedrich, Berlin 2000 (Diss. Freiburg 1955). Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965. Dian Schefold, Hugo Preuß (1860–1925). Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik, in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 429 ff. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 1998. Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Geburtstag von Hugo Preuß, Baden-Baden 2003.
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Christoph Müller (Hrsg.), Gemeinde, Stadt, Staat. Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß, Baden-Baden 2005. Christoph Müller, Hugo Preuß (1860–1925). Privat-Dozent Dr. Hugo Preuß, in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 701 ff. Detlef Lehnert (Hrsg.), Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. Andreas Vosskuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hrsg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23 ff. Detlef Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012.
VI Gerhard Anschütz (1867–1948) Christian Waldhoff
I. Gerhard Anschütz gehörte als Hochschullehrer Zeit seines Lebens zu den führenden Vertretern des Staats- und Verwaltungsrechts. Rückblickend wird er als „Klassiker des Staatsrechts“ verortet.1 Damit verkörpert er als „Repräsentant zweier staatsrechtlicher Epochen“,2 des Kaiserreichs wie der Weimarer Republik, zugleich die ganze Ambivalenz seiner Zeit. Diese herausgehobene Stellung zeigt sich äußerlich daran, dass er mit Heidelberg und Berlin überwiegend an den – neben Leipzig – damals herausragenden Fakultäten im Reich wirkte. Zudem schuf er die jeweils repräsentativen Gesamtdarstellungen seines Faches: Als Autor des jeweils maßgeblichen wissenschaftlichen Kommentar im Kaiserreich3 wie in der Weimarer Republik,4 als Fortführer eines Standardlehrbuchs des Staatsrechts des Konstitutionalismus5 sowie als Mitherausgeber des die Summe der Weimarer Staatsrechtslehre ziehenden Handbuchs des Deutschen Staatsrechts.6 Mit diesen Werken „hat Anschütz die letzte maßgebliche Darstellung der jeweiligen Verfassungsordnung hinterlassen, die für alle Zukunft autoritativ das gültige Gesamtbild festschrieb“.7
1 Horst Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867–1948), ZNR 1998, S. 28 in Anlehnung an Peter Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1980. 2 Walter Jellinek, Gerhard Anschütz zum achtzigsten Geburtstag, SJZ 1947, Sp. 1 (4). 3 Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, erster (einziger) Band 1912, von Friedrich Giese, Rezension, AöR 82 (1957), S. 504 (505) als „Preußentorso“ bezeichnet; der zweite Band fiel dem Weltkrieg, wohl auch dem Wegzug aus Preußen zum Opfer, vgl. Werner Heun, Gerhard Anschütz (1867–1933), in: FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 455 (459). 4 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 1. Aufl. 1921, 14. Aufl. 1933. 5 Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919; vgl. zu den Vorauflagen Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 261: „[…] schnell als völlig unentbehrlich anerkannt“. 6 Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Bde., 1930/32. 7 Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 461.
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Im Kaiserreich repräsentierte er die fortschrittliche Seite des Mainstream – des Gerber-Labandschen Positivismus8 –, der in der Spätphase dieser staatsrechtlichen Epoche deutlich auf Veränderung drängte.9 In der Weimarer Zeit gehörte er politisch zu denjenigen gewandelten Nationalliberalen, welche die Republik auch innerlich akzeptierten und verteidigten, dabei methodisch jedoch schon bald gegenüber den Innovationen einer jüngeren Generation zurücktreten mussten.10 Es hat etwas Tragisches,11 dass mit dem Kommentar zur revidierten Preußischen Verfassungsurkunde von 1850, die Spätphase des Konstitutionalismus bereits begonnen hatte, die Krisen des Wilhelminischen Reiches sich häuften12 und die Unzulänglichkeit, insbesondere des preußischen Wahlrechts nicht mehr zu kaschieren war. Die letzte, von ihm besorgte Auflage des Staatsrechtslehrbuchs von Georg Meyer,13 erschien über den entscheidenden staatsrechtlichen Umbruch hinaus im April 1919, nimmt die Umwälzung noch auf und wird zwar nicht zur vielbeschworenen Makulatur, doch zur Verfassungsgeschichte.14 Auch
8 Statt aller dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 330 ff. 9 Zur Spätphase des staatsrechtlichen Positivismus und Konstitutionalismus Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993; Stefan Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992), S. 212 ff. 10 Zur Verteidigung der Weimarer Demokratie durch die deutsche Staatsrechtslehre vgl. nur den Sammelband von Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010; zu Anschütz’ Wandlung Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 354; die Veränderungen in Anschütz’ Positivismus zu wenig berücksichtigend Friedrich, Geschichte (Fn. 4), S. 337; zum Weimarer Methoden- und Richtungsstreit in generationeller Perspektive Christoph Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt – Ein Beitrag zum Verständnis der Weimarer Staatsrechtslehre, Der Staat 35 (2004), S. 399 ff. 11 Zu diesem „Schicksal“ auch Dreier (Fn. 1), S. 30 ff. 12 Von Anschütz deutlich wahrgenommen und reflektiert, vgl. nur dens., Zabern, DJZ 1913, Sp. 1457. 13 Zu ihm Carsten Doerfert, Georg Meyer (1841–1900). Staatsrechtslehrer und Politiker aus Lippe, Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 62 (1993), S. 191 ff.; Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 351 f. 14 Vgl. aus dem Vorwort, S. IV: „Und so mag denn dieses Buch noch einmal hinausgehen, als eine letzte zeitgenössische Beschreibung des gesamten deutschen Staatswesens, so wie es vor der Umwälzung, in Reich und Einzelstaaten ausgesehen hat. Möge es den Nachlebenden Kunde bringen von der rechtlichen Gestaltung dieses Staatswesens und möge es, über diesen seinen nächsten rechtswissenschaftlichen Zweck hinaus die Erinnerung wach halten an eine Epoche deutschen Staatslebens, die unserm Volke mit der Erfüllung seines Einheitstraumes ein vordem von Vielen ersehntes, von Wenigen für möglich gehaltenes Maß von Macht, Glück und Glanz gebracht hat.“
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das zusammen mit Richard Thoma15 herausgegebene zweibändige Handbuch des Deutschen Staatsrechts erscheint 1930/32 in der Endphase der Republik – nur wenige Wochen nach dem Erscheinen des zweiten Bandes ergreift Hitler die Macht in Deutschland. Die letzte (vierte) Neubearbeitung in der 13. Aufl. seines berühmten Kommentars zum Weimarer Verfassungswerk wird erst zwei Monate nach der Machtergreifung publiziert und nimmt dieses Faktum ebenfalls in sein Vorwort auf, das dadurch unversehens zur Grabrede des ersten demokratischen Verfassungsstaats auf deutschem Boden wird.16 Vielleicht gehörte es zum Schicksal desjenigen, der in den beiden Epochen seines wissenschaftlichen Wirkens an der Spitze des staats- und verwaltungsrechtlichen Establishments stand, dass der Zeitlauf über ihn politisch wie wissenschaftlich hinwegging. Am Ende des Kaiserreichs hat Anschütz – verstärkt während des Krieges – nachdrücklich für die notwendigen Reformen plädiert, für eine Reform des preußischen Wahlrechts, für eine Parlamentarisierung des Reichs, ohne damit einen revolutionären Umsturz zu erstreben.17 Bis zum Ende der Weimarer Republik hat er den demokratischen Verfassungsstaat verteidigt und sich – vieldiskutiert – nach der nationalsozialistischen Machtergreifung mit einem noblen Emeritierungsgesuch von der Uni-
15 Zu ihm in diesem Band S. 147 ff.; ferner Hans-Dieter Rath, Positivismus und Demokratie. Richard Thoma 1874–1957, 1981; Christoph Schönberger, Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich: Richard Thomas „realistische“ Demokratietheorie im Kontext der Weimarer Diskussion, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 156 ff.; Fabian Sösemann, Richard Thoma, in: Schmoeckel (Hrsg.), Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich“, 2004, S. 555–580; Horst Dreier, „Unbeirrt von allen Ideologien und Legenden“ – Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, in: ders. (Hrsg.), Richard Thoma. Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen 2008, S. XIII – LXXXI; Christian Waldhoff, Art. „Thoma, Richard“, in: NDB, im Erscheinen. 16 „Die Neubearbeitung erscheint in einer Zeit schwerster innerpolitischer Kämpfe und Erschütterungen, – Erschütterungen, welche die Weimarer Verfassung in ihren Grundlagen und in ihrer Geltungskraft bedrohen. Es herrscht heute, das läßt sich nicht leugnen, Feindschaft, zumindest Gegnerschaft zwischen einem großen Teil des deutschen Volkes und der Verfassung, die dieses Volk sich im Jahre 1919 als Grundordnung seines Staatswesens geschaffen hat. Noch freilich hält die Verfassung stand, unter anderem auch deshalb, weil die Gegner in ihren Absichten und Angriffszielen keineswegs einig sind. Immerhin – es ist nicht unmöglich, daß das Werk von Weimar der normativen Kraft irgend eines Faktischen […] erliegt, wie einst die Verfassung des Kaiserreichs durch die Revolution zerbrochen wurde. Möglich auch, daß es in einzelnen Stücken oder Teilen, sei es legal, sei es illegal, dermaßen verändert wird, daß damit und insoweit auch die ihm gewidmete rechtswissenschaftliche Arbeit entwertet wird und dann nur mehr geschichtliche Bedeutung besitzt. Der Entschluß, einen Kommentar der Reichsverfassung heute trotz alledem, abermals neubearbeitet, herauszubringen, erfordert ein kleines Maß von Vertrauen und Zuversicht.“ Vorwort, 14. Aufl. 1933, S. VI. 17 Prägnante Zusammenfassung in Meyer/Anschütz (Fn. 5), S. 1023 ff.
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versität verabschiedet und vollständig in das Privatleben zurückgezogen. Durch seinen Tod 1948 konnte er anders als etwa sein zeitweiliger Fakultätskollege und Freund Richard Thoma den staatlichen Neubeginn nach der Katastrophe von 1945 nicht mehr aktiv begleiten. Neben den oben erwähnten Standardwerken liegen aus seiner Feder die als Emeritus verfassten ausführlichen Lebenserinnerungen vor, die 1993 publiziert wurden.18 Hier finden sich, bei aller notwendigen Vorsicht beim Heranziehen autobiographischen Materials, manche Reflexionen über das, was uns aus seinen zeitgenössischen Schriften als wissenschaftliche Texte entgegentritt. Das stellt in der deutschen Staatsrechtslehre einen eher seltenen Glücksfall dar. Die wissenschaftliche Rezeption der Lehren Anschütz’ ist zeitweilig dadurch gehemmt worden, dass er als ein Hauptvertreter des staatsrechtlichen Positivismus des Kaiserreichs, diesen auch in der Weimarer Epoche führend vertrat und damit im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit19 auf der vermeintlich „unoriginellen“, „alten“, die Zukunft scheinbar weniger prägenden Seite stand. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangt eher der Reformer, der einen Paradigmenwechsel einleitet und durchsetzt. Da die bundesdeutsche Staatsrechtslehre nach 1949 – bei allen Differenzierungen im Detail – letztlich eher an die „Antipositivisten“ dieser wissenschaftlichen Debatte anknüpfte,20 wohl kaum zufällig die Verteidiger der Republik freilich methodisch oftmals in überkommenen Bahnen verharrten, hat sich das Interesse der Forschung erst in jüngerer Zeit wieder vermehrt den Verteidigern Weimars zugewendet.21 Als methodisches Hauptkennzeichen des Werks von Gerhard Anschütz wurde die sog. positivistische Methode bereits hervorgehoben.22 Stets ist dabei zu bedenken, dass rechtswissenschaftlicher Positivismus, vor allem auch aus der Perspektive seiner Gegner, zunächst ein Schlagwort, eine Chiffre für durchaus Verschiedenes darstellt. Für die Weimarer Epoche wird Anschütz neben Richard
18 Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben. Erinnerungen von Gerhard Anschütz, hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, Frankfurt a. M. 1993, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. 19 Vgl. etwa Manfred Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, AöR 102 (1977), S. 161 ff.; Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 420 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 153 ff.; Möllers, Methodenstreit (Fn. 10). 20 Statt vieler nur Werner Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, Der Staat 28 (1989), S. 377; insgesamt Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004. 21 Vgl. etwa Groh (Fn. 10), zu Anschütz v. a. S. 42 ff. 22 Ausführlich zum methodischen Ansatz Groh (Fn. 10), S. 50 ff.; Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 461 ff.; zum neukantianischen Hintergrund Oliver Lespsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 329 f.
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Thoma als „hervorragendster Vertreter“ eines „gemäßigten Positivismus“ bezeichnet.23 Diese Richtung nahm für sich in Anspruch, den Gerber-Labandschen begriffsjuristischen Formalismus überwunden zu haben. In seiner Autobiographie bringt Anschütz zum Ausdruck, dass ihn weder Philosophie im Allgemeinen, noch Rechtsphilosophie im Besonderen je gereizt hätten.24 Positivismus bedeutet für ihn das Fernhalten aller „außerjuristischen“, d. h. politischen, philosophischen, soziologischen und vor allem „metaphysischen“ Bedingungen von Recht. Jegliches „Naturrecht“ – es liegt der Verdacht nahe, dass darunter auch von ihm wiederum ganz Verschiedenes verstanden wurde – erscheint für Anschütz als „Wunschrecht“, fast schon als Teufelswerk.25 Die zeitgebundene allgemein-positivistische Prägung samt der üblichen vergleichsweise unkritischen Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit treten hier deutlich hervor. Die historische Dimension ist in seinen Arbeiten demgegenüber oft präsent – inwieweit auch sie als „un-“ oder „außerjuristisch“ empfunden wird, bleibt unklar. Letztlich handelt es sich bei seiner historischen Interpretation um Einbruchsstellen für politische Wertungen: „Über die historische Auslegung wird die Verfassung repolitisiert.“26 Wir wissen heute, dass es zu den Lebenslügen des juristischen Positivismus gehörte, durch das Ausblenden derartiger Faktoren zu glauben, einer „unpolitischen“ Rechtswissenschaft zu dienen.27 Diesen Vorwurf wird man freilich Anschütz nur eingeschränkt machen können, gehörte er doch regelmäßig zu den – auch politisch – entschiedenen Verteidigern der von ihm analysierten Rechts- und Staatsordnung.28 Das gilt wiederum für das späte Kaiserreich, denn mit seinen Reformagenden versucht er das System zu stabilisieren;29 es gilt in besonderem Maß für seinen weitreichenden Einsatz zur Verteidigung der
23 Heun, Positivismus (Fn. 20), S. 379; Groh (Fn. 10), S. 47. 24 Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 289. 25 Näher Dreier (Fn. 1), S. 36. 26 Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 463. 27 Zentral Peter von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974. 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gerhard Anschütz 1867–1948, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 367 (368); Lepsius (Fn. 22), S. 329 ff.; Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 462 f.; für Einzelfälle – Beleidigungsklagen von Reichspräsident Ebert – Heinrich August Winkler, Weimar, 1993, S. 276; Entlassung Apelts durch die Nationalsozialisten, Willibalt Apelt, Jurist im Wandel der Staatsformen, 1965, S. 226. 29 Ohnehin ist heute anerkannt, dass der methodische Umbruch nicht in ähnlicher Schärfe, wie die Revolution 1918/19 zu einem Paradigmenwechsel führte, sondern dass sich seit etwa 1900 – und damit genau zur Hauptwirkenszeit Anschütz’ – im Spätkonstitutionalismus bereits Methodenveränderungen abzeichneten, vgl. nur Pauly, Methodenwandel (Fn. 9); Korioth (Fn. 9). Für die Weimarer Epoche spricht Heun, Positivismus (Fn. 20), S. 379, hinsichtlich Anschütz und Thoma von „gemäßigten Positivisten“.
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Weimarer Verfassungsordnung. Schon im Vorwort des Kommentars zur Preußischen Verfassungsurkunde hält Anschütz seine im Ausgangspunkt positivistische Methode nicht durch, denn der Kommentar, der neben der Wissenschaft laut Untertitel auch die „Praxis“ adressiert, will auch politisch wirken: „Politische Ausführungen sind nach Möglichkeit und nur da nicht vermieden worden, wo die Betrachtung der gegebenen Rechtslage oder Verwaltungspraxis den Ausspruch eines Werturteils geradezu herausforderte. Daß die politischen Anschauungen, von denen ich dann und im übrigen [sic!] ausgehe, von dem stark unterstrichenen Konservatismus der meisten neueren Darstellungen des preußischen Staatsrechts (Arndt, Bornhark, Hubrich, die Neubearbeitung v. Roennes durch Zorn) wesentlich abweichen, wird niemandem entgehen und ich leugne es selbst nicht im mindesten. Ganz im Sinne dieser meiner Anschauungen gebe ich dem Buche […] als Motto die Worte auf den Weg, mit denen die preußische Regierung die ‚Oktroyierung‘ der Verfassung vom 5. Dezember 1848 begleitete […]: ‚Die Lage des Vaterlandes, die Weltlage erfordert ein starkes Preußen. Stark aber ist nur ein freies Preußen.‘“30 Politisch fühlt sich Anschütz Zeit seines Lebens dem Liberalismus zugehörig – im Kaiserreich einer fortschrittlichen Spielart der Nationalliberalen, in der Weimarer Zeit der Deutschen Demokratischen Partei (ohne selbst je formell Mitglied einer Partei zu werden). Entscheidender ist sein aktives Mitwirken in Vereinigungen zur Verteidigung von Republik und Demokratie.31 In seiner weltanschaulichen Prägung ist Anschütz im Kaiserreich ebenfalls eine Gestalt des Establishments. Sowohl in seinen wissenschaftlichen Texten, als auch in seinen Lebenserinnerungen tritt uns ein Sohn seiner Zeit entgegen:32 Bildungsbürgerlich geprägt durch Fortschrittsoptimismus, betont national, protestantisch, mit einer fast schon naiven Bismarck-Verehrung, an den vermeintlich exakten Naturwissenschaften interessiert, stark einheitsorientiert mit wenig Sinn für (föderalen, gesellschaftlichen oder demokratischen) Pluralismus. Der „Kulturkampf“ kann sein liberales Gewissen nicht irritieren, für den politischen Katholizismus hat er lediglich Pejorative zur Verfügung. Beides – das religiös Andere wie der Interessengegensatz im Parlament – übersteigen seinen Horizont. Das entspricht weitgehend der mentalen Ausrichtung der besitz- wie der bildungsbürgerlichen Eliten
30 Anschütz, Verfassungsurkunde für den preußischen Staat (Fn. 3), Vorrede S. VI; verfassungspolitische Ausführungen, die dann konsequent als durch Werturteile geprägt gekennzeichnet werden, auch in Gerhard Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1924), S. 11 (21 ff.). 31 Vgl.: Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 207 ff. und öfter. 32 Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 210 ff. und öfter.
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des Bismarckreichs.33 1867 wird Anschütz in den Prozess der Nationalstaatsbildung Deutschlands hineingeboren. Das wirkt biographisch und mental fort. Die nationale Einheit kann als eines der entscheidenden Motive von Anschütz’ Schaffen identifiziert werden. Bismarck und sein Werk bleiben bis 1933 bestimmend.34 Die nationale Einheit wird freilich stets mit Sicherungen der Freiheit in Verbindung gebracht: Anschütz erweist sich hier in der Tat im Wortsinn national-liberal. Bemerkenswert ist seine ebenfalls kontinuierlich antiföderalistische Haltung: Der Nationalstaat soll nicht durch Partikularismen, welcher Provenienz auch immer, belastet oder gar gefährdet werden:35 „[…] die ganze föderalistische Bewegung ist nicht erfreulich, sondern bedauerlich“.36 Noch in dem noblen Emeritierungsgesuch vom März 1933 kann Anschütz nicht unterdrücken, dass ihm am Nationalsozialismus immerhin die einheitsstaatliche Doktrin und Tendenz gefällt.37 Dieser Unitarismus ist durch einen soliden Nationalismus und Etatismus unterfüttert.38 Das Bismarck’sche Einigungswerk wird nachhaltig gefeiert, vor allem erweist sich für Anschütz jedoch in der Tradition des deutschen Konstitutionalismus der Staat als die zentrale Größe des ganzen staatsrechtlichen Konstrukts: Dieser, nicht das Individuum ist der Bezugspunkt staatsrechtlichen Denkens; die Freiheitsrechte sind nicht angeboren, sie werden staatlicherseits gewährt.39 Der Staat erscheint weniger als Gegner, denn als Garant der Freiheit. Das ist kein „westlicher“ Liberalismus, sondern deutsches Staatsdenken des 19. Jahrhunderts mit einem noch ungebrochenen Zutrauen in die Fähigkeit und Integrität des Staates.40 Dieses Zutrauen sollte freilich schon bald erschüttert werden – im
33 Vgl. allgemein dazu Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, 1990, S. 382 ff.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, 1995/2008, S. 111 ff., 125 ff.; die Verbindung zu Anschütz herstellend Böckenförde (Fn. 28), S. 368 und durchgehend. 34 Im Zusammenhang mit der Abwehr föderalistischer Tendenzen signifikant etwa in Anschütz, Föderalismus (Fn. 30), S. 14 f. 35 Vgl. insgesamt etwa Anschütz, Föderalismus (Fn. 30); zu seiner bundesstaatlichen Position im Kaiserreich Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933), 2002, S. 258 ff. 36 Anschütz, Föderalismus (Fn. 30), S. 24. 37 „Dabei will ich anerkennen, daß dieses neue Staatsrecht [der Nationalsozialisten; C. W.] in einigen Punkten, wie insbesondere die unbedingte Überordnung des Reichs über die Länder und die tunlichst unitarische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern Ziele verfolgt, die ich auch meinerseits stets vertreten habe.“ Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 329. 38 Betonter Föderalismus als unvereinbar „mit dem Gedanken der nationalen Einheit“, Anschütz, Föderalismus (Fn. 30), S. 12. 39 Zu dieser Grundoption des deutschen Konstitutionalismus Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, 1988, S. 132 ff.; auf Anschütz bezogen Groh (Fn. 10), S. 53 ff. 40 Böckenförde, Anschütz (Fn. 28), S. 369 ff.; zu diesem Etatismus allgemein Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 9 ff.
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Ersten Weltkrieg versagt der Deutsche Staat in jeglicher Hinsicht, die Abgründe deutscher Staatsgläubigkeit werden sichtbar: Gerhard Anschütz lässt sich durch solche Ereignisse kaum irritieren.41 Bis zum Ausscheiden aus dem aktiven Dienst 1933 bleibt der Staat der Ankerpunkt seines Denkens. Dies alles hindert ihn freilich nicht daran, sich als liberal zu empfinden. Freiheit, nicht demokratische Legitimation bestimmen das Denken. Freiheit, die vom Staat gewährleistet wird, die ohne Staat nicht denkbar ist: Individuelle Freiheit in besitz- und bildungsbürgerlicher Couleur. Parteienstreit, divergierende, zu einem Ausgleich zu bringende Interessen bleiben Anschütz im Kaiserreich fremd und – trotz aller Verteidigung des Weimarer Verfassungswerks – letztlich auch nach 1919. Ständig erscheint die Einheit des Staatsganzen in Gefahr – durch föderalistische Differenzierung, durch unterschiedliche Interessengruppen, durch fehlende konfessionelle Homogenität, letztlich durch fehlendes Verständnis für jeglichen gesellschaftlichen Pluralismus.42 Vor diesem Hintergrund ist sein Eintreten für die von ihm kommentierte Weimarer Reichsverfassung, auch sein politisches Engagement in diesem Zusammenhang, von besonderer Bedeutung. Angesichts seiner Methodik plädiert, ja kämpft er stets dafür, dass die Normen der Verfassung einfach beachtet werden. Die meisten Protagonisten der methodischen Gegenrichtung können demgegenüber kaum als Freunde des demokratischen Verfassungsstaats bezeichnet werden. In Anschütz Haltung kommt so eine Authentizität zwischen persönlicher Gesinnung und Erkenntnisgegenstand seiner Forschung zum Ausdruck, die im Emeritierungsgesuch an den badischen Kultusminister vom 31. März 1933 ihre nachgerade „klassische“ Formulierung gefunden hat: „Mein Lehrauftrag erstreckt sich in erster Linie auf das Deutsche Staatsrecht. Dieses Fach stellt nach meiner von jeher betätigten Überzeugung, für die ich die Zustimmung des Herrn Ministers erbitte, an den Dozenten Anforderungen, die nicht nur rechtswissenschaftlicher, sondern auch politischer Natur sind. Aufgabe des Staatsrechtslehrers ist nicht nur, den Studierenden die Kenntnis des deutschen Staatsrechts zu übermitteln, sondern auch, die Studierenden im Sinn und Geist der geltenden Staatsordnung zu erziehen. Hierzu ist ein hoher Grad innerlicher Verbundenheit des Dozenten mit der Staatsordnung nötig. Die mir obliegende Pflicht zur Aufrichtigkeit fordert von mir, zu bekennen, daß ich diese Verbundenheit mit dem jetzt zum Werden begriffenen neuen deutschen Staatsrecht zur Zeit nicht aufbringen kann. […] Ich fühle mich aus den oben vorgetragenen Gründen verpflichtet,
41 Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 465: „Lebensgeschichtlich und theoretisch bildet die Gründung des deutschen Nationalstaats durch Bismarck für Anschütz den Ausgangspunkt. Der Nationalgedanke blieb für ihn unhinterfragte Grundlage des Gemeinwesens […]“ 42 Näher Böckenförde (Fn. 28), S. 367 ff.; Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 353 f.
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der Staatsregierung mein Amt zur Verfügung zu stellen, um ihr eine geeignete Neubesetzung zu ermöglichen.“43 Die Entlassung wurde sofort bewilligt. Horst Dreier hat darauf hingewiesen, dass ein solcher Text zeige, dass der „Positivist“ Werturteilen durchaus Vorrang vor Rechtssätzen einräume – zumindest sofern es um politische oder persönliche Präferenzen geht.44
II. Anschütz (* 10. Januar 1867 in Halle/Saale – † 14. April 1948 in Heidelberg) wird in eine Professorenfamilie des gehobenen Bürgertums in Halle hineingeboren. Sein früh verstorbener Vater August Anschütz war Professor für Zivilrecht an der Universität Halle.45 Seine Mutter, geb. Volkmann, stammte ihrerseits aus einer Gelehrtenfamilie. Anschütz studierte nach einem einsemestrigen Studium Generale in Genf zwischen 1886 und 1889 in Leipzig, Berlin und Halle Rechtswissenschaft. Vor dem Oberlandesgericht Naumburg legte er 1889 die Erste Juristische Staatsprüfung ab. 1891 wurde Anschütz unter der Betreuung von Edgar Loening46 in Halle mit einer Schrift „Kritische Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz“ promoviert. Als Regierungsreferendar in Merseburg trat er mit der immerhin 81 Druckseiten umfassenden, vorwiegend historisch ausgerichteten Schrift „Das Recht des Verwaltungszwangs in Preußen“ im ersten Band des Verwaltungsarchivs hervor, die bereits auf weitere wissenschaftliche Ambitionen hinwies.47 Die Habilitation an der Universität Berlin erfolgte während der Beurlaubung von seiner Funktion als Mitglied des Bezirksausschusses in Stettin, einer Vorgängerinstitution der Eingangsinstanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1896 mit einer Arbeit zum Staatshaftungsrecht („Der Ersatzanspruch aus Vermögensbeschädigung durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt“)48. Aufsehen erregte dann der später publizierte Habilitationsvortrag, in dem Anschütz gegen die von ihm als „Kryptoabsolutisten“ bezeichneten Vertreter eines selbständi-
43 Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 328 f., Hervorhebung im Original. 44 (Fn. 1), S. 35. 45 Zu ihm, der zeitweilig Mitherausgeber des Archivs für die civilistische Praxis war, Art. „Anschütz, August“, in: Killy (Hrsg.), Deutsche biographische Enzyklopädie, Bd. 1, 1995, S. 145. 46 Zu ihm Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 401 f. 47 Zu dieser Arbeit jeweils eingehend Ralf Poscher, Verwaltungsakt und Verwaltungsrecht in der Vollstreckung, VerwArch. 89 (1998), S. 111 ff.; Christian Waldhoff, Der Verwaltungszwang, Manuskript Habilitationsschrift München 2002. 48 Der Ersatzanspruch aus Vermögensbeschädigungen durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt, VerwArch. 5 (1897), S. 1 ff.
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gen Verordnungsrechts des Monarchen, d. h. der Exekutive kämpfte. Weiterhin preußischer Verwaltungsbeamter begann Anschütz seine Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Berliner Universität im Wintersemester 1896/97. Sein erster Ruf führte ihn 1899 nach Tübingen auf einen Lehrstuhl für Staats- und Völkerrecht. 1900 wurde er Nachfolger Georg Meyers auf einem der beiden öffentlichrechtlichen Lehrstühle in Heidelberg. 1908 erreichte ihn ein Ruf an die seinerzeit angesehenste juristische Fakultät nach Berlin. Anschütz berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass zuerst die preußische Verwaltung, der er stets verbunden blieb, sich für einen Wechsel in die Reichshauptstadt einsetzte, bevor der geniale Förderer der preußischen Universitäten, Ministerialdirektor Friedrich Althoff49 auf ihn aufmerksam wurde. Ordnete er sich noch zur Zeit seiner Berliner Habilitation als eher etatistisch-rechts innerhalb der rechtswissenschaftlichen Kollegen ein, entfaltete er in seiner Berliner Zeit – womöglich durch den liberalen, bürgerlich-weltoffenen südwestdeutschen Liberalismus geläutert – eher sein demokratisch-parlamentarisches Reformpotential, das im Ersten Weltkrieg endgültig durchbrach. Während seiner Berliner Zeit wurde Anschütz 1910 zum Geheimen Justizrat ernannt. Für die Zeit sehr ungewöhnlich und für die Zeitgenossen zunächst unverständlich50 ließ sich Anschütz 1916 nach Heidelberg zurückberufen, nachdem sein dortiger Nachfolger, Fritz Fleiner,51 zurück in seine Schweizer Heimat nach Zürich gegangen war. In der Revolutionszeit wurde er von Hugo Preuß eingeladen, an der Ausarbeitung von Verfassungsentwürfen mitzuarbeiten – durch die Zeitumstände kamen diese Bemühungen freilich nicht über eine Art Denkschrift hinaus. Auch ein Angebot das Referat für Verfassungsangelegenheiten im Reichsinnenministerium zu übernehmen schlug Anschütz aus. In Heidelberg bildete er mit dem schnell zum Freund werdenden Richard Thoma das Führungsduo des gemäßigt-positivistischen Staatsrechts, dessen Zusammenhalt sich auch nach dem Weggang Thomas 1928 nach Bonn bewährte. Dies führte zur gemeinsamen Herausgabe des Handbuchs des Deutschen Staatsrechts.52 Gerade in seiner zweiten Heidelberger Zeit wurde Anschütz häufig zu Rechtsgutachten herangezogen; dies entsprach seinem Verständnis von Rechtswissenschaft und
49 Manfred Nebelin, Friedrich Althoff (1839–1908), in: Jeserich/Neuhaus (Hrsg.), Persönlichkeiten der Verwaltung, 1991, S. 234 ff. 50 Vgl. Böckenförde, Anschütz (Fn. 28), S. 367. 51 Zu ihm Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 408 ff.; Roger Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft. Fritz Fleiner 1867–1937, 2006. 52 Vgl. Walter Pauly, Einführung: Die neue Sachlichkeit der Staatsrechtslehre in der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Nachdruck der 1. Aufl. 1930, 1998, S. 3* ff.
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Staatsrecht als praktischer, d. h. anwendungsbezogener Wissenschaft.53 Auch noch als Hochschullehrer fühlte sich Anschütz der preußischen Verwaltung verbunden, deren Referendar und Beamter er vor seiner Berufung nach Tübingen gewesen war; der Schwerpunkt der Publikationen verlagerte sich freilich spätestens mit dem Erscheinen des ersten Kommentars 1912 weitgehend auf das Staatsrecht. Anschütz gehörte zusammen mit Heinrich Triepel und Fritz Stier-Somlo dem ersten Vorstand der 1922 gegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer an. Im Deutschen Juristentag, für den er 1926 ein Gutachten erstattete, diente er in der ständigen Deputation.54 Als einer von mehreren Vertretern Preußens kämpfte der Unitarier – zusammen mit seinen Kollegen Friedrich Giese, Hermann Heller und Hans Peters sowie Hans Nawiasky in dem Prozess „Preußen contra Reich“ 1932 vor dem Staatsgerichtshof für das nach wie vor von der Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP regierte mit Abstand größte Land.55 Anschütz starb 1948 in Heidelberg.
III. Einige Hauptstandpunkte des wissenschaftlichen Werks sollen noch gesondert gewürdigt werden. 1. Die Dissertation und der Habilitationsvortrag befassen sich mit der Stellung und Funktion des Gesetzes im konstitutionellen Staatsrecht, einem Angelpunkt dieses Systems.56 Die Dissertation bewegt sich noch in eher konventionellen Bahnen und versucht die Lehren zum Gesetz von Laband und Georg Jellinek zu verbinden, indem der eine Norm enthaltende Rechtssatz durch objektive wie subjektive Merkmale im Sinne der Abgrenzung von Willenssphären der Rechtssubjekte charakterisiert wird. Mit seinem Habilitationsvortrag schreitet Anschütz in Auseinandersetzung mit Adolf Arndt über das selbständige Verordnungsrecht der monarchischen Exekutive fort zu der Bestimmung des Rechtssatzes über eine
53 Vgl. die entsprechende Selbstreflexion in Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 288 ff. 54 Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 291 ff. 55 Zu seiner Motivation Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 324 ff.; zu dem Verfahren insgesamt Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, 1977, S. 645 ff., 761 ff.; Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches, 2001, S. 111 ff. 56 Vgl. aus dem Sekundärschrifttum Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 253 ff., 271 ff.; Ernst Forsthoff, Gerhard Anschütz, Der Staat 6 (1967), S. 139 (140 f.); allgemein zur Funktion der Volksvertretung und damit des Gesetzes in diesem Kontext Grimm (Fn. 39), S. 116 ff.
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weit verstandene Formel des Eingriffs in Freiheit und Eigentum. Dieser Rechtssatz-/Gesetzesbegriff kann nur im Staat-Bürger-Verhältnis, d. h. im allgemeinen Gewaltverhältnis des Staates zu seinen „Untertanen“ Relevanz entfalten, der staatliche Binnenbereich, das Organisationsrecht und das Besondere Gewaltverhältnis, bleiben gesetzesfrei. Unter Heranziehung der Gewaltenteilungslehre kommt Anschütz zu dem Ergebnis, dass kein monarchisches Verordnungsrecht praeter legem mehr existieren könne, denn die König und Volksvertretung gemeinsam zustehende Gesetzgebung umfasse jegliche Normsetzung. Adminis trative, etwa polizeiliche Verordnungen sind damit nur kraft formell-gesetzlicher Ermächtigung zulässig. Mit dieser klaren, im Ergebnis hochpolitischen Deduktion stößt Anschütz in den Kernbereich des das konstitutionelle Staatsrecht prägenden monarchischen Prinzips vor.57 Entsprechend heftig waren die Angriffe von konservativer Seite. 2. Zu Anschütz Lehrverpflichtungen in Heidelberg gehörte stets auch das Kirchenrecht – eine Pflicht, die er ausweislich der Lebenserinnerungen gerne erfüllte. Seine staatsrechtlichen Werke befassen sich intensiv mit (staats-)kirchenrechtlichen Fragestellungen, so etwa wesentliche Textpassagen im unvollendeten Kommentar zur Preußischen Verfassungsurkunde.58 Anschütz steht fest auf Seiten eines borrussophilen National-Protestantismus; der Kulturkampf erscheint ihm unzweifelhaft gerechtfertigt. Immerhin handelt es sich bei der einzigen erwähnenswerten wissenschaftliche Abhandlung nach der Emeritierung um eine kirchenrechtliche Abwehr einer unkontrollierten Übernahme des Führerprinzips in der Evangelischen Kirche.59 Für das moderne Staatskirchenrecht setzt sich der liberal-etatistische Grundzug des Anschützschen Verständnisses von Staat und Verfassung durch:60 Die Religionsgemeinschaften sind aus Sicht des Staates stets in einem Subjektionsverhältnis, vertragliche Koordination wird
57 Friedrich, Geschichte (Fn. 5), S. 337; zum monarchischen Prinzip allgemein Grimm (Fn. 39), S. 113 ff. 58 Konkret die Kommentierung der Art. 12 bis 19, das sind immerhin 180 von 595 kommentierenden Textseiten. Vgl. auch das ausführliche staatskirchenrechtliche Kapitel in Meyer/Anschütz (Fn. 5), §§ 233–241 (= S. 997–1022). 59 Wandlungen der deutschen evangelischen Kirchenverfassung, ZÖR 20 (1940), S. 244; dazu Walter Pauly, Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, in: ders. (Hrsg.), Gerhard Anschütz. Aus meinem Leben, 1993, S. XI (XLIII). 60 Vgl. zur Positionierung seines betont etatistischen Ansatzes gegenüber den Kirchen auch Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 465 f.
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von einem dezidiert etatistischen Verständnis daher sehr kritisch betrachtet.61 „Es ist dem Staatsbürger nicht gestattet, dem Gott, an den er glaubt, mehr zu gehorchen als dem Staatsgesetz.“62 – lesen wir schon im Preußen-Kommentar. Folge dieser Positionen ist auch seine klare Verhältnisbestimmung zwischen dem „für alle geltenden Gesetz“ und der kirchlichen Selbstbestimmung in Art. 137 Abs. 3 WRV: Besondere Gesetze mit Religionsgemeinschaften als Adressaten und eine gewisse Staatsaufsicht über korporierte Kirchen erscheinen so möglich.63 Seine prägnante Zuspitzung zur Charakterisierung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen (dieser ist in „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“ zu erteilen)64 bleibt bis heute viel zitiert und gültig.65 3. Die durch die Reformbestrebungen im Weltkrieg geknüpften Kontakte führen Anschütz in die Republik. Nicht ohne Berechtigung wurde Anschütz als „in gewisser Weise für die Zeit von 1919 bis 1930 […] der ‚Kronjurist‘ der Weimarer Republik“66 bezeichnet. War sein Einfluss auf die Verfassunggebung begrenzt,67 entfaltete sein Kommentar zur Reichsverfassung größtmögliche Wirkung. Anschütz repräsentierte in den zentralen staatsrechtlichen Diskussionspunkten den Mainstream im Sinne eines gemäßigten Positivismus national-liberaler Provenienz, der sich mit dem demokratisch-parlamentarischen System arrangiert und aus Überzeugung dieses in den krisenhaften Zuspitzungen der Republik verteidigt. Die Verfassungsbejahung und damit die Weiterentwicklung seines Denkens verdichtet sich in dem von ihm mehrfach verwendeten Diktum „Der Staat, das sind wir“.68
61 Vgl. etwa Gerhard Anschütz, die bayerische Kirchenverträge von 1925, o. J. [1925]; dazu Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 466 mit dem Hinweis, dass sich der antipluralistische, stets die Gefahr für die Staatseinheit betonende Affekt verstärkt. 62 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat (Fn. 3), S. 229 f. 63 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 634 ff., 636 ff. 64 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 691. 65 Vgl. nur Axel Fhr. von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 215; Christoph Link, Religionsunterricht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 54, S. 439 (489). 66 Carl Herman Ule, Gerhard Anschütz – ein liberaler Staatsrechtslehrer, Der Staat 33 (1994), S. 104 (111). 67 Vgl. Anschütz, Aus meinem Leben (Fn. 18), S. 239 ff.; Apelt (Fn. 28), S. 81: Wegen verkehrstechnischer Probleme der Nachkriegszeit erreichte er die Besprechung mit Max Weber, den Hugo Preuß ebenfalls nach Berlin eingeladen hatte, nicht; seine dazu ausgearbeitete Denkschrift wurde veröffentlicht: Die kommende Reichsverfassung, DJZ 1919, Sp. 113 ff. 68 Gerhard Anschütz, Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, 1923, S. 30; ders., Besprechung zu Hugo Preuß „Das deutsche Volk und die Politik“, in: Preußische Jahrbücher 164 (1916), S. 339 (342); zu der Genese dieser Erkenntnis Groh (Fn. 10), S. 55 ff.
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Seinen methodischen Prämissen folgend und seiner Wertschätzung des Parlamentsgesetzes korrespondierend lehnt er jegliche Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitssatz ab. Das zentrale Argument Anschütz’ ist der Vorrang des demokratisch legitimierten Parlaments vor richterlicher Kontrolle und die andernfalls bestehende Gefahr einer Politisierung der Justiz.69 Die Grundrechte fungieren damit nach wie vor als Emanationen der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, als Kennzeichnung besonderer Freiheitssphären. Jegliche „Integrationsfunktion“, jeglicher überschießende normative Gehalt ist damit von vornherein hinfällig.70 Auch ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamentsgesetz ist so nicht möglich.71 Die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte gegenüber Parlamentsgesetzen gerät zumindest beim Prüfungsmaßstab des Gleichheitssatzes aus positivistischer Sicht in die Gefahr, „außerjuristisch“, d. h. mit Kategorien der Vernunft, der Gerechtig- oder Sittlichkeit argumentieren zu müssen.72 So wenig nach dieser Konzeption inhaltliche Schranken-Schranken zur Bestimmung von eingriffsfesten Grundrechtskernen möglich sind, werden entsprechende Grenzen für die Verfassungsänderung anerkannt: Nach Art. 76 WRV kann im ordnungsge-
69 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 523 ff.; die zentrale Passage im Kommentar, S. 528 f., lautet: „Die uns so eindringlich als allein richtig empfohlene neue Auffassung des Gleichheitssatzes [die Gesetzesbindung an diesen] wurzelt letzten Endes in einem politischen Werturteil, einem anscheinend tiefgehenden Zweifel an der Fähigkeit herrschender Parlamentsmehrheiten zur Objektivität, d. h. zur gleichen Behandlung gleichgelagerter Tatbestände. […] ‚Gesetzesabsolutismus‘ heißt hier natürlich soviel wie Parlamentsabsolutismus. […] Denn was wäre gewonnen, wenn man […] den Gerichten das Amt übertragen würde, nach amerikanischer Art die Gesetze […] daraufhin zu prüfen, ob die von ihnen statuierten Unterscheidungen und Abstufungen […] auf einem vernünftigen Grunde […] beruhen, und sie im Verneinungsfalle als ungerechte und unvernünftige ‚discriminations‘ für nicht zur erklären? Man würde doch nur den einen ‚Absolutismus‘ durch einen andern, den des Gesetzgebers durch den des Richters ersetzen. […] Die Anerkennung der neuen Lehre in der Praxis würde, verbunden mit der Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts, fast zwangsläufig zu einer Politisierung der Justiz, d. h. zur Besetzung der richterlichen, insbes. höchstrichterlichen Ämter nach politischen Gesichtspunkten führen, die ganz gewiß von keiner Seite herbeigewünscht wird noch werden kann.“ 70 Zur Weimarer Grundrechtsdebatte insgesamt Klaus Kröger, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses in der Weimarer Republik, in: FG Alfred Söllner, 1990, S. 299; ders., Grundrechtsentwicklung in Deutschland, 1998, S. 46 ff.; Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004; Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fn. 19), S. 272 ff.; in Bezug auf Anschütz wiederum Dreier (Fn. 1), S. 44 ff. 71 Näher Christoph Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, 1985, S. 91 ff., auch zu den Modifikationen seiner Ansicht im Lauf der Entwicklung in Richtung auf ein Prüfungsrecht des Staatsgerichtshofs; ders., Reichsverfassung (Fn. 19), S. 216 ff.; Dreier (Fn. 1), S. 40 ff. 72 Heun (Fn. 20), S. 391 ff.
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mäßen Verfahren mit den erforderlichen Mehrheiten jede Verfassungsentscheidung revidiert werden.73 Dem korrespondiert, dass die verfassunggebende Gewalt gar nicht von der gesetzgebenden Gewalt geschieden wird,74 die Anknüpfung an diese sowohl in Nordamerika als auch in der Französischen Revolution zentrale Unterscheidung und damit an das westliche Verfassungsmodell unterbleibt.75 Letztlich akzeptiert Anschütz keinen Vorrang der Verfassung und bündelt diese Erkenntnis wiederum in einer prägnanten Formulierung: „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben.“76 Zumindest in der Weimarer Republik ist diese Position Ausfluss der demokratischen Disposition ihres Vertreters. Es ist heutiger Forschungsstand, dass – entgegen noch in jüngerer Zeit in Bezug auf Anschütz geäußerter Ansichten77 – die demokratische Offenheit, wie überhaupt die positivistische Methode im Staatsrecht nicht den Untergang der ersten deutschen Demokratie bewirkt hat. Mit den beiden bis heute herausragenden Kommentaren hat Gerhard Anschütz für das deutsche öffentliche Recht die Literaturgattung des wissenschaftlichen (Verfassungs-)Kommentars begründet. Seine Fähigkeit zur sprachlichen Verdichtung und zum prägnanten Begriff78 zeigten hier ihre Entfaltung, sie prädestinierten ihn zu den Literaturgattungen Handbuch, Lehrbuch und v. a. Kommentar. Zwar existierten sowohl zur Preußischen Verfassungsurkunde von 185079 als auch zur Weimarer Verfassung80 andere Kommentare, diese müssen freilich im Vergleich zu den hier zu würdigenden Werken eher als oberflächliche Versuche, als Handreichungen charakterisiert werden.81 Beide Kommentare aus Anschütz’ Feder tragen daher auch als bezeichnenden, seinem Wissenschaftsverständnis entsprechenden Untertitel „Ein Kommentar für Wissenschaft und
73 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 404 ff. 74 Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 401. 75 Vgl. dazu insgesamt Christian Waldhoff, Die Entstehung des Verfassungsgesetzes, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 8. 76 Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 4), S. 401. 77 Insofern ärgerlich Ule (Fn. 66), S. 111; zutreffend demgegenüber Dreier (Fn. 1), S. 35 f.; Heun, Anschütz (Fn. 3), S. 465 Fn. 60. 78 Erwähnt sei hier noch sein Diktum „Das Staatsrecht hört hier auf“ in Bezug auf den Preußischen Verfassungskonflikt 1862/66, Gerhard Anschütz, Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, VerwArch. 14 (1906), S. 315 (336, 339); Meyer/Anschütz, Lehrbuch (Fn. 5), S. 906. 79 Einige werden im Vorwort von Anschütz erwähnt. 80 Zur Preußischen Verfassungsurkunde Stolleis, Geschichte II (Fn. 8), S. 298 Fn. 125, wo neben Anschütz sechs weitere Kommentare aufegeführt werden; zur WRV Stolleis, Geschichte III (Fn. 19), S. 95 ff., der von einem „Wettlauf“ der Kommentatoren spricht. 81 Zu Anschütz als Kommentator Dreier (Fn. 1), S. 30.
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Praxis“. Auch das 1930/32 erschienene Handbuch des Deutschen Staatsrechts hat bis in die Bundesrepublik hinein gattungsmäßig vorbildlich gewirkt.82
Auswahlbibliographie Kritische Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetzen, Leipzig 1891, 2. Aufl. 1913 Das Recht des Verwaltungszwanges in Preußen, VerwArch. 1 (1893), S. 389 ff. Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, Tübingen 1900, 2. Aufl. 1901 (Nachdruck Aalen 1971) Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, VerwArch. 14 (1906), S. 315 ff. Deutsches Staatsrecht, in: Holtzendorff/Kohler (Hrsg.), Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, Bd. 4, 7. Aufl. München 1914, S. 1 ff. Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 1. (einziger) Band, Berlin 1912 (Nachdruck Aalen 1974) Die preußische Wahlreform, Berlin 1917 Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 6. Aufl. München 1905; 7. Aufl. München 1919 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 4 Bearbeitungen in 14 Aufl., Berlin 1921, zuletzt 14. Aufl. Berlin 1933 Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923 Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (Berlin u. a. 1924), S. 11 ff. Artikel 107. Verwaltungsgerichte, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, Berlin 1929, S. 129 ff. (Nachdruck Frankfurt a. M. 1975) Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2 Bde., Tübingen 1930/32 (Nachdruck Tübingen 1998) Rückblick auf ältere Entwicklungsstufen der Staatsbildung und des Staatsrechts in Deutschland, in: ders./Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 17 ff. Der Norddeutsche Bund und seine Erweiterung zum Kaiserreich, ebd., S. 63 ff. Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern, ebd., S. 295 ff. Die Reichsaufsicht, ebd., S. 363 ff. Die Reichsexekution, ebd., S. 377 ff. Religionsfreiheit, ebd., Bd. 2, S. 675 ff. Aus meinem Leben. Erinnerungen von Gerhard Anschütz, hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, Frankfurt a. M. 1993, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2008
82 Vgl. Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1984, 2. Aufl. 1994; Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10 Bde., 1. Aufl. 1987 ff., 2. Aufl. 1995 ff., 3. Aufl. 2003 ff.
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über Gerhard Anschütz: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gerhard Anschütz 1867–1948, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986, Bd. 3, Berlin 1986, S. 167 ff. (wieder abgedruckt in ders., Recht – Staat – Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 367 ff.) Horst Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867–1948), ZNR 1998, S. 28 ff. Ernst Forsthoff, Gerhard Anschütz, Der Staat 6 (1967), S. 139 ff. Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010, v. a. S. 42 ff. Werner Heun, Gerhard Anschütz (1867–1948). Vom liberalen Konstitutionalismus zur demokratischen Republik, in: Grundmann u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 455 ff. Walter Pauly, Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, in: ders. (Hrsg.), Gerhard Anschütz. Aus meinem Leben, Frankfurt a. M. 1993, S. XI–XLIV ders., Art. „Anschütz, Gerhard (1867–1948)“, in: Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Sp. 248 f. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 352 ff. Carl Hermann Ule, Gerhard Anschütz – ein Liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Der Staat 33 (1994), S. 104 ff.
VII Fritz Fleiner (1867–1937) Giovanni Biaggini „[B]is zu den einfachsten Rechtsgedanken vorzudringen, aus denen die Vorschriften des geltenden Rechts hervorquellen“: Dieses Ziel setzte sich Fritz Fleiner im Vorwort zu seinem 1923 erschienenen „Schweizerischen Bundesstaatsrecht“. Nur auf diese Weise gelinge es, „das Recht geistig zu beherrschen und in ihm neben den geschriebenen Sätzen die ungeschriebenen, nicht minder unverbrüchlichen, zu erkennen.“1 Ähnlich programmatische Formulierungen enthält auch das Vorwort zu den „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“, dessen erste Auflage 1911 erschien: „Die nachfolgende Darstellung versucht, die verwaltungsrechtlichen Erscheinungen, die in reicher Fülle im positiven Recht und in der reifen Praxis der deutschen Verwaltungsgerichte aufgespeichert liegen, auf ihre juristischen Grundlinien zurückzuführen. Von Jahr zu Jahr werden die Gesetze komplizierter. Umso mehr ist es Aufgabe des akademischen Lehrers, den Lernenden zu einer einfachen Anschauung des Rechts anzuleiten.“2 Dass den beiden Hauptwerken Fritz Fleiners nachhaltiger Erfolg beschieden war, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass der Verfasser diese ehrgeizigen Ziele in hohem Masse zu erreichen vermochte. Die „Institutionen“ entwickelten sich in Deutschland und in der Schweiz rasch zu einem beliebten Lehrbuch und wichtigen Referenzwerk für Wissenschaft und Praxis des Verwaltungsrechts. In 17 Jahren erlebte das Buch acht Auflagen; es liegen Übersetzungen in mehrere Sprachen vor.3 Der Wirkungskreis des „Schweizerischen Bundesstaatsrechts“ war dem Gegenstand der Monographie entsprechend etwas weniger gross, doch sollte sich das Werk, neben dem Kommentar zur Bundesverfassung von 1874 von
1 Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, Vorwort, S. VII. 2 Fritz Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 1. Auflage, Tübingen 1911, Vorwort (ebenfalls abgedruckt in der 8. neubearbeiteten Auflage, Tübingen 1928, S. V). 3 Ausführlich Roger Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft: Fritz Fleiner 1867–1937, Diss. Zürich, Frankfurt a. M. 2006, insb. S. 124 ff. – Im Jahr 1939 wurde ein unveränderter „Neudruck für die Schweiz“ (der 8. Auflage von 1928) veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen in Deutschland mehrere Nachdrucke. Neben der wichtigen französischen Übersetzung von Charles Eisenmann (Les principes généraux du droit administratif allemand, Paris 1933, mit Vorwort von Fleiner) erwähnt Müller auch Übertragungen ins Spanische, Griechische und Japanische (a. a. O., S. 261, mit Fn. 46).
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Walther Burckhardt (1871–1939),4 für Jahrzehnte als führende Darstellung der schweizerischen Verfassungsordnung behaupten. 1949 erschien eine – über weite Strecken sehr eigenständige – Neubearbeitung des „Bundesstaatsrechts“ durch Fleiners bedeutenden Schüler Zaccaria Giacometti (1893–1970). Der „Fleiner/ Giacometti“5 diente Generationen von Studierenden als Lehrbuch und geniesst in der schweizerischen Verfassungsrechtswissenschaft noch immer grosse Wertschätzung. Den nachhaltigen Erfolg und die hohe Qualität verdanken Fleiners Hauptwerke auch den reichen Erfahrungen, die der Verfasser auf den verschiedenen Stationen seiner beruflichen Laufbahn sammeln konnte. Die wichtigsten Wirkungsstätten waren Zürich, Basel, Tübingen, Heidelberg und wieder Zürich.
Werdegang Fritz Fleiner wurde am 24. Januar 1867 in Aarau, der Hauptstadt des schweizerischen Kantons Aargau, als fünftes Kind von Albert Fleiner (1826–1877) und dessen zweiter Ehefrau Leontine Fleiner-Zschokke (1834–1905) geboren. Der Vater stammte aus dem südlichen Schwarzwald (Schopfheim, Baden) und war nach einer kaufmännischen Lehre beruflich zunächst in Bern, später in Aarau tätig. Dort erwarb er 1856 eine Zementfabrik, die er zu einem der grössten schweizerischen Betriebe dieser Art ausbauen konnte.6 1858 wurde Albert Fleiner in Aarau eingebürgert. Die Mutter war eine Enkelin des aus Magdeburg stammenden Pädagogen, Schriftstellers und liberalen Staatsmanns Heinrich Zschokke (1771–1848), der sich zunächst in Graubünden, später in Aarau niederliess und auf kantonaler und eidgenössischer Ebene zahlreiche öffentliche Ämter bekleidete. Nach dem Besuch der örtlichen Schulen legte Fritz Fleiner im April 1887 in Aarau die Maturitätsprüfung ab, am selben Gymnasium (Kantonsschule), an dem neun Jahre später auch Albert Einstein die Hochschulreife erlangen sollte. Im Sommersemester 1887 nahm Fleiner in Zürich das Rechtsstudium auf. Nach je zwei Semestern
4 Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (1. Aufl., 1905), 3. Aufl., Bern 1931. 5 Fritz Fleiner/Zaccaria Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949 (Innentitel: Zaccaria Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Neubearbeitung der ersten Hälfte des gleichnamigen Werkes von Fritz Fleiner). Vgl. Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich. Zürich 2014, insb. S. 309 ff. 6 Historisches Lexikon der Schweiz, Band IV, Basel 2005, Einträge „Fleiner, Albert“ bzw. „Fleiner, Fritz“.
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in Leipzig (1887/88) und in Berlin (1888/89)7 promovierte Fleiner 1890 in Zürich mit einer kirchenrechtlichen Arbeit.8 1891 legte er das Staatsexamen zum aargauischen Fürsprech (Rechtsanwalt) und Notar ab. Im Winter 1891/92 erweiterte und vertiefte Fleiner seine kirchenrechtlichen Kenntnisse in Paris. Mit der dort entstandenen Abhandlung über „Die tridentinische Ehevorschrift“ erlangte er im Juli 1892 an der Universität Zürich die Venia legendi für Kirchenrecht. Auf den Beginn des Wintersemesters 1895/96 wurde Fleiner vom Privatdozenten zum ausserordentlichen Professor befördert mit Lehrauftrag für französisches Zivilrecht, Kirchenrecht und eventuell öffentliches Recht, dies mit einer jährlichen Besoldung von 1000 Franken. 1896 heiratete er Fanny Veith. Die Ehe blieb kinderlos. Im Jahr 1897 folgte Fritz Fleiner einem Ruf an die Universität Basel,9 wo wenige Jahre zuvor Georg Jellinek gewirkt hatte (1890/91), dessen Fakultätskollege er später in Heidelberg werden sollte. In Basel war Fleiner als ordentlicher Professor für das gesamte öffentliche Recht sowie das Kirchenrecht zuständig. Im Jahr 1901 versah er das Amt des Rektors. Auf das Sommersemester 1906 hin nahm Fleiner einen Ruf nach Tübingen an, wo er als ordentlicher Professor Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und allgemeines Staatsrecht unterrichtete. Im Juli 1908 wurde Fleiner als Nachfolger von Gerhard Anschütz an die Universität Heidelberg berufen. Dort wirkte er als ordentlicher Professor für deutsche Staats- und Rechtsgeschichte sowie deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht einschliesslich des Verwaltungsrechts und des Kirchenrechts. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs ergab sich eine neue Situation. Im Unterschied zu anderen Staatsrechtslehrern in Deutschland brachte es Fleiner nicht über sich, die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland zu rechtfertigen.10 Daher nahm er das Angebot, in Zürich einen Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht zu übernehmen, gerne an.11 Auf das Wintersemester
7 Fleiner besuchte unter anderem die Kollegien der Professoren Vogt (Zürich) – als dessen Schüler sich Fleiner bezeichnete (vgl. Müller, Anm. 3, S. 6, Fn. 7) –, Windscheid (Leipzig), Gierke, Goldschmidt, Hübler (Berlin). 8 Die richterliche Stellung der katholischen Kirche zur obligatorischen Civilehe, Diss. Zürich 1890. – Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer in Berlin verfassten Preisschrift, die dort im August 1889 mit dem königlichen Preis ausgezeichnet worden war. Dazu und zum Folgenden vgl. Müller (Anm. 3), S. 5 ff. 9 Zu den Basler Jahren Ronald Kunz, Geschichte der Basler Juristischen Fakultät 1835–2010, Basel 2011, S. 157–159 und 194–200. 10 So Fleiner in einer Rückschau aus Anlass seiner Emeritierung (26.2.1936). Nachweis bei Müller (Anm. 3), S. 19, Fn. 75, wo überdies berichtet wird, dass Fleiners Gattin Fanny in Heidelberg als deutschfeindlich galt. 11 In Zürich hatte sich vor allem der Völkerrechtler Max Huber (1874–1960), später Richter und Präsident des ständigen Internationalen Gerichtshofes, für eine Rückkehr Fleiners eingesetzt.
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1915/16 hin kehrte Fleiner an seine Alma Mater zurück, wo er bis zur Emeritierung im Jahr 1936 lehrte. Fleiner gehörte zur kleinen Zahl der Professoren aus der Schweiz, die in der Weimarer Zeit der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer beitraten (1927). Er referierte 1929 anlässlich der Frankfurter Tagung über die „Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung in ihrem gegenseitigen Verhältnis im Rechte Deutschlands, Österreichs und der Schweiz“.12 Als Rektor (SS 1932–WS 1933/34) spielte Fleiner eine prägende Rolle bei den Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der Universität (1933).13 Im Herbst 1935 ersuchte Fleiner um vorzeitige Emeritierung auf Ende des Wintersemesters 1935/36 (ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze), was ihm die Regierung des Kantons Zürich unter Verdankung der geleisteten Dienste gewährte. Am 26. Oktober 1937 verstarb Fritz Fleiner in seinem 71. Altersjahr nach kurzer Krankheit in seinem Ferienhaus in Ascona, Kanton Tessin. In der Tagespresse wie in Fachzeitschriften erschienen zahlreiche Nachrufe und Würdigungen. Im Rahmen der akademischen Gedächtnisfeier, die am 24. Januar 1938 an der Universität Zürich stattfand, wurde unter anderem das „Heimatlied“ vorgetragen, das der sich zur Musik stark hingezogen fühlende Fleiner selbst komponiert hatte.14 Die Stadt Zürich ehrte den „hervorragenden schweizerischen Rechtsgelehrten“, indem sie 1951 eine unweit des letzten Wohnsitzes von Fleiner neu errichtete Strasse nach diesem benannte.15
Dagegen tat sich Jakob Schollenberger (1851–1936), seit 1891 ausserordentlicher, ab 1895 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht in Zürich, mit der Berufung Fleiners schwer, da dieser als junger Basler Ordinarius in einer Rezension (1898) harsche Kritik an einem Werk Schollenbergers geübt hatte. Schollenberger resignierte und erklärte 1917 seinen vorzeitigen Rücktritt. Näher Andreas Kley, Geschichte des Öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich/St.Gallen 2011, S. 3 ff. und 72. – Der Wechsel von Heidelberg in die Schweiz hatte damals eine nicht unerhebliche Einkommenseinbusse zur Folge. Vgl. Müller (Anm. 3), S. 21. 12 VVDStRL (6), 1929, S. 2–24 (2. Berichterstatter Josef Lukas, Münster). Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III, München 1999, S. 188 (Fn. 188). 13 Vgl. Karl S. Bader, Die Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät: Unterricht und Dozenten, in: Die Universität Zürich 1933–1983, Zürich 1983, S. 276 (wonach Fleiner den Feierlichkeiten „seinen persönlichen Stempel aufdrückte“). 14 Nachweise bei Müller (Anm. 3), S. 358–360. Das „Heimatlied“ (erschienen im Verlag Hug & Co., Zürich) ist abgedruckt in: Fritz Fleiner, Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 453 f. Zu Fleiner als Komponist siehe auch Michael Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer, in: Klaus Reichert u. a. (Hrsg.), Recht, Geist und Kunst. Liber amicorum für Rüdiger Volhard, Baden-Baden 1996, S. 372–380, insb. S. 373 f. 15 Stadtarchiv, Auszug aus dem Protokoll des Stadtrates von Zürich vom 9. Februar 1951, Nr. 276: „Benennung des Fritz Fleinerweges im Quartier Fluntern“. Fleiner erhielt den Vorzug gegenüber einer Reihe von weiteren vorgeschlagenen Persönlichkeiten (darunter der erste Bundespräsident Jonas Furrer, der Maler Ferdinand Hodler und die Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner).
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Fritz Fleiner als akademischer Lehrer Seinen akademischen Qualifikationsschriften entsprechend pflegte Fritz Fleiner im universitären Unterricht zunächst vor allem das Kirchenrecht. Obwohl evangelisch-reformiert und liberal gesinnt hatte Fleiner keine Berührungsängste gegenüber dem kanonischen Recht, dessen „grossartigen Aufbau“ er bewunderte.16 Auch als Ordinarius widmete sich Fleiner auf allen akademischen Stationen weiterhin regelmässig und in erheblichem Umfang dem „Katholischen und evangelischen Kirchenrecht“, wie die meist vierstündige Hauptvorlesung in der Regel betitelt war.17 Heute wird der Name Fritz Fleiner vor allem mit der sich neu etablierenden juristischen Disziplin des Verwaltungsrechts assoziiert. Im akademischen Unterricht gingen indes das Bundesstaatsrecht und das Allgemeine Staatsrecht voran.18 Fleiner übernahm diverse weitere Lehrveranstaltungen, unter anderem kurzfristig auch die Vorlesung über „Römisches Recht“ (WS 1925/26) des Ende 1925 verstorbenen Andreas von Thur, der bereits in Basel kurz sein Fakultätskollege gewesen war.19 Grosse Verdienste erwarb sich Fritz Fleiner nicht nur als Mitbegründer der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft, sondern auch bei der Etablierung
16 Vgl. Müller (Anm. 3), S. 176 f. (Fn. 59). Dagegen hielt Fleiner strikte Distanz zum Katholizismus. Vgl. Kley (Anm. 11), S. 79. 17 Die Aufstellung bei Müller (Anm. 3), S. 363–374, verzeichnet diverse weitere kirchenrechtliche Lehrveranstaltungen (z. B. „Staat und Kirche seit der Reformation“, „Einführung in die kirchlichen Rechtsquellen“). In Zürich las Fleiner mehrmals eine „Einführung in den codex iuris canonici“, der 1917 durch Papst Benedikt XV. promulgiert worden war und im Jahr darauf in Kraft trat (SS 1924, SS 1926 und SS 1932). 18 In Basel (schweizerisches) „Bundesstaatsrecht“ (ab WS 1897/98 regelmässig) und „Allgemeines Staatsrecht“ (ab SS 1898 regelmässig); in Tübingen „Württembergisches Staatsrecht“ (WS 1906/07); in Heidelberg „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, mit besonderer Berücksichtigung des preussischen und badischen Rechts“ (ab WS 1908/09 regelmässig); in Zürich „Schweizerisches Bundesstaatsrecht“ (ab SS 1916 regelmässig bis SS 1935). In Heidelberg übernahm Fleiner nach dem Tod von Georg Jellinek die „Allgemeine Staatslehre“ (SS 1911) bzw. „Allgemeine Staatslehre und Politik“ (SS 1912 und SS 1915), in Zürich unter dem Titel „Allgemeines Staatsrecht“ durchgeführt (ab WS 1915/16 regelmässig). 19 Vgl. Müller (Anm. 3), S. 176. – Fleiner las unter anderem „Völkerrecht“ (in Basel und Zürich mehrfach), „Einführung in die Rechtswissenschaft“, „Einführung in das französische Zivilrecht“, „Deutsche Rechtsgeschichte“ (in Heidelberg regelmässig), „Das Recht der Sozialversicherung“, gelegentlich auch über „Politik“ (Zürich WS 1917/18 und 1926/27). In der Aufstellung der Lehrtätigkeit bei Müller (Anm. 3, S. 363 ff.) sind gerade einmal zwei Urlaubssemester verzeichnet (Zürich WS 1920/21 und SS 1928), die Fleiner für die Fertigstellung des „Schweizerischen Bundesstaatsrechts“ bzw. die Überarbeitung der „Institutionen“ nutzte.
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des Verwaltungsrechts – seiner „Lieblingsdisziplin“20 – im akademischen Lehrbetrieb. Die erste entsprechende Veranstaltung fällt in die Basler Zeit, damals schlicht als „Verwaltungsrecht“ angekündigt (WS 1899/1900, fünfstündig).21 Im Tübinger Lehrangebot sind zweimal „Verwaltungsrechtliche Übungen“ verzeichnet (WS 1906/07 und 1907/08). In Heidelberg und in Zürich führte Fleiner regelmässig „Übungen im öffentlichen Recht“ durch, die sich auch auf das Verwaltungsrecht erstreckten. Eine Frucht dieses Engagements sind die „Verwaltungsrechtsfälle zum akademischen Gebrauch bearbeitet“, die 1908 erstmals erschienen.22 Bereits in seinen Basler Jahren hatte Fleiner die Vorlesung zum Verwaltungsrecht drucken lassen.23 Seine Überzeugungen betreffend die Gestaltung des Unterrichts im Verwaltungsrecht fasste er in einem Gutachten zuhanden des 32. Deutschen Juristentages zusammen. Das Verwaltungsrecht solle nicht mehr „Gedächtniskunst“ sein; es gehe darum, die Studierenden zu befähigen, „in jeder positiven Gesetzgebung die verwaltungsrechtlichen Begriffe wiederzuerkennen und so das geltende Recht geistig zu beherrschen“.24 Aus vielen Zeugnissen von Studierenden geht hervor, dass Fleiner ein ausgezeichneter akademischer Lehrer war, der das Publikum für seine Materie zu begeistern vermochte.25 Die zahlreichen von Fleiner betreuten Dissertationen beschlagen ein weites Themenspektrum, das neben den Kernbereichen des Staats- und Verwaltungsrechts auch das Steuer- und Finanzrecht, das Sozialversicherungsrecht, das Kirchen- und Staatskirchenrecht und die Staatstheorie umfasste.26 Unter Fleiners Zürcher Doktoran-
20 So Fleiner in einem Brief an seinen Lehrer Vogt (30.6.1901). Nachweis bei Müller (Anm. 3), S. 51. 21 In Tübingen las Fleiner regelmässig „Deutsches Verwaltungsrecht“ und „Württembergisches Verwaltungsrecht“, in Heidelberg „Deutsches Verwaltungsrecht“, in Zürich „Allgemeines Verwaltungsrecht“, zwischenzeitlich als „Allgemeines und schweizerisches Verwaltungsrecht“ betitelt. Vgl. Müller (Anm. 3), S. 363 ff. 22 Die 3., neubearbeitete Auflage von 1929 umfasst auf 72 Druckseiten 100 verwaltungsrechtliche Sachverhalte. 23 „Grundriss zu Vorlesungen über Verwaltungsrecht“ (Basel 1905). Vgl. Kley (Anm. 11), S. 70. 24 Fritz Fleiner, Wie ist der akademische Unterricht im Verwaltungsrecht zweckmässig zu gestalten?, in: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentages, Band 1 (Gutachten), Berlin 1914, S. 305–312, 307. Dazu Müller (Anm. 3), S. 37 ff. 25 Nachweise bei Müller (Anm. 3), S. 238 ff. Vgl. auch Adolf Im Hof, Fritz Fleiner 1867–1937, in: Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, Zürich 1945, S. 455–483, S. 479 ff.; Dietrich Schindler (jun.), Fritz Fleiner 1867–1937, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 40 (1991/1992), S. 175 („Seine Vorlesungen genossen legendären Ruf.“). 26 Verzeichnis bei Müller (Anm. 3), S. 375–386. – Eine kurz nach Erlass des eidgenössischen Bankengesetzes von 1934 abgeschlossene Dissertation behandelt das (nach wie vor aktuelle) Thema „Bankgeheimnis in der Schweizerischen Gesetzgebung mit besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts“ (1935).
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den ragen Dietrich Schindler (sen.) und der bereits erwähnte Zaccaria Giacometti heraus, der später Fleiners „Schweizerisches Bundesstaatsrecht“ neu bearbeiten sollte (1949) und eigene „Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts“ veröffentlichte (1960).
Zum wissenschaftlichen Werk Seine Bekanntheit verdankt Fritz Fleiner vor allem der prägenden Rolle als Mitbegründer der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft. In seinem ersten Hauptwerk, den „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“ (1911; 81928), entwickelte Fleiner den von Otto Mayer begründeten Ansatz weiter.27 Dabei konnte er sich auf verschiedene Einzelstudien stützen, wie etwa die Tübinger Antrittsvorlesung „Über die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht“ (1906), sowie auf den in Basel entstandenen „Grundriss zu Vorlesungen über Verwaltungsrecht“ (1905). Auch das zweite zentrale Werk, das „Schweizerische Bundesstaatsrecht“ (1923), ist der juristischen Methode verpflichtet.28 In den „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“ erörtert Fleiner im 1. Kapitel des „Allgemeine[n] Teil[s]“ verschiedene „Grundbegriffe“ (wie „Verwaltung“, „Trennung der Gewalten“ und „Verwaltungsrecht“), dies jeweils mit starker Betonung der geschichtlichen Entwicklungen. Das 2. Kapitel ist den „Träger[n] der öffentlichen Verwaltung“ gewidmet, das 3. Kapitel dem „Grundverhältnis zwischen öffentlicher Verwaltung und Bürger“, das 4. Kapitel dem „Rechtsschutz“. Der wesentlich kürzere „Besondere Teil“ handelt vom „Verwaltungsapparat und seine[n] Leistungen“ sowie von den „verwaltungsrechtlichen Pflichten der Bürger“. Der Umfang des Werks wuchs im Zuge der Neubearbei-
27 Fleiner stufte den Ansatz von Mayer als „Bahn [brechend]“ ein und charakterisierte die „rein juristische Methode“ als jene „juristische Betrachtungsweise, durch die die Privatrechtswissenschaft gross geworden ist, […] auf die Behandlung verwaltungsrechtlicher Probleme übertragen“ (Institutionen, Anm. 2, 8. Aufl., S. 44). – Der Titel von Fleiners Werk erinnert nicht zufällig an ein wissenschaftliches Hauptwerk seines früheren Basler Fakultätskollegen Andreas Heusler (1834– 1921): die „Institutionen des Deutschen Privatrechts“ (2 Bände, Leipzig 1885/86; in Fleiners „Institutionen“ lobend erwähnt: 1. Aufl., S. 57, 8. Aufl., S. 61; vgl. Müller, Anm. 3, S. 177). 28 In den „Ausgewählten Schriften und Reden“ (Anm. 14) finden sich nicht zufällig Nachrufe auf Paul Laband (1918) und auf Otto Mayer (1924), in denen Fritz Fleiners hohe Wertschätzung für die Begründer „der modernen deutschen Staatsrechtswissenschaft“ bzw. „der modernen deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft“ zum Ausdruck kommt (a. a. O., S. 348 bzw. 351). Beide wurden auch mit Festschriftenbeiträgen aus der Feder von Fleiner beehrt (siehe Auswahlbibliographie).
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tungen von ursprünglich 358 (1911) auf 449 Seiten (1928) an.29 Stoff und Gliederung blieben im Wesentlichen unverändert, wenn man von der Einfügung eines Abschnitts über „Neue Organisationsformen“ (§ 8 der 8. Aufl.) absieht.30 Ein durchgehender Grundzug ist das Anliegen einer „Emanzipation vom Zivilrecht“, d. h. der Ausbildung von „besondern Grundsätze[n] des öffentlichen Rechts […], die den eigentümlichen Aufgaben und Interessen der öffentlichen Verwaltung Rechnung tragen“, wie sich Fleiner bereits in seiner Tübinger Antrittsvorlesung programmatisch ausgedrückt hatte.31 Zum Erfolg des Lehrbuchs trug nicht zuletzt die meisterhafte Sprache bei, reich an einprägsamen Metaphern. Markante Beispiele dafür sind die „Flucht […] in das Privatrecht“32 oder der Satz: „Die Polizei soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen“;33 Wendungen, die noch heute vielfach gebraucht werden, ohne dass man sich der Urheberschaft Fritz Fleiners stets bewusst wäre. In der schweizerischen Verwaltungsrechtspraxis verkörperten die „Institutionen“ für lange Zeit die „bewährte Lehre“, ja sie galten geradezu als „ratio scripta“,34 die man wie ein „Gesetzbuch“ heranzuziehen pflegte, wenn
29 Zu Editionsgeschichte und Aufnahme in Wissenschaft und Praxis vgl. Müller (Anm. 3), S. 128 ff. und passim. 30 Zu gewissen Veränderungen bei der Behandlung von Gesetzmässigkeitsprinzip und Ermessenslehre vgl. Benjamin Schindler, Verwaltungsermessen, Habil., Zürich usw. 2010, S. 30 ff. und 60. 31 Fritz Fleiner, Über die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht, Tübingen 1906, S. 9. 32 Fleiner, Institutionen (Anm. 2), 8. Aufl., S. 326: „Flucht von Staat und Gemeinde in das Privatrecht“. Dazu Regina Ogorek, Das ‚Öffentliche‘ und das ‚Private‘, in: Festschrift Peter Forstmoser, Zürich 2003, S. 15–31, S. 27. 33 Fleiner, Institutionen (Anm. 2), 1. Aufl., S. 323, 8. Aufl., S. 404. Dazu Thomas Henne, „Mit Kanonen auf Spatzen schiessen.“ Ein Beitrag Fritz Fleiners zur deutschen Juristensprache, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2002, S. 1094–1096. Fleiner scheute sich nicht, das eine oder andere Wilhelm-Busch-Zitat einzustreuen; vgl. z. B. Institutionen (Anm. 2), 1. Aufl., S. 313 und 320, 8. Aufl., S. 389 und 399. Zu Fleiners Metaphern (mit Beispielen) Benjamin Schindler, Hundert Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz, in: ZSR 2011 II, S. 331 ff., 384 ff. 34 So (nicht ohne kritischen Unterton) Max Imboden, Der Beitrag des Bundesgerichts zur Fortbildung des schweizerischen Verwaltungsrechts (1959), in: ders., Staat und Recht, Basel/Stuttgart 1971, S. 367 ff., 371. Vgl. auch Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, Band II, Bern 2004, S. 841; Müller (Anm. 3), S. 280 ff.; D. Schindler (jun.) (Anm. 25), S. 176. – Am Schweizerischen Juristentag des Jahres 2011 wurden die beiden verwaltungsrechtlichen Referate unter den Titel „Hundert Jahre Verwaltungsrecht“ gestellt (Berichterstattung: Anne-Christine Favre bzw. Benjamin Schindler, abgedruckt in: ZSR 2011 II, S. 227–330 bzw. S. 331–437). Zum Siegeszug von Fleiners „Institutionen“ in der Schweiz vgl. B. Schindler, a. a. O., S. 349 f. – Ungeachtet des Adjektivs im Titel finden sich schon in der ersten Auflage der „Institutionen“ etliche Beispiele aus der schweizerischen Gesetzgebung und Praxis. Die schweizerischen Beispiele nehmen später zu. Vgl. Müller (Anm. 3), S. 284 (mit Fn. 113 und 116).
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dem gesetzten Recht – wie so oft – auf allgemeine verwaltungsrechtliche Fragen keine Antwort zu entnehmen war. Noch heute werden die „Institutionen“ in verwaltungsrechtlichen Leitentscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts gelegentlich zitiert.35 Das „Schweizerisches Bundesstaatsrecht“ (1923) als „erste grosse systematische Gesamtdarstellung des eidgenössischen Staatsrechts nach der juristischen Methode“36 – in Basel geplant, in Deutschland begonnen, in Zürich abgeschlossen – behandelt im ersten Teil die „Staatsrechtliche[n] Grundverhältnisse“, untergliedert in die Kapitel „Bund und Kantone“ sowie „Land und Leute“. Der zweite Teil befasst sich mit den „Organe[n] des Bundes“, wobei auffällt, dass Fleiner den „Bundesbeamten“ und ihren Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeiten ein ausführliches Kapitel widmet. Der dritte Teil handelt von den „verfassungsmässigen Rechten der Bürger“, unterteilt in die Kapitel „Die Volksrechte“ und „Die individuellen Freiheitsrechte“. Der vierte Teil ist den „staatlichen Funktionen“ gewidmet. Im Abschnitt über die Justiz unterstreicht Fleiner die sehr wichtige Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts gegenüber der kantonalen Staatsgewalt mit dem prägnanten Satz: „Wenn in der Enge kantonaler Verhältnisse die politische Leidenschaft das Steuer führt, so weiss der letzte Bürger im Staat, dass ihm der Weg nach Lausanne offen steht.“37 Neben der Gesetzgebung und der Justiz kommt auch „[d]ie Verwaltung“ als staatliche Funktion ausführlich zur Sprache, dies auf gut 300 von insgesamt 764 Textseiten. Hier geht Fleiner auf Themen ein, die in der Schweiz, damals wie heute, zwar einen engen Verfassungsbezug aufweisen, jedoch gewöhnlich nicht zum Kernbestand des Staatsrechts gerechnet werden (wie Eisenbahn- und Postwesen, Heer, öffentliche Schulen, eidgenössische Polizeigesetzgebung).38 Obwohl der juristischen Methode verpflichtet, werden immer wieder ausführliche Bezüge zu historischen, geographischen, soziologischen und politischen Gegebenheiten hergestellt. So erörtert Fleiner im Kapitel über die Volksrechte auch die „staatsrechtlichen und politischen Wirkungen“39 des Referendums und
35 Vgl. BGE 131 I 1, 9 (E. 4.4), Urteil vom 23. November 2004 (Arbeitsleistungspflicht für den Strassenunterhalt, Ersatzabgabe; unter Bezugnahme auf 8. Aufl., S. 416); BGE 105 Ia 349, 352 (E.2.a), Urteil vom 13. Juli 1979 (Verwaltungsverordnung; unter Bezugnahme auf 8. Aufl., S. 61 ff.). 36 So die Kennzeichnung durch Zaccaria Giacometti, Fritz Fleiner, 24. Januar 1867 – 26. Oktober 1937, in: Schweizerische Juristenzeitung (SJZ) 34 (1937/38), S. 145–149, hier S. 146. 37 Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), S. 448. 38 In Giacomettis Neubearbeitung (Anm. 5) fehlt ein entsprechendes Kapitel (sie ist mit 939 Textseiten trotzdem weit umfangreicher als die erste Ausgabe). Die Gliederung und der Inhalt sind auch sonst in mehrfacher Hinsicht stark verändert. 39 Vgl. Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), Titel zu § 34 sowie die Erörterungen auf S. 309–317.
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der Volksinitiative (als „Antrag aus dem Volk […] an das Volk“)40. Auch hielt sich Fleiner mit rechtspolitisch motivierten Stellungnahmen nicht zurück, so etwa in der Frage der (noch heute) fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Bundesgesetzgeber und der (damals noch) fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene.41 In einem ausführlichen Unterkapitel über „Die Religionsfreiheit und ihre Schranken“ rechtfertigte Fleiner dezidiert die 1848 bzw. 1874 beschlossenen anti-katholisch motivierten konfessionellen Ausnahmeartikel42 als „Schutzwälle für den inneren Frieden“.43 Im Schlusswort44 finden sich aktuell gebliebene Überlegungen zu den Vorzügen der „reinen Demokratie“ (wie Fleiner die direkte Demokratie mitunter nannte) – als Staatsform, die den Bürger in höherem Masse als jede andere „zum Gemeinsinn und zur politischen Verantwortlichkeit erzieht“. Fleiner weist auf den gelegentlich „absolutistischen“ Zug der direkten Demokratie hin,45 betont zugleich aber auch die (von ausländischen Beobachtern mitunter übersehenen) wirksamen Gegenkräfte (wie Anerkennung einer weiten staatsfreien Sphäre des Einzelnen, Beschränkung der Staatsaufgaben, Bundesstaatlichkeit). Bemerkenswert ist auch der folgende Satz aus der Feder eines der Begründer der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft: „Jede Bureaukratie ist undemokratisch, nicht nur als Organisationsform, sondern auch dem ganzen in ihr herrschenden Geiste nach.“ (Bundesstaatsrecht, S. 762). Selbst nach dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung im Jahr 2000 wird das „Bundesstaatsrecht“ in Rechtsprechung und Lehre gelegentlich zitiert.46
40 Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), S. 398, dies eng angelehnt an eine Formulierung in einem Urteil des Bundesgerichts vom 2. März 1899 (BGE 25 I 64 ff., 77, E.5). 41 Vgl. Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), S. 276 (mit Fn. 8) bzw. S. 172 („das Unzulängliche des gegenwärtigen Zustandes“). Vgl. auch die Kritik am limitierten Anwendungsbereich der staatsrechtlichen Beschwerde (Verfassungsbeschwerde) auf S. 443 (anders in diesem Punkt die Posi tion Giacomettis in der Neubearbeitung, Anm. 5, S. 886 f.). 42 Die Ausnahmeartikel statuierten insbesondere ein Jesuitenverbot sowie ein Kloster- und Ordensneugründungsverbot; sie hielten sich sehr lange im Verfassungstext (in der Hauptsache bis 1973, teils bis 2001). 43 Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), S. 325–367, S. 329 (Zitat). Giacometti übernahm die markantesten Passagen wörtlich (vgl. Neubearbeitung 1949, Anm. 5, S. 315). – An anderer Stelle ritt Fleiner eine heftige Attacke gegen die Wiederherstellung der Nuntiatur in Bern durch den Bundesrat: Die Nuntiatur diene als „Werkzeug der katholischen Propaganda gegen die Ketzerei“ (Bundesstaatsrecht, Anm. 1, S. 731 f. mit Fn. 7). Dazu Kley (Anm. 11), S. 143 ff. 44 Fleiner, Bundesstaatsrecht (Anm. 1), S. 758–764. Im Fleiner/Giacometti von 1949 (Anm. 5) fehlt ein Pendant. 45 Zum idyllisch überzeichneten Bild der reinen Demokratie bei Fleiner kritisch Kley (Anm. 11), S. 128 f. 46 Gewöhnlich die Neubearbeitung von 1949. Vgl. z. B. BGE 127 I 97, 102 (E.4.c), Urteil vom 29. Juni 2001 (Tragweite des Grundrechts der Niederlassungsfreiheit); Giovanni Biaggini, Bundes-
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Die beiden grossen Monographien werden durch mehrere gewichtige kleinere Arbeiten flankiert, die Fleiner in Festschriften oder als selbständige Schriften veröffentlichte. In deutschen juristischen Fachzeitschriften publizierte Fleiner selten, wenn man von den Buchbesprechungen absieht.47 In seinen kleineren Beiträgen befasste sich Fleiner mit vielfältigen Themen. Besondere Aufmerksamkeit fanden immer wieder kirchenrechtliche Fragen, staatstheoretische Themen sowie rechtspolitische Fragestellungen (insb. Ausbau der Verwaltungs‑ und der Verfassungsgerichtsbarkeit).48 Fleiner interessierte sich stark für die historischen Entwicklungen und ging gerne typologisch vor, so etwa in seinem Beitrag in der Festgabe für Otto Mayer über „Beamtenstaat und Volksstaat“ (1916).49 Davon, dass die wissenschaftlichen Interessen und Leistungen von Fritz Fleiner weit über die noch junge Disziplin des Verwaltungsrechts und die Fortentwicklung der juristischen Methode hinausreichen, zeugen auch akademische Ehrungen wie die Verleihung von Ehrendoktoraten der politischen Wissenschaft (Universität Tübingen, 1906), der Soziologie (Universität Genf, 1916), der Theologie (Universität Zürich, 1931)50 oder die Wahl zum Präsidenten des Institut International de
verfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, Zürich 2007, N 12 zu Art. 1 (Konzept des Staatsvolks); Yvo Hangartner, Grundsatzfragen der Einbürgerung nach Ermessen, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl) 110/2009, S. 293–314, S. 297; Andreas Zünd/Christoph Errass, Die polizeiliche Generalklausel, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (ZBJV) 147/2011, S. 261–293, S. 275. 47 Vgl. die Auswahlbibliographie am Ende dieses Beitrags sowie die umfassende Bibliographie bei Müller (Anm. 3), S. 332–348, insb. S. 339–342 (Rezensionen). Hingegen veröffentlichte Fleiner immer wieder im „Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung“ (ZBl; heute: „für Staats- und Verwaltungsrecht“) sowie in der „Zeitschrift für Schweizerisches Recht“ (ZSR). 48 Statt vieler seien hier genannt: Entstehung und Wandlung moderner Staatstheorien in der Schweiz (Zürcher Antrittsvorlesung), Zürich 1916; Schweizerische und deutsche Staatsauffassung (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 67), Tübingen 1929; Die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetze durch den Richter, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 1934, S. 1a–35a. Vgl. auch die Auswahlbibliographie. 49 In der späteren Literatur wird der „Volksstaat“ oft mit der Schweiz, der „Beamtenstaat“ mit Deutschland identifiziert. In deutlichem Kontrast dazu steht Fleiners Aussage im „Bundesstaatsrecht“: „Der Bund hat sich von Anbeginn an als Beamtenstaat entwickelt, im Gegensatz zum Volksstaat der Kantone.“ (Anm. 1, S. 762) 50 Vgl. Müller (Anm. 3), S. 15, 21, 23. Zudem verlieh die Universität Strassburg Fleiner ein Ehrendoktorat der Jurisprudenz (1934). – Das „Schweizerische Bundesstaatsrecht“ ist der „Universität Genf und ihrer Staatswissenschaftlichen Fakultät gewidmet zum Dank für die [Verleihung der] Würde eines Ehrendoktors“.
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Droit Public in Paris (1930–1933) und zum Vizepräsidenten des Internationalen Instituts für Verfassungsgeschichte in Paris (1936).51
Rechtspolitisches und sonstiges öffentliches Wirken Fritz Fleiner hat nicht nur als Wissenschaftler und akademischer Lehrer grosse Verdienste erworben, sondern auch als engagierter Verfechter der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere als (mitunter glückloser und enttäuschter) Vorkämpfer der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Im Jahr 1905 führte Basel-Stadt als einer der ersten Kantone die Verwaltungsgerichtsbarkeit ein. Fleiner hatte das entsprechende Gesetz entworfen.52 Über lange Jahre hinweg wurde Fleiner vom Bundesrat (Bundesregierung) als Experte herangezogen mit dem Auftrag, die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen für die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene zu erarbeiten. Fleiner verfasste mehrere Gesetzesentwürfe.53 In der Frage der gerichtlichen Zuständigkeit wandelte sich Fleiner vom Befürworter der Enumerations-Methode zu einem dezidierten Verfechter des Systems der Generalklausel. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als der Bundesrat, der zunächst der Generalklausel-Lösung gewogen war, und dann auch der Bundesgesetzgeber wegen starker Gegnerschaft auf Seiten von Verwaltung und Justiz auf die Enumerations-Lösung einschwenkten. Erst im Jahr 1968 war in der Schweiz die Zeit reif für eine Teil-Generalklausel. Und erst eine grundlegende Reform der Justiz auf Bundesebene, die Anfang 2007 wirksam wurde, sorgte für die Verwirklichung von Fleiners Herzensanliegen. Als Befürworter der richterlichen Kontrolle des Gesetzgebers setzte sich Fleiner auch für einen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit im Bund ein, insbesondere für eine Änderung der in der Bundesverfassung verankerten Regel, wonach Bundesgesetze für das Bundesgericht „massgebend“ sind, d. h. selbst dann angewendet werden müssen, wenn sie sich als verfassungswidrig erweisen sollten.54 Unter anderem unterstützte er, zusammen mit seinem Schüler und
51 Vgl. Müller (Anm. 3), S. 23, 26. – Zum 60. und zum 70. Geburtstag wurde Fritz Fleiner mit Festschriften geehrt (erstere mit Beiträgen in drei Sprachen unter anderem von Jèze, Kelsen, Stier-Somlo). 52 Dazu Kölz, Verfassungsgeschichte II (Anm. 34), S. 352, 851 ff.; Müller (Anm. 3), S. 305 ff. 53 Dazu Müller (Anm. 3), S. 308 ff., und B. Schindler (Anm. 30), S. 124 ff. (je mit Nachweisen). 54 Die 1874 geschaffene Regel (Art. 113 Abs. 3 BV 1874) ist nach wie vor geltendes Recht (Art. 190 BV). Vgl. auch Fleiners Referat zum schweizerischen Juristentag 1934 über „Die Prüfung der Ver-
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Zürcher Fakultätskollegen Giacometti, eine Volksinitiative „zur Wahrung der verfassungsmässigen Rechte der Bürger“ (Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit), die am 29. Juni 1936 mit 58‘690 gültigen Unterschriften eingereicht wurde, jedoch in der eidgenössischen Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 erwartungsgemäss deutlich abgelehnt wurde.55 Wie andere schweizerische Staatsrechtslehrer, die das 20. Jahrhundert prägten, befasste sich auch Fleiner immer wieder und ausgiebig mit Fragen der Politik.56 Er engagierte sich als Verteidiger des Liberalismus und verurteilte im Schlusswort seines „Bundesstaatsrechts“ die sozialistische Lehre des Klassenkampfes als „der Demokratie feindlich“ (S. 759). Mit deutlichen Worten wandte sich Fleiner in einem am 15. Oktober 1933 in seiner Geburtsstadt Aarau gehaltenen Vortrag gegen „Die neuen Staatstheorien“ (d. h. Faschismus und Nationalsozialismus), deren antidemokratischen und antiliberalen Charakter und deren Unvereinbarkeit mit der schweizerischen Staatsauffassung er hervorhob.57 Dass Fleiner weit über die universitäre und juristische Fachwelt hinaus ein gefragter Redner war, bezeugen etwa die Ansprache, die Fleiner am 3. Mai 1931 in Liestal anlässlich der Einweihung des Denkmals zu Ehren des Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler (1845–1924) hielt, oder die Radio-Ansprache an die Auslandschweizer, gehalten am 1. August 1934 (von Zürich aus).58 Privat standen Fritz Fleiner und seine Gattin Fanny in den Zürcher Jahren unter anderem in Kontakt mit dem Ehepaar James und Nora Joyce sowie mit Thomas Mann und seiner Frau Katja.59
fassungsmässigkeit der Bundesgesetze durch den Richter“, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 1934, S. 1a–35a. 55 Zur Rolle Fleiners (mit unterschiedlicher Akzentsetzung): Kley (Anm. 11), S. 170 ff.; Kölz, Verfassungsgeschichte II (Anm. 34), S. 772 und 827 ff. 56 Vgl. Kley (Anm. 11), S. 390; Müller (Anm. 3), passim. Erwähnt sei hier auch der 1916 in Zürich gehaltene Vortrag „Politik als Wissenschaft“, in: Ausgewählte Schriften und Reden (Anm. 14), S. 181–196. – Fleiner hatte zwar nie ein politisches Amt inne, gehörte jedoch in seiner Basler Zeit von 1898 bis 1904 als (vom Volk gewähltes) nebenamtliches Mitglied dem obersten kantonalen Gericht (Appellationsgericht) an. 57 Dazu Kley (Anm. 11), S. 147 ff.; dort auch zu Fleiners Haltung in der Frage der Totalrevision der Bundesverfassung (a. a. O., S. 166). 58 Abgedruckt in: Ausgewählte Schriften und Reden (Anm. 14), S. 413–416 bzw. S. 442–444. 59 Vgl. Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer (Anm. 14), S. 373 (Joyce); Müller (Anm. 3), S. 189 f. (mit Fn. 118, wo ein Brief zitiert wird, in welchem Thomas Mann von Fritz Fleiner als seinem „verstorbene[n] Gönner“ spricht). Bei Müller (Anm. 3), S. 20 und S. 190, auch Hinweise auf die Tagebucheinträge von Thomas Mann vom 19.12.1934 („Abendgesellschaft bei Fleiners am Zürichberg“) und vom 29.9.1937 („Nachmittags mit K. nach Ascona zu Fleiners“).
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Würdigung Der Nachruhm Fritz Fleiners gründet im Wesentlichen auf seinen grossen Leistungen als Mitbegründer der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft nach der juristischen Methode60 und als Verfasser der „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“.61 Es wäre jedoch verfehlt, Fleiner auf diese verwaltungsrechtliche Dimension zu reduzieren. Als Autor eines „Klassikers“ zum Schweizerischen Bundesstaatsrecht nimmt er auch in der Staatsrechtslehre eine besondere Stellung ein.62 Weiter kommt ihm die Rolle einer „Schlüsselfigur d[es] Wissenschaftstransfers“ zu,63 dies nicht nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland, sondern auch darüber hinaus, in sprachlich-geografischer wie in methodisch-disziplinärer Hinsicht. Auch hatte Fleiner stets einen offenen Blick für neue Entwicklungen, wie der Abschnitt über die „Neue[n] Organisationsformen“ in der 8. Auflage der „Institutionen“ und das Interesse für frühe Erscheinungsformen der Infrastrukturverwaltung und des (Gewähr-) Leistungsstaates im Kapitel über die Verwaltung im „Bundesstaatsrecht“ belegen. Die „Institutionen“ und das „Bundesstaatsrecht“ spielten in der Schweiz während Jahren eine prägende Rolle. So verwundert es nicht, dass Fleiner mitunter als „geistiger Übervater“ wahrgenommen wurde. In der Verwaltungsrechtswissenschaft setzte erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich eine Emanzipationsbewegung ein, die um 1960, ein gutes halbes Jahrhundert nach Erscheinen der 1. Auflage der „Institutionen“, zu breiterer Entfaltung kam.64 Selbst Max Imboden (1915–1969), der sich in den 1950er und 1960er Jahren als Erneuerer des Verwaltungsrechts hervortat, trat in mancher Hinsicht das Erbe Fleiners an.65
60 Wie Peter Schneider berichtet, wurde Fleiner geradezu als „Papst der ‚juristischen Methode‘“ wahrgenommen – und von studentischer Seite entsprechend karikiert (Geisteswissenschaften in den Zwanziger Jahren: Staatstheorie in der Schweiz und in Deutschland, in: Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, hrsg. von Knut Wolfgang Nörr u. a., Stuttgart 1994, S. 187–211, hier S. 197). 61 In diesem Sinne bereits Zaccaria Giacometti in einem Nachruf, der Mitte November 1937 in der Schweizerische Juristenzeitung veröffentlicht wurde: „Fritz Fleiner wird in erster Linie als der Meister des deutschen Verwaltungsrechts fortleben.“ (in: SJZ 1937/38, Anm. 36, S. 145). 62 Zu Fleiner als „Altmeister des Verfassungsrechts“ Kölz, Verfassungsgeschichte II (Anm. 34), S. 825 und 899 f. 63 So B. Schindler, Verwaltungsermessen (Anm. 30), S. 92. 64 Vgl. B. Schindler (Anm. 33), ZSR 2011 II, S. 349 ff. und S. 352 (Übervater); Markus Müller, Verwaltungsrecht, Eigenheit und Herkunft, Bern 2006, S. 75 ff., insb. 102 ff. 65 Vgl. Kley (Anm. 11), S. 403 ff., 406.
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Auch heute werden immer wieder Stimmen laut, die Fritz Fleiner dafür verantwortlich machen, dass obrigkeitsstaatlich geprägte Elemente des deutschen Verwaltungsrechts kritiklos in die schweizerische Verwaltungsrechtspraxis und -lehre übernommen wurden.66 Der Vorwurf trifft wohl eher unkritische Adepten als Fleiner selbst, der – im Gegensatz zu Otto Mayer – stets die starke Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts betonte, nicht zuletzt im Vorwort zur 8. Auflage seiner „Institutionen“: „Die Neugestaltung des Verfassungsrechts hat in Deutschland einen starken Einfluss auch auf das Verwaltungsrecht ausgeübt.“67
Auswahlbibliographie Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 (Basler Antrittsvorlesung), Basel 1898. Über die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht (Tübinger Antrittsvorlesung), Tübingen 1906. Einzelrecht und öffentliches Interesse, in: Festgabe für Paul Laband, Bd. 2, Tübingen 1908, S. 1–39. Verwaltungsrechtsfälle zum akademischen Gebrauch bearbeitet, Tübingen 1908 (3. neubearbeitete Auflage 1929). Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, Tübingen 1911 (8. neubearbeitete Auflage, Tübingen 1928; unveränderter „Neudruck für die Schweiz“, Zürich 1939). Beamtenstaat und Volksstaat, in: Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 29–57. Entstehung und Wandlung moderner Staatstheorien in der Schweiz (Zürcher Antrittsvorlesung), Zürich 1916. Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923 (die von Zaccaria Giacometti besorgte „Neubearbeitung der ersten Hälfte“ der Ausgabe von 1923 erschien 1949 in Zürich). Schweizerische und deutsche Staatsauffassung (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 67), Tübingen 1929. Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung in ihrem gegenseitigen Verhältnis im Rechte Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, in: VVDStRL (6), 1929, S. 2–24. Die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetze durch den Richter, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 53 (1934), S. 1a–35a. Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941.
66 In diesem Sinne jüngst z. B. Markus Schefer, Öffentlichkeit und Geheimhaltung in der Verwaltung, in: Die Revision des Datenschutzgesetzes (hrsg. von Astrid Epiney und Patrick Hobi), Zürich 2009, S. 67–97, S. 74 (wonach Fleiner und seine Institutionen „[e]ntscheidend für diese Übernahme“ gewesen seien). 67 Fleiner, Institutionen (Anm. 2), 8. Aufl., S. V. – Zur Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts und zur Prägung durch institutionelle Gegebenheiten vgl. auch Institutionen (Anm. 2), 1. Aufl., S. 34 ff., 8. Aufl., S. 35 ff. und passim, sowie den Beitrag zur Festgabe für Otto Mayer über „Beamtenstaat und Volksstaat“.
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Über Fritz Fleiner (Auswahl) Giacometti Zaccaria, Fritz Fleiner, 24. Januar 1867 – 26. Oktober 1937, in: Schweizerische Juristenzeitung 34 (1937/38), S. 145–149. Im Hof Adolf, Fritz Fleiner 1867–1937, in: Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, Zürich 1945, S. 455–483. Kley Andreas, Geschichte des Öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich/St.Gallen 2011, S. 68 ff., S. 487 f. und passim. Kley Andreas, Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Zürich 2014, S. 169 ff. und passim. Müller Roger, Verwaltungsrecht als Wissenschaft: Fritz Fleiner 1867–1937, Diss. Zürich, Frankfurt a. M. 2006 (mit ausführlicher Dokumentation zum akademischen und publizistischen Wirken, S. 325–397). Schindler Dietrich (jun.), Fritz Fleiner 1867–1937, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 40 (1991/1992), S. 175–177.
VIII Heinrich Triepel (1868–1946) Andreas von Arnauld
I. Leben Heinrich Triepel, am 12. Februar 1868 in Leipzig geboren, wuchs in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf.1 Nach dem Besuch der Thomasschule studierte er ab 1886 in Freiburg und Leipzig Rechtswissenschaft. Sein erstes Staatsexamen legte Triepel 1890 ab und trat kurz darauf in den juristischen Vorbereitungsdienst ein. Noch während des Referendariats wurde er an der Leipziger Juristenfakultät 1891 mit einer Arbeit zum Interregnum summa cum laude promoviert. Der Fürsprache des „Lehrers und väterlichen Freundes“2 der Leipziger Zeit, Karl Binding, dürfte zu verdanken sein, dass die Arbeit 1893 von der Juristenfakultät zugleich als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Nach dem zweiten Staatsexamen trat Triepel 1894 eine Stelle als Hilfsrichter in der sächsischen Justiz an. Nunmehr materiell abgesichert, heiratete er am 10. August desselben Jahres seine Verlobte Marie Ebers, die Schwester eines Jugendfreundes. Die Doppelbelastung als Privatdozent und Richter brachte Triepel 1897 schließlich dazu, aus gesundheitlichen Gründen um seine Entlassung aus dem Justizdienst nachzusuchen, um sich ganz seinen Aufgaben in Forschung und Lehre zu widmen. Der wissenschaftliche Durchbruch gelang Triepel 1899 mit seinem Buch „Völkerrecht und Landesrecht“, das ihm nicht nur eine außerordentliche Professur an seiner Heimatfakultät eintrug, sondern seinen Namen über die Grenzen des Reichs hinaus bekannt machte (Übersetzungen ins Italienische und Französische folgten 1913 bzw. 1920). Schon kurz darauf ereilte ihn der Ruf an die Universität
1 Praktisch alle Informationen zu Leben und Werk Triepels verdanke ich der umfassenden Studie von Ulrich Gassner, Heinrich Triepel: Leben und Werk, Berlin 1999. An vertieften Würdigungen von Person und Werk sind daneben hervorzuheben: Carl Bilfinger, In memoriam Heinrich Triepel, ZaöRV 13 (1950/51), S. 1–13; Rudolf Smend, Heinrich Triepel, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd. 2, Tübingen 1966, S. 107–120; Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, AöR 91 (1966), S. 417–441; Ralf Poscher, Heinrich Triepel, in: Arthur J. Jacobson/Bernhard Schlink (Hrsg.): A Jurisprudence of Crisis, Berkeley 2000, S. 171–176; Christian Tomuschat, Heinrich Triepel (1868–1946), in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 497–521. 2 Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. VI.
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Tübingen, wo er am 1. Oktober 1900 die Nachfolge von Gerhard Anschütz antrat. Den damaligen Gepflogenheiten des Hauses entsprechend verlieh die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen Triepel 1901 den Dr. sc. pol. h.c. Die Tübinger Jahre sollten sich für ihn als prägend erweisen, namentlich durch die Begegnung mit der Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz um Philipp Heck und Max Rümelin. Die in dieser Zeit offen vollzogene Hinwendung Triepels zu einem stärker politischen Verständnis des Rechts kommt deutlich im Untertitel der wichtigsten Frucht seiner Tübinger Jahre zum Ausdruck, der 1907 veröffentlichten Monographie „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche: Eine staatsrechtliche und politische Studie“. 1909 nahm Triepel einen Ruf nach Kiel an, der ihn nach Preußen führte und damit näher an das Ziel seiner beruflichen Wünsche, Berlin. Während der „Übergangszeit“3 in Kiel war die Begegnung mit Albert Hänel (1833–1918) wohl besonders bedeutsam, der mit seinem dezidiert antipositivistischen und rechtsvergleichenden Ansatz Triepel bereits in dessen Tübinger Zeit methodisch beeinflusst hatte. Die Funktionen als Berater des Reichsmarineamtes und als Lehrer an der kaiserlichen Marineakademie rückten für einige Zeit see- und kriegsvölkerrechtliche Fragen in den Mittelpunkt von Triepels publizistischen Interessen. Zugleich dürfte der direkte Kontakt zu militärischen und politischen Kreisen seinem Selbstverständnis einer auch praktisch wirksamen Rechtswissenschaft entgegengekommen sein.4 Zum 1. Oktober 1913 wurde Triepel als Nachfolger seines langjährigen Mentors Ferdinand v. Martitz (1839–1921)5 nach Berlin an die Friedrich-WilhelmsUniversität berufen, damit die Fakultät „ihrer bewährten Tradition, eine Pflanzstätte für die Wissenschaft des internationalen Rechts zu sein, auch in Zukunft treu bleibe“.6 Umgeben von namhaften Fakultätskollegen wie Gerhard Anschütz, James Goldschmidt, Erich Kaufmann, Eduard Kohlrausch, ab 1922 auch Rudolf Smend, entfaltete Triepel, der im März 1914 durch kaiserlichen Erlass zum Geheimen Justizrat ernannt worden war, ein umfangreiches Wirken als wissenschaftlicher Publizist und Mitherausgeber wichtiger Fachzeitschriften, als akademischer
3 Smend (Fn. 1), S. 111. 4 Siehe hierzu auch: Der Seeoffizier und das Studium des Völkerrechts, Marine-Rundschau 22 (1911), S. 1217–1240, 1515–1538. 5 Vgl. zu ihm das differenzierte Portrait von Heinrich Triepel, Ferdinand von Martitz: Ein Bild seines Lebens und seines Wirkens, in: Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht 30 (1923), S. 155–170. 6 Bericht der Juristischen Fakultät an das Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten vom 13. Dezember 1912, zitiert nach Gassner (Fn. 1), S. 76, und Tomuschat (Fn. 1), S. 500.
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Lehrer, in der akademischen Selbstverwaltung, in Fachverbänden und im Dialog mit der Politik (hierzu Näheres unter II.). 1924 war er maßgeblich an der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht beteiligt, in dessen Räumlichkeiten er nach seinem Ausscheiden aus der Berliner Fakultät Asyl fand. Für Smend war Triepel in der Zeit vor 1933 die „geistig und sittlich überragende Figur des Fachs“7 in der Berliner Fakultät. Wie viele andere Mitglieder der Zunft hatte Triepel die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu Beginn, wenn auch verhalten, begrüßt. Eine „jüdische Versippung“ (sein Schwiegervater war vom Judentum zum Protestantismus konvertiert) und die fehlende Bereitschaft, rechtsstaatliche ebenso wie akademische Prinzipien aufzugeben, führten jedoch schon bald zu einer zunehmenden Isolierung Triepels. 1934 wurde er aus rassistischen Gründen vom Corps Suevia ausgeschlossen, dem er seit seiner Freiburger Studentenzeit angehört hatte (für Triepel eine tiefe persönliche Kränkung, die ihn nach Aussage seiner Enkeltochter an Selbstmord denken ließ); im März 1935 wurde er emeritiert, an ein Hinausschieben der Altersgrenze war unter den Umständen nicht zu denken; die üblichen akademischen Ehrenbezeugungen zu seinem 70. und seinem 75. Geburtstag unterblieben.8 Einzig seine Heimatfakultät in Leipzig erneuerte am 2. Juli 1941 zum goldenen Doktorjubiläum die Würde des doctor iuris für einen „unbeirrten Vorkämpfer für die Idee des Rechts und die Gerechtigkeit in harter und dunkler Zeit“.9 Bereits 1927 hatte der begeisterte Bergwanderer Triepel in Untergrainach am Fuße der Zugspitze ein Ferienhaus erworben. Dort befand er sich mit seiner Familie, als im Februar 1944 seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg bei einem Bombenangriff vollständig zerstört wurde. Eine Rückkehr nach Berlin kam, auch aus gesundheitlichen Gründen, für ihn nicht mehr in Betracht. Verarmt und nach einer missglückten Augenoperation im April 1945 fast erblindet, starb Heinrich Triepel, noch bis zum Schluss wissenschaftlich tätig, in den Morgenstunden des 23. November 1946 in Untergrainach. Sein Grab auf dem Obergrainauer Bergfriedhof wurde 1988 aufgelöst.
7 Rudolf Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Hans Leussink u. a. (Hrsg.), Studium Berolinense: Gedenkschrift, Berlin 1960, S. 109–128 (123). 8 Anna-Maria Gräfin v. Lösch, Der nackte Geist: Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 376 ff. 9 Urkundentext, zitiert nach Gassner (Fn. 1), S. 104.
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II. Wirken Eine Würdigung der Lebensleistung Heinrich Triepels darf nicht allein auf seine Schriften bauen. Wie nur wenige Staatsrechtslehrer seiner Zeit war Triepel auch als akademischer Lehrer sowie als Hochschul- und Verbandspolitiker einflussreich. Im Abstand von vielen Jahrzehnten lässt sich das Wirken eines Hochschullehrers nur eingeschränkt würdigen. Es war jedoch u. a. seine Begabung für die Lehre, die Triepel bereits den Weg auf seinen ersten Lehrstuhl in Tübingen geebnet hatte. Von einigen Hörern seiner Berliner Vorlesungen liegen lebendige Schilderungen seiner Lehrmethoden vor.10 Wie sehr Triepel sich als Lehrer verstand, mag auch die Bezeichnung der von ihm maßgeblich ins Leben gerufenen Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer unterstreichen: In seinem Einladungsschreiben vom 22. Juni 1922 formulierte er ausdrücklich als eines der Ziele der neuen Vereinigung, „über die zweckmäßige Behandlung des öffentlichen Rechts im akademischen Unterricht und in den Prüfungen Rats zu pflegen“.11 „Im amtlichen, kollegialen, wissenschaftlichen Miteinander“ war Triepel, wie Smend berichtet, „verbindlich, aber charaktervoll-überzeugungskräftig – nur dem ganz Ungehörigen widerfuhr gelegentlich eine schneidige Abfuhr durch den alten Korpsstudenten.“12 Unter den Ämtern in der akademischen Selbstverwaltung ragt sein Rektorat im akademischen Jahr 1926/27 heraus. Neben den repräsentativen und administrativen Funktionen, die Triepel dem Benehmen nach mit großer Professionalität ausfüllte, sind aus dieser Zeit namentlich die beiden Rektoratsreden zu erwähnen.13 Bilfinger und Smend haben sich als Ohrenzeugen an die Worte erinnert, mit denen Triepel 1927 den Rektormantel seinem Nachfolger übergab und die für beide sein Amtsverständnis zum Ausdruck brachten: „Dieser Mantel ist schwer, und das ist gut, man kann ihn nicht so leicht nach dem Wind hängen.“14 In seiner Zeit war der Name Triepels insbesondere auch durch die Herausgabe von Gesetzes- und Vertragssammlungen geläufig: der „Quellensammlungen zum Deutschen Reichsstaatsrecht“ (von 1901 bis 1931) sowie des berühmten, 1791 von
10 Näher Gassner (Fn. 1), S. 80 ff. Freilich gab es auch kritische Stimmen: So fühlte sich Carl Hermann Ule durch „seine ständige, und wie mir schien, unsachliche Polemik gegen die Wiener Schule, vor allem gegen Alfred Verdroß“ „eher abgestoßen“: Ein juristisches Studium vor über 50 Jahren, Köln u. a. 1982, S. 24. 11 Zitiert nach Gassner (Fn. 1), S. 133 f. 12 Smend (Fn. 1), S. 119. 13 Staatsrecht und Politik, 15. Oktober 1926; Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 3. August 1927. 14 Bilfinger (Fn. 1), S. 13; Smend (Fn. 7), S. 124; ders. (Fn. 1), S. 119.
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Georg Friedrich von Martens begründeten „Nouveau Recueil Général de Traités“ (von 1909 bis 1944), das Triepels internationalen Ruf festigte. Dass er solche Editionen als notwendige Handreichung für den Rechtsunterricht betrachtete,15 unterstreicht noch einmal die Bedeutung, die Triepel der Rechtslehre beimaß. Einen Eindruck von seiner Position in der Zunft vermittelt die große Zahl juristischer Fachzeitschriften, die Triepel über Jahre hinweg mitherausgegeben hat: Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht (1915–33), Archiv des öffentlichen Rechts (1919–34), Revue de droit international, de sciences diplomatiques, politiques et sociales (1923–41), Jahrbuch des öffentlichen Rechts (1927–38), Deutsche Juristen-Zeitung (1928–33). Nach dem (nicht immer ganz freiwilligen) Rückzug von diesen Herausgeberschaften war es v. a. die von ihm seit der Gründung 1929 mitherausgegebene Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, die Triepel (bis 1944) als Refugium diente und die in dieser Zeit „mit ganz geringen Ausnahmen, das wissenschaftliche Niveau gehalten und sich nicht kompromittiert“ hat.16 Unter den Fachverbänden, denen Triepel angehörte, ist zunächst das Institut de Droit International zu nennen, das ihn 1910 als associé kooptierte. Gemeinsam mit den anderen deutschen Mitgliedern erklärte er 1920 wegen eines Streites über die Kriegsschuldfrage seinen Austritt. Eine internationale Isolierung Triepels hatte dieser Schritt nicht zur Folge: Bereits 1923 wurde er eingeladen, als erster Deutscher an der neu gegründeten Haager Akademie für internationales Recht seine große Vorlesung zu halten,17 1927 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Institut International de Droit public,18 1928 wurde er Mitglied des deutschniederländischen Ständigen Vergleichsrates. Der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht trat Triepel einer Trübung in seinem Verhältnis zu Theodor Niemeyer wegen erst einige Jahre nach deren Gründung 1917 bei, wirkte dann aber als Mitglied verschiedener Kommissionen (für Nationalitätenrecht, für den Nachwuchs, für Minderheitenschutz) und ab 1923 als Mitglied des Rates mit. Aktiv beteiligte
15 Vgl. Gassner (Fn. 1), S. 59 ff. 16 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur: 1914–1945, München 1999, S. 394. Als eine der Ausnahmen nennt Stolleis zu Recht Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, ZaöRV 12 (1944), S. 34–82. Hierzu auch Mathias Schmöckel, Die Großraumtheorie: Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994, S. 157, 196 ff., passim. 17 Les rapports entre le droit interne et le droit international, Recueil des Cours de l‘Académie de Droit International (RdC) 1 (1923), S. 73–121. 18 Zu den anderen Gründungsmitgliedern zählten u. a. Joseph Berthélémy, Fritz Fleiner, Maurice Hauriou, Hans Kelsen, Walther Schücking, Fritz Stier-Somlo.
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sich Triepel zudem in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Berlin, in der er zwischen 1915 und 1937 mehrfach zu aktuellen und grundsätzlichen Fragen des Staats- und Völkerrechts referierte,19 und im Verein „Recht und Wirtschaft“, an dessen Verfassungsentwurf er 1918/19 u. a. zusammen mit Erich Kaufmann mitarbeitete. Als Mitglied, später Vorsitzender der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (DJT) hat Triepel seinen Einfluss geltend gemacht, das bis dahin als zu politisch gemiedene Öffentliche Recht zum Verhandlungsgegenstand zu erheben, und ist selbst zweimal als Berichterstatter aufgetreten (1921, 1924). Bleibende Verdienste hat Triepel sich vor allem durch seine Rolle bei der Gründung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VDStRL) erworben, die maßgeblich auf seine Initiative zurückging. Als allseits respektierter Kollege und Angehöriger der älteren, dem Kaiserreich (nostalgisch?) verhafteten Generation, als geübter Organisator und als Vertreter einer gemäßigten Positivismuskritik war er in besonderer Weise geeignet, ein Forum für die Diskussion und zur kollegialen Integration einer Disziplin ins Leben zu rufen, der durch den Weimarer Methodenstreit und die hinter ihm schwelenden politischen Konflikte die Spaltung drohte.20 Als Vorsitzender von 1922 bis 1926 war Triepel darauf bedacht, die unterschiedlichen Strömungen zu Wort kommen zu lassen.21 Er selbst referierte 1928 in Wien gemeinsam mit dem „Bannerträger“ des Neopositivismus,22 Hans Kelsen, über „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“. Vom „nimmermüden Integrationswillen“23 des Endfünfzigers war in der Zeit des Ersten Weltkriegs noch wenig zu erahnen. Damals trat Triepel – wie viele Intellektuelle seiner Zeit – mit wenig kompromissfreudigen nationalistischen und bellizistischen Positionen hervor: Im Juni 1915 gehörte er zu den Unterzeichnern der sog. Intellektuelleneingabe („Seeberg-Adresse“), die annexionistische Kriegsziele formulierte, und schloss sich im Juli 1917 einer neuerlichen Petition an, die einen Verhandlungsfrieden ablehnte. 1918 unterstützte er als Mitunterzeichner
19 Die Freiheit der Meere (31. Januar 1916), Grundfragen der künftigen Reichsverfassung (31. Januar 1919), Glossen zur neuen preußischen Verfassung (24. Juni 1921), Die neueste Entwicklung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit (27. Juni 1924), Verfassungsänderungen (22. März 1929), Über Hegemonie (27. Januar 1933), Auswärtige Politik der Unverantwortlichen (26. November 1937) – letzteres (dem missverständlichen Titel zum Trotz) vermutlich eine erste Fassung des Aufsatzes „Die auswärtige Politik der Privatpersonen, ZaöRV 9 (1939/40), S. 1–30 (zur fehlenden Verantwortlichkeit ebd., S. 23 ff.). 20 Smend (Fn. 7), S. 123 f.; Stolleis (Fn. 16), S. 186 f. 21 Siehe vertiefend Stolleis (Fn. 16), S. 188 ff. 22 Vgl. die Charakterisierung Kelsens als „maître et […] porte-drapeau“ der Wiener Schule, RdC 1 (1923), S. 84. 23 Gassner (Fn. 1), S. 139.
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von Hochschullehreraufrufen zunächst die Oberste Heeresleitung im Ziel eines Annexionsfriedens gegenüber polnischem Gebiet und im Oktober Reichskanzler Max von Baden „gegen einen Frieden der Vergewaltigung“. Dieses Engagement Triepels brachte ihn in den Jahren 1918–1920 in Konflikt mit der „Deutschen Liga für den Völkerbund“ und deren Vorsitzenden, Matthias Erzberger. Besonders konfliktreich waren die – letztlich erfolglosen – Versuche der Liga, den pazifistisch gesinnten Völkerrechtler Walther Schücking nach Berlin zu berufen, denen sich Triepel mit Nachdruck widersetzte.24 Während des Kaiserreichs Mitglied der Deutschen Reichspartei, trat Triepel 1919 der DNVP bei, zu deren Gunsten er Anfang des Jahres zweimal Wahlaufrufe unterstützte. Danach scheint Triepel von politischen Manifesten jedoch weitgehend Abstand gehalten zu haben. Im Juli 1919 lehnte er es ab, eine Erklärung gegen die Auslieferung Wilhelms II. zu unterzeichnen.25 Von der DNVP wurde Triepel durch die Politik Hugenbergs zunehmend entfremdet und hielt in der Spätphase der Weimarer Republik zur Gruppe um Gottfried Treviranus, die Reichskanzler Brüning stützte.26 In „Unitarismus und Föderalismus“ hatte sich Triepel 1907 leidenschaftlich zur Monarchie bekannt: „Wir Deutsche sind ein monarchisches Volk, monarchisch ‚bis in die Knochen‘.“ Wir können ohne Monarchie nicht leben.“27 Dennoch war der „Herzensmonarchist“ Triepel während der Weimarer Zeit weit mehr als bloß ein leidenschaftsloser „Vernunftrepublikaner“.28 Die Weimarer Reichsverfassung hat er stets konstruktiv begleitet:29 durch Mitwirkung am Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft“ 1918/19,30 durch aktive Beteiligung in Verbänden und Kommissionen (Verfassungsausschuss der Länderkonferenz, Historische Reichskommission, Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen Fakultäten usw.), als Mitglied des Staatsgerichtshofs (in seiner Zusammensetzung als Gericht zur
24 Näher Gassner (Fn. 1), S. 94 ff. 25 Triepel hatte selbst bereits im Februar 1919 einen – von politischer Polemik freien – Aufsatz zur völkerrechtlichen Dimension dieser Frage verfasst: Die Auslieferung des Kaisers, in: Deutsche Politik 4 (1919), S. 299–305. 26 Gassner (Fn. 1), S. 181 ff. 27 Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, Tübingen 1907, S. 124. 28 Vgl. die bekannte Sentenz von Friedrich Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Die neue Rundschau 30 (1919), S. 1–16 (2), die Gassner (Fn. 1), S. 183 f., auf Triepel wendet. 29 Freilich mag man das Fehlen einer monographischen Studie Triepels zur WRV als Indiz für eine fehlende Identifikation mit dem Weimarer System insgesamt deuten, als Ausdruck eines empfundenen Verlusts der Einheit und Geschlossenheit der monarchischen Verfassung, der v. a. die „Reichsaufsicht“ (1917) gewidmet war. 30 Siehe dazu auch Triepels „sehr lebendige Studie“ – Smend (Fn. 1), S. 114 – „Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung“, in: Schmollers Jahrbuch 43 (1919), S. 459–510.
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Entscheidung über Anklagen gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister), als Gutachter sowie durch die Auswahl der Themen für DJT und VDStRL. Mit Nachdruck trat er dabei stets für Erhaltung und Stärkung des Rechtsstaates ein. Ein „klassische[r] demokratiekritische[r] Soupçon freiheitlich-konservativen Denkens“31 blieb freilich stets spürbar, am deutlichsten in seiner problematischen Rektoratsrede von 1927. Hier sah er das „nach liberalen Prinzipien geformte Recht“ und eine „massendemokratische Wirklichkeit“ in unversöhnlichem Gegensatz, der überwunden werden müsse im Wege einer „Veredelung der ‚egalitären‘ Demokratie durch ihre Umwandlung in eine Führeroligarchie“ und einen organischen Staatsaufbau.32 In einem Artikel für die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 2. April 193333 knüpfte er an diese Rede an, nachdem er die Machtübernahme durch die NSDAP als Befreiung begrüßt und das Ermächtigungsgesetz als „legale Revolution“ charakterisiert hatte: in den Bahnen des Rechts, aber „unzweifelhaft zu den Grundgedanken der Weimarer Verfassung in vollem Widerspruch“. Die Herausstellung der Legalität, die sich als roter Faden durch den Artikel zieht, nutzt Triepel allerdings argumentativ dazu, die Achtung von rechtsstaatlichen Institutionen, gerade auch von Freiheitsrechten, anzumahnen:34 „Der Kanzler legt Wert darauf, sein Gefühl für das Recht überhaupt zu betonen. Wir nehmen ihn beim Worte. Das Ermächtigungsgesetz hat ihm in bündigster Form die Reichsverfassung zur Verfügung gestellt. Auch den Teil, der die Ueberschrift: ‚Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen‘ trägt. In diesem Kapitel steht manches Wunderliche, manches Kompromißlerische und manches ‚Marxistische‘. Soll es ausgemerzt werden, so weinen wir ihm keine Träne nach. Aber es ist dort auch vieles enthalten, was echtes altes deutsches Rechtsgut darstellt. Darunter manches ‚Freiheitsrecht‘, das man nicht mit einer Handbewegung als Erzeugnis eines überlebten ‚Liberalismus‘ abtun darf […]. Diese Freiheitsrechte können zwar in Not- und Ausnahmefällen angetastet, aber sie können nicht dauernd vernichtet werden. Der deutsche Bauer und der deutsche Arbeiter, aber auch der deutsche Handwerker und der deutsche Gelehrte, sie alle wollen ‚als freies Volk auf freiem Grunde‘ stehen.“
31 Gassner (Fn. 1), S. 117. 32 Die Staatsverfassung und die politischen Parteien (1927), Berlin 1928, Zitate auf S. 28. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. 1971 (Nachdruck 1978), S. 36, sieht hier eine autoritäre Staatstheorie aufziehen. Wohlwollendere Würdigung („liberal-aristokratische Grundauffassung vom Wesen des Parlamentarismus“) bei Hollerbach (Fn. 1), S. 434 ff. Auffällig sind Parallelen zum Staatsrechtslehrer-Referat von Triepels Schüler Gerhard Leibholz, Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, VVDStRL 7 (1932), S. 159–190. Zu dessen Einordnung wiederum Stolleis (Fn. 16), S. 198 f. 33 Abgedruckt bei Martin Hirsch/Diemut Majer/Jürgen Meinck (Hrsg.), Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus, Köln 1984, S. 116–119. 34 Ebd., S. 118.
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Bei aller Deutschtümelei, „Ausmerzungs“-Rhetorik und „Faust II“-Beschwörung: Eine der zeittypischen Ergebenheitsadressen war dies kaum.35 Ähnliches gilt für das Geleitwort Triepels für den 24. Jahrgang des AöR 1934, das Anfang April 1933 publiziert und vom Verlag aus symbolischen Gründen auf Heft 1 des neuen Jahrgangs datiert wurde. Auch hier bekennt sich Triepel dazu, „eine im Werden begriffene verfassungsrechtliche Neubildung Schritt für Schritt verstehend und helfend, hier anfeuernd, dort warnend zu begleiten“ und mahnt, dass „[e]ine neue Zeit […] nicht achtlos beiseiteschieben [dürfe], was von überkommenem Gedankengute brauchbar ist zur Einfügung in den geistigen Neubau der Zukunft“.36 Es ist maßgeblich Triepels Verdienst, dass Versuche, den DJT gleichzuschalten, scheiterten: Er zog dessen dauerhafte Suspendierung vor.37 Sein Engagement für die VDStRL gab Triepel im April 1933 auf, als ihm bewusst wurde, dass Otto Koellreutter dessen Gleichschaltung vorantrieb.38 Nachdem er bereits 1933 als Mitherausgeber der DJZ zurückgetreten war, schied er 1934 auch aus dem Kreis der Herausgeber des AöR aus, das er nach Konzessionen an den neuen Geist „auf einer abschüssigen Bahn“ sah.39 Die Missachtung des Rechtsstaates und seiner Institutionen wie auch die schrittweise Entrechtung enger Freunde (u. a. Erich Kaufmann, Gerhard Leibholz) machten Triepel im nationalsozialistischen Deutschland zu einem Dissidenten,40 obgleich er – nach eigenem Bekunden41 – niemals aktiven Widerstand leistete. Der Partei oder Institutionen des NS-Staates trat er nicht bei.42 In seinem posthum veröffentlichten opus ultimum sollte Triepel die nationalsozialistische Rassegesetzgebung rückblickend als zutiefst unsitt-
35 So auch Gräfin v. Lösch (Fn. 8), S. 151 f. 36 Dazu näher Lothar Becker, „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“: Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 60 ff. 37 Gassner (Fn. 1), S. 131 ff. 38 Gassner (Fn. 1), S. 143, zitiert aus einem Brief an Koellreutter vom 21.4.1933, in dem Triepel diesem mitteilt, sein letztes Schreiben habe ihm „in dankenswerter Weise weiter bestätigt, was ich bisher nur vermuten konnte. Ich sehe jetzt deutlich, wohin die Reise geht, und möchte Ihnen nur sofort sagen, daß ich nicht gesonnen bin, sie mitzumachen.“ 39 Schreiben Triepels an den Verleger Georg Siebeck vom 22. Juli 1933, zitiert nach Gassner (Fn. 1), S. 167. Eingehende Nachzeichnung der Entwicklung des AöR 1933/34 bei Becker (Fn. 36), S. 45–131. 40 So die Einschätzung von Gertrud Rapp, Die Stellung der Juden in der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre, Baden-Baden 1990, S. 170 ff.; Gassner (Fn. 1), S. 188. 41 Personalfragebogen, Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, nach Gassner (Fn. 1), S. 149. 42 Zur einzigen Ausnahme, der Annahme einer ihm 1936 angetragenen Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften, Gassner (Fn. 1), S. 169.
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liches Recht Ekel und Abscheu erregend bezeichnen.43 Nachdem er von verfassungsrechtlichen Fragen längere Zeit Abstinenz geübt hatte, suchte sich Triepel nach Ende des Zweiten Weltkriegs sogleich mit eigenen Beiträgen am Aufbau einer neuen deutschen Verfassungsordnung zu beteiligen.44
III. Werk Die ganze Breite des Werks Heinrich Triepels lässt sich auf knappem Raum nicht würdigen; es ist daher unumgänglich, bestimmte Leitthemen zu identifizieren, die sich bei Triepel zumeist mit monographischen Schriften verbunden haben. „Das formtypologische Signum des Triepelschen Werkes“ ist schließlich, wie Alexander Hollerbach es ausgedrückt hat,45 „die Monographie, in der großen wie in der kleinen Form“. Seinen Namen machte sich Triepel zuallererst als Völkerrechtler. In „Völkerrecht und Landesrecht“ (1899) legte er das theoretischen Fundament einer dualistischen Theorie vom Verhältnis zweier verschiedener Rechtskreise, deren Normen nur durch Transformation vom einen in den anderen Kreis gelangen könnten (S. 111 ff., 169 ff., passim). Diese Theorie verteidigte er noch 1923 in seiner Haager Vorlesung gegen den Monismus der Wiener Schule.46 Triepel präsentierte sich in seiner Schrift als Vertreter einer positivistischen Theorie, die den Geltungsgrund des Völkerrechts im Willen der Staaten verortete, wobei er einen „Gemeinwillen“ als Grundlage jener basalen „Vereinbarung“ postulierte, die das Sprachspiel der Völkerrechtsquellen erst konstituiert (S. 88 f.).47 Bezeichnete er sich noch 1911 in Kiel als jemand, der „sich die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete des Völkerrechts zur Lebensaufgabe gemacht“ habe48 (wovon eine Reihe meist kürzerer Einzelstudien und Gutachten zeugt), verlegte sich Triepel mit dem Wechsel nach Berlin ganz überwiegend auf das Staats- und Verwaltungsrecht. Erst gegen Ende seines Lebens kehrte er zu völkerrechtlichen Themen zurück.49
43 Vom Stil des Rechts (1947), Nachdruck Berlin 2007, S. 151. 44 So v. a. Denkschrift vom März 1946, aus dem Nachlaß herausgegeben von Alexander Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 537–550; ferner: Zweierlei Föderalismus, SJZ 2 (1947), Sp. 150–152. 45 Hollerbach (Fn. 1), S. 423. 46 RdC 1 (1923), S. 85 ff. 47 Zur Würdigung Tomuschat (Fn. 1), S. 504 ff. 48 Der Seeoffizier und das Studium des Völkerrechts (Fn. 4), S. 1217. 49 Die Hegemonie, Stuttgart 1938; Die auswärtige Politik der Privatpersonen, ZaöRV 9 (1939), S. 1–30; Die geschichtliche Entwicklung des Seekriegsrechts bis zur Londoner Deklaration, in: Walter Gladisch/Berthold Widmann (Hrsg.), Grundfragen des Seekriegsrechts im zweiten Welt-
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Dass Triepel, der dem Völkerbund einst dezidiert kritisch gegenüber gestanden hatte,50 nach 1945 Hoffnungen in die Vereinten Nationen setzte und die Möglichkeit eines „neuen“ Völkerrechts sah, in dem die staatliche Souveränität – die für ihn stets der Fixpunkt seiner Rechtsauffassung gewesen war51 – nicht das alleinige Konstituens sein würde,52 zeugt von der Bereitschaft, eigene Positionen zu überdenken. Zwar sprach er im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen den nulla-poena-Grundsatz an, fragte aber zugleich, ob nicht der „gewaltige Eindruck“ dieser Prozesse „vor allem durch die alles Geahnte übersteigende Ruchlosigkeit der unter Anklage gestellten Handlungen hervorgerufen“ worden sei.53 Die „Dominante seines Lebenswerks“54 bilden fraglos Recht und Praxis der Staatenverbindungen. Davon zeugt eine größere Zahl von Publikationen, darunter insbesondere drei voluminöse Monographien: „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche“ (1907), „Die Reichsaufsicht“ (1917) und „Die Hegemonie“ (1938). In „Unitarismus und Föderalismus“ untersuchte Triepel, ausgehend von einer Definition des Bundesstaates als „forma mixta“, eines „Mittelding[s] zwischen Bund von Staaten und Einheitsstaat“, den „dauernden Hader zwischen unitarischen und föderalistischen Strebungen“ (S. 9 f.). Seine am Beispiel der bismarckschen Reichsverfassung gewonnenen Einsichten in die Wirkungen verfassungsrechtlicher Stellschrauben können auch für andere bundesstaatliche Ordnungen fruchtbar sein, denkt man an den Trend zur Unitarisierung unter dem Grundgesetz, dem strukturell bislang nur durch verfassungsändernde „Föderalismusreformen“ beizukommen war. Vertieft hat Triepel diese Analyse kurz darauf in der Untersuchung ungeschriebener Kompetenzen des Bundesstaates, unter rechtsvergleichender Einbeziehung der US-amerikanischen implied-powers-Lehre und von sweeping clauses als Einfallstore für eine Stärkung der Zentral-
krieg, Berlin 1944, S. 27–64; Rezensionen in ZaöRV 11 (1941), S. 616–625 und 12 (1944), S. 130–136. Aus der Zwischenkriegszeit nur: Virtuelle Staatsangehörigkeit, Berlin 1921; Internationale Wasserläufe, Berlin 1931; zwei kürzere Rechtsgutachten (1931, 1932). 50 Der Völkerbund, in: Daheim 55 (1918/19), Nr. 2 vom 12. Oktober 1918, S. 8 f. 51 Smend (Fn. 1), S. 109. 52 Gassner (Fn. 1), S. 499 ff., unter Analyse zweier unveröffentlichter Texte aus dem Nachlass. Vgl. auch die Glosse „Von der Furcht zum Vertrauen“, in: Neue Zeit vom 8.1.1947, S. 1 f., die mit den Worten schließt: „Möge es den Vereinten Nationen gelingen, auch dem gemarterten Europa den ersehnten dauernden Frieden zu sichern, indem sie es den Weg aus der Furcht zum Vertrauen führen und dadurch einen jahrhundertealten Traum großer Europäer zur Wirklichkeit machen!“ 53 Die neuen Wege des Völkerrechts, unveröff. Manuskript, ca. 1946, S. 7, zitiert nach Gassner (Fn. 1), S. 503. 54 Hollerbach (Fn. 1), S. 425.
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gewalt.55 Den von ihm diagnostizierten Trend zur Unitarisierung begrüßte Triepel ausdrücklich (S. 80) und sah v. a. in der Einbindung der hegemonialen Stellung Preußens die Schicksalsfrage des bismarckschen Bundesstaats (S. 105 ff.). Seine 715 Textseiten starke Arbeit zur „Reichsaufsicht“ wählte die Aufsicht als den Ort historisch-politischer Konflikte im zusammengesetzten Staat zum Ausgangspunkt für „ein deutsches Reichsstaatsrecht sub specie der Reichsaufsicht“ (S. 6) und schuf mit der Beobachtungs- und Berichtigungsfunktion sowie der Unterscheidung von abhängiger und selbständiger Aufsicht Kategorien, die Einfluss auf die Beratungen zum Grundgesetz hatten.56 Seine Einbeziehung gerichtlicher Kontrollen (S. 124 ff.) und weicher Instrumente wie „Warnungen, Erinnerungen, Beanstandungen“ (S. 630) in den Begriff der Aufsicht bietet noch heute Anschluss für die Analyse des Verwaltungsrechts der Europäischen Union.57 Eine große Faszination ging für Triepel mit seinen ausgeprägt „unitarischborussischen Neigungen“58 stets von der dominierenden Rolle Preußens im Reich aus, die bis in das Ende der Weimarer Zeit hinein Stoff für Konflikte bot.59 Nur vor dem Hintergrund dieser lebenslangen Faszination wird man wohl der 1938 erschienenen „Hegemonie“ gerecht. Vordergründig scheint „Ein Buch von führenden Staaten“ (so der Untertitel), das seinen Ausgang beim „führenden Menschen“ und der „führenden Gruppe“ nimmt und die Gleichheit der Staaten „im Sinne verhältnismäßiger, nicht absoluter Gleichheit“ (S. 217) fasst, tatsächlich „einige gefährliche Stichworte“ zu liefern.60 Dass Triepel jedoch Hegemonien nur dann für völkerrechtskonform erachtet, wenn sie auf freiwilliger Gefolgschaft beruhen (S. 217 f.: „Hegemonie echter Art“), verdeutlicht, dass es ihm nicht darum ging, die Unterwerfung anderer Völker und Staaten zu legitimieren. Sein Buch, das „methodisch auf die Verschmelzung einer Soziologie der internationalen Beziehungen mit dem (geschichtlich betrachtet) nationalen und internationalen
55 Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen: Festgabe für Paul Laband zum 50. Jahrestage der Doktor-Promotion, Bd. 2, Tübingen 1908, S. 249–335. 56 Gassner (Fn. 1), S. 322 m. w. N. 57 Vgl. Andreas v. Arnauld, Zum Status quo des europäischen Verwaltungsrechts, in: Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, Baden-Baden 2011, § 2 Rn. 7, 34. Vertiefend Meike Eekhoff, Die Verbundaufsicht, Tübingen 2006, S. 112 ff., passim. 58 Gassner (Fn. 1), S. 305. 59 Namentlich im sog. Preußenschlag von 1932. Vgl. dazu Triepels Anmerkung „Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Verfassungsstreite zwischen Preußen und dem Reiche“, in: DJZ 37 (1932), Sp. 1501–1508. Zur Preußen als Hegemon zuvor bereits Das Interregnum, Leipzig 1892, S. 107 ff.; Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, Tübingen 1907, S. 107 ff.; Die Reichsaufsicht, Berlin 1917, S. 708 ff. 60 So Stolleis (Fn. 16), S. 388, in differenzierter Würdigung.
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Recht“ zielte, war „eher eine großräumige und materialreiche welthistorische Reflexion eines dem Nationalsozialismus fernstehenden nationalkonservativen Emeritus“.61 Auch mit seiner relativierenden Lesart der Staatengleichheit knüpfte Triepel im Übrigen an ein materiales Gleichheitsverständnis an, das er schon in Auslegung des Gleichheitssatzes der WRV entwickelt hatte62 und das bis heute die Rechtsprechung des BVerfG prägt.63 Seinem dritten großen Leitthema, dem Rechtsstaat, widmete sich Triepel ausnahmsweise orientiert an Einzelfragen und nicht monographisch. Im Kern steht dabei eine „dreifache Aufwertung“64 der Grundrechte – durch inhaltliche Entfaltung,65 durch Geltung auch gegenüber dem Gesetzgeber und, damit eng verbunden, ein von ihm über Jahre hinweg mit Nachdruck verfochtenes richterliches Prüfungsrecht.66 Verfassungspolitisches Movens des „mehr den Enthusiasten des Rechtsstaats als den Skeptikern“67 Zugeneigten mag dabei freilich eine tief sitzende Demokratieskepsis gewesen sein. Weitere rechtsstaatliche Themen Triepels betrafen die inneren Grenzen von Rechtsetzungsermächtigungen an die Exekutive,68 das Problem von Verfassungsdurchbrechungen69 und die Entwicklung der frühkonstitutionalistisch geprägten Staatsgerichtsbarkeit zu einer v. a. bundesstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit.70 Unter den zahlreichen weiteren Themen, denen sich Triepel in seinem wissenschaftlichen Werk gewidmet hat, verdienen schließlich noch zwei späte Monographien besondere Bedeutung: In „Delegation und Mandat“ knüpfte Triepel 1942 an Vorarbeiten der Tübinger Zeit an, mit dem Ziel, die beiden Institute
61 Stolleis (Fn. 16), S. 389. Kritischer Schmöckel (Fn. 16), S. 118 ff.; Tomuschat (Fn. 1), S. 508 f. 62 Goldbilanzen-Verordnung und Vorzugsaktien, Rechtsgutachten, Berlin 1924, S. 29 ff. 63 Aus der Frühzeit BVerfGE 1, 14 (52); 1, 264 (275 f.). Zur Diskussion näher und m. w. N. Sigrid Boysen, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 64 ff. 64 Konzise Smend (Fn. 1), S. 115. Näher Gassner (Fn. 1), S. 355 ff.; Tomuschat (Fn. 1), S. 510 ff. 65 Vor allem des Gleichheitssatzes (Art. 109 Abs. 1 WVR) und der Eigentumsgarantie (Art. 153 WRV): Goldbilanzen-Verordnung (Fn. 62). Näher Gassner (Fn. 1), S. 358 ff. 66 Gassner (Fn. 1), S. 375, attestiert Triepel hier eine „publizistische Vorreiterrolle“. 67 Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1928), S. 28. 68 Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?, in: Verhandlungen des 32. DJT, Berlin/Leipzig 1922, Bd. 2, S. 11–35, 54–56. 69 Zulässigkeit und Form von Verfassungsänderungen ohne Änderung der Verfassungsurkunde, in: Verhandlungen 33. DJT, Berlin/Leipzig 1925, Bd. 2, S. 45–65 (Triepel war kurzfristig für den verstorbenen früheren badischen Justizminister Adelbert Düringer eingesprungen, der noch die Leitsätze formuliert hatte). 70 Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 2–29.
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schärfer voneinander zu trennen. Unter Rückgriff auf römischrechtliche Wurzeln erkennt er den Hauptunterschied darin, dass die Delegation eine Kompetenzverschiebung bewirkt und damit die Zuständigkeitsordnung ändert, während das Mandat „entweder der Auftrag an ein Organ [ist], seine eigene Kompetenz auszuüben, oder […] der Rechtsakt, durch den der Inhaber einer Zuständigkeit einem anderen Subjekte die Vollmacht erteilt, seine, des Mandanten Kompetenz in seinem, des Mandanten Namen auszuüben“ (S. 26). Hieraus zieht Triepel Folgerungen für die Zulässigkeit von Delegationen, die „mindestens im modernen Verfassungsstaate“ als Durchbrechung der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsordnung nicht zu vermuten sei (S. 38), hält es aber dennoch für möglich, dass „eine Norm des ungeschriebenen Rechts dem Entlastungsinteresse des Kompetenzträgers unter gewissen Umständen Rechnung“ trägt (S. 111). In ihrer feinsinnigen Unterscheidung verschiedenster Formen und Unterformen von Delegation und Mandat und der äußerst differenzierten Behandlung der Zulässigkeitsfragen erweist sich diese Studie als „echtester Triepel“.71 Sein letztes Werk, „Vom Stil des Rechts: Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts“ (1947 posthum erschienen) mag thematisch als Solitär erscheinen; wie so vieles bei Triepel ist aber auch diese Arbeit die Frucht eines langen Reifungsprozesses. Schon 1892 hatte er in der Leipziger Zeitung einen Beitrag zum „Juristendeutsch“ veröffentlicht,72 der erkennen lässt, dass der ästhetische Blick auf das Recht für ihn kein neuer war. Kulturwissenschaftliche Anregungen konnte er reichlich sammeln: Sein Großvater mütterlicherseits war der Schweizer Sinologe und Literaturhistoriker Heinrich Kurz (1805–1873), sein Schwiegervater Georg Ebers (1837–1898) Ägyptologe und Schriftsteller, seine Cousine Susanne verheiratet mit dem Ästhetiker und Kunsthistoriker Max Dessoir (1867–1947); in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft pflegte er engen Umgang mit dem großen Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954). In seiner letzten Monographie führt Triepel in Anlehnung vor allem an die Geschichtsphilosophie Erich Rothackers (1888– 1965) das Recht auf den „Kulturstil“ oder „Gesamtstil“ einer nach Zeit und Raum bestimmten Epoche zurück (S. 64) und eröffnet so die Möglichkeit, „das Recht in doppelter Weise ‚stilkritisch‘ zu untersuchen: mit Blick auf die Beziehungen zum Gesamtstil sowie im Vergleich mit anderen Kulturerscheinungen, insbesondere
71 Heinrich Mitteis, Rezension, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) 65 (1947), S. 401–406 (406). 72 Juristendeutsch, in: Leipziger Zeitung Nr. 169 vom 23. Juli 1892, S. 2729 f. Dazu Gassner (Fn. 1), S. 43.
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der Wirtschaft, aber auch der Literatur“.73 Dabei macht Triepel neben der bloßen Form auch den Inhalt und das Verhältnis von Inhalt und Form zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung (S. 42 ff.). Auch wenn manche der von Triepel angelegten Maßstäbe den humanistischen Bildungskanon des Verfassers absolut setzen mögen, erweist sich seine Spätschrift in vielem anschlussfähig an rechtsästhetische Debatten der Gegenwart.74 Triepel hat einmal bekannt, er sei „namentlich während der Tübinger Zeit“ „in methodischer Hinsicht […] ein anderer“ geworden.75 Im Kern meinte er damit seine, in der Rektoratsrede von 192676 noch einmal programmatisch gefasste, Öffnung gegenüber politischen wie kulturellen und historischen Einflüssen – in deutlicher Abkehr von der Begriffsjurisprudenz in der Tradition Gerbers und Labands. Kennzeichnend für Triepels wertungsjurisprudenziellen Ansatz ist eine „rechtsethisch gebundene, wertorientierte Teleologik […], in welcher Recht und Wirklichkeit aufeinander bezogen sind und in welcher analytisch-systematische Konstruktion und sachnahe, zweckgerichtete Einzelexegese je zu ihrem Teil zusammenwirken.“77 Gleichwohl hat Triepel stets auf der Unterscheidung von Sein und Sollen beharrt und darauf, dass das Recht, dem politischen Prozess entstammend, diesem dennoch Grenzen errichtet.78 In der Art und Weise der Behandlung seiner Themen blieb er der Sorgfalt und Präzision in der begrifflichkonzeptionellen Arbeit, die er einst bei Binding gelernt hatte, treu. Die Ironie, dass Triepel, der sich als Antipositivist verstand, in Wahrheit wohl stets Vertreter eines aufgeklärten Positivismus geblieben ist, hat Rudolf Smend auf einfühlsame Weise so beschrieben:79 „Triepel hat sich [am Methodenstreit] nicht beteiligt. Auch er kannte seine philosophischen Klassiker und wußte sie gegebenenfalls vortrefflich zu verwenden. Aber er blieb ganz und gar Jurist, war uns darin weit überlegen und allerdings mit seiner Bundesgenossenschaft eine unschätzbare Legitimationshilfe. Freilich: daß seine Überwindung des Positivismus von innen heraus zugleich eine Bestätigung des Positivismus war, das wollten wir nicht wahrhaben.“
73 Andreas v. Arnauld/Wolfgang Durner, Heinrich Triepel und die Ästhteik des Rechts, in: Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts: Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts (1947), Nachdruck mit einer Einführung, Berlin 2007, S. V–XLII (XXIX), dort auch tiefer gehende Würdigung. 74 Näher v. Arnauld/Durner (Fn. 73), S. XXII ff. 75 Delegation und Mandat, Stuttgart/Berlin 1942, S. III. 76 Staatsrecht und Politik: Rede beim Antritte des Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1926, publiziert Berlin 1927. 77 Hollerbach (Fn. 1), S. 433. 78 Gassner (Fn. 1), S. 296 f. (schönes Beispiel auf S. 312). 79 Smend (Fn. 1), S. 118.
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IV. Wirkung Mark Twain hat Caleb Thomas Winchester das Bonmot zugeschrieben, ein Klassiker sei jemand, den jeder gelesen haben will, aber niemand lesen wolle. Für Heinrich Triepel mag dies tatsächlich zutreffen80 – er ist heute ein unbekannter Großer unter den deutschen Staatsrechtslehrern. Sein Name ist allseits bekannt, was sich mit ihm verbindet – jenseits seiner Rolle als Initiator der VDStRL – kaum. Eine Schule hat er nicht begründet, obschon sein einziger wirklicher Schüler, Gerhard Leibholz, in seinen Arbeiten an Triepel angeknüpft hat.81 Viele Begriffe und Konzeptionen, die Triepel entwickelt hat, sind zum juristischen Allgemeingut geworden, seine Autorschaft verblasst: völkerrechtlicher Dualismus und Transformationslehre, ungeschriebene Kompetenzen des Bundesstaates, Formen der Aufsicht im Bundesstaat, Willkürverbot und materielle Gleichheit, richterliche Normenkontrolle, Grenzen der Verordnungsermächtigung, Verfassungsdurchbrechungen, Formen und Zulässigkeit der Delegation von Kompetenzen. Seine Begriffe und Konzeptionen leben, von ihrem Schöpfer weitgehend abgelöst, weiter. In ihnen zeigte sich Triepel meisterlich: In seiner „souveränen Distinktionskunst“,82 die aus der Fülle eines akribisch zusammengetragenen Materials schöpfte, das über die Grenzen des Rechtsstoffs weit hinaus wies, in der Klarheit und Präzision (und damit naturgemäß auch Anfechtbarkeit) seiner Systematisierungen erweist sich Triepel als „a lawyers’ lawyer“. Seine ganze Bedeutung für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, ihre Lehre und ihre Institutionen aber lässt sich nur in der Gesamtschau seines Werks und seines Wirkens erinnernd erfassen.83
Werkauswahl Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899 Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche: Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907
80 Charakterisierung als „Klassiker“ des öffentlichen Rechts bei Hollerbach (Fn. 1), S. 441. 81 So z. B. bei der Deutung des allgemeinen Gleichheitssatzes: Die Gleichheit vor dem Gesetz: Eine Studie auf rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Grundlage (1925), 2. Aufl. München/Berlin 1959, oder bei der Parteienkritik: Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, VVDStRL 7 (1932), S. 159–190; Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, in: Verhandlungen des 38. DJT, Tübingen 1951, S. C2–C28. 82 Smend (Fn. 1), S. 109. 83 Vgl. Smend (Fn. 1), S. 116.
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Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen: Festgabe für Paul Laband zum 50. Jahrestage der Doktor-Promotion, Band 2, Tübingen 1908, S. 249–335 Die Reichsaufsicht: Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches. Berlin 1917 Staatsrecht und Politik: Rede beim Antritte des Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1926, Berlin 1927 Die Staatsverfassung und die politischen Parteien: Rede bei der Feier der Erinnerung an den Stifter der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. am 3. August 1927, Berlin 1928 Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 2–29 Die Hegemonie: Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938 Delegation und Mandat im öffentlichen Recht: Eine kritische Studie, Stuttgart/Berlin 1942 Vom Stil des Rechts: Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts, Heidelberg 1947, Nachdruck mit einer Einführung von Andreas v. Arnauld und Wolfgang Durner, Berlin 2007
IX Richard Thoma (1874–1957) Kathrin Groh
I. Lebensstationen vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik Deutschland Richard Thoma wird am 19 Dezember 1874 in Todtnau im Schwarzwald als Sohn eines Fabrikanten geboren. Nach dem Abitur in Freiburg im Breisgau studiert er Rechtswissenschaften in Berlin und Freiburg. Bei Ulrich Stutz wird er 1900 mit einer Dissertation zum Thema „Die Bedeutung des Besitzwillens im Besitzrecht des BGB“ promoviert. Nach seiner Assessorzeit im Badischen folgt 1906 seine Habilitation bei Heinrich Rosin zum „Polizeibefehl im Badischen Recht: dargestellt auf rechtsvergleichender Grundlage“. Die anschließende Hochschulkarriere startet rasant: Bereits 1908 an die Kolonialhochschule in Hamburg berufen, wechselt er 1909 nach Tübingen und folgt 1911 einem Ruf nach Heidelberg auf den Lehrstuhl des verstorbenen Georg Jellinek. Dort bleibt er 17 Jahre. Hier entsteht die Idee zu der Schule machenden Literaturgattung des „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“, das er mit seinem Heidelberger Freund Gerhard Anschütz zusammen herausgibt.1 Thoma lehnt einen Ruf an die Berliner Friedrich Wilhelm Universität ab, wechselt dann aber 1928 an die Universität in Bonn, der er bis zu seinem Tode treu bleibt.2 Zu Beginn seiner Laufbahn als Hochschullehrer ist Thoma vom monarchisch konstitutionellen Regierungssystem in Deutschland überzeugt. Er ist Mitglied der Nationalliberalen Partei. Ein Umschwung seines Denkens findet in der Zeit der sich abzeichnenden Kriegsniederlage statt. Von nun an setzt sich Thoma aus voller Überzeugung – und nicht allein aus Resignation3 – für die neue, demokrati-
1 G. Anschütz, Aus meinem Leben, hrsg. v. W. Pauly, Frankfurt/M., Klostermann 1993, S. 171. 2 H. Dreier, „Unbeirrt von allen Ideologien und Legenden“ – Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, in: Richard Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, hrsg. v. H. Dreier, Mohr Siebeck, Tübingen 2008, S. XIII (XIII ff.). 3 R. Thoma, Warum bekenne ich mich zur Demokratie?, in: Heidelberger Tageblatt, Juni 1920, BA NL Thoma, N 1194, Band 49; ders., Rezension zu Albrecht Mendelsohn-Bartholdy „Der Volkswille. Grundzüge einer Verfassung, in: ASWSP 47 (1920/21), S. 580. In einem Vortrag in der
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sche Staatsordnung ein.4 Er tritt der linksliberalen DDP bei und stellt sich fest auf den Boden der Weimarer Verfassung, von deren „relativer Vortrefflichkeit“5 er bis zuletzt überzeugt bleibt. 1926 begründet er die „Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer“ mit, die sich 1931 in den „Weimarer Kreis“ umbenennt. Von seiner „Liebe“ zur Verfassung6 zu unterscheiden ist sicherlich seine Einstellung zu Demokratie und Republik, die von der Nachwelt doch zumindest in Nuancen recht unterschiedlich beurteilt wird. Hier reicht – je nach Lesart seiner Demokratietheorie – die Spannweite von der Charakterisierung Thomas als Herzensrepublikaner7 und demokratischer Idealist8 über einen Republikaner aus innerer Überzeugung9 bis hin zu einem (bloßen) Vernunftsrepublikaner.10 Obwohl der jüngere Thoma anders als sein Kollege und Freund11 Gerhard Anschütz im Dritten Reich im Amt bleibt und seinen Vorlesungspflichten weiter nachkommt, passt er sich wissenschaftlich nicht der neuen Ideologie an.12 Er verstummt mehr oder
neugegründeten Bundesrepublik über die moderne Demokratie sprach Thoma dann allerdings missverständlich davon, dass der „Demokratismus der Resignation“ die bundesdeutsche Demokratie legitimiere, da „Resignation in unserer Epoche das eigentlich zwingende Argument“ für Demokratie sei. Abgedruckt als R. Thoma, Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, Bonn, Dümmlers 1948, S. 27 ff. Der „Westdeutschen Rundschau“ gegenüber, die Thomas Buch unter der Headline „Demokratismus und Resignation“ besprach, beharrte Thoma allerdings darauf, dass die ethische Legitimation der Demokratie das Kernstück seiner Abhandlung gewesen sei. Nach F. Sösemann, Richard Thoma, in: M. Schmoeckel (Hrsg.), Die Juristen der Bonner Universität im Dritten Reich, Köln, Böhlau 2004, S. 554 (578 f.). 4 R. Thoma, Republik oder Monarchie, in: Neue Badische Landeszeitung vom 21.11.1918, S. 1, BA, NL Thoma, N 1194, Band 49. Das Manuskript einer Wahlrede aus Dezember 1918, in der sich Thoma dazu bekennt, „mit Freudigkeit auf den Boden der reinen Demokratie“ zu treten, ist aus seinem Nachlass verschwunden. Es wird ausführlich zitiert bei H.-D. Rath, Positivismus und Demokratie. Richard Thoma 1874–1957, Berlin, Duncker&Humblot 1981, S. 33 ff. 5 R. Thoma, Das Reich als Demokratie, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 16 S. 194. 6 H. Mosler, Richard Thoma zum Gedächtnis, in: DÖV 1957, S. 826 (826). 7 H. Dreier, (o. Fußn. 2) S. XXVI. 8 H.-D. Rath, (o. Fußn. 4), S. 35. 9 H. Döring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewusstsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim/Glan, Hain 1975, S. 159. 10 C. Schönberger, Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich: Richard Thomas „realistische“ Demokratietheorie im Kontext der Weimarer Diskussion, in: C. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden, Nomos 2000, S. 156 (162). 11 A. Schüle, Richard Thoma zum Gedächtnis, in: AöR 82 (1971), S. 153 (154). 12 F. Giese, Nachruf Richard Thoma, in: JZ 1957, S. 589 (590): Thoma war ein ethisch vollendeter Mensch mit einer unentwegt geradlinigen Haltung, der nie aufhörte, sich selbst treu zu sein.
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weniger.13 Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland kommt Thoma auf die wissenschaftliche und auch auf die politische Bühne zurück. Er berät vor allem den Parlamentarischen Rat als Sachverständiger in Grundrechts- und Staatsorganisationsfragen.14 Thoma stirbt 83-jährig am 26. Juni 1957.
II. Werksichtung Thomas Werk vermittelt über eine gewisse Engführung der Thematiken, die er bevorzugt behandelt, eine große Geschlossenheit.15 Obwohl Thoma in Bonn dem „Institut für Internationales Recht und Politik“ als Direktor vorsteht, halten sich seine völkerrechtlichen Beiträge in Grenzen. Thomas Themen sind vielmehr durchgängig der Staat als Rechtsstaat und als Demokratie und die Grundrechte, die er zusammenfügt zu einer nicht nur realistischen, sondern auch wegweisenden Theorie des liberalen und demokratischen Rechtsstaats.
1. Methodenstreit und Methode Über Thoma schreiben, heißt immer auch zumindest kurz über Thomas Position im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit zu schreiben, denn „Thoma (hat) ein Methodenbewußtsein und eine Präzision in der Argumentation erzeugt, hinter die eine heutige Dogmatik des Staatsrechts nicht zurückfallen darf“.16 Thoma beschreibt sich als „gemäßigter“ Positivist. In seiner zur Soziologie hin offenen Methode wird er von Max Weber beeinflusst, dessen Wohnungsnachbar
13 Näher und mit Nachweisen H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. XXXI ff.; F. Sösemann, (o. Fußn. 3), S. 570 ff. Rätselhaft bleibt sein Buch „Die Staatsfinanzen in der Volksgemeinwirtschaft. Ein Beitrag zur Gestaltung des deutschen Sozialismus“, Mohr, Tübingen 1937, das von E. Friesenhahn, Anmerkungen zu dem Buch von Hans-Dieter Rath über Richard Thoma, in: ZNR 1984, S. 74 (77) als „momentane Verwirrung“ bezeichnet wird. 14 Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band 5/1, hrsg. v. E. Pikart/W. Werner, München, Oldenbourg 1993, S. XXVII; Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band 13/2: Ausschuß für die Organisation des Bundes/Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, hrsg. von E. Büttner/M. Wettengel, München, Oldenbourg 2002, S. 873 ff. 15 U. Scheuner, Zum Gedächtnis von Geh. Hofrat Prof. Dr. Richard Thoma, in: NJW 1957, S. 1309 (1309). 16 W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, in: Der Staat 28 (1989), S. 377 (403).
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Thoma in Heidelberg ist. Seine Methode spitzt sich auf eine funktionale, mindestens teleologische Betrachtung des Staatsrechts zu, denn sein Blick ist auf die praktische Verwertbarkeit der politikbezogenen Staatsrechtslehre gerichtet. Er arbeitet wirklichkeitswissenschaftlich, rechtshistorisch und rechtsvergleichend17 und verfolgt mit seiner Methode zwei seiner auch ideellen Hauptanliegen, nämlich die „juristisch souveräne Rechtsgestaltungskompetenz“ des demokratisch gewählten Gesetzgebers18 zu untermauern und die Voraussetzungen einer rechtsstaatlich gesicherten Demokratie soziologisch aufzuhellen.19
2. Rechtsstaat, Gesetzgebungsstaat und Rechtsschutz Der Rechtsstaat ist seit seiner Habilitationsschrift das überwölbende staatsrechtliche Thema Thomas. Zu den rechtsstaatlichen Grundpfeilern zählt Thoma die Gewaltenteilung im Staat. Die Trennung der Staatsgewalten mit je eigenen verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisungen verwirklicht den Rechtsstaat und verbürgt Freiheit trotz rechtlicher Omnipotenz des Gesetzgebers.20 Thoma überwindet hierfür zunächst die Impermeabilitätstheorie. Er ordnet in seinem Binnenraum die Organe des Staates einander rechtlich zu und funktionalisiert die einzelnen Staatsgewalten, um so schließlich die Exekutive der Legislative gänzlich unterzuordnen.21 Das Parlament ist für Thoma die erste und höchstrangige Entscheidungsinstanz im Staat. Die notwendige „Dezision“ über das Gerechte und Zweckmäßige gebührt der Legislative.22 Sie gestaltet die Gesellschaft und ist dabei durch keine anderen inhaltlichen Maximen gebunden als durch diejenigen,
17 R. Thoma, Gegenstand-Methode-Literatur, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 1 S. 2; näher H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. XXXVI ff.; K. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen, Mohr 2010, S. 70 ff. 18 R. Thoma, Gerhard Anschütz zum 80. Geburtstag, in: DRiZ 1947, S. 25 (25 ff.). 19 E. Friesenhahn, (o. Fußn. 13), S. 74 f. 20 R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band II, Tübingen, Mohr 1932, § 102 S. 612. 21 R. Thoma, Funktionen der Staatsgewalt: Grundbegriffe und Grundsätze, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band II, Tübingen, Mohr 1932, § 71 S. 112: Die Verfassung solle „ein Staatsleben verbürgen, das sich nach allgemeinen, von einer Repräsentativversammlung beschlossenen (…) Normen entfaltet, den ‚fureur de gouverner‘ dämpfen und durch das eine wie das andere Freiheit der Bürger begründen und sichern“. Bereits R. Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungswissenschaft, in: JöR 4 (1910), S. 196 (204). 22 R. Thoma, (o. Fußn. 21), § 71 S. 143 f.
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die einer zur „Freiheit und Selbstbestimmung gelangten, individuellen Persönlichkeit“ entspringen.23 Die Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl lässt sich für Thoma nicht juristisch begründen, sondern allenfalls als ethisch-moralisches Postulat formulieren.24 Der Staat ist Gesetzes- oder Gesetzgebungsstaat, die Gesetze werden legitimiert durch demokratische Verfahren25 und deshalb ist die „Organisation der Herrschaftsgewalt und die Ordnung des Zusammenwirkens der Organe“ eine vordringlich zu meisternde Aufgabe kluger Verfassunggebung.26 Die rechtsstaatliche Klugheit der Verfassunggebung spiegelt sich zum einen im Verhältnis der Legislative zur Exekutive und zum anderen im Verhältnis der Legislative zur Judikative. Vor allem mit seiner Antrittsvorlesung feilt Thoma die Grundsätze von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, also die Bindung der Exekutive an die Vorgaben des Gesetzgebers aus.27 Denn die formal-juristische Rechtsstaatsidee, der Thoma anhängt, verlangt zunächst als ihr Fundament, keineswegs aber als ihre Erfüllung, zumindest „unterhalb der Gesetzgebung die vollkommene Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Staatsverwaltung und Rechtsprechung“.28 Später heißt es dann dynamischer aber auch umfassender bei ihm, dass der Staat „Rechtsstaat in dem Maße (ist), in dem seine Rechtsordnung die Bahnen und Grenzen der öffentlichen Gewalt normalisiert und durch unabhängige Gerichte, deren Autorität respektiert wird, kontrolliert“.29 Der Ausbau der unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit einem zentralen (Reichs-)Verwaltungsgericht an
23 R. Thoma, Rezension zu Leonard Nelson „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“, in: ZgStW 79 (1925), S. 550 (552). 24 R. Thoma, Staat, in: L. Elster u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band VII, 4. Aufl., Jena, G. Fischer 1924, S. 724 (742); R. Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungswissenschaft, in: JöR 4 (1910), S. 196 (202 f.). 25 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 747; R. Thoma, (o. Fußn. 21), § 71 S. 109; E. Friesenhahn, (o. Fußn. 13), S. 79. H.-D. Rath, Verfassungsbegriff und politischer Prozess, in: JöR 33 (1984), S. 131 (139) meint, nach Thoma sei Demokratie mit Parlamentssouveränität gleichzusetzen. Thoma selbst beschreibt das Weimarer Regierungssystem als „hinkenden Parlamentarismus“, R. Thoma, Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: G. Anschütz/R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 43 S. 504. 26 Bereits R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 204; R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 194; und später R. Thoma, (o. Fußn. 3), S. 5, 34; dazu H.-D. Rath, (o. Fußn. 25), S. 136 ff. 27 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 197 u. ö.; R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band II, Tübingen, Mohr 1932, § 76 S. 221 ff. 28 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 205. 29 R. Thoma, (o. Fußn. 27), § 76 S. 233; zu Thomas dynamischer Begriffsbildung H. Mosler, (o. Fußn. 6), S. 827 f.; F. Giese, (o. Fußn. 12), S. 589 f.
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ihrer Spitze bürgt nach Thoma für Rechtsvereinheitlichung und bürgerliche Freiheit.30 Deshalb bezeichnet er später mit einem mittlerweile geflügelten Wort die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG als „Schlußstein“ auf dem Gewölbe des Rechtsstaats.31 Einem allgemeinen richterlichen Prüfungsrecht, das sich auf die Kontrolle und Verwerfung parlamentarischer Gesetze erstreckt, steht Thoma in Weimar skeptisch gegenüber, weil er mutmaßt, dass dem parlamentarischen Gesetzgeber das Letztentscheidungsrecht durch die eher konservativ zusammengesetzte „gerontokratische“ Richterschaft32 streitig gemacht werden soll. Auf dieser Linie bleibt Thoma auch in der Bundesrepublik. Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht wird in Weimar vor allem mit der Neudefinition des Gleichheitssatzes nach Art. 109 WRV verknüpft: Der Gesetzgeber soll an diffuse Gerechtigkeitsmaßstäbe gebunden werden, deren Einhaltung auch von den einfachen Gerichten soll überprüft werden dürfen. Da die Verfassungsurkunde Weimars zu dieser Frage schweigt, gibt es für Thoma keine „rechtslogische“, sondern allenfalls eine rechtspolitische Lösung, die ihm allerdings überflüssig scheint, da die Weimarer Verfassung mit ihrem Gegengewichtsdenken ausreichend Vorsorge gegen Verfassungsverstöße des Gesetzgebers getroffen hat.33 Thoma betont zwar, dass dem Gesetzgeber die „Gewissenspflicht“34 obliege, Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln, sich vielmehr jeder Willkür zu enthalten,35 doch ist die Willkürkontrolle von Rechtsetzungsakten des demokratischen Gesetzgebers bei Thoma zumindest nicht den Instanzgerichten aufgegeben.36 Einem Staatsgerichtshof und später auch dem Bundesverfassungsgericht steht Thoma – je nach geplanter Verfahrensfülle – dann ambivalent gegenüber. Der Staats- oder Verfassungsgerichtsbarkeit zieht er eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil jenseits dieser Grenze die Demokratie „entmannt“ würde,37 und findet diese
30 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 211 f.; R. Thoma, Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichs-Verwaltungsgerichts vor?, in: 30. DJT 1910/11, S. 51 (64 f., 79 f. u. ö.). 31 R. Thoma, Über die Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: H. Wandersleb (Hrsg.), Recht-Staat-Wirtschaft, Band III, Düsseldorf, Schwann 1951, S. 9 (9). 32 R. Thoma, (o. Fußn. 21), § 71 S. 153. 33 R. Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, in: AöR 43 (1922), S. 267 (268 ff.). 34 H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. XLVI f. 35 R. Thoma, (o. Fußn. 20), § 71 S. 151 ff. 36 Auch noch R. Thoma, Ungleichheit und Gleichheit im Bonner Grundgesetz, in: DVBl. 1951, S. 457 (458): „Irrlehre“. 37 R. Thoma, Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Band I, Berlin, Walter de Gruyter 1929, S. 179 (197 f.).
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formelle Grenze in der möglichsten Unabhängigkeit der Richter gegenüber dem Parlament.38 Auch später mahnt Thoma, Art. 3 Abs. 1 GG, das bundesdeutsche Äquivalent zu Art. 109 WRV, nicht im Sinne einer Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz auszulegen, da dies dazu führen werde, dass jedes Gesetz auf den Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts gebracht werden könne, und die demokratische Legitimationshierarchie von Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit umgekehrt werde. Thoma prophezeit ebenfalls hellsichtig, dass die Rückwirkungen der Entscheidungen des höchsten Gerichts, hier des Bundesverfassungsgerichts, auf das politische Geschehen von „schicksalhafter Bedeutung“ sein werden.39
3. Weimarer Grundrechtslehre und bundesrepublikanische Grundrechtskritik Der konstitutionellen Theorie war es zu verdanken, dass in der Weimarer Verfassung zwar viele Grundrechte geschrieben standen, die „Grundrechtstheorie“ jedoch nur ein Grundrecht kannte, nämlich das Grundrecht auf Freiheit von ungesetzlichem Verwaltungs-Zwang, während die auf dem Papier kasuistisch ausdifferenzierten bürgerlichen und politischen Freiheiten zur Disposition des Gesetzgebers standen.40 Grundrechte waren allesamt „Zukunftsrecht“.41 Hier hakt Thoma ein und entwickelt eine an ihrem Wortlaut orientierte gestufte Lehre von der Bindung der unterschiedlichen Gesetzgeber des Reichs und der deutschen Länder an die Grundrechte. Bereits im Kaiserreich denkt er über die gesetzesderogierende Kraft der Grundrechte gegenüber dem vorkonstitutionellen Gesetzgeber nach.42 Aus den Gesetzesvorbehalten der Grundrechte folgt sodann in Weimar die Einteilung der Schutzwirkungen der Grundrechte in vier Stufen: die diktaturfesten oder reichsverfassungskräftigen Grundrechte ersten Grades, die reichsverfas-
38 R. Thoma, Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: Die Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts – Denkschriften, Stellungnahmen, Gutachten, Karlsruhe, Bundesverfassungsgericht 1953, S. 19 (29 ff.). 39 R. Thoma, (o. Fußn. 38), S. 20, 24. 40 Z. B. G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 1. Aufl., Berlin, Stilke 1921, S. 185: „Die Rechtslage ist (…) keine andere als früher“. 41 H. Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: M. Drath/C. Müller (Hrsg.), Hermann Heller: Gesammelte Schriften, Band II, Leiden, Sijthoff 1971, S. 281 (312 f.). 42 R. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes im preußischen Verfassungsrecht, in: Festgabe für Otto Mayer, Tübingen, Mohr 1916, S. 167 (217 ff.).
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sungskräftigen Grundrechte zweiten Grades, die reichsgesetzeskräftigen Grundrechte auf der dritten Stufe und auf der untersten Stufe diejenigen Grundrechte, die ihrem Wortlaut nach nur nach Maßgabe der (auch materiellen) Gesetze gewährleistet sind. Nur auf dieser Stufe laufen die Grundrechte für Thoma gegen den Gesetz- und Verordnungsgeber leer.43 Und schließlich ergibt sich für Thoma aus den „höheren Weihen“ der Grundrechte der heute vom Bundesverfassungsgericht vielzitierte Grundsatz der grundrechtseffizienten Auslegung: Von mehreren möglichen „Auslegungen einer Grundrechtsnorm (ist) allemal derjenigen der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet“, will bei Thoma heißen, das betreffende Grundrecht nicht zu einem Programmsatz degradiert, sondern zu geltendem Recht verdichtet, wobei für letztere Auslegung die Vermutung streitet.44 Thoma, der sich von Systematisierung und Eindeutigkeit der Rechtssätze nicht nur einen Zuwachs an Rechtsstaatlichkeit, sondern auch an Freiheitlichkeit verspricht, wendet in der Bundesrepublik gegen ein Gros der Grundrechte ihre blumigen und deshalb juristisch nicht unmittelbar greifbaren Formulierungen ein.45 Nachdem der Parlamentarische Rat seinen diesbezüglichen Empfehlungen nicht folgt, unkt Thoma, wie es scheint ein wenig hämisch, dass dann die Jurisprudenz eben warten müsse, bis das Bundesverfassungsgericht der einen oder der anderen Auslegung „das Siegel der Autorität verleiht“.46 Hier ist die Entthronung der Staatsrechtslehre durch das Bundesverfassungsgericht bereits angedacht.
43 R. Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, Berlin, Heymanns 1925, S. 183 (191 ff.); R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Band I: Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102–117, Berlin, Hobbing 1929, S. 1 (30 ff.); näher H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. LXIX ff. 44 R. Thoma, (o. Fußn. 43), S. 5, 14, näher K. Groh, (o. Fußn. 17), S. 414 ff. 45 Richard Thoma, Kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskatalogs, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 5/1: Ausschuß für Grundsatzfragen, hrsg. v. E. Pikart/W. Werner, München, Oldenbourg 1993, S. 361 ff. 46 R. Thoma, (o. Fußn. 31), S. 9 f.
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4. Der demokratische Staat Die Demokratie ist für den national gesinnten Thoma kein Selbstzweck.47 Ohne übertriebenes Pathos betrachtet er sie als Staatsform, innerhalb derer ein Ausgleich der divergierenden Interessen der Klassen und Schichten im Staat erreicht werden könne. Die Demokratie verbündet sich mit den Minderbemittelten: Der demokratische Staat ist ein „Kleineleutestaat“. Thoma definiert Demokratie zunächst sozialhistorisch als „politische Emanzipation der Unterschicht“.48 Über das Wahlrecht kämpfen sich die Massen in den Staat,49 den sie über das Parlament als Gesetzgeber in ihrem Interesse in Bewegung setzen. Juristisch gefasst heißt Demokratie deshalb „immer und ausschließlich ein Staat, der (…) alle maßgebliche öffentliche Gewalt aus dem allgemeinen und gleichen Wahl- und Stimmrecht aller (…) erwachsenen Staatsangehörigen hervorgehen lässt“.50 Hier adressiert Thoma vorrangig die politische Gleichheit und damit das Wahlrecht als einziges Essentiale der Demokratie.51 Als Staatsrechtslehrer stellt Thoma den Staat als Herrschaftsorganisation52 in den Mittelpunkt seiner Demokratietheorie. Das gilt nicht nur für den Weimarer Staat, sondern auch für die Bundesrepublik: Herrschen können immer nur wenige, regieren kann immer nur eine (funktionale) Leistungs-Elite.53 Hat Thoma, wie ihm bereits von Zeitgenossen und auch aus der Retrospektive nachgesagt wird, auf jeglichen Gedanken der Selbstherrschaft des Volkes verzichtet und einen oligarchischen Obrigkeitsstaat konstruiert, in dem der Herrscher von Gottes Gnaden einfach durch eine zeitweise geduldete
47 Näher C. Schönberger, Genossenschaftliche Bürgerdemokratie oder nachwilhelminischer Elitenreformismus: Hugo Preuß und Richard Thoma, in: D. Lehnert/C. Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden-Baden, Nomos 2003, S. 179 (179 ff.). 48 R. Thoma, (o. Fußn. 3), S. 7; R. Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart, in: M. Palyi (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Weber, Band II: Die Hauptprobleme der Soziologie, München, Duncker&Humblot 1923, S. 39 (41, 43). 49 R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 189. 50 R. Thoma, Rezension zu A. Aulard „Politische Geschichte der französischen Revolution: Entstehung und Entwicklung der Demokratie und der Republik 1789–1804“, in: AöR 48 (1925), S. 114 (116). 51 R. Thoma, (o. Fußn. 48), S. 43, 42; R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 741; R. Thoma, Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus, in: B. Harms (Hrsg.), Recht und Staat im neuen Deutschland, Band I, Berlin, Hobbingen 1929, S. 98 (98). 52 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 727. 53 R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 191; R. Thoma, (o. Fußn. 48), S. 41; R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 745; aber auch R. Thoma, (o. Fußn. 23), S. 554; R. Thoma, (o. Fußn. 3), S. 5 f.
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Herrschaft von Gewählten ausgetauscht wird?54 Manche sprachliche Wendung Thomas mag in diese Richtung deuten.55 In die gleiche Richtung mag auch der von Thoma hochgehaltene zumindest vorläufige Führungsanspruch des Bürgertums gehen,56 der allerdings dem Zeitgeist liberaler Elitentheorien angesichts des Massenzeitalters entspricht und Thoma zufolge durch Bildung und Erziehung des Proletariats eingeebnet werden würde.57 Thoma verficht ein striktes Konzept der repräsentativen Demokratie, des „responsible governments“, das flankiert wird von direktdemokratischen Elementen als „Notventilen“58 und Grundrechten als Minderheitenschutzrechten,59 das seine steuernden Impulse aus der sich selbst bestimmenden (Zivil-)Gesellschaft und ihrem grundrechtlich verbürgten Freiheitsgebrauch her erhält60 und von dort aus auch kontrolliert wird.61 Soziale Gerechtigkeit ist für Thoma also keine (Rechts-)Forderung eines materiell aufgeladenen Rechtsstaatsprinzips, sondern eine (Rechts-)Folge der Demokratie. Die parlamentarische Demokratie Thomas zielt deshalb auf den sozialen Ausgleich durch Kompromissfindung des tatsächlich repräsentativen parlamentarischen Gesetzgebers.62 Die „raison d’être“ des Parlaments verlegt Thoma zwar auch in die Funktion der Auslese von Führern der Nation,63 vorrangig aber in seine integrativen Fähigkeiten, die durch das – gegebenfalls zu personalisierende – (maßvolle) Proportionalwahlsystem64 genauso unterstützt werden wie durch eine angemessene Anzahl von Parteien, die sich entlang der gesellschaftlichen
54 C. Schmitt, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: ASWSP 51 (1924), S. 817 (821 ff.); C. Schönberger, (o. Fußn. 3), S. 164 ff., 188. 55 Z. B. R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 729, 744: Demokratie als „Domestikation der Massen“; R. Thoma, (o. Fußn. 48), S. 61 f. 56 H.-D. Rath, (o. Fußn. 4), S. 36. 57 R. Thoma, (o. Fußn. 23), S. 554. 58 R. Thoma, Recht und Praxis des Referendums im Deutschen Reich und seinen Ländern, in: ZöffR 7 (1928), S. 489 (493); R. Thoma, (o. Fußn. 51), S. 114. 59 R. Thoma, (o. Fußn. 43), S. 12 f.; R. Thoma, Die Regelung der Diktaturgewalt, in: DJZ 1924, Sp. 654 (659). 60 R. Thoma, (o. Fußn. 43), S. 8: Die Verfassung muss eine Demokratie entwerfen als „eine freie Staatsbürgerschaft, die in der Lage ist, in politisch-sozialer Freiheit (…) das nationale Leben aus sich selbst heraus zu gestalten“. 61 R. Thoma, Das Mehrheitsprinzip, in: Deutsche Literaturzeitung 40 (1919), Sp. 761 (765); R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 190; R. Thoma, (o. Fußn. 43), S. 26. 62 R. Thoma, (o. Fußn. 47), S. 43; R. Thoma, (o. Fußn. 51), S. 115 f., 105: Kompromiss als „Wesen aller Politik, die nicht mit dem Schwert gemacht wird“. 63 R. Thoma, Deutsche Verfassungsprobleme, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 6 (1918/19), S. 409 (433). 64 R. Thoma, Die Reform des Reichstags, Heidelberg, Braus 1925, S. 2 ff.; R. Thoma, (o. Fußn. 3), S. 20. Mit seinen Reformvorschlägen zur personalisierten Verhältniswahl nahm Thoma den spä-
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Clevages bilden.65 Anders als die meisten seiner Weimarer Kollegen hält Thoma daher den Parteienstaat für die parlamentarische Demokratie für unverzichtbar, um „den Staat (…) den gesellschaftlichen Gruppen (zu) überlassen“.66 In der Demokratie gilt das formale Mehrheitsprinzip, das grundsätzlich keine materiellen Entscheidungstabus kennt: „Unmöglich aber (…) kann das, was die entschiedene und unzweifelhafte Mehrheit des Volkes auf legalem Wege will und beschließt (und stürzte es selbst die Grundsäulen der gegenwärtigen Verfassung um) als Staatsstreich oder Rebellion gewertet werden“.67 Thoma steht der von Carl Schmitt postulierten „neuen Lehre“ der Bindung des verfassungsändernden Mehrheitsgesetzgebers an einen Verfassungskern in Weimar als „wunschrechtlicher Behauptung“ mit dem Charakter „juristischer Zwirnsfäden“ deshalb skeptisch gegenüber, vor allem weil diese Bindung nirgendwo positiviert und der Verfassungskern nirgendwo definiert ist.68 Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Thoma aus Schaden klug und befürwortet das Verfassungsprinzip der streitbaren Demokratie als Schutz gegen die „sukzessive Zerwühlung“ der Demokratie als zumindest „relativ bester“ Staatsform.69
III. Fazit Thoma ist ein Klassiker des Deutschen Staatsrechts. Manche sprachliche Wortschöpfung Thomas gehört heute zum allgemeinen Begriffsrepertoire der Staatsrechtslehre, wie z. B. der hinkende Parlamentarismus Weimars, die effektive Auslegung der Grundrechte oder die Rechtsschutzgarantie als Schlusstein auf dem Gewölbe des Rechtsstaats. Seine Demokratietheorie ist dagegen nur randständig rezipiert worden, obwohl es von Thomas realistischer und liberaler Demokratietheorie zumindest zum heute herrschenden Dogma der repräsenta-
teren bundesrepublikanischen Ansatz vorweg, ohne hier aber Beachtung gefunden zu haben. Näher H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. XVI f. 65 R. Thoma, (o. Fußn. 52), S. 102; nach F. Schale, Die Arbeiten von Richard Thoma zur Parteienforschung, in: M. Gangl (Hrsg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt/M., Peter Lang 2008, S. 359 (376, 371) ist Thomas Werk eine „soziologische Untersuchung der Leistungschancen des demokratischen Parteienstaates“. 66 R. Thoma, (o. Fußn. 24), S. 743 f.; R. Thoma, (o. Fußn. 48), S. 63; R. Thoma, (o. Fußn. 64), S. 5. 67 R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 193 f. 68 R. Thoma, (o. Fußn. 5), § 16 S. 199; R. Thoma, (o. Fußn. 21), § 71 S. 153 f.; R. Thoma, (o. Fußn. 43), S. 39. 69 R. Thoma, (o. Fußn. 3), S. 38 ff.; R. Thoma, Die Lehrfreiheit der Hochschullehrer und ihre Begrenzung durch das Bonner Grundgesetz, Tübingen, Mohr 1952, S. 19, 25.
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tiven Demokratie des Grundgesetzes nicht weit gewesen wäre.70 Thoma stand zu Unrecht hinter der vorrangig rezipierten „Quadriga“71 Carl Schmitt, Hans Kelsen, Hermann Heller und Rudolf Smend zurück.
Ausgewählte Schriften von Richard Thoma72 Der Polizeibefehl im Badischen Recht: dargestellt auf rechtsvergleichender Grundlage, Erster Teil, Tübingen, Mohr 1906. Rechtsstaatsidee und Verwaltungswissenschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 4 (1910), S. 196–218. Gutachten über die Frage: Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichs-Verwaltungsgerichts vor?, in: Verhandlungen des 30. Deutschen Juristentages, Band I, Berlin, Jansen 1910/1911, S. 51–111. Der Vorbehalt des Gesetzes im preußischen Verfassungsrecht, in: Festgabe für Otto Mayer zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen, Mohr 1916, S. 167–221. Deutsche Verfassungsprobleme, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 6 (1918/19), S. 409–439. Das Mehrheitsprinzip, in: Deutsche Literaturzeitung 40 (1919), Sp. 761–765. Das richterliche Prüfungsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 43 (1922), S. 267–286. Der Beitrag ist der Abdruck des Eröffnungsvortrags Thomas in der neugegründeten Staatsrechtslehrervereinigung. Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart, in: Melchior Palyi (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Weber, Band II: Die Hauptprobleme der Soziologie, München, Duncker&Humblot 1923, S. 39–64. Grundrechte und Polizeigewalt, in: Heinrich Triepel (Hrsg.), Verwaltungsrechtliche Abhandlungen. Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts 1875 – 20. November – 1925, Berlin, Heymanns 1925, S. 183–223. Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), S. 212–217. Artikel „Staat“, in: Ludwig Elster u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band VII, 4. Aufl., Jena, G. Fischer 1924, S. 724–756. Später erschienen mit geringfügigen Änderungen als „Grundriß der Allgemeinen Staatslehre“, Bonn, Dümmler 1948. Die Reform des Reichstags, Heidelberg, Braus 1925. Recht und Praxis des Referendums im Deutschen Reich und seinen Ländern, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht 7 (1928), S. 489–507.
70 R. Chr. van Ooyen, Relativismus, Positivismus, Demokratie: Kelsen, Thoma, Radbruch als politische Theoretiker der Wiener und Weimarer Republik, in: M. Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, Baden-Baden, Nomos 2001, S. 239 (244 ff.). 71 H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. XIII. 72 Ein umfassendes Schriftenverzeichnis befindet sich bei H. Dreier, (o. Fußn. 2), S. 559–576.
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Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Band I: Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102–117, Berlin, Hobbing 1929, S. 1–53. Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches, in: Die Reichspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929), hrsg. von Otto Schreiber, Band I: Öffentliches Recht, Berlin, Walter de Gruyter 1929, S. 179–200. Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus, in: Bernhard Harms (Hrsg.), Recht und Staat im neuen Deutschland. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Band I, Berlin, Hobbingen 1929, S. 98–126. Gegenstand-Methode-Literatur, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 1 (S. 1–13). Das Reich als Bundesstaat, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 15 (S. 169–186). Das Reich als Demokratie, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1930, § 16 (S. 186–200). Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: Gerhard Anschütz/ Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, Tübingen, Mohr 1932, § 43 (S. 503–511). Die Funktionen der Staatsgewalt. Grundbegriffe und Grundsätze, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band II, Tübingen, Mohr 1932, § 71 (S. 108–159). Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band II, Tübingen, Mohr 1932, § 102 (S. 607–623). Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, Bonn, Dümmler 1948. Über die Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Hermann Wandersleb (Hrsg.), Recht-Staat-Wirtschaft, Band III, Düsseldorf, Schwann 1951, S. 9–19. Ungleichheit und Gleichheit im Bonner Grundgesetz, in: Deutsches Verwaltungsblatt 66 (1951), S. 457–459. Rechtsgutachten betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, Bonn 15.3.1953, in: Die Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts. Denkschriften, Stellungnahmen und Gutachten, Karlsruhe, Bundesverfassungsgericht 1953, S. 19–32.
X Max Huber (1874–1960) – Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts Andreas Kley
I. Einführung Max Huber förderte die Entwicklung des internationalen Rechts auf seine Weise. Sein Beitrag bestand nicht in der Theorie oder in grundlegenden Werken zum internationalen Recht. Freilich veröffentlichte er wichtige Aufsätze, aber diese allein hätten nicht seinen Ruhm zu begründen vermögen. Vielmehr übertrugen ihm die Schweiz und die Völkergemeinschaft wichtige Ämter. Es waren diese ihm anvertrauten öffentlichen Aufgaben, welche Huber die Gelegenheiten zur Weiterentwicklung des internationalen Rechts verschafften. Hubers beruflicher Lebensweg illustriert, dass die Wissenschaft bei ihm eine untergeordnete Rolle spielte. Er war ein Mann der Praxis. Es lassen sich grob vier Berufsphasen unterscheiden1: In einer ersten Phase von 1902–1914 lehrte Max Huber als Professor für Völkerrecht, Staatsrecht und kanonisches Recht an der Universität Zürich. Nur in dieser Zeit war er akademisch tätig. In der zweiten Phase von 1914–1921 verlangte die schweizerische Eidgenossenschaft nach Hubers völkerrechtlichem Rat. Huber war zunächst als Konsulent für das eidgenössische Militärdepartment und anschliessend für das Departement des Äussern tätig. Der Weltkrieg warf viele Rechtsfragen auf, die Huber für die Regierung zu bearbeiten hatte. Huber hatte seinen Lehrstuhl in Zürich zwar nicht aufgegeben, aber er übte die akademische Tätigkeit nicht mehr aus. Die dritte Phase von 1921–1928 betrifft seine Tätigkeit als Richter des Ständigen Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, wobei er von 1925–1927 als dessen Präsident fungierte. Die letzte Berufsphase in seinem Leben bezeichnet die Zeit als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz von 1928–1944. Anschliessend zog er sich von seinen Ämtern zurück, aber er verblieb mit Vorträgen und Publikationen weiterhin in der Öffentlichkeit.
1 Dietrich Schindler, Max Huber – His Life, in: European Journal of International Law 18 (2007), S. 81 ff., S. 81; Daniel Thürer, Max Huber: A Portrait in Outline, in: European Journal of International Law 18 (2007), S. 69 ff.
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Max Huber war ein ausgesprochen vielseitiger Völkerrechtler und er hinterliess kein kompaktes Werk eines Gelehrten. Er ist deshalb im 21. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten.2 Sein Name ist aber als Richter unauslöschlich. Er wurde 1927 durch den Lotus-Fall des Ständigen Internationalen Gerichtshofs oder durch das Schiedsgerichtsurteil des Falles Island of Palmas von 19283 berühmt und erscheint noch heute in den führenden Werken des Völkerrechts. Dagegen werden seine vielen Aufsätze und gedruckten Ansprachen nicht mehr zitiert. Max Huber war zu Lebzeiten eine berühmte Persönlichkeit. Er trat oft in der Öffentlichkeit auf und galt als moralische Autorität. Zwei umfangreiche Biographien berichten von seinem Leben4 und posthum kam eine Autobiographie heraus, welche seine ersten beiden Berufsphasen bis 1924 abdeckt.5
II. Herkunft und Ausbildung Max Huber kam am 28. Dezember 1874 in Zürich zur Welt. Seine Vorfahren waren Bürger von Zürich, und sie spielten in der Zürcher Gesellschaft eine wichtige Rolle. Der Vater, Peter Emil Huber (1836–1915), gründete zwei wichtige Industriebetriebe, nämlich die Maschinenfabrik Oerlikon und die Aluminium Industrie AG in Neuhausen.6 Die Mutter, Anna Marie Huber-Werdmüller, gebar ausser dem jüngsten Sohn Max noch die Tochter Anna (1867–1934) und als ältesten Sohn Emil (1865–1939). Die Herkunft von Max aus einer Industriellenfamilie äusserte sich auch darin, dass er Verwaltungsrat in Banken und Industrieunternehmen war und sogar den Verwaltungsrat der von seinem Vater gegründeten Unternehmen präsidierte. Schon als Kind hatte er dank seines Elternhauses Kontakt mit den wichtigsten Industriellen, Politikern und Akademikern seiner Zeit.
2 So auch Schindler (Anm. 1), S. 81, S. 95. 3 Daniel-Erasmus Khan, Max Huber as Arbitrator: The Palmas (Miangas) Case and Other Arbitrations, European Journal of International Law 18 (2007), S. 145 ff. Siehe auch Anm. 22. 4 Fritz Wartenweiler, Max Huber: Spannungen und Wandlungen in Werden und Wirken, Zürich 1953; Peter Vogelsanger, Max Huber: Wirkung und Gestalt, Frauenfeld/Stuttgart 1967. Huber war so berühmt, dass er sogar der Jugend als Vorbild dienen sollte: Fritz Wartenweiler, Max Huber: ein Schweizer im Dienste der Menschheit, Umschlagbild nach einem Wandgemälde von Paul Bodmer; Zeichnungen von Richard Gerbig, Zürich: Schweizerisches Jugendzeitschriftenwerk, 1955, Nr. 517. 5 Siehe Huber, Denkwürdigkeiten. 6 Fritz Rieter, Peter Emil Huber-Werdmüller, in: Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Heft 7, Zürich 1957, S. 61 ff.
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Max‘ Schwester Anna heiratete 1888 Samuel Dietrich Schindler (1856–1936), Glied einer Industriellenfamilie aus Glarus, die im Textilgewerbe reich wurde. Deren ältester Sohn war der spätere Völkerrechtsprofessor Dietrich Schindler sen. (1890–1948, siehe in diesem Band Nr. XXI die Darstellung von Daniel Thürer), den Max Huber als jungen Mann gefördert hatte. Dessen früher Tod 1948 führte dazu, dass sich Max Huber auch des Sohnes Dietrich Schindler jun. (*1924) annahm und ihn in seiner wissenschaftlichen Ausbildung unterstützte. Dietrich Schindler jun. war von 1968–1989 ordentlicher Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. Max Huber stand also sozusagen am Anfang einer Dynastie von Völkerrechtsprofessoren.7 Max Huber konnte schon als kleines Kind seine Eltern auf Reisen durch die ganze Welt begleiten. Er war ehrgeizig und voller Ideen. Im Alter von 16 Jahren hatte er das Buch von Bertha von Suttner, Die Waffen nieder, gelesen und war von den pazifistischen Ideen durchdrungen. Diesen Idealismus verband er mit einer realistischen Sicht. Er las später Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten: als Rechtsbuch.8 Huber bewunderte Bluntschli, ursprünglich ein Zürcher Bürger, und er betrachtete ihn als Lehrmeister.9 Huber begann seine Studien 1893 in Lausanne, setzte sie in Zürich fort und schloss sie 1897 mit der Dissertation an der Universität Berlin ab. Er wollte seine Arbeit mit dem Prädikat summa cum laude abschliessen, obwohl er wusste, dass die Berliner Fakultät diese Auszeichnung nur selten verlieh. Er strengte sich an, sammelte umfassend Material über die Staatennachfolge und diktierte seine Arbeit einer Sekretärin. Tatsächlich verlieh ihm die Fakultät das begehrte Prädikat. Das war schliesslich auch die entscheidende Voraussetzung, dass er 1902 Professor an der Universität Zürich werden konnte. Nach dem Studium war er 1897–1898 dritter Sekretär des Vororts (Präsidiums) des Schweizerischen Handels- und Industrievereins. Er interessierte sich speziell für zwei Themenbereiche: die Wohlfahrt der Arbeitnehmer und die Rolle der schweizerischen Wirtschaft im Welthandel. Nach zwei Jahren beschloss er eine Weltreise zu unternehmen. 1900 und 1901 bereiste er zahlreiche Staaten der Welt und nahm mit Unternehmern, Diplomaten und Politikern Kontakt auf. Er untersuchte die Lebensbedingungen, die gesellschaftlichen und staatsrechtlichen Strukturen und berichtete jeweils dem Handels- und Industrieverein.10 Später
7 Schindler (Anm. 1), S. 82. Siehe ferner: Dietrich Schindler jun., Ein Schweizer Staats- und Völkerrechtler der Krisen- und Kriegszeit. Dietrich Schindler (sen.), 1890–1948, Zürich 2005, S. 17 ff. 8 1. Auflage: Nördlingen 1868, spätere Auflagen folgten 1872 und 1878. 9 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 29; Schindler (Anm. 1), S. 83. 10 Schindler (Anm. 1), S. 84.
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veröffentlichte er seine Reisenotizen.11 Noch auf der Reise, er war in Schanghai, wurde ihm die Professur in Zürich angeboten, und er nahm die Stelle nach kurzem Zögern an. Damit hatte er seine ursprünglichen Karrierewünsche in der Politik oder in der Diplomatie vorerst aufgegeben.12 1902 nahm er die Tätigkeit als Professor für Staats- und Völkerrecht sowie kanonisches Recht in Zürich auf, obwohl ihm das Unterrichten wenig Freude bereitete.13 Er musste sich zudem in verschiedene Rechtsgebiete einarbeiten, die ihm unbekannt waren. Huber heiratete Emma Escher, die ebenfalls aus einem alten Zürcher Geschlecht stammte. 1903 kaufte Huber das zerfallende Schloss Wyden, das in Ossingen, 30 km nördlich von Zürich, liegt.14 Er renovierte es, und der Architekt der Züricher Universität, Professor Karl Moser (1860–1936), fügte 1912–1914 dem Turm einen Wohnflügel an. 1907 fragte ihn die schweizerische Regierung völlig überraschend an, ob er als Delegierter an die Zweite Haager Friedenskonferenz gehen wolle. Huber nahm an und damit setzte in seinem Leben eine Wende ein: die diplomatische Karriere.15 Er war mit 32 Jahren der jüngste Delegierte und wurde von zwei weiteren Vertretern begleitet. Die Schweizer Regierung hatte keine Instruktionen erteilt, da sie der Auffassung war, dass die Schweiz die Beratungen lediglich zu beobachten habe. Huber war von Natur aus aktiv und impulsiv; er legte der Konferenz zahlreiche Vorschläge vor. Ein wichtiges Thema betraf die Schaffung eines internationalen Gerichtshofs zur Regelung der zwischenstaatlichen Streitigkeiten. Zwischen den Verhandlungsparteien, die eine obligatorische Zuständigkeit des Gerichtshofs befürworteten bzw. ablehnten, gab es keine Lösung, bis Huber eine optionale Klausel vorschlug, die den Staaten einzeln erlaubte, diese Zuständigkeit als obligatorisch anzunehmen. Die Schweizer Regierung unterstützte den Vorschlag. In der Konferenz scheiterte er indessen an der Ablehnung der grossen Staaten, aber er kam nach dem Ersten Weltkrieg beim Ständigen Internationalen Gerichtshof zum Zug.16 Bei einem andern Dissens betreffend den Prisenhof konnte sich Hubers Vorschlag durchsetzen, aber schliesslich lehnte das britische House of Lords das Abkommen ab.17
11 Max Huber, Tagebuchblätter aus Sibirien, Japan, Hinter-Indien, Australien, China, Korea, Zürich 1906 12 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 311, Anm. 19 und 20. 13 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 30. 14 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 31 ff. 15 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 31 ff.; Vogelsanger (Anm. 4), S. 57 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 88 ff. 16 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 42 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 88 f. 17 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 44 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 89.
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Huber war befriedigt, weil er einen guten Einblick in die Arbeitsweise bei internationalen Verhandlungen erhalten hatte. Umgekehrt war er enttäuscht, weil sich der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten grosse Widerstände entgegenstellten. Namentlich die Inflexibilität der Schweizer Regierung und ihr passives Abseitsstehen enttäuschten ihn.18 1914 initiierte Max Huber die Schweizerische Vereinigung für Internationales Recht, deren erster Präsident er wurde. Die Vereinigung hielt jährliche Konferenzen ab und veröffentliche die Vorträge in Druckschriften.19 Seit 1944 gab sie das Schweizer Jahrbuch für internationales Recht heraus, das im Jahr 1991 in die Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht umgewandelt wurde. Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 rief bei der Schweizer Regierung einen grossen Bedarf nach völker- und neutralitätsrechtlicher Beratung hervor. Als Major der Schweizer Armee wurde er zunächst als Stellvertreter des Oberauditors der Armee (oberster Ankläger der Armee in Militärstrafsachen) berufen. Er musste in kürzester Zeit Fälle beurteilen, den General Ulrich Wille beraten, die notrechtliche Kriegsgesetzgebung entwerfen, und faktisch amtierte er als Chef der Militärjustiz. Seine Unabhängigkeit und die Offenheit seiner Äusserungen brachten ihm von Seiten der Armeeführung und des Bundesrates grossen Respekt ein. Im Januar 1918 stellte ihn das eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (damals Politisches Departement) als völkerrechtlichen Berater an, da die Pläne für den Völkerbund Konturen annahmen. Zu den Regierungsmitgliedern entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Als 1920 die Schweiz nach einer erfolgreichen Volksabstimmung dem Völkerbund beitrat, konnte die schweizerische Aussenpolitik eine andere Richtung einschlagen. Huber hatte nämlich die entscheidende Formulierung für die Befreiung der Schweiz von militärischen Zwangsmassnahmen gefunden und den relevanten Mächten Frankreich und Grossbritannien unterbreiten können.20 Damit waren vorerst die neutralitätsrechtlichen Probleme der Schweiz anlässlich des Beitritts zum Völkerbund gelöst.21
18 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 47 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 89. 19 Druckschriften der Schweizerischen Vereinigung für Internationales Recht = Publication, Société Suisse de Droit International, Nr. 1 (1914) bis Nr. 43 (1943), erschienen bei Orell Füssli in Zürich. 20 Siehe die Details bei Huber, Denkwürdigkeiten, S. 112 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 91 f. 21 1938 entband der Völkerbundesrat die Schweiz auch von der Pflicht zum Nachvollzug der ökonomischen Sanktionen und stellte die Neutralität integral wieder her, vgl. Schindler (Anm. 1), S. 92.
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Huber war ein praktisch erfahrener Experte des Völkerrechts und es lag auf der Hand, dass er 1921 als Richter an den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag gewählt wurde, womit sein Mandat als Berater der Schweizer Regierung endete. Er war über diese Wahl nicht glücklich, da seine Frau die Öffentlichkeit mied und unter der Trennung von ihrem Mann litt. Zudem war er mit der Rechtsprechung, abgesehen von wichtigen Einzelfällen wie dem Lotus-Fall, nicht einverstanden wie auch mit der Tatsache, dass einige Richter ohne Rechtskenntnis ihres Amtes walteten.22 Später bekannte Huber, der Haager Hof sei für ihn „immer mehr zu einer lange nicht eingestandenen Enttäuschung“23 geworden. Huber trat 1928 als Richter zurück und liess sich aus diesen Gründen 1930 auch nicht mehr wiederwählen. 1928 hatte er ein anderes wichtiges Amt angetreten. Er war Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz geworden und wollte sich voll und ganz dieser humanitären Aufgabe widmen. Ökonomisch gesehen war die Aufgabe des Richteramtes ein grosser Verlust; er hatte einen hochbezahlten Posten zugunsten eines unbezahlten Amtes aufgegeben. Zudem war jetzt weniger sein rechtliches Wissen und Können gefragt, als vielmehr die Leitung einer Organisation, die im Zweiten Weltkrieg gewaltig wachsen würde. Die menschliche Herausforderung, der er sich gegenübersah, war gross. Das Komitee verfolgt bis heute die Politik, dass die Beziehungen zu den Parteien bewaffneter Konflikte vertraulich sind und es auch bleiben. So leitete das Komitee etwa die Augenzeugenberichte über italienische Giftgasangriffe in Abessinien deshalb nicht an den Völkerbund weiter, weil es, so Max Huber, allein darum gehe, die faktischen Leiden der Kriegsopfer zu lindern und nicht politisch aktiv zu werden und Kriegsparteien zu sanktionieren.24 Diese Haltung manövrierte das Komitee in eine schwierige diplomatische Lage. Huber blieb bis Ende 1944 Präsident. Er erhielt insgesamt elf Ehrendoktorate und die Organisation bekam 1944 den Friedensnobelpreis. Das Komitee vom Roten Kreuz hatte trotz dieser Schwierigkeiten unter der Führung Hubers eine ausserordentliche Leistung zugunsten der Humanität erbracht.25 Nachfolger von Huber als Präsident des Komitees wurde von 1944–1948 der Diplomat Carl Jakob Burckhardt, der freilich nicht mehr das Ansehen und den Rang Hubers erreichte. Burckhardts
22 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 262 ff.; Schindler (Anm. 1), S. 92. 23 Zitiert bei Vogelsanger (Anm. 4), S. 153. 24 Daniel-Erasmus Khan, Das rote Kreuz, Geschichte einer humanitären Weltbewegung, München 2013, S. 76 f. 25 Paul Ruegger, Quelques aspects de l’oeuvre de Max Huber à Genève, Extrait de la Revue internationale de la Croix-Rouge, Genève, Janvier 1950 ; siehe die Würdigung bei Vogelsanger (Anm. 4), S. 190 ff.
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Eitelkeit und seine antisemitischen Ansichten26 kontrastierten deutlich mit dem bescheidenen und an der Humanität orientierten Handeln Max Hubers. Der Zweite Weltkrieg traf Huber auch persönlich. In Schloss Wyden befand sich im Turm sein Studierzimmer. 1944 traf ein von der Besatzung aufgegebener, ohne Besatzung fliegender amerikanischer Bomber den Turm und zerstörte Studierstube und Bibliothek. Huber war nicht anwesend und niemand kam zu Schaden, aber alle Unterlagen und Bücher verbrannten.27 Huber blieb nach seinem Rückzug aus der Diplomatie eine öffentliche Person. Er war ein aktives Mitglied der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich und wandte sich theologischen Fragen zu. Er engagierte sich in der ökumenischen Bewegung.28 Dieses Interesse hatte einen persönlichen Grund: Nach einer schweren Erkrankung 1922 betrachtete er die Welt und sein Leben fortan „sub specie aeternitatis“.29 Huber starb am 1. Januar 1960 im Alter von 85 Jahren. Die Öffentlichkeit nahm grossen Anteil an seinem Tod.30
III. Erkenntnistheoretische Ausrichtungen Huber hat kein geschlossenes wissenschaftliches Werk hinterlassen. Als Praktiker war er mehr dem Handeln verpflichtet, aber dieses Handeln unterstellte er selbst grundlegenden Haltungen. Er teilte sein wissenschaftliches Werk in (1)
26 Kahn (Anm. 24), S. 86. 27 Schindler (Anm. 1), S. 85; Vogelsanger (Anm. 4), S. 227. 28 Vogelsanger (Anm. 4), S. 159 f. 29 Huber, Denkwürdigkeiten, S. 275. 30 Siehe die nur kleine Auswahl aus den Nachrufen: Werner Kägi, Professor M. H. 1874–1960, in: ZSR 79 (1960), S. 1–16; ZSR 79 (1960), S. 567a f.; Jahresbericht Univ. Zürich 1959/60, S. 88–90 (W. Kägi); Prof. Dr. M. H., Ordinarius für Völkerrecht, in: NZZ Nr. 7 vom 3.1.1960 Samstags-/Sonntagsausgabe, Blatt 1; NZZ Nr. 24 vom 5.1.1960 Morgenausgabe, Blatt 1; NZZ Nr. 44 vom 7.1.1960 Morgenausgabe, Blatt 2; NZZ Nr. 51 vom 8. 1.1960 Morgenausgabe, Blatt 1; NZZ Nr. 68 vom 9.1.1960 Morgenausgabe, Blatt 7; NZZ Nr. 126 vom 14.1.1960 Abendausgabe, Blatt 9; NZZ Nr. 1939 vom 5.6.1960 Pfingstausgabe, Blatt 8 (in memoriam); Obituary M. M. H., The Times 2.1.1960, S. 10; Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik, Religion 1960 Nr. 11/12; M. H.-Escher: 28. Dezember 1874–1. Januar 1960, o. O. o. J. [1960]; Dietrich Schindler, M. H., 28. Dezember 1874–1. Januar 1960, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1961, Zürich 1961, S. 1–11; M. H. (1874–1960), Prof. Dr., Präsident des Int. Komitees vom Roten Kreuz, Zürich 1932; Paul Guggenheim, M. H. (1874–1960), in: SJIR 16 (1959), S. 9–26, und in: Die Schweiz in der Völkergemeinschaft 15 (1960) Nr. 1, S. 3–6.
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eine positivistische (bis 1914), sodann (2) eine idealistische (bis 1922) und (3) schliesslich in eine theologische Ausrichtung (nach 1922)31 ein. (1) Sein bedeutendstes wissenschaftliches Werk folgte aus einer persönlichen Erfahrung. Huber war 1907 zusammen mit Minister Gaston Carlin (1859–1922) und mit Professor Eugen Borel Delegierter der Schweiz an der Zweiten Haager Friedenskonferenz.32 Er stellte an dieser Konferenz die Brüchigkeit der internationalen Ordnung fest und bedauerte, dass viele Vorschläge zur Stabilisierung scheiterten. Huber wollte sich deshalb wissenschaftlich mit den Grundlagen der Völkerrechtswissenschaft befassen. In der Schrift Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts33 untersuchte er die dem Völkerrecht zugrunde liegenden sozialen Gesetzmässigkeiten sowie deren historischen Hintergründe.34 Huber legte realistisch den Ablauf der Machtmechanismen dar, wobei «der selbständige Staat als oberste herrschaftliche Gemeinschaft (…) darauf angewiesen» bleibe, «sich mit seinen eigenen Machtmitteln äusserstenfalls zu behaupten».35 Man komme selbst im Falle grosser gesellschaftlicher Interessen nicht um die Tatsache herum, dass «die eigentlichen und unmittelbaren Aktionszentren nicht die Gemeinschaft, sondern ihre Teile, die unabhängigen Staaten sein werden».36 In Hubers Überlegungen des Jahres 1910 spielten ethische Fragen noch keine Rolle; er war in dieser Phase vom Gegebenen, vom Positiven als dem Gegenstand von Wissenschaft geprägt. Freilich schloss er die Fragen der Sittlichkeit nicht aus, womit sich schon seine nächste Entwicklungsphase ankündigte: «Auf der Völkermoral ruht im letzten Grunde jeder grosse Fortschritt des Völkerrechts, und durch sie wird sich jene geistige Atmosphäre entwickeln, in welcher die Konflikte der Staaten keine grössere Schärfe annehmen, als durch die auf dem Spiele stehenden Interessen bedingt ist».37 – Huber war vor dem Ersten Weltkrieg international
31 Oliver Diggelmann, Anfänge der Völkerrechtssoziologie. Die Völkerrechtskonzeption von Max Huber und Georges Scelle im Vergleich (Diss. Zürich 1998), Zürich 2000, S. 67 m. w. H. Siehe ferner Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts, Zürich 2011, S. 426 ff. worauf sich dieser Abschnitt auch stützt. 32 Max Huber, Koexistenz und Gemeinschaft, Völkerrechtliche Erinnerungen aus sechs Jahrzehnten, in: ders., Vermischte Schriften. Band IV: Rückblick und Ausblick, Zürich 1957, S. 459 ff., S. 462. 33 Max Huber, Vermischte Schriften, Band III, S. 49 ff.; Titel der Erstausgabe: Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Völkerrechts und der Staatengesellschaft. 34 Vgl. Diggelmann (Anm. 31), S. 64. 35 Huber, Vermischte Schriften, Band III, S. 161. 36 Huber, Vermischte Schriften, Band III, S. 161. 37 Huber, Vermischte Schriften, Band III, S. 160.
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als Wissenschafter anerkannt, nach dem Tod von Georg Jellinek gab er 1912–1914 mit anderen Das öffentliche Recht der Gegenwart38 heraus. (2) In seiner «idealistischen» Ausrichtung unterstützte Huber die Förderung des Friedens durch das Völkerrecht und durch eine überdachende Friedensorganisation, den Völkerbund. Er erhielt die Chance, den freisinnigen Bundespräsidenten Felix Calonder in dieser politischen Absicht zu unterstützen; 1918 ernannte ihn der Bundesrat zu seinem ersten vollamtlich angestellten völkerrechtlichen Berater.39 Was die Haager Konferenz von 1907 nicht einmal diskutiert hatte, konnte nach dem Krieg möglich werden: «Das ungeheure Erdbeben des Krieges hatte die harte Erdrinde aufgebrochen».40 Nach dem Krieg setzte Hubers rein praktische Tätigkeit ein: Nachdem ihn der Bundesrat 1921 zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof bestimmt hatte, gab er 1922 seine Professur förmlich auf. (3) In der «theologischen» Ausrichtung setzte sich Huber für den Völkerbund, die internationale Streitschlichtung und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ein. Huber verfasste kaum mehr wissenschaftliche Werke, sondern seine Texte dienten der «Besinnung auf die Grundlagen seiner praktischen Tätigkeit».41 Er gab damit das Machtprinzip seiner Rechts- und Staatsvorstellung auf42 und verliess den Boden seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Vielmehr übernahm Huber die Ethik des mit ihm befreundeten protestantischen Theologen Emil Brunner43 als Leitlinie für seine praktische Tätigkeit. Sein Einsatz für Humanität machte Huber zu einem persönlichen Vorbild, das unter den Professoren des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Dietrich Schindler jun. würdigte Max Huber zutreffend:44 «Ein so schöpferischer Jurist wie Max Huber, dessen richterliches Wirken tiefe Spuren hinterlassen hat, hat nur ein bescheidenes wissenschaftliches Werk verfasst. Den grössten Teil seines Lebens widmete er Aufgaben im Dienste des Staates und der Völkergemeinschaft».
38 Aktuell: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, herausgegeben von Peter Häberle (bis 2014). 39 Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1918 III S. 66; Huber, Denkwürdigkeiten S. 92 ff. 40 Huber, Vermischte Schriften, Band IV, S. 467. 41 Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 268. 42 Max Huber, Was bedeutet mir der christliche Glaube?, in: ders., Vermischte Schriften. Band II: Glaube und Kirche, Zürich 1948, S. 33 ff., S. 34. 43 Vgl. Vogelsanger (Anm. 4), S. 49 ff.; Kley (Anm. 31), S. 426 ff. 44 Dietrich Schindler jun., Die Staatslehre in der Schweiz, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 25 (1976), S. 255 ff., S. 268.
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Huber teilte damit die Ansicht der meisten Staats- und Verwaltungsrechtslehrer, wonach sie nicht grössere wissenschaftliche Werke in der Studierstube schreiben, sondern viel lieber praktisch tätig sind und Bund sowie Kantone mittels Gutachten, Untersuchungen, Beratungen oder Einsitz in Gremien unterstützen,45 aber auch beeinflussen. Es ist die Verflechtung der schweizerischen Staats- und Verwaltungsrechtslehrer mit dem Staat und der politischen Wirklichkeit,46 die zu diesem Phänomen führt. Praxis wird mehr geschätzt als Wissenschaft. Es war deshalb für die Rechtswissenschaft der Schweiz charakteristisch, dass Max Huber als überragender Völkerrechtler der Schweiz galt und noch immer gilt. Die bedeutenden Wissenschaftler Antoine Rougier oder Otfried Nippold47 waren ausländischer Herkunft und im Sinne von Max Huber idealistisch gesonnen. Trotz ihrer innovativen Ideen zeigte sich in ihren Lebensläufen die ansonsten typische «Verflochtenheit der schweizerischen Staatslehre mit dem konkreten Staat und mit der politischen Wirklichkeit»48 gerade nicht.
IV. Würdigung Bundesrat Max Petitpierre würdigte an der Trauerfeier vom 6. Januar 1960 für Max Huber49 im Zürcher Grossmünster das Werk des Verstorbenen in dreifacher Hinsicht. Zunächst hob er die bedeutende Rolle hervor, die Max Huber anlässlich des Beitritts der Schweiz zum Völkerbund gespielt hatte. Huber stand 1918–1921 in den Diensten des Bundesrates und verfasste als völkerrechtlicher Berater die Botschaft zum Beitritt der Schweiz. Petitpierre strich heraus, dass diese Botschaft keine Gelegenheitsarbeit gewesen sei:50
45 Vgl. Kley (Anm. 31), Anm. 2477- 2480. 46 Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 267 f. 47 Vgl. Kley (Anm. 31), S. 93 ff.. 48 Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 268. 49 Siehe den umfangreichen Bericht in der NZZ vom 7.1.1960, Nr. 73, Blatt 2. Der Pfarrer Peter Vogelsanger hielt die Abdankungspredigt; er verfasste später die Biographie: Max Huber, Frauenfeld 1967. Die Feier war von prominenten Persönlichkeiten der Schweiz besucht, so von den drei Bundesräten Max Petitpierre, Willy Spühler und Friedrich Traugott Wahlen sowie zahlreichen Altbundesräten, Vertretern des Militärs und zahlreichen Staats- und Verwaltungsrechtslehrern. 50 Max Petitpierre, Allocution prononcée par M. Max Petitpierre, Président de la Confédération, aux obsèques du Professeur Max Huber, ancien Président du Comité international de la CroixRouge, Zürich 6 janvier 1960, BAR E 2800; Akzession 1967/59, Band 98, Aktenzeichen 43.8, Collection des discours 1959–1960, S. 2 f.
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«Il contenait une justification et exposait une morale de la neutralité, où l’intérêt national d’un petit pays s’accordait avec ses responsabilités vis-à-vis de l’humanité. Cette doctrine, dans la plupart de ses éléments, est restée valable, en raison des idées durablement justes qu’elle exprime. En même temps qu’il se souciait de la sauvegarde des intérêts immédiats et directs de la Confédération, M. Huber traçait une ligne pour son avenir. Et c’est cette ligne que le Conseil fédéral s’efforce de suivre encore aujourd’hui».
Als Huber wegen seiner Wahl zum Richter beim Internationalen Gerichtshofs 1921 vom Amt des völkerrechtlichen Beraters des Bundesrates zurücktrat, folgte ihm niemand nach. Petitpierre hob sodann die Rolle von Huber als internationaler Richter hervor und zitierte in seiner Rede das Beileidsschreiben des Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag:51 «Comme membre de la Cour permanente de Justice internationale de 1922 à 1930, comme Président de cette Cour de 1925 à 1927, le défunt a joué un rôle de première importance dans l’organisation de la Justice internationale. Egalement par ses travaux scientifiques et par ses décisions arbitrales, il a apporté au développement du droit international une contribution si éminente que son nom restera vivant pour tous ceux qui auront à œuvrer dans ce domaine. Ecouté et respecté dans le monde entier, il était de ceux qui honorent leur pays et le genre humain».
Huber hatte in seiner praktischen Tätigkeit als Richter und Schiedsrichter auf der Linie seiner Haltung Recht gesprochen, die die Staaten als individualistische und unabhängige Akteure der internationalen Beziehungen ansah. Der internationale Gerichtshof in Den Haag berücksichtigt seine Rechtsmeinungen und Urteile ungebrochen.52 Max Petitpierre hob ferner in seiner Rede die Bedeutung Hubers für die Rotkreuzbewegung hervor. Hier habe er «une tâche journalière écrasante» erfüllt; er habe sich um jedes Unglück gekümmert und es zu mildern versucht. Stets habe er die Staaten aufgerufen, die Prinzipien der Humanität zu beachten. Dazu habe er die Doktrin des Roten Kreuzes entwickelt, was dessen Grundfesten und Ideale gestärkt habe. Es ist nicht zufällig, dass Petitpierre mit keinem Wort die wissenschaftlichen Leistungen des jungen Max Huber erwähnte; in der schweizerischen Politik hat Wissenschaft kein grosses Ansehen.53 Viel bedeutsamer ist die praktische Tätig-
51 Petitpierre, Allocution (Anm. 50), S. 3. 52 Diggelmann (Anm. 31), S. 137 ff. 53 Vgl. Kley (Anm. 45).
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keit, zumal wenn sie im Dienst des Landes erfolgt, wie das bei Max Huber der Fall war. Bundesrat Petitpierre würdigte am Ende seiner Ansprache das praktische Handeln des Verstorbenen:54 «Dans toutes ces activités, si lourdes de responsabilités, ce qui frappe, c’est le réalisme de M. Max Huber, non pas ce faux réalisme qui consiste à s’accommoder de la réalité, à se résigner à ses insuffisances et à ses laideurs, mais un réalisme éclairé par un idéal. Justice, paix, charité sont aussi des réalités et, malgré tous les échecs, deviendront de plus en plus des réalités, grâce à des hommes comme Max Huber. Ce réalisme l’a empêché toujours de se laisser entraîner vers des illusions comme de s’abandonner au découragement».
Max Huber war indes nicht nur Praktiker, sondern in seinen jungen Jahren ein innovativer Wissenschafter. Er liess sich von der damals führenden Abhandlung des Völkerrechts von Johann Caspar Bluntschli beeindrucken und beeinflussen. Bluntschli stellte «die Staaten und ihre Einrichtungen aufgrund ihrer historischen Entwicklung und ihres damaligen Zustandes dar».55 Er befand sich im Gegensatz zur zeitgenössischen Literatur, die naturrechtlich und spekulativ arbeitete. Bluntschli wollte das geschichtlich Gewachsene organisch weiterentwickeln; damit verband sich die Ablehnung aller revolutionären Umbrüche. Er beeinflusste die schweizerische Staatsrechtslehre bis ins 20. Jahrhundert; die meisten Autoren, wie etwa Carl Hilty, Fritz Fleiner, Richard Bäumlin oder JeanFrançois Aubert in seinem Traité von 1967, stellten «den Staat und sein Recht als eine historisch gewachsene Ordnung dar».56 Max Huber übernahm diese Denkweise von Bluntschli und sah das geltende Recht immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen.57
54 Petitpierre, Allocution (Anm. 50), S. 4. 55 Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 268; Dietrich Schindler, J. C. Bluntschli’s contribution to the law of war, in: Liber Amicorum Lucius Caflisch, Leiden 2007, S. 437 ff. 56 Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 269; ebenso Richard Bäumlin, Staatslehre und Kirchenrechtslehre. Über gemeinsame Fragen ihrer Grundproblematik, in Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festschrift für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 3 ff., S. 18: «Recht ist der Daseinsbewältigung in der Geschichte dienende Friedensordnung». 57 Vgl. Diggelmann (Anm. 31), S. 62 m. w. H.; vgl. auch Schindler, Staatslehre (Anm. 44), S. 269.
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Verzeichnis ausgewählter Werke von Max Huber Beiträge zu einer Lehre von der Staatensuccession, Diss. Berlin, Gräfenhain 1897. Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts, Berlin-Grunewald 1928, auch enthalten in Werkausgabe, Band III, S. 49 ff. Denkwürdigkeiten: 1907–1924 (Autobiographie), mit Einleitung und Anmerkung von Peter Vogelsanger, Vorwort von Paul Ruegger, Zürich 1974. Werkausgabe: Vermischte Schriften, Band I: Heimat und Tradition, Gesammelte Aufsätze, Zürich 1947; Band II: Glaube und Kirche, Gesammelte Aufsätze, Zürich 1948; Band III: Gesellschaft und Humanität, Gesammelte Aufsätze, Zürich 1948: Band IV: Rückblick und Ausblick, Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, Zürich 1957
XI Walther Schücking (1875–1935) Christian Tietje Person, wissenschaftliches Werk und praktische juristische Tätigkeit von Walther Schücking prägen die deutschsprachige Völkerrechtswissenschaft bis heute. Sichtbaren Ausdruck findet dies unter anderem darin, dass eines der nach wie vor größten universitären Völkerrechtsinstitute in Deutschland den Namen Walther Schückings trägt: das Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Aufgrund seines relativ frühen Todes war es Walther Schücking dabei nicht vergönnt, über eine lange Zeit hinweg in der und für die Völkerrechtswissenschaft tätig zu sein. Schon das unterscheidet ihn sicherlich von anderen Persönlichkeiten der deutschen Völkerrechtswissenschaft, wie zum Beispiel Hermann Mosler. Sein wissenschaftliches und praktisches Wirken in den Jahren, die ihm gegeben waren, war indes von einer solchen inhaltlichen Wirkungskraft gekennzeichnet, dass es bis heute beeindruckt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die visionären Vorstellungen von Walther Schücking zur „Organisationen der Welt“ (1908), verstanden im Sinne einer rechtsstaatlichen, an pazifistischen und humanitären Grundsätzen ausgerichteten internationalen Ordnung. Gerade in der Zeit nach dem Systemumbruch nach 1989 sowie im Zuge zahlreichen wissenschaftlichen Debatten zur Globalisierung erfuhren die Gedanken von Walther Schücking hohe Aktualität.1
1 Leben und wissenschaftliches Werk von Walther Schücking haben gerade in der jüngeren Zeit ausführliche Darstellungen und Würdigung erfahren. Die nachfolgenden Ausführungen zu Walther Schücking stützen sich umfassend auf die nachfolgend aufgeführten Werke. Mit Blick auf den Charakter des vorliegenden Sammelbandes erschien es nicht angezeigt, alle Einzelheiten durchgehend mit Fußnoten zu belegen; einen wissenschaftlichen Anspruch im eigentlichen Sinne erhebt diese Abhandlung dementsprechend nicht. Bei den genannten Quellen handelt es sich um: Frank Bodendiek, Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung – Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Beeutung, Berlin 2001; ders., Walther Schücking and the Idea of ‚International Organization‘, European Journal of International Law (EJIL) 22 (2011), 741 ff.; Christian J. Tams, Re-Introducing Walther Schücking, EJIL 22 (2011), 725 ff.; Mónica García-Salmones, Walther Schücking and the Pacifist Traditions of International Law, EJIL 22 (2011), 755 ff.; Ole Spiermann, Professor Walther Schücking at the Permanent Court of International Justice, EJIL 22 (2011), 783 ff.; Jost Delbrück, Law’s Frontier – Walther Schücking and the Quest for the Lex Ferenda, EJIL 22 (2011), 801 ff.
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I. Walther Schücking, geboren am 6. Januar 1875 in Münster, wuchs zunächst in Burgsteinfurt im Münsterland auf. Ab 1879 lebte die Familie dann in Münster, wo Schücking seine Kindheit und Jugend verbrachte. Sein familiärer Hintergrund war für ihn prägend. In der Familie gab es eine lange juristische Tradition, verbunden mit politischem Engagement und kulturellen Interessen. Weiterhin bedeutungsvoll war die liberale Geisteshaltung in seiner Familie. Auch der Umstand, dass Walther Schücking zwar zunächst altkatholisch getauft, später dann aber, nach einem entsprechenden Konfessionswechsel der Familie, protestantisch erzogen wurde, spielt hier eine Rolle. Im Sommersemester 1894 begann Schücking das Studium der Rechtswissenschaften in München. Wie viele andere große Juristen auch, lag sein Augenmerk zu Beginn des Studiums allerdings weniger im Bereich rechtswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen. Vielmehr besuchte er Vorlesungen u. a. in den Geschichtswissenschaften und der Nationalökonomie. Nach einsemestrigen Aufenthalten in Bonn und Berlin ging Schücking im Sommersemester 1896 dann nach Göttingen, wo er im Mai 1897 sein Referendarexamen ablegte. Nur wenige Monate später, im Juni 1897, wurde Schücking in Göttingen mit einer zuvor als Preisarbeit eingereichten Schrift zum Thema „Das Küstenmeer im internationalen Recht“ promoviert. Damit war wohl endgültig das Interesse an der wissenschaftlichen Arbeit geweckt, was auch den akademischen Lehrern in Göttingen nicht verborgen blieb. Es war hier Ludwig von Bar (1936–1913) aus dem internationalen Privatrecht, der Schücking fortan wissenschaftlich betreute und bei dem er sich bereits 1899 habilitierte. Mit 25 Jahren, im Wintersemester 1900/01, erfolgte dann, nach Ablehnung eines Rufes nach Jena, die Berufung auf eine außerordentliche Professur in Breslau. 1902 heiratete Schücking seine entfernte Cousine Adelheid von Laer (1881–1952). Die beiden hatten sechs Kinder, fünf Söhne und eine Tochter. Nach der Annahme eines Rufes an die Universität Marburg im August 1902 wurde Schücking dort im Jahre 1903 zum Ordinarius ernannt. Damit hatte er bereits in jungen Jahren eine glanzvolle akademische Karriere vorzuweisen. Neben seinen Forschungsleistungen im öffentlichen Recht und im Völkerrecht zeichnete Schücking scheinbar auch eine hohe pädagogische und rhetorische Begabung aus, die ihm einen großen Kreis von Studierenden und Schülern bescherte. In Marburg entfaltete Schücking außerhalb seiner Lehr- und Forschungstätigkeit rege politische Aktivitäten in linksliberalen Kreisen, u. a. im Nationalsozialen Verein sowie dessen Nachfolgeorganisation, der Fortschrittlichen Volkspartei. Das politische Engagement führte Schücking im eher konservativen Marburg in gesellschaftliche Isolation, die er auch an der eigenen Fakultät spürte. Die
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Nähe zu anderen linksliberalen Intellektuellen konnte hier nur zum Teil Kompensation bieten. Hinzu kamen zunehmende Konflikte von Schücking mit der preußischen Regierung. Die damit ohnehin schwierige Situation verschärfte sich für Schücking nochmals, nachdem er sich zunehmend der pazifistischen Idee und Bewegung zugewandt hatte. Insbesondere vor dem Hintergrund der Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907) wurde die pazifistische Idee ein ganz wesentlicher Bestandteil im akademischen und gesellschaftspolitischen Denken und Wirken von ihm. Schücking konnte dies im Völkerrecht frühzeitig u. a. durch seine bereits 1910 erfolgte Berufung zum associé des Institut de droit international umsetzen, was neben anderen, frühen ehrenvollen Ernennung zugleich seine beachtliche internationale Reputation zeigt. Für den Pazifisten Schücking war der Ausbruch des 1. Weltkrieges naturgemäß ein dramatisches Ereignis. Obwohl Schücking durchaus patriotische Gefühle nicht verbergen konnte, versuchte er seinem pazifistischen Grundanliegen weiterhin gerecht zu werden, ja dieses trotz aller Widrigkeiten sogar international weiter auszubauen. Dies führte zwangsläufig dazu, dass er weitreichenden persönlichen Angriffen und Verleumdungen ausgesetzt war. Noch intensiver indes waren staatliche Repressionen, mit denen Schücking zu kämpfen hatte und die im Ergebnis unter anderem zu einem umfassenden Veröffentlichungs- und Redeverbot führten. Mit dem Ende des Weltkrieges und der neu erlangten Freiheit der Weimarer Republik gehen zahlreiche neue Aktivitäten Schückings einher. Im politischen Bereich war er zunächst Mitglied der verfassungsgebenden Nationalversammlung sowie später dann des Reichstages, dies jeweils für die Demokratische Partei. Auch aus diesen Ämtern heraus, nunmehr noch stärker verknüpft mit seinem völkerrechtlichen Hintergrund, engagierte er sich in der Außenpolitik des Deutschen Reiches. Unter anderem nahm er an den Friedensverhandlungen in Versailles teil. Weniger erfolgreich war indes jedenfalls zunächst das eigentlich akademische Wirken. Der Versuch einer Berufung Schückings auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität scheiterte am Widerstand der dortigen Fakultät. Nach dem Schücking im Jahre 1919 einen Ruf an die Universität Halle-Wittenberg abgelehnt hatte, wurde er 1921 als Nachfolger von Hugo Preuß (1860–1925) Lehrstuhlinhaber an der Handelshochschule Berlin. Die Tätigkeit dort war für Schücking indes wenig befriedigend, da an der Handelshochschule keine originäre Juristenausbildung stattfand. Das änderte allerdings nichts daran, dass Schücking bereits 1921 und dann nochmals 1927 von der deutschen Regierung zum Mitglied des ständigen Haager Schiedshofes ernannt wurde. 1923 benannte ihn die Regierung zum ad hoc-Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) im Wimbledon-Fall, 1928 im oberschlesischen Schulstreit. Überdies war Schücking seit 1924 Mitglieder der Kodifikationskommission des Völkerbundes.
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Schon diese wenigen Hinweise zeigen die völkerrechtliche Reputation Schückings. Mit seiner Berufung im Jahre 1926 an das Kieler Institut für Internationales Recht wurde dies auch akademisch gewürdigt. In Kiel fand Schücking letztlich zum ersten Mal in seiner akademischen Karriere eine Arbeitsstätte, die ihm Arbeitsmöglichkeiten bot, die seinen Interessen und wissenschaftlichen Fähigkeiten voll und ganz entsprachen. Dies nutzte Schücking umfassend. Er prägte durch zahlreiche wissenschaftliche Projekte das Kieler Institut letztlich bis heute. Die damals sehr liberale Atmosphäre an der Kieler Fakultät insgesamt, repräsentiert unter anderem durch die Fakultätsmitglieder Gustav Radbruch (1878–1949), Walter Jellinek (1855–1955) und Hermann Kantorowicz (1877–1940), trug das ihre hierzu bei. Letztlich waren es allerdings nur wenige Jahre, die Schücking aktiv in Kiel verbrachte. Denn bereits am 25. September 1930 wurde er vom Völkerbund zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof gewählt. Im Herbst 1932 siedelte Schücking mit seiner ganzen Familie nach Den Haag um. Vor dem Hintergrund seiner liberalen und pazifistischen Gesinnung sowie der entsprechenden zahlreichen Aktivitäten von Schücking war es nicht verwunderlich, dass er bereits frühzeitig heftigen Anfeindungen der Nationalsozialisten ausgesetzt war. Schon im April 1933 wurde Schücking auf der Grundlage von § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von seinem Professorenamts an der Universität Kiel beurlaubt. Im November 1933 schied Schücking zwangsweise aus dem deutschen Staatsdienst aus. Schücking verstarb am 25. August 1935, gerade erst 60 Jahre alt, an einem plötzlichen Leberleiden. Die Regierung der Niederlande richtete für ihn eine offizielle Trauerfeier aus. Deutschen Boden hatte Schücking nicht mehr betreten. Das Grab von Walther Schücking befindet sich in Oberurff, einem Ortsteil von Zwesten im Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen.
II. Das wissenschaftliche Werk Walther Schückings ist deutlich auf das Völkerrecht konzentriert. Gerade in der Anfangsphase seines wissenschaftlichen Wirkens hat sich Schücking zwar auch unter anderem mit der deutschen Rechtsgeschichte sowie Einzelaspekte des Verfassungsrechts befasst, quantitativ und inhaltlich bedeutungsvoller sind indes seine völkerrechtlichen Arbeiten. Neben klassischen Themen des Völkerrechts, mit denen sich Schücking insbesondere zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere befasste, steht für ihn spätestens seit seiner Abhandlung zur „Organisation der Welt“ aus dem Jahre 1908 die, klassische völkerrechtliche Vorstellungen deutlich weiter entwickelnde und zum Teil
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hiermit im Konflikt stehende Perspektive einer dauerhaften internationalen Friedensordnung auf der Basis des Rechts und einer entsprechenden rechtlichen Organisation der internationalen Beziehungen im Mittelpunkt seines Interesses. Es war insofern konsequent, dass die Beschäftigung mit der Völkerbundsatzung nach Ende des Ersten Weltkrieges ein wichtiges wissenschaftliches Arbeitsgebiet von Schücking wurde. Das ihn hierbei prägende methodische und inhaltliche Vorverständnis ist auf der einen Seite sehr eng mit den Arbeiten Immanuel Kants verbunden, sowie auf der anderen Seite durch eine strikte Ablehnung des Rechtspositivismus und ein Plädoyer für die Rechtspolitik und damit die lex ferenda als Arbeitsgebiete des Rechtswissenschaftlers geprägt. Das philosophische Fundament der Arbeiten Schückings war, auch seinem eigenen expliziten Bekenntnis nach, der Idealismus, d. h. die Betonung der Bedeutung von Ideen. Schücking stützte sich hierbei zentral auf Immanuel Kant, was der Bedeutung des Neukantianismus in seiner Zeit entsprach. Auch aus dem Kontakt zu und dem Austausch mit Neukantianern seinerzeit erwuchs für Schücking die Überzeugung, dass Wissenschaft Ideen im Sinne von Problemlösungen für gesellschaftspolitische Probleme und Herausforderungen zu erarbeiten und zu präsentieren habe. Diese Überzeugung steht im Einklang mit der Ablehnung der historischen Rechtsschule sowie des Rechtspositivismus durch Schücking. Schücking bekannte sich zu Rudolf Stammler (1856–1938) und seiner rechtsmethodischen Verbindung der historischen Perspektive mit auf das Rechtspolitische ausgerichteten naturrechtlichen Vorstellungen. Die sozialen Verhältnisse als Gegenstand der Rechtswissenschaft rücken damit ins Zentrum des methodischen Verständnisses. In diesem Sinne sah sich Schücking selbst einer „evolutionistischen“ Rechtsmethodik verpflichtet, wie sie unter anderem auch der Straf- und Völkerrechtler Franz von Liszt (1851–1919) in seinem Wirken in Halle (Saale) und später dann Berlin vertrat. Damit war für Schücking jedoch keine Vermischung, sondern vielmehr weiterhin eine klare Trennung von lex lata und lex ferenda verbunden. Entscheidend war für ihn, dass die Aufgabe der Rechtswissenschaft nicht in der reinen Analyse der lex lata zu sehen sei, sondern vielmehr auch wissenschaftliche Verantwortung gerade im rechtspolitischen Bereich wahrgenommen werden müsse. Schücking machte dieses rechtsmethodische Anliegen gerade für das Völkerrecht gelten. Für ihn war es geradezu ein Wesensmerkmal der Völkerrechtswissenschaft, die Zukunftsgestaltung zentral in den Blick zu nehmen. Inhaltlich, so Schücking, müsse dabei ein modernes Naturrecht als Orientierung gelten. Die völkerrechtlichen Grundsätze der Gerechtigkeit und der Sittlichkeit waren für Schücking insofern inhaltliche Fixpunkte. In enger Verbindung zu den angedeuteten rechtsmethodischen Vorstellungen von Walther Schücking stehen seine Überlegungen zum Verhältnis von Völkerrechts und Pazifismus. Für ihn sind
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Völkerrecht und Pazifismus inhärent und untrennbar verbunden. Insofern ist Schückings Engagement in der pazifistischen Bewegung mehr als eine reine Verwirklichung politischer Vorstellungen; vielmehr ging es ihm hierbei letztlich um die Verwirklichung eines wissenschaftsmethodischen und inhaltlichen Grundanliegens als Völkerrechtler. Die über das rein methodische hinausgehende inhaltliche Grundüberzeugung Schückings lässt sich in der Aussage „Frieden durch Recht“ zusammenfassen. Damit knüpfte Schücking unmittelbar an die Grundüberlegungen von Immanuel Kant in seinem „Ewigen Frieden“ (1795) an. Mit dieser Grundüberzeugung, die Schücking bereits frühzeitig artikulierte, stand er außerhalb des etablierten Kreises von Völkerrechtlern. Zwar wurde die rechtsnormative Wirkungskraft und Geltung des Völkerrechts damals nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt, allerdings wurde die Bedeutung des Völkerrechts doch in weiten Kreisen auf einzelne Bereiche, wie z. B. das Diplomatenrecht, begrenzt. Im Zeitalter eines, auch nach Gründung des Völkerbundes noch bestehenden freien Kriegsführungsrechts (liberum ius ad bellum), war es insofern ausgesprochen fortschrittlich, eine umfassende völkerrechtliche Rechtsbindung im Hinblick auf das weltweite Friedensziel einzufordern. Die organisatorische Ausgestaltung des internationalen Systems im Sinne einer umfassenden Rechtsbindung sollte nach Auffassung Schückings der republikanischen Idee entsprechen; hiermit knüpfte Schücking abermals unmittelbar an Immanuel Kant an. Ebenso wenig wie bei Kant, ging es Schücking bei der „Organisation der Welt“ um einen „Weltstaat“. Vielmehr sollte ein gleichberechtigtes Nebeneinander der Staaten auf Rechtsbasis entstehen, das durch eine entsprechende internationale Organisation mit eigenständigen Organen abgesichert wird. Die Grundidee dieser Organisationsform war natürlich, dass der Krieg als Konfliktlösungsstrategie überflüssig und durch friedliche Streitbeilegungsmechanismen abgelöst wird. Ein Widerspruch zur Idee staatlicher Souveränität sah Schücking hierin Übrigens nicht. Vielmehr war internationale Kooperation mit Rechtsbindung für ihn Ausdruck gelebter und insofern auch notwendiger Souveränitätsausübung. Darüber hinausgehende abstrakt-theoretische Debatten zum Souveränitätsbegriff, wie sie damals unter anderem von Carl Schmitt geführt wurden, waren für Schücking nicht von primärem Interesse. Erste Ansätze zu einer zumindest im Werden begriffenen republikanischen Organisation der Welt sah Schücking im „Staatenverband von Haag“ (1912), d. h. den inhaltlichen und organisatorischen Ergebnissen der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Diese Einschätzung wurde in weiten Teilen der deutschen Völkerrechtswissenschaft indes skeptisch beurteilt bzw. erfuhr deutliche Ablehnung. Erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges und dann in der Zeit ab 1918 erfuhr Schücking mit seinen Ideen zu einer universellen Friedensorganisa-
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tion wieder Aufmerksamkeit. Schücking war insbesondere maßgeblich an dem Gegenentwurf der neuen deutschen Regierung zum Vorschlag für eine Völkerbundsatzung der Alliierten beteiligt. Obwohl Walther Schücking den Versailler Friedensvertrag aus politischen Gründen scharf ablehnte, stand er dem Völkerbund zunächst verhalten, später dann geradezu positiv-euphorisch gegenüber. Der von Schücking zusammen mit Hans Wehberg (1885–1962) verfasste Kommentar zur Völkerbundsatzung, der im September 1921 in erster Auflage erschien, spiegelt dies wider. Der Kommentar, der in insgesamt drei Auflagen erschien, stellte eine herausragende wissenschaftliche Leistung dar. Es handelte sich um das Standardwerk der damaligen Zeit. Auf heute bezogen lässt sich der Kommentar mit dem von Bruno Simma begründeten Kommentar der Charta der Vereinten Nationen vergleichen.
III. Wendet man sich den Details der Konzeption Walter Schückings einer internationalen Organisation des internationalen Systems zu, so fällt unmittelbar das Visionäre seiner Gedanken zu seiner Zeit sowie die Aktualität seiner Überlegungen in der heutigen Völkerrechtsordnung auf. An erster Stelle der primär rechtspolitischen Forderungen von Schücking standen ein rechtlich verankertes Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen, damit verbunden die weltweite Abrüstung als Gegenstand völkerrechtlicher Betrachtung und eine obligatorische internationale friedliche Streitbeilegung. Im Hinblick auf ein universelles Gewaltverbot musste sich allerdings auch bei Schücking die Vorstellung hiervon erst im Laufe der Zeit entwickeln. Noch vor dem Ersten Weltkrieg argumentierte Schücking, dass zwar kein absolutes Gewaltverbot bestehe, das ius ad bellum aber prozedural durch eine zunächst bestehende Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung eingeschränkt sei. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ging Schücking im Einklang mit den internationalen Entwicklungen einen Schritt weiter und unterstützte nachdrücklich ein universelles Gewaltverbot. Insbesondere der Briand-Kellog-Pakt aus dem Jahre 1928 wurde von ihm euphorisch begrüßt. Mit Blick auf eine internationale friedliche Streitbeilegung war zwar auch für Schücking klar, dass eine solche mit verpflichtender Wirkung für alle Staaten nur schwer zu realisieren sei. Dessen ungeachtet war für Schücking aber bereits das auf der ersten Haager Friedenskonferenz erarbeitete internationale Abkommen über die friedliche internationale Streitbeilegung ein Meilenstein in der Völkerrechtsentwicklung.
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Nach der Gründung des Völkerbundes konzentrierte sich Schücking dann auf eine Analyse der Mediation bzw. Vermittlung, so wie sie auch als Aufgabe des Völkerbundes im Rahmen der friedlichen internationalen Streitbeilegung vorgesehen war. Das entsprechende Werk von ihm „Das völkerrechtliche Institut der Vermittlung“ aus dem Jahr 1923 fand weitreichende internationale Beachtung und stellt eine große wissenschaftliche Leistung dar. In einer Linie mit Schückings Interesse an der außergerichtlichen Streitbeilegung steht seine später aufgestellte Forderung nach der Schaffung eines „Billigkeitsgerichtshofs“. Für ihn war insofern entscheidend, dass die institutionalisierte friedliche Streitbeilegung entpolitisiert und über das rein positive Recht hinausgehend, und damit das Mandat eines reinen Gerichtshofes überschreitend, ausgestaltet sein muss. Ein weiterer, von Schücking immer wieder thematisierter Punkt in der zukünftigen Ausgestaltung der Völkerrechtsordnung war die Notwendigkeit der Schaffung einer internationalen Exekutive. Schücking legte seine Auffassungen hierzu zusammenfassend und umfassend in dem letzten großen Aufsatz, den er schrieb, zusammen mit seinen Kieler Mitarbeitern Viktor Böhmert und Curt Rühland im Jahre 1932 dar („Die Organisation der Völkerbundexekution gegen den Angreifer“, Zeitschrift für Völkerrecht 1932, S. 529–571). Insgesamt ging es ihm zentral um eine Durchsetzungsgewalt im Sinne einer internationalen Polizei. Zentral war für Schücking dabei die Überlegung, dass die internationale Friedenssicherung nicht auf die rein „freiwillige“ Befolgung internationaler Schiedssprüche vertrauen könne. Schückings Vorstellungen einer internationalen institutionalisierten Zwangsgewalt im internationalen System stießen jedenfalls in Deutschland auf massive Ablehnung. Die heutige Funktion, die der VN-Sicherheitsrat jedenfalls zum Teil einnimmt, zeigt die Aktualität der Überlegungen von Walther Schücking. Neben bedeutenden Arbeiten zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und damit verbunden zum internationalen Minderheitenschutz sowie auf dem Gebiet der Kodifikation des Völkerrechts sei noch auf die visionären Überlegungen von Schücking zur „Sozialisierung“ des Völkerrechts hingewiesen. Schücking ging es im Kern darum, die internationale Friedenssicherung über das universelle Gewaltverbot hinausgehend positiv im internationalen System dadurch zu verankern, dass Anstrengungen zur Schaffung einer internationalen Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft unternommen werden. Insofern kam es Schücking darauf an, jedenfalls in Teilbereichen des internationalen Lebens Rechtsstrukturen zu etablieren, die über partikulare einzelstaatliche Interessen hinausgehend internationale Gemeinschaftsinteressen in den Blick nehmen. Das wurde von ihm zunächst im Hinblick auf die rechtliche Organisation der Kontrolle der Weltmeere entwickelt. Schücking ging es hierbei im Kern um das, was später als „Internationalisierung staatsfreier Räume“ charakterisiert wurde (R. Wolfrum, Berlin u. a.
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1984). Seine entsprechenden Überlegungen weitete Schücking später z. B. auf die internationale Verwaltung von Rohstoffen sowie die Notwendigkeit der Errichtung eines Internationalen Kartellamtes aus. Insgesamt kann damit für die völkerrechtswissenschaftliche Tätigkeit von Walther Schücking als Zwischenfazit festgehalten werden, dass er sich auf der Grundlage ausgesprochen großer Produktivität mit zahlreichen völkerrechtlichen Einzelaspekte sowie den großen Themen der Verrechtlichung des internationalen Systems seinerzeit auseinandergesetzt hat. Schückings wissenschaftliches Werk ist durch zahlreiche Abhandlungen, also weniger durch einen „großen Wurf“ gekennzeichnet. Im Detail zeichnen sich die Arbeiten von Schücking nicht so sehr durch Originalität aus; Schücking stützte sich vielmehr durchgehend auf Gedankenansätze die anderswo im wissenschaftlichen Schrifttum bereits entwickelt wurden. Beeindruckend ist aber die Stringenz, mit der Schücking die großen Leitlinien seiner persönlichen und wissenschaftlichen Überzeugungen konsequent verfolgt. Auf dieser Basis gelingen ihm in vielen Bereichen visionäre Entwürfe, deren heutige Aktualität beeindruckend ist.
IV. Im Lebenswerk Walter Schückings darf seine richterliche Tätigkeit nicht unerwähnt bleiben. Wie bereits hervorgehoben, war Schücking bereits vor seiner Ernennung als Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof hier in zwei Verfahren als ad hoc-Richter tätig. Schon in dem ersten Verfahren des StIGH überhaupt, dem Wimbledon-Fall, in dem auch Schücking als ad hoc-Richter mitwirkte, zeigte sich dabei, dass Schücking auf der Richterbank seine sehr visionären Völkerrechtsvorstellungen zu Gunsten einer realitätsorientierten lex lata-Perspektive zurückstellte. In der Interpretation des für den Streitfall maßgeblichen Artikels des Versailler-Friedensvertrages konnte Schücking nicht mit der Mehrheit der Richter übereinstimmen und verfasste eine abweichende Meinung. In dieser vertrat er aus Souveränitätsgesichtspunkten heraus einen sehr restriktiven Interpretationsansatz. Ganz ähnlich fiel die abweichende Meinung des jetzt bereits als ständiges Mitglied des Gerichtshofes berufenen Richters Schücking im Verfahren zur deutsch-österreichische Zollunion (1931) aus. Auch hier nahm Schücking eine sehr souveränitätsbetonte Position ein. Insgesamt wirkte Walther Schücking zusätzlich zu den beiden Verfahren als ad hoc-Richter in seiner nur kurzen Zeit am Gerichtshof von 1931 bis 1935 an fünf Urteilen, acht Gutachten sowie fünf weiteren Verfahren, die nicht abgeschlossen wurden, mit. Wie bereits angedeutet, beschränkte sich Schücking im Rahmen
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seiner richterlichen Tätigkeit im Wesentlichen auf das, was mit diesem Amt verbunden war. Er nutzte sein Amt nicht dazu von der Richterbank aus Rechtspolitik zu betreiben. Die von Schücking immer wieder betonte Notwendigkeit einer strikten Differenzierung zwischen der lex lata und der lex ferenda kommt hier zum Ausdruck. Damit steht im Einklang, dass Schücking seine Tätigkeit am Gerichtshof sehr ernst nahm, was unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass er zu keiner Sitzungsperiode des Gerichtshofes fehlte. Insgesamt hatte Walther Schücking schon mit Blick auf seine nur kurze Zeit am Gerichtshof nicht die Gelegenheit, sich als internationaler Richter in hohem Maße zu profilieren, so wie es zum Beispiel seinem Weggefährten Max Huber (1874–1960) gelang. Am Gerichtshof war Schücking eher der zurückhaltende Diener des Rechts.
V. Walther Schücking ist einer der Großen der deutschen Völkerrechtswissenschaft. Wie kaum jemand anderes vertrat Schücking frühzeitig die „optimistische“ und „idealistische“ deutsche Völkerrechtsschule, die eine bis heute nicht zu unterschätzende Rolle in der deutschen Völkerrechtswissenschaft spielt. Ebenso wie heute die deutschen „Völkerrechtsoptimisten“ zahlreichen, zum Teil polemischen Anfeindungen ausgesetzt sind, erging es auch Walther Schücking. Sein wissenschaftliches Wirken fand in Deutschland zu seinen Lebzeiten kaum Anerkennung. Schücking wurde vielmehr wesentlich intensiver im Ausland rezipiert. Die herausragende internationale Reputation, die er sich u. a. wissenschaftlich erwarb, kommt in zahlreichen internationalen Auszeichnungen und in ehrenvollen Mitgliedschaften sowie schließlich in seiner Wahl zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof zum Ausdruck. Die nicht utopische, sondern visionäre wissenschaftliche Ideenwelt des Walther Schücking ist bei einem heutigen Blick in völkerrechtliche Diskussionen allgegenwärtig. Mehr Anerkennung kann ein wissenschaftliches Werk kaum erfahren.
Auswahlbibliographie Das Küstenmeer im internationalen Rechte – im Völkerrecht wie im internationalen Privat- und Strafrechte. Eine von der juristischen Facultät der Universität Göttingen preisgekönte Preisschrift, Göttingen 1897, VIII, 87 S.
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Die Organisation der Welt, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktorpromotion, Tübingen 1908, Bd. 1, S. 533–614; als selbstständige Ausgabe erschienen Leipzig 1909, 84 S. Der Staatenverband der Haager Konferenzen, Bd. 1: Das Werk vom Haag, München/Leipzig 1912, XII, 328 S. Bertha von Suttner und die Wissenschaft vom Völkerrecht, Friedens-Warte 16 (1914), S. 252–256. Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges, Leipzig 1918, 239 S. Internationale Rechtsgarantien – Ausbau und Sicherung der zwischenstaatlichen Beziehungen, Hamburg 1918, 135 S., 2. Auflage 1919. Der Bund der Völker – Studien und Vorträge zum organisatorischen Pazifismus, Leipzig 1918, 172 S. mit Wehberg, Hans (Hrsg.), Die Satzung des Völkerbundes, Berlin 1921; 2. Auflage Berlin 1924, 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage, Bd. 1, Berlin 1931. Das völkerrechtliche Institut der Vermittlung, Publications de l’Institut Nobel Norvégien, Tome V, Kristiania 1923, 346 S. Methoden der Kodifikation des Völkerrechts, Bericht für die XXIV. Interparlamentarische Konferenz, Union Interparlmentaire, Compte rendu de la XXIe Conférence tenue à Paris du 25 au 30 aout 1927, Lausanne 1927, S. 176–178, 463–467, 519–521. Die Organisation der Völkerbundexekution gegen den Angreifer, Zeitschrift für Völkerrecht 16 (1932), S. 529–571 (zusammen mit Rühland und Böhmert). Der Schutz der wohlerworbenen Recht im Völkerrecht, in: Festgabe für Max Huber zum 60. Geburtstag am 28.12.1934, Zürich 1934, S. 198–218 Die Aufgaben der deutschen Völkerrechtswissenschaft, Friedens-Warte 34 (1934), S. 145–150.
XII Hans Nawiasky (1880–1961) Yvo Hangartner †
I. Leben und Wirken Hans Nawiasky wurde am 24. August 1880 in Graz geboren. Am 11. August 1961, also wenige Tage vor seinem 81. Geburtstag, verstarb er in St. Gallen. Der Lebenslauf ist in zwei Teile gegliedert, die sich markant unterscheiden. Der erste Teil umfasst die Zeit bis zur Emigration in die Schweiz im Jahre 1933. Es war die Zeit, in der das alte Europa in fruchtbarer Vielfalt zu neuen Höchstleistungen fand, aber auch in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs schlitterte. Der zweite Teil im Leben von Hans Nawiasky umfasste die Zeit ab der Emigration, also eine Zeit der Barbarei und Zerstörung und später des Wiederaufbaus in Rückbesinnung auf die Werte, die Europa gross gemacht hatten. In beiden Epochen hat Hans Nawiasky mitgestaltet und mitgelitten; sie spiegeln sich geradezu in seinem Leben und machen es exemplarisch und faszinierend. Väterlicherseits entstammt Nawiasky einer jüdischen Familie in Kowno (Kaunas), Litauen; die dortige jüdische Gemeinde war gross und kulturbeflissen, weshalb die Stadt als zweites Jerusalem bezeichnet wurde. Die Endung -ki im Familiennamen (veredelt zu -kr) ist typisch polnisch; das erstaunt nicht angesichts der engen geschichtlichen Verbindung von Litauen und Polen. Der Vater, Eduard Nawiasky, war Sänger; er kam nach Österreich zum Studium am Wiener Konservatorium und wirkte dann an Theatern und Opernhäusern in Wien und in Graz, wo sein Sohn Johannes (= Hans Nawiasky) geboren wurde. In den letzten Jahren seiner Sängerlaufbahn trat der Vater in Stuttgart, Frankfurt am Main und Braunschweig auf. Die Mutter Malwine, eine geborene Spitzer, war die Tochter eines Professors an der Handelsakademie in Wien. Der Umzug der Familie nach Frankfurt am Main, wo der Vater von 1885 bis 1902 an den Vereinigten Stadttheatern wirkte, hatte zur Folge, dass der junge Hans Nawiasky seine entscheidenden Schuljahre, also namentlich die Gymnasialzeit, in Deutschland verbrachte. Er war Deutschland also schon früh verbunden. Rechts- und Staatswissenschaften studierte Nawiasky in Berlin und zur Hauptsache in Wien, wo er bei einem herausragenden Nationalökonomen und Verfasser eines Standardwerkes über Politische Ökonomie, Eugen Philippovich, mit einer staatswissenschaftlichen Arbeit über „Die Frauen im österreichischen Staatsdienst“ 1902 promovierte. Die Dissertation führte zu einer Anstellung in der
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k. und k. Postverwaltung. Am Ersten Weltkrieg nahm Nawiasky denn auch als höherer Offizier der k. und k. Post teil. Mit den rechtlichen Problemen im Zusammenhang der Postverwaltung setzte sich Nawiasky offensichtlich weit mehr auseinander, als dies bei jungen Beamten üblich ist. Das Ergebnis waren aber nicht, wie in solchen Fällen typisch, kleinere Beiträge in Fachzeitschriften, sondern gleich eine einlässliche Monographie, sein „Deutsches und österreichisches Postrecht“ als ein „Beitrag zur Lehre von den öffentlichen Anstalten“. Mit diesem Werk, das Nawiaskys Interesse für gleichzeitig dogmatische und praxisbezogene Themen bezeugt, habilitierte er sich 1909, dem Jahr, in dem die Arbeit erschienen war, an der Universität Wien. Ab 1914 war Nawiasky mit der Universität München verbunden. Die Stationen seines Wirkens waren: 1919 ausserordentlicher Professor, 1922 Ausbau dieser Professur, 1928 ordentlicher Professor und 1929 zusätzlich Leiter des neu errichteten Instituts für Reichs- und Landesstaatsrecht sowie Verwaltungsrecht. Mit der von ihm aufgebauten Verwaltungsakademie und mit Lehrtätigkeit im Rahmen der Aus- und Weiterbildung von Beamten diente er zusätzlich unmittelbar der Praxis. Bei dieser vita activa überrascht nicht, dass Nawiasky sich auch von Anfang an am Wirken der 1922 gegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer rege beteiligte. Er begann mit Diskussionsvoten an der ersten ordentlichen Tagung in Jena 1924 zu den Themen Föderalismus sowie Diktatur des Reichspräsidenten und an der nächsten Tagung in Leipzig 1925 zum Thema Gemeindeverfassungsrecht. An der Tagung von 1926 in Münster legte er einen Mitbericht zum Thema Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung vor. Im Tagungsband 1926 ist Nawiasky bereits als Mitglied des dreigliedrigen Vorstandes ausgewiesen. In folgenden Tagungsbänden ist er auch als Schriftführer vermerkt. Ebenso wenig überrascht, dass der in München tätige Nawiasky die politische Entwicklung im Deutschland der Weimarer Republik aufmerksam und engagiert begleitete. Er war Berater der bayerischen Staatsregierung und 1928–1930 Mitglied des Verfassungsausschusses der Länderkonferenzen. Verschiedene Male vertrat er Bayern vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Früh erkannte Nawiasky den barbarischen Zug und die Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Bewegung. Dazu mag seine jüdische Abstammung beigetragen haben, auch wenn Nawiasky Katholik war. Nawiasky musste den Nationalsozialismus aber vor allem deswegen ablehnen, weil er als in rechtsstaatlichen Kategorien denkender Jurist, als Föderalist und als Demokrat die Zersetzung des Rechts und der verfassungsrechtlichen Ordnung eine Bewegung nicht verstehen oder gar billigen konnte, der ihrer ganzen Anlage nach die Achtung des Rechts, politische Meinungsvielfalt und Teilung der Gewalten (im weiteren Sinn des Wortes) fremd war und die daher zwangsläufig in die Diktatur münden musste.
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Die tiefe Wesensverschiedenheit von Nawiaskys politischer Überzeugung und der auf die Herrschaft eines Führers ausgerichteten neuen rechtsextremen Bewegung führte denn auch dazu, dass Nawiasky schon bald zur Zielscheibe nationalsozialistischer Angriffe wurde. Die jüdische Abstammung diente dazu nur als billiger demagogischer Aufhänger. Der weltanschauliche Gegensatz erklärt, warum die Angriffe weit über die abschätzigen Bemerkungen und die Belästigungen hinausgingen, die Persönlichkeiten jüdischer Abstammung bereits in der Endphase der Weimarer Republik erdulden mussten. Nawiasky hatte im Hörsaal den Kritikern des Versailler Friedensvertrages entgegengehalten, dass auch das Deutsche Reich in den Friedensschlüssen des Jahres 1918 von Brest-Litowsk und Bukarest zum Mittel des Diktatfriedens gegriffen habe (ohne dass er deswegen den Versailler Vertrag verteidigt hätte). Wegen dieser Einschätzung kam es 1931, aufgehetzt von aussen und unter Mitwirkung von nichtstudentischen Randalierern, zu den sogenannten Münchener Universitätskrawallen, derentwegen die Universität wochenlang geschlossen werden musste. Im bayerischen Landtag, wo ein Zivilrechtskollege aus Erlangen die Kritik vortrug, wurde Nawiasky hingegen vom Kultusminister unzweideutig in Schutz genommen; der Rechtsstaat Bayern funktionierte noch. Unmittelbar nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten kam es zu einem Überfall auf Nawiasky Wohnung in München. Nawiasky befand sich in Stuttgart. Ein ehemaliger Assistent orientierte ihn telefonisch. Weil Nawiasky sich seiner Freiheit und seines Lebens nicht mehr sicher fühlen konnte, kehrte er nicht nach München zurück, sondern emigrierte unverzüglich in die Schweiz. Seine Familie und seine Bibliothek folgten ihm nach. Die Bücher wurden von Konstanz über die Grenze nach Kreuzlingen gebracht, wobei sowohl der deutsche Zoll des noch nicht totalitär durchorganisierten Dritten Reichs und der Schweizer Zoll beide Augen zudrückten; so hat es zumindest der Verfasser dieser Zeilen von seinem Vater, der mit Nawiasky gut bekannt war, erfahren. In die Schweiz und nicht wie viele andere politisch Bedrohte in die Tschechoslowakei, die Niederlande oder England emigrierte Nawiasky, weil er als Bewunderer der direkten Demokratie schon früh Kontakte in die Schweiz geknüpft hatte. Er hatte auch schon vor der Emigration einmal eine Landsgemeinde in Appenzell besucht und offenbar in Vorahnung möglicher Verfolgung durch die Nationalsozialisten Geld in die Schweiz transferiert. An dieser Stelle darf vielleicht erwähnt werden, dass das Bankgeheimnis der besonderen schweizerischen Prägung, das heute sukzessive abgeschafft wird, in den Dreissigerjahren des vergangenen Jahrhunderts eingeführt wurde, um Personen, die im Deutschen Reich aus politischen oder rassischen Gründen verfolgt wurden (und damit natürlich auch die von den Transfers profitierenden Banken), zu schützen.
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Dank seines Rufes als führender Staatsrechtslehrer und dank guter persönlicher Verbindungen fand Nawiasky in der Schweiz eine Aufnahme, wie sie die meisten anderen Emigranten nur erträumen konnten. Während etwa der Schriftsteller Robert Musil, der Verfasser des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“, in Genf in dürftigen Verhältnissen leben musste, oder der begnadete Sänger Joseph Schmidt in einem Internierungslager im Rahmen der sogenannten Anbauschlacht nicht gewohnte körperliche Arbeit leisten musste und dabei umkam, wurde Nawiasky ehrenvoll und geradezu freundschaftlich aufgenommen. Auf Initiative des damaligen Rektors der im Aufbau begriffenen Handelshochschule St. Gallen, Walther Hug, erhielt er bereits im Wintersemester 1933/34 einen ersten Lehrauftrag. 1937 wurde er zum ausserordentlichen Professor (Verleihung des Professorentitels und der Rechte eines Ordinarius) und kurz vor Kriegsende 1944 zum Ordinarius befördert. Dass Nawiasky eine Lehrtätigkeit aufnehmen konnte, war Ausdruck einer Vorzugsbehandlung; sonst galt für Emigranten ein (in der Wirtschaftskrise der Dreissigerjahre mit ihren vielen Arbeitslosen arbeitsmarktpolitisch begründetes) Verbot von Erwerbsarbeit. Ausdruck besonderer Wertschätzung war auch, dass Nawiasky das sensible Fach Staatsrecht anvertraut wurde. Das war keine Selbstverständlichkeit bei einem Ausländer in der sich in jener Zeit bedroht fühlenden, auf Abwehr eingestellten Eidgenossenschaft. Im Rahmen seiner akademischen Tätigkeit an der Handelshochschule St. Gallen veranlasste Nawiasky die Errichtung des mit Lizenziat und Doktorat abzuschliessenden verwaltungswissenschaftlichen Lehrgangs, dessen spiritus rector er Zeit seines Lebens war. Auch wurde Nawiasky der erste Leiter des 1938 auf seine Initiative begründeten Schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Handelshochschule St. Gallen (heute: Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis an der Universität St. Gallen). Träger des Instituts waren nicht nur die Hochschule, sondern als Mitglieder auch die meisten Kantone, zahlreiche Gemeinden sowie Verbände des Personals der öffentlichen Verwaltungen. Das Institut war auch von Anfang an eine erfolgreiche Institution zur Weiterbildung von Angehörigen der öffentlichen Verwaltung. Behandelt wurden, charakteristisch für Nawiasky, nicht nur ausgesprochen praxisbezogene Fragen, sondern (trotz geringerer Nachfrage und damit geringerer Einnahmen) allgemeine, grundsätzliche Themen. Von Nawiaskys Engagement zeugen auch die sofort einsetzenden Veröffentlichungen des Instituts, in denen die Referate der Tagungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden: Das Vormundschaftsrecht, Personalprobleme der öffentlichen Verwaltung, die Verkehrsmittel im Dienst der Wohn- und Siedlungspolitik, die Gemeindeautonomie, die Volksrechte – so lauten die Überschriften der ersten Bände der Institutsreihe.
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Aufgrund seiner Lehr- und Institutstätigkeit erstattete Nawiasky auch Rechtsgutachten, z. B. zur Frage, ob und wie viele Mitglieder der Regierung des Kantons St. Gallen dem Bundesparlament angehören dürfen. An der Handelshochschule St. Gallen wurde Nawiasky gut aufgenommen. Er diente zweifellos auch als Aushängeschild der damals noch kleinen Hochschule, die erst viel später zur Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechtsund Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG), geworden ist. Das gute Einvernehmen mit den Kollegen an der Hochschule äusserte sich auch nach Kriegsende, als Nawiasky zusammen mit dem Germanisten Georg Thürer und anderen Professoren Hilfsaktionen für München organisierte und Vorträge von Schweizer Kollegen an der wiedereröffneten Münchener Universität vermittelte. Eher reserviert reagierten offenbar einzelne Professoren an Juristischen Fakultäten anderer Schweizer Universitäten, die Nawiaskys Art als typisch deutsch empfanden und in der damaligen Zeit von vornherein gegenüber allem Deutschen, und zudem gegenüber deutscher Konkurrenz, abwehrend reagierten. Die gute Aufnahme in St. Gallen überwog aber alle möglicherweise negativen Eindrücke. Nawiasky blieb daher auch nach dem Krieg der Handelshochschule St. Gallen und der Schweiz treu und wohnte mit seiner Gattin (die Tochter, eine Künstlerin, war inzwischen ausgeflogen) weiterhin in St. Gallen. Während der Emigrationszeit pflegte Nawiasky auch Kontakte mit Schweizer Bekannten über den Kreis der Hochschule hinaus. Im damals als Journalistenund Politikertreffpunkt bekannten Cafe Seeger in St. Gallen war er Mitglied eines „Stammes“ politisch interessierter Persönlichkeiten, die sich dort unter der Woche regelmässig nach dem Mittagessen einfanden und die Aktualitäten diskutierten. Die Verbindungen zu Journalisten ermöglichten Nawiasky unter Pseudonymen einem Emigranten eigentlich verbotene breite politisch-publizistische Tätigkeit. Mit ihr setzte sich Nawiasky gegen nationalsozialistische Einflüsse und für Rechtsstaat und Demokratie ein und leistete damit über die Handelshochschule hinaus einen Beitrag zur, wie es damals hiess, geistigen Landesverteidigung der in jenen Jahren in ihrer Existenz und Wesensart bedrohten Eidgenossenschaft. 1947 nahm Nawiasky seine Professur an der Universität München wieder auf, ohne jedoch die Lehr- und Institutstätigkeit in St. Gallen aufzugeben. Dementsprechend pendelte er unablässig mit der Eisenbahn von St. Gallen nach München und zurück, mit Vorliebe vertieft in Manuskripte von Dissertationen. Während des Krieges hatten sich Hans Nawiasky und der ebenfalls im schweizerischen Exil lebende sozialdemokratische Politiker Wilhelm Hoegner, der spätere zweite Nachkriegsministerpräsident Bayerns, getroffen. Schon damals diskutierten sie den staatsrechtlichen Wiederaufbau Bayerns und Deutschlands nach dem erhofften und nach Ausbruch des Krieges absehbaren Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Nawiasky spielte dann auch eine zentrale Rolle bei
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der Wiederherstellung Bayerns und der Ausarbeitung der Verfassung des Freistaates vom 2. Dezember 1946. Die Aussage in Art. 99 Satz 1, die Verfassung diene dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner, entspricht genau der Vorstellung von Nawiasky, dass der Staat um des Menschen willen besteht. Die Überhöhung des Staates, auch im Sinn einer die deutsche Geschichte prägenden idealistischen Staatsphilosophie, lag ihm fern. Auf die intensive Mitwirkung am staatsrechtlichen Wiederaufbau Bayerns geht Nawiaskys Werk über die bayerische Verfassung aus dem Jahre 1946 (mit Ergänzungsband 1953) zurück. 1948 war Nawiasky auch an den Arbeiten des Herrenchiemseer Konvents zur Vorbereitung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Darauf geht seine konzise Darstellung und kritische Würdigung der Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (1950) zurück, ein spätes Pendant zur Schrift über die Grundgedanken der Reichsverfassung (1920). In seinen letzten Jahren befasste sich Nawiasky noch stärker als zuvor mit grundsätzlichen Fragen. Er setzte sich mit der Thematik von positivem und überpositivem Recht und anderen Fragen der Allgemeinen Rechtslehre auseinander. Vor allem widmete er sich in geduldiger Arbeit seiner mehrbändigen „Allgemeinen Staatslehre“, die aber nicht das von ihm erhoffte Echo fand. Hans Nawiasky starb am 11. August 1961 an den Folgen eines Schlaganfalles. Einen Ruhestand hatte er nicht gekannt; er war als ein echter Gelehrter bis zu seinem Tod wissenschaftlich tätig.
II. Schrifttum und Wirkung Hans Nawiasky hat rege publiziert. Schwerpunkte waren das Bundesstaatsrecht, die Allgemeine Staatslehre und die Allgemeine Rechtslehre. Begonnen hat Nawiasky mit der Behandlung von Themen, die gleichzeitig aktuell und zukunftsweisend waren. Es waren dies die sich wandelnde Stellung der Frauen (mit der Dissertation über „Die Frauen im österreichischen Staatsdienste“, Wien 1902) und die Bundesstaatlichkeit in den neuen republikanischen Verhältnissen (mit dem grundlegenden Werk „Der Bundesstaat als Rechtsbegriff“, Tübingen 1920). Von Anfang an schaltete sich Nawiasky auch mit kleineren Beiträgen in die wissenschaftliche und politische Diskussion ein. Er war ein leidenschaftlicher Debattierer. Davon zeugen auch die vielen Voten an Tagungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Die Zäsur der Emigration in die Schweiz im Unglücksjahr 1933 lenkte Nawiaskys Blicke noch mehr, als dies bereits vorher zugetroffen hatte, auf allgemeine Fragen des Staates und Rechts. Anlass dazu waren zunächst gewisse äussere
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Umstände. Nawiasky war plötzlich in eine ihm in den Grundzügen zwar vertraute, in den Einzelheiten aber doch fremde Rechtsordnung versetzt worden. Auch musste er sich als Emigrant in staatsrechtlichen Fragen des Gastlandes anfänglich eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Ferner gab es in St. Gallen keine optimale Bibliothek im Bereich des positiven Staats- und Verwaltungsrechts. Der tiefere Grund für die Hinwendung zur Allgemeinen Staats- und Rechtslehre war aber doch wohl der durch die Zeitumstände und das persönliche Schicksal geschärfte Blick für die Grundfragen von Staat und Recht. Zeugnis hierfür sind neben zahlreichen kleineren Abhandlungen seine „Allgemeine Rechtslehre“ (erste Auflage 1941, zweite durchgearbeitete und erweiterte Auflage 1948) und seine fünfbändige „Allgemeine Staatslehre“ (erschienen zwischen 1945 und 1958, wie die „Allgemeine Rechtslehre“ vertrieben vom renommierten Verlag Benziger in Einsiedeln). Nach Kriegsende, in der bald einsetzenden Phase des Wiederaufbaus bayerischer und deutscher Staatlichkeit, schlug sich Nawiaskys Beratertätigkeit für die bayerische Staatsregierung in seinem Handkommentar zur Verfassung des Freistaates nieder (München/Berlin 1948, mit Ergänzungsband München 1953). Wissenschaftlich grundlegend ist zunächst Nawiaskys Auseinandersetzung mit der Bundesstaatstheorie. Dies nicht deswegen, weil er einer bestimmten Theorie zum Durchbruch verholfen hätte, sondern paradoxerweise gerade deswegen, weil er bei diesem Thema ein Leben lang ein Suchender war und gerade dadurch die wissenschaftliche und staatspolitische Diskussion beeinflussen konnte. Die grundlegende Weichenstellung war, dass Nawiasky in seinem 1920 erschienenen Werk „Der Bundesstaat als Rechtsbegriff‘ sich gegen das herrschende Dogma vom Zentralstaat als Oberstaat wandte, ohne der vom bayerischen Staatsrechtslehrer Max von Seydel Jahre davor vertretenen Auffassung von der Dominanz der Gliedstaaten zu folgen. Nawiasky hob hervor, dass sowohl der Zentralstaat als auch die Gliedstaaten souverän und deshalb Staaten seien. Die Gesamtrechtsordnung ergibt sich bei diesem Ansatz durch die Erfüllung der Staatsaufgaben durch Zentral- und Gliedstaaten je in ihren Bereichen. Diese Betrachtungsweise lag auch der geschriebenen Regelung der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 (wie zuvor schon der Bundesverfassung von 1848) zugrunde und fand daher in der Schweiz grossen Anklang. Es ist unter anderem eine Spätfolge des Wirkens von Nawiasky, dass die bisherige Regelung auch in die neue Bundesverfassung von 1999 übernommen wurde, obwohl die Grundkonzeption immer mehr durch die Zuweisung von Bundesgesetzen zur Umsetzung und zum Vollzug an die Kantone überwuchert worden ist. Ein durch Zentralstaat und Gliedstaaten gebildeter Gesamtstaat war auch für Nawiasky zunächst bloss ein gedankliches Gebilde. Erst später vertrat er die Auffassung, dass der Gesamtstaat ein eigenständiges Rechtssubjekt sei, das durch die Organe des Zentralstaa-
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tes handle. Diese Lehre vom dreigliedrigen Bundesstaat hat sich nicht durchgesetzt. Sie hat aber im Zuge der zunehmenden internationalen Verflechtung eine neue Dimension gewonnen, denn in diesem Kontext tritt der Bundesstaat nach aussen in der Tat als Gesamtstaat, nämlich sowohl in Bundes- wie in Länderangelegenheiten, auf. Eine Neubeurteilung von Nawiaskys These vom dreigliedrigen Bundesstaat müsste daher auch für die Schweiz von Interesse sein. Dem steht allerdings die mangelnde Sensibilität mancher schweizerischer Autoren für theoretische Überlegungen entgegen (was z. B. dazu führt, dass der – wissenschaftlich bereits von Nawiasky besetzte – Begriff des dreigliedrigen Bundesstaates als sog. dreigliedriger Föderalismus naiv auf Bund, Kantone und durch keinerlei Bund = foedus verbundene Gemeinden verwendet wird). Illustrativ für Nawiaskys Bundesstaatstheorie (in der Version des Werkes von 1920) ist vor allem das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz von 1920, das in der Fassung von 1929 mit Änderungen noch heute in Kraft ist. Die zugrunde liegende Bundesstaatstheorie von Hans Kelsen, wonach Bund und Länder gleichberechtigte Gemeinschaften sind, die sich inhaltlich nicht qualitativ, sondern nur quantitativ unterscheiden, entspricht nämlich Nawiaskys Frühwerk (ohne dass dies von Kelsen behauptet würde, wie Felix Ermacora in seiner Allgemeinen Staatslehre, Band 11, S. 637, maliziös anmerkt). Fruchtbar und anregend sind auch Nawiaskys Beiträge zur Allgemeinen Rechtslehre. In der Literatur, ganz zu schweigen von der Praxis, wurden sie freilich weniger beachtet als seine Bundesstaatstheorie. Ein analoges Schicksal teilen allerdings viele Gelehrte; die Menschen neigen dazu, eine Persönlichkeit, ob in Politik, Wissenschaft oder Kunst, auf eine Thematik hin einzuordnen. Dabei könnte vor allem die „Allgemeine Rechtslehre“ in vielen Fragen weiterhelfen, z. B. in der Unterscheidung von rechtlichem Dürfen und rechtlichem Können, die etwa in der schweizerischen Diskussion zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vielen Mühe bereitet. Möglicherweise hat Nawiasky in gewissen Fragen selbst dazu beigetragen, dass er gelegentlich verkürzt wahrgenommen wurde. Dies gilt etwa für die Positivismus-Frage, eine Thematik, die ihn intensiv beschäftigt hat (später nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Vorwurf, der Rechtspositivismus habe zur Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten beigetragen oder sie geradezu ermöglicht). Seine auch im akademischen Unterricht vorgetragene These, die in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrecher hätten aufgrund rückwirkend erlassener Strafbestimmungen verurteilt werden sollen, musste irritieren. Dabei geht unter, dass nach Nawiaskys schon früher geäusserten Auffassung auch die fundamentalen Normen des nicht geschriebenen Rechts positives Recht in dem Sinn sind, dass die Rechtsgemeinschaft von ihrer Wirkungskraft überzeugt ist. Dazu kommt, dass sich nach Nawiasky die Staatsfundamentalnormen zwingend aus anderen, ausdrücklich gesetzten Normen ableiten
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lassen. Die Frage bleibt allerdings, was überhaupt zu diesem so erschlossenen überpositiven Recht gehört. Jedenfalls haben Nawiaskys Staatsfundamentalnormen einen materiellen Inhalt, während Hans Kelsen seine Grundnorm als hypothetische Grundlage der Rechtsordnung auffasste. Nawiasky und Kelsen befanden sich in der Frage der Grundnorm(en) in einer Konkurrenzsituation, wobei Nawiasky beanspruchte, sich der Thematik vor Kelsen angenommen zu haben. Dass Nawiaskys Rolle in diesem Zusammenhang kaum mehr gewürdigt wird, hat seinen Grund nicht zuletzt in der massgebenden Mitwirkung Kelsens an der Erarbeitung des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 und der darauf beruhenden und bis heute prägenden Kelsen-Rezeption in Österreich. Nawiaskys Rechtspositivismus, der auch in der Schweiz vielfach ungern gesehen wurde (auch wenn Nawiasky in dem an der Universität Zürich wirkenden Staatsrechtslehrer Zaccaria Giacometti einen – ebenfalls kritisch beäugten – Mitstreiter hatte), kann nur auf dem Hintergrund seiner Staatslehre verstanden werden. Seine mehrbändige „Allgemeine Staatslehre“ geht dezidiert von einer dreifachen Sicht des Staates aus. Nawiasky erkannte den Staat als ideelle, soziale und rechtsnormative Erscheinung. Die drei Sichtweisen waren für ihn untrennbar verbunden, was seine staatsrechtlichen Seminare für die Studenten faszinierend machte und sie optimal auf die Realität des Staates vorbereitete. Den Staat als soziale Tatsache zu verstehen, war für Nawiasky, der in einem Ministerium gearbeitet hatte und Weiterbildung für Beamte betrieb, eine Selbstverständlichkeit. Normen, welche die Adressaten verpflichten wollen, müssen auf einem realen Willen beruhen. Die Problematik der (rechtlich eingebundenen) Herrschaft war daher für Nawiasky ebenfalls präsent und zentral. Rechtliche Anordnungen sind aber nicht technokratischer Selbstzweck. Sie beruhen vielmehr auf einer ideellen (auch ideologischen) Grundlage. In diesen Prämissen kommt ein doppelter Bezug zum Ausdruck, einerseits der Bezug auf die realen Verhältnisse, anderseits aber auch der Bezug auf die Menschen, auf deren Interessen und Wertvorstellungen es ankommt. Der Staat als rechtsnormative Erscheinung ist bei dieser Betrachtungsweise nur noch die Konsequenz realer und ideeller Prämissen, welche die Gesellschaft und die Individuen prägen. Dabei kommt es letztlich auf den Dienst am geistigen und leiblichen Wohl der Menschen an, und zwar aller einzelnen Menschen. In diesem Vorverständnis drückt sich aus, dass Nawiasky eine zutiefst humanistisch geprägte Persönlichkeit war. Dieser Haltung entsprach auch Nawiaskys lebenslange Wertschätzung der Demokratie, auch der direkten Demokratie, in welcher Volksherrschaft unmittelbar verwirklicht wird. In diesem Sinn hat er die bayerische Verfassung von 1946 massgeblich beeinflusst. Nawiasky hatte nicht die Massendemokratie im Auge, in welcher die Wahl- und Stimmbürger zu einem Kollektiv verschmolzen werden,
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wie dies in der sich auf die Zustimmung der Masse berufenden Führerherrschaft der nationalsozialistischen Zeit der Fall war. Nawiasky war der tradierten liberalen Vorstellung des selbstverantwortlichen Staatsbürgers verpflichtet. Er war daher auch ein Verfechter von Formen der direkten Demokratie (Referendum, Initiative, in kleinräumigen Verhältnissen auch Versammlungen der Stimmbürger). Die schweizerischen Landesgemeinden, d. h. die Versammlungen der Stimmberechtigten, die damals noch in mehreren Kantonen auf Staatsebene bestanden, haben ihn als sichtbare Erscheinung des Souveräns fasziniert. Nawiasky hat die mit besonders vielen Befugnissen ausgestattete Landsgemeinde des Kantons Appenzell-Innerrhoden bereits vor seiner Emigration in die Schweiz besucht; in seiner Schweizer Zeit besuchte er sie offenbar mehrfach. Nawiasky setzte sich für Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie auch in einer Zeit ein, als diese Errungenschaften des Verfassungsstaates in den europäischen Staaten entweder beseitigt oder durch (wegen der Kriegs- und Krisenjahre bis zu einem gewissen Grad notweniges) autoritär gesetztes Notrecht eingeschränkt waren. Dafür zeugen neben seinem wissenschaftlichen Schrifttum das mutige Auftreten in der Weimarer Republik und die zahlreichen (unter Pseudonymen veröffentlichten) politischen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel der Emigrationszeit. Exemplarisch dafür steht auch ein Votum am Schweizerischen Juristentag 1936 in Solothurn. Dort hatte der Bundesrichter und nochmalige Staatsrechtslehrer Hans Huber, der dem Zeitgeist entsprechend einem starken Staat zuneigte, in öffentlicher Diskussion verkündet, die Zeit der liberalen Grundrechte sei vorüber. Nawiasky widersprach klarsichtig und engagiert (vgl. Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge, Band 55, S. 671a ff.). Seine Intervention war nicht nur sachlich richtig, sondern auf dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse eine dringend notwendige Ehrenrettung für den Schweizerischen Juristenverein und die freiheitliche Tradition der Schweiz.
III. Eine noble Persönlichkeit Eine Würdigung von Hans Nawiasky wäre unvollständig, würde nicht auch seine Verwurzelung in Gesellschaft und Kultur des deutschsprachigen Raumes und seine Noblesse hervorgehoben. Obwohl Nawiasky zufolge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland grosses Unrecht erdulden musste und das spätere Leben in der Schweiz nicht leicht war, hat er in seinen Lehrveranstaltungen und Schriften nie Ressentiments oder gar Feindschaft gegenüber Deutschland erkennen lassen. Der demokratische Wiederaufbau Deutschlands und die Wiederaufnahme normaler Beziehungen mit dem in den ersten Jahren
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nach persönlichem Kriegsende im Ausland geächteten Deutschland waren ihm ein Anliegen. Er trat mit Einsatz für Hilfe an Menschen in München und Kontakte mit der Universität München ein. Dabei konnten selbst Studenten (wie der Verfasser dieser Würdigung) die Tragik erkennen, die das Leben eines Gelehrten prägte, welcher der mitteleuropäischen Kultur zutiefst verhaftet war, jedoch einzig wegen seiner jüdischen Abstammung aus ihr verstossen werden sollte. Die Noblesse von Hans Nawiasky in seinem Verhältnis zu Nachkriegsdeutschland gehört zu seinem Erscheinungsbild. Gerade dieser Zug beeinflusste seine (schweizerischen) Studenten und prägte zusammen mit seiner wissenschaftlichen Kompetenz in deren Erinnerung das Bild von Hans Nawiasky als herausragende Persönlichkeit.
Bibliographie (Auswahl) Die Frauen im österreichischen Postdienst, Wien 1902. Deutsches und österreichisches Postrecht, Der Sachverkehr, Ein Beitrag zur Lehre von den öffentlichen Anstalten, Wien 1909 (Habilitationsschrift). Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, Tübingen 1920. Die Grundgedanken der Reichsverfassung, München/Leipzig 1920. Bayerisches Verfassungsrecht, München/Berlin/Leipzig 1923. Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne von Art. 109 der Reichsverfassung, in Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927, S. 25 ff. Grundprobleme der Reichsverfassung, I. Teil: Das Reich als Bundesstaat, Berlin 1928. Die Münchener Universitätskrawalle, Privatdruck, München 1931. Der Sinn der Reichsverfassung, München 1931. Staatstypen der Gegenwart, St. Gallen 1934. Die Garantie der individuellen Verfassungsrechte, Diskussionsbeitrag zu den Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins 1936 in Solothum, in Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge, Band 55 (1936), S. 671a ff. Aufbau und Begriff der Eidgenossenschaft, Eine staatsrechtliche Betrachtung, St. Gallen 1937. Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, Einsiedeln/Zürich/Köln, 1. Auflage 1941, 2. Auflage 1948. Der Kreislauf der Entwicklung der Grundrechte, in Individuum und Gemeinschaft, Festschrift zur Fünfzigjahrfeier der Handels-Hochschule St. Gallen, St. Gallen 1949, S. 433 ff. Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946, Systematischer Überblick und Handkommentar, Unter Mitarbeit von Claus Leusser, München/Berlin 1948. Ergänzungsband, Unter Mitarbeit von Hans Ledmer, München 1953. Allgemeine Staatslehre, Erster Teil: Grundlegung, 1. Auflage Einsiedeln/Köln 1945, 2. Auflage Einsiedeln/Zürich/Köln 1958. Zweiter Teil, Staatsgesellschaftslehre, Band 1: Volk, Gebiet, Zweck, Organisation, Einsiedeln/Zürich/Köln 1952, Band 2: Staatsfunktionen, Staatsmittel, Staatsgewalt, Staatsleben, Staatenwelt, Einsiedeln/Zürich/Köln 1955.
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Dritter Teil: Staatsrechtslehre, Einsiedeln/Zürich/Köln 1956. Vierter Teil: Staatsideenlehre, Einsiedeln/Zürich/Köln 1958. Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Systematische Darstellung und kritische Würdigung, Stuttgart/Köln 1950.
XIII Erich Kaufmann (1880–1972) Jochen Rozek
I. Leben und Werk Erich Kaufmann ist eine schillernde Persönlichkeit der juristischen Zeitgeschichte, die als Staatsrechtler, Völkerrechtler, Rechtsphilosoph und Rechts praktiker gleichermaßen streitbar war wie umstritten ist. Von den einen als „Gelehrter von hohem Rang“1 und „als einer der wenigen Großen der deutschen Rechtswissenschaft“2 gewürdigt, stößt er bei anderen auf schroffe Ablehnung. Noch im Nachruf schreibt Robert Kempner über seinen ehemaligen Hochschullehrer: „Kaufmann schockierte uns Studenten durch seine bellizistischen Auffassungen im Völkerrecht […]“.3 In ähnlicher Weise disqualifiziert Carl Schmitt – seit den späten 1920er Jahren Kaufmann nach ursprünglich kollegialem Verhältnis in Intimfeindschaft verbunden4 – diesen bei Gelegenheit seiner Vernehmung im Wilhelmstraßenprozess als „Militarist[en] und Bellizist[en]“.5 Aber nicht von ungefähr ist die Polarisierung zugleich ein wesentliches Stilmittel der staats- und völkerrechtlichen Arbeiten Kaufmanns. Die Wortwahl der Zeit trug das ihre zu klaren Frontenbildungen bei, in der die Sympathie für die eine oder andere wissenschaftliche Position mitunter zum „Bekenntnis“ und damit zur Glaubensfrage stilisiert worden ist. Seinem wissenschaftlichen „Bekenntnis“ ist Kaufmann – ungeachtet grundlegender Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – bis ins hohe Alter treu geblieben. Das ist umso bemerkenswerter, als Kaufmann in seinem langen Leben wissenschaftlich wie
1 H. Mosler, ZaöRV 32 (1972), S. 235. 2 K. J. Partsch, JZ 1973, S. 133. 3 R. Kempner, Allgemeine unabhängige jüdische Wochenzeitung v. 24.11.1972, S. 4. 4 Zu dieser legendären Feindschaft vgl. F. Berber, Zwischen Macht und Gewissen – Lebenserinnerungen, 1986, S. 53; A. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, 1995, S. 31 f.; H. Quaritsch, in: FS für W. Schuller, 2000, S. 71 ff.; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 119 ff.; R. Mehring, Carl Schmitt – Aufstieg und Fall, 2009, S. 141 ff., 166 f., 314. Laut H. Quaritsch, a. a. O., S. 71, haben beide bewiesen, „wie wenig Zorn und Hass das Leben verkürzen“ (Kaufmann wurde 92, Schmitt 96 Jahre alt). 5 Zitiert nach H. Quaritsch, Carl Schmitt – Antworten in Nürnberg, 2000, S. 53; siehe auch F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 1.
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völkerrechtspraktisch in drei verschiedenen staatlichen Systemen gewirkt hat: im ausgehenden Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Bonner Staat des Grundgesetzes.6 Als er 1972 im 93. Lebensjahr verstirbt, ist Erich Kaufmann einer der letzten Repräsentanten der deutschen Rechtswissenschaft, die im Zeitraum zwischen der Reichsgründung und dem 1. Weltkrieg ihre wissenschaftliche Prägung erfahren haben. Sein weiterer Lebensweg ist maßgeblich durch den zweifachen Zusammenbruch des deutschen Staates und die darauf folgenden Aufbauzeiten geprägt worden.
1. Werdegang im Kaiserreich bis 1914 Erich Kaufmann wird 1880 in Demmin/Pommern als Sohn eines bald darauf nach Berlin übergesiedelten Rechtsanwalts geboren. Nach dem Abitur am Französischen Gymnasium zu Berlin nimmt er 1898 an der Berliner Universität zunächst das Studium der Literaturgeschichte und Philosophie auf, das er jedoch alsbald mit dem – weiterhin von einem starken philosophischen Interesse geleiteten – Studium der Rechtswissenschaft vertauscht. Die bestimmende wissenschaftlichphilosophische Zeitströmung seiner Studienjahre ist der Neukantianismus, der auf die Erschöpfung des hegelianischen Idealismus mit dem Rückzug auf die Begründungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis antwortet.7 Nach fünfsemestrigem Studium in Berlin kommt Kaufmann in seinen weiteren Studienorten Freiburg (ein Semester) und Heidelberg (zwei Semester) mit dem südwestdeutschen Neukantianismus auch in direkten Kontakt. In der für die Promotion an der Juristischen Fakultät in Halle verfassten Vita zählt Kaufmann eine imposante Fülle besuchter Vorlesungen und Seminare auf: „In philosophischer Beziehung“ sei für ihn zuerst Heinrich Rickert von „entscheidender und richtungsweisender Bedeutung“ gewesen; Otto v. Gierke verdanke er die „Erweckung des ersten Interesses für juristische Fragen“ und „die fruchtbarsten Anregungen“ für sein weiteres Studium.8 Zahlreiche Impulse habe er ferner von Georg Jellinek und Rudolf Stammler erhalten. Seine 1906 abgeschlossene Dissertation „Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips“9 lässt sich der Jellinekschen Schule
6 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 2, spricht plastisch von einer „enormen Anpassungsleistung“. 7 M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 233; ders., in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 693 f. 8 Zitiert nach F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 12 f. 9 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 1 ff., Bd. III, S. 1 ff.
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zurechnen, d. h. dem Studium der ideengeschichtlichen Grundlagen des modernen Staates.10 Dass es dem jungen Nachwuchswissenschaftler nicht an Selbstvertrauen gefehlt hat, zeigt das Vorwort zu dieser Arbeit, in dem Kaufmann auf ein geplantes dreibändiges Werk verweist, das unter dem Titel „Der moderne Staat und die Staatsformen“ demnächst erscheinen werde und deren erster Teil aus der vorliegenden Dissertation hervorgehe. Allerdings hat sich Kaufmann mit diesem Vorhaben wohl übernommen; jedenfalls ist es bei der Ausarbeitung allein des ersten Teils geblieben.11 Für den konstruktivistischen Positivismus eines Paul Labands, der die Dogmatik des Staatsrechts auf einer von allen politischen Inhalten erklärtermaßen abgelösten Begrifflichkeit zu gründen sucht, vermag sich schon der junge Erich Kaufmann nicht zu erwärmen. Stattdessen orientiert er sich an den Laband-Kritikern Otto v. Gierke und Albert Hänel.12 Die Einflüsse Hänels und Gierkes zeigen sich deutlich in Kaufmanns Schrift „Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika – Eine rechtsvergleichende Studie über die Grundlagen des amerikanischen und deutschen Verfassungsrechts“, mit der er sich 1908 in Kiel bei Hänel habilitiert.13 Dort wird er zunächst Privatdozent und 1912 außerordentlicher Professor. 1913 erhält Kaufmann in Königsberg seine erste ordentliche Professur. Wissenschaftlicher Ausgangspunkt in Kaufmanns Qualifikationsarbeiten ist die Aufarbeitung und ideengeschichtliche Einordnung des deutschen Reichsund Staatsdenkens des 19. Jahrhunderts. Kaufmanns Dissertation von 1906 ist – in Auseinandersetzung mit den Schriften Friedrich Julius Stahls – ein engagiertes Plädoyer für die institutionelle Staats- und Rechtslehre des preußischen Konstitutionalismus, während seine rechtsvergleichende Habilitationsschrift die „Staatslehre des monarchischen Prinzips“ insoweit ergänzt, als sie in Erörterung der antagonistischen Staatslehren der Volkssouveränität und des monarchischen Prinzips einen „Beitrag zu Geschichte und Weiterbildung der konstitutionellen Doktrin“ leisten will.14 Auch in seinem Kieler Habilitationsvortrag „Über den
10 M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 233. 11 Vgl. F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 14. 12 M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 233; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 13. 13 Näher F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 13. 14 Vgl. E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika – Eine rechtsvergleichende Studie über die Grundlagen des amerikanischen und deutschen Verfassungsrechts, 1908, S. IX; dazu auch F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 16.
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Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts“ (1908),15 der den Wandel des Organismusbegriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert umreißt, geht es Kaufmann vor allem um die ideengeschichtliche Analyse von „Konstruktionsproblemen“ in den Staatstheorien.16 Den wissenschaftlichen Höhepunkt seiner Arbeiten in der Vorkriegszeit bildet freilich Kaufmanns berühmt-berüchtigtes völkerrechtliches Erstlingswerk aus dem Jahr 1911 „Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus“ (Untertitel: „Rechtsphilosophische Studie zum Rechts-, Staats- und Vertragsbegriffe“).17 Es ist bis in die Gegenwart Gegenstand der völkerrechtswissenschaftlichen Kaufmann-Rezeption; nicht nur im zeitgenössischen Diskurs ist die Schrift mit beißender Kritik und schroffer Ablehnung bedacht worden.18 Hermann Heller kritisiert die Schrift als „Preisgabe des Völkerrechts“;19 Bernd Rüthers bewertet sie als „Zerstörung des völkerrechtlichen Rechts der Verträge“.20 Vor allem Kaufmanns Stilisierung des siegreichen Krieges zum „sozialen Ideal“ und zur „wirklichen Berechtigungs- und Leistungsprobe des ganzen Staates“21 ist als offene Leugnung des Völkerrechts, als Apologie imperialistischen Großmachtstrebens und als unerträglicher wilhelminischer Machtstaatsmonismus empfunden worden.22 Die vielangefeindete Schrift gelangt von einem privatrechtlichen Ausgangspunkt, der Analyse der zeitgenössischen Privatrechtslehren zum Vertragsbegriff, zur Bejahung der Clausula im Völkerrecht. Nach ihrer Kernthese ist das staatliche Selbsterhaltungsrecht eine allem zwischenstaatlichen Recht immanente Grenze, so dass alle völkerrechtlichen Verträge die Clausula rebus sic stantibus als ungeschriebenes Recht einschließen: „Alle Staatsverträge […]
15 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 46 ff. 16 Vgl. M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 234. 17 Dieses Werk ist in Kaufmanns Gesammelten Schriften nur auszugsweise abgedruckt; vgl. E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 69 ff. Zu diesem Umstand siehe einerseits M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 235, andererseits F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 17. 18 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 16 f. m. w. N. 19 H. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke, 1921, S. 208; vgl. ferner u. a. den Verriss bei H. Kelsen, Das Problem der Souveränität, 1928, S. 198 f., 265 f. 20 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 1968, S. 94. 21 E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus, 1911, S. 146. 22 Vgl. F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 17; M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 235. Auch noch nach den beiden Weltkriegen machte Kaufmann mehr die „jugendliche Freude an paradoxen Formulierungen“ und die „mangelnde Straffheit der Gedankenführung“ als den provokanten Inhalt seiner Thesen für die beißende Kritik der Zeitgenossen verantwortlich; vgl. E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, Vorwort S. XX.
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sollen und wollen nur binden, solange die Macht- und Interessenlage, die zur Zeit des Abschlusses bestand, sich nicht so verändert, daß wesentliche Bestimmungen des Vertrags mit dem Selbsterhaltungsrechte der kontrahierenden Staaten unvereinbar werden.“23 Während Kaufmanns Überlegungen zur Rechtsetzungsund Rechtsmittelfunktion des Krieges fraglos als ein Relikt des 19. Jahrhunderts erscheinen, darf man darüber ein anderes Anliegen dieser Schrift nicht aus den Augen verlieren: Kaufmann plädiert mit der Anerkennung der Clausula letztlich nicht für einen rechtsfreien Raum zugunsten des Staates, sondern will mit der Etablierung der Clausula als eines völkerrechtlichen Rechtsinstituts, das bestimmte Voraussetzungen und Folgen aufweist, den Gedanken des Rechts selbst stärken.24 Die Rechtsidee sollte auch fürderhin sein großes Thema bleiben. Kaufmanns letzte Arbeit aus der Zeit vor 1914, der teils monographische Züge aufweisende Handwörterbuchartikel „Verwaltung, Verwaltungsrecht“ (1914)25 zeichnet ein Bild von den geschichtlichen Entwicklungslinien der deutschen Verwaltungsinstitutionen und den Besonderheiten der deutschen Rechtsstaatsentwicklung, das zu Otto Mayers – dogmatisch an den Formen des französischen Verwaltungsrechts orientiertem – Verwaltungsrechtssystem bewusst kontrastiert.26 Der Artikel stellt den Versuch an, der damals noch jungen Verwaltungsrechtsdiziplin andere Wege als die von Otto Mayer aufgezeigten nahezulegen.
2. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Der 1. Weltkrieg, an dem Kaufmann als bayerischer Artillerieoffizier teilnimmt, bringt nicht nur Veränderungen in den akademischen Lebensverhältnissen, sondern bildet auch in Kaufmanns wissenschaftlicher Entwicklung einen Einschnitt.27 Nach schwerer Kriegsverwundung erhält Kaufmann 1917 einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht in Berlin; die Berliner Fakultät hatte ihn
23 E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus, 1911, S. 204. 24 Vgl. M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 696; P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 22; eingehend zur Kaufmannschen Völkerrechtskonzeption F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 18 ff. m. w. N. 25 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 75 ff. 26 Vgl. dazu M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 696 f. 27 So M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 237.
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unico loco vorgeschlagen.28 Bereits 1920 vertauscht Kaufmann diesen Lehrstuhl in der Hoffnung auf ruhigeres Arbeiten mit einem Lehrstuhl in Bonn (bis 1927).29 In den 1920er Jahren avanciert Kaufmann einerseits zu einem der prominentesten Protagonisten der sog. „geisteswissenschaftlichen Richtung“ in der Weimarer Staatsrechtslehre, andererseits zum vielbeschäftigten Völkerrechtspraktiker, der im In- und Ausland gleichermaßen hohes Ansehen genießt. Der Zusammenbruch der Monarchie öffnet das Tor für eine auf das Prinzip der Volkssouveränität gegründete Verfassungswelt. Dem parlamentarischen Gedanken zeigt sich Kaufmann allerdings noch 1917 alles andere als gewogen.30 Davon kündet die aus den späteren Weltkriegstagen stammende verfassungspolitische Kampfschrift „Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung“ (1917),31 mit der sich Kaufmann in direkten Gegensatz namentlich zu Max Weber begeben hat.32 In Bezug auf ihr Eiferertum gegen Demokratie und „westliche Ideen“ und für den nichtparlamentarischen Konstitutionalismus kann man diese Schrift, die den „Verfassungskrieg“ proklamiert,33 allemal zur Kriegsliteratur deutscher Professoren jener Zeit rechnen.34 Jenseits solch „zeitgenössischer Verblendung“35 besteht ihr bleibender Wert freilich in der prägnanten Herausarbeitung der inneren Bedingtheiten und Zusammenhänge des Bismarckschen Verfassungssystems.36 Erich Kaufmann ist bis zum Ende des 1. Weltkrieges überzeugter Monarchist geblieben, wandelt sich aber nach Zusammenbruch und Revolution ab 1919 zum
28 Dieser Vorschlag erfolgte allerdings erst, nachdem das Ministerium der Fakultät eine andere Vorschlagsliste, auf der Kaufmann nicht stand, als ungeeignet zurückgereicht hatte; siehe dazu A.-M. Lösch, Der nackte Geist, 1999, S. 88 f. m. w. N. 29 M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 697. 30 Treffend P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 23. 31 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 143 ff. 32 Letzterer hat daher Kaufmanns Analyse der Reichsverfassung von 1871 scharf kritisiert; vgl. M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 2. Aufl. 1958, S. 229 ff. 33 Die Alliierten hatten mit dem Krieg letztendlich das politische Ziel verbunden, Deutschland zur Demokratie zu führen. Dadurch wurde die Frage der Staatsform zum „staatstheoretischen Weltanschauungskampf“; vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 65. 34 Zum Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre zur parlamentarischen Demokratie während des 1. Weltkrieges eingehend M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 61 ff. 35 Das gilt erst recht für Kaufmanns Eintreten für den unbeschränkten U-Boot-Krieg im 1. Weltkrieg (in Begleitung u. a. von Otto v. Gierke, W. Kahl und H. Triepel); siehe M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 63. 36 Vgl. P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 23; M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 237 f.
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„Vernunftrepublikaner“, wie Arbeiten aus der Gründungs- und Frühzeit der Weimarer Republik deutlich machen („Grundfragen der künftigen Reichsverfassung“ [1919];37 „Untersuchungsausschuß und Staatsgerichtshof“ [1920];38 „Die Regierungsbildung in Preußen und im Reiche und die Rolle der Parteien“ [1921])39. Die bedeutendste Frucht der Bonner Zwischenjahre ist die berühmt gewordene Arbeit „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ (1921),40 in deren Zentrum die – mitunter polemische – Auseinandersetzung Kaufmanns mit positivistischem Denken und verwandten Geistesrichtungen, aber nicht zuletzt auch mit eigenen wissenschaftlichen Ausgangspositionen steht. Auf die Beobachtung der Erschütterung durch den 1. Weltkrieg reagiert Kaufmann mit der Forderung nach einer Rückbesinnung auf überpositive Rechtsprinzipien und – ab 1926 – mit der Hinwendung zu einem vorrationalistisch verstandenen Naturrecht.41 Kaufmanns Hegelianismus, die Hinwendung zur Ontologie und Metaphysik sowie das Bekenntnis zum Naturrecht stellen eine Akzentverschiebung in seinem rechtsphilosophischen Werk dar, die allerdings nicht überbetont werden darf.42 Denn die verschiedenen philosophischen und erkenntnistheoretischen Anleihen, derer sich Kaufmann bedient, erscheinen oftmals als Mittel zum Zweck, den eigenen empfundenen Wahrheiten größere Plausibilität zu verleihen.43 Von daher lassen sich seine rechtsphilosophischen Arbeiten durchaus mit dem Etikett des philosophischen Synkretismus versehen.44 Im Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Staatsrechtslehre45 steht Erich Kaufmann ganz im Lager der „Antipositivisten“,46 die das positive Staats-
37 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 253 ff. 38 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 309 ff. In dieser Schrift hat Kaufmann den Begriff des staatsrechtlichen „Formenmissbrauchs“ geprägt. 39 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 374 ff. 40 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 176 ff. 41 Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 176; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 38 f. 42 Instruktiv K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, S. 97 f. Die Kontinuität in Kaufmanns rechtsphilosophischen Arbeiten betonen ebenfalls – im Ton der Zeit – schon F. A. Frhr. v. d. Heydte, in: Festgabe für E. Kaufmann, 1950, S. 103 ff.; R. Smend, ebd., S. 391 ff. 43 K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, S. 99; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 39. 44 So O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 344 ff., 354. 45 Dazu eingehend etwa M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 153 ff. m. w. N. 46 Zu diesem Lager, zu dem neben Kaufmann u. a. Rudolf Smend und Hermann Heller zählten, vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 171 ff.
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recht relativieren und es für materiale Werturteile öffnen wollen. Dies unterstreichen weitere Arbeiten Kaufmanns in dieser Phase, insbesondere sein Referat über die Gleichheit auf der Münsteraner Staatsrechtslehrertagung 1926.47 Mit Erich Kaufmann und Hans Nawiasky als Referenten und Korreferenten treffen dort die antipositivistische und positivistische Richtung in aller Schärfe aufeinander. Kaufmann betont sogleich, bei einer so grundsätzlichen Frage wie der nach der Gleichheit vor dem Gesetz gehe es nicht ohne ein „Bekenntnis“ ab; jede These Kaufmanns ist denn auch eine Provokation für die bis dato herrschende Meinung:48 das Bekenntnis zur aristotelisch-christlichen Naturrechtstradition als unmittelbar einsetzbarem rechtlichen Maßstab,49 die Unterwerfung des parlamentarischen Gesetzgebers unter den Gleichheitssatz, die Orientierung an absoluten Werten, die Verwischung der Kompetenzen zwischen Legislative und Judikative. Sein Referat mündet in eine mit idealistischem Pathos formulierte Relativierung der parlamentarischen Gesetzgebung durch ein Richtertum, das als „reines Gefäß“ die Frage nach der Gerechtigkeit durch unmittelbaren Rekurs auf das Gewissen beantworten könne. Anfang 1922 beginnt die erste Zeit der praktischen Mitwirkung Erich Kaufmanns an völkerrechtlichen Aufgaben für das Auswärtige Amt, die 1933 abrupt enden soll.50 Anders als viele seiner zeitgenössischen Kollegen ist Kaufmann durch den Versailler Vertrag nicht etwa paralysiert, sondern begreift die Institutionen und Streitbeilegungsmechanismen des Völkerbundsystems rasch als Chance zur Durchsetzung nationaler Interessen des geschwächten deutschen Staates.51 Er setzt sein Können zunächst ein in den damals schwierigen Auseinandersetzungen mit Deutschlands östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen und der ČSR. Kaufmann betätigt sich als Gutachter und Rechtsberater der Reichsregierung, bereitet Vertragsverhandlungen vor und wirkt an ihnen mit. Er tritt als
47 E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2 ff. = Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 246 ff. Besondere Resonanz hat ferner sein Vortrag „Zur Problematik des Volkswillens“ (1931) gefunden; in: Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 272 ff. 48 Prägnant M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 189 ff., 191. 49 Namentlich dieses naturrechtliche Credo ist in Münster von den allerwenigsten verstanden, geschweige denn gebilligt worden; vgl. M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 243 f. 50 Siehe dazu nunmehr die eingehende Darstellung und Analyse bei F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 91 ff., 131 ff. – jeweils m. w. N.; vgl. ferner schon M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 242; ders., in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 699 f.; K. J. Partsch, ZaöRV 30 (1970), S. 226 f.; R. Smend, in: Festgabe für E. Kaufmann, 1950, S. 395 f. 51 Vgl. F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 89 f., 207.
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Regierungs- oder Parteivertreter in Gemischten Schiedsgerichten auf und vertritt das Deutsche Reich, aber auch die Republik Österreich und die Freie Stadt Danzig vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Diese sehr vielseitige und stark beanspruchende Tätigkeit lässt ihn 1927 von Bonn nach Berlin zurückkehren: Schon ab 1926 verfolgt das preußische Kultusministerium auf Druck der Reichsregierung das Ziel, Kaufmann erneut an der Berliner Universität zu installieren, was an der dortigen Fakultät keine geringen akademischen Turbulenzen auslöst.52 Kaufmann wird schließlich im Herbst 1927 zum Honorarprofessor der Berliner Fakultät ernannt und erhält einen Lehrauftrag für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie; von Bonn wird er beurlaubt. Seine Bezahlung wird vom Reich übernommen. Dank seiner Stellung als Honorarprofessor ist Kaufmann von den Verpflichtungen eines aktiven Professors im Wesentlichen entlastet und kann sich intensiv der völkerrechtspraktischen Tätigkeit für das Reich widmen.
3. Vertreibung auf Raten und Emigration Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung endet Erich Kaufmanns amtliches Wirken als Rechtsberater der Reichsregierung. Er gilt dem Nazi-Regime als „Nichtarier“ – seine vier Großeltern waren jüdischer Religionszugehörigkeit, er selbst und seine Ehefrau sind Protestanten. An der Berliner Fakultät schützen ihn „Frontkämpferprivileg“ und „Vorkriegsbeamtenregelung“ des sog. „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG)“53 zunächst noch vor der ersten Vertreibungswelle.54 Mit Ablauf des Wintersemesters 1933/34 entzieht man ihm dann die Berliner Honorarprofessur und hebt seine Beurlaubung von der Bonner Professur auf. Im November 1934 wird Kaufmann – ausschließlich zum Zwecke seiner zwangsweisen Emeritierung – an die Universität Berlin versetzt und zugleich entpflichtet. Hinter den Kulissen macht Carl Schmitt gegen Kaufmann Stimmung und vereitelt einen weiteren Lehrauftrag; in einem denunziatorischen Schreiben an das preußische Kultusministerium vom 14. Dezember 1934 führt Schmitt hass- und hohntriefend aus:55
52 Dazu näher A.-M. Lösch, Der nackte Geist, 1999, S. 89 ff. m. w. N. 53 § 3 BBG v. 7.4.1933. 54 A.-M. Lösch, Der nackte Geist, 1999, S. 201 ff. m. w. N. Zu den Entlassungswellen M. Stolleis, NJW 1988, 2849 f. 55 Zitiert nach A.-M. Lösch, Der nackte Geist, 1999, S. 207. Siehe dazu auch F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 123 f.; R. Lamprecht, myops 15/2012, S. 31.
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„Prof. Kaufmann ist zweifellos ein ganz ungewöhnliches Beispiel jüdischer Anpassung. Er ist Volljude, aber es ist ihm gelungen, sein Judentum, das auf manchen besonders aufreizend wirkt, gegenüber anderen mit größtem Erfolg zu verbergen und durch lautes Bekenntnis zum Deutschtum zahlreiche Schüler und Hörer bis in das Jahr 1934 hinein in dem Glauben zu halten, daß er rein deutscher Herkunft sei. Für deutsches Empfinden ist eine solche ganz auf Verschweigung der Abstammung und Tarnung angelegte Existenz schwer begreiflich. Sie muß unvermeidlich zu moralisch unmöglichen Situationen führen […] Daher wäre es nicht nur eine schlimme Verirrung, sondern eine seelische Schädigung des deutschen Studenten, wenn der national-sozialistische Staat einem besonders ausgesprochenen Typus jüdischen Assimilantentums heute von neuem die Möglichkeit geben würde, sich an der größten deutschen Universität zu betätigen. Der deutsche Student, dem ein solcher Mann vom Staat als Lehrer des Rechts für die wichtigsten Gebiete vorgesetzt würde, müßte entweder dessen Tarnungskunst erliegen, oder aber, wenn er die Tarnung durchschaut, an den fundamentalsten Grundsätzen des Nationalen Sozialismus irre werden. […]“ Zum Jahreswechsel 1935/36 wird Kaufmann die Lehrbefugnis endgültig entzogen; dies bedeutet zugleich das vorläufige Ende von Kaufmanns Karriere als deutscher Rechtsprofessor. Schon zuvor ist er aus den Herausgebergremien der von ihm mitbetreuten Zeitschriften verdrängt worden – dem Verwaltungsarchiv (1933), der Niemeyer-Zeitschrift (1934) und der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1935).56 Dennoch findet Erich Kaufmann auch unter den Bedrückungen der NaziDiktatur zunächst noch Möglichkeiten weiteren Wirkens. Obgleich sein Renommee ihn nicht vor dem Verlust sämtlicher Ämter und Positionen bewahrt hat, schützt ihn die langjährige Einbindung in die Völkerrechtspraxis und Verbundenheit mit dem Auswärtigen Amt doch länger als andere Gelehrte jüdischer Herkunft vor Verfolgung und Repression. In den Jahren 1934 bis 1938 wird der sog. „Nikolasseer Kreis“, ein kontinuierliches Seminar, das Kaufmann mit einem Teil seiner damaligen Schüler in seinem Haus in Berlin-Nikolassee heimlich abhält, zu einem Refugium des Privatiers.57 Die dort behandelten Themen sind weit gespannt: Neben staats- und rechtsphilosophischen Vorträgen, völkerrecht-
56 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 125. Für das Verwaltungsarchiv lautete die offizielle Sprachregelung, Kaufmann habe sich „wegen Arbeitsüberlastung“ bedauerlicherweise veranlasst gesehen, als Herausgeber auszuscheiden. 57 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 125 f.; M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 245; siehe auch R. Smend, in: Festgabe für E. Kaufmann, 1950, S. 397: „Dieser Kreis […] ist ein Kapitel, das in keiner Geschichte des deutschen Widerstandes fehlen dürfte […]“.
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lichen Analysen und der Auseinandersetzung mit den Werken Carl Schmitts finden sich literarische und kunstgeschichtliche Fragestellungen. Das Seminar schlägt in der Zeit der Ächtung eine Brücke zur nachfolgenden Professorengeneration.58 Außerdem sind Kaufmann Vortragsreisen ins Ausland noch einige Zeit lang möglich. So erhält er 1935 eine Ausreisegenehmigung für seine Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht, die anschließend im Recueil des Cours der Akademie unter dem Titel „Règles générales du Droit de la Paix“ (1936)59 veröffentlicht werden. Neben der Schrift über die Clausula rebus sic stantibus sind die Haager Vorträge die wohl wichtigste Quelle für Kaufmanns rechtstheoretische Anschauungen und zugleich seine letzte systematische Darlegung der Probleme von Staat und Recht.60 Über ihr eigentliches Thema hinaus legen sie Kaufmanns Vorstellungen über die Institution des Staates, die Rechtsidee, die Formen der Gerechtigkeit und die Institute menschlichen Gemeinschaftslebens dar. Nach der sog. „Reichskristallnacht“ kann Kaufmann endgültig nicht länger in Deutschland bleiben; er emigriert zusammen mit seiner Ehefrau im April 1939 in die Niederlande – einem ab 1940 von Deutschland besetzten Land.61 Ende 1941 wird Kaufmann zwangsausgebürgert und verliert sein Ruhegehalt. Das Kriegsende erlebt er im Untergrund; auch die letzten verbliebenen Kontakte zu Mitgliedern des „Nikolasseer Kreises“ brechen in dieser Zeit ab. Noch im Frühjahr 1946 kursiert unter Kollegen das Gerücht, Kaufmann sei im Exil verstorben.62
4. Nachkriegsjahre und Bonner Republik Letzteres erweist sich als Falschmeldung: Erich Kaufmann kehrt schon 1946 aus dem niederländischen Exil mit ungebrochener Tatkraft nach Deutschland zurück, um sich am Wiederaufbau zu beteiligen. Zum Wintersemester 1946/47 wird Kaufmann als ordentlicher Professor an die Münchener Fakultät berufen;63 auch Marburg, Tübingen, Mainz, Berlin und Frankfurt am Main haben sich um
58 Dem Kreis gehörten u. a. Ludwig Raiser und Konrad Zweigert an. 59 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 320 ff. (in Auszügen). 60 Vgl. M. Friedrich, Der Staat 27 (1987), S. 245 f.; R. Smend, in: Festgabe für E. Kaufmann, 1950, S. 397; P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 27. 61 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 128. 62 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 129. 63 Dass Kaufmann den Ruf nach München angenommen hatte, galt ebenso als Zeichen des Neubeginns wie die Zurückberufung des gleichaltrigen Staats- und Verwaltungsrechtlers Hans Nawiasky (1880–1961), der einer der Väter der Bayerischen Verfassung von 1946 war; vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, S. 62 f.
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ihn bemüht. In München avanciert er rasch zum Direktor des Instituts für Völkerrecht und zum Dekan der Juristischen Fakultät; er bleibt der Fakultät bis zu seiner (zweiten) Emeritierung zum Wintersemester 1950/51 treu, obwohl insbesondere das Verhältnis zu seinem Fakultätskollegen Hans Nawiasky alles andere als spannungsfrei ist.64 In seinen ersten Veröffentlichungen nach dem 2. Weltkrieg knüpft Erich Kaufmann an die Zeit vor 1933 an, indem er seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit abermals brennenden völkerrechtlichen Gegenwartsfragen widmet: „Freilassung und Heimschaffung der Kriegsgefangenen“ (1947); „Satzung der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofes“ (1948); „Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung“ (1948); „Die Völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen der Restitutionen“ (1949); „Statut der internationalen Kontrolle“ (1949). Namentlich der Beitrag „Deutschlands Rechtlage unter der Besatzung“65 hat nicht unwesentlich zur Klärung der staats- und völkerrechtlichen Lage Deutschlands nach der bedingungslosen Kapitulation beigetragen.66 Den Vertretern der sog. Untergangsthese – durch den Zusammenbruch sei der Staat selbst, also das Deutsche Reich, untergegangen – setzt Kaufmann die Unterscheidung zwischen rechtlicher Innehabung und bloßer Ausübung der Staatsgewalt entgegen:67 Die deutsche Staatsgewalt sei nicht als solche erloschen, die damaligen Besatzungsmächte übten sie vielmehr treuhänderisch aus, solange und soweit deutsche Stellen nicht ihrerseits wieder in die Lage versetzt werden, die Staatsgewalt von sich aus eigenhändig auszuüben (was bekanntlich schrittweise geschah). Aus dem Spätwerk Erich Kaufmanns ragt des Weiteren das Referat auf der Münchener Staatrechtslehrertagung 1950 über „Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit“68 hervor. In dem noch vor Errichtung des Bundesverfassungsgerichts gehaltenen Referat betrachtet Kaufmann die Etablierung einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz mit einer gehörigen Portion Skepsis, wenngleich nicht ohne verhaltenen Optimismus. Das Referat enthält eine Reihe zeitloser Beobachtungen und Gedanken zur Aufgabe
64 Anschaulich P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 30 f.; vgl. auch H. P. Ipsen, Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz, 1993, S. 15. 65 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. II, S. 306 ff. 66 Vgl. zur damaligen Debatte M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, S. 636 m. w. N. 67 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. II, S. 306 ff., 313 f.; dazu auch P. Lerche, in: Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 30. 68 E. Kaufmann, in: VVDStRL 9 (1952), S. 1 ff. = Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 500 ff. Vgl. auch die Beschreibung der Münchener Staatsrechtslehrertagung bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, S. 212.
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der Verfassungsgerichtsbarkeit. Kaufmann bewegt vor allem, ob sich das Gericht nicht dazu verführen lassen werde, seine Kompetenz in den Bereich der Politik auszudehnen, d. h. andere Maßstäbe als die des (Verfassungs-)Rechts anzulegen. Das ist bis heute ein zentrales Thema geblieben. Die Münchener Zeit Erich Kaufmanns sollte nicht die letzte Phase seines Wirkens bleiben. Erneut ereilt ihn der Ruf der Staatspraxis: Unmittelbar im Anschluss an seine Entpflichtung 1950 wird Kaufmann bis 1958, in den wichtigen frühen Jahren der Bundesrepublik also, als Rechtsberater des Bundeskanzleramtes und des Auswärtigen Amtes in völkerrechtlichen Fragen tätig; der wissenschaftlichen Lehre bleibt er auch jetzt noch als Honorarprofessor in Bonn verbunden. Mit der Position des „Rechtsberaters“ wird für Kaufmann, der auf die Wahrung seiner Unabhängigkeit pocht und jede behördenhierarchische Eingliederung als Verlust persönlicher Freiheit ablehnt, eine in der Geschichte des Auswärtigen Amtes einmalige Stellung geschaffen.69 Diese zweite erlebnisreiche Zeit Kaufmanns als Völkerrechtspraktiker und „Sachwalter des Rechtsgewissens“ des Auswärtigen Amtes bzw. des Bundeskanzleramtes hat Karl Josef Partsch detailreich geschildert.70 Sein letztes Lebensjahrzehnt verbringt Erich Kaufmann in Heidelberg. Ihm werden zahlreiche Ehrungen zuteil,71 u. a. Ehrendoktorwürden (Kiel, München) sowie die Ehrenpräsidentschaft der Staatsrechtslehrervereinigung. Bereits seit 1952 Mitglied des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, amtiert er von 1959 bis 1964 als Kanzler des Ordens. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Kaufmann längst zum „Doyen der Völkerrechtler“ geworden, wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ schon anlässlich seines siebzigsten Geburtstages 1950 titelt.72
II. Wirkung Erich Kaufmann zählt zu den „Klassikern“ der deutschen Rechtswissenschaft.73 Ein Klassiker im üblichen Sinne ist er freilich nicht. Zwar sind ihm inzwischen zum wissenschaftlichen Allgemeingut gewordene Begriffe wie der des staats-
69 Vgl. K. J. Partsch, ZaöRV 30 (1970), S. 229 f.; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 204 f. – auch zum „Platzhirschinstinkt“ Kaufmanns. 70 K. J. Partsch, ZaöRV 30 (1970), S. 223 ff. 71 Vgl. dazu auch H. Mosler, ZaöRV 32 (1972), S. 238. 72 R. Stödter, in: „Die Zeit“ zum 70. Geburtstag Kaufmanns am 21.9.1950. 73 So M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 703; zuvor schon ders., Der Staat 27 (1987), S. 247.
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rechtlichen „Formenmissbrauchs“ zu verdanken; eine eigentliche Schule hat Erich Kaufmann hingegen weder im Staatsrecht noch im Völkerrecht begründet. Was ihn zum Klassiker macht, ist daher eher die enorme thematische und geistige Spannweite seines wissenschaftlichen Werkes.74 Seine Arbeiten sind nicht Produkte eines eng verstandenen Fachgelehrten- oder gar Nur-Juristentums,75 sondern durch ein ungewöhnliches Maß philosophischer, historischer, öffentlich-rechtlicher und auch zivilrechtlicher Stoffbeherrschung gekennzeichnet.76 Eine solche Bandbreite lässt sich heute nur schwerlich noch erreichen. Charakteristisch für Kaufmanns Werk ist ferner die immer wieder anzutreffende Rückführung der Fragen von Staat und Recht auf die sittlichen Grundfragen menschlicher Ordnung; er bekennt sich offen dazu, dass auch für den Juristen irgendwann der Rekurs auf eine überpositive Lebensordnung unausweichlich wird. Die darin liegende Gefahr einer Rechtsideologisierung und eines Verlustes juristischer Inhalte und Kategorien77 hat er wohl in Kauf genommen. Mit seinem rechtsphilosophischen und methodischen Synkretismus unterscheidet sich Kaufmann kardinal von der wissenschaftsmethodischen Stringenz einer „Reinen Rechtslehre“. Wer seine rechtsphilosophischen und methodischen Prämissen nicht teilt, bleibt eher unbeeindruckt. Schon Zeitgenossen haben ihm einen Mangel an logischer Gedankenführung vorgehalten – ein Vorwurf, den Kaufmann mit dem Hinweis auf die Dialektik und Irrationalitäten des Rechts zu begegnen pflegte. Ein weiteres Spezifikum in Kaufmanns Arbeiten sind die Wechselbezüge zwischen Rechtsphilosophie, Staatsrecht und Völkerrecht.78 In seinen völkerrechtlichen Schriften hat Erich Kaufmann den „besonderen Reiz“ des Völkerrechts regelmäßig gerade darin erblickt, „in das Wesen der Lebensverhältnisse“ einzudringen, deren „immanente Idee“ herauszuarbeiten und mit Hilfe von „Wesensbegriffen“ das allgemeine Völkerrecht zu erfassen.79 Sein Völkerrechtsverständnis gründet auf dem gleichen rechtsphilosophischen und rechtsmethodischen Fundament, auf dem Kaufmann als einer der Protagonisten der sog. „geisteswissenschaftlichen Richtung“ auch seine entschiedene Positivismuskritik der Wei-
74 M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 703. 75 Der Nur-Jurist war Kaufmann nachgerade ein Graus; vgl. E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, S. 501: „Der rein positivistisch geschulte Jurist ist geneigt, sich ausschließlich im Käfig der Gesetzestexte […] zu bewegen, ohne sich der Gitter des Käfigs, die ihn von der Außenwelt trennen, bewußt zu werden.“ 76 M. Friedrich, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 703. 77 Vgl. O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 164 ff., 344 ff. 78 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 5 m. w. N. 79 E. Kaufmann, Probleme der internationalen Gerichtsbarkeit (1932), in: Gesammelte Schriften, 1960, Bd. III, S. 311 f.; siehe ferner dens., Gesammelte Schriften, 1960, Bd. I, Vorwort S. XV.
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marer Zeit aufgebaut und der Wiener Schule den offenen Kampf angesagt hat.80 Das Völkerrecht war das ideale Experimentierfeld für seine antipositivistische Methode und sein materiales Verständnis von Recht und Gerechtigkeit. Kaum anderes gilt für das Verhältnis von Staatsrecht und Völkerrecht in seinem Werk. Ebenso wie seine Völkerrechtskonzeption auf einem spezifischen Staatsrechtsverständnis basiert, hat Kaufmann staatsrechtliche Positionen aus den Erfahrungen der Völkerrechtspraxis formuliert.81 Beredte Beispiele dafür sind Kaufmanns Referate über die „Gleichheit vor dem Gesetz“ und über die „Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit“ auf den Staatsrechtslehrertagungen von 1926 und von 1950, wo er sowohl sein materiales Gleichheitsverständnis als auch die Unterscheidung zwischen Rechts- und Interessenstreitigkeiten nicht zuletzt aus seinen völkerrechtspraktischen Erfahrungen herleitet. Um Erich Kaufmann angemessen zu würdigen, darf man sich nicht allein auf sein wissenschaftliches Werk beschränken, sondern muss auch die Phasen seiner rechtspraktischen Tätigkeit als „Rechtsberater“ des Auswärtigen Amtes, als Gutachter, Partei- und Prozessvertreter mit einbeziehen, die mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in enger Wechselbeziehung stehen.82 Rudolf Smend, Mitstreiter Kaufmanns im sog. Methoden- und Richtungsstreit, hat in Bezug auf die von Kaufmann verkörperte Verbindung von Theorie und Praxis treffend bemerkt, Kaufmanns völkerrechtspraktische Arbeit in der Weimarer Republik sei zugleich die „praktische Bewährung des bisherigen theoretischen Lebenswerks“ gewesen.83 Und in der Tat: Erich Kaufmanns Lebenswerk steckt nicht allein in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, sondern gerade auch in der völkerrechtlichen Beratungstätigkeit des Auswärtigen Amtes, wo er als pragmatischer, international orientierter Gelehrter agiert und – jenseits von allem zeittypischen Pathos und seiner Vorliebe für Polarisierungen – ein ausgeprägtes Gespür für das auf internationaler Bühne rechtlich Machbare entwickelt hat.84
80 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 5; eingehend K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, passim. 81 F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 5. 82 Anschaulich F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 4: „Nexus von Theorie und Praxis“. 83 R. Smend, in: Festgabe für E. Kaufmann, 1950, S. 396. 84 Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 176 f.; F. Degenhardt, Zwischen Machtstaat und Völkerbund, 2008, S. 209.
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Auswahlbibliographie Veröffentlichungen von Erich Kaufmann Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips (Einleitung; die historischen und philosophischen Grundlagen), Dissertation Halle, 1906 Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Eine rechtsvergleichende Studie über die Grundlagen des amerikanischen und deutschen Verfassungsrechts, 1908 Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus. Rechtsphilosophische Studie zum Rechts-, Staats- und Vertragsbegriffe, 1911 Verwaltung, Verwaltungsrecht, in: Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, begr. von Karl Freiherrn v. Stengel, hrsg. von Max Fleischmann, 2. Aufl. 1914, Bd. III, S. 688–718 Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917 Untersuchungsausschuß und Staatsgerichtshof, 1920 Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, 1921 Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2–24 Zur Problematik des Volkswillens, 1931 Règles générales du Droit de la Paix, in: Recueil des Cours – Académie de Droit international 1935, IV, Tome 54 de la Collection, Paris 1936, S. 309–620 Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, 1948 Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 9 (1952), S. 1–16 Gesammelte Schriften mit Vorworten Erich Kaufmanns, hrsg. von A. H. van Scherpenberg u. a., 1960 Bd. I: Autorität und Freiheit. Von der konstitutionellen Monarchie bis zur Bonner parlamentarischen Demokratie Bd. II: Der Staat in der Rechtsgemeinschaft der Völker. Vom ersten Weltkriege bis zum Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkriege Bd. III: Rechtsidee und Recht. Rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Bemühungen aus fünf Jahrzehnten
Literatur zu Erich Kaufmann Degenhardt, Frank, Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880–1972), 2008 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts; Bd. 16) Friedrich, Manfred, Erich Kaufmann, in: Der Staat 27 (1987), S. 231–249 Friedrich, Manfred, Erich Kaufmann (1880–1972). Jurist in der Zeit und jenseits der Zeiten; in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 693–704 Lerche, Peter, Erich Kaufmann †, AöR 98 (1973), S. 115–118 Lerche, Peter, Erich Kaufmann – Gelehrter und Patriot, in: P. Landau/H. Nehlsen (Hrsg.), Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, S. 20–31
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Lösch, Anna-Maria Gräfin von, Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999 Mosler, Hermann, Erich Kaufmann zum Gedächtnis, in: ZaöRV 32 (1972), S. 235–238 Partsch, Karl Josef, Der Rechtsberater des Auswärtigen Amtes 1950–1958. Erinnerungsblatt zum 90. Geburtstag von Erich Kaufmann, in: ZaöRV 30 (1970), S. 223–236 Quaritsch, Helmut, Eine sonderbare Beziehung: Carl Schmitt und Erich Kaufmann, in: M. Dreher (Hrsg.), Bürgersinn und staatliche Macht in Antike und Gegenwart. Festschrift für Wolfgang Schuller, 2000, S. 71–87 Rennert, Klaus, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, 1987 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 518) Smend, Rudolf, Zu Erich Kaufmanns wissenschaftlichem Werk, in: Um Recht und Gerechtigkeit. Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 391–400
XIV Hans Kelsen (1881–1973) Horst Dreier
I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley Mehr als zehn Ehrendoktorate, darunter die der Universitäten Utrecht (1936), Harvard (1936), Chicago (1941), Berkeley (1952), Berlin (1961), Wien (1961), Paris (1963), Salzburg (1967) und Straßburg (1972); hohe und höchste Auszeichnungen, darunter das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1961) sowie der Ehrenring der Stadt Wien (1966); Übersetzungen der eigenen Werke in weit über 20 Sprachen, darunter englisch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, schwedisch, ungarisch, tschechisch, hebräisch, japanisch, koreanisch, chinesisch; drei ihm gewidmete Festschriften; geläufige und häufige Charakterisierung als der „Jurist des 20. Jahrhunderts“ – als Hans Kelsen am 19. April 1973 nahe der amerikanischen Pazifikküste starb, war er ohne Zweifel ein berühmter, vielgeehrter und in aller Welt hoch geachteter Mann der Wissenschaft.1 Vorgezeichnet war ihm dieser Weg zweifelsohne nicht, als er am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers geboren wurde, und auch nicht, als die Familie nach Wien übersiedelte, wo er nach der Matura 1900 und nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Wiener Universität 1906 promoviert wurde.2 Der eigenem Bekunden zufolge religiös indifferente
1 Zur ersten Orientierung über Werk und Lebensweg: R. A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, 1969; R. Walter/C. Jabloner, Hans Kelsen (1881–1973). Leben – Werk – Wirkung, in: M. Lutter/E. C. Stiefel/M. H. Hoeflich (Hrsg.), Der Einfluß deutschsprachiger Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, 1993, S. 521 ff.; H. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973): „Jurist des Jahrhunderts?“, in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 705 ff. – Wichtig jetzt die Autobiographie Kelsens von 1947, leicht zugänglich in: Hans Kelsen im Selbstzeugnis. Sonderpublikation anläßlich des 125. Geburtstages von Hans Kelsen am 11. Oktober 2006, hrsgg. von M. Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, 2006 (dort S. 97 ff. eine detaillierte Chronik). – Die drei Festschriften: Gesellschaft, Staat und Recht. Festschrift, Hans Kelsen zum 50. Geburtstage gewidmet, hrsgg. v. A. Verdroß, 1931; Law, State, and International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen, Knoxville 1964; Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsgg. v. A. Merkl, 1971. 2 Bereits im Jahr zuvor war erschienen: Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, 1905.
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Kelsen trat 1905, um sich eine akademische Karriere nicht zu verbauen, zum römisch-katholischen Glauben, 1912 kurz vor seiner Heirat mit Margarete Bondi wie diese wiederum zum evangelischen Glauben (Augsburger Bekenntnis) über.3 Den Grundstein für seinen wissenschaftlichen Ruhm legte er dann 1911 mit seiner Habilitationsschrift.4 Das grundlegend Neue dieser Arbeit blieb den Zeitgenossen nicht verborgen,5 und in den nächsten Jahrzehnten erarbeitete Kelsen mit einer Vielzahl von Einzelpublikationen eine vollständige Neukonzeption der Rechtswissenschaft, die in dem 1934 erschienenen und „Reine Rechtslehre“ betitelten Werk ihre erste gültige Zusammenfassung finden sollte.6 Doch liegen zwischen diesen beiden Jahreszahlen (1911, 1934) nicht nur wesentliche weltgeschichtliche Ereignisse, sondern auch wichtige Etappen im Leben und im Wirken Kelsens. Während des Ersten Weltkrieges war er krankheitsbedingt im Kanzleidienst tätig, vor allem im Kriegsministerium, wo er zuletzt als Referent des Kriegsministers Stöger-Steiner als Verfassungsexperte wirkte.7 Staatskanzler Dr. Karl Renner zog ihn 1918 zur Mitarbeit am Entwurf einer neuen Verfassung heran. Kelsens verbreitete Charakterisierung als (gar alleiniger) „Schöpfer“ der österreichischen Bundesverfassung von 1920 geht sicher zu weit; man wird seiner Bedeutung eher gerecht, wenn man ihn als einen der wesentlichen Mitgestalter oder vielleicht als Architekten dieses Staatsgrundgesetzes apostrophiert.8 Eine wesentliche Rolle hat er zweifelsohne bei der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt,
3 Hintergrund: In Österreich gab es das Institut der Zivilehe erst ab 1938. Es galten also die Regeln der jeweiligen Konfession. Nach katholischem Kirchenrecht waren Scheidung und Zweitehe ausgeschlossen. Mit der Zugehörigkeit zum evangelischen Bekenntnis hielt man sich diese Möglichkeiten offen. 4 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911 (2., um eine Vorrede vermehrte Auflage 1923). 5 Siehe nur die Rezension von F. Caro, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 36 (1912), S. 1928 ff. 6 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934 (nachfolgend abgekürzt zitiert: RR1). – Zur Entwicklung seiner Lehre in diesen beiden Jahrzehnten eingehend M. Jestaedt, Von den „Hauptproblemen“ zur Erstauflage der „Reinen Rechtslehre“, in: R. Walter/W. Ogris/T. Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 2009, S. 113 ff. 7 Detailliert zu dieser Lebensphase J. Busch, Hans Kelsen im Ersten Weltkrieg. Achsenzeit einer Weltkarriere, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 57 ff. 8 Vertiefend und differenziert hierzu G. Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, 1981; F. Ermacora, Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, 1982; G. Stourzh, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie (1982), in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 309 ff.; T. Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 211 ff.
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und zwar in Gestalt eines besonderen, institutionell verselbständigten Gerichtshofes mit der Kompetenz zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle von Landes- und Bundesgesetzen.9 Diesem Verfassungsgerichtshof gehörte er dann auf einen überparteilichen Vorschlag hin seit 1920 als „auf Lebenszeit“ gewählter Richter (und einer der wenigen ständigen Referenten) an.10 Freilich führten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eskalierende politische Konflikte dazu, daß es bei der Bestellung auf Lebenszeit nicht blieb. Stein des Anstoßes vor allem für die konservativen Kräfte war die maßgeblich von Kelsen geprägte und verantwortete liberale Haltung des Gerichtshofs in der Frage der sog. Dispensehen.11 In der Folge kam es zu einer unter der Flagge der Entpolitisierung segelnden Ablösung aller Verfassungsrichter; für eine Neuwahl (allein) auf Vorschlag der Sozialdemokratie stand Kelsen nicht zur Verfügung. Auch in seinem akademischen Hauptamt kam es zu maßgeblichen Veränderungen. Er war seit 1919 als Nachfolger seines akademischen Lehrers, Edmund Bernatzik, ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien; mit einigen seiner Kollegen hatte er sich in jenen Jahren zum Teil heftige wissenschaftliche Dispute geliefert.12 Zudem dürften ihn die Anwürfe speziell aus katholischen Kreisen sowie die allgemein wachsende antisemitische Stimmung bedrückt haben. So nimmt er denn am 15. Oktober 1930 den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie der Universität Köln (damals nach Berlin die zweitgrößte Preußens) an – ganze acht Monate nach seiner Entsetzung als Richter des Verfassungsgerichtshofs. Ungeachtet der auch bei dieser Berufung nicht ausgebliebenen Querelen13 folgt eine wissenschaftlich fruchtbare und befriedigende
9 Statt vieler Olechowski, Beitrag (Fn. 8), S. 227 m. w. N. – Die Konzentration der Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit auf ein speziell dafür geschaffenes Gericht wird auch als „österreichisches Modell“ bezeichnet; s. nur T. Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Ludwig Adamovich, 2002, S. 581 ff. 10 Zu seinem Wirken R. Walter, Hans Kelsen als Verfassungsrichter, 2005. 11 Speziell zu dieser Problematik eingehend C. Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter. Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: S. L. Paulson/M. Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen: Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 353 ff.; ders., Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 249 ff. 12 Hans Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der „Rechtsdogmatik“, in: ÖZöR 3 (1922), S. 103–235; ders., Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung, 1926; ders., Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? Eine Erwiderung, 1928. – Eingehend zu diesen und anderen Konflikten A.-J. Korb, Kelsens Kritiker, 2010, insb. S. 77 ff. 13 Zur langen Vorgeschichte und den Debatten B. Heimbüchel, Die neue Universität. Selbstverständnis – Idee und Verwirklichung, in: ders./K. Pabst, Kölner Universitätsgeschichte, Bd. II:
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Phase.14 Sie endet jäh. Während seiner Amtszeit als Dekan wird er am 12. April 1933 als einer der ersten Betroffenen auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen, wovon er aus der Zeitung erfährt.15 Es beginnen schwierige Jahre. Zunächst lehrt er in Genf am „Institut universitaire des hautes études internationales“, ab 1936 hat er dann zusätzlich das Ordinariat für Völkerrecht an der Deutschen Universität in Prag inne, wo es jedoch bald zu antisemitischen Propagandaaktionen der Studentenschaft kommt, so daß seine dortige Lehrtätigkeit mit Ablauf des Wintersemesters 1937/38 endet.16 Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigriert er, mittlerweile 60jährig und der englischen Sprache kaum mächtig, im Juni 1940 in die USA.17 Dort kann er zunächst als Lecturer an der Harvard Law School, zwei Jahre später als Lecturer in Political Science in Berkeley unterkommen, wo er bis an sein Lebensende bleibt. Von 1945 bis zu seiner Emeritierung 1952 wirkt er als Full Professor am Political Science Department in Berkeley für „International law, jurisprudence, and origin of legal institutions“. Seine Abschiedsvorlesung widmet er der Frage der Gerechtigkeit.18 Die Zeit der Pensionierung ist gekennzeichnet durch unvermindert rege und intensive wissenschaftliche Tätigkeit bei gleichzeitiger Pflege internationaler Kontakte. Vielfache Ehrungen und Einladungen führen ihn rund um die Welt, auch nach Deutschland und Österreich, ohne ihn dort in irgendeiner Weise wieder heimisch werden zu lassen. Seine Heimat war einzig die Wissenschaft. Im hohen Alter von über 90 Jahren stirbt er am 19. April 1973 in der Nähe von Berkeley und folgt damit seiner wenige Monate zuvor verschiedenen Frau Margarete nach, mit der er über 60 Jahre verheiratet war.
Das 19. und 20. Jahrhundert, 1988, S. 453 ff.; B. Rüthers, Universität im Umbruch. Hans Kelsen und Carl Schmitt in Köln 1933, in: AnwBl. 1990, S. 490 ff.; O. Lepsius, Hans Kelsen und der Nationalsozialismus, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 275 ff. 14 Eindrucksvolle Schilderung Kelsens als akademischer Lehrer im Hörsaal aus der Sicht eines Studenten: Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, 1982, S. 148 ff. 15 Vgl. F. Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, 1988, S. 114 ff. (118 ff.); I. Lepsius, Hans Kelsen und der Nationalsozialismus (Fn. 13), S. 271 ff. – Kelsen schildert das in seiner Autobiographie: Kelsen im Selbstzeugnis (Fn. 1), S. 82. – Zur Nachgeschichte des Kampfes um seine Pension detailliert Lepsius, ebd., S. 279 f. 16 Zu dieser Phase J. Osterkamp, Hans Kelsen in der Tschechoslowakei, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 305 ff. 17 Näher J. Feuchtinger, Transatlantische Vernetzungen. Der Weg Hans Kelsens und seines Kreises in die Emigration, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 321 ff. (327 ff.). 18 Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 1953. Dazu (mit diesem Titel) etwa G. Nogueira Dias, in: ZöR 57 (2002), S. 63 ff. (76 ff., 84 ff.).
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II. Das Lebenswerk: Die Reine Rechtslehre Zeit seines Lebens hat Kelsen an einer Theorie des Rechts gearbeitet, der er im Laufe der Jahre den Namen „Reine Rechtslehre“ gegeben hat. Grundgelegt wurde sie in seiner Habilitation von 1911, sodann in zahlreichen Aufsätzen und Monographien fortentwickelt,19 monographisch in der ersten Auflage von 1934 und der im Umfang mehr als verfünffachten Auflage von 1960 in eine konsolidierte Gestalt gebracht,20 ohne daß Kelsen danach seine Bemühungen um weitere Verbesserung, Korrektur oder Vertiefung seines Konzepts eingestellt hätte. Nur folgerichtig befaßt sich Kelsens letzte zu Lebzeiten publizierte Veröffentlichung in sehr detaillierter Weise mit kritischen Einwänden gegenüber seiner Lehre.21 Auch nach 1960 hat er an seinem Theoriegebäude kleinere und größere Umbauten vorgenommen. Davon legt insbesondere die postum erschienene Studie über eine allgemeine Normentheorie22 Zeugnis ab, die zu einigen, zum Teil als gravierend einzuschätzenden Revisionen bestimmter Theorieelemente geführt hat.23 Im folgenden kann es nur holzschnittartig um zentrale Aspekte und wesentliche Grundzüge gehen.
1. Das Wissenschaftsprogramm Mit der Reinen Rechtslehre intendiert Kelsen, wie es im Vorwort zur ersten Auflage programmatisch heißt, die „Jurisprudenz auf die Höhe einer echten Wis-
19 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920 (2. Aufl. 1928); ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922 (2. Aufl. 1928); ders., Allgemeine Staatslehre, 1925. 20 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, 1960 (im folgenden: RR2). 21 Hans Kelsen, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, in: ÖZöR 18 (1968), S. 143 ff. 22 Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hrsgg. v. K. Ringhofer und R. Walter, 1979. 23 Kelsens Spätwerk wirft zum Teil sehr intrikate Fragen auf, die keineswegs einheitlich eingeschätzt oder gar beantwortet werden. Im Kern geht es um die Erfassung von Normenkonflikten und die Anwendung logischer Schlußregeln auf Normenordnungen. Zur Problematik aus jüngerer Zeit etwa E. Wiederin, Das Spätwerk Kelsens, in: Walter/Ogris/Olechowski (Fn. 6), S. 351 ff.; C. Jabloner, Der Rechtsbegriff bei Hans Kelsen, in: S. Griller/H. P. Rill (Gesamtredaktion), Rechtstheorie: Rechtsbegriff–Dynamik–Auslegung, 2011, S. 21 ff. (28, 33 ff.); S. L. Paulson, Kelsen’s Radical Reconstruction of the Legal Norm, in: Gesellschaft und Gerechtigkeit. Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, S. 101 ff. – Auf keinen Fall aber hat Kelsen im hohen Alter dem Dualismus von Sein und Sollen abgeschworen, wie gelegentlich behauptet worden ist; siehe H. Dreier, Benedikt XVI. und Hans Kelsen, in: JZ 2012, S. 1151 ff.
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senschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ und die Rechtswissenschaft dem „Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern“.24 Gefährdungspotential für dieses Wissenschaftsprogramm25 erblickt Kelsen zum einen in der Vermengung von Aussagen über das Recht mit (rechts-)politischen Auffassungen und persönlichen Wertungen bis hin zu der tief eingewurzelten „Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht […] politische Forderungen zu vertreten“. Die Nähe zu Max Webers Konzept der Werturteilsfreiheit ist unverkennbar.26 Genauso wie jener erhebt er insofern nicht die Forderung, auf Werturteile zu verzichten, sondern lediglich, wissenschaftliche Aussagen und politische Meinung voneinander zu trennen.27 Und ebenso wie jener leugnet Kelsen keineswegs die politischen, ökonomischen, sozialen und sonstigen Kausalfaktoren bei der Entstehung und Durchsetzung des Rechts.28 Kelsen propagiert nicht die Reinheit des Rechts im Sinne seiner illusionären Enthobenheit von realen gesellschaftlichen Prozessen. Gefordert wird vor dem Hintergrund eines in neukantianischer Tradition29 scharf herausgearbeiteten Dualismus von Sein und Sollen vielmehr die Reinheit der rechtswissenschaftlichen Behandlung des Rechts. Die Reine Rechtslehre will nicht Lehre des reinen (guten, richtigen, gerechten) Rechts, sie will vielmehr reine (unverfälschte, objektive) Lehre des Rechts sein.30 Die Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf
24 Kelsen, RR1, S. III. 25 H. Dreier, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 81 ff. (im folgenden greife ich auf einige Formulierungen aus diesem Text zurück). 26 H. Dreier, Max Webers Postulat der Wertfreiheit in der Wissenschaft und die Politik, in: H. Dreier/D. Willoweit (Hrsg.), Wissenschaft und Politik, 2010, S. 35 ff. 27 Deutlich Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: JW 1929, S. 1723 ff. (1724). Klare, wissenschaftlich aber unhaltbare Gegenposition bei Smend, für den Erkennen, Bekennen und Wollen eine untrennbare Einheit bilden: vgl. Dreier, Wissenschaftsprogramm (Fn. 25), S. 85 f.; S. Korioth, Kelsen im Diskurs – Die Weimarer Jahre, in: M. Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, 2013, S. 29 ff. (36, 40, 44). 28 Siehe nur Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Fn. 19), S. 21. 29 Die genaue Bestimmung des Verhältnisses Kelsens zum Neukantianismus ist ein (großes und kompliziertes) Thema für sich. Siehe etwa H. Dreier, Rechtslehre Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl. 1990, S. 56 ff., 83 ff.; umfassende Erörterungen zum Gesamtkomplex bei R. Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie. Mit einer Einleitung von S. L. Paulson, 2002, darin insb. die Beiträge von R. Alexy, C. Heidemann und S. L. Paulson (S. 179 ff., 203 ff., 223 ff.). Siehe noch S. Uecker, Vom Reinheitspostulat zur Grundnorm, 2006; A. Carrino, Das Recht zwischen Reinheit und Realität, 2011. 30 Prägnant Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: H. Klecatsky/R. Marcic/H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdroß, Bd. I, 1968, S. 611 ff. (620).
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die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst, um dessen wertungsabstinente Rekonstruktion und Darstellung es geht. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe befindet sich Kelsen in einer doppelten Frontstellung31 einerseits gegenüber den Kausalwissenschaften, insbesondere der Rechtssoziologie, andererseits gegenüber allen Strömungen, die das positive Recht einer höheren, nichtjuristischen Normsphäre unterwerfen wollen, wie das vor allem für das Naturrecht gilt. Kelsen hält auf der einen Seite die Sollensdimension des Rechts gegen alle Versuche fest, rechtswissenschaftliche Normbeschreibung durch Explikation kausaler Zusammenhänge zu ersetzen oder zu verdrängen. „Die Faktizität sagt juristisch eben gar nichts.“32 Das Recht ist ein normatives Deutungsschema realer Vorgänge, das diesen einen bestimmten Sinn verleiht. Deswegen lehnt Kelsen auch „realistische“ Konzeptionen ab, die – wie beispielsweise der skandinavische Rechtsrealismus33 – die Sollenskomponente letztlich leugnen bzw. in psychische Zwangsvorstellungen auflösen wollen. Speziell der Rechtssoziologie wird freilich die Existenzberechtigung nicht abgesprochen, doch besteht Kelsen auf klarer Abgrenzung der verschiedenen Disziplinen mit entsprechendem Bewußtsein für deren je spezifische Methoden sowie ihre unterschiedliche Erklärungsweite und -richtung. „Rechts- und Staatssoziologie sind durch Kelsens Theorie nicht ausgeschlossen, sie sind nur als Soziologie zu betreiben.“34 Komplettiert wird das Bemühen um die Reinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis durch die Ablehnung des Naturrechts. Ungeachtet der Vielfalt von Aussagen und Argumenten, die Kelsen im Laufe seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Naturrecht vorgebracht hat, steht auch hier der Gedanke im Vordergrund, das Erkenntnisobjekt so klar wie möglich zu erfassen. Resultierte die Gefährdung durch die Kausalwissenschaften aus einem drohenden Verlust der Sollenssphäre, so resultiert sie nun aus der Überlagerung der Rechtssphäre
31 Dazu näher Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 27 ff. 32 Kelsen, Problem der Souveränität (Fn. 19), S. 71. 33 J. Bjarup, Skandinavischer Rechtsrealismus, 1978; M. Schmidt, Reine Rechtslehre versus Rechtsrealismus, in: R. Walter (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, 1992, S. 137 ff. 34 C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 56; zum Gedanken der Arbeitsteilung noch O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 354 ff. (359). – Kelsen selbst hat etwa sehr klare „richtersoziologische“ Aussagen über die Einstellung der Richter zur Weimarer Republik getroffen: siehe seine Diskussionsbemerkung in VVDStRL 3 (1927), S. 53 ff. – Zur notorischen, von wechselseitigen Mißverständnissen nicht freien Debatte Kelsens mit Eugen Ehrlich vgl. S. L. Paulson (Hrsg.), Hans Kelsen und die Rechtssoziologie, 1992; K. Lüderssen, Hans Kelsen und Eugen Ehrlich, in: Paulson/Stolleis (Fn. 11), S. 264 ff. m. w. N.
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durch eine andere, als höherrangig angesehene Sollenssphäre eines wie auch immer näher begründeten und ausgeformten Naturrechts. Einer solchen Vermengung normativer Welten und Systeme hält Kelsen die Position entgegen, daß die Rechtswissenschaft das positive, vom Menschen gesetzte Recht ohne relativierende oder korrigierende Beimischung anderer Normensysteme zu erkennen und zu erfassen habe, worin zugleich ein Antidot gegen ideologische Aufladungen des Rechts gesehen wird.35 Es geht, dem Objektivitätsideal der Wissenschaft entsprechend, um das Recht, wie es ist, nicht, wie es sein sollte. Rechtswissenschaft soll das Recht weder billigen noch mißbilligen, sondern erkennen und beschreiben.36 Auch das fehlerhafte, unsittliche Recht gehört dem Normensystem Recht an und kann – und muß unter Umständen – vom Standpunkt der Ethik und der Moral kritisiert werden. Die Qualifizierung einer effektiven Zwangsordnung menschlichen Verhaltens als Rechtsordnung sagt Kelsen zufolge über deren Dignität und Anerkennungswürdigkeit nichts aus, schon gar nicht ziehen die Rechtsnormen eine Gehorsamspflicht nach sich.37 Die Frage, ob das Recht zu befolgen ist oder ob man dagegen revoltieren sollte, kann nicht vom positiven Recht selbst beantwortet werden. Diese Antwort überläßt die Reine Rechtslehre der autonomen Entscheidung eines jeden Einzelnen und seiner religiösen, weltanschaulichen, politischen oder sonstwie geprägten Werthaltung.
2. Die Grundnorm Kelsens doppelte Frontstellung gegen die Okkupation der Rechtswissenschaft durch die Kausalwissenschaften einerseits, die Subordination unter ein Naturrecht andererseits wirft die schwierige Frage nach dem verbleibenden Geltungs-
35 Siehe nur Kelsen, RR1, S. 38: „Ihre anti-ideologische Tendenz bewahrt die Reine Rechtslehre darin, daß sie die Darstellung des positiven Rechts von jeder Art naturrechtlicher Gerechtigkeits ideologie zu isolieren sucht. Die Möglichkeit der Geltung einer über dem positiven Recht stehenden Ordnung bleibt für sie außer Diskussion. Sie beschränkt sich auf das positive Recht und verhindert so, daß die Rechtswissenschaft es für eine höhere Ordnung ausgebe oder aus einer solchen die Rechtfertigung des Rechts hole; oder daß die Diskrepanz zwischen einem irgendwie vorausgesetzten Gerechtigkeitsideal und dem positiven Recht zu einem juristischen Argument gegen dessen Geltung mißbraucht werde.“ Zu Kelsen als Ideologiekritiker vgl. einige Beiträge in: W. Krawietz/E. Topitsch/P. Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982. 36 Nachdrücklich Kelsen, RR2, S. 70 f. 37 Hierzu und zum folgenden ausführlich Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 179 ff., 228 ff.; in aller Kürze R. Walter, Hans Kelsens Rechtslehre, 1999, S. 12. – Besonders deutlich Kelsen, RR2, S. 441 f.
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grund für das Recht auf, wenn dieser weder in der puren Faktizität einer effektiven Zwangsordnung noch in der Legitimation durch überpositive Normen gefunden werden kann. Hier kommt die in mancherlei Bedeutungsvarianten schillernde Figur der Grundnorm38 ins Spiel, die als – von Kelsen teils als hypothetisch, teils als fiktiv gedeutete – Annahme gewissermaßen die Last der Normativitätsstiftung zu tragen hat. Nur durch ihre Zugrundelegung wird es möglich, eine effektive, faktisch wirksame staatliche Zwangsordnung als Rechtsordnung zu betrachten und das Recht als Deutungsschema für reale Vorgänge anzuwenden.39 Da aber für den Wertrelativisten Kelsen40 die Verbindlichkeit von Rechtsnormen in einer weltanschaulich pluralen Welt nicht mehr objektiv und allgemeingültig begründet werden kann, bietet die Grundnorm zwar einen letzten, aber keinen festen Halt: denn ihre Annahme beruht auf einer keinesfalls zwingenden Entscheidung des Rechtsbetrachters. Man kann die jeweilige staatliche Rechtsordnung auch schlicht als bloß faktisch überlegenes Macht- und Gewaltaggregat, als große Räuberbande im Sinne des Augustinus ansehen.
3. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung Neben die normativitätsstiftende Funktion tritt die einheitsstiftende Funktion der Grundnorm, die als gleichsam höchster Abschlußpunkt (apex norm) des Stufenbaus der Rechtsordnung fungiert.41 Die wesentlich auf Adolf Merkl zurück-
38 Siehe exemplarisch, aber nicht erschöpfend: Kelsen, RR2, S. 196 ff. – Die Sekundärliteratur dazu ist abundant. Vgl. etwa Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 27 ff., 42 ff., 86 ff., 128 ff.; R. Thienel, Kritischer Rationalismus und Jurisprudenz, 1991, S. 100 ff.; R. Walter, Entstehung und Entwicklung des Gedankens der Grundnorm, in: ders. (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, 1992, S. 47 ff.; S. L. Paulson, Die unterschiedlichen Formulierungen der „Grundnorm“, in: Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, 1993, S. 53 ff.; C. Heidemann, Die Norm als Tatsache. Zur Normentheorie Hans Kelsens, 1997, S. 90 ff., 144 ff., 208 ff., 348 ff.; U. Bindreiter, Why Grundnorm?, 2002. 39 Kelsen, RR1, S. 66. 40 Dazu näher H. Dreier, Joh 18, Wertrelativismus und Demokratietheorie, in: Reflexionen über Demokratie und Recht. Festakt aus Anlass des 60. Geburtstages von Clemens Jabloner, 2009, S. 13 ff. (18 ff.). 41 Zur Stufenbaulehre vgl. Kelsen, RR2, S. 228 ff.; aus der umfänglichen Sekundärliteratur m. w. N. etwa Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 129 ff.; H. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter, Schwerpunkte (Fn. 33), S. 37 ff.; M. Borowski, Die Lehre vom Stufenbau nach Adolf Julius Merkl, in: Paulson/Stolleis (Fn. 11), S. 122 ff.; kritisch P. Koller, Zur Theorie des rechtlichen Stufenbaues, ebd., S. 106 ff.; A. Jakab, Probleme der Stufenbaulehre, in: ARSP 91 (2005), S. 334 ff.; weitere Nachweise aus der neueren Literatur bei Dreier, Wissenschaftsprogramm
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gehende Stufenbaulehre rückt das Phänomen der Selbsterzeugung (und Selbstvernichtung) des Rechts in einem interdependenten Normenkosmos als Abfolge stufenweise zunehmender Konkretisierung ins Bewußtsein.42 Die Rechtsnormen stehen demgemäß in einem wechselseitigen Delegations- und Ableitungszusammenhang. Die Geltung einer Norm läßt sich nur aus der Geltung einer höheren Norm herleiten. Dabei reduziert die Reine Rechtslehre die Rechtsordnung nicht auf generelle Normen einschließlich des Gewohnheitsrechts, sondern begreift sie als Gesamtheit der auf den verschiedenen Rechtsebenen erzeugten Rechtsakte: von der Verfassung über Gesetze und Verordnungen bis hin zu richterlichen Urteilen, behördlichen Entscheidungen oder den zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträgen (lex contractus).43 Die Geltung der höchsten positivrechtlichen Norm, in der Regel also der Verfassung, kann sich ihrerseits nicht mehr auf eine höhere positive Norm, sondern nur noch auf die Annahme einer Grundnorm stützen. Dieses theoretische Gesamtarrangement von disziplinärem Selbstand der Rechtswissenschaft, neukantianisch-wertrelativistischer Geltungsbegründung und Stufenbaulehre zeitigt konkrete Folgen für Kelsens Positionierung in Fragen der Interpretationslehre, der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Staatsverständnisses.
III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit Der Zusammenhang zwischen der Stufenbaulehre und der Interpretationstheorie Kelsens44 liegt auf der Hand. Denn wenn es jeweils höhere und niedrigere Stufen der Normerzeugung mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad gibt, dann ist unmittelbar evident, daß die höherrangigen Normen wie etwa die Bestimmungen der Verfassung über Inhalt, Form und Verfahren der Gesetzgebung die darunter liegende Normerzeugung, also die vom Parlament beschlossenen Gesetze selbst, nicht vollständig determinieren, sondern nur in gewisser formeller und materiel-
(Fn. 25), S. 107 f.; nachzutragen ist E. Wiederin, Die Stufenbaulehre Adolf Julius Merkls, in: Griller/Rill, Rechtstheorie (Fn. 23), S. 81 ff. 42 Sehr plastisch Kelsen, RR1, S. 63 ff. 43 Eingängige Darstellung bei Kelsen, RR1, S. 62 ff., 73 ff.; ders., RR2, S. 228 ff. 44 Siehe Kelsen, RR1, S. 90 ff.; ders., RR2, S. 346 ff. – Dazu Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 145 ff.; Thienel, Rationalismus (Fn. 38), S. 133 ff., 168 ff.; H. Mayer, Die Interpretationstheorie der Reinen Rechtslehre, in: Walter, Schwerpunkte (Fn. 33), S. 61 ff.
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ler Weise vorstrukturieren, ihnen gleichsam einen Rahmen geben kann. Und was für das Verhältnis von Verfassung und Gesetz gilt, gilt Kelsen zufolge auch für die weiteren Stufen, etwa für die Verordnunggebung, die sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben halten muß, oder noch stärker für die Anwendung des Gesetzes auf einen Einzelfall. Abstrakter gesprochen: „Das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Stufe der Rechtsordnung, wie zwischen Verfassung und Gesetz oder Gesetz und richterlichem Urteil, ist eine Relation der Bestimmung oder Bindung; die Norm höherer Stufe regelt […] den Akt, durch den die Norm tieferer Stufe erzeugt wird […] Diese Bestimmung ist aber niemals eine vollständige. Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“45 Daraus ergibt sich zwingend, daß es bei der interpretatorischen Anwendung einer Norm eine einzige richtige Entscheidung nicht geben kann, woraus wiederum folgt, daß die nicht selten anzutreffende Einordnung Kelsens als Vertreter der Begriffsjurisprudenz vollständig in die Irre geht.46 Er selbst hat sich aufgrund seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber der disziplinierenden Kraft der gängigen Interpretationsmethoden eher der Freirechtsschule zugeordnet.47 Jedenfalls ist für ihn klar, daß jeder Rechtsanwendungsvorgang auch und zugleich ein Rechtserzeugungsvorgang ist, in dem – in unterschiedlicher Mischung der Bestandteile – volitive und kognitive Elemente zusammentreffen. Interpretation ist somit teils Erkenntnis, teils Willensakt, Kognition und Dezision zugleich, was Adolf Merkl in das plastische Bild vom „doppelten Rechtsantlitz“ gekleidet hat.48 Vorstellungen von Rechtsanwendung als einem mechanischen, sich sozusagen automatenhaft vollziehenden Vorgang sind Kelsen ebenso fremd wie der Mythos von der einen, einzig richtigen Entscheidung. Von einem simplen Subsumtionsschluß oder von Interpretation als einem Akt reiner Logik kann bei ihm keine Rede sein. Ganz im Gegenteil öffnet Kelsen das Tor weit für das subjektive, von Werturteilen geprägte Ermessen des jeweiligen Rechtsanwenders, der eben immer zugleich auch Rechts-
45 Kelsen, RR1, S. 90 f. 46 Ausführlicher als hier H. Dreier, Zerrbild Rechtspositivismus, in: Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, 2011, S. 61 ff. (84 ff.). 47 Kelsen, Formalismus (Fn. 27), S. 1726. – Zur Ablehnung der Begriffsjurisprudenz Kelsen, RR1, S. 99 f.; ders., RR2, S. 353. 48 A. Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, in: Juristische Blätter 1918, S. 425 ff., 444 ff., 463 ff.
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schöpfer ist.49 Mit der Unterscheidung zwischen authentischer und rechtswissenschaftlicher Interpretation wird einerseits die geringe Bedeutung, die Kelsen der Wissenschaft für die konkrete Rechtspraxis beimißt, evident, andererseits der politische Charakter des Handelns der Rechtsanwender, zuvörderst der Richter, offengelegt, die sich nicht länger hinter der Vorstellung wertfreier, unpolitischer Normanwendung verschanzen können.50 Auch zwischen Stufenbaulehre und Kelsens Konzeption einer Verfassungsgerichtsbarkeit als einer Normprüfungsinstanz besteht ein evidenter Zusammenhang, den er bei seinem Wiener Staatsrechtslehrervortrag deutlich expliziert hat.51 Wenn die Frage der Konformität eines Rechtsaktes oder einer Norm mit den Vorgaben einer ranghöheren Norm juristischer Überprüfung zugänglich ist und wenn es insbesondere der Idee des Rechtsstaates entspricht, gemäß dem tradierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Handeln der Verwaltung gerichtlich auf Übereinstimmung mit den förmlichen Gesetzen hin überprüfen zu können – dann gibt es keinen prinzipiellen Grund, die Gesetze ihrerseits als Normen einer höheren, aber wiederum unter der Verfassung stehenden Stufe von einer solchen, strukturell gleichen Prüfung auszunehmen. Die in der politischen
49 Gerade daß Kelsen hier kaum taugliche Disziplinierungsmöglichkeiten der konkreten Praxis durch die Rechtswissenschaft, etwa durch eine elaborierte juristische Methodik, sieht, hat ihm die Kritik eingetragen, Auslegungsnihilist zu sein. Wenn das auch vielleicht etwas zu weit geht, wird man auf jeden Fall festhalten müssen, daß seine Lehre für die konkreten Probleme der Rechtsanwendung nichts austrägt (näher Dreier, Rechtslehre [Fn. 29], S. 148 ff.). Das trifft allerdings auf die anderen drei des berühmten Weimarer Staatsrechtslehrerquartetts (außer Kelsen noch Schmitt, Smend und Heller) genauso zu. – Skizze einer den Normbindungs- wie den Normsetzungsaspekt integrierenden „Rechtsgewinnungstheorie“ bei M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 279 ff. 50 Zum Vorstehenden eingehender Dreier, Wissenschaftsprogramm (Fn. 25), S. 109 ff. – Treffend M. Jestaedt, Einleitung, in: Hans Kelsen im Selbstzeugnis (Fn. 1), S. 1 ff. (2): Es handelt sich um einen „doppelten Tabubruch“: Kelsen „zieht der eigenen Disziplin den Schleier weg, hinter dem diese ungestört politisieren kann, und er nimmt den Rechtserzeugungsorganen umgekehrt die Möglichkeit, sich auf vorgeschobene recht(swissenschaft)liche Bindungen herauszureden, wo politische Entscheidungen zu verantworten sind.“ Desgleichen U. Lembke, Weltrecht – Demokratie – Dogmatik. Kelsens Projekte und die Nachwuchswissenschaft, in: Jestaedt, Staatsrechtslehre (Fn. 27), S. 223 ff. (238). 51 Vgl. Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30 ff.; zur Sache H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 129 ff.; R. Walter, Die mitteleuropäische Verfassungsgerichtsbarkeit und die Reine Rechtslehre, in: Österreichische Richterzeitung 1993, S. 266 ff. – Zur Wiener Staatsrechtslehrertagung 1928 und ihrem Verlauf T. Olechowski, Hans Kelsen als Mitglied der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, in: Jestaedt, Staatsrechtslehre (Fn. 27), S. 11 ff. (14 ff.).
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Diskussion der Weimarer Zeit außerordentlich umstrittene gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von (Reichs-)Gesetzen52 erscheint auf einsichtige und geradezu elegante Art und Weise funktionell als gedanklich zwingende Komplettierung der (allgemein akzeptierten) Überprüfung von Verwaltungsakten auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz. Neben die Verwaltungsgerichtsbarkeit tritt eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit“.53 Demgemäß hat Kelsen davon gesprochen, daß die österreichische Verfassung von 1920 von Anbeginn Garantien „nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ enthalte.54 Weil er aber um die Schwierigkeiten effektiver Hegung rechtsinterpretatorischer Gerichtsmacht wußte, drängte er sowohl auf die Konzentration entsprechender Gesetzesüberprüfungskompetenzen bei einem eigens dafür geschaffenen Gerichtshof (einschließlich eines eng umrissenen Kreises von Antragstellern) als auch auf unbedingte Vermeidung von generalklauselartigen Bestimmungen in der Verfassung selbst; präzise Kontrollmaßstäbe sollten eine Machtverschiebung vom demokratisch gewählten Parlament hin zur Judikative vermeiden.55 Das in der Weimarer Republik von vielen propagierte (diffuse) allgemeine richterliche Prüfungsrecht56 erachtete er hingegen angesichts der bekannten sozialen Rekrutierung der meisten Richter und ihrer entsprechenden politischen Einstellung als „Selbstmord der Demokratie“.57
52 Wendenburg, Debatte (Fn. 51), S. 130 ff. (dort S. 133 ff. auch der richtige Hinweis darauf, daß Kelsen immer für möglichst präzise Normen als Kontrollmaßstäbe eingetreten ist, um es nicht zu einer Machtverschiebung vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber auf die Judikative kommen zu lassen); H. Dreier, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik, in: T. Simon/ J. Kalwoda (Hrsg.), Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte, 2014, S. 317 ff. (332 ff., 361 ff.). 53 Terminus bei K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 9. Aufl. 2012, Rn. 6. 54 H. Kelsen, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 147 ff. (158). Der österreichische Verfassungsgerichtshof findet sich im sechsten Hauptstück der österreichischen Bundesverfassung, welches überschrieben ist „Garantien der Verfassung und Verwaltung“. 55 Kelsen, Wesen und Entwicklung (Fn. 51), S. 69 f. 56 In dem präzisen und „eminenten Sinne“ als „das Recht jedes Richters, jedes, auch jedes vorschriftsmäßig verkündete Reichsgesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und ihm im Falle des Nichtbestehens der Prüfung die Anwendung zu versagen“ (G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 70 Anm. 5 [S. 372]). 57 So wird Kelsen zitiert bei Franz Neumann, Gegen ein Gesetz über Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft VI (1929), S. 517 ff. (534); freilich behandelt Neumann dort speziell die umstrittene Frage der Übertragung weiterer Kompetenzen auf
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IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht Die These vom Föderalismus als einer starken Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit58 bestätigend, hatten die Beratungen zur österreichischen Bundesverfassung von 1920 ihren Ausgang bei der Frage nach den Kontrollmöglichkeiten für bundesstaatswidrige Landesgesetze genommen, um dann in einem zweiten bedeutsamen Schritt auch die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen einzubeziehen, also die föderale Hierarchie um die Normenhierarchie zu ergänzen.59 Kelsen zufolge vollendet sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erst die politische Idee des Bundesstaates.60 Diesen konzipiert er in Aufnahme älterer Traditionen in dreigliedriger Weise.61 Neben den Gliedstaaten und dem Zentralstaat kennt er eine dritte Größe, den Gesamtstaat bzw. besser und genauer: die Gesamtverfassung. Diese übergreift Zentralstaat und Gliedstaaten und organisiert die Zuordnung der Kompetenzen auf Zentralstaat und Gliedstaaten sowie deren näheres Verhältnis zueinander. Dieser dritten (verfassungstheoretischen) Größe entspricht keine weitere staatliche Ebene; vielmehr fungiert der Bund das eine Mal als Zentralstaat, das andere Mal als Gesamtstaat bzw. als Gesamtverfassung. Obwohl in Deutschland noch immer die Zweigliedrigkeitslehre vorherrscht,62 hat man Kelsens Lehre doch attestiert, die weder auf hierarchische Subordinationsverhältnisse noch auf reine Koordinationsbeziehungen reduzierbaren föderalen Strukturen differenziert(er) zuzuordnen und auch einschlägige positivrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes besser und gewissermaßen „zwanglos“ zu erklären.63
den Staatsgerichtshof. Doch Kelsen hatte seine Skepsis gegen das diffuse richterliche Prüfungsrecht ja an anderer Stelle deutlich geäußert (vgl. Fn. 34). 58 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 53), Rn. 498. 59 Nachweise: Dreier, Hans Kelsen (Fn. 1), S. 706 f. 60 Kelsen, Wesen und Entwicklung (Fn. 51), S. 81. 61 Siehe insb. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Fn. 19), S. 193 ff., 207 ff.; ders., Die Bundesexekution, in: Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag, 1927, S. 127 ff. – Eingehend E. Wiederin, Kelsens Begriffe des Bundesstaats, in: Paulson/Stolleis (Fn. 11), S. 222 ff. mit Nachweisen der älteren Literatur. 62 Zur Kontroverse eingehend S. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 385 ff. – BVerfGE 13, 54 (77) bekennt sich explizit zur Zweigliedrigkeit. 63 Zitat: M. Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 29 Rn. 10; näher J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. VI, 2008, § 126 Rn. 88 ff., 91 mit Hinweis darauf, daß manche Regelungen des Grundgesetzes – wie etwa die über die Bundesorgane – allein für den Bund als Zentralstaat gelten und insofern eine Teilverfassung
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Ganz abgesehen von den Besonderheiten bundesstaatlicher Organisation zeitigen die Prämissen der Reinen Rechtslehre (neutrale Deskription des Gegenstandes, Werturteilsfreiheit, Methodenreinheit) Konsequenzen für den Staatsbegriff.64 Jeder Staat hat demnach eine Rechtsordnung, sei diese auch ihrem Inhalt nach noch so verwerflich. Mehr noch: in diesem reduzierten und speziellen, entmaterialisierten Sinn ist jeder Staat ein Rechtsstaat,65 sofern es sich nur um eine effektive Zwangsordnung menschlichen Verhaltens handelt. Aus dem Postulat der gegenstandskonstitutiven Kraft der jeweiligen wissenschaftlichen Methode folgt sodann die Ablehnung der Zwei-Seiten-Theorie des Staates, wie sie insbesondere von Georg Jellinek verfochten wurde.66 Demgemäß ließ sich der Staat von der einen Seite her als soziales und politisches, von der anderen Seite her als rechtliches und rechtswissenschaftliches Phänomen betrachten. Kelsen verwirft diesen Dualismus schon aus methodologischen Gründen, weil jener eine irgendwie vorgegebene Entität „Staat“ voraussetzt, der dann zum Objekt unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugriffe wird. Für Kelsen gibt es aber keinen Staat an sich: weder als factum brutum noch als Realisation einer metaphysischen Idee. Das vor der Konstitution durch die jeweilige Wissenschaftsdisziplin vorhandene Substrat könnte man ja nur als diffuses Norm-Faktum-Konglomerat umschreiben, als disziplinär ungefüges „Staat-Recht-Dinges“.67 Für Kelsen steht der Staat weder vor noch hinter und schon gar nicht über der Rechtsordnung, für ihn ist der Staat die Rechtsordnung; Staat und Recht sind identisch. Daher gibt es für den juristischen Zugriff keine legitime staatliche Gewalt über die rechtlich begründete und begründbare hinaus.68 Das Völkerrecht hat seit jeher Kelsens besondere Aufmerksamkeit gefunden. Die Wendung von der ‚reinen Rechtslehre‘ begegnet nicht zufällig im Untertitel seiner Monographie von 1920 über Souveränität und Völkerrecht.69 Konstruktiv traktiert Kelsen vor allem das Problem einer Einheit von Völkerrecht und einzelstaatlichem Recht, wobei er gegen einen Dualismus beider Rechtsordnungen den Gedanken der erkenntnismäßigen Einheit allen Rechts bemüht und so den
bilden, andere wiederum – wie die Kompetenzregeln oder die Vorkehrungen für die Verfassungsänderung – Bund und Länder gleichermaßen betreffen und insofern nur als Gesamtverfassung adäquat zu verstehen sind. 64 Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Fn. 19), S. 1 ff., 16 ff. u. ö.; ders., RR2, S. 289 ff. 65 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Fn. 19), S. 44, 91, 109; ders., RR2, S. 314 f., 320; näher Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 208 ff. 66 Zum folgenden Dreier, Wissenschaftsprogramm (Fn. 25), S. 95 ff. 67 Kelsen, Staatsbegriff (Fn. 19), S. 105; vgl. ders., Allgemeine Staatslehre (Fn. 19), S. 74 ff. 68 Kelsen, Staatsbegriff (Fn. 19), S. 88. 69 Vgl. Kelsen, Problem der Souveränität (Fn. 19).
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Monismus für „denklogisch“ zwingend hält.70 Konzipierbar sei dieser Monismus entweder als geltungstheoretisches Primat der staatlichen Rechtsordnung (Souveränitätsdogma) oder der Völkerrechtsordnung (Dogma der einheitlichen Gesamtrechtsordnung): sog. monistische „Wahlhypothese“.71 Die Wahl selbst erscheint letztlich als Frage der Weltanschauung.72 Kelsens Beiträge zum Völkerrecht reichen indes über theoretische Grundkonzeptionen weit hinaus und umfassen auch zahlreiche bzw. zahllose Beiträge zu dogmatischen Fragen des Völkerrechts73 bis hin zur Kommentierung der UN-Charta von 1945, bei der er seinen methodologischen Prämissen zu entsprechen sucht.74 Es dürfte gerade die Verbindung eines hohen Abstraktionsniveaus mit der Mannigfaltigkeit der erörterten Themen und Fragestellungen sein, die zur Anschlußfähigkeit und der verstärkten Rezeption des Völkerrechtlers Kelsen in jüngerer Zeit maßgeblich beigetragen hat.75 Auch für die schwierig zu deutende Gesamtkonstruktion der Europäischen Union und ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten hat man die Souveränitätskonzeption Kelsens mit ihrer Offenheit gegenüber fluiden Gestaltungs- und Verteilungsmöglichkeiten hoheitlicher Kompetenzen auf verschiedene Ebenen und Träger in durchaus fruchtbarer Weise herangezogen,76 zumal Kelsen selbst
70 Hierzu und zum folgenden Kelsen, RR1, S. 129 ff., 134 ff.; ders., RR2, S. 328 ff. 71 M. Jestaedt, Hans Kelsens Reine Rechtslehre. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 1. Auflage 1934, 2008, S. LIV; J. v. Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, 2001, S. 91 ff.; Lembke, Weltrecht (Fn. 50), S. 235. 72 Kelsen, Problem der Souveränität (Fn. 19), S. 317; ders., RR1, S. 139 ff.; Kelsen wollte sie an der ideologischen Grenze zwischen Imperialismus und Pazifismus verorten: Hans Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: ZaöRV 19 (1958), S. 234 ff. 73 Umfangreiche Auflistung bei A. Rub, Hans Kelsens Völkerrechtslehre: Versuch einer Würdigung, 1995, S. 595 ff. 74 Hans Kelsen, The Law of the United Nations. A Critical Analysis of Its Fundamental Problems (1950), 4th printing New York 1964, S. XIII ff. – Näher v. Bernstorff, Glaube (Fn. 71), S. 199 ff.; B. Fassbender, Hans Kelsen und die Vereinten Nationen, in: Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 763 ff. (insb. 770 ff.). 75 C. Leben, Hans Kelsen and the Advancement of International Law, in: European Journal of International Law 9 (1998), S. 287 ff.; v. Bernstorff, Glaube (Fn. 71), S. 39 ff. (insb. 49 ff.); R. Walter/C. Jabloner/K. Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsen und das Völkerrecht, 2004; H. Brunkhorst/R. Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen, 2008; Lembke, Weltrecht (Fn. 50), S. 233 ff. 76 Nachweise: Dreier, Wissenschaftsprogramm (Fn. 25), S. 102 f.; nachzutragen wären M. Je staedt, Der Europäische Verfassungsverbund, in: Gedächtnisschrift für Jürgen Blomeyer, 2004, S. 637 ff. (657 ff.); T. Ehs (Hrsg.), Hans Kelsen und die Europäische Union, 2008.
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die Schaffung einer internationalen Organisation, die ihren Mitgliedern den Staatscharakter entzieht, für durchaus möglich gehalten hat.77
V. Demokratietheorie Kelsen war nicht allein Rechtstheoretiker und Verfasser ungezählter rechtsdogmatischer Schriften, Kommentare durchaus eingeschlossen, sondern – neben seiner praktischen Tätigkeit in der Volksbildung78 – auch der Autor einer „der großen Demokratiebegründungsschriften überhaupt“.79 Seinen zentralen Beitrag über „Wesen und Wert der Demokratie“80 verfaßte er in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik, in denen nicht zuletzt auch unter vielen Staatsrechtslehrern Parlamentarismus-, Pluralismus- und Parteienkritik dominierten. Kelsen hingegen spricht ausdrücklich davon, daß der Parlamentarismus die „einzige reale Form“ sei, „in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“; daß diese Demokratie „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“ sein müsse; daß sie in der Moderne auf der Basis eines vielfältigen gesellschaftlichen Pluralismus mit entsprechend divergenten Auffassungen und
77 Kelsen, RR2, S. 343. 78 Zu diesem Tätigkeitsbereich T. Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat, 2007. – Nur erwähnt seien hier zudem seine zahlreichen Beiträge zu aktuellen politischen Fragen in der Tagespresse. 79 H. Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, in: M. Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Festschrift für Rudolf Wildenmann, 1986, S. 217 ff. (217). – Zur langsam wieder einsetzenden Rezeption des Demokratietheoretikers Kelsen in der Politikwissenschaft siehe K. G. Kick, Politik als Kompromiß auf einer mittleren Linie: Hans Kelsen, in: H. J. Lietzmann (Hrsg.), Moderne Politik. Politikverständnis im 20. Jahrhundert, 2001, S. 63 ff.; R. v. Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003; ders., Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, 2010. 80 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929; vorangegangen war ein sehr viel kürzerer (und deutlich rousseauistischer) Text mit gleichem Titel im Jahre 1920; auch weite Teile seiner Allgemeinen Staatslehre (Fn. 19) widmeten sich einschlägigen Fragen demokratischer Staatsorganisation (insb. §§ 43 ff.). Viele Jahre später präsentierte Kelsen mit „Foundations of Democracy“ (Ethics 66 [1955], Nr. 1, S. 1–101) eine nicht nur stark erweiterte und jüngere Entwicklungen berücksichtigende, sondern völlig anders gegliederte Publikation zur Demokratietheorie, die zudem andere thematische Schwerpunkte setzte. – Abdruck dieser Texte und weiterer einschlägiger Publikationen zur Demokratie, darunter der bewegende Aufsatz „Verteidigung der Demokratie“ von 1932, in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, hrsgg. v. M. Jestaedt u. O. Lepsius, 2006.
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Interessen denkbar sei, deren Ausgleich im Wege der „Erzielung eines Kompromisses“ im dafür prädestinierten parlamentarischen Verfahren erfolgen müsse.81 Seinen argumentativen Ausgangspunkt nimmt Kelsens Demokratieverständnis nicht beim Kollektivsubjekt Volk, sondern bei der Idee der Freiheit des Einzelnen, bei dessen Autonomie und Selbstgesetzgebung. Sie bildet den entscheidenden Fixpunkt. Freilich unterliegt dieser aufgrund der Komplizierung sozialer Verhältnisse, der Vorteile arbeitsteiliger Organisation und der Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Einheitsbildung einer ganzen Reihe gravierender Metamorphosen, die das utopische und im Grunde a-staatliche Ideal absoluter individueller Autonomie in die realistische Form der Mehrheitsherrschaft gewählter parlamentarischer Repräsentanten transformiert. Die anarchische Freiheit von jeglicher Ordnung wandelt sich zur stets beschränkten Freiheit im Staat, in dem gewählte Repräsentanten mit Mehrheit die für alle geltenden Gesetze beschließen. Diese können nicht für sich reklamieren, Ausdruck einer höheren Vernunft mit objektiver Geltung zu sein, sondern stellen lediglich die temporär gültige, prinzipiell revisible Fixierung einer Position dar, die den Willen der jeweiligen Mehrheit verkörpert. Demokratie wird auf diese Weise verstanden als eine politische Koexistenzordnung auf der Basis eines akzeptierten Pluralismus der Meinungen, Glaubensrichtungen und Interessen, von denen keine für sich beanspruchen kann, die objektive Wahrheit zu verkörpern. Insoweit hat Kelsen davon gesprochen, daß der Relativismus diejenige Weltanschauung sei, die die Demokratie voraussetzt.82
81 Kelsen, Wesen und Wert (Fn. 80), S. 18 ff., 56 ff.; die drei Zitate im Text finden sich der Reihenfolge nach S. 27, 20, 57. – Kelsen votiert im übrigen für die verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien und ihrer demokratischen Binnenstruktur (ebd., S. 23 f.). – Hierzu und zum folgenden ausführlicher Dreier, Rechtslehre (Fn. 29), S. 249 ff.; ders., Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: R. Walter/C. Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, 1997, S. 79 ff.; T. Groß, Neu Gelesen, in: KritJ 40 (2007), S. 306 ff.; O. Lepsius, Kelsens Demokratietheorie, in: T. Ehs (Hrsg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, 2009, S. 67 ff.; K. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 129 ff., 212 ff., 276 ff., 488 ff., 587 ff. 82 Kelsen, Wesen und Wert (Fn. 80), S. 101; dazu und zu den mit dieser Sentenz verbundenen Mißverständnissen Dreier, Kelsens Demokratietheorie (Fn. 81), S. 96 ff.; ders., Joh 18 (Fn. 40), S. 18 ff., 25 ff.
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VI. Politikwissenschaft, Soziologie, politische Philosophie Das Gesamtwerk Hans Kelsens umfaßt zahlreiche Schriften, die über den engeren Bereich der Rechtswissenschaft im allgemeinen, des Staats- und Völkerrechts einschließlich der Demokratietheorie im besonderen weit hinausreichen, ohne aber doch jeden Bezug zu ihnen zu verlieren. Genannt seien hier seine politologischen Studien zum Marxismus und zur kommunistischen Rechtstheorie, deren rein ideologische Funktion und gedankliche Unhaltbarkeit er schonungslos offenlegt.83 Auch die kürzlich erschienene Monographie über „Secular Religion“ gehört in diesen Zusammenhang.84 Denn so wie er an der kommunistischen Rechtstheorie den Verlust der Eigenständigkeit des Normativen kritisiert und bekämpft, so fürchtet er, daß die Konzepte säkularer Religionen die aufklärerischen Errungenschaften der Freiheit der Wissenschaft und der Trennung von Politik und Religion gefährden könnten. Genannt sei ferner seine große Studie über „Vergeltung und Kausalität“,85 in der er im Rückgang auf die Vorstellungswelten archaischer („primitiver“) Gesellschaften und unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Ethnologie demonstriert, wie sich die für das moderne Denken selbstverständliche und für unser Verständnis von Recht und Rechtswissenschaft konstitutive Differenz von Natur und Gesellschaft, Sein und Sollen, Kausalgesetzlichkeit und Normgesetzlichkeit erst allmählich herausgebildet hat – und zwar dadurch, daß die ursprünglich soziomorphe Deutung von Natur und Gesellschaft gemäß dem Vergeltungsgedanken im Laufe der Entwicklung gewissermaßen auf die normative Sphäre eingeschränkt und dem Naturgeschehen der Erklärungsmodus der Kausalität zugeordnet wird. Großen Raum nimmt in seinem Werk seit jeher die durchweg kritische Beschäftigung mit dem Naturrecht ein.86 An Ausführlichkeit unübertroffen ist in-
83 Hans Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. Aufl. 1923; ders., The Political Theory of Bolshevism, 1948; ders., The Communist Theory of Law, 1955. 84 Hans Kelsen, Secular Religion. A Polemic against the Misinterpretation of Modern Political Philosophy, Science and Politics as „New Religions“, 2012. 85 Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität, 1941 (ausgeliefert 1946). Zu dieser Schrift etwa C. Jabloner, Bemerkungen zu Kelsens ‚Vergeltung und Kausalität‘, besonders zur Naturdeutung der Primitiven, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie (Fn. 35), S. 47 ff.; H. Dreier, Vom mythologischen Weltbild zur demokratischen Staatsordnung – Hans Kelsen als politischer Soziologe (1988), in: C. Jabloner u. a. (Hrsg.), Gedenkschrift für Robert Walter, 2013, S. 123 ff. 86 Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928; der Anhang aus RR2 („Das Problem der Gerechtigkeit“, S. 355–444) gehört ebenfalls hierher. Siehe hierzu und zum folgenden auch R. Walter, Hans Kelsen, die Reine Rechtslehre und
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sofern die intensive Beschäftigung mit der griechischen Philosophie, allen voran mit Platon, wie die postume Publikation eines langen Manuskriptes zeigt.87
VII. Rezeption Was internationale Ausstrahlung und Einfluß auf die Rechtswissenschaft in verschiedenen Ländern anbetrifft, so dürfte kaum ein Jurist des 20. Jahrhunderts Kelsen gleichstehen. In drei Sammelbänden ist dieses vielfältige Wirken dokumentiert.88 In Österreich stieß seine neue Lehre zwar keineswegs auf ungeteilte Zustimmung, wurde jedoch als bedeutsame Leistung gewürdigt und führte dazu, daß sich schon bald eine Gruppe von Schülern und Mitstreitern (unter ihnen Adolf Merkl und Alfred Verdroß) um ihn scharte89 und das „label“ der Wiener Rechtstheoretischen Schule mit Kelsen als unumstrittenem Haupt entstand. Anders sah das in Deutschland aus. Dort stieß er schon in den 1920er Jahren, insbesondere im Kontext des sog. Methodenstreites, nicht nur auf Unverständnis (wie etwa bei staatsrechtlichen Positivisten wie Anschütz und Thoma), sondern auch (so etwa bei Smend, Schmitt und Heller und vor allem den konservativen Vertretern der Zunft) auf vehemente und bei weitem nicht immer nur rein wissenschaftlich motivierte Ablehnung.90 Doch immerhin blieb er hier noch ein letztlich geachteter, wenn auch scharf attackierter Gegner mit katalytischer Funktion.91
das Problem der Gerechtigkeit, in: Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts (Rechtsethik, Bd. 3), 1996, S. 207 ff. 87 Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, hrsgg. v. K. Ringhofer u. R. Walter, 1985. Siehe dazu und seinen weiteren einschlägigen Schriften, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen, die Beiträge in: R. Walter/C. Jabloner/ K. Zeleny (Hrsg.), Griechische Philosophie im Spiegel Hans Kelsens: Ergebnisse einer internationalen Veranstaltung in Wien, 2006. 88 Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, 1978; Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Teil II, 1983; Hans Kelsen anderswo. Hans Kelsen abroad. Der Einfluss der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Teil III, hrsgg. v. R. Walter/C. Jabloner/K. Zeleny, 2010. 89 Umfänglich R. Walter/C. Jabloner/K. Zeleny (Hrsg.), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre, 2008. – Merkl und Verdroß sind wegen ihrer überragenden eigenständigen Bedeutung nicht mit aufgenommen worden. 90 Zu seiner Rezeption im Gesamtüberblick (vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Jahrhunderts) H. Dreier, Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre, 2001, S. 17 ff. 91 Sowohl Schmitts „Verfassungslehre“ als auch Smends „Verfassung und Verfassungsrecht“ (beide 1928 erschienen) sind im Grunde eine Reaktion auf Kelsens „Allgemeine Staatslehre“ von 1925.
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In der Zeit des Nationalsozialismus wurde daraus der jüdische, zudem der Sozialdemokratie nahestehende Feind, der vertrieben und – nicht zuletzt von Carl Schmitt – nach Kräften geschmäht wurde. Nach 1945 bestand die – wohl auch auf unterschwellige antisemitische Reflexe gegründete – Rezeptionsunwilligkeit gegenüber dem Positivisten, Ideologiekritiker, Demokraten, Pluralisten und Emigranten fort.92 Ignoranz und Abschottung bildeten die vorherrschende Form des Umgangs mit Kelsens Lehre. Die Positivismuslegende,93 letztlich eine erfolgreiche Desinformationskampagne, machte aus Opfern Tätern und hielt dem 1933 vertriebenen Demokraten vor, mit seinem Denken zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen zu haben. Bestenfalls galt die Reine Rechtslehre als skurril oder absurd, als sinnlose Logelei, wenn nicht als irgendwie anarchisch oder – genau umgekehrt – als eine Form der Staatsapotheose.94 Sich hierzulande zu Kelsen zu bekennen, „löste noch am Ende der sechziger Jahre deutliches Befremden aus und stellte ein akademisches Risiko dar“.95 Ein Umschwung trat in den 1980er und 1990er Jahren ein.96 Seitdem läßt sich ein Prozeß zunehmender Versachlichung und Normalisierung im Umgang mit seinem Lebenswerk beobachten,97 wovon nicht zuletzt die in den Fußnoten des vorliegenden Textes genannten Titel Zeugnis ablegen. Es ist ein Zeichen dieser Normalisierung, daß die Meinungen über die Zukunftsfähigkeit und aktuelle wissenschaftliche Anschlußfähigkeit von Kelsens Werk auseinandergehen.98
92 Siehe Dreier, Rezeption (Fn. 90), S. 27 ff.; F. Günther, „Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“, in: Jestaedt, Staatsrechtslehre (Fn. 27), S. 67 ff.; C. Schönberger, Kelsen-Renaissance?, ebd., S. 207 ff. (208). 93 Nähere Hinweise dazu bei Dreier, Rezeption (Fn. 90), S. 29 f.; jüngst L. Foljanty, Recht oder Gesetz, 2013, S. 19 ff. 94 Sammlung einschlägiger Invektiven: Dreier, Wissenschaftsprogramm (Fn. 25), S. 81. 95 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990, 2012, S. 389. 96 H. Dreier, Zur (Wieder-)Entdeckung Kelsens in den 1980er Jahren – Ein Rückblick (auch in eigener Sache), in: Jestaedt, Staatsrechtslehre (Fn. 27), S. 175 ff. 97 Dreier, Rezeption (Fn. 90), S. 30 ff.; zustimmend Günther, Jemand (Fn. 92), S. 83; Lembke, Weltrecht (Fn. 50), S. 225 ff. (225: „erfreuliche Normalisierung“); Schönberger, Renaissance (Fn. 92), S. 210 f. (210: „unspektakuläre Normalisierung“); für Versuche einer – von Schönberger (ebd., S. 208 ff.) zu Recht als unwissenschaftlich und unhistorisch abgelehnten – beflissen geschichtsmoralischen Rehabilitierung Kelsens im Sinne einer Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht sind Anzeichen nicht ersichtlich. 98 Eher skeptisch Schönberger, Renaissance (Fn. 92), S. 211 ff., eher zuversichtlich O. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Jestaedt, Staatsrechtslehre (Fn. 27), S. 241 ff. (257 ff.).
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VIII. Wissenschaft als Heimat Im Laufe seines langen Lebens hat Hans Kelsen die Staatsangehörigkeit mehrfach gewechselt. Er besaß kraft Geburt zunächst die österreichische, infolge der Berufung auf den Lehrstuhl in Köln die deutsche, infolge der Prager Professur sodann die tschechische Staatsangehörigkeit. 1945 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Doch das waren Äußerlichkeiten, gewissermaßen Adiaphora. Seine eigentliche Heimat, die er nie verlassen hat, fand er in der Wissenschaft.99 Er selbst hat das in den bewegenden Schlußworten seiner Abschiedsvorlesung so ausgedrückt: „Und in der Tat, ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das Wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.“100
Auswahlbibliographie Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), 2. Aufl. 1923 (Neudruck 1969). Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre (1920), 2. Aufl. 1928 (Neudruck 1981). Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922), 2. Aufl. 1928 (Neudruck 1981). Allgemeine Staatslehre, 1925 (Nachdruck 1966). Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), 2. Aufl. 1929 (Neudruck 1981). Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30–80. Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934 (Neudruck 1985); auch als Studienausgabe, hrsgg. u. eingeleitet von Matthias Jestaedt, 2008. Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung, 1941, ausgeliefert 1946 (Nachdruck 1982). General Theory of Law and State, 1945. Was ist Gerechtigkeit? (1953), 2. Aufl. 1975.
99 R. Walter, Hans Kelsen. Ein Leben im Dienste der Wissenschaft, 1985; wieder abgedruckt in: R. Walter/C. Jabloner/K. Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität. Zum 30. Todestag Hans Kelsens, 2003, S. 65 ff. 100 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (Fn. 18), S. 43.
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Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe für Zaccaria Giacometti, 1953, S. 143–162. Foundations of Democracy, in: Ethics 66 (1955), S. 1–101. What is Justice? Justice, Law, and Politics in the Mirror of Science, 1957. Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1960. Staat und Naturrecht, Aufsätze zur Ideologiekritik. Mit einer Einleitung hrsgg. v. Ernst Topitsch, 2. Aufl. 1989 (1. Aufl. v. 1964 unter dem Titel: Aufsätze zur Ideologiekritik). Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsgg. und eingeleitet von Norbert Leser, 1967. Allgemeine Theorie der Normen, hrsgg. v. Kurt Ringhofer und Robert Walter, 1979. Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, hrsgg. v. Kurt Ringhofer und Robert Walter, 1985. Secular Religion. A Polemic against the Misinterpretation of Modern Political Philosophy, Science and Politics as „New Religions“, 2012. Zahlreiche Beiträge auch in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdroß, hrsgg. v. Hans Klecatsky, René Marcic und Herbert Schambeck, 2 Bände,1968, 2. Aufl. 2010. Gesamtbibliographie der Publikationen Kelsens in systematischer, chronologischer und alphabetischer Ordnung: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, 2003, S. 79 ff., 115 ff., 233 ff. Seit einigen Jahren erscheint im Verlag Mohr Siebeck in Tübingen eine historisch-kritische, auf mehr als 35 Bände konzipierte Gesamtausgabe der Schriften Kelsens in chronologischer Reihenfolge: Hans Kelsen Werke (HKW), hrsgg. v. Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans KelsenInstitut, 2007 ff. Bislang sind fünf Bände erschienen, die den Zeitraum von 1905 bis 1920 umfassen.
Sekundärliteratur Métall, Rudolf Aladar: Hans Kelsen. Leben und Werk, 1969. Dreier, Horst: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl. 1990. Walter, Robert: Hans Kelsens Rechtslehre, 1999. Die Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts in Wien umfaßt derzeit 35 Bände.
XV Rudolf Laun (1882–1975) Walter Pauly
I. Lebensstationen zwischen Prag und Ahrensburg Geboren am 1. Januar 1882 im damals österreichisch-ungarischen Prag, wie ein Jahr zuvor Hans Kelsen und ein Jahr später Franz Kafka, wuchs der Sohn eines 1892 geadelten k.u.k. Artillerieoffiziers in Prag, Pilsen und Görz auf, um nach Matura und Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger im Jahre 1901 an der Universität Wien das Studium der Rechtswissenschaften, ergänzt um philosophische Vorlesungen, aufzunehmen.1 Dort nach der rechtshistorischen und judiziellen Staatsprüfung 1906, wiederum fast zeitgleich mit Kelsen, allerdings ohne Dissertation zum Doctor iuris promoviert, gelingt Laun bereits 1908 die Habilitation für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht mit der von Adolf Menzel und Edmund Bernatzik begutachteten Schrift „Das Recht zum Gewerbebetrieb“. Während seiner Tätigkeit als Postkonzipist im Wiener Handelsministerium erscheint seine Monographie „Das freie Ermessen und seine Grenzen“ (1910). Im Jahre 1911 wird Laun „mit kaiserlicher Entschließung“ zum außerordentlichen Professor für Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht an der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ernannt; er heiratet und wird alsbald Vater zweier Söhne. Wie Kelsen wird Laun 1914 als k.u.k. Leutnant zum Kriegsdienst herangezogen und zeitweise ins Kriegsministerium abgeordnet; im Sommer 1917 wechselt Laun in das Departement für Verfassungsrevision beim Ministerratspräsidium, bekommt im April 1918 „Titel und Charak-
1 Die Lebensdarstellung folgt im Wesentlichen R. Biskup, Rudolf Laun (1882–1975). Staatsrechtslehrer zwischen Republik und Diktatur, 2010, S. 18 ff. m.w.Nw., u. R. Nicolaysen, LAUN, Rudolf, in: F. Kopitzsch/D. Brietzke, Hamburgische Biografie: Personenlexikon, Bd. 5, 2010, Sp. 227 ff.; vgl. weiter G. C. Hernmarck, Rudolf Laun. Sein Leben und Werk, in: ders. (Hrsg.), Festschrift zu Ehren von Rudolf Laun anlässlich der Vollendung seines 65. Lebensjahres, 1948, S. 8 ff.; D. S. Constantopoulos, Rudolf Laun, Leben und Werk, in: ders./H. Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie. Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 70. Geburtstag, 1953, S. 11 ff.; R. Stödter, Zum 80. Geburtstag von Rudolf Laun, AöR Bd. 87 (1962), S. 106 ff.; I. v. Münch, Nachrufe. Rudolf von Laun, AöR Bd. 100 (1975), S. 471 ff.
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ter eines ordentlichen Professors“ verliehen und wird im Oktober 1918 in das Staatsamt des Äußeren versetzt. Kelsen und Laun sind beide an der Errichtung der Nachkriegsordnung beteiligt, Kelsen durch Mitarbeit an der Verfassung der Republik Österreich, Laun, der bereits 1915 der „Organisation Centrale pour une Paix durable“ beigetreten war, als Mitglied der österreichischen Friedensdelegation in St. Germain-en-Laye (1919). Enttäuscht über die von den Siegern friedensvertraglich unterbundene Vereinigung des verbliebenen Rests von Österreich mit Deutschland, für die er leidenschaftlich eingetreten war, wechselte Laun im Herbst 1919 an die erst im Frühjahr gegründete Universität Hamburg und erwarb hierdurch neben der österreichischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die dortige rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät war aus dem 1908 gegründeten Kolonialinstitut hervorgewachsen, das Kurt Perels leitete, der das Völker-, aber auch Staatsrecht abdeckte, während Laun die Vertretung des Verwaltungsrechts, insbesondere auch der Verwaltungslehre zugedacht war. Von Anfang an verlässt Laun in Forschung und Lehre diesen engen Rahmen und widmet sich ebenso Staats-, Völkerund Kirchenrecht, Rechtsphilosophie und Allgemeiner Staatslehre. Seine Veröffentlichungen gelten schwerpunktmäßig den von ihm als Unrecht und Diktat empfundenen Pariser Vorortverträgen, dem Nationalitätsprinzip und der Selbstbestimmung der Völker, namentlich auch Deutschösterreichs, dann aber zunehmend auch den Grundlagen des Rechts. Vorläufige literarische Höhepunkte bilden das Essay „Der Staatsrechtslehrer und die Politik“ aus dem Jahre 1922, in dem der getaufte Katholik unter antimarxistischem Vorbehalt der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beitritt, sowie seine Rektoratsrede „Recht und Sittlichkeit“, die sein Rektorat im akademischen Jahr 1924/25 einleitet, das sich nach erneuter Wahl 1925/26 fortsetzt. Von 1922 bis 1933, de iure 1941, wirkt Laun als Richter im Nebenamt am Oberverwaltungsgericht, das beim Hanseatischen Oberverwaltungsgericht errichtet worden war, und von 1924 bis 1933 als stellvertretender Beisitzer am Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Als Teilnehmer des Wettbewerbs um die beste Schrift zum Thema „Einfluss des gegenwärtigen internationalen Rechtes und der diesbezüglichen Einrichtungen auf das innere öffentliche Recht“, den das katalonische Institució Patxot Ende 1928 ausgeschrieben hatte, reicht Laun eine Arbeit über „Das Weltgewissen. Über den Einfluss des gegenwärtigen internationalen Rechts und der diesbezüglichen Einrichtungen auf das innere öffentliche Recht“ ein, die er Mitte 1933 in Deutschland unter dem Titel „Der Wandel der Ideen: Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens“ veröffentlicht. Im August 1933 wird Laun wegen politischer Unzuverlässigkeit seine beabsichtigte Versetzung in den Ruhestand nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mitgeteilt. Laun wehrt sich in einem siebenseitigen Schreiben unter Hinweis auf sein nationales Engagement und grenzt
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sich ausdrücklich von „Nichtariern“ ab. Er beschwört zudem die Vorzüge „sozialistischer und kollektivistischer“ Ordnungen gegenüber solchen „liberaler oder individualistischer“ Provenienz. Nach diesem Kotau kann Laun bei spürbarer Gehaltskürzung und „Führereid“ im Amt bleiben und erhält sogar die Erlaubnis, das Wintersemester 1934/35 und das Sommersemester 1935 an der amerikanischen University of Michigan in Ann Arbor zu verbringen. Nach seiner Rückkehr übt er versteckte und verhaltene Kritik am nationalsozialistischen Herrschaftssystem, versucht vergeblich in die USA zu emegrieren, zieht sich wissenschaftlich in die Philosophie zurück und legt 1942 die vornehmlich erkenntnistheoretische, aber auch systemkritische Studie „Der Satz vom Grunde“ vor. Bereits Mitte Mai 1945 übernimmt Laun für vier Monate das Dekanat seiner Fakultät und kurz darauf auch das Prorektorat, 1947 dann zum dritten Male das Rektorat der Universität Hamburg. In dieser Zeit nimmt Laun seinen dem NSSystem erlegenen Schüler Hans-Peter Ipsen in Schutz und rückt die Deutschen insgesamt unter Absage an eine Kollektivschuld tendenziell in eine Opferrolle, zunächst gegenüber dem „Hitler-Regime“, dann gegenüber den Besatzungsmächten, die die Haager Landkriegsordnung verletzten. Vehement wehrt sich Laun gegen Kelsens These, das Deutsche Reich sei 1945 untergegangen. In seiner zweiten Rektoratsrede „Der dauernde Friede“ plädiert er im Jahre 1947 für einen Weltbund. Sein völkerrechtliches Engagement gilt dem „Recht auf Heimat“ der Vertriebenen, allerdings im Sinne einer Selbstbestimmung mit friedlichen Mitteln. Für sich persönlich fordert Laun in den Nachkriegsjahren weitgehend erfolgreich Wiedergutmachung für die erlittene Gehaltskürzung und verklagt hierzu sogar die Freie und Hansestadt Hamburg. Für seine Vorlesungen legt Laun sofort nach dem Zusammenbruch einen „Studienbehelf zur Allgemeinen Staatslehre“ vor, der insgesamt neun Auflagen erlebt. Nachdem Laun bereits in den Zwanziger Jahren eine aktive Rolle in der „Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht“ gespielt hatte, lädt er zu deren Reorganisation zu Tagungen hintereinander 1947, 1948, 1949, 1950 und dann noch einmal 1952 nach Hamburg ein, wo er den Vorsitz übernimmt und zweimal referiert. Auf Vorschlag der SPD wählt die bremische Bürgerschaft im September 1949 Laun ins Richterkollegium des bremischen Staatsgerichtshofs, das wiederum ihn zu seinem Präsidenten bestimmt. Bis 1955 ist er hier tätig. Mit 68 Jahren im März 1950 entpflichtet, liest der Emeritus, zunächst sich selbst vertretend, bis ins 88. Lebensjahr an seiner Universität regelmäßig „Gemeinsame Grundlagen der Ethik und des Rechts“. Seinen Lehrstuhl übernahm 1955 Herbert Krüger, nachdem sein Schüler Rolf Stödter und auch Ulrich Scheuner einen entsprechenden Ruf abgelehnt hatten. Am 20. Januar 1975 stirbt Laun hochgeehrt, allein durch vier Festschriften, 93-jährig in Ahrensburg bei Hamburg.
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II. Vom konstitutionalistischen Verwaltungs- zum Staats- und Völkerrecht der Zwischenkriegszeit Die grenzüberschreitende Tendenz in Launs Werk zeigt sich bereits in seiner verwaltungsrechtlichen Hauptschrift über „Das freie Ermessen und seine Grenzen“ (1910), die schon auf der ersten Seite zu Sokrates, Plato und Aristoteles überleitet und wesentliche Lehren zu den Ermessensfehlern rechtsvergleichend aus den französischen Figuren des „détournement de pouvoir“ und „recours pour excès“ zieht.2 Bemerkenswert erscheint hier zudem Launs Auffassung natürlicher Rechtssätze, die sich nicht dem „Recht eines bestimmten Staates“ verdankten, sondern „im wesentlichen in der Natur der Sache begründet“ seien. In der Sache trennt Laun gesetzlich gebundene Verwaltungstätigkeit, die auch die heute sog. unbestimmten Rechtsbegriffe einbezieht, und das von ihm sog. freie Ermessen, bei dem das handelnde Organ nach eigenem pflichtgemäßem Wollen selber die unmittelbaren Zwecke seines Handelns bestimme, weil es ermächtigt sei, „selbst zu bestimmen, was öffentliches Interesse sein soll.“ Die damit berührten Fragen der Zweckmäßigkeit fielen in die Politik, für die sich die Verwaltung im Rahmen des konstitutionellen Systems gegenüber dem Parlament zu verantworten habe. Hieran schließt sich eine subjektive und objektive Schranken setzende Ermessensfehlerlehre an, die als Formen der Ermessensüberschreitung den Ermessensmissbrauch, die Ermessensverirrung und die Diskretionsverletzung unterscheidet.3 Für diese frühe Werkphase hinzuweisen ist auch auf die „Übersicht über wichtige Einrichtungen des Auslandes auf dem Gebiet der Verwaltungsrechtspflege“ (1913), die die einschlägigen Institutionen des französischen Verwaltungsrechts und fast aller deutschen Einzelstaaten darstellt. In Vorträgen vor der juristischen Gesellschaft in Wien Ende 1918 und Anfang 1919 erklärt sich Laun für einen „Anschluß Deutschösterreichs“ an das Deutsche Reich und verweist auf ein drohendes entgegenstehendes „Diktat der Sieger“, ein Unrecht von Seiten der „kapitalistisch-nationalistischen feindlichen Führer und Regierungen“, gegen das man sich vor „internationalen Gerichten“ wehren würde, „sobald Gerechtigkeit und Anständigkeit in der Staatengesellschaft, im Völkerbund die Oberhand“ gewinnen würden.4 Hinsichtlich der Staatsform plädiert Laun gegen die parlamentarische Republik für eine „PräsidentschaftsRepublik“, um das „ganze Staatsgetriebe“ in der Hand eines volkgewählten
2 Hierzu und zum Folgenden R. Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen, 1910, S. 257 ff. 3 Darstellung und Kritik bei R. Biskup (FN 1), S. 35 ff.; U. Held-Daab, Das freie Ermessen, 1996, S. 178 u. 207 ff. 4 R. Laun, Zum Neuaufbau Deutschösterreichs und des Neuen Deutschland, 1919, S. 37 u. 42.
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„Führers“ zu vereinen.5 Den Staatszweck sieht Laun statt in einem „Staatsliberalismus“ in einem „keine Initiative lähmenden Staatssozialismus“, der den Staatsbürgern „am meisten die Voraussetzungen zu persönlichem Glück bieten und am meisten Unglück ersparen“ könne.6 Laun beruft sich hierbei auf die gegebene „Kriegs- und Übergangswirtschaft“ und hofft, die „gemeinwirtschaftliche Denkungsweise“ würde den Deutschen das „ethischpolitische Recht“ verleihen, als „Führer der Opposition der ganzen Welt gegen die kapitalistische angelsächsische Weltherrschaft“ auftreten und u. a. die „Internationalisierung der Kolonien“ verlangen zu können.7 Auch in der Folgezeit hält er an der „Schaffung eines einigen, friedlichen und blühenden Großdeutschland“8 fest, beruft sich auf das anderen Nationen selbstverständlich zugesprochene, aber im Falle des deutschen Volkes verweigerte Prinzip der „Selbstbestimmung der Völker“ und deklariert die Friedensverträge als „jämmerlich verkümmertes, sittlich verwerfliches, politisch schädliches sogenanntes positives ‚Recht‘“, das aus mehreren Gründen auch keine „formal-juristische Verbindlichkeit“ aufweise.9 Der „Kampf für die Geistesaristokratie gegen die Geldaristokratie“, damit die Welt nicht länger nach den „Wünschen einiger hundert angelsächsischer und französischer Milliardäre regiert“ werde, gehört zu Launs beruflichem Selbstverständnis, das die Politik „nicht fliehen, sondern aufsuchen“ will.10 Die in seiner wohl wirkmächtigsten Abhandlung „Der Staatsrechtslehrer und die Politik“ ausgegebene Losung „zurück zur Politik“ gründet auf der unvermeidlichen Abhängigkeit aller Staatsrechtswissenschaft von „subjektiven politischen Werturteilen“ und einem letztlich „metaphysischen Glauben“, wozu man sich seinen Lesern gegenüber bekennen sollte, statt das „subjektiv Bedingte[]“ hinter einer scheinbaren „Objektivität der dogmatischen Jurisprudenz“ zu verstecken.11 Laun verlangt dabei vom Staatsrechtslehrer, „seine Amtspflichten über alles andere“ zu stellen, zugleich aber auch eine „möglichst gleichmäßige Vertretung der verschiedenen jeweils im Staate hauptsächlich verbreiteten Weltanschauungen“ bei
5 R. Laun (FN 4), S. 9 f. 6 R. Laun (FN 4), S. 15 f. 7 R. Laun (FN 4), S. 17 u. 21. 8 R. Laun, Deutschland und Deutschösterreich, 1921, S. 25. 9 R. Laun, Deutschösterreich im Friedensvertrag von Versailles, 1921, S. VII u. IX. 10 R. Laun, Der Staatsrechtslehrer und die Politik, AöR Bd. 43 (1922), S. 192 f. u. 199. 11 R. Laun (FN 10), S. 162 f., 165 u. 175 f.; für Laun vollzieht sich die juristische Interpretation mit Hilfe von „Induktionsschlüssen“ auf der Basis einer durch jeden Menschen ständig vorangetriebenen „Weiterbildung der Sprache im ganzen“ (S. 157 f.).
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Lehrstuhlbesetzungen.12 Selbst bekennt Laun sich klar zur Weimarer Reichsverfassung, die er als die freieste der Welt preist.13 In seinem staats- und völkerrechtlichen Hauptwerk über „Staat und Volk als Äusserung des Weltgewissens“ prophezeit Laun gegen den Zeitgeist 1933 eine „Überwindung des Souveränitätsdogmas und die schliessliche Unterwerfung aller Staaten unter die Idee eines ihnen übergeordneten allgemeinen Menschenrechts, das seine letzte Quelle nicht in den physischen Gewaltmitteln der jeweils grössten Staatenkoalition, sondern im Weltgewissen hat.“14 Laun zufolge verliert „jede Grenze zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht“ ihre Bedeutung und gibt es „daher nur ein einziges Recht, es ist Völkerrecht und innerstaatliches Recht zugleich“.15 Zur langfristigen Entwicklung gehöre die Anerkennung der „Selbstbestimmung der Völker“, wobei Laun Volk im natürlichen Sinne als die „aus Abstammungsgemeinschaft, Geschlechtsverbindung und allmählicher Assimilation entstandene und durch die Gleichheit der Sprache zu geistiger Einheit verschmolzene sittliche Gemeinschaft des persönlichen Bekenntnisses“ definiert.16 Getragen werde das Völkerrecht jenseits von Gewalt und Zwang letztlich durch ein „Weltgewissen oder Welt-Rechtsgefühl“, d. h. ein „Kollektivbewusstsein der Menschheit“, das in „ungezählten Werturteilen ungezählter Individuen“ lebendig sei.17 Geschichtsphilosophisch setzt Laun dabei auf die „Ueberwindung der Gewalt zwischen Mensch und Mensch in immer stärkerem Masse durch den allgemeinen Frieden und den freien, auf das Weltgewissen gegründeten Gehorsam aller Staaten und Völker gegen ein allen übergeordnetes internationales Recht.“18
12 R. Laun (FN 10), S. 182 u. 196. 13 R. Laun, Festrede des Rektors der Hamburgischen Universität bei der Feier des Verfassungstages 1925, unveröffentlicht, zit. nach R. Biskup (FN 1), S. 134. 14 R. Laun, Staat und Volk, 2. Aufl. 1971, S. 444. 15 R. Laun (FN 14), S. 436. 16 R. Laun (FN 14), S. 234 ff., 423 u. 430 ff., unter Abgrenzung von den „sogenannten Rassetheoretiker[n]“ (S. 399). Wortgleiche Bestimmung des Volks im natürlichen Sinne bei R. Laun, Volk und Nation; Selbstbestimmung; nationale Minderheiten, in: G. Anschütz/R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 245. 17 R. Laun (FN 14), S. 436 u. 443. 18 R. Laun (FN 14), S. 445, weshalb „auch im internationalen Verkehr die Gewalt immer mehr dem friedlichen Nebeneinander der Staaten und Völker auf Grund freien friedlichen Handelns“ weiche (S. 444).
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III. Rechtsphilosophie des autonomen Sollens Gegen den herrschenden Begriff des Rechts, der von einem heteronomen Sollen ausgeht, wie es vornehmlich ein Gesetzgeber vorgibt, etabliert Laun seinen auf ein autonomes Sollen gestützten Rechtsbegriff. Unter Hinweis auf die Unmöglichkeit, ein Sollen aus einem Sein abzuleiten, verwirft Laun jede auf einen fremden Willen abhebende Rechtsbegründung. Deswegen habe das „sogenannte positive Recht“, gesetzt und zwangsbewehrt, auch nur ein „bedingtes Müssen“ zum Inhalt.19 Zutreffender würde man von „positiver Gewalt“ oder „Gewaltrecht“ sprechen.20 Des Sollens und der Pflicht könnten wir hingegen nur „durch unmittelbares eigenes Erleben gewahr“ werden, durch „Regungen des Gewissens oder Rechtsgefühls“; dieses „Urerlebnis“ müsse allerdings die verallgemeinernde „Überzeugung umfassen, daß jeder Mensch in der gleichen Lage verpflichtet wäre, ebenso zu handeln“.21 Laun erkennt dabei selbst, dass er damit auf „etwas völlig Subjektives“ abstellt und sich allenfalls eine lediglich „relative, empirische Objektivität des autonomen Rechts durch die Übereinstimmung einer Mehrzahl von Menschen“ ergibt.22 Verwiesen wird damit auf eine „Summe individueller subjektiver autonomer Erlebnisse des Sollens“, die auch sog. positives Recht zu unbedingtem autonomen Sollen erheben könne.23 Im Gegensatz zum nur scheinbaren Sollen des positiven Gewaltrechts falle das wahre Sollen des autonomen Rechts mit den Sollensinhalten der Sittlichkeit zusammen, weshalb auch kein hiervon verschiedenes Naturrecht bestehe.24 Recht verstandene Rechtswissenschaft sei folglich nicht der „Sklave“, sondern der „Richter“ des Gesetzgebers, darüber befindend, was „sittlich und rechtlich zugleich“ ist.25 Die „Offerten“ des Gesetzgebers müssten in Wahrheit um ihre „sittlich-rechtliche Billigung werben“, also eine „wenigstens relative Objektivität“ erreichen, indem sie die Zustimmung einer „großen, tragfähigen Mehrheit“ erlangen.26 Ausgehend von seinem an faktische Erlebnisse gebundenen Rechtssubjektivismus leitet Laun über zu einer mehrheitsorientierten Anerkennungslehre, die schließlich auf das „Volksbewusstsein“, das „sogenannte Nationalgefühl“ als „vielleicht die grundlegendste
19 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders., Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl. 1935, S. 7. 20 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 9. 21 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 10 f. 22 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 12. 23 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 13 f. 24 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 15 u. 17. 25 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 21. 26 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 21.
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Äußerung des Rechtsgefühls“ abstellt.27 In der mit Anhängen versehenen, 1935 erschienen Ausgabe der Rektoratsrede benennt Laun denn auch das Volk als „die Entstehungsquelle des Rechts“, maßgeblich „in allen Staatsformen“, maßgebend nicht nur im „Zivilrecht“, sondern auch hinsichtlich der „Fundamentalsätze des positiven Verfassungsrechts“.28 In seinem philosophischen Hauptwerk „Der Satz vom Grunde“ wird Laun wiederholen, dass das Sittengesetz „ausschließlich induktiv aus den von Individuum zu Individuum, Volk zu Volk und Zeit zu Zeit wechselnden autonomen Urerlebnissen des Sollens abgeleitet“ werden kann.29
IV. Beiträge zur Nachkriegsordnung und Wirkung Nach dem deutschen Zusammenbruch rekurriert Laun gegenüber den allmächtigen Siegern auf das in den „Köpfen und Herzen der Menschen“ präsente Recht, während die Besatzungsmächte den Deutschen nicht das „geringste Recht“ zugestehen würden.30 Vor allem streitet er gegen Kelsens verfehlte Untergangsthese und kämpft für die ununterbrochene Rechtssubjektivität Deutschlands.31 In seiner Hamburger Rektoratsrede aus dem Jahre 1947 tritt er in der Nachfolge Kants für einen „Bund freier Staaten“ ein, appelliert an das „Rechtsgefühl der Welt“ und spricht von einem „Weltrecht“, das insbesondere die „Unantastbarkeit der Menschenrechte“ umschließe.32 Er spricht in dieser Zeit von „zweierlei Völkerrecht“, eines der Souveränität, eines der Menschenrechte, die gegeneinander stünden, wobei das erstere im Augenblick dominiere, aber die Hoffnung dem Aufblühen des zweiten gelte.33 Entsprechend müsse das allgemeine Völkerrecht einen „ungeschriebenen zwingenden Rechtssatz voraussetzen, welcher grund-
27 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 25, ausgerichtet auf das „Bewußtsein der natürlichen und sittlichen Zusammengehörigkeit“ (S. 26 f.). 28 R. Laun, Volksrecht gegen Juristenrecht, in: ders. (FN 19), S. 91 u. 108; als „Sicherheitsventil gegen Revolutionen“ nennt Laun hier „Volksbefragungen“. 29 R. Laun, Der Satz vom Grunde, 2. Aufl. 1956, S. 308; zu NS-kritischen Stellen in der Erstausgabe des Werkes von 1942 R. Biskup (FN 1), S. 217 f.; zum „Erlebnis des konkreten Sollens“ als viertem Erkenntnisgrund auch knapp R. Laun, Die Grundlagen der Erkenntnis, 1946, S. 34 ff. 30 R. Laun, Der gegenwärtige Rechtszustand Deutschlands, Jahrbuch für internationales und ausländisches öffentliches Recht I, 1948, S. 9 f., unter Berufung auf seine Lehre vom Weltgewissen (S. 20) gegen das Recht des Stärkeren, d. h. der „Atombombe, des brennenden Phosphors, der Hungerblockade über ganze Länder“ (S. 18). 31 R. Laun (FN 30), S. 11 ff. 32 R. Laun, Der dauernde Friede, 1947, S. 20, 24 u. 26 f. 33 R. Laun, Das Recht auf die Heimat, 1951, S. 26 u. 29 u. 36.
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sätzlich die Sesshaftigkeit der Menschen schützt“; die zeitgenössischen Vertreibungen erachtet Laun denn auch für völkerrechtswidrig.34 In diesem Zusammenhang erklärt Laun „Kollektivbeschuldigungen gegen ganze Völker“ generell für falsch und folgert aus der Unrichtigkeit des Satzes „alle Juden sind schuld“ die Fehlerhaftigkeit des Satzes „alle Deutschen sind schuld.“35 In einer Ansprache am 24. Mai 1949 würdigt Laun das Bonner Grundgesetz als einen „ersten Schritt auf dem Weg zu Einheit, Freiheit und Frieden“ und nimmt bereits einen „vielleicht kommenden Zusammenschluß Europas gar der Welt“ in den Blick, wobei es gelte, „deutschen Geist … friedlich und zum Nutzen aller Völker zur Geltung zu bringen.“36 In der Debatte um die Wiederbewaffnung setzt Laun aus der Sicht seines Rechtskonzepts konsequent auf einen Kampf „mit geistigen Mitteln“, der auch ein „Kampf für die Mitwirkung unseres Geistes“ sei, während der „Kampf mit Mitteln physischer Gewalt“ einen Kampf für „fremde Gewalt“ darstelle.37 Das humanitäre Anliegen Launs vermochte eine von seiner Person losgelöste Wirkung zu entfalten, die seiner Staats- und Rechtslehre nicht zuteil geworden ist. Einzelne seiner Positionen haben die theoretische und dogmatische Entwicklung angeregt oder gehören wie die Lehre von der Staatskontinuität Deutschlands über 1945 hinweg zur communis opinio der deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaft. Mit seiner Kontrastierung von zweierlei Völkerrecht, eines souveränitäts- und eines menschenrechtsorientierten, hat Laun eine tiefe Einsicht in die Ambiguität nicht nur des internationalen Rechts pointiert beschrieben. Sein Lebensthema der Nationalitätsfragen und -probleme hat derweil nicht an Brisanz verloren. Gewiss wirkt sein engagiertes Eintreten für die deutschen und deutschösterreichischen Interessen vordergründig oft nationalistisch. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, dass Laun für Deutschland und Deutschösterreich nur das reklamieren wollte, was ihm zufolge allen anderen Nationen und nationalen Minderheiten wie selbstverständlich zugestanden worden war. Zudem begrenzte Laun die Durchsetzung sowohl des Rechts auf nationale Selbstbestimmung als auch von Minderheitenrechten auf gewaltfreie Formen, wie es seinem Rechtsbegriff und seiner pazifistischen Grundhaltung entsprach. Gewaltfreiheit gehörte zu seinem sittlich-rechtlichen Grundverständnis des Menschen, weshalb er Formen der Barbarei namentlich auf Grundlage eines Materialismus
34 R. Laun (FN 33), S. 17 u. 24. 35 R. Laun (FN 33), S. 15. 36 R. Laun, Das Grundgesetz Westdeutschlands, 3. Aufl., 1960, S. 8 u. 24; Laun sieht im Grundgesetz ein „Wiederaufleben alten deutschen Rechts“ und eine „Rückkehr zum Weimarer Geist“ (S. 7 u. 24). 37 R. Laun, Das Völkerrecht und die Verteidigung Deutschlands, 1951, S. 20.
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und ethischen Nihilismus als „Herrschaft der brutalen, vollkommen hemmungslosen Gewalt, wie sie unter den Tieren besteht“,38 charakterisierte und verwarf. Launs antipositivistische Rechtsphilosophie blieb weitgehend folgenlos, weil weder ihr faktischer, erlebnishafter Sollenssubjektivismus noch dessen Aufaddition zur überwältigenden, empirischen Majorität der Zunft als Geltungsgrundlage einer objektiven normativen Ordnung hinreichte.39 Nimmt man allerdings seinen Anspruch, lediglich eine relative Objektivität des Rechts begründen zu wollen, ernst, besticht der Versuch eines Brückenschlags zwischen strikt normativer Gründung in autonomen subjektiven Urerlebnissen des Sollens und deren kontingenter historisch-soziologischer Aufsummierung zu überindividueller Geltung. Trotz einzelner Berührungspunkte verwirft Laun Radbruchs Rechtsbegründung, da sie ein „Blankoakzept“ ausstelle,40 wie umgekehrt Radbruch die Differenz frühzeitig konstatiert.41 Radbruchs Verweis auf Laun nach 1945 für die Erkenntnis, dass die Verpflichtungskraft und Geltung des Rechts „letzten Endes auf moralische Pflicht des einzelnen gegründet ist“,42 mag eine weitere Annäherung ausdrücken.
Auswahlbibliographie Das Recht zum Gewerbebetrieb, 1908. Das freie Ermessen und seine Grenzen, 1910. Zum Neuaufbau Deutschösterreichs und des Neuen Deutschland, 1919. Recht und Sittlichkeit, 1924; 3. Aufl., 1935. Der Wandel der Ideen: Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens; eine völkerrechtliche und staatsrechtliche Untersuchung auf philosophischer Grundlage, 1933; 2. Aufl. unter dem Titel „Staat und Volk“, 1971. La Démocratie. Essai sociologique, juridique et de politique morale, 1933. Der Satz vom Grunde. Ein System der Erkenntnistheorie, 1942; 2. Aufl., 1956. Allgemeine Staatslehre, Studienbehelf zur Vorlesung, 1945; 9. Aufl. 1964.
38 R. Laun (FN 29), S. 16. 39 Überblick zur Rezeptionsgeschichte bei R. Biskup (FN 1), S. 153 ff. m.w.Nw. 40 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), in: ders. (FN 19), S. 3 u. (FN 14), S. 360. 41 In einer handschriftlichen Anmerkung im durchschossenen Exemplar seiner „Rechtsphilosophie“ von 1914; vgl. G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, 1993, S. 69, Anm. 87, wonach Laun „Zustimmung des Gewissens zu jeder einzelnen Rechtsnorm“ fordere und sich gleichzeitig dagegen verwahre, „daß das zur Anarchie führe“. 42 G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3, 1990, S. 156. Ansatzweise bereits bei G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, 1993, S. 270 ff.
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Die Grundlagen der Erkenntnis, 1946. Reden und Aufsätze zum Völkerrecht und Staatsrecht, 1947. Der dauernde Friede, 1947. Die Menschenrechte, 1948. Die Lehren des Westfälischen Friedens, 1949. Das Grundgesetz Westdeutschlands, 1949. Das Völkerrecht und die Verteidigung Deutschlands, 1951. Das Recht auf die Heimat, 1951. Mephistopheles über die Universitäten. Rudolf Laun überreicht zum 75. Lebensjahr. Wiedergabe seiner im Goethejahr 1949 entstandenen Goethe-Parodie, 1956; 3. Aufl. 1973.
XVI Rudolf Smend (1882–1975) Helmuth Schulze-Fielitz
I. Leben Rudolf Smend wurde am 15. Januar 1882 als Sohn des gleichnamigen protestantischen Theologieprofessors in Basel geboren. Er wurde an der Universität Göttingen 1904 mit einer preisgekrönten Arbeit promoviert, in der er die rev. preußische Verfassung von 1850 mit der Belgischen Verfassung (von 1831) vergleichend ins Verhältnis setzte. Nach seiner Habilitation mit einer Arbeit über das Reichskammergericht bei Albert Haenel in Kiel (1908) folgte er einem Ruf auf eine außerordentliche Professur an die Universität Greifswald (1909), sodann auf Ordinariate in Tübingen (1911), Bonn (1915) und Berlin (1922), an der als „Fakultät Savignys“ führenden rechtswissenschaftlichen Fakultät im Deutschen Reich.1 Von dort wurde er 1935 vom nationalsozialistischen Regime nach Göttingen verdrängt, um in Berlin dem NS-Juristen Höhn Platz zu machen.2 In Göttingen war er 1944–1949 Präsident der Akademie der Wissenschaften,3 wurde nach 1945 erster Nachkriegsrektor der Universität, wirkte in der universitären Lehre als geistige Zentralgestalt des legendären Smend-Seminars schulbildend4 über seine Emeritierung 1951 hinaus bis weit in sein neuntes Lebensjahrzehnt und starb dort als hochgeachteter, u. a. mit vier Ehrendoktoraten ausgezeichneter5 Gelehrter am 5. Juli 1975. Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer ist eine seit 1918 über vier Jahrzehnte lang sehr aktive Mitgliedschaft in verschiedenen kirchlichen Synoden
1 Vgl. zu ihrem Selbstverständnis und Rang R. Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960), in: ders., StA4, 2010, S. 527 (543 ff.); s. auch S. Korioth, Rudolf Smend (1882–1975), in: FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2011, S. 583 (583 f.). 2 A. M. Gräfin von Lösch, Der nackte Geist, 1999, S. 394 ff. 3 Vgl. zum historischen Kontext R. Smend, Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (1951), in: ders., StA4, S. 423 ff. 4 Vgl. F. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 159 ff.; H. Zwirner, Rudolf Smend †, DÖV 1976, S. 48. 5 A. v. Campenhausen, Rudolf Smend (1882–1975). Integration in zerrissener Zeit, in: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 510 (510).
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und Leitungsorganen bemerkenswert.6 Aus ihnen im Zuge des Kirchenkampfes verdrängt, engagierte er sich nach 1933 in der Bekennenden Kirche, 1939 als Mitglied im Reformierten Kirchenausschuss, 1945–1963 im Moderamen des Reformierten Bundes und seit 1945 zehn Jahre lang im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie als erster Leiter des auf seine Anregung hin 1946 ins Leben gerufenen Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.7 Die staatsrechtlich, theologisch, philosophisch und historisch außerordentlich hohe universale Gelehrsamkeit Smends, seine diskussionsprägende Originalität und seine charakterliche Unbestechlichkeit, sein gelebtes protestantisches Pflichten-Ethos und sein kirchliches Engagement verschafften ihm zeit seines äußerlich eher stillen und distanzierten Gelehrtenlebens höchstes Ansehen8 als Verkörperung der besten Traditionen der deutschen Universität, denen selbstreflexiv auch wichtige Teile seines wissenschaftlichen Werkes gewidmet sind.
II. Werk 1. Staats- und Verfassungstheorie Zentrale Bedeutung haben Smends staatstheoretische Thesen gewonnen, die er vor allem9 in seinem Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928) entwickelt hat; sie waren wie andere grundlegende Arbeiten, etwa von Carl Schmitt (Verfassungslehre, 1928) oder Hermann Heller (Staatslehre, 1934),10 vor allem durch die neuartige Methodenstrenge Hans Kelsens, konzentriert etwa in dessen Allgemeiner Staatslehre (1925), als Anti-Thesen herausgefordert worden.11
6 v. Campenhausen, Smend (Fn. 5), S. 523 f.; K. Hesse, Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, AöR 87 (1962), S. 110 (113). 7 S. näher K. Hesse, In memoriam Rudolf Smend (1975), in: ders., Ausgewählte Schriften, 1984, S. 573 (576 ff.); D. Heuer, (Carl Friedrich) Rudolf Smend (1882–1975). Kirchenrechtliches Wirken eines Staatsrechtslehrers, in: T. Holzner/H. Ludyga (Hrsg.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts, 2013, S. 519 (524 ff.). 8 Vgl. in Kürze M. Stolleis, Smend, Rudolf (1882–1975), in: ders. (Hrsg.), Juristen, 2001, S. 584 (585); zuletzt A. v. Campenhausen, Rudolf Smend 1882–1975, JöR 56 (2008), S. 229 ff. 9 Ansätze etwa schon in R. Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform (1923), in: ders., StA4, S. 68 ff. 10 S. auch schon H. Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, S. 17 ff., 23. 11 Vgl. zuletzt K. Malowitz, Was den Staat im Innersten zusammenhält: Rudolf Smend als Antipode Hans Kelsens in der staatstheoretischen Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: M. Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, 2011, S. 69 (77 ff.); W. März,
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Smends besonderer Ansatz besteht darin, dass er in ausdrücklicher Wendung gegen einen neukantianisch geprägten wissenschaftlich „reinen“ Normativismus im Sinne von Kelsen, aber auch in Abkehr vom Unverständnis des staatsrechtlichen Positivismus gegenüber dem verfassungsrechtlichen Umbruch von 1918,12 wertbestimmt empirische und normative Gesichtspunkte auf der Basis historischer Erfahrungen zusammenführen und verstehen will. In eher äußerlicher Anknüpfung an die Philosophie von Theodor Litt wird das „Sinnprinzip der Integration“ zum Bezugspunkt allgemein vom Staat und konkret von der Verfassung.13 Diese werden als sinnhaftes Ineinander geistiger Prozesse beschrieben, die immer wieder als Kulturleistungen zentral durch die Staatsbürger hervorgebracht werden14 und so als überindividuelle Einheiten integrativ erzeugt werden. Der Staat ist kein ruhender Pol,15 sondern eine geistige Wirklichkeit, die sich im Prozess der Wechselwirkung individueller Lebensäußerungen als Betätigung eines geistigen Gesamtzusammenhangs im Rahmen verschiedener – idealtypisch – persönlicher (z. B. i. S. aktiver Orientierung an führenden Personen), funktioneller (z. B. Wahlen, Abstimmungen) und sachlicher Integrationsfaktoren (i. S. einer Gemeinschaftsbegründung durch gemeinsame Werte, Symbole oder Grundrechte) dauernd plebiszitär konstituiert. Seine Organe und Gewalten, namentlich die Regierung werden als anregende Kräfte politisch-praktischer Staatstätigkeit gesehen, die den Staat durch persönliche Integration dynamischfunktional ständig erneuern.16 Die Verfassung als Ausdruck einer vorgegebenen materialen Wertordnung steht im Dienst des Staates als eines einheitsstiftenden Subjekts;17 in den Grundrechten werden die Staatsbürger der staatlichen geordneten Gesamtheit zugeordnet,18 ohne dass die Probleme einer pluralistischen Fragmentierung der Staatsbürger und ihrer heterogenen Interessen akzentuiert würden. Verfassungstheoretisch zentral und nachhaltig wirksam wird aber der
Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: K. W. Nörr u. a. (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 75 (94 f., 96, 107). 12 Vgl. März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 88 ff. 13 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., StA4, S. 119 (136 ff.); übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 108 ff.; ausf. Rekonstruktionen bei S. Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, S. 111 ff.; M. H. Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie?, 1969, S. 131 ff., 142 ff. 14 Vgl. aus späterer Sicht R. Smend, Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren – und heute (1969), in: ders., StA4, S. 609 (618). 15 Vgl. Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 134 f., 136, 144 f., 192, 212 f., 274 u. ö. 16 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 144 ff. 17 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 187 ff., 233 ff. 18 Vgl. Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 262 ff.; Mols, Staatslehre (Fn. 13), S. 212 ff.
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Grundgedanke, dass Staats- und Verfassungsrecht „Integrationsrecht“ ist19 u. a. mit der Folge, dass einerseits nur akzeptierte und praktizierte Verfassungen die politische Kultur des Staates prägen können, andererseits Verfassungstexte mit dem Ziel ihrer Harmonisierung und Verlebendigung zu interpretieren sind.20
2. Methode Der Denkstil Smends gründet in einer von Haus aus geprägten reformiert-protestantischen Grundauffassung, die den Einzelnen von vornherein als Mitglied seiner Gemeinde oder Gemeinschaft in sein geistig-sozialen Umfeld eingebunden sieht und ihm verbietet, sich seiner Mitverantwortung für das Ganze zu entziehen.21 Auf einer solchen Basis werden Sinn und Wesen des Staates „in der umgreifenden Selbstgestaltung des sozialen Lebens“ gesehen.22 Smend verknüpft weniger begrifflich oder systematisch entwickelte Theoreme, sondern entfaltet in den 1920er Jahren – subjektiv motiviert und objektiv herausgefordert durch die Distanz großer Teile der Bürger gegenüber dem Weimarer Verfassungsstaat – eine methodisch neuartige Sichtweise im staatsrechtlichen und staatstheoretischen Denken: Sie sucht durch empirisch-historisch wertende Ausdeutung des positiven Verfassungsrechts angesichts je aktueller konkreter Herausforderungen die rechtlichen Einrichtungen und Grundbegriffe oder gar ganze Verfassungssysteme aus ihren historischen und geistigen Wurzeln zu verstehen. Durch diese historische und geisteswissenschaftliche Orientierung grenzt er sich, in der Spur seines Lehrers Haenel,23 sowohl vom älteren staatsrechtlichen Positivismus als auch vom neukantianisch beeinflussten Positivismus der „reinen“ Rechtslehre Kelsens24 ab, hält aber ebenso Distanz zur positivistischen Naturrechtslehre z. B. eines Erich
19 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 236. 20 Vgl. Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 238 ff.; ausf. neuere rationale Rekonstruktionen bei S. Obermeyer, Integrationsfunktion der Verfassung und Verfassungsnormativität, 2008, S. 41 ff., bes. 74 ff.; M. Morlok/A. Schindler, Smend als Klassiker: Rudolf Smends Beitrag zu einer modernen Verfassungstheorie, in: R. Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, 2005, S. 13 (16 ff.). 21 Vgl. R. Smend, Integration (1966), in: ders., StA4, S. 482 (486); ders., Das Problem der Institutionen und der Staat (1956), in: ders., StA4, S. 500 (505). 22 U. Scheuner, Rudolf Smend. Leben und Werk, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1952, S. 433 (440). 23 Vgl. S. Graf Vitzthum, Linksliberale Politik und materiale Staatsrechtslehre, 1971, S. 83 ff., 111 ff. 24 Dazu übersichtlich D. Wyduckel, Jus Publicum, 1984, S. 263 ff.
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Kaufmann. Zugleich begünstigte dieser Problemzugang namentlich auch in der späteren Fortentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eine interdisziplinäre, sozialwissenschaftlich inspirierte Anreicherung der Staatsrechtslehre,25 die so unter Überschreitung eines reines Normativismus „hybride“ Kategorien wie etwa das Öffentliche diskutieren kann26 und damit auch in den Gesamtzusammenhang der Geistes- und Sozialwissenschaften re-integriert wird.27
3. Ungeschriebenes Verfassungsrecht In diesem Sinne hat Smend schon früh die Spannungen von Rechtsnormen und politischer Wirklichkeit in den Blick genommen und so auch ungeschriebene Grundsätze des Verfassungsrechts entwickelt; demgegenüber mussten für den Positivismus Wandlungen der sozialen Wirklichkeit methodisch bedeutungslos bleiben.28 Smend leitet originär noch unter der Geltung der Reichsverfassung von 1871 in empirisch-historischer und wertbestimmter Sicht ungeschriebenes Verfassungsrecht in Form der Rechtspflicht zu „bundesfreundlichem Verhalten“ ab, freilich in der Intention, die Legitimität der Reichsverfassung trotz der Erosion des Bismarckschen Systems gegenüber den immer stärkeren Reformbemühungen (während des Ersten Weltkrieges) zu stützen.29 Ähnlich führt seine Analyse des Verhältniswahlrechts zu prognostischen Folgerungen für Wandlungen unter den Bedingungen von Fraktionenparlamenten in der parlamentarischen Parteiendemokratie, die sich durch eine nur am positiven Verfassungstext orientierte Interpretation nicht erschließen würden, sondern eine „soziologisch begründete Verfassungstheorie“30 erfordern und sich inzwischen in den Observanzen des Parlamentsrechts niederschlagen. Diese Anerkennung ungeschriebener, infor-
25 Günther, Denken (Fn. 4), S. 162 ff.; D. Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: K. Acham u. a. (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 567 (592 f.). 26 R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit (1954), in: ders., StA4, S. 462 ff.; zur „epochalen“ Rangbestimmung auch P. Häberle, Zum Tode von Rudolf Smend, NJW 1975, S. 1874 f. 27 S. v. Campenhausen, Smend (Fn. 5), S. 514. 28 S. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992), S. 212 (221 ff.). 29 R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat (1916), in: ders., StA4, S. 39 ff.; dazu ausf. Korioth, Integration (Fn. 13), S. 32 ff. 30 R. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), in: ders., StA4, S. 60 (67).
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maler Entwicklungen gründet in einer Methodik, die Norm und Wirklichkeit nicht positivistisch voneinander isolieren, sondern entwicklungsoffen dialektisch aufeinander beziehen will,31 freilich mit der nicht unproblematischen Möglichkeit einer „fließenden Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts“32 und Unsicherheiten bei der Verfassungsaufgabe der Gewährleistung stabilisierender Kontinuität – Ansatzpunkte vielfältiger Kritik von Beginn an.33
4. Kirchen- und Staatskirchenrecht Nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt von Smends rechtswissenschaftlichem Arbeitsfeld auf das Verhältnis von Kirche und Staat, das seinem aktiven kirchlichen Engagement wissenschaftlich korrespondierte.34 Nach seiner Emeritierung wirkte er bis 1969 als Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche und als maßgeblicher geschäftsführender Herausgeber der „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“.35 Der einflussreiche Eröffnungsaufsatz über „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“36 begründete diskussionsprägend und wegweisend einen Wandel des Verhältnisses von Staat und Kirche trotz Übernahme des unveränderten Textes der Art. 136 ff. WRV in das Grundgesetz (Art. 140 GG) hin zu einer neu erreichten Nähe loyaler Partnerschaft und zeigte so erneut, dass und wie geisteswissenschaftliche Erkenntnis „hinter“ dem Text das Verfassungsverständnis wesentlich (mit-)prägt. Auch seine zahlreichen kirchen- und staatskirchenrechtlichen Veröffentlichungen und Gutachten zu Grundproblemen evangelischer Kirchenverfassung sind durch Rekurs auf die geschichtlichen Wurzeln der Problemlage bestimmt, dabei auch orientiert an fest etablierten kirchlichen Institutionen als Stabilitätsgaranten, zugleich verbunden mit rechtsvergleichenden Verfahren, Analogien zum weltlichen Recht und enger Verknüpfung von partikularen Besonderheiten und grundlegenden Prinzipien,
31 Dazu auch C. Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. 2011, S. 110 f. 32 R. Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 242; krit. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 74; z. T. aufgenommen von R. Smend, Integrationslehre (1956), in: StA4, S. 475 (480 f.). 33 Vgl. etwa H. Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, pass.; H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 49, 69 f., 166, 194, 229, 269, 274 u. ö. 34 Heuer, Smend (Fn. 7), S. 528 ff. 35 Ausf. M. Stolleis, Fünfzig Bände „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“, ZevKR 50 (2005), S. 165 (167 ff.). 36 R. Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: ders., StA4, S. 411 ff.; s. schon ders., Protestantismus und Demokratie (1932), ebd. S. 297 ff.
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von rechtlicher Logik und materialer Sachgerechtigkeit.37 In seiner schulbildenden Kraft hat Smend gerade viele Kirchenrechtler i. S. eines integrierenden Zusammenwirkens von Kirchen und Staat prägend beeinflusst, auch auf den regelmäßigen, interdisziplinär für Theologen und Juristen offenen Tagungen der Mitarbeiter der ZevKR.38
5. Rechts- und Verfassungsgeschichte Smends verfassungstheoretische und kirchenrechtliche Arbeiten spiegeln durchweg sein tiefes Interesse an der geschichtlichen Entwicklung und Begründung des Rechts aus der „Kraftquelle nationaler Geschichte“,39 wie es sich auch in seinen anfänglich dominierenden rechtshistorischen Forschungsarbeiten niedergeschlagen hat. Schon in seiner Dissertation (Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904) konnte er in Abkehr von Labands Methodik zeigen, wie das Gesetzesverständnis der preußischen Verfassung von 1850 durch spezifische Entwicklungen der preußischen Geschichte geprägt war, obwohl sie zahlreiche wörtliche Übersetzungen der demokratisch geprägten belgischen Verfassungsartikel von 1831 enthielt. Das begründete einen basso continuo seines gesamten Werkes: Verfassungsnormen lassen sich nur in ihrem je konkreten historischen Kontext verstehen. Seine Habilitationsschrift zum Reichskammergericht (1911, Neudruck 1965) wollte eine Lücke der Rechtsgeschichte ausfüllen. Sie stellte einerseits die Stellung des Reichskammergerichts im Reich seit seiner Gründung 1495 in den folgenden drei Jahrhunderten bis 1806 dar und bearbeitete andererseits i. S. einer allgemeinen Behörden- und Kanzleigeschichte minutiös die Organisation des Gerichts, von der Stellung der Kammerrichter und Präsidenten bis hin zu den Advokaten, Prokuratoren, Boten und Notaren. Einen einst geplanten 2. Band über die richterliche Gesamtleistung des Gerichts hat Smend nicht in Angriff genommen. Beide Schriften haben seinen Ruf als Historiker von ungewöhnlichem Rang begründet, dessen Wissensschatz auch in seinem staatswissenschaftlichen Werk allenthalben zum Ausdruck kommt.
37 Vgl. v. Campenhausen, Smend (Fn. 5), S. 526; Hesse, Smend (Fn. 6), S. 111 f. 38 Hesse, In memoriam (Fn. 7), S. 342 f.; Heuer, Smend (Fn. 7), S. 536. 39 R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), in: ders., StA4, S. 309 (325).
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III. Wirkung Smend gehört (neben Heller, Kelsen und Schmitt) zu den vier herausragenden wirkmächtigen Weimarer Theoretikern der Staatsrechtslehre, die in ihrer kontroversen Problemsicht immer wieder als Quartett erörtert und einander gegenüber gestellt werden. Das galt schon in der Generaldebatte um die Grundlagen der Staatsrechtslehre, die in Antwort auf die radikal gewandelten politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse nach 1918/1919 als „Weimarer Richtungsstreit“ um die politischen und rechtlichen Grundlagen des Staates geführt worden ist (1.). Diese Autoren haben aber auch noch in verfassungstheoretischen Grundsatzdebatten unter Geltung des Grundgesetzes eine nachhaltig diskussionsbestimmende Kraft gewonnen;40 unter ihnen hat vor allem und besonders Smend eine solche Wirkungsmacht entfaltet, dass er als der Staatsrechtslehrer der frühen Bundesrepublik erscheint (2.).
1. Protagonist im Weimarer Richtungsstreit Mit dem Weimarer Methoden- und Richtungsstreit verbindet sich eine bis heute nachwirkende Grundlagendebatte in der deutschen Staatsrechtslehre der 1920er Jahre. In dieser wandte sich eine Gruppe jüngerer Staatsrechtslehrer methodisch und inhaltlich gegen das noch herrschende positivistische staatsrechtliche Denken.41 Diese – selbst nicht homogene – Gruppe der im polemischen Selbstverständnis „geisteswissenschaftlichen“42 Richtung suchte die begriffsjuristisch geprägte „streng juristische“ Methode Gerber-Labandscher Prägung, die alle philosophischen, historischen, politischen oder gesellschaftlichen Betrachtungen
40 O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 354 (358 ff.). 41 Dazu zuletzt M. Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, 2011; übersichtlich einf. M. E. Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, JuS 1989, S. 91 ff.; ausf. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III, 1999, S. 153 ff.; März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 75 ff.; M. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, AöR 102 (1977), S. 161 ff. 42 Übersichtlich K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, S. 62 ff.; begrifflich zuerst G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, AöR 50 (1926), S. 1 (31).
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bei der streng logisch-deduktiven Rechtsauslegung auszuklammern suchte,43 i. S. einer Berücksichtigung eben solcher Gesichtspunkte zu überwinden. Vor dem Hintergrund der Diskrepanz von verfassungstextlicher Begrifflichkeit und politisch-sozialer Wirklichkeit namentlich nach der Revolution der verfassungsrechtlichen Grundlagen 1919 sollten deren neuartige Aussage- und Wertgehalte rational erfasst werden. Gegen den dabei vorherrschenden gemäßigten, politisch-sozial durchaus reflektierten Gesetzespositivismus, wie er von Gerhard Anschütz oder Richard Thoma repräsentiert wurde, versuchten Vertreter dieser Richtung sei es die teleologische Methode im Staatsrecht zu reaktivieren (Heinrich Triepel),44 sei es metaphysisch sich an den überpositiven inhaltlichen Wertungen einer naturrechtlichen Rechtsidee i. S. der Wertphilosophie zu orientieren (Erich Kaufmann),45 sei es i. S. eines weniger idealistischen als politisch-soziologischen Antipositivismus vorzugehen, der phänomenologisch den empirisch-sozialen Untergrund des Rechts i. S. einer wirklichkeitsorientierten Betrachtung zu erkennen und bei der Rechtsbetrachtung teleologisch zu verstehen sucht (Gerhard Leibholz, Hermann Heller).46 Unter ihnen war Smends vor allem philosophisch fundierte Integrationslehre die wirkmächtigste Variante der geisteswissenschaftlichen Richtung,47 deren Vorstöße im Einklang mit den neueren Strömungen in der Philosophie jener Zeit48 die Diskussionen der gesamten Zunft namentlich auch auf den Tagungen der 1922 gegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer bis 1931 prägten.49 Smends Integrationslehre bildete ihren Fixpunkt, auch wenn etwa für die Handbuchliteratur die vorherrschende Auffassung
43 Zsfssd. C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, S. 83 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band II, 1992, S. 330 ff. 44 Dezidiert Triepel, Staatsrecht (Fn. 10), S. 37; übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 100 ff.; Wyduckel, Jus (Fn. 24), S. 318 ff. 45 Übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 102 ff.; Wyduckel, Jus (Fn. 24), S. 304 f.; ausf. Rennert, Richtung (Fn. 42), S. 97 ff., 160 ff.; M. Friedrich, Erich Kaufmann, Der Staat 26 (1987), S. 231 (240 ff.). 46 Übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 111 ff.; Wyduckel, Jus (Fn. 24), S. 307 ff. 47 Übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 106 ff.; ausf. Rennert, Richtung (Fn. 42), S. 141 ff., 214 ff.; P. Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre, Der Staat 16 (1977), S. 305 (307 ff., 312 ff.). 48 W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, Der Staat 28 (1989), S. 377 (396 f.). 49 Übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 118 ff.; zur eigenen Wahrnehmung durch Smend selbst: ders., Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit (1973), in: ders., StA4, S. 620 ff.
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unverändert völlig dominierend blieb50 und mit Schmitt ein vor allem an konkreten, von fundamentalen Gerechtigkeitsüberlegungen unabhängigen praktischen Dezisionen ad hoc orientierter und insoweit wirkungsmächtiger Antipositivist den kritischen Impetus zusätzlich stärken mochte.51 Die Grundlagendebatte hat erst unter der Geltung des Grundgesetzes praktische Folgen gezeitigt.
2. Personifizierung der Staatsrechtslehre der frühen Bundesrepublik Die Wirkmächtigkeit von Smends origineller Integrationslehre verbindet sich mit mindestens vier verschiedenen Erfolgsfaktoren.
a) Methodische Offenheit Seine Theorie ist methodisch besonders deutungsoffen und in ihrem zugleich faktischen wie normativen Problemzugang besonders fortbildungs- und wandlungsfähig.52 Ihre methodische Eigenart ermöglicht es, den Staat als Realität und das Recht als Mittel zur tatsächlichen Integration zusammen zu denken und so faktische und normative Argumente auf eine Art zu verbinden, die durch Akzentverschiebungen immer wieder neue Antworten auf sich wandelnde Herausforderungen zu finden erlaubt.53 Methodenkritiker haben diese fehlende wissenschaftstheoretische Reinheit, die sich bis in die oft nur schwer verständliche, durch relativierende Vorbehalte meist ambivalente Mehrdeutigkeit der Textgestaltung auswirkte,54 zwar immer wieder kritisiert. Aber ohne theoretisch an eine bestimmte Verfassungsrechtslage gebunden zu sein, war es dadurch unter dem Grundgesetz – im Einklang mit eigenen deutlichen Akzentverschiebungen von Smend – möglich, die Integrationslehre stärker an der Normativität des Verfassungsrechts auszurichten, wie dieses namentlich durch wegweisende Arbeiten der Smend-Schüler Horst Ehmke und Konrad Hesse mit nachhaltiger Wirkung
50 Vgl. z. B. G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1930/1932; H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1930. 51 Übersichtlich März, Richtungs- und Methodenstreit (Fn. 11), S. 113 ff.; Wyduckel, Jus (Fn. 24), S. 309 ff. 52 Lepsius, Wiederentdeckung (Fn. 40), S. 363 ff. 53 G. Leibholz, Gedenkrede auf Rudolf Smend, in: In memoriam Rudolf Smend, 1976, S. 15 (32); Lepsius, Wiederentdeckung (Fn. 40), S. 359 f., 363 ff. 54 Badura, Staat (Fn. 47), S. 307 m. w. N.
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für das zeitgenössische verfassungsrechtliches Denken entfaltet wurde. Deren „Normativierungsprogramm“ (Oliver Lepsius) hat Smends theoretische Ausgangspunkte einerseits von lebensphilosophischer Zeitgebundenheit ebenso wie von oft kritisierten normativen Defiziten55 befreit und andererseits den latenten Einfluss seiner geisteswissenschaftlichen Problemsicht i. S. einer verfassungsrechtlichen Hermeneutik vielfältig gestärkt,56 etwa gegenüber einem technizistisch-positivistischen Methoden- und Rechtsstaatsverständnis.57 Ihre integrationsbezogene, die Gegensätze in einem Prozess der „Güterabwägung“58 zu einer harmonischen Lösung zusammenführende Denkweise gründet in der von Smend neu entwickelten, heute selbstverständlichen Sicht der Verfassung als Einheit. Sie wurde als Auslegungsmaxime zumal bei hochabstrakten Verfassungsrechtsbegriffen sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts59 wie auch in der Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit positiv aufgenommen und fortentwickelt60 und fand in den Prinzipien der „praktischen Konkordanz“ (Konrad Hesse) oder gleichsinnig im „Prinzip des nach beiden Seiten hin schonendsten Ausgleichs“ (Peter Lerche) kongeniale Formeln, die bis heute zu herrschenden Maximen der Verfassungsinterpretation geworden sind.
b) Überpositivität der Integrationslehre Die Integrationslehre, eine Verfassungstheorie auch extrakonstitutioneller Faktoren des Verfassungslebens, argumentiert im Ansatz jenseits einer bloßen Positivität des geschriebenen Rechts61 und war daher in hohem Maße auch unter
55 S. jüngst wieder C. Hillgruber, Staat, Recht und Verfassung im Prozeß der Integration – Smends Integrationslehre in ihrer Ausgangsgestalt und in der Rezeption unter der Geltung des Grundgesetzes, in: FS Bartlsperger, 2006, S. 63 ff. 56 Paradigmatisch A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff.; ferner P. Lerche, Stil, Methode, Ansicht (1961), in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 19 ff.; s. auch Günther, Denken (Fn. 4), S. 166 ff., 243 ff.; krit. W. Hennis, Integration durch Verfassung?, JZ 1999, S. 485 (489 f.). 57 Vgl. nur E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (1959), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1964, S. 147 ff. 58 Grdl. BVerfGE 7, 198 (210). 59 BVerfGE 1, 14 (32); 99, 1 (11); Morlok/Schindler, Smend (Fn. 20), S. 22 ff.; Lerche, Stil (Fn. 77), S. 340 ff. 60 Wegweisend u. a. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation (1963), in: ders., Beiträge zu Verfassungsrecht und Verfassungstheorie, 1981, S. 329 ff. 61 M. Friedrich, Rudolf Smend 1882–1975, AöR 112 (1987), S. 1 (12 f.).
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der Geltung des Grundgesetzes adaptionsfähig.62 In Deutschland verdeutlichte Smend schon vor der Existenz von Bundes- oder Landesverfassungen nach dem Zusammenbruch 1945 einerseits die Notwendigkeit einer Abkehr von einem Verständnis des Staates statt als bloßem Machtmittel in einer verhängnisvollen deutschen Tradition zugunsten eines Verständnisses von seiner aufgegebenen Ordnung, kraft Recht zu gestalten, und andererseits die Rückbindung der Politik als Kampf (i. S. Max Webers) an Maßstäbe politischer Sittlichkeit – beides zentrale Lebensbedingungen für einen erforderlichen politischen Lebenswillen beim Aufbau der demokratischen Ordnung.63 Die darin angelegte normative Intention (statt bloß formale Deutung) von Integration hat Smend dann in der Fortschreibung der Integrationslehre in zwei Handbuchartikeln stärker akzentuiert: Integration ist ein von Verfassungsethik geprägter Vorgang, der zugleich der Eigenart von Recht als Ordnungsfaktor von Integrationsprozessen gerecht werden muss.64 Die darin erkennbare normative Korrektur der Integrationslehre i. S. einer „juristischen Theorie richtiger und vollständiger Auslegung der Verfassung“65 hat namentlich das Vorverständnis vieler Autoren aus der Smend-Schule bei der Entwicklung der Verfassungstheorie und der Grundrechtsdogmatik in den 1950er und 1960er Jahren geprägt, sowohl bei der Anerkennung der Gewährleistung der gesellschaftlichen Pluralität als auch in seiner Offenheit für Innovationen und politische Entwicklungen.66 Ihr gegenüber konnte sich die späte eindimensionale Ideologiekritik am konservativen Theoretiker von Weimar,67 der bis 1930 Mitglied der DNVP war und teilweise durchaus auch in der Kontinuität deutscher Tradi-
62 Lepsius, Wiederentdeckung (Fn. 40), S. 364 ff. 63 R. Smend, Staat und Politik (1945), in: ders., StA4, S. 363 ff. 64 R. Smend, Integrationslehre (1956), in: ders., StA4, S. 475 (480). 65 So in der Letztfassung R. Smend, Integration (1975), EvStL3 1987, Sp. 1354 (1357); s. auch Leibholz (Fn. 53), S. 30; S. Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (124). 66 Schefold (Fn. 25), S. 593 f., mit Verweis auf R. Bäumlin, Recht, Staat und Geschichte, 1961; H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953; ders., Wirtschaft und Verfassung, 1961; ders., Prinzipien (Fn. 60), jetzt alle in ders., Beiträge (Fn. 60), S. 21 ff., S. 208 ff. bzw. S. 329 ff.; K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), jetzt in: ders., Schriften (Fn. 7), S. 3 ff.; ders., Grundzüge (Fn. 32); H. Zwirner, Politische Treuepflicht des Beamten (1956), 1987; s. auch die Weiterentwicklung bei P. Häberle, Verfassung als Öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998; übersichtlich Obermeyer, Integrationsfunktion (Fn. 20), S. 107 ff.; Morlok/Schindler, Smend (Fn. 20), S. 25 ff.; Korioth, Integration (Fn. 13), S. 280 ff.; H. Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981, S. 333 ff. 67 Zuletzt R. C. van Ooyen, Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, 2010, S. 87 ff., 101 ff., 123 ff.; W. Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie, 1968, S. 262 ff., bes. 321 ff.; vgl. demgegenüber Friedrich, Smend (Fn. 61), S. 13 ff.
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tionen antiliberaler und antipluralistischer Staatsanschauung argumentierte,68 nicht mehr durchsetzen.
c) Einfluss auf die Rechtsprechung des BVerfG Smends Problemzugang i. S. der geisteswissenschaftlichen Richtung des Weimarer Richtungsstreits hat ungeachtet ihres bleibenden Gegensatzes zum traditionellen Positivismus die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig mitgeprägt. Das geschah weniger durch die punktuelle Rezeption seiner Ergebnisse in einzelnen Interpretationsfragen, insofern das Verständnis Smends von der „Allgemeinheit“ der die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze zu Art. 118 WRV auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 2 GG modifiziert mitbestimmt hat,69 oder bei der Übernahme seines für den monarchischen Bundesstaat entwickelten, unter der Geltung der WRV praktisch kaum rezipierten70 ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der Bundestreue für das Grundgesetz.71 Der wichtigere Einfluss liegt allgemeiner in Stil, Methode und verfassungstheoretischer Neuorientierung der Verfassungsrechtsprechung. Namentlich Gerhard Leibholz als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Richtung hat dieser (und ihrem führenden Protagonisten Smend) in seinem verfassungsrichterlichen Wirken vielschichtig zum Durchbruch verholfen. Das beginnt bei der institutionellen Qualifizierung des Bundesverfassungsgerichts als integrierend wirkendes Verfassungsorgan im Status-Bericht72 und lässt sich an den Wirkungen seiner eigenen Interpretationsarbeit in der Rechtsprechung zeigen.73 Bereits
68 Vgl. S. Korioth, Integration und staatsbürgerlicher Beruf: Zivilreligiöse und theologische Elemente staatlicher Integration bei Rudolf Smend, in: R. Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, 2005, S. 113 (120); Badura, Staat (Fn. 47), S. 309. 69 Vgl. BVerfGE 7, 198 (209 f.) und R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), in: ders., StA4, S. 89 (96 ff.); in diesem Sinne krit. S. Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: T. Henne/A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-) historischer Sicht, 2005, S. 327 (342 ff.); K. A. Bettermann, Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, JZ 1964, S. 601 ff. 70 P. Unruh, Die Unionstreue, EuR 2002, S. 141 (50); ausf. Korioth, Integration (Fn. 13), S. 187 ff. 71 Vgl. BVerfGE 1, 299 (315) mit Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht (Fn. 29), S. 51 ff.; ferner etwa BVerfGE 6, 309 (361); 8, 122 (138); 12, 205 (254 f.); 103, 81 (88). 72 Z. B. Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, JöR 6 (1957), S. 194 (197 f.). 73 Vgl. auch Günther, Denken (Fn. 4), S. 188 ff.; M. H. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, 1995, S. 66 ff., 94 ff., 146 ff., 184 ff., 212 f., 292 u. ö.
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das lehrbuchartige Südweststaatsurteil (BVerfGE 1, 14 [32 ff.]) belegte in seinen Aussagen zur Verfassungsinterpretation oder zu den Verfassungsgrundsätzen von Beginn der Rechtsprechung an nicht nur eine Nähe zur Integrationslehre, sondern sie folgte nun auch praktisch der 1925 von Leibholz vertretenen These von der Bindung des Gesetzesgebers an den Gleichheitssatz;74 Ähnliches gilt für die Rechtsprechung zu Rolle und Rechtsstellung der politischen Parteien oder zum Verhältniswahlrecht.75 Auch die Auslegung der Kirchenartikel der WRV aus der Einheit des Grundgesetzes76 lässt sich auf Smend zurückführen. Vor allem lässt sich die Entfaltung des Grundrechtssystems des Grundgesetzes als Ausprägung der Integration durch objektive Werte in der demokratischen Willensbildung interpretieren. Für den Bedeutungsgewinn der Grundrechte als solcher in der Grundrechtsjudikatur war zwar weniger die Interpretation etwa kraft des Integrationsgedankens als die normative Verstärkung der Grundrechte durch Art. 1 Abs. 3 GG ausschlaggebend.77 Das Verständnis der Grundrechte als eine objektive Wertordnung,78 deren Wertungshintergründe als Richtlinien und Impulse in alle Bereiche des einfachen Rechts ausstrahlen, ist originär bei Smend entfaltet worden.79 Grundrechte finden ursprünglich bei ihm ihren Sinn weniger in der Freiheit vom, sondern als sachliche Integrationsfaktoren in der Freiheit zum Staat i. S. einer Teilhabe am Integrationsvorgang80 als einem immer wieder
74 Vgl. zuletzt J. Saurer, Der allgemeine Gleichheitssatz: Weimarer Einflüsse auf das Grundgesetz, in: U. J. Schröder/A. v. Ungern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011, S. 101 (104 ff., 111 ff.); vgl. BVerfGE 1, 14 (52) mit G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925. 75 Vgl. BVerfGE 1, 208 (241 ff.) mit G. Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts (1932), auch in ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 9 ff. 76 Vgl. BVerfGE 19, 206 (218 ff.). 77 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: FS BVerfG, Band 1, 2001, S. 333 (335); H. Dreier, Dimension der Grundrechte, 1993, S. 15 f. 78 Grdl. BVerfGE 7, 198 (205 f.); übersichtlich W. Geiger, Grundwertentscheidungen des Grundgesetzes, BayVBl. 1974, S. 297 ff.; krit. H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973. 79 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 262 ff.; ders., Bürger (Fn. 39), S. 312 ff.; s. auch H. Dreier, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 70 (89 f.); Hillgruber, Staat (Fn. 55), S. 73 f.; D. Krausnick, Staatliche Integration und Desintegration durch Grundrechtsinterpretation: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Lichte der Integrationslehre Rudolf Smends, in: Lhotta, Integration (Fn. 68), S. 135 (139 ff.); R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (9); Leibholz, Gedenkrede (Fn. 53), S. 35 ff.; politikwissenschaftlich zuletzt ausf. J. Bühler, Das Integrative der Verfassung, 2011, S. 83 ff., 223 ff. 80 v. Campenhausen, Smend (Fn. 5), S. 522; vgl. Nw. Fn. 18; krit. Ruppert, Wertordnung (Fn. 69), S. 337 ff.
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neuen täglichen Plebiszit,81 das dem Leben im demokratischen Verfassungsstaat seine Substanz vermittelt82 und auch in einer beruflichen Pflicht der Bürger zur aktiven Anteilnahme am demokratischen Verfassungsleben eine konkrete Folgerung gefunden hat.83 In Ergänzung zum liberalen Grundrechtsverständnis des GG speiste sich aus diesem Problemzugang nicht nur das hohe Gewicht von Meinungsäußerungen als Beiträgen zur öffentlichen Meinungsbildung bei einer Abwägung mit konfligierenden Rechtsgütern,84 sondern vor allem die grundlegende Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte in der Judikatur. So ist es mehr als ein Zufall und von symbolischer Kraft, wenn Smend 1962 die Festrede zum 10jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts gehalten hat.85
d) Funktion des BVerfG im Kontext der Integrationslehre Der Einfluss Smends auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint manchem Beobachter sehr hoch,86 doch dürfte das vor allem und eher der Abgrenzung gegenüber den Autoren der Schmitt-Schule als fundamentalen Kritikern einer Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution geschuldet sein. Insoweit gibt es eine hohe Entsprechung der Integrationslehre mit den Funktionen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kontext der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik, die für die nachhaltige Rezeption Smends in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik von ausschlaggebender Bedeutung war. Sein verfassungstheoretischer Zugang erstreckte sich nicht primär auf einzelne dogmatische Figuren oder Judikate, sondern prägte auf einer abstrakteren Ebene Funktion und Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts in dessen Spruchpraxis.87 Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsauslegung wurden so zu einem kennzeichnenden Element bei der praktisch erfolgreichen Normativierung des Verfassungslebens mit der für die Bundesrepublik typischen Verrechtlichung politischer Fragen, ob bei der integrierenden Funktion von Meinungskonflikten in der Rechtsprechungstradition seit dem Lüth-Urteil88 oder
81 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 136, 182 u. ö. 82 S. auch Leibholz, Gedenkrede (Fn. 53), S. 28 f.; Friedrich, Smend (Fn. 61), S. 7 ff. 83 Smend, Bürger (Fn. 39), S. 318 ff.; ders., Problem (Fn. 21), S. 505. 84 Vgl. H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, 3. Aufl. 2013, Rn. 45, 162, 209, 286. 85 R. Smend, Das Bundesverfassungsgericht (1962), in: ders., StA4, S. 581 ff. 86 Vgl. Hennis, Integration (Fn. 56), S. 486: „Hausgott“. 87 Vgl. dazu auch Korioth, Integration (Fn. 13), S. 270 ff., 273 ff. 88 H. Schulze-Fielitz, Das Lüth-Urteil nach 50 Jahren, Jura 2008, S. 52 ff.
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bei der „öffentlichen Aufgabe“ der Presse im Spiegel-Urteil, bei der geltungserhaltenden Interpretation von Normen durch verfassungskonforme Auslegung, bei bloßer Verfassungswidrigerklärung statt Nichtigkeitsfeststellung von Gesetzen, bei der Verneinung des Fortbestehens der Beamtenverhältnisse über 1945 hinaus,89 bei der Rolle der politischen Parteien bis hin zu ihrer Finanzierung oder bei der großzügigen Rechtsprechung zur Befangenheit von Verfassungsrichtern u. a. m. Mit dem Bundesverfassungsgericht verbinden sich so in besonderer Weise Funktion und Aufgabe der gesamtgesellschaftlichen Integration, wie das schon bei Smends Hinweis auf einen Staatsgerichtshof als institutionalisierten „Schlußstein des Integrationssystems“ angelegt war90 und unverändert aktuell erscheint.
3. Bleibende Bedeutung als staatsrechtlicher Klassiker? Smend gehört zu den staatsrechtlichen Klassikern, deren grundlegende Texte die 1920er Jahre überdauert haben und, schon im Zuge der Historisierung des staatsrechtlichen Denkens nach sechs Jahrzehnten Grundgesetz, über die eigene Zeit hinaus bleibende Bedeutung und Faszinationskraft behalten dürften;91 das gilt, ungeachtet seiner engen Verbindung mit spezifisch deutschen staatsrechtlichen Denktraditionen und der unverkennbaren theoretischen Grenzen der Integrationslehre,92 auch unter den Bedingungen eines Europäisierungsprozesses, der ohne eine differenzierte Berücksichtigung der integrativen Funktionen von Europäischer Union und Europarecht93 auf Dauer kaum erfolgreich sein kann.
89 BVerfGE 3, 58 ff., gegen BGHZ 13, 265 (271 ff.). 90 Smend, Verfassung (Fn. 13), S. 202 f.; ausf. Krausnick, Integration (Fn. 79), S. 135 ff.; krit. aber z. B. Dreier, Integration (Fn. 79), S. 83 ff.; U. Haltern, Integration als Mythos, JöR 45 (1997), S. 31 ff. 91 Hesse, In memoriam (Fn. 7), S. 582; allg. H. Schulze-Fielitz, Konjunkturen der Klassiker-Rezeption in der deutschen Staatsrechtslehre – Vermutungen auch im Blick auf Hans Kelsen, in: M. Jestaedt (Hrsg.), Ein schwieriges Verhältnis. Vom Umgang der deutschen Staatsrechtslehre mit Hans Kelsen, 2013, S. 147 ff. 92 Friedrich, Smend (Fn. 61), S. 16 ff. 93 Vgl. A. v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 13 (40); Morlok/Schindler, Smend (Fn. 20), S. 29 ff.; A. Hurrelmann, Integration und europäische Verfassung: Zur Eignung der Integrationslehre als Theorie eines supranationalen Konstitutionalismus, in: Lhotta, Integration (Fn. 68), S. 163 ff.; C. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, S. 1033 (1043 f.); I. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 (113 ff.); implizit P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011.
Rudolf Smend
Auswahlbibliographie Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904. Das Reichskammergericht, 1911. Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, darin u. a.: Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat (1916) Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919) Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform (1923) Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928) Verfassung und Verfassungsrecht (1928) Protestantismus und Demokratie (1932) Bürger und Bourgeois in deutschen Staatsrecht (1933) Staat und Politik (1945) Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951) Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (1951) Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit (1955) Integrationslehre (1956) Integration (1966) Das Problem der Institutionen und der Staat (1956) Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960) Das Bundesverfassungsgericht (1962) Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren – und heute (1969) Die Vereinigung der Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit (1973) Bibliographie Rudolf Smend Kirchenrechtliche Gutachten 1949–1969, erstattet vom Kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland, unter Leitung von Rudolf Smend, 1972.
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XVII Ottmar Bühler (1884–1965) Ekkehart Reimer* Das Öffentliche Recht erlebt im 20. Jahrhundert eine bis dahin nicht gekannte Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Öffnung, die sich synchron in den Werkbiographien der Staatsrechtslehrer widerspiegelt. Unangefochtener Protagonist einer spezifisch staatsrechtlich geprägten, dem Rechtsstaat verpflichteten und zugleich international ausgerichteten Steuerrechtswissenschaft ist im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts Ottmar Bühler. Akademisch wirkt er vor allem in Breslau, Münster, Köln und München, erwirbt aber weit über die Jurisprudenz, zugleich weit über Deutschland hinaus hohes Ansehen.
I. Ein Leben in drei Staatsformen 1. Das Kaiserreich als Rüstzeit Das intakte Kaiserreich erlebt Bühler, 1884 in Zürich als Sohn eines schwäbischen Forstwissenschaftlers geboren, als Zeit einer frühen wissenschaftlichen Selbständigkeit. Das Rechtsstudium führt ihn nach Tübingen, München und Berlin. 1911 promoviert ihn die Tübinger Fakultät mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlich umfangreichen Schrift zur Entwicklung des Verhältnisses von zweiter und dritter Gewalt in Württemberg.1 Anschließend übernimmt Bühler 1912 eine Stelle als württembergischer Regierungsassessor und setzt zugleich seine wissenschaftliche Arbeit fort. Sein Interesse gilt in dieser Zeit vor allem dem Verwaltungsrecht. 1913 habilitiert er sich in Breslau mit einer wiederum ungewöhnlich
* Danke für viele Anregungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts gebührt Herrn Ministerialrat Werner Nigbur, Bonn. 1 Ottmar Bühler, Die Zuständigkeit der Zivilgerichte gegenüber der Verwaltung im württembergischen Recht und ihre Entwicklung seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Lehre von der Abgrenzung von Justiz und Verwaltung (1911; Tübinger staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 16; 240 S.).
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umfangreichen Arbeit über die subjektiven öffentlichen Rechte und ihren Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung.2
2. Münster: Blütezeit wissenschaftlicher Verselbständigung In der Nachfolge des Extraordinarius Godehard Josef Ebers folgt Bühler 1919 einem Ruf als außerordentlicher Professor für öffentliches Recht an die Universität Münster.3 Der Ortswechsel markiert zugleich eine zentrale Neuorientierung: Bühler strebt in die finanzrechtliche Spezialisierung und möchte das Steuerrecht in das Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stellen.4 Seine Stellung ist aber noch nicht gesichert. Nach einer Vertretung 1921/22 in Berlin übernimmt Bühler 1922 einen Lehrstuhl in Halle; als Hallenser Ordinarius gehört er im Oktober 1922 zu den 42 Gründungsmitgliedern der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer.5 Doch schon zum 1. Oktober 1923 kehrt er auf ein neu geschaffenes Ordinariat nach Münster zurück.6 Für ihn markiert der Beginn dieser zweiten Münsteraner Periode, kurz vor seiner Lebensmitte, eine Zeit enormer Produktivität und großer Wirksamkeit im Hörsaal, die bis zu seinem Lebensende anhält.
2 Unten II.1. Betreuer dieser Arbeit dürfte der 1866 in Heidelberg habilitierte, seit 1878 in Breslau lehrende Siegfried Brie gewesen sein, der den zu dieser Zeit einzigen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl an der Universität Breslau bekleidete: Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos (2013), S. 464. Zu Brie s. die biographische Skizze bei Klaus-Peter Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“: Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert (2010), S. 329 ff.; und die zeitgenössische Würdigung in der Festgabe der Breslauer Juristenfakultät für Siegfried Brie zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum am 13. Dezember 1911 (1912). 3 Zu dieser Zeit v. a. Dieter Birk, Das Steuerrecht in Münster: Ottmar Bühler (1884–1965), in: Thomas Hoeren (Hrsg.), Münsteraner Juraprofessoren (2014), S. 130 ff. 4 Nachgezeichnet bei Dieter Birk, Ottmar Bühler (1884–1965) – sein Einfluss auf die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft in Münster und Köln, in: StuW 2013, 280; und dems. (oben Fn. 3), S. 130 f. 5 S. Ekkehart Reimer/Christian Waldhoff, Steuerrechtliche Systembildung und Steuerverfassungsrecht in der Entstehungszeit des modernen Steuerrechts in Deutschland. Zu Leben und Werk Albert Hensels (1895–1933), in: dies. (Hrsg.), Albert Hensel, System des Familiensteuerrechts und andere Schriften (2000), S. 18 mit Fn. 105; und allgemein Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 (1999), S. 186 ff. 6 Hierzu Lieselotte Steveling, Aus der Geschichte der Juristischen Fakultät Münster, in: Bernhard Großfeld (Hrsg.), Westfälische Jurisprudenz (2000), S. 534.
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3. Deutliche Distanz: Der Ordinarius im Nationalsozialismus Nach Kritik an der Ideologie des Nationalsozialismus im Juli 1932 kommt es zu einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung Bühlers mit nationalsozialistischen Studenten.7 Im Sommer 1933 wird der Katholik Bühler als „politisch unzuverlässig“ eingestuft. Die Gleichschaltungskommission empfiehlt seine Versetzung; der Rektor möchte ihn sogar beurlauben. Bühler bleibt aber in Münster und bemüht sich offenbar zunächst um Frieden mit dem System. Spätestens das Jahr 1938 markiert aber einen archivalisch nachvollziehbaren Wendepunkt. In diesem Jahr scheitert der Versuch des überzeugten Nationalsozialisten Georg Erler, sich bei Bühler, der – obwohl preußischer Beamter – niemals der NSdAP beitritt,8 zu habilitieren.9 Im selben Jahr kommt es – möglicherweise auch in Folge der Trennung von Erler – zu einem Konflikt Bühlers mit Münsteraner Kollegen. Er gipfelt in der Entscheidung Bühlers, keine Lehrveranstaltungen im allgemeinen öffentlichen Recht mehr anbieten zu wollen.10 Der Dekan drängt daraufhin auf die Versetzung Bühlers an eine andere Fakultät.11 Inwieweit dieser doppelten Entfremdung unspezifische Animositäten im Kollegenkreis oder eine abnehmende Bereitschaft Bühlers zu politischer Anpassung zugrunde lagen, lässt sich kaum klären. Glaubwürdig belegt ist Bühlers Wunsch, sich stärker dem Völkerrecht und hier insbesondere dem Internationalen Finanzrecht zuwenden zu können; dieser Wunsch liegt quer zum Geist der Zeit. Bemerkenswert ist auch, wie nachhaltig Bühler in diesen Jahren unterdrückten Kollegen jüdischer Herkunft, deren Werke im Reich nicht mehr zitiert werden durften, im Ausland aktiv zu bleibender Bedeutung verholfen hat. Noch in der Kölner Antrittsvorlesung vom Juni 1943 hat er den Mut, in der Rückschau auf die Entstehung des deutsch-italienischen Doppelbesteuerungsabkommens von 1925 als Schöpfer dieses wichtigen Musters anerkennend „den damaligen Ministerial-
7 Hierzu und zum Folgenden die Hinweise bei Simon Kempny/Henning Tappe, Ottmar Bühler: Meine Stellung zum Nationalsozialismus, in: StuW 2009, 376 (377). 8 Belegt sind lediglich eine Mitgliedschaft im „Stahlhelm“ und eine Fördermitgliedschaft in der SS. Siehe N. N., Artikel „Ottmar Bühler“, in: Catalogus Professorum Halensis, Internet: http:// www.catalogus-professorum-halensis.de/buehlerottmar.html (31.8.2014) unter Hinweis auf die Akte BArch R 4901/13260. 9 Zu Erler (1905–1981) statt aller Stolleis (oben Fn. 5), S. 269; Anikó Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung: Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus (2000), S. 303 f. 10 Schreiben Bühlers an Universitätsleitung und Reichswissenschaftsministerium, zit. nach Birk (oben Fn. 4), S. 280 f. 11 Hierzu im Einzelnen Birk (oben Fn. 4), S. 281.
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rat Dorn“ zu nennen,12 der 1931 Chefpräsident des Reichsfinanzhofs wurde und dieses Amt 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wegen seiner jüdischen Herkunft verlor.13 Nur scheinbar in eine andere Richtung weist eine 1940 vorgelegte völkerrechtliche Publikation zum U-Boot-Krieg, die im Gesamtwerk Bühlers aus dem Rahmen fällt.14 Sie verbindet eine Darstellung des überkommenen Rechtsstoffs mit dem Versuch einer Aufarbeitung des Verhaltens Englands und der USA im Ersten Weltkrieg aus deutscher Sicht, appelliert an die Einhaltung des Seevölkerrechts auch und gerade in Kriegszeiten, skizziert realistische Szenarien seiner Fortentwicklung, strapaziert aber zugleich durch teils naturrechtliche, teils eher spieltheoretische Aufladungen die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts jenseits des positiven Völkervertragsrechts.15
4. Der Wechsel nach Köln 1942 wird er als ordentlicher Professor für öffentliches Recht, insbesondere Finanzund Steuerrecht, an die 1919 von Konrad Adenauer wieder begründete Universität zu Köln berufen.16 Bedeutend wird seine prinzipienorientierte Antrittsvorlesung.17 Diese „meisterhafte Darstellung“ (Werner Flume)18 beginnt empirisch und weist zunächst die Relevanz des Faches und die Fülle des Rechtsstoffs nach, bevor methodische Fragen in den Blick geraten. Sie betreffen zunächst die Ebene der Rechtsanwendung: Bühler lässt in Fällen, in denen die rechtstaatlichen Auslegungsmethoden nicht in der Lage sind, den Sinn einer Steuernorm eindeutig
12 Ottmar Bühler, Die leitenden Ideen des deutschen Steuerrechts, in: AöR N. F. Bd. 33 (1943), S. 122 ff. (153). 13 Zu Dorn v. a. Ludwig Heßdörfer, Nachruf für Dr. Herbert Dorn, StuW 1957 I, Sp. 633 ff.; Ludwig Falk, Die Bedeutung von Herbert Dorn, FR 1967, 305 ff.; Franz Klein, Zur Erinnerung an Herbert Dorn, StuW 1987, 97 f.; Alfons Pausch, Herbert Dorn. Wegbereiter des internationalen Steuerrechts, in: Pausch (Hrsg.), Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 104 ff.; Ekkehart Reimer, Der ungeliebte Präsident, in: FS Wolfgang Spindler (2011), S. 507 ff.; und demnächst Christoph Bräunig, Herbert Dorn (1887–1957). Pionier und Wegbereiter im Internationalen Steuerrecht. Diss. iur. Heidelberg (Veröff. in Vorbereitung); und die Hinweise unten V. und VI.2. 14 Ottmar Bühler, Neutralität, Blockade und U-Bootkrieg in der Entwicklung des modernen Völkerrechts (1940). 15 Unten II.3. 16 Zu Situation der Kölner Fakultät in diesen Jahren Michael Stolleis (oben Fn. 5), S. 282 ff. 17 Ottmar Bühler, Die leitenden Ideen des deutschen Steuerrechts, in: AöR N. F. Bd. 33 (1943), S. 122 ff. 18 Werner Flume, Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag, FR 1984, S. 573 (574).
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festzustellen, unter Hinweis auf die Besonderheiten der Zeit ein „in dubio pro fisco“ zu. Auf Rechtsetzungsebene weist er hellsichtig auf das Anliegen der Wirtschaftslenkung hin, fordert die Beachtung des Nettoprinzips, besteht „auch im autoritären Staat“ 19 auf dem Vorbehalt des Gesetzes und berichtet vom Misserfolg der Generalklauseln. Dabei scheut er sich nicht, § 1 Abs. 1 StAnpG als „Generalklausel, die […] alle Einzelnormen überschattet“ zu bezeichnen, um sie sodann ausdrücklich dem Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung unterzuordnen. Damit setzt er dem Führerstaat die Idee des Rechtsstaats entgegen. Die akademische Lehre Bühlers beschränkt sich in Köln nicht mehr auf Studenten der Rechtswissenschaft, sondern erstreckt sich auf angehende Kaufleute. Bühler erhebt den Anspruch, neben juristischer Klugheit auch die ökonomische Sinnhaftigkeit zu Maßstäben seiner rechtspolitischen Desiderate zu machen, und ergreift die Chancen, die sich damit bieten. Er gewinnt unter jungen Betriebswirten auffassungsstarke Mitarbeiter,20 sucht bewusst die Nähe zu dem Berufsstand der Steuerberater, wird – auch über Köln hinaus – für eine Generation von ihnen prägend und empfängt aus diesen Kontakten Impulse, die sein Werk prägen.
5. Keine Stunde null: Bühlers späte Kölner Jahre Dem Zusammenbruch Deutschlands war längst ein Zusammenbruch der Steuerrechtswissenschaft in Deutschland vorausgegangen. Als Bühler nach Kriegsende seine Lehr- und Forschungstätigkeit in dem zerstörten Köln wiederaufnimmt, ist er der letzte bedeutende Repräsentant der deutschen Steuerrechtswissenschaft, der seine Arbeit äußerlich unverändert fortsetzen kann: Dorn, Isay und Lion sind emigriert, Becker, Hensel und Popitz tot, Waldecker stirbt 1946. Damit fällt Bühler als Direktor des weiterhin einzigen Instituts für Steuerrecht an einer Juristischen Fakultät eine Vorrangstellung zu. 1947 überzeugt er die Kölner Fakultät von der Berufung eines weiteren Steuerrechtlers: des ehemals Prager Juristen Armin Spitaler, den Bühler schon aus der Zwischenkriegszeit kennt, mit dem er bereits gemeinsam publiziert hat21 und der ihm einige Jahre später (1953) auf dem Lehrstuhl nachfolgt. Wie prägend die Kölner Jahre für Bühler geworden sind, zeigt eine von Spitaler herausgegebenen bündige Festschrift zu Bühlers 70. Geburtstag 1954: Die warme
19 Hierzu und zum Folgenden Bühler (oben Fn. 17), S. 131 ff. 20 Unter denen Albert Rädler herausragt; s. unten VI.3. und VII. 21 Ottmar Bühler/Armin Spitaler, Steuertafel für das Sudetenland und erste Einführung in das reichsdeutsche Steuerrecht (1939).
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Laudatio verfasst der Kölner Hans Carl Nipperdey. Aus der Fakultät beteiligt sich aber neben Spitaler lediglich der erst 1949 nach Köln gewechselte Hans Peters an der Festschrift, der Bühler als früher Hörer und als sein Berliner Assistent,22 als Katholik23 und Gegner des Nationalsozialismus besonders nahe gestanden haben mag.24 Die noch aktiven Fakultätskollegen Ernst von Hippel und Hermann Jahrreiss beteiligten sich nicht.
6. Privatgelehrter mit Universitätsanschluss: München als neue Wirkungsstätte Bühler selbst zieht nach der Emeritierung nach München und erhält dort einen Lehrauftrag seiner alten Universität. Vor allem aber duldet die Münchner Fakultät die Gründung einer halboffiziellen Forschungstelle für Internationales Steuerrecht, die Bühler aus eigenen Mitteln und aus Spenden finanziert.25
II. Staatsrechtslehrer und Homo politicus 1. Erforschung der subjektiven öffentlichen Rechte Als Lehrer und Forscher auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts legt Ottmar Bühler mit der Breslauer Habilitationsschrift bereits 1914 sein bestes wissenschaftliches
22 Hans Peters, Ottmar Bühler zum 80. Geburtstag, in: AöR Bd. 89 (1964), S. 369 (371).; ders., Rede anlässlich der Gedächtnisfeier für Prof. Dr. Dr. h. c. Ottmar Bühler am 23. November 1965 (1966), S. 6 f. 23 Hans Peters hatte Bühler 1935 einen Sonderdruck seines Aufsatzes „Der totale Staat und die Kirche“ zugesandt, für den sich Bühler mit einem mehrseitigen Schreiben v. 15.2.1935 bedankt: BArch Koblenz, Nachlass Hans Peters, Bd. 15; vgl. Levin von Trott zu Solz, Hans Peters und der Kreisauer Kreis (1997), S. 114; und Peters, Rede anlässlich der Gedächtnisfeier (Fn. 22), S. 7, 13, 20. 24 Zu Hans Peters, der auch Präsident der Görres-Gesellschaft war, Klaus Joachim Grigoleit/Jens Kersten, Hans Peters (1886–1966), in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 365 ff.; Klaus Joachim Grigoleit, Hans Peters (1896–1966), in: Stefan Grundmann, Michael Kloepfer, Christoph G. Paulus, et al. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft (2010), S. 755 ff.; ferner Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 (1999), S. 413 und Bd. 4 (2011), S. 42 ff., 59. 25 Albert Rädler, Ottmar Bühler, in: Juristen im Porträt. Verlag und Autoren in vier Jahrzehnten (1988), S. 195 ff. (197).
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Werk vor: eine Studie über die subjektiven öffentlichen Rechte,26 mit der er die ältere und zeitgenössische Theorie mit der verwaltungsgerichtlichen Judikatur verknüpfen und den Rechtsanwendern auf diese Weise konkrete Maßstäbe zur Ermittlung des subjektiven Gehalts öffentlichrechtlicher Normen und Garantien verschaffen will: „Wie unterscheidet sich der objektive Rechtssatz, der ein echtes subjektives Recht zur Entstehung bringt, von demjenigen, der nur eine Reflexwirkung ausübt?“27 In dieser Frage waren Bühler vor allem die erheblichen Divergenzen zwischen der preußischen und der württembergischen Verwaltungsrechtsprechung aufgefallen. Selbstbewusst markiert er Schwächen bei Georg Jellinek, der das subjektive öffentliche Recht nicht befriedigend definiere, und Hans Kelsen, dessen Definition tautologisch sei.28 Im Anschluss an eine theoretische Grundlegung sichtet Bühler im zweiten Teil der Arbeit die Rechtsprechung der preußischen, württembergischen, bayerischen, sächsischen und badischen Oberverwaltungsgerichte. Der heterogene Befund eröffnet Raum für die eigene Lösung, die große Nähe zu dem Ansatz des sächsischen OVG aufweist: „Ein Rechtssatz bringt subjektive öffentliche Rechte […] dann und nur dann zur Entstehung, wenn er 1. zwingenden Charakter trägt […], 2. zugunsten bestimmter Personen oder Personenkreise, zur Befriedigung ihrer Individualinteressen und nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen ist, und wenn er 3. im Interesse dieser Personen mit der Wirkung erlassen ist, dass sie sich auf ihn sollen berufen […] können“.29 Dieses Ergebnis wird in eine eindrucksvolle Würdigung des Vorbehalts des Gesetzes eingebettet und schließt – in deutlicher Abgrenzung zu Walter Jellinek – eine Dogmatik der gerichtlichen Überprüfbarkeit behördlicher Ermessensentscheidungen ein.30 Insgesamt macht die Arbeit Bühler damit zu einem wichtigen Theoretiker des Rechtsstaats, einem Begleiter der verwaltungsprozessualen Praxis und einem frühen Befürworter des Prinzips der Verletztenklage.
26 Ottmar Bühler, Die subjektiven oeffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung (1914). Das Thema dieser Schrift greift Bühler später mehrfach auf: Debattenbeitrag in VVDStRL Bd. 8 (1949), S. 158 f.; ausführlich aber auch ders., Zur Theorie des subjektiven öffentlichen Rechts, in: Zaccaria Giacometti/Dietrich Schindler (Hrsg.), Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag (1927), S. 26 ff. 27 Bühler (Fn. 26), S. 21. 28 Bühler (Fn. 26), S. 17 ff. 29 Bühler (Fn. 26), S. 21. 30 Bühler (Fn. 26), S. 513 ff., 517 ff.
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2. Begleitung des Verfassungsstaats von Weimar Die ersten Münsteraner Jahre sind von dem Nebeneinander seiner Lehr- und Publikationstätigkeit im Steuerrecht und steter Präsenz im allgemeinen öffentlichen Recht geprägt. In bleibender Verbundenheit zu der alten Ordnung lässt Bühler in der Anfangszeit der Weimarer Republik zwar – wie viele andere – Distanz zu der neuen Verfassung erkennen,31 wird ihr aber gerecht. Das zeigt zunächst sein 1922 vorgelegter Kurzkommentar der Reichsverfassung. Aus ihm spricht zwar Unbehagen an der gegenwärtigen Verfasstheit des Reiches. Es ist aber kein Unbehagen an der Moderne des Verfassungsstaats und seinem Konzept. Selbst wenn Bühler innerlich der Monarchie nicht entsagt haben sollte, bejaht er die republikanische Verfassung in ihrem Kern ohne Umschweife. Angesichts ihrer schwierigen Entstehungsbedingungen sei sie sogar „eine nationale Tat“ gewesen.32 In ihrer textlichen und systematischen Klarheit bleibe sie hinter der Paulskirchenverfassung zurück, stelle aber einen „bedeutenden Fortschritt“ gegenüber der Reichsverfassung von 1871 dar. Kritikwürdig seien einzelne Teile und Gewichtungen: Bei aller Zustimmung zur Zentralisierung der Steuergewalt auf Reichsebene33 kritisiert er 1922 hellsichtig, „daß der Staatscharakter der Reichsglieder weit weniger ausgeprägt ist als bisher und dass rechtlich kaum Hindernisse bestehen, die Macht des Reichs weiter so zu vergrößern, daß aus den Staaten wirklich nur noch Selbstverwaltungskörper werden“. Vor allem aber beklagt Bühler, dass sich die Nationalversammlung in wichtigen Fragen „erheblich verrechnet“ habe. Er setzt seine Kritik an der Reichsverfassung damit in Beziehung zu den Realentwicklungen der Jahre 1919 bis 1922. Insofern richtet sich seine Kritik sowohl gegen den konkreten Zustand des Gemeinwesens im Innern als auch gegen die mangelnde Stärkung des Reiches im Wettbewerb der europäischen Mächte. Für die Realität des Bundesstaats beklagt Bühler, dass sich die Erwartung des Verfassungsgebers, es werde zu einer Verselbständigung der preußischen Provinzen kommen, nicht erfüllt habe und wohl auch nicht erfüllen werde. Bühlers wirtschaftspolitische Präferenzen deuten sich aber auch in einer monographischen Abhandlung über die öffentlichrechtlichen Grundlagen des Arbeitsrechts an.34 Diese narrativ verfasste Kleinschrift lässt überdeutlich seine
31 Aufbereitung bei Lieselotte Steveling, Juristen in Münster. Ein Beitrag zur Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1999), S. 184, 186, 198. 32 Dazu und zum Folgenden Ottmar Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919 mit Einleitung, Erläuterung und Gesamtbeurteilung (1922), S. 119 ff. 33 Ottmar Bühler, Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts. Mitbericht, VVDStRL 3 (1927), 102 (115 f.). 34 Ottmar Bühler, Arbeitsrecht. I. Teil: Öffentlich-rechtliche Grundlagen (1926).
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Distanz zu der Sozialisierungsgesetzgebung der Jahre 1919 bis 1923 erkennen,35 in der er eine wesentliche Ursache des Währungsverfalls von 1922/23 sieht. Aufschlussreich für Bühlers Einschätzung der Außenpolitik der Weimarer Regierungen ist sein Dossier „Verlorene Nachkriegsschlachten“ von 1931. In dieser politischen Streitschrift wendet er sich vordergründig gegen überhohe Reparationslasten, hintergründig gegen mangelnde Professionalität der deutschen Politik auf dem Gebiet des öffentlichen Meinungskampfes. Der letztgenannte Vorwurf gilt auch und gerade der Regierung Brüning. Wo Bühler lebt und lehrt, ist er hochpräsent. Bei der Reichsgründungsfeier der Universität Münster am 18. Januar 1929 spricht er über den Stand der Verwaltungs- und Verfassungsreform.36 Immer wieder betätigt er sich als Herausgeber von Gesetzessammlungen für den akademischen Gebrauch.37 Schon vor seinem Staatsrechtslehrerreferat von 1926 hatte er sich an Diskussionen auf den Jahrestagungen der Vereinigung beteiligt;38 dabei bleibt es auch in der Folgezeit.39 Seine Äußerungen überspannen überraschend unterschiedliche Themenkreise und Lebensbereiche. Zitiert wird v. a., was er zum Rechtsstaatsprinzip beizutragen hat.40 Kaum weniger Spuren hinterlässt sein Beitrag im Anschütz/Thoma über die Kompetenzordnung auf dem Gebiet des Steuerrechts.41 Ebenfalls in die Münsteraner Zeit fallen eine Kleinschrift zum Verwaltungsorganisationsrecht des Ruhrgebiets42 und seine aktive Beteiligung an einer vielbändigen, auch nach dem
35 a. a. O., S. 136: „ein völliger Fehlschlag“. 36 Die erweiterte Schriftfassung erscheint im selben Jahr bei Kohlhammer: Ottmar Bühler, Der heutige Stand der Verwaltungs- und Verfassungsreform (1929; 52 S.). 37 Neben dem Kurzkommentar der Reichsverfassung (oben Fn. 32): Ottmar Bühler (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Nebengesetze und -Verordnungen des Deutschen Reiches (mit kurzen einführenden Bemerkungen; 1931); ders. (Hrsg.), Staatsrechtliche Gesetze des Reiches und Preussens sowie Gewerbeordnung und Gaststaettengesetz (1931); ders. (Hrsg.), Verwaltungsgesetze des Reiches und Preussens (mit einführenden Bemerkungen, Paragraphenüberschriften und Sachregister; 1931); ders. (Hrsg.), Neue staatsrechtliche Gesetze des Reichs und Preußens nebst den wichtigsten neuen Verwaltungsgesetzen Preussens (mit Paragraphenüberschriften und Sachregister; 1934); ders. (Hrsg.), Verfassungsurkunde der Vereinten Nationen: Textausgabe (deutsch und englisch, mit Einleitung und Sachregister; 1946). Hinzu treten zahlreiche steuerrechtliche Textsammlungen. 38 VVDStRL Bd. 2 (1925), S. 112. 39 VVDStRL Bd. 6 (1929), S. 148 f.; nach der Wiederbegründung der Vereinigung 1949: VVDStRL Bd. 8 (1949), S. 158 f.; Bd. 12 (1953), S. 98 f.; Bd. 18 (1959), S. 102 f. 40 Etwa VVDStRL 12 (1953), S. 98 f. im Anschluss an die Berichte von Otto Bachof und Ernst Forsthoff. 41 Ottmar Bühler, Die Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiete des Finanzwesens, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts Bd. I (1930), S. 321–345. 42 Ottmar Bühler, Die Behördenorganisation des Ruhrgebietes (1926).
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Krieg noch fortgeführten offiziösen Sammlung von Untersuchungen zum „Raum Westfalen“, deren Mitherausgeber er wird. Zu dem ersten Band dieses Projekts steuert Bühler 1931 eine historisch-soziologisch-geographische Skizze über den politischen und verwaltungsorganisatorischen Zusammenhalt der Provinz Westfalen bei, der sich in Teilen wie eine theoretische Vorbereitung des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen liest.43 Doch spätestens 1933 stellt Bühler seine eigene Forschung auf dem Gebiet des allgemeinen öffentlichen Rechts ein. Immer deutlicher wird schon in den Münsteraner Jahren, was sich dann in dem Wechsel nach Köln manifestiert und schließlich – vollends selbstgewählt – in der Münchener Zeit bestätigt: die Konzentration auf das Finanz- und Steuerrecht.44
3. Völkerrecht und internationale Politik Umso mehr erstaunt die auch in der Sekundärliteratur immer wieder kritisch aufgegriffene Schrift „Neutralität, Blockade und U-Bootkrieg in der Entwicklung des modernen Völkerrechts“, die 1940 in den von Fritz Berber herausgegebenen Schriften des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für Auswärtige Politik erschienen ist.45 Bühler selbst rechtfertigt die Schrift eingangs mit erstaunlicher Ausführlichkeit. Er stellt Ciceros inter arma silent leges das Bekenntnis zu Geltung und Wirksamkeit des Völkerrechts auch und gerade im Krieg gegenüber.46 Mit einem Plädoyer für die Normativität des Völkerrechts in Zeiten des Kriegs wendet sich Bühler gegen die Willkür der Kombattanten. Er scheut sich nicht, Machtkonzentrationen in Kriegszeiten mit dem Ausdruck „Diktatur“ zu belegen – eine Diktion, die sich trotz einer Verbrämung mit Zitaten lateinischer Klassiker und betonter Verallgemeinerung als staatsrechtliche Bestandsaufnahme der Zeit lesen lässt. Was dann folgt, sind nüchterne Darstellungen des positiven Seekriegsrechts seit dem 19. Jahrhundert, der Versuch einer völkerrechtlichen Aufarbeitung der hinkenden Neutralität der USA in den Jahren 1914 bis Anfang 1917 und eine differenzierte, aber stark ver-
43 Ottmar Bühler/Adolf Ley, Raum und Verwaltung, in: Hermann Aubin/Ottmar Bühler/Bruno Kuske/Aloys Schulte (Hrsg.), Der Raum Westfalen. Band I: Grundlagen und Zusammenhänge (1931), S. 125 ff. 44 Günther Felix, Verzeichnis der Schriften Ottmar Bühlers, in: FS Bühler (1954), S. 279 ff. (286 ff.). 45 Oben Fn. 14. 46 Ottmar Bühler, Neutralität, Blockade und U-Bootkrieg in der Entwicklung des modernen Völkerrechts (1940), S. 8.
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gangenheitszentrierte Analyse des Rechts und der Praxis von Seeblockaden zum Nachteil neutraler Staaten. Passt diese Studie auch nicht bruchlos in Bühlers früheres Oeuvre, kommt sie doch nicht unvermittelt. Sie ist die enttäuschte Antwort in einem Selbstgespräch über die Rolle Deutschlands in Europa: Denn bereits 1932 hatte Bühler ein Versagen des Auswärtigen Amtes vor und während des Ersten Weltkriegs beklagt und in diesem Versagen den eigentlichen Grund für den Ausgang des Krieges erblickt.47 Dieses Versagen wirke fort; Deutschland lasse sich in der öffentlichen Meinung Europas und im Innern weiterhin kleinreden, stelle seinen Beitrag zur Bewältigung der Kriegsfolgelasten nicht selbstbewusst genug heraus und werde daher auch auf der Lausanner Konferenz im Sommer 1932 kaum in der Lage sein, einen Erlass der weiteren Zahlungen überzeugend zu erreichen. Nimmt man beide Schriften zusammen, ergibt sich als cantus firmus die These vom Versagen der deutschen Diplomatie vor 1914 und seither – eine Position, die in der Tradition von Bühlers württembergischem Landsmann Matthias Erzberger steht. Ebenso wie in Bühlers besonderem Interesse für die Außenseite des Steuerrechts und in seinen durch persönliche Begegnungen gestärkten und auch praktisch gefassten Arbeiten zum Internationalen Steuerrecht48 leuchten damit auch in dem nicht spezifisch steuerrechtlichen Teil seines Werks immer wieder Auslandsinteressen und ein besonderes Bewusstsein für zeitgeschichtliche Entwicklungen auf dem Gebiet der Außenpolitik auf.49
III. Erschließung der Finanzverfassung In der Gesamtschau bleibt es aber dabei, dass Bühler mit den frühen Dreißiger Jahren die eigene Forschung auf dem Gebiet des allgemeinen öffentlichen Rechts einstellt und sich in den Jahren nach 1945 auf seine Rolle als Doyen des Steuerrechts in Deutschland konzentriert. Doch beschränkt sich sein Werk nicht auf technische und steuerrechtstheoretische Arbeiten. In Aufnahme der prägenden Debatten der Zwanziger Jahre bleibt das Finanzverfassungsrecht sein zweites wichtiges Forschungsgebiet. Für Bühler liegt hier eine bleibende Verbindung zur Staatsrechtslehre.
47 Ottmar Bühler, Verlorene Nachkriegs-Schlachten. Ein Beitrag zu der Frage: Warum kommen wir nicht weiter im Verhältnis zu Frankreich? (1932), S. 63. 48 Zu beidem unten VI. 49 Als weiterer Beleg Ottmar Bühler, Carl Schurz and the Revolution of 1848, in: The AmericanGerman Review, Bd. XIV (Juni 1948) Nr. V.
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Die Beschäftigung mit der Finanzverfassung belegt aber auch die Umsicht, mit der Bühler das Steuerrecht betreibt: nicht im isolierten Blick auf den Eingriff im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern unter steter Berücksichtigung des Steuergläubigers. Schon in der Weimarer Zeit zeigt sich das sensible Bemühen um eine Konkordanz finanzausgleichrechtlicher Desiderate und der Orientierung der Besteuerung am Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 134 WRV).50 Später ragt Bühlers Erstkommentierung der Artikel 105 bis 115 GG in dem Bonner Kommentar zum Grundgesetz heraus, die 1950 erscheint. Beide Epochen überspannt sodann ein im selben Jahr erscheinender Beitrag in der Festschrift für Richard Thoma zur Finanzgewalt im Wandel der Verfassungen.51
IV. Systematisierung des Steuerrechts – Verbindung mit der Steuerlehre Der größte Teil des wissenschaftlichen Werkes Ottmar Bühlers aber ist dem Steuerrecht gewidmet. Was für die Staatswissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Bemühen um eine Verrechtlichung des Steuerwesens war, ist für Ottmar Bühler ähnlich wie für seinen über 10 Jahre jüngeren Kollegen Albert Hensel und für wichtige Zeitgenossen aus der Staatspraxis, unter denen Enno Becker und Herbert Dorn herausragen, das Ringen um eine Systematisierung des jungen Reichssteuerrechts. Dieses Bemühen schlägt sich in dem Aufblühen der steuerrechtlichen Literatur nieder und lässt sich quer durch die unterschiedlichen Literaturgattungen beobachten – von Vollformen wie Lehrbüchern und Kommentaren über das Entstehen eigener Zeitschriften, Abhandlungen zum diskursiven Transport steuerrechtlicher Debatten und Probleme in nicht spezifisch steuerjuristische Vereinigungen, Aufbereitungen des ausländischen Rechts52 bis
50 Besonders deutlich in Ottmar Bühler, Artikel 134. Gleichheit der Lastenverteilung, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, Bd. 2 (1930), S. 313 ff. Zu den dort (S. 316) angestellten Überlegungen zu den kommunalsteuerlichen Folgen kommunaler Neugliederungen und Eingemeindungen auch Albert Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Gleichheit vor dem Gesetz, in: Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht 4 (1930), S. 441 ff. (473), Wiederabdruck in: Reimer/Waldhoff (oben Fn. 5), S. 245 ff. (276 f.). 51 Ottmar Bühler, Finanzgewalt im Wandel der Verfassungen, in: FS Richard Thoma (1950), S. 1 ff. 52 Prägend Ottmar Bühler, Die englische Einkommensteuer: ihr heutiger Stand und ihre Handhabung im Vergleich mit der deutschen Einkommensbesteuerung nebst Überblick über das ganze englische Steuersystem (1925). Zum international-steuerrechtlichen Wirken Bühlers unten VI.
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zu einer Vielzahl von Beiträgen in Verbandszeitschriften und in der Tages- und Wochenpresse. Bühler nutzt nahezu alle dieser Foren und Formen.
1. Theorie der Begriffsbildung? Das Staatsrechtslehrerreferat von 1926 Eine besondere Gelegenheit zu wissenschaftlicher Durchdringung und Prägung des Steuerrechts, aber auch zu seiner Verankerung in der Staatsrechtslehre bietet sich Bühler, als er 1926 im heimischen Münster als Zweitberichterstatter auf der dritten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer den Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts erörtern darf; den Erstbericht erstattet der Bonner Extraordinarius Albert Hensel.53 Doch beide rücken andere Fragen als die Theorie der Begriffsbildung in das Zentrum ihrer Vorträge – namentlich die Stellung des Steuerpflichtigen gegenüber dem Fiskus. Während Hensel in seinem Vortrag das Postulat einer Waffengleichheit im Steuerrechtsverhältnis und damit dessen schuldrechtlichen Charakter betont, wählt Bühler einen verwaltungsrechtlichen Ansatz und neigt dabei der auf Otto Mayer zurückgehenden klassischen Lehre von der Subordinationsbeziehung zu.54 Für das Verhältnis der steuerrechtlichen zur verwaltungsrechtlichen Dogmatik zeigt Bühler vor allem im Institut der Rechtskraft (Bestandskraft)55 und in den Maßstäben zur richterlichen Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen56 die hohe Bedeutung der Kodifikation von 1919 für die Fortentwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Er betont aber auch, wie wichtig die Verzahnung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs mit der Rechtsprechung der Strafgerichte für die Wahrung der Einheit der Rechtsordnung sei.57 Insgesamt wird das Staatsrechtslehrerreferat damit ein narrativ gehaltener, positiv gestimmter Bericht über wesentliche Inhalte der Abgabenordnung und ihr Funktionieren in der Staatspraxis. Die Rezeption des Referats bleibt daher übersichtlich. Anders als Hensel erfährt Bühler in der Diskussion von 1926 kaum Kritik und kaum Begeisterung.
53 VVDStRL 3 (1927), S. 102 ff. Spanische Übersetzung op. post. u. d. T. Albert Hensel/Ottmar Bühler, La influencia del derecho tributario sobre la construcción de los conceptos del derecho público, in: Hacienda Pública Española 22 (1973). 54 Bühler (oben Fn. 33), S. 105 ff. Vgl. zu diesem Gegensatz bereits Reimer/Waldhoff (oben Fn. 5), S. 66 f., 81 f. 55 Bühler (oben Fn. 33), S. 109 f. 56 Ebd., S. 112 f. 57 Ebd., S. 113 f.
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Im Unterschied zu Fragen der Finanzverfassung (1955, 1992, 2006, 2013) hat die Vereinigung nach den Referaten Hensels und Bühlers das Steuerrecht nie wieder zu einem prinzipalen Gegenstand ihrer Tagungen gemacht.58 Trotz hervorragender Laborbedingungen für dogmatisches Arbeiten erscheint die Theoriediffusion zwischen dem Steuerrecht und dem allgemeinen Staats- und Verwaltungsrecht – jedenfalls in der Wahrnehmung der jeweiligen Vorstandsmehrheiten – als mühsam. An Bemühungen, die Einheit der Wissenschaft vom öffentlichen Recht zu wahren, hat es aber auch seither nicht gefehlt. Ebenso wie Bühler sind zahlreiche Staatsrechtslehrer, die das Steuerrecht zu ihrem Hauptarbeitsgebiet gemacht haben, der Vereinigung verbunden geblieben. In der eigenen Forschungstätigkeit aber ist Bühler der erste in einer langen Reihe von Staatsrechtslehrern, die trotz eines enormen Schaffensdrangs das allgemeine öffentliche Recht mit den Jahren vernachlässigen und sich ganz auf das Steuerrecht und das Finanzverfassungsrecht verlegen, wiewohl die Wahrung der Einheit des Steuerrechts und seiner Wissenschaft mit der Staatsrechtslehre bleibende Aufgabe bleibt.
2. Schärfung praxisnaher Dogmatik Eckstein unter den Lehrbüchern aus der Feder Bühlers ist ein zweibändiges Werk, dessen ersten Band („Allgemeines Steuerrecht“) er erstmals 1927, drei Jahre nach Albert Hensels systematisch wegweisendem, wenn auch im Umfang deutlich knapperen „Steuerrecht“, veröffentlicht.59 Band 2 über das „Einzelsteuerrecht (Besonderer Teil des Steuerrechts)“ folgt 1938. Das Werk steht in der Tradition der Zeit, wenn es sich darum bemüht, mit der Dreiteilung von Personenrecht, Schuldrecht und Sachenrecht zivilrechtliche Strukturen auf das Steuerrecht zu übernehmen. Bühler geht hier aber weniger weit als Hensel und betont, die öffentlichrechtliche Natur des Steuerrechts gestatte die Übertragung zivilrechtlicher Institute nur unter großem Vorbehalt.60 Bemerkenswert ist wiederum die rechtstaatliche Ausrichtung des Lehrbuchs: Weil die Besteuerung ein hoheitlicher Eingriff in die ökonomische Freiheit des Einzelnen ist, bedürfen die materielle Ausgestaltung und Anwendung der Steuergesetze der Gleichmäßigkeit, die Gesetzesbindung verfahrensrechtlicher Absiche-
58 Allein Fragen des Einflusses der Grundrechte auf das Steuerrecht sind 1980 aufgegriffen worden. 59 Ausführliche Rezension von Strutz, in: AöR 17 (1929), S. 456–460. Zum Verhältnis der beiden Werke auch Flume (oben Fn. 18), S. 574. 60 So ausdrücklich auch Bühler (oben Fn. 17), S. 137.
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rung. Diese Klarheit ist 1927 modern, 1938 nicht mehr selbstverständlich. Sie lässt dieses Lehrbuch aber als einziges Werk von Rang den Krieg überdauern. Bühler verringert seinen Umfang zwar geringfügig, nennt das Werk nun „Grundriß“ und beginnt 1951 erneut mit einer ersten Auflage.61 Die drei in den fünfziger Jahren erscheinenden Auflagen bleiben in der Sache aber Lehrbücher klassischen Zuschnitts. Neu ist in der dritten (Nachkriegs-)Auflage die Beteiligung eines renommierten Kollegen: Nachdem er den zweiten Band („Einzel-Steuerrecht“) noch allein besorgt hat,62 überträgt er den ersten („Allgemeines Steuerrecht“) – offenbar nicht zuletzt auf Wunsch des Verlages63 –dem früheren Niedersächsischen Finanzminister und nun zum Kollegen gewordenen Georg Strickrodt.64 Der „Bühler/Strickrodt“ gilt bis in die 1960er Jahre hinein als „einziges Lehrbuch von wirklichem Rang“;65 Bühler und Strickrodt setzen mit dieser dritten Auflage Maßstäbe, die lange der Goldstandard steuerrechtlicher Gesamtdarstellungen bleiben. Von großer praktischer Bedeutung ist daneben Bühlers Abriss „Bilanz und Steuer“ von 1933, der sich rasch zu einem kleinen Lehrbuch mit zahlreichen Auflagen weiterentwickelt66 und erst in Brigitte Knobbe-Keuks Lehrbuch „Bilanzund Unternehmensteuerrecht“ ein Nachfolgewerk findet. Als dritter Baustein der steuerrechtlichen Breitenwirkung Bühlers in der Zeit der jungen Bundesrepublik ragt schließlich sein Lehrbuch „Steuerrecht der Gesellschaften und Konzerne“ heraus, das erstmals 1951 erschien. 1953 folgen eine zweite, 1956 eine dritte Auflage.
61 Ottmar Bühler, Steuerrecht. Bd. 1: Allgemeines Steuerrecht (1951); Bd. 2: Einzelsteuerrecht (1953). Zur materiellen Kontinuität mit dem Lehrbuch der Zwischenkriegszeit aber treffend Gerhard Wacke, FinArch N. F. Bd. 14 (1953/54), S. 202. 62 Bühler/Strickrodt, Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden, Bd. 2: Einzel-Steuerrecht, 3. Aufl. (1958). 63 Vgl. das Vorwort Strickrodts, in: Bühler/Strickrodt, Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden, Bd. 1: Allgemeines Steuerrecht, 3. Aufl. (1960), Vorwort. Der bereits 1958 erschienene Band 2: Einzel-Steuerrecht trägt auf den Umschlagseiten bereits die Autorenbezeichnung „Bühler/ Strickrodt“, nimmt darauf im Innern aber nicht Bezug und stammt allein aus der Feder Bühlers. 64 Zu Strickrodt (1902–1989), der von 1954–1971 den Darmstädter Lehrstuhl für Steuerrecht innehatte, Christian Flämig, Im Dienst für Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, in: JZ 1977, S. 317 f.; Nachlass aus seiner politischen Zeit: Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv für christlich-demokratische Politik, Bestand 01-085. 65 Klaus Vogel, Rezension der 3. Aufl. (1958/59), in: JR 1960, S. 479. 66 Ottmar Bühler, Bilanz und Steuer nach der jüngsten Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und der Aktiennovelle von 1931 (1933); später u. d. T. „Bilanz und Steuer bei der Einkommens-, Gewerbe- und Vermögensbesteuerung – unter Berücksichtigung der handelsrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Grundsätze, der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Reichsgerichts“ (1937; 6. Aufl. 1957 mit Peter Scherpf; 7. Aufl. op. post. 1971 betreut von Peter Scherpf).
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Weniger Engagement verwendet Ottmar Bühler auf die Literaturgattung des wissenschaftlichen Kommentars. Immerhin tritt er gemeinsam mit Heinz Paulick als Kommentator des Einkommen- und des Körperschaftsteuergesetzes hervor. Mit dem Großkommentar, der bis 1976 regelmäßig aktualisiert wird,67 stellen sich die Verfasser mit Verspätung dem Anfang der Fünfziger Jahre entbrannten Wettbewerb um neue, moderne Kommentierungen des sich stark ausdifferenzierenden Einkommensteuerrechts. Ihrem Werk ist aber nicht die Breitenwirkung beschieden, mit der sich andere Kommentare dauerhaft durchgesetzt haben.
3. Von der Steuerrechtswissenschaft zur Steuerwissenschaft Schon in Münster, offiziell dann aber in der Kölner und Münchener Zeit widerstrebt Bühler eine Konzentration seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auf die juristische Dogmatik, die er als zu eng empfindet. Bereits 1926 beklagt er, dass die juristische Verwaltungsrechtsmethode die alte Verwaltungslehre „völlig verdrängt“ habe. Er möchte einen Beitrag zum erneuten Aufleben dieses Wissenschaftszweiges leisten.68 Mit diesem Drang zu transdisziplinären Perspektiven gehört Bühler im Weimarer Methodenstreit zu den frühen Gegnern eines verwaltungsrechtlichen Positivismus.69 In der entstehenden Steuerrechtswissenschaft bildet er damit erneut den Gegenpol zu Albert Hensel. Nicht nur das klassische Verwaltungsrecht, sondern auch das sich verselbständigende Steuerrecht und seine Wissenschaft verändern im Zeichen einer primär zivilrechtlich inspirierten, damit letztlich intradisziplinären Systematisierung. Bühlers Unbehagen mit der Realität des Weimarer Staates scheint in seinem Unbehagen über diese Wendung der Wissenschaft nach innen eine Parallele zu finden. Bühler gibt der Empirie ihre Bedeutung zurück – zunächst im Verwaltungsrecht,70 später im Steuerrecht.71
67 Ottmar Bühler/Heinz Paulick, Einkommensteuer – Körperschaftsteuer nebst Durchführungsverordnungen (Loseblatt). Zu Paulick statt vieler Heinrich Wilhelm Kruse, NJW 1978, S. 930; ders., NJW 1983, S. 732; und Hugo von Wallis, FR 1983, S. 107. 68 Ottmar Bühler/Adolf Ley (oben Fn. 43), S. 127. 69 Vgl. später die Programmschrift von Walter Norden, Was bedeutet und wozu studiert man Verwaltungswissenschaft? (1933); dazu Michael Stolleis (oben Fn. 5), S. 370 ff. 70 Ottmar Bühler/Adolf Ley (oben Fn. 43), S. 149 ff.: groß angelegte Umfrage unter 400 westfälischen und rheinisch-westfälischen Wirtschaftsverbänden mit dem Ziel, Aufschluss über ihre räumlichen (regionalen) Zugehörigkeiten zu gewinnen. 71 Ottmar Bühler, Die leitenden Ideen des deutschen Steuerrechts, in: AöR N. F. Bd. 33 (1943), S. 122 ff. (128); vgl. auch Birk (oben Fn. 4), S. 282; und Ludwig Heßdörfer, Ottmar Bühler zum achtzigsten Geburtstag, in: StuW 1964, S. 400 (401).
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V. Gelehrter Aktivist und Wissenschaftsorganisator Vor, vor allem aber nach dem Krieg meldet sich Bühler daneben immer wieder mit kurzen publizistischen Beiträgen zu Wort. Er bedient dabei einerseits wirtschaftsnahe, oft von Unternehmern oder Fachkollegen aus der Ökonomie abonnierte Periodika.72 Präsent ist er aber auch in Tages- und Wochenzeitungen, so mehrfach in dem renommierten „Rheinischen Merkur“. Ein aktiver Begleiter des rechtspolitischen Zeitgeschehens ist Bühler auch insofern, als er früh die Nähe zu den Berliner Akteuren der Steuerpolitik sucht. 1920 lernt er auf der Kommunalen Woche in Münster den nur wenig jüngeren Herbert Dorn kennen, der in der von Johannes Popitz geleiteten Steuerabteilung des Reichsfinanzministeriums zunächst die zentrale Unterabteilung für allgemeine Rechtsangelegenheiten und Fragen der Abgabenordnung leitet, später dann selbst Abteilungsleiter und 1931 Präsident des Reichsfinanzhofs wird. In dem damals bereits virulenten Ringen der Reichsfinanzverwaltung um die Erfassung von aus der Schweiz stammenden Einkünften und dorthin verlagertem Vermögen deutscher Steuerpflichtiger beklagt Dorn die Weigerung der Schweiz, mit Deutschland über ein Rechtshilfeabkommen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen zu verhandeln. Bühler, der im Fehlen eines Informationsaustauschs eine zentrale Schwachstelle der neuen Reichssteuergesetze erkennt,73 unterbreitet Dorn ein ungewöhnliches Angebot: Er, Bühler, wolle als Wissenschaftler auf Kosten des Ministeriums in die Schweiz reisen, dort mit einigen ihm bekannten Bankiers, Geschäftsleuten, Anwälten und Wissenschaftlern sprechen, auf diese Weise Erkenntnisse auf die Fluchtwege deutschen Kapitals gewinnen und daraus anschließend in einem Gutachten für das Reichsfinanzministerium einige Handlungsempfehlungen ableiten.74 Dorn nimmt an. Im August 1920 zieht Bühler in der Schweiz zahlreiche Erkundigungen ein. Das anschließend verfasste Gutachten ist illusionslos: Politisch werde sich die Schweiz auch künftig einer Kooperation mit dem Deutschen Reich verweigern. Bühler erwägt den Einsatz deutscher Agenten, drängt auf eine Verbesserung von Steuermoral und Erklärungsbereitschaft der Auslandsdeutschen, schlägt aber auch im
72 Vgl. die Gesamtbibliographie (bis Mitte 1954) von Günter Felix, in: Armin Spitaler (Hrsg.), Probleme des Finanz- und Steuerrechts. FS Ottmar Bühler (1954), S. 279 ff. (291 ff.). 73 Ottmar Bühler, Technik und Durchführbarkeit der neuen Reichssteuergesetze, in: DJZ 1920, Sp. 675 ff. 74 Schreiben an das RFM vom 20.7.1920, in: BArch R 2/19677. Diesen Hinweis verdanke ich der Dissertation von Christoph Bräunig (oben Fn. 13), Kap. 2, Abschnitt A.III.3.
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Inland mögliche Verbesserungen wie namentlich die Kontrolle eines Mittelrückflusses beim Warenexport vor.75 Bis zu seinem Tod pflegt Bühler den Kontakt in das Ministerium. Mit der Errichtung eines wissenschaftlichen Beirats, zu dessen Gründungsmitgliedern er 1949 gehört, gewinnt er in Bonn die gewünschte Nähe zu den ministeriellen Entscheidungsträgern und damit auch die Gelegenheit zu einer Verknüpfung seiner Forschung und Lehre mit der Staatspraxis. Weniger wahrnehmbar ist Bühler dagegen als Wissenschaftsorganisator. Immerhin tritt er 1943 in den Kreis der Mitherausgeber der Archivzeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ ein und bleibt diesem Amt bis zu seinem Tod treu. Er gehört aber nie einem Vorstand der Vereinigung der Staatsrechtslehrer an – wie er auch sonst vor allem als akademischer Lehrer, Ratgeber und im Alter immer stärker als markanter Kritiker, nicht als Kollege wirkt.
VI. Internationale Öffnung 1. Bemühen um Außenkontakte in den Dreißiger Jahren Schon in der Zwischenkriegszeit tritt aber immer stärker das Feld des Steuervölkerrechts und der steuerlichen Rechtsvergleichung in die Aufmerksamkeit Bühlers. Mit dem Rückzug der rechtsstaatlichen Genauigkeit (auch) aus dem Steuerrecht verliert die juristische Dogmatik in erheblichem Maße an praktischer Bedeutung. Bühler bemüht sich zwar darum, das Steuerrecht in Deutschland normativ weiter zu prägen, erkennt aber offenbar selbst, wie gering in der Diktatur die Nachfrage nach Wissenschaft ist. In dieser Lage nimmt Bühlers Produktivität auf dem Feld des deutschen Steuerrechts ab. In dem Drang, sich neue Aufmerksamkeitsfelder zu erschließen, richtet er den Blick immer aufmerksamer nach außen. Er entwickelt als erster hauptamtlicher Hochschullehrer in Deutschland bereits in den 1930er Jahren ein ausgeprägtes Interesse an Fragen des Rechts der Doppelbesteuerungsabkommen. 1936 referiert er vor der Académie de Droit International in Den Haag über die internationalen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungsabkommen und bemüht sich intensiv um das Entstehen einer Internationalen Vereinigung für Steuer-
75 Ottmar Bühler, Ergebnisse der Erhebungen in der Schweiz. Gutachten vom 13.9.1920, BArch R 2/19677; zit. nach Bräunig (oben Fn. 13).
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recht.76 In diesem Geist unternimmt er 1937 eine große Studienreise in die Vereinigten Staaten. 1938 münden Bühlers Bemühungen in die Gründung der International Fiscal Association (IFA), die im Austausch und in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen von Anfang an das wichtigste weltweite Forum zur vergleichenden Aufbereitung und Darstellung nationalen Steuerrechts, aber auch zur praktischen Weiterentwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen und ihrer Methodologie wird.77 Diese Erfolgsgeschichte wird jäh durch die Vorbereitungen und den Ausbruch des Krieges unterbrochen. Im Jahr 1941 hält sich Bühler auf Einladung Griziottis zwar für einige Zeit in Pavia auf;78 insgesamt aber kommen die Auslandskontakte Bühlers für ein halbes Jahrzehnt zum Erliegen.
2. Verstärktes Engagement in der Nachkriegszeit Erst sobald das Reisen in der frühen Nachkriegszeit wieder möglich ist, wird die Rechtsentwicklung von einer Wiederöffnung der (west-)deutschen Rechtsordnung auf das Völkerrecht, die Aufnahme auslandsrechtlicher Impulse und die beginnende Europäisierung geprägt. Mit Macht treten die grenzüberschreitenden Phänomene und Rechtsinstitute auch im Leben und Oeuvre Bühlers in den Vordergrund. Das Internationale Steuerrecht rückt in seinen letzten Wirkungsjahren in das Zentrum Bühlers wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Nach Jahren des inneren Rückzugs unter erheblicher Beschränkung der Auslandskontakte kann Bühler vorsichtig an seine Korrespondenz- und Reisetätigkeit der Vorkriegszeit anknüpfen und seine Mitgliedschaft in der IFA wieder mit Leben füllen. Zu dem biographischen Nährboden für diese internationale Öffnung des schon in Deutschland höchst angesehenen Gelehrten bildet das sichtbare Engagement Bühlers um den Einzug oder Wiedereinzug deutscher Vertreter auf internationale Podien, ebenso aber um eine Reintegration der im Nationalsozialismus politisch deutschen Verfolgten Kollegen. Bühler gründet nach dem Krieg die Deutsche Vereinigung für Internationales Steuerrecht e. V. als deutsche Landesgruppe der IFA. Über lange Jahre ist er ihr Vorsitzender. Es dürfte sein Verdienst sein, dass die IFA ihren Weltkongress weniger als ein Jahrzehnt nach Kriegsende erstmals in Deutschland ausrichtet. Die Kölner Tagung von 1954 wird ein voller
76 Exemplarisch die Briefe Bühlers an den Finanzwissenschaftler Benvenuto Griziotti in Pavia, Bestand USPv DEPT A-3-1. Einem Brief ist eine Liste mit 16 potenziellen Gründungsmitgliedern der Vereinigung beigefügt. 77 Zur Geschichte der IFA v. a. dies., International Fiscal Association 1938–1988 (1988) m. w. N. 78 Brief Bühlers an Griziotti vom 31.12.1941, USPv DEPT A-3-1, Nr. 9617
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Erfolg. Generalberichterstatter ist Bühler selbst. In Anerkennung seiner Verdienste verleiht die IFA ihm bereits 1955 eine Ehrenmitgliedschaft – eine Auszeichnung, die in den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens nur sieben weiteren Persönlichkeiten zuteil geworden ist. Umgekehrt ist die Wiederaufnahme verfolgter und vertriebener Kollegen, die in der Zwischenkriegszeit das deutsche Steuerrecht begleitet und gestaltet haben, ein sichtbarer Ausdruck persönlicher Wertschätzung und politischer Verantwortung. Schon in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, der Bühler zu einer Stellungnahme nach Bonn einlädt,79 verweist dieser auf Herbert Dorn,80 der seit seiner Emigration als Professor in Neuengland lehrt. In den 1950er Jahren lädt Bühler Dorn dann persönlich in sein legendäres Münchner Seminar ein, ebenso wie den früheren Richter am Reichsfinanzhof und späteren Nürnberger Oberfinanzpräsidenten Rolf Grabower.81 Wissenschaftlich fällt eine bereits in der Dissertation angelegte und nun mit Macht wieder auflebende Intradisziplinarität in den Forschungsarbeiten auf. Einerseits öffnet sich Bühler dem Internationalen Privatrecht und dem Völkerrecht. Ausgehend von einem Beitrag in der Festschrift für Martin Wolff (1950)82 verfasst er die beiden umfangreichen Essays „Um die Prinzipien im internationalen Steuerrecht“ (1959)83 und „Internationales Steuerrecht und Internationales Privatrecht“ (1960).84 Andererseits bemüht er sich darum, aus seiner nun intimen Kenntnis des Steuervölkerrechts und seiner Methoden Impulse für die Durchdringung und Fortentwicklung des allgemeinen Völkerrechts zu geben.85 Seine Veröffentlichungen der Fünfziger und Sechziger Jahre dokumentieren deshalb nicht allein die wissenschaftliche Begleitung der jüngeren deutschen Rechtsentwicklung (etwa der Einführung einer unilateralen Anrechnung in § 34c EStG im Jahr 1956) und Abkommenspraxis. In ihnen schlagen sich vielmehr auch neuere Ent-
79 Ottmar Bühler, Akten des Parlamentarischen Rates, 9. Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen am 29.9.1948, abgedruckt in: Der parlamentarische Rat, 1948–1949: Ausschuss für Finanzfragen Nr. 10, S. 285 (287). 80 Oben Fn. 13. 81 Rädler (Fn. 25), S. 199. 82 Ottmar Bühler, Der völkerrechtliche Gehalt des internationalen Privatrechts, in: von Caemmerer (Hrsg.), Beiträge zum Zivilrecht und internationalen Privatrecht. FS für Martin Wolff (1952), S. 177 ff. 83 In: Archiv für Schweizerisches Abgaberecht Bd. 28 (1959), S. 321 ff. 84 Würdigung bei Flume (oben Fn. 18), S. 574. 85 Exemplarisch Ottmar Bühler, Internationales Steuerrecht rollt Völkerrechtsfragen auf, in: Karl Carstens/Hans Peters (Hrsg.), FS für Hermann Jahrreiss (1964), S. 33 ff.
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wicklungen des allgemeinen Völkerrechts, des Europarechts86 und – neben dem englischen87 – auch des französischen und US-amerikanischen Steuerrechts88 nieder. Die Aufmerksamkeitsspanne ist beeindruckend breit. Vor allem mit dem Vergleich des Internationalen Steuerrechts mit dem Internationalen Privatrecht schafft Bühler ein einzigartiges Spätwerk, das nicht allein die Summe seines bisherigen Wirkens ist, sondern an Neuigkeitswert und analytischer Kraft nach der Habilitationsschrift89 den zweiten Höhepunkt seines wissenschaftlichen Wirkens markiert.
3. Höhepunkt und Abschluss der wissenschaftlichen Arbeit: Die „Prinzipien“ Auf dieser Grundlage, sodann offenbar bereichert durch die Betreuung der Dissertation Albert Rädlers über die Bedeutung der EWG für das Steuerrecht ihrer Gründungsmitglieder,90 legt Bühler mit den „Prinzipien des Internationalen Steuerrechts“ schließlich im Jahr 1964 ein Alterswerk vor, mit dem er – vierzig Jahre nach dem großen Gutachten Herbert Dorns für den Heidelberger Juristentag von 192491 – die monographische Bearbeitung des Internationalen Steuerrechts als wissenschaftliches Teilgebiet des öffentlichen Rechts wieder eröffnet. Dieses Werk steht an der Schwelle zwischen bleibend moderner Prinzipienlehre, dem Bemühen um enzyklopädische Sammlung und bloßer Dokumentation jüngerer Rechtsentwicklungen. Gerade mit diesen Charakteristika wird das Werk ein Erfolg: Noch im Todesjahr Bühlers (1965) erscheint eine zweite Auflage; es erlangt unter den deutschsprachigen Lehrbüchern über ein Jahrzehnt eine unangefochtene Monopolstel-
86 Etwa Bühler, Kritisches über die Schranken des Umlagerechts der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: NJW 1961, S. 1287 ff.; und zuvor bereits der Debattenbeitrag in VVDStRL Bd. 18 (1959), S. 102 f. 87 Oben Fn. 52. 88 Etwa in Bühler, Art. „Steuerrecht, Internationales“, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., Bd. III (1962), S. 377 ff. 89 Oben II.1. 90 Albert J. Rädler, Die direkten Steuern der Kapitalgesellschaften und die Probleme der Steueranpassung in den sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1960). 91 Herbert Dorn, Welche Grundsätze empfehlen sich für das internationale Vertragsrecht zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung bei Einzelpersonen und Körperschaften, insbesondere bei gewerblichen Betrieben? Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages (1925), S. 495 ff.; sowie zusammenfassend Dorn, JW 1924, S. 1834 ff.
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lung. Man darf vermuten, dass dieser Erfolg nicht zuletzt dem breiten, nach Veröffentlichung des ersten OEEC-(OECD-)Musterabkommens im Jahr 1963 verstärkten Interesse einer breiten Fachöffentlichkeit geschuldet ist. Wissenschaftlich haben Bühlers „Prinzipien des Internationalen Steuerrechts“ den Jüngeren durchaus Raum für eigene wissenschaftliche Erkundungsgänge, dogmatische Entdeckungen und Präzisierungen gelassen. Nicht weniges von dem, was Bühler 1964 in dieser Monographie zusammenträgt, erscheint schon damals als thematisch zufällig und wissenschaftlich nicht voll reflektiert. Die Rezension des jungen Klaus Vogel in der Juristenzeitung hebt deshalb vor allem die Zubringerfunktion des Buches hervor: „man möchte […] jedenfalls hoffen, daß das vorliegende Werk Ottmar Bühlers dem Internationalen Steuerrecht, diesem ebenso reizvollen wie heute auch praktisch bedeutsamen Teilgebiet unserer Rechtswissenschaft, zahlreiche neue Interessenten wird zuführen können“.92 Die heterogene Aneinanderreihung theoretischer und praktischer Elemente, methodischer Durchdringung und eher deskriptiven Darstellungen einzelner Teilbereiche des Rechtsstoffs ist für den Arbeitsstil vieler auf Bühler folgender Steuerrechtswissenschaftler im deutschsprachigen Raum allerdings prägend geblieben. Gerade die seit Mitte der Siebziger Jahre vermehrt erscheinenden Lehrbücher zum Internationalen Steuerrecht stellen sich – bewusst oder unbewusst – in diese Tradition.
VII. Bleibende Bedeutung Nach einer Englandreise kehrt Bühler im Mai 1965 krank nach München zurück. Er soll sich nicht wieder erholen. Achtzigjährig stirbt er am 27. Mai in München. Seine letzte Ruhe findet er an der Ostmauer des Bogenhausener St.-Georgs-Friedhof, in unmittelbarer Nähe der Kirche, in der Alfred Delp kurz nach dem 20. Juli 1944 verhaftet worden ist – und in Nachbarschaft der Gräber mehrerer Präsidenten des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs, der nur einen Steinwurf entfernt liegt. Bühlers wissenschaftliches Erbe ist weit verzweigt. Äußerlich ist das überraschend: Denn der akademische Stammbaum weist ihn zwar als Lehrer Georg Erlers und Hans-Jürgen Schlochauers aus, doch Erler ist in Münster an der Habilitation gescheitert,93 und Schlochauer ist materiell eher Karl Strupp als Bühler zuzuordnen. Bühler weit zeitlebens ein Solitär. Er fühlte sich nicht als Teil einer
92 Klaus Vogel, JZ 1965, 381. 93 Oben Fn. 9.
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akademischen Dynastie. Tatsächlich aber nimmt mit wachsendem Abstand zu seinem Tod die Zahl derer, die in seiner Tradition stehen und sich engagiert auf ihn berufen, stetig zu. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre pflegt vor allem sein Schüler und letzter Mitarbeiter, der Betriebswirt Albert Rädler, der Bühler schon zu Lebzeiten eine große fachliche Stütze gewesen ist, dessen Werk. Das zeigt sich namentlich in der Erschließung des jungen Europäischen Gemeinschaftsrechts für das Recht der direkten Steuern: Bereits vor 1957 hatte Bühler hellsichtig für eine Angleichung der Steuersysteme der Europäischen Staaten plädiert. In ihr sah er „für die nächste Jahre eine neue sehr große Aufgabe“.94 Vor vielen anderen löst Albert Rädler dieses Vermächtnis ein. Rädler ist es auch, der die Forschungstelle – offenbar ähnlich informell, wie Bühler sie in München gegründet und betrieben hatte – nach Bühlers Tod an die noch in Gründung befindliche Universität Regensburg transferiert, die ihm 1966 einen Lehrauftrag erteilt. Offenbar noch auf eine Initiative Bühlers geht eine neue Schriftenreihe zurück, die an der Forschungstelle angesiedelt und unter der Ägide Rädlers verwirklicht wird: Sie erschließt in kurzen Monographien über die „Besteuerung deutscher Privatinvestitionen in …“ das Steuerrecht ausgewählter Entwicklungsländer.95 Das Interesse Bühlers an der Durchdringung des Internationalen Steuerrechts teilt bereits der junge Klaus Vogel, der sich – weit über seinen Lehrer Gerhard Wacke hinaus – mit Fragen von Theorie und Praxis der Doppelbesteuerungsabkommen, aber auch zahlreichen Verfassungsfragen des innerstaatlichen Steuerrechts befasst hat und 1977 die Münchner Tradition mit der Neugründung einer – nun universitätsoffiziellen – Forschungstelle für ausländisches und internationales Finanz- und Steuerrecht aufgreift. Ebenfalls in der rechtswissenschaftlichen Tradition Bühlers steht mit Heinz Paulick96 der akademische Lehrer Heinrich Wilhelm Kruses, der seinerseits bis in die Neunziger Jahre hinein als Bochumer Ordinarius den Selbststand des Steuerrechts als juristisches Fach zwischen Verwaltungsrecht, Staatsrecht und Privatrecht verkörpert und wiederum bedeutende, das Steuerrecht der Gegenwart in hohem Maße prägende Hochschullehrer hervorgebracht hat. Über Bühlers Koautor Georg Strickrodt führt eine akademische Linie an die Technische Hochschule (heute: TU) Darmstadt, an der sich eine bedeutende steuerrechtliche Tradition entwickelt. Vor allem
94 So bereits der Schlusssatz in Ottmar Bühler, Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden, Bd. 2: Einzel-Steuerrecht, 2. Aufl. (1953), S. 351. 95 Nigeria (Bd. 1: Albert Rädler/Manfred D. Sommerer, 1967); Pakistan (Bd. 2: Hans-Werner Hauck/Albert Rädler, 1967); Chile (Bd. 3: R. J. Northmann, 1967); Philippinen (Bd. 4: Lotti Mählmann, 1967); Marokko (Bd. 5: Dietmar Ahrndsen, 1967); Griechenland (Bd. 6: Lotti Mählmann, 1969); Israel (Bd. 7: Ernst W. Klimowsky/Albert J. Rädler, 1969). 96 Oben Fn. 67.
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aber sind es die blühenden Institute für Steuerrecht in Münster und Köln, die das Erbe ihres gemeinsamen Gründers Ottmar Bühler ehren und pflegen. Daher wird man in Bühler nicht nur den Mitbegründer und Doyen einer eigenständigen Steuerrechtswissenschaft in Deutschland97 sehen können.98 Institutionell und in seinem Habitus steht er auch am Beginn der akademischen Ahnenreihe eines großen Teils der heutigen deutschen Steuerrechtswissenschaftler. Damit gewinnt er stammväterliche Züge, ohne dies selber geahnt zu haben. Es ist Bühler, der das Steuerrecht aus der früheren systematischen Einordnung in das Verwaltungsrecht hinausgeführt hat, ohne aber die rechtsstaatlichen Gemeinsamkeiten mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht aufgegeben zu haben. Seine verwaltungsrechtlichen und verwaltungsprozessualen Forschungen aus dem späten Kaiserreich haben in Weimar nichts von ihrer Aktualität verloren.99 Ihr rechtsstaatlicher und rechtsvergleichender Grundzug, aber auch der Anschluss des innerstaatlichen Rechts an das Völkerrecht beeinflussen auch Bühlers steuerrechtliches Werk, das sich deshalb seinerseits nach der Weimarer Zeit und spürbarer Zurückhaltung im Nationalsozialismus100 in der jungen Bundesrepublik fortsetzt und auflebt. Bei aller Praxisnähe, die das Oeuvre prägt, sind Bühlers Arbeiten breit und grundsätzlich, ihre Halbwertzeit lang. Dazu trägt neben der Wahl ihrer Themen vor allem sein Zugriff bei. Seine Schriften sind von Aufrichtigkeit und Klarheit geprägt. Was für ihn gilt, gilt deshalb auch für das wissenschaftliche Werk: Erstaunlich altersresistent, überspannt es drei Epochen.
Auswahlbibliographie Die Zuständigkeit der Zivilgerichte gegenüber der Verwaltung im württembergischen Recht und ihre Entwicklung seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Lehre von der Abgrenzung von Justiz und Verwaltung. Tübinger staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 16 (1911) Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung (1914) Die Reichsverfassung vom 11. August 1919. Mit Einleitung, Erläuterungen und Gesamtbeurteilung (1922) Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts. Mitbericht, in: VVDStRL Bd. 3 (1927), S. 102 ff.
97 Karl M. Hettlage, Ottmar Bühler +, in: AöR Bd. 90 (1965), S. 379 f. 98 Hettlage (Fn. 97), S. 380; und zuletzt Birk (oben Fn. 4). 99 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (1992), S. 376. 100 Treffend Werner Flume (Fn. 18), S. 574.
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Artikel 134. Gleichheit der Lastenverteilung, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 2 (1930), S. 313 ff. Les Accords Internationaux Concernant la Double Imposition et l’Évasion Fiscale, Recueil des Cours de l’Académie de Droit Internationale de la Haye, Bd. 46 (1936 I), S. 433 ff. Die leitenden Ideen des deutschen Steuerrechts, in: AöR N. F. Bd. 33 (1943), S. 122 ff. Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden, Bd. 1: Allgemeines Steuerrecht (1951) Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden (gemeinsam mit Georg Strickrodt), Bd. 2: EinzelSteuerrecht (1958). Um die Prinzipien im internationalen Steuerrecht, in: Archiv für Schweizerisches Abgaberecht Bd. 28 (1959), S. 321 ff. Internationales Steuerrecht und Internationales Privatrecht (1960) Prinzipien des Internationalen Steuerrechts (1964; 2. Aufl. 1965)
Sekundärliteratur Dieter Birk, Ottmar Bühler (1884–1965) – sein Einfluss auf die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft in Münster und Köln, in: StuW 2013, 280 ff. ders., Das Steuerrecht in Münster: Ottmar Bühler (1884–1965), in: Thomas Hoeren (Hrsg.), Münsteraner Juraprofessoren (2014), S. 130 ff. Werner Flume, Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag, FR 1984, S. 573 f. Ludwig Heßdörfer, Ottmar Bühler zum achtzigsten Geburtstag, StuW 1964, Teil I, Sp. 401 ff. ders., Ottmar Bühler zum Gedächtnis, StuW 1965, Teil I, Sp. 449 f. Simon Kempny/Henning Tappe, Ottmar Bühler: Meine Stellung zum Nationalsozialismus. Historische Betrachtung aus Anlass des 125. Geburtstages von Ottmar Bühler und des 75jährigen Jubiläums des Instituts für Steuerrecht in Münster, in: StuW 2009, S. 376 ff. Alfons Pausch, Ottmar Bühler. Hauptwegbereiter der akademischen Steuerrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur (1992), S. 120 ff. Hans Peters, Rede anläßlich der Gedächtnisfeier für Ottmar Bühler am 23. November 1965. Kölner Universitätsreden N. F., Bd. 35 (1966) Albert J. Rädler, Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag, in: FR 1984, S. 573 ders., Ottmar Bühler, in: Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck (1988), S. 195 ff. ders./Arndt Raupach (Hrsg.), Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag (1984) Georg Strickrodt, Nachruf. Ottmar Bühler +, in: JZ 1965, S. 503 Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1 (1993), S. 39
XVIII Walter Jellinek (1885–1955) Martin Schulte Jedem Studenten der Rechtswissenschaft ist Georg Jellinek bestens bekannt. In der Erstsemestervorlesung zu den „Grundrechten“ hat er von seiner „Statuslehre“ und in derjenigen zum „Staatsorganisationsrecht“ von seiner „Drei-ElementenLehre“ gehört. Leider gilt dies nicht in gleicher Weise für Walter Jellinek; er teilt vielmehr zumindest ein Stück weit das Schicksal der Söhne großer Väter. Dies ist umso bedauerlicher als es mit Walter Jellinek einen bedeutenden Staats- und Verwaltungsrechtler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ehren gilt. Walter Jellinek1 wird am 12. Juli 1885 in Wien geboren. Dem Studium der Rechtswissenschaft widmet er sich in Heidelberg, Freiburg und Berlin. Die erste juristische Staatsprüfung legt Jellinek 1907, die zweite juristische Staatsprüfung 1911 ab. Schon 1908 wird er unter der Betreuung von Paul Laband mit einer Arbeit zum Thema „Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen“ in Straßburg promoviert. Nur vier Jahre später habilitiert sich Jellinek – betreut von Otto Mayer – an der Juristenfakultät Leipzig mit einer Schrift zum Thema „Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung“. Nach wiederum nur zwei Semestern Vorlesungstätigkeit an seiner alma mater wird Jellinek 1913 planmäßiger Extraordinarius in Kiel und dort auch unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1919 Ordinarius in der Nachfolge Wilhelm von Calkers. In den Jahren 1928/29 bekleidet er das Amt des Rektors der Universität Kiel. Noch 1929 folgt Jellinek dann aber in der Nachfolge Richard Thomas einem Ruf auf den Lehrstuhl seines Vaters an die Universität Heidelberg. In der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kommt Jellineks Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrechts angesichts seiner „rassejüdischen“ Abstammung2 weitgehend zum Erliegen; er widmet sich deshalb verstärkt dem internationalen Recht, u. a. mit einer preisgekrönten Schrift zum Thema „Die zweiseitigen
1 Die nachfolgenden biographischen Angaben stützen sich auf H. H. Klein, Walter Jellinek, in: NDB 10 (1974), 394 f. und o. Verf., Walter Jellineks Lebensweg, in: O. Bachof/M. Drath/O. Gönnenwein/E. Walz (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Walter Jellinek (Forschungen und Berichte aus dem Öffentlichen Recht, Bd. 6), München 1955, S. 645 f. 2 Siehe dazu ausführlich und instruktiv Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, 1998, S. 428 ff.; ders., Ein Rechtsprofessor im Konflikt mit der NS-Rassengesetzgebung: der Fall Walter Jellinek, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1998, 305 ff.
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Staatsverträge über die Anerkennung ausländischer Zivilurteile“, die erst 1953 erscheinen kann. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs beteiligt sich Jellinek intensiv am Wiederaufbau der Heidelberger Universität, nimmt 1946 seine Lehrtätigkeit wieder auf und gehört lange Zeit dem akademischen Senat als Mitglied an. Auch die „Wiederbelebung“ der 1933 „stillgelegten“ Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ist maßgeblich mit seinem Namen verbunden.3 Über den rein wissenschaftlichen Bereich hinaus ist Jellinek ferner in der rechtspraktischen Beratung des Staates und seiner Organe wirkungsmächtig geworden. Besonders hervorzuheben ist insoweit seine Funktion als Vorsitzender der Arbeitskommission, die den sog. „Heidelberger Entwurf“ zu den süddeutschen Verwaltungsgerichtsgesetzen erstellte. Jellinek arbeitet auch im Ausschuss zur Vorbereitung der Hessischen Verfassung mit, ist Mitglied der Wahlrechtskommission des Bundesinnenministeriums sowie Richter an verschiedenen Gerichten (insb. am Württemberg-Badischen Verwaltungsgerichtshof, am Württemberg-Badischen Staatsgerichtshof und am Bremischen Staatsgerichtshof). Nach einem erfüllten Leben, das Jellinek vom evangelischen Christentum geprägt und als Familienvater von fünf Kindern führen durfte, verstirbt er am 9.6. 1955 in Heidelberg. Ganz ohne Zweifel ist uns Jellinek heute vor allem als renommierter Verwaltungsrechtler bekannt. Dazu hat sicherlich in besonderer Weise sein Lehrbuch zum Verwaltungsrecht – die „große des Verwaltungsrechts der Weimarer Republik“4 – beigetragen. Und dennoch muss Jellinek auch als auf die Grundlagen und Grundfragen des Rechts und der Rechtswissenschaft bedachter Staatsrechtler sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Dargestellt sei dies – bevor ich mich seinem verwaltungsrechtlichen Werk zuwende – am Beispiel zweier kleinerer Monographien, die aus Anlässen hervorgegangen sind, denen im Leben eines jeden Wissenschaftlers – so sie ihm vergönnt sind – herausragende Bedeutung zukommt. Zum einen handelt es sich um die Rede Jellineks beim Antritt seines Rektorates der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 5.3.1928, die den Titel „Schöpferische Rechtswissenschaft“ trägt;5 zum anderen geht es um seine am 14.2.1931 in der Universität Heidelberg gehaltene Antrittsrede mit dem Titel „Grenzen der Verfassungsgesetzgebung“.6 Beide Schriften vermitteln einen nachhaltigen Eindruck davon, wie sehr sich Jellinek als Staats- und Verwaltungs-
3 Siehe dazu Stolleis, Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, KritV 80 (1997), 339, 346 ff. 4 So ausdrücklich ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 238. 5 Jellinek, Schöpferische Rechtswissenschaft, Kiel 1928, 22 Seiten. 6 Ders., Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, Berlin 1931, 27 Seiten.
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rechtler gerade auch den historischen und theoretischen Grundlagen des Rechts und der Rechtswissenschaft verpflichtet wusste. In seiner Rektoratsrede beschäftigt Jellinek eine Frage der „juristischen Wissenschaftslehre“, nämlich das „Problem der Möglichkeit einer schöpferischen Rechtswissenschaft“.7 Dabei erweist er sich als fundierter Methodenlehrer des Rechts und der Rechtswissenschaft. Ihren Ausgangspunkt nehmen seine Überlegungen in einer Dreiteilung des Juristen in Entscheidungs-, Beziehungs- und Tatjuristen.8 Dem Entscheidungsjuristen gehe es um die Entscheidung von Rechtsfällen. Zu ihnen zählt Jellinek vor allem Richter, Verwaltungsbeamte, Anwälte, Staatsanwälte und juristische Gutachter, aber auch die Rechtslehrer. Dem Entscheidungsjuristen stehe der Beziehungsjurist gegenüber, der die Beziehungen des Rechts im Sinne logischer Relationen analysiere. Er finde sich insbesondere in den Fachvertretern der Rechtsgeschichte, Vergleichenden Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und in der „wissenschaftlichen Politik“. Anliegen des Tatjuristen sei schließlich die „Erzielung von Wirkungen auf das Recht oder im Zusammenhang mit dem Rechte“. Zu diesem Juristentypus gehören für Jellinek der Gesetzgeber, Verwaltungsbeamte, Notar, Syndikus und der juristische Lehrer. Unter den drei Juristentypen bereite die Frage des Schöpferischen beim Entscheidungsjuristen besondere Schwierigkeiten, weil es ihm doch eigentlich „nur“ um die „Findung des Rechts“ gehe. Als Leitmotiv der (richterlichen) Rechtsfindung entwickelt Jellinek dabei das Ideal der „größten Aussicht auf Einhelligkeit“.9 Ein Gedanke, den die moderne Methodenlehre des Rechts und der Rechtswissenschaft zwar weitgehend hinter sich gelassen hat, der uns aber heute zumindest noch in der nach wie vor geläufigen juristischen Redewendung von der „einhelligen Rechtsauffassung“ begegnet. Das Ideal der Einhelligkeit definiert nach Auffassung Jellineks auch mit Blick auf den Entscheidungsjuristen das Schöpferische der Rechtswissenschaft. Dies sei nämlich dadurch bestimmt, dass die Rechtswissenschaft „durch neue Gedanken die Einhelligkeit künftiger Entscheidungen begünstigt“,10 wobei der neue Gedanke, sobald er sich durchgesetzt habe, bereits als selbstverständlich erscheine.11 Allerdings gelange der schöpferisch neue Gedanke nicht immer sogleich zur Wirkung. Dies mache innerhalb des Entscheidungsjuristen noch einmal eine Differenzierung zwischen
7 Ders., Schöpferische Rechtswissenschaft, S. 4. 8 Zum Folgenden ders., ebd., S. 6 ff. 9 Ders., ebd., S. 9. 10 Ders., ebd., S. 17. 11 Ders., ebd., S. 19.
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Gegenwarts- und Zukunftsjuristen erforderlich. Ein solcher Gegenwartsjurist erster Güte, den „eine unglaubliche Treffsicherheit für die im Augenblicke des Urteilens richtige Entscheidung“ kennzeichne, sei z. B. Paul Laband, während zu den Zukunftsjuristen, die ihre wirkliche Anerkennung erst nach ihrem Tode fänden, vor allem Albert Hänel zähle.12 Losgelöst von solchen Einordnungen sei beiden Juristentypen aber mit größter Achtung zu begegnen. Jellineks Überlegungen zur schöpferischen Rechtswissenschaft gipfeln schließlich in einem über die Juristenzunft hinausweisenden pädagogischen Memento, nämlich dem Plädoyer für einen möglichst von Juristen getragenen Rechtskundeunterricht in der Schule. Ein Modell, das in der Moderne jedenfalls grundsätzlich Schule gemacht hat. Neben unterschiedlichen Zielen, wie beispielsweise denen einer Überbrückung des Gegensatzes zwischen Volk und Richter, einer stärkeren Anteilnahme der öffentlichen Meinung an Rechtsfragen und einer frühzeitigen Auslese künftiger Juristen, geht es Jellinek dabei vor allem um die „Weckung schlummernder Kräfte für die Neugestaltung verbesserungsbedürftiger rechtlicher Einrichtungen“. Zu denken sei hier insbesondere an Mängel im Wahlverfahren, das problematische Verhältnis der Regierung zur Volksvertretung und an Disparitäten in den Beziehungen von Reich und Ländern.13 Zur Bewältigung dieser Probleme bedürfe es neben „politischer Erleuchtung“ auch eines „gewissen Mindestmaßes an juristischem Verständnis“.14 Vergleichbar – staatsrechtlich – grundlegender Natur sind Jellineks Überlegungen in seiner Heidelberger Antrittsrede zu den „Grenzen der Verfassungsgesetzgebung“. Er greift dabei in der Lehrstuhlnachfolge seines Vaters eine Thematik auf, die mit diesem über seine „Drei-Elementen-Lehre“ in ganz besonderer Weise verbunden ist, nämlich die Frage nach den Grenzen der Staatsgewalt. Anlass dieser Frage nachzugehen sieht Jellinek deshalb, weil es nach Auffassung von Teilen der Staatsrechtslehre nicht nur zulässig sein solle, Verwaltungsakte auf ihre Gesetzmäßigkeit und einfaches Gesetzesrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, sondern darüber hinaus auch verfassungsändernde Gesetze auf die Zulässigkeit der Verfassungsänderung. Pointiert formuliert laute die entscheidende Frage, „ob es wirklich angeht, auch der höchsten, noch über dem einfachen Gesetzgeber stehenden Staatsgewalt Fesseln anzulegen, ob es neben der … so benannten ‚Gesetzesdämmerung‘ auch noch so etwas wie eine Verfassungsdämmerung geben kann“.15
12 Ders., ebd., S. 20. 13 Ders., ebd., S. 21 f. 14 Ders., ebd., S. 22. 15 Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, S. 3 f.
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Nach Auffassung Jellineks lässt sich die Frage nur mit Blick auf die Art der Schranken beantworten, denen der Verfassungsgesetzgeber unterworfen ist. In diesem Zusammenhang arbeitet er eine subtile Differenzierung zwischen heteronomen (von einem äußeren Willen herrührenden), autonomen (von der Verfassung selbst gewollten) und absoluten (von jedem Willen losgelösten, im Wesen des Rechts begründeten) Schranken heraus. Zu den heteronomen Schranken zählt Jellinek dabei solche staats- und völkerrechtlicher Art. Staatsrechtliche Schranken seien in den bundesstaatlichen Verhältnissen, z. B. im Grundsatz „Reichsrecht bricht Landesrecht“, zu finden. Für den Bundesstaat selbst hingegen könne es solche staatsrechtlichen Schranken nicht geben, weil es zum „Wesen der Souveränität“ eines Staates gehöre, dass staatsrechtliche Anordnungen ihm gegenüber nicht möglich seien. Allerdings unterliege auch der souveräne Staat völkerrechtlichen Bindungen, die jedoch mit der Schwäche behaftet seien, dass sie für das innere Recht des Staates nur sein Dürfen, nicht aber sein Können einschränken.16 Von autonomen Schranken der Verfassungsgesetzgebung zu reden, setze demgegenüber voraus, dass es eine ordentliche Form der Verfassungsänderung gebe, aber nicht jede Art der Verfassungsänderung in der ordentlichen Form zulässig sei. Noch genauer gesagt liege eine autonome Schranke dann vor, „wenn kraft ausdrücklichen oder stillschweigenden Willens der Verfassung jener ordentliche Weg der Verfassungsänderung nicht immer ausreichte, um die Verfassung gültig zu ändern“.17 In diesem Sinne seien unterschiedliche Erscheinungsformen autonomer Schranken anzuerkennen: eine Erschwerung der äußeren Form der Verfassungsänderung, eine Beschränkung der Zulässigkeit von Verfassungsänderungen durch das Erfordernis der Allgemeinheit der Anordnung, eine Erschwerung des Verfahrens von Verfassungsänderungen für bestimmte Gegenstandsbereiche (z. B. mit Blick auf Volksbegehren und Volksentscheid) und schließlich eine gegenständliche Beschränkung, die bestimmte Regelungsbereiche der Verfassung überhaupt einer Änderung entzieht.18 Zu bedenken ist aber nach Ansicht Jellineks, dass sämtliche autonomen Schranken letztlich durch einen möglicherweise zwar erschwerten, aber grundsätzlich zulässigen Akt der Verfassungsgesetzgebung selbst beseitigt werden könnten. Besondere Schwierigkeiten wirft für Jellinek schließlich die Frage nach den absoluten Schranken von Verfassungsänderungen auf. Da es sich nur um Rechtsschranken handeln könne, müssten diese mit dem „Wesen des Rechts“ zusam-
16 Ders., ebd., S. 5 f. 17 Ders., ebd., S. 7. 18 Ders., ebd., S. 8 ff.
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menhängen. Und zu diesem Wesen des Rechts im juristischen Sinne gehöre seine „Geltung“, was die Fähigkeit zur Durchsetzung bedeute. Recht, das sich nicht durchsetzen könne, sei nämlich nicht etwa unvollkommenes Recht, sondern überhaupt kein Recht.19 Jellinek thematisiert damit eine bis heute fortwirkende Grundfrage der modernen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie.20 Dass sie nicht nur ihn, sondern beachtliche Teile der Rechtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, lässt sich nicht zuletzt dadurch belegen, dass es bei Max Ernst Mayer – stark metaphorisch aufgeladen – heißt: „Wie ein aufgescheuchter Vogel flattert der Begriff des Geltens durch die Rechtsphilosophie, in jedem Teil hat er sich schon niedergelassen und nirgends hat er Ruhe gefunden.“21 In eine durchaus ähnliche Richtung – allerdings erheblich nüchterner und abgeklärter – zielt Karl Larenz: „Die Frage nach der Geltung des Rechts, ihrer Bedeutung, ihrem Grunde und ihren Grenzen ist eine jener nie zur Ruhe kommenden Fragen, die immer wieder erneut zum Nachdenken herausfordern.“22 Anlass zum Nachdenken über das Problem der Geltung des Rechts sieht Jellinek vor allem deshalb, weil jede Verfassung ausdrücklich oder stillschweigend das unbedingte Verbot einer sich durchsetzenden Revolution, gleichsam ihren Ausnahmezustand, enthalte. Die „geglückte Revolution“ aber sei stärker als das Verbot derselben und deshalb das „sinnfälligste Beispiel für eine absolute Schranke der Verfassung.“23 Als weitere absolute Schranken „allgemeinster Art“ benennt Jellinek „die Grenze des menschlichen Verstehens“, die „Möglichkeit eines Missverständnisses“ sowie „reale und logische Unmöglichkeiten“.24 Was die Beachtung dieser absoluten Schranken durch die Rechtsprechung und die Reichsregierung, insbesondere den Reichspräsidenten, anbelange, sei allerdings eine interessante Beobachtung zu machen. Es gebe nämlich die Tendenz, die „absoluten Schranken der Verfassung auf den autonomen Willen der Verfassung“ selbst zurückzuführen. Dieser „allgemeine Zug zur Autonomisierung aller Verfassungsschranken“ sei insofern bemerkenswert als er mit einer „Idealisierung der Verfassung“ einhergehe.25 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass Jellinek, der uns ausweislich seines Gesamtœuvres sicher-
19 Ders., ebd., S. 14. 20 Siehe dazu eingehend Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, S. 46 ff. 21 Mayer, Rechtsphilosophie, 1922, S. 56. 22 Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung (1929), Nachdruck 1967, S. 46. 23 Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, S. 15. 24 Ders., ebd., S. 18–24. 25 Ders., ebd., S. 25 ff.
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lich zu allererst als renommierter Verwaltungsrechtler begegnet, mit seinen Forschungen auf einem breiten und tiefgehenden Fundament in den Grundlagen und Grundfragen des Rechts und der Rechtswissenschaft aufruht. Für einen möglichst umfassenden Gesamteindruck vom Wirken und Werk des Staats- und Verwaltungsrechtlers Jellinek dürfte dies vielleicht nicht unerheblich gewesen sein, wenngleich unsere Aufmerksamkeit im Folgenden verständlicherweise schwerpunktmäßig seinen verwaltungsrechtlichen Forschungen gelten soll. Bevor dabei ausführlich auf sein Standardlehrbuch zum „Verwaltungsrecht“ eingegangen wird, erscheint mir besonders hervorhebenswert, dass Jellinek schon früh und dann überaus nachhaltig das Verwaltungsprozessrecht beschäftigt hat. Seinen Ausgangspunkt hat dieses Interesse in seinem Bericht auf der Staatsrechtslehrertagung 1925 zum Thema „Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte (Fortschritte, Rückschritte und Entwicklungstendenzen seit der Revolution)“ gefunden. Nach einer eingehenden Darstellung der Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit, bei der sich Jellinek als subtiler Kenner gerade auch des Landesrechts erweist, stehen der „Schutz rein oder überwiegend objektiven Rechts“ sowie der „Schutz subjektiver Rechte“ im Mittelpunkt seiner Überlegungen.26 Wirft man in diesem Zusammenhang schon einmal einen Blick in sein 1928 in erster Auflage (2. Aufl., 1929; 3. Aufl., 1931) erschienenes Lehrbuch zum „Verwaltungsrecht“, so wird ersichtlich, dass die §§ 4 (Überblick über die Verwaltungsorganisation), 9 (Die Rechtsverhältnisse in der Verwaltung. Öffentliche Pflichten und Rechte), 13 (Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte) und 15 (Verwaltungszwang und andere Mittel zur Verwirklichung des staatlichen Willens) ihr Fundament in Jellineks Staatsrechtslehrervortrag aus dem Jahre 1925 finden. Mit dem Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hat Jellinek seinen theoretischen Forschungen auch praktische Taten folgen lassen. Im Jahre 1945 hat er nämlich auf Anregung der amerikanischen Militärregierung den Vorsitz der Arbeitskommission übernommen, die 1946 den sog. „Heidelberger Entwurf“ zu den süddeutschen Verwaltungsgerichtsgesetzen vorlegte. Dabei handelte es sich praktisch um den „Grundstein“ der heutigen Verwaltungsgerichtsordnung.27 Jellineks nachhaltige Arbeit am Verwaltungsprozessrecht in Wissenschaft und Praxis hat vermutlich auch den Deutschen Juristentag bewogen, ihn 1950 um das
26 Jellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte (Fortschritte, Rückschritte und Entwicklungstendenzen seit der Revolution), VVDStRL 2 (1925), 8 ff. 27 Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Loseblatt Std. 2012, Einleitung Rn. 90.
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Referat zum Thema „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit. In welcher Weise empfiehlt es sich, die Gesetzgebung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu vereinheitlichen?“ zu bitten. Jellinek plädiert dabei u. a. für eine Regelung der gesamten Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Bundesgesetz, für die inhaltliche Abstimmung von Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren aufeinander und für das Bundesverwaltungsgericht als Berufungs- oder Revisionsgericht.28 Die zehn Jahre später in Kraft getretene Verwaltungsgerichtsordnung und unser heutiges Verwaltungsverfahrensgesetz tragen damit nicht zuletzt auch seine Handschrift. Neben dem Verwaltungsprozessrecht verbindet sich der Name Jellinek aber vor allem und zu Recht mit seinem Lehrbuch „Verwaltungsrecht“. Über seinen Aufbau und seine Systematik gibt das Werk selbst Auskunft. Nach Auffassung Jellineks ist die Verwaltungsrechtswissenschaft noch zu jung, um bereits ein anerkanntes System des Verwaltungsrechts entwickelt zu haben. Sinn und Zweck jedes Systemdenkens sei es aber, „dem Lernenden und Rat Suchenden den Überblick über das Ganze zu veranschaulichen und zu vereinfachen.“29 In diesem Sinne gliedert er sein Lehrbuch in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Eigentlich liegt ihm aber eine klassische Dreiteilung zugrunde, da Jellinek nämlich seinem AT und BT eine äußerst umfängliche „Einleitung“ voranstellt (in der 3. Auflage immerhin 115 Seiten). Hier entfaltet er die Grundlagen von Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft. Bei Lichte besehen dürfte Jellineks „Einleitung“ zu seinem „Verwaltungsrecht“ vielleicht sogar die perspektivisch weitreichendste Bedeutung in seinem Lehrbuch zukommen. Dies zum einen deshalb, weil er zunächst unverzichtbare und in dieser Weise bis dahin kaum geleistete begriffliche Grundlagenarbeit verrichtet. Dies gilt etwa für die Unterscheidung von öffentlicher und fiskalischer sowie freier und ungebundener Verwaltung.30 In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Jellinek mit gutem Grund als „Entdecker“ des schlichten Verwaltungshandelns bezeichnet wird.31 Begrifflich erstmalig
28 Jellinek, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit. In welcher Weise empfiehlt es sich, die Gesetzgebung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu vereinheitlichen?, 38. DJT 1950, Verhandlungen, 1951, D 2 ff. 29 Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1931, S. 114; zur Bedeutung des Systemdenkens für das Verwaltungsrecht siehe insb. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 2. Aufl., 2004, passim; vgl. ferner schon Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 183 ff. m. w. N. 30 Jellinek, ebd., S. 20 ff. 31 Siehe nur Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 491 m. Fn. 382; Faber, Verwaltungsrecht, 3. Auf., 1992, S. 253; Mallmann, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, VVDStRL 19 (1961), 165, 169; Robbers, Schlichtes Verwaltungshandeln, DÖV 1987, 272.
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ordnet er dem Oberbegriff der „öffentlichen Verwaltung“ einerseits die „obrigkeitliche Verwaltung“ und andererseits die „schlichte Hoheitsverwaltung“ zu. Beiden Arten der öffentlichen Verwaltung wird die auf dem Boden des Privatrechts stehende „fiskalische Verwaltung“ gegenübergestellt. Obrigkeitliche und schliche Hoheitsverwaltung unterscheiden sich nach Jellinek dadurch, dass sich erstere der dem Staat oder sonstigen Trägern öffentlicher Gewalt eigentümlichen Macht bedient, ihr also die Überordnung der öffentlichen Gewalt über den Einzelnen eignet, während es bei letzterer gerade daran fehlt.32 Zur schlichten Hoheitsverwaltung werden dabei – insoweit im Grundsatz nicht anders als heute33 – durchaus heterogene Erscheinungsformen gerechnet, z. B. Verrichtungen auf dem Gebiet des Bauwesens und der Technik (Straßenbau, Anlegung von Grünflächen, Errichtung einer Verbrennungsanlage zur Beseitigung des Hausmülls usw.), das Aussetzen von Prämien für jede vertilgte Kreuzotter oder die Ausgabe einer Verkehrsfibel zur Verhütung von Verkehrsunfällen.34 Dass sich schlichtes Verwaltungshandeln als Phänomen – wenngleich unter anderer Bezeichnung – bereits bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, tut der „Entdeckungsleistung“ Jellineks übrigens keinen Abbruch. Er brachte vielmehr auf den Begriff, was von den Vertretern der sog. staatswissenschaftlichen Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft35 mit den Stichworten der „Tat“ und der „Staatspflege“ bezeichnet wurde.36 Über diese definitorische Grundlagenarbeit am Begriff der Verwaltung hinaus leistet Jellinek in seiner „Einleitung“ des Weiteren einen richtungweisenden Beitrag zum Verwaltungsorganisationsrecht.37 Dies vor allem deshalb, weil neben dem Reichsrecht und dem preußischen Recht gerade auch die außerpreußische Landesgesetzgebung und Rechtsprechung eingehende und umfängliche Berücksichtigung findet. Auch er selbst sieht darin übrigens einen Vorzug, der sein Lehrbuch von dem Julius Hatscheks38 unterscheide.39 Und schließlich
32 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 21 f. 33 Dazu Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 17 ff.; vgl. neuerdings auch Hermes, Schlichtes Verwaltungshandeln, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl., 2012, § 39, passim. 34 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 22. 35 L.v. Stein, F. F. Mayer, G. Meyer, E. Loening, O.v. Sarwey. Zur staatswissenschaftlichen Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft siehe insb. Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981, S. 11 ff. 36 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 60 m. Fn. 8. 37 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 58–80. 38 Hatschek, Institutionen des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 1919. 39 Jellinek, Verwaltungsrecht, Vorwort zur 1. Aufl., 1928, V.
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beschränkt Jellinek sich in diesem Zusammenhang auch nicht auf eine Untersuchung der inneren Verwaltung, sondern rundet seine verwaltungsorganisatorischen Überlegungen mit einer Darstellung der Verfassung der Gemeinden und höheren Kommunalverbände schlüssig ab. Neben der Analyse der Grundlagen von Verwaltung und Verwaltungs (organisations)recht findet sich in der Jellinekschen „Einleitung“ seines Lehrbuchs aber vor allem eine höchst aufschlussreiche Befassung mit der zeitgenössischen Verwaltungsrechtswissenschaft.40 Während er die Lehrbücher von Georg Meyer41 und Edgar Loening42 noch ganz der staatswissenschaftlichen Methode und damit der bloßen „Vermittlung von Gesetzeskunde“ verhaftet sieht,43 beginnt für Jellinek mit Otto Mayers Lehrbuch44 die wirkliche juristische Durchdringung des Verwaltungsrechts. Fortgesetzt sieht er diese erst mehr als ein Jahrzehnt später in Fritz Fleiners „Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts“,45 dessen besonderes Verdienst gerade in der „Einfachheit der Darstellung“ zu sehen sei,46 was der jungen Verwaltungsrechtswissenschaft in der universitären Lehre erheblichen Auftrieb verliehen habe. Mit Grund ist deshalb darauf hingewiesen worden, dass sich Jellineks Lehrbuch zum „Verwaltungsrecht“ in ganz besonderer Weise Otto Mayer verpflichtet wisse. Dies werde vor allem in den für das Werk maßgeblichen Leitprinzipien der Trennung von Staat und Gesellschaft sowie der Idee des Rechtsstaats47 deutlich, mit denen er sich in den Spuren Otto Mayers bewege.48 Dem entspricht auch die Selbstbeschreibung Jellineks, wenn dieser Otto Mayer als „Sinnbild für die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft“ bezeichnet, der sich nicht vom Gegenstande seiner Darstellung habe niederdrücken lassen, sondern dem es gelungen sei, mit unvergleichlicher Kunst den widerspenstigen Stoff gestaltend zu meistern.49 Mayers im Vorwort der zweiten Auflage seines Lehrbuchs zum Ausdruck gelangender Glaube „an die Macht allgemeinerer Rechtsideen, die in den Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts zur Erscheinung und Entfaltung kommen,
40 Ders., ebd., S. 98 ff. 41 Meyer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 1883/85 42 Loening, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 1884. 43 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 101 f. 44 Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrechts, 1886. 45 Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 1911. 46 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 107. 47 Siehe dazu insb. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 88 ff. 48 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 239. 49 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 101, 105.
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zugleich aber auch ihrerseits in der Geschichte sich wandeln und fortschreiten“,50 ist Jellinek dabei für die Konzeption seines Lehrbuchs offensichtlich zum Vorbild geworden. Zu den „allgemeineren Rechtsideen, die in den Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts zur Erscheinung und Entfaltung kommen“, zählt Jellinek in seinem „Allgemeinen Teil“ die Rechtsquellen (§ 7), die Rechtssubjekte (§ 8), die Rechtsverhältnisse (§ 9) und die rechtserheblichen Tatsachen (§ 10, 11). Darüber hinaus werden von ihm in diesem Teil Fragen des Rechtsschutzes und der Rechtsdurchsetzung eingehend behandelt. Besondere Hervorhebung verdienen Jellineks Überlegungen zur Rechtsverhältnislehre. Obwohl sich die Figur des Rechtsverhältnisses dogmengeschichtlich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt,51 hat sie es lange Zeit in der Verwaltungsrechtsdogmatik nicht leicht gehabt.52 Umso erfreulicher ist es deshalb, dass Jellinek der Rechtsverhältnislehre in seinem Lehrbuch eingehende Beachtung schenkt.53 Grundlegend ist dabei seine Unterscheidung von Rechtsverhältnis und Rechtszustand. Ersteres versteht er als „Beziehung zwischen mindestens zwei Rechtssubjekten, kraft deren das eine Rechtssubjekt dem andern gegenüber etwas tun oder nicht tun soll, darf oder kann“, während letzterer die „Möglichkeit künftiger Rechtsverhältnisse bezogen auf ein Rechtssubjekt, daher eine Eigenschaft des Rechtssubjekts …“ bezeichnet.54 Auf dieser Grundlage trennt Jellinek mit Blick auf das Rechtsverhältnis weiter zwischen öffentlichen Pflichten (Beziehungen über ein Sollen) und öffentlichen Freiheiten (Beziehungen über ein Dürfen und Nicht-Brauchen).55 Das rechtliche Können hingegen bildet für ihn den „Schlüssel zur Erkenntnis des subjektiven öffentlichen Rechts“56 und damit zugleich der Rechtsverhältnislehre. Insgesamt darf deshalb wohl festgestellt werden, dass sich Jellinek schon früh und mit beachtlichen Systematisierungsanstrengungen um die verwaltungsrechtsdogmatische Grundlegung des Rechtsverhältnisgedankens verdient gemacht hat.
50 Mayer, XXX 51 Siehe dazu insb. Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, 1982, S. 18 ff.; Bauer, Subjektive öffentliche Rechte des Staates, DVBl. 1986, 208, 210; ders., Die Bundestreue, 1992, S. 275 ff. 52 Siehe dazu Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 203 ff. m. w. N.; vgl. dazu auch neuerdings Bauer, Verwaltungsverträge, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl., 2012, § 36 Rn 103 ff. 53 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 189 ff. 54 Ders., ebd., S. 191, 192. 55 Ders., ebd., S. 193 ff, 200. 56 Ders., ebd., S. 200 ff.
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Der „Besondere Teil“ seines Lehrbuchs widmet sich schließlich den „Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts“. Dazu zählt er das Recht des öffentlichen Dienstes (§ 16), das Finanzrecht (§ 17), das Enteignungsrecht (§ 18), die öffentlichen Lasten (§ 19), das Polizeiwesen (§ 20, 21), die öffentlichen Sachen und Anstalten (§ 22) und schließlich das Recht der Selbstverwaltung (§ 23). Insgesamt geht es Jellinek in diesem Teil seines Lehrbuchs darum, die Einzelgebiete der Verwaltung nicht zu vernachlässigen, ohne deswegen „die gerade im Verwaltungsrecht so dringend nötige Einfachheit des Systems zu gefährden“.57 Genau in diesem Punkte unterscheidet sich damit seiner Ansicht nach sein Lehrbuch von denjenigen Otto Mayers und Fritz Fleiners, die beide die „besonderen Lebensgebiete der Verwaltung“ ganz beiseite lassen würden.58 Will man zum Abschluss eine Gesamtbewertung des Jellinekschen Œuvres wagen, so spricht alles für die von Michael Stolleis so treffend vorgenommene Charakterisierung: „Seine (Jellineks, Hinzufügung des Verf.) große Leistung liegt darin, die verwaltungsrechtliche Doktrin des Spätkonstitutionalismus für die Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geöffnet, die Ergebnisse der Gesetzgebung und Rechtsprechung mit dieser Doktrin verschmolzen und in einer verbunden zu haben. Es ist kein visionäres Werk, …, sondern ein den liberalen Rechtsstaat in seinen besten Seiten, aber auch Schwächen, repräsentierendes .“59 Nicht mehr und nicht weniger!
Auswahlbibliographie Selbständige Schriften: Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen. Eine verwaltungs- und prozessrechtliche Studie, 1908 Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung. Zugleich ein System der Ungültigkeitsgründe von Polizeiverordnungen und -verfügungen. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung, 1913
57 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 115; zu Recht weist allerdings Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 239 darauf hin, dass das Sozialrecht, das öffentliche Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie der kommunale Leistungsbereich in der Behandlung zu kurz kommen. 58 Ders., Verwaltungsrecht, Vorwort zur 1. Aufl., 1928, V. 59 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 240.
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Verwaltungsrecht, 1928. 3. durchgesehene Auflage 1931, Neudruck 1948. Nachträge 1934 und 1950 Die zweiseitigen Staatsverträge über Anerkennung ausländischer Zivilurteile. Eine kritische Untersuchung, 1953
Beiträge zu Festgaben: Zweiseitiger Verwaltungsakt und Verwaltungsakt auf Unterwerfung. Verwaltungsrechtliche Abhandlungen, in: Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1925, 84 ff. Neue Probleme des Kompetenzkonflikts, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Wilhelm Kiesselbach, 1947, 125 ff. Das richterliche Prüfungsrecht in den drei Ländern der amerikanischen Zone, in: Festschrift zu Ehren von Rudolf Laun, 1948, 269 ff. Kritische Betrachtungen zur Völkerrechtsklausel in den deutschen Verfassungsurkunden, in: Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, 181 ff. Eine unbewusste Begegnung Savignys mit Feuerbach, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1952, 163 ff. Die gesetzliche Mitgliederzahl, in: Festschrift für Herbert Kraus, 1954, 88 ff. Die Bundesverweisung, in: Festgabe für Carl Bilfinger, 1954, 109 ff. Das vollständige Schriftenverzeichnis von Walter Jellinek findet sich in: Otto Bachof/Martin Drath/Otto Gönnenwein/Ernst Walz (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Walter Jellinek 12. Juli 1885–9. Juni 1955 (Forschungen und Berichte aus dem Öffentlichen Recht, Bd. 6), München 1955, S. 647 ff.
XIX Carl Schmitt (1888–1985) Matthias Jestaedt S. dürfte der auch und gerade über die Fachgrenzen der Jurisprudenz hinaus bekannteste und polarisierendste deutsche Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts sein. Wie kaum ein Zweiter hat er den Diskurs über die mehr als sechs Jahrzehnte eigenen Publizierens wie auch über seinen Tod hinaus maßgebend geprägt. Er zählt zu den antipositivistischen Hauptprotagonisten im Weimarer Richtungs- und Methodenstreit, er galt in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ als dessen „Kronjurist“ und er figurierte als die graue Eminenz der Nachkriegsstaatsrechtslehre in den ersten Jahrzehnten unter dem Grundgesetz. Seine anhaltende Bedeutung lässt sich an der Verbreitung seines Werkes ablesen: Noch heute sind mehr als 30 seiner auf Deutsch verfassten Bücher (Tagebücher und „Glossarium“ nicht eingerechnet) über den Buchhandel in Neuauflagen zu beziehen, seine Werke sind mittlerweile in 29 Sprachen übersetzt, eine Bibliographie zur S.schen Primär- und Sekundärliteratur füllt über 500 Seiten.1 Die folgenden Ausführungen fokussieren den Staatsrechtslehrer S. und vernachlässigen die zahlreichen anderen Facetten von Person, Werk und Wirken S.s insoweit, als sie nicht unmittelbar auf den Staatsrechtslehrer S. durchschlagen.
I. Vita und Opus des Staatsrechtslehrers Schmitt 1. Die spätwilhelminischen Anfänge S. kommt am 11.7.1888 in Plettenberg im Sauerland/Westfalen als erstes von vier Kindern der Eheleute Johann S. (1853–1945) und dessen zweiter Frau Louise S., geb. Steinlein (1863–1943), zur Welt. Er entstammt dem katholischen Kleinbürgertum und fühlt sich zeitlebens als „intellektuell überlegener Aufsteiger und Außenseiter“2 in einem mehrheitlich kulturprotestantischen akademischen Milieu. 1907–1910 studiert S. Rechtswissenschaften zunächst in Berlin (2 Semes-
1 Vgl. Alain de Benoist, Carl Schmitt. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundär literatur, Graz 2010. 2 Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 24.
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ter) und München (1 Semester), sodann – wohl aus finanziellen Gründen – in Straßburg (4 Semester). Am 24.6.1910 wird S. mit der strafrechtlichen, von Fritz van Calker (1864–1957) betreuten, gegen die herrschende Meinung zur Bedeutung der Schuldarten gerichteten Dissertation „Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung“ in Straßburg promoviert. 1912 erscheint die seinem Lehrer van Calker gewidmete Methodenschrift „Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis“, in welcher S. sich mit der Frage „Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig?“ beschäftigt, in auffälliger Parallele zur Freirechtsschule dem damals herrschenden Gesetzespositivismus entgegentritt und den dezisionistischen Charakter des richterlichen Urteils herausstreicht. 1914 legt S. die Habilitationsschrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ vor, in der er einerseits die Stellung des Individuums und damit dessen Würde als lediglich abgeleitete deutet, andererseits aber auch jegliche Machttheorie des Rechts kritisiert und den Staat als „das Rechtsgebilde [definiert], dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen“.3 Ein Jahr darauf heiratet er die sich als adelig ausgebende Tänzerin Pauline (Pabla) Carita („von“) Dorotić, gen. Cari (1883–1968); die Ehe wird auf Betreiben S.s 1924 durch das LG Bonn wegen arglistiger Täuschung für nichtig erklärt, die erstrebte kirchenrechtliche Ehenichtigkeitsfeststellung durch das Erzbischöfliche Offizialat in Köln erreicht S. jedoch nicht. 1916 wird er von seinem Militärdienst für die Habilitation in Straßburg beurlaubt, in den Jahren 1916–1918 wirkt er als Privatdozent in Straßburg.
2. Bewegte Weimarer Blütezeit 1919 erfolgt die Berufung zum „hauptamtlichen Dozenten“ an die Handelshochschule in München. In dieser Zeit entsteht die für das Weitere richtungweisende Schrift „Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf“ (1921). Im Wintersemester 1921/22 „gastiert“ S. als ordentlicher Professor in Greifswald, bevor er zum darauffolgenden Sommersemester die Smend-Nachfolge an der Universität Bonn antritt, wo er seine wohl produktivsten Jahre erlebt und u. a. Fakultätskollege von Erich Kaufmann (1880–1972) ist. Mit seinen Arbeiten „Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“ (1922) sowie „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923) exponiert sich S. als prononciert katholischer Intellektueller. Umso schmerzlicher ist es für ihn, dass er wegen seiner zweiten, 1925 eingegan-
3 Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 52.
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genen Ehe mit Duška Todorovic (1903–1950) bis zu deren Tod exkommuniziert ist; aus der Ehe geht S.s einziger Abkömmling, Tochter Anima Louise (1931–1983), hervor, zu der er zeitlebens ein inniges Verhältnis pflegt. Im Jahre 1923 publiziert S. die erste Fassung seiner ebenso schneidigen wie schneidenden Kritik des parlamentarischen Systems („Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“, 1923), die weithin als Kritik der herrschenden Weimarer Verhältnisse gelesen werden darf: Er behauptet eine Disjunktion des dem Liberalismus zugehörigen Glauben an den Parlamentarismus einerseits und der modernen, auf Identität und Homogenität basierenden Demokratie andererseits und skizziert das Parteienparlament als Ort, an dem andernorts gefasste Entscheidungen nur mehr beglaubigt werden. Mit seinem Staatsrechtslehrerreferat „Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung“ (1924) bezieht S. auf der ersten mit wissenschaftlichem Programm ausgetragenen Jahrestagung der 1922 gegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1924 in Jena Position im anhebenden Weimarer „Methodenund Richtungsstreit“. Innerhalb der Staatsrechtslehrervereinigung wie auch innerhalb der heterogenen Gruppe der „Antipositivisten“ empfindet S. sich als Außenseiter, mit Kaufmann und Hermann Heller (1890–1933) überwirft er sich, an den Tagungen der Vereinigung nimmt er nur unregelmäßig teil. Dafür schart er in der Bonner Zeit eine Reihe von Schülern um sich, darunter Ernst Friesenhahn (1901–1984), Ernst Forsthoff (1902–1974), Waldemar Gurian (1902–1954), Ernst Rudolf Huber (1903–1990), Werner Weber (1904–1976) und Otto Kirchheimer (1905–1965). Noch in Bonn erfolgt die Ausarbeitung von S.s wichtigster Programmschrift „Der Begriff des Politischen“ (1927, 1928 und 1932) und seines Hauptwerks, der „Verfassungslehre“ (1928). Im „Begriff des Politischen“, in dem zu Recht der „Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk“4 S.s gesehen wird, entwickelt er seine ebenso hochgepriesene wie verteufelte, von der Ausnahme, dem Ernstfall her konzipierte Deutung des Politischen als eine von anderen Kategorien unterscheidbare, von diesen unabhängige „seinsmäßige Sachlichkeit und Selbständigkeit“:5 „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und
4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 283 ff. 5 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 28.
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Feind“,6 wobei S. klarstellt, dass der – „öffentliche“ – Freund nicht moralisch gut und der – „öffentliche“ – Feind nicht moralisch schlecht zu sein brauche; vielmehr ziele die Unterscheidung auf den „äußersten [ergänze: existenziellen] Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation“.7 In dieser thesenreichen Schrift, die einen weiteren Beitrag S.s zu seiner Lehre von der Souveränität darstellt, entfaltet er zwei weitere, für seine Welt-Anschauung zentrale Einsichten: Der Pluralismus stelle den Staat als politische Einheit in Frage; keine politische Einheit sei indes, solange es einen Staat gebe, die Welt, sondern ein „politisches Pluriversum“.8 Die „Verfassungslehre“ (1928) ist S.s einziges großes systematisches Werk. In ihr widmet er sich, nicht vom Staat, sondern, grundlegender, existenzieller noch, vom „Politischen“ ausgehend und nicht, dem Überkommenen entsprechend: in staats-, sondern in verfassungstheoretischer Perspektive, dem Typus des modernen bürgerlichen Verfassungsstaates, als dessen Demonstrationsobjekte vorzugsweise die Weimarer Republik und die Weimarer Reichsverfassung herhalten müssen. Damit rückt er Begriff und Bedeutung der Verfassung ins Zentrum staatsrechtlichen Räsonnements. Mit der für alles Weitere grundstürzenden Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz bricht S. mit dem herkömmlichen verfassungstheoretischen Koordinatensystem: Was traditionell unter Verfassung (im formellen und materiellen Sinne) verstanden werde, sei nur das in Inhalt und Geltung von der wahren Verfassung in Abhängigkeit stehende, diese bloß gesetzestechnisch ausführende „Verfassungsgesetz“; die „Verfassung“ hingegen sei nicht einfach Norm, schon gar nicht bloßes Gesetz, sondern – im S.schen Sinne – eine politische Entscheidung, genauer: die „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“,9 die „nicht kraft ihrer normativen Richtigkeit oder kraft ihrer systematischen Geschlossenheit“, sondern „kraft des existierenden politischen Willens desjenigen [gilt], der sie gibt“. Im Wege des positivierten Verfassungsänderungsverfahrens – S. bezog sich ausdrücklich auf Art. 76 WRV – könne dementsprechend nur das Verfassungsgesetz geändert werden, nicht hingegen die dem vorgängige, ihm überhaupt erst Normativität vermittelnde Verfassung. Die zweite, damit zusammenhängende idée directrice der „Verfassungslehre“ ist die sich gegen die Identifikation der Verfassung mit ihren „bürgerlich-rechtsstaatlichen“ Bestandteilen wendende These, dass die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaates aus zwei polaren
6 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 26. 7 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 27. 8 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 7, s. a. S. 54 ff. 9 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 20 u. ö.
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Elementen bestehe und daher eine spannungsreich-gemischte Verfassung sei: dem „unpolitischen“, bürgerlich-rechtsstaatlichen Teil, der individuelle Freiheit konstituiere, mit dem allein aber kein Staat zu machen sei, stehe der eigentlich politische, der Staatsform – und das heißt: der Demokratie als einer auf substanzieller Gleichheit (Homogenität) beruhenden Identität von Regierenden und Regierten – gewidmete Teil gegenüber. Noch im Jahr 1928 erfolgt der Wechsel an die Handelshochschule Berlin. S. wendet sich verstärkt der Frage nach dem „Hüter der Verfassung“ zu, der er eine Reihe von Schriften widmet und über die eine berühmte Kontroverse mit dem Brillantesten unter den rechtspositivistischen Staatsrechtslehrern, Hans Kelsen (1881–1973), entbrennt, in der S. für den Reichspräsidenten als pouvoir neutre und damit gegen ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung im Sinne Kelsens Partei ergreift. In Berlin nimmt die Unterstützung des Weimarer Präsidialsystems durch praktische Anwalts-, Berater- und Gutachtertätigkeit für die Reichsregierung ihren Ausgang; Höhepunkt ist die Vertretung der Reichsregierung im Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Leipziger Reichsstaatsgerichtshof im Jahre 1932. In seiner Mitte 1932 abgeschlossenen Schrift „Legalität und Legitimität“ wendet sich S. gegen den „parlamentarischen Gesetzgebungsstaat“ und die in ihm verkörperte „normativistische Fiktion eines geschlossenen Legalitätssystems“, welches „in einen auffälligen und unabweisbaren Gegensatz zu der Legitimität eines wirklich vorhandenen, rechtmäßigen Willens“10 trete. Zum Sommersemester 1933 wechselt S. unter Mithilfe just von Kelsen, der kurz darauf wegen seiner jüdischen Abstammung das Deutsche Reich verlassen muss, für wenige Monate an die Universität zu Köln.
3. Die Verstrickung in den Nationalsozialismus Bereits im Herbst desselben Jahres folgt S. dem Ruf an die Berliner FriedrichWilhelms-Universität. Rufen nach Heidelberg auf die Nachfolge von Gerhard Anschütz (1867–1948) sowie nach München auf die Nachfolge von Karl Rothenbücher (1880–1932) erteilt S. eine Absage. Sowohl die Berufung nach Berlin als auch der rasch einsetzende Aufstieg S.s unter dem NS-Regime wird befördert durch den „Reichsrechtsführer“ Hans Frank (1900–1946), einem ehemaligen Assistenten von S.s akademischem Mentor van Calker; jener wird wegen seiner als Generalgouverneur im „Generalgouvernement“ (ab 1939) begangenen Verbrechen im Nürnberger (Haupt-)Kriegsverbrecherprozess 1946 zum Tode verurteilt
10 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 10 f.
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und hingerichtet. Im Mai 1933 tritt S. – als „Märzgefallener“ – der NSDAP bei und übt wichtige Funktionen im „Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ (BNSDJ – ab 1936 „Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund“) sowie im „NSD-Dozentenbund“ aus. Insbesondere bekleidet er das Amt des „Reichsfachgruppenleiters“/„Reichsgruppenwalters“ der Hochschullehrer im „NS-Rechtswahrerbund“ und ist als solcher verantwortlicher Herausgeber der „Deutsche[n] Juristenzeitung“. Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring (1893–1946, NSDAP) erhebt S. – wie etwa auch Roland Freisler (1893–1945) und Gustaf Gründgens (1899–1963) – in den prestigiösen, wenn auch nicht einflussreichen Rang eines (Preußischen) Staatsrats. S. bemüht sich in den Anfangsjahren des NS-Regimes nach Kräften, der neuen Ordnung auf staatswissenschaftlichem Gebiet gleich mehrfach und mehrschichtig Legitimität zuzuführen: verfassungsrechtlich („Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, 1933), staatstheoretisch („Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit“, 1933), verfassungsgeschichtlich („Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“, 1934), rechtsphilosophisch („Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens“, 1934) und völkerrechtlich („Nationalsozialismus und Völkerrecht“, 1934). Dabei kann er auf zahlreiche der von ihm geprägten Begriffe, Kategorien und Argumentationsmuster aus der Weimarer Zeit zurückgreifen; neu entwickelt er das Denken in „konkreten Ordnungen“. Den (nicht nur) wissenschaftlichen Tiefpunkt erreicht S. mit der Apologie der Morde im Zusammenhang mit dem sog. „Röhm-Putsch“ am 30.6.1934 („Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934“) und aus Anlass der von ihm organisierten Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer im „NS-Rechtswahrerbund“ im Oktober 1936 („Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“). Unter dem Eindruck von S.s Entwicklung gehen ehemalige Schüler und Weggefährten, unter ihnen namentlich Friesenhahn, Forsthoff und E. R. Huber, zu S. auf Distanz. Ausgelöst durch eine gegen ihn gerichtete und von „intriganten kollegialen Neidern“11 aus dem Kreise der „alten Kämpfer“ – allen voran Otto Koellreutter (1883–1972), Karl August Eckhardt (1901–1979) und Reinhard Höhn (1904–2000) – befeuerte Kampagne im SS-Organ „Das Schwarze Korps“, die S. im Kern als unglaubwürdigen, nicht gesinnungsechten Opportunisten geißelt, verliert er über Nacht seine rechts- und wissenschaftspolitisch einflussreichen Ämter und
11 Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeistverstärkung?, 2. Aufl., München 1990, S. 66.
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ist fortan aus den Zirkeln der Macht verbannt. Erhalten bleiben S. der Berliner Lehrstuhl und der Titel des (Preußischen) Staatsrats. Wissenschaftlich wendet sich S. künftig verstärkt rechts- und wissenschaftshistorischen, staats- sowie völkerrechtstheoretischen Themen zu. Sein Verhältnis zum „totalen Saat“ reflektiert S. in Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes („Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols“, 1938). Einen vielbeachteten Versuch, die Freund-Feind-Dichotomie auf der Ebene des Völkerrechts zu entfalten, stellt sein kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verfasstes Manifest „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht“ (1939) dar. Erst nach dem Krieg publizierte Erträge seines Räsonnements in den Kriegsjahren sind „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ (1950), in der S. die Einheit der europäischen Rechtswissenschaft von der Rezeption des römischen Rechts her rekonstruiert, sowie „Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum“ (1950).
4. „San Casciano“ und die Bonner Republik 1945 wird S. seines Lehrstuhls enthoben. Im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wird er vom stellvertretenden US-Chefankläger Robert M. W. Kempner (1899–1993) vernommen, aber ohne Anklage entlassen. Wegen seiner Rolle im Nationalsozialismus hochumstritten, findet S. im offiziellen Universitätsbetrieb der Nachkriegszeit keine Anstellung mehr. Mitglied in der neubegründeten Staatsrechtslehrervereinigung kann er nicht werden. Er zieht sich mit seiner Familie aus Berlin in seinen Geburtsort Plettenberg im Sauerland – oder, wie er in Anspielung auf Machiavellis Verbannungsort sagt, nach „San Casciano“ – zurück. Ab den 1950er Jahren knüpft S. – notgedrungen außerhalb der „amtlichen“ Wissenschaft – Kontakte zu jüngeren Intellektuellen. Zu nennen sind etwa die Staatsrechtslehrer Hans Schneider (1912–2010), Joseph H. Kaiser (1921–1998), Roman Schnur (1927–1996), Ernst-Wolfgang Böckenförde (*1930), dessen Bruder, der Theologe Werner Böckenförde (1928–2003), sowie die Philosophen Joachim Ritter (1903–1974), dessen Schüler Robert Spaemann (*1927) und Odo Marquard (*1928) sowie der Historiker Reinhart Koselleck (1923–2006), die ihn allesamt in Plettenberg aufsuchen. Ab 1957 erfolgen Einladungen zu den Münsteraner „Ritter-Kolloquien“ und den Ebracher Ferienseminaren Forsthoffs, mit dem er sich aussöhnt. Im Rahmen des Ebracher Seminars 1959 trägt S. mit „Die Tyrannei der Werte“ (1960) seine Kritik am bundesrepublikanischen Verfassungsdenken, insbesondere an der Wertordnungs-Rechtsprechung des BVerfG vor. Unmittelbar in die staatsrechtliche Debatte der Bundesrepublik greift S. dagegen – sieht man
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einmal von seinem Rechtsgutachten zum „Rechtsstaatliche[n] Verfassungsvollzug“ (1952) ab – nicht mehr. Zum Grundgesetz wie überhaupt zur Bonner Republik gewinnt der sich (einmal mehr) ausgestoßen Fühlende kein Näheverhältnis mehr. Bis ins hohe Alter setzt S. seine rege Briefkorrespondenz und Vortragstätigkeit fort. Er verstirbt am Ostersonntag, den 7.4.1985, in Plettenberg. – Im Jahre 2007 entsteht der Carl-Schmitt-Förderverein e. V., der im Jahre 2010 in die CarlSchmitt-Gesellschaft e. V.12 zur Pflege des Werkes von S. umgewandelt wird.
II. Die Person im Werk: der modus schmittensis S. ist, gleichviel, wie man zu ihm und den von ihm unterbreiteten Positionen steht, im Kreise der Staatsrechtslehrer ein origineller Denker von geradezu abundantem Ideenreichtum und fachübergreifenden Interessen. Schon seine Art des Denkens und Formulierens verschafft ihm eine Sonderstellung. Fünf Charakteristika dieses modus schmittensis mögen insoweit – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannt sein. Dabei versteht sich von selbst, dass nicht jedes Element in jeder Werkphase oder gar in jeder Schrift in gleicher Weise und gleichem Ausmaß zutage tritt.
1. Situativer Denker: Positionen und Begriffe Verglichen etwa mit Kelsen, einem seiner Weimarer Antipoden, sticht S. nicht gerade als systematischer Denker heraus. Das S.sche Œuvre zeichnet sich nicht in besonderer Weise dadurch aus, ein geschlossenes („inneres“) System kohärent und konsistent aufeinander bezogener, einander zugeordneter Aussagen auf der Grundlage eines Satzes fixer Axiome zu repräsentieren. S.s einziger großer Systementwurf ist die „Verfassungslehre“, im Übrigen bevorzugt er die Kleinmonographie, die Streitschrift, das Pamphlet. Ihn wegen seiner zahlreichen aperçus als bloßen Aphoristiker zu charakterisieren, träfe indes auch nicht den Kern. Eher schon mag man ihn als Okkasionalisten, als situativen Denker13 kennzeichnen, der zunächst und vor allem gelegenheitsbezogen, d. h. aus der Situation heraus und für die Situation denkt und schreibt. S. selbst fasst die Eigentümlichkeit
12 Vgl. www.carl-schmitt.de. 13 Helmut Quaritsch, Einleitung: Über den Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts, in: ders. (Hrsg.), Complexio Oppositorum, 1988, S. 13 (21).
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seines zweigliedrigen Denkansatzes prägnant zusammen, wenn er eine seiner Aufsatzsammlungen unter den Titel „Positionen und Begriffe“ stellt. Der Begriffsrealist S. hat eine weit über das bloß Instrumentelle hinausgehende, nachgerade existenzielle Beziehung zu Begriffen. Sie verkörpern für ihn die bezeichneten Realitäten. Mit Begriffen zu streiten, Begriffe zu finden, im wahrsten Sinne des Wortes dingfest zu machen und damit zu besetzen, bedeutet für ihn weit mehr als bloß ein taktisches oder effekthaschendes Spiel mit Worten. Wie sehr Sache und Begriff nur gemeinsam gedacht werden können, erläutert S. anhand politischer Begriffe, die durch ihren polemischen Charakter ausgezeichnet seien: „[S]ie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation gebunden, deren letzte Konsequenz eine (…) Freund-FeindGruppierung ist, und werden zu leeren und gespenstischen Abstraktionen, wenn diese Situation entfällt“.14 Damit sind auch schon die doppelte Bedeutung und Rolle der „Position“ oder auch „Lage“ im S.schen Denken angesprochen: sie bezeichnet das Jeweilige, sprich: das zugleich Wechselnde und Gebundene und ist daher nicht mit dem Beliebigen, dem frei Verfügbaren oder auch dem Opportunen zu verwechseln. Der S.-Schüler Ernst Rudolf Huber bringt dies auf eine prägnante Formel: „Die Position ist die konkrete Gebundenheit der Theorie an Ort und Zeit, zugleich auch die feste Stellung, die der Theoretiker selbst in Ort und Zeit einnimmt.“15 Das Denken von der Lage her und der Begriffsrealismus korrelieren, ja bedingen einander: Die konkrete Lage bringt erst den Begriff hervor, an ihr ist er abzulesen, auf sie hin zu fassen, aus ihr heraus erlangt er Substanz und damit Existenz. Auf diesem Hintergrund erhellt, dass Ästhetik für den Ästheten S. weit mehr ist als bloß eine Frage gefälliger, wohl proportionierter Darstellung.
2. Ausnahme-Jurist: Auf der Suche nach der Trägersubstanz rechtlicher Normativität S. ist nicht nur eine Ausnahmeerscheinung als Rechtswissenschaftler. Er ist zugleich der Theoretiker der Ausnahme. Sein Denken ist von der Ausnahme, der äußersten existenziellen Zuspitzung her bestimmt. In der existenziellen Abhängigkeit der Norm(ativität) von der Ausnahme liegt ein zentraler Schlüssel zu S.s Rechtsverständnis. Die vielleicht wichtigste Frage, die den Rechtswissenschaftler S. umtreibt, ist die nach der Trägersubstanz rechtlicher Normativität: Was
14 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 31. 15 Ernst Rudolf Huber, „Positionen und Begriffe“. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, in: ZgS 101 (1941), S. 1 (4).
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trägt, was hält, was speist die Normativität oder auch Rechtlichkeit des Rechts? Jeglichem Normativismus, der letztlich eine hermetisch-selbsttragende Konstruktion des Normativen bedeutet und dem Recht Selbstand vindiziert, steht S. schroff ablehnend gegenüber. Den liberalen Legalismus eines Anschütz oder eines Thoma, der auf gesetzespositivistischem Fundament ruht, verspottet er; den erkenntnistheoretischen Normativismus Kelsens, der nicht mehr als eine bloß hypothetische („Als Ob“-)Normativität zu bieten hat, sieht er als Beleg des Ungenügens des konsequent rationalistisch konzipierten Rechts an sich selbst. Zugleich wendet er sich aber auch gegen jegliche Form der Wesens- und Wertschau des Rechts, sei sie naturrechtlicher oder wertungsjurisprudentieller Provenienz, und stigmatisiert sie als „Tyrannei der Werte“. Die eigentliche Trägersubstanz des (Rechtlich-)Normativen erkennt S. im Politischen, näherhin: in der politischen Existenz. Die politische Existenz oder auch Einheit als der reale Aggregatzustand des nach Innen Assoziativen (Inklusiven) und nach Außen Dissoziativen (Exklusiven) markiert für S. das Primäre, das Primordiale, indes die Norm das Sekundäre, daraus Abgeleitete und darauf Aufbauende darstellt. Die politische Existenz geht der normativen Existenz, der Geltung, voraus. Wenn S. daher „die Überlegenheit des Existentiellen über die bloße Normativität“16 apostrophiert, wenn er formuliert: „Vor jeder Norm steht die konkrete Existenz des politisch geeinten Volkes.“,17 so folgt daraus, dass nicht das positive Recht bestimmt, wie viel Staat vorhanden ist, sondern dass jenes vielmehr in Abhängigkeit von diesem steht, dass es einer real existierenden politischen Ordnungsmacht und einer dahinter stehenden existenziellen Entscheidung bedarf, damit Recht eine Existenzberechtigung haben kann. Von dort ist es nicht mehr weit zu S.s Exzeptionismus, der in den beiden berühmten Zitaten „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“18 und „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme.“19 zum Ausdruck gelangt. Norm und Normalität (Normallage) stehen in wechselseitiger Abhängigkeit, stabilisieren sich im günstigsten Falle und können keinesfalls ohne einander. Der Ernstfall der Dissoziation, die Ausnahme, entzieht gleichermaßen Normalität wie Norm die Basis. Die suprema potestas, die Souveränität liegt daher bei jenem, der über den Eintritt des Ernstfalls oder die Beibehaltung des Normal-
16 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 107. 17 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 121. 18 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, unveränd. 2. Aufl., München und Leipzig 1934, S. 11. 19 Schmitt, Politische Theologie (o. Anm. 18), S. 22.
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falls entscheidet. Verfassungstheoretisch hat S. diese Relation von Existenziellem und Normativem in der Gegenüberstellung von – primordialer – Verfassung in positivem Sinne („Verfassung“) und – derivativer – Verfassung im positivrechtlichen Sinne („Verfassungsgesetz“) exponiert.20 Die verfassunggebende Gewalt, der pouvoir constituant, ist für S. dementsprechend der positivrechtlich nicht einholbare, sprich: rechtlich unverfügbare „politische Wille, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen“.21
3. Disziplinärer Grenzgänger: Staatsrechtslehrer, Politischer Theologe, Public Intellectual S. ist nicht nur Rechtswissenschaftler, und als Rechtswissenschaftler ist er niemals nur Jurist im herkömmlichen, die traditionellen Disziplingrenzen beachtenden Sinne. Das macht in den Augen Vieler die spezifische Attraktivität S.schen Denkens aus und befördert seine Wahrnehmung als Public Intellectual, diskreditiert ihn hingegen aus der Sicht jener, die die Reflektiertheit und Striktheit der perspektivischen Selektivität als Gradmesser der Wissenschaftlichkeit betrachten. Er ist gewissermaßen ein ständiger Wanderer zwischen den disziplinären Welten, die säuberlich auseinanderzuhalten auf der Grundlage seines Zugriffes schwer fällt.22 S. begründet, ohne deren disziplinären Standort wissenschaftstheoretisch explizit und exakt zu lokalisieren, mit der „Politischen Theologie“ und der „Verfassungslehre“/Verfassungstheorie zwei neue, auf je eigene Weise disziplinverkoppelnde, hybride (Sub-)Disziplinen. Ob intradisziplinär – genannt werden könnten namentlich die Verfassungstheorie und die Verfassungsdogmatik, die Verfassungsvergleichung und die Verfassungsgeschichte, aber auch die Völkerrechtstheorie – oder interdisziplinär – neben Politischer Theorie und Philosophie, neben Politischer Theologie, Soziologie und Geistesgeschichte wären auch Literaturwissenschaft und weitere Disziplinen zu nennen –: S. ist auf vielen Feldern zu Hause, zwischen denen er sich, die Disziplingrenzen regelmäßig nicht thematisierend, souverän hin- und herbewegt. Seine Belesenheit und
20 Dazu bereits o. unter I.2, S. 276.. 21 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 75. 22 Prägnant Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 4. Aufl., Berlin 2010, S. 11: „Natürlich konnte und wollte Carl Schmitt seine wissenschaftlichen Existenzen nicht völlig voneinander trennen.“
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seine Gelehrsamkeit, seine Assoziationskraft und sein Amalgamierungsvermögen, seine Formulierungsgabe und seine Meinungsstärke verleihen ihm dazu das Rüstzeug (und verleiten ihn dazu). Das disziplinäre Crossover macht den Staatsrechtslehrer interessant für den Diskurs nicht-juridischer Fächer und anschlussfähig im trans- wie internationalen Diskurs der Politischen Philosophie, aber auch gefragt als politischen und Rechtsberater. Zwischen dem Wissenschaftler und dem Feuilletonisten, aber auch zwischen dem scharfsichtigen Analytiker und dem enigmatischen Gegenaufklärer ist indes nicht immer leicht zu unterscheiden. Angesichts dessen die Zuordnungsfrage aufzuwerfen, ob sich eine Schrift eher der einen oder aber besser einer anderen Disziplin, dem einen oder aber einem anderen Genre zuordnen lasse, ist vielfach müßig. Abhandlungen wie die „Politische Romantik“ (1919) oder die „Politische Theologie“ (I und II, 1922 und 1970), „Theodor Däublers ‚Nordlicht‘“ (1916) oder „Land und Meer“ (1942), „Hamlet oder Hekuba“ (1956) oder auch „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923) lassen sich wohl allenfalls negativ kategorisieren: Rechtswissenschaft im überkommenen Sinne sind sie nicht. Doch selbst eine so zentrale Schrift wie „Der Begriff des Politischen“ stellt den um eine disziplinäre Rubrizierung Bemühten vor kaum lösbare Schwierigkeiten. S. pflegt zwar einen ganzheitlichen, da auf das Ganze gehenden, aber doch keinen sich universalwissenschaftlich verstehenden, die disziplinären Unterschiede dementierenden Zugriff. Als Rechtswissenschaftler beharrt er auf der – ihrerseits freilich außernormativ bedingten und aufgeladenen – Eigengesetzlichkeit der juristischen Betrachtungsweise. Seinen Zugang als „geistesgeschichtlich“23 zu qualifizieren, hebt eine wichtige Facette ins Bewusstsein, charakterisiert diesen aber nur unzureichend.
4. „Politischer“ Professor: Verschärfer und Katechont S. ist nicht nur der Theoretiker des Politischen, er selbst ist als Wissenschaftler im S.schen Sinne politisch: an ihm scheiden sich die Geister – in Freund und Feind. Das hat – jenseits konkreter Inhalte – zahlreiche Gründe. Um nur drei zu nennen: S. ist ein Meister der polemischen Zuspitzung und Verdichtung. Seine Begriffe und seine Thesen werden in polemischer Absicht – πολεμικός meint ursprünglich „feindselig“ – geformt und in Stellung gebracht. Er gewinnt seine „Positionen
23 Exemplarisch: Helmut Quaritsch, Carl Schmitt (1888–1985), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/ Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbilden, Bd. 9: Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 1999, S. 199 (210 u. ö.).
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und Begriffe“ zwar „im Kampf mit …“ von ihm nicht geteilten Gegenauffassungen, die zumeist die herrschenden sind, aber doch regelmäßig nicht diskursiv. Damit verbindet sich nicht selten die Strategie des stilistisch-argumentativen „Blitzkrieges“: Schon der Auftaktsatz enthält in nuce die Gesamtsubstanz; seine überlegt eingesetzten „Begriffsblitze“24 wirken wie intellektuelle Blendgranaten, die den Leser für einen entscheidenden Überraschungsmoment gleichsam orientierungslos dem Gedankengang S.s ausliefern. Zeitlebens (ob hier die Phase von 1933 bis 1936 auszunehmen ist, ist zu erwägen) sieht sich S. im Kampf gegen den Zeitgeist und das herrschende Regime, heiße es Versailles, Weimar oder Bonn. Ob er sich selbst die Rolle des „eigentlich katholischen Verschärfers“25 oder aber des Katechonten (oder was an Selbststilisierungen S. sich noch hat einfallen lassen wie Epimetheus, Eusebius, Benito Cereno, Machiavelli) zuschreibt: typischerweise operiert er in Opposition zum Zeitgeist, gleichsam im intellektuellen Partisanenkampf, nimmt die (Minderheiten-)Position des „Dagegen“ ein, fungiert als Sprachrohr der „konkreten Gegensätzlichkeit“.26 Seine verneinende, kulturpessimistische Haltung ist nicht nur reaktiv, sondern im Wortsinne reaktionär. Darüber hinaus denkt S. vorzugsweise in polaren Größen – und neigt schon deswegen zum Polarisieren. Ob Freund und Feind, Legitimität und Legalität, Gesetz (Norm) und Maßnahme, Verfassung und Verfassungsgesetz – zentrale „Positionen und Begriffe“ seines Denkens entfaltet er auf polarer Folie. Und schließlich: S. betreibt Wissenschaft als – zumeist pathetisch-dramatische – Inszenierung, bei der er sich Macht und Magie des Wortes dienstbar macht. Mindestens ebenso sehr wie um Einsicht geht es ihm um Eindruck. S.s Schriften zeichnen sich weit überwiegend nicht durch das nüchtern-sachliche, handwerklich-solide Wägen des Für und Wider aus; vielmehr ragen sie, gemessen am Durchschnitt rechtswissenschaftlicher Publikationen, als nach Duktus und Stil, Form und Inhalt, Horizont und Anspruch beeindruckende ästhetisch-strategische Kompositionen heraus, in denen nicht selten der Ernstfall-Habitus bemüht und ein intellektueller Alarmismus beschworen wird, durch den der Autor als Mahner oder Warner hervortritt.
24 Wendung: Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, 2007, S. 43 (im engl. Original: A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven und London 2003, findet sich kein entsprechend prägnanter Begriff). 25 Schmitt spricht in einer Tagebuchnotiz vom 16.6.1948 vom „Ringen um die eigentlich katholische Verschärfung“ (Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991, S. 165). 26 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 31.
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5. „Gegenaufklärer“: Zwischen Enthüllung und Verhüllung Damit in engem Zusammenhang steht eine weitere Eigentümlichkeit S.schen Denkens. Als bedeutsamer Protagonist einer sich konservativ verstehenden Gegenaufklärung verkörpert S. zahlreiche Anti-ismen: antilegalistische, antipositivistische, antirelativistische, antipluralistische, antiliberale, antiparlamentarische (aber auch antisemitische, antiamerikanische und antiimperialistische) Ansätze und Ressentiments finden sich bei ihm. Gegenaufklärer gehen typischerweise in zwei Schritten vor: Zum einen kritisieren sie in aufklärerischer Manier eine in Überlegenheitsattitüde vorgetragene unkritische Aufklärung sowie einen oberflächlich-unreflektierten Rationalismus und zum anderen machen sie mehr oder minder ausgeprägte Residuen des Irrationalen oder Arationalen, des Unaufgeklärten oder Unaufklärbaren geltend. Diese gegenaufklärerische Hell-DunkelVerteilung findet sich auch bei S. Einerseits legt er in ebenso klarsichtigen wie schneidenden Analysen die Schwächen beispielsweise des parteienstaatlichen Parlamentarismus sowie eines introvertierten, den Ernstfall ausblendenden Normativismus offen. Andererseits jedoch verliert sich die Klarheit, Strenge und Konsistenz der Darstellung, sobald der Demaskierer des bürgerlich-liberalen „Neu tralismus“ zur Entfaltung des eigenen Gegenentwurfs schreitet.27 So manches am Konzept des Politischen oder an der Verfassung im positiven Sinne, überhaupt an der Konstruktion der Geltungsvermittlung kraft (politischer) Existenz ist kaum mehr als Allusion und Suggestion, Beschwörung und Rätsel; Entschiedenheit und Andeutung ersetzen Diskurs und Ableitung. Die These vom Ende der Staatlichkeit wie die „Großraum“-Theorie bedienen Bedürfnisse nach Vision und Prophetie nicht weniger als solche nach rationaler Analyse und Prognose. Nicht selten hat es den Anschein, dass S. seine Begriffsmagie und seine Verrätselungsstrategien bewusst dazu einsetzt, orakelhafte Mehrdeutigkeiten zu erzeugen, an deren Entschlüsselung sich Generationen von Rechts- und Linksschmittianern eifrig-geduldig abarbeiten. Möglicherweise als „Immunisierungstechnik“28 eingesetzt, verstärken sich die enigmatischen Einlassungen S.s in den Zeiten seines unfreiwilligen Rückzugs von den großen öffentlichen Bühnen, also spätestens nach 1945, wohl aber bereits nach 1936. Man geht wohl nicht fehl, in der Schlusspassage des „Leviathan“Buches aus dem Jahre 1938, in der S. die tragische Größe seines Vorbilds Thomas Hobbes beschwört, eine Beschreibung seiner eigenen Situation zu lesen:
27 Dazu Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Aufl., Berlin 2002, S. XXVIII ff., bes. XXIX. 28 Quaritsch, Positionen (o. Anm. 22), S. 19.
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„So ist er für uns der echte Lehrer einer großen politischen Erfahrung; einsam wie jeder Wegbereiter; verkannt, wie jeder, dessen politischer Gedanke sich nicht im eigenen Volk verwirklicht; ungelohnt, wie der, der ein Tor öffnet, durch das andere weitermarschieren; und doch in der unsterblichen Gemeinschaft der Wissenden der Zeiten, ‚a sole retriever of an ancient prudence‘.“29
III. Schmitts Erbe für die Staatsrechtslehre Die Frage nach S.s Wirken verweist – kaum überraschend für den ebenso genialischen wie charakterlich problematischen Grenzgänger – auf vielschichtige, nach Ort, Zeit und Disziplin stark variierende Wirkungsstränge. Unbeschadet dessen ist völlig unbestreitbar, dass dieser in nahezu jeder Hinsicht außergewöhnliche Staatsrechtslehrer eine außergewöhnliche Wirkung weit über seinen Tod hinaus besitzt, die sein Potenzial als moderner Klassiker belegt. Er dürfte sogar der im fächerübergreifenden und grenzüberschreitenden Maßstab meistgelesene (vorsichtiger vielleicht: meistgenannte) Weimarer Staatsrechtslehrer sein. Nach wie vor besteht offensichtlich die Bereitschaft oder das Bedürfnis, sich mit ihm und seinen Thesen immer aufs Neue auseinanderzusetzen. Freilich verschiebt sich die Auseinandersetzung, je größer der Abstand zum Zeitgenossen S. wird, zusehends von der Person auf das Werk30 und vom Rechtswissenschaftler auf den Politischen Philosophen oder Theoretiker. Unverändert jedoch spaltet S. seine Leserschaft, provoziert sie zur eigenen Positionierung. Dabei erweist sich, paradox genug, dass die okkasionellen „Begriffe und Positionen“ S.s auch jenseits der konkreten „Lage“, in der sie geprägt und für die sie geformt worden sind, bisweilen eine vitale Aktualität (mancher mag vielleicht lieber von Virulenz sprechen) an den Tag legen. Im Folgenden geht es – lediglich – um S.s Erbe für die Staatsrechtslehre. Bei seinem Wirken und seinen Wirkungen kann grundsätzlich danach unterschieden werden, welche Reaktionen S. in der Staatsrechtslehre bislang hervorgerufen hat und welches Potenzial seinen Lehren für die heutige (und künftige) Staatsrechtslehre eignet. Fünf Aspekte seien aus der Vielzahl herausgehoben:
29 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols, Hamburg 1938, S. 132. 30 Dieser Trend wird auch durch die sukzessive Veröffentlichung der – um das Wort vom Fremdschämen zu vermeiden: wahrlich nicht zum Ruhme S.s beitragenden – Tagebücher (bislang: 1912–1915 [2005], 1915–1919 [2005] sowie 1930–1934 [2010]) nicht umgekehrt.
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1. Mehr Weimarer Klassiker denn deutscher Staatsrechtslehrer S. hat nur wenig exklusiv Rechtswissenschaftliches publiziert; verfassungsdogmatische Ausarbeitungen im engeren Sinne gar finden sich bei ihm nur wenige, obwohl er, wie nicht zuletzt die Vertretung der Reichsregierung im „Preußenschlag“-Verfahren anno 1932 vor dem Reichsstaatsgerichtshof belegt, dazu durchaus fähig war. Seinen Ruhm und Ruf haben andere Schriften begründet, die, aus Sicht der Jurisprudenz, wenn überhaupt wohl noch am ehesten der Staats- und Verfassungstheorie sowie der Staats- und Rechtsphilosophie zugeordnet werden können. Genau genommen dürften es die (oben beschriebenen) publizistischen Grenzgänge zwischen den von S. offenbar nicht als trennend empfundenen Fachdisziplinen sein, die die Faszinationskraft des S.schen Denkens und Zugriffs auch und gerade in der Staatsrechtslehre ausmachen. S., der selbst keine „Schule“ im engeren Sinne begründet hat, hatte eine Reihe unmittelbarer Schüler in der Staatsrechtslehre – seien es solche im engeren Sinne als amtierender Hochschullehrer vor 1945 (wie etwa Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber oder Werner Weber), seien es solche im weiteren Sinne nach seiner Absetzung als ordentlicher Professor anno 1945 (wie etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Joseph H. Kaiser oder Helmut Quaritsch). Auf sie und durch sie hat er auch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch Einfluss in der Staatsrechtslehre besessen.31 Seitdem diese beiden Schülergenerationen indes aus dem akademischen Betrieb ausgeschieden sind, präsentieren sich S.s Bedeutung und Wirkung in der Staatsrechtslehre, wenn nicht alles täuscht, weniger als autochthon juridische denn als aus dem Diskurs namentlich der Politischen Theorie (re)importierte. Nicht wenige Impulse im staats- und verfassungstheoretischen Schmitt-Diskurs seit 1985 stammen weder aus der deutschen Staatsrechtslehre noch überhaupt aus der deutschsprachigen Wissenschaft, sondern aus Spanien oder den USA, aus Frankreich oder Japan, aus Italien oder Lateinamerika. Als Weimarer Klassiker genießt er Weltruf; seine „eigentliche“ Rolle als deutscher Staatsrechtslehrer tritt demgegenüber stark zurück.
31 Dazu Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, München 2004, passim, bes. S. 112–158, 264–283.
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2. Nationalsozialistische Verstrickung und der Disput um ihre Deutung Die Verstrickung der Rechtswissenschaft in den Nationalsozialismus ist mit keinem Namen so verbunden wie mit jenem von S. Dies indes nicht, weil S. der konsequenteste Nationalsozialist oder der radikalste Rassist unter den Rechtswissenschaftlern gewesen wäre oder er an zentraler Stelle an NS-Gräueltaten mitgewirkt hätte – die Redeweise vom „Kronjuristen des Dritten Reiches“32 ist denn auch mehr ein polemisches, ein begrenztes Momentum (über)betonendes Schlag-Wort denn eine nüchtern-abgewogene Bilanzierung –, sondern zuvörderst deshalb, weil er – vergleichbar mit dem nahezu gleichaltrigen Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) – in puncto intellektueller Brillanz und fächerübergreifenden Renommees der Bedeutendste aus dem Kreise der etablierten Weimarer Rechtslehrer war, der sich in den Dienst der „völkischen Rechtserneuerung“ stellte. Darüber hinaus provoziert S. auch durch seine ostentative Unbußfertigkeit: Darauf, dass S. sich ebenso unmissverständlich wie vernehmlich von den Schriften der Jahre 1933–1945, in denen er einem rassistisch-totalitären, letztlich rechtsnihilistischen Regime Wort und Feder lieh, distanzierte, wartete man vergeblich. Stattdessen stilisierte er sich zum tragischen (Bauern-)Opfer der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Jurisprudenz. Daher verwundert es nicht, dass die Aufarbeitung des Anteils der Jurisprudenz am Weg in die Rechtsperversion sich in besonderer Weise der Rolle und des Charakters von S. annimmt, lässt sich an dessen Schicksal doch – neben Aspekten wie Opportunismus, Karrierismus, Geltungsdrang und sonstigen charakterlichen Defekten – paradigmatisch die besondere Verführbarkeit der wissenschaftlichen Eliten im Allgemeinen und die Selbstüberschätzung der konservativen Intellektuellen in Bezug auf den Nationalsozialismus im Besonderen studieren. Die bisher geführte Diskussion kann hier nicht ansatzweise adäquat nachgezeichnet werden.33 Es verdient aber festgehalten zu werden, dass „Vergangenheitsbewältigung“, bezieht sie sich auf einen einzelnen Wissenschaftler, je nach Erkenntnisinteresse völlig Unterschiedliches fokussieren kann. Wenigstens drei Fragerichtungen sind zu unterscheiden: Welche Rolle hat ein Rechtswissenschaftler bei der „völkischen Rechtserneuerung“ gespielt? Wie stellt sich diese
32 Waldemar Gurian, Carl Schmitt, Kronjurist des III. Reiches, in: Deutsche Briefe 1934, Bd. I, S. 52 ff. 33 Pars pro toto sei verwiesen auf Rüthers, Schmitt (o. Anm. 11), und – speziell zu S.s Antisemitismus – auf Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2005.
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Mitwirkung aus Sicht seines wissenschaftlichen Œuvres dar – eher als Konsequenz des oder aber als Bruch mit dem Bisherigen? Und welche Rolle spielt diese Verstrickung für die heutige Rezeption der „Positionen und Begriffe“ des betreffenden Rechtswissenschaftlers? S. hat sowohl, was seine Ämter in der NS(Wissenschafts-)Hierarchie, als auch, was sein publizistisches Wirken betrifft, in den Jahren bis 1936 eine ebenso tragende wie führende Rolle gespielt; er hat alles daran gesetzt, die Rechtsbegriffe, wo möglich, im Sinne der neuen Zeit umzudenken und umzudeuten, und, wo dies nicht möglich war, durch neue zu ersetzen („konkretes Ordnungsdenken“ usf.) (dazu oben I.3.). Zwar macht sich der Karrierebruch zum Ende des Jahres 1936 auch in S.s wissenschaftlichen Arbeiten bemerkbar, wendet sich S. nun doch verstärkt Themen der Staats- und der Völkerrechtstheorie, der Rechts- und Wissenschaftsgeschichte zu. Zu einem Gegner des Regimes, gar zu einem Widerstandskämpfer, der totalitärem Gedankengut und Antisemitismus in Gedanken, Worten oder sogar Werken entgegentritt, entwickelt er sich aber nicht einmal ansatzweise. Nach wie vor herrscht Streit über die Frage, ob die Phase der Jahre 1933–1936 oder auch 1933–1945 im Denken S.s eher Bruch oder Kontinuität markiert. Eine einfache und eindeutige Antwort wird sich nicht geben lassen, lassen sich doch zahlreiche Hinweise sowohl für die Wandlungs- als auch für die Kontinuitätsthese zusammentragen.34 Nicht angängig ist es jedoch, S.s Publikationen aus der NS-Zeit, besonders jene der Anfangsjahre, nicht als „genauso authentische geistige Äußerungen des Autors“35 zu qualifizieren wie dessen Schriften vor 1933 und nach 1945. Seinem okkasionalistischen und dezisionistischen Denken bleibt S. jedenfalls treu, was die inhaltliche Entschlüsselung seines Œuvres mit Hilfe der Alternative von Wandel oder Kontinuität nachhaltig erschwert. Dahin steht, ob mit einer Festlegung für die eine und gegen die andere These mehr gewonnen ist als die Befriedigung wissenschaftlichen Ordnungsbedürfnisses. Auch die dritte Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise S.s Verstrickung in den Nationalsozialismus der Rezeption seiner Thesen entgegensteht, ist keiner pauschalen und undifferenzierten Antwort zugänglich. Unbeschadet dessen herrscht bei allem Dissens im Weiteren doch Konsens darüber, dass S. mit seinen nur in der NS-Zeit vertretenen Thesen sich aus der Diskursgemeinschaft der auf den freiheitlichen Verfassungsstaat verpflichteten Staatsrechtslehre herausgeschrieben hat. Es kann insofern also nicht um deren Rehabilitierung oder
34 Stellvertretend dazu vgl. Hofmann, Legitimität (o. Anm. 27), der mit der complexio oppositorum einer „wandlungsreichen Kontinuität“ (S. XXXIII) auch ein angemessenes terminologisches Angebot unterbreitet. 35 Hofmann, Legitimität (o. Anm. 27, S. XXX.
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nachträgliche Rechtfertigung gehen. Zugleich sollte aber auch kein Streit darüber bestehen, dass so wenig, wie Person und Werk S.s ohne dessen politisches und wissenschaftliches Engagement in der NS-Zeit beurteilt werden können, sie auf die drei (1933–1936) bzw. zwölf Jahre (1933–1945) reduziert oder ausschließlich von dorther interpretiert werden dürfen. Der Umstand, dass ein Begriff, ein Argument oder eine These zur Stützung eines antidemokratischen, unrechtsstaatlichen, totalitären, gar rassistischen Gedankens herangezogen wird, trägt für sich genommen und aus sich heraus nicht den Schluss auf deren Unbrauchbarkeit im Kontext der Staatsrechtswissenschaft eines freiheitlich-demokratischen Staates (s. auch nachfolgend 5.).
3. Gewährsmann der Unzeitgeistigen S.s Einsatz im und für den Nationalsozialismus gilt seinen Gegnern als Beleg dafür, dass diesem „dangerous mind“ die Rolle der „bête noire“ der Staatsrechtslehre gebühre. Seine Anhänger, die die NS-Verstrickung nicht leugnen und überwiegend auch nicht beschönigen, halten damit das fascinosum et tremendum des Phänomens S. für unzutreffend, wenigstens unzureichend getroffen. Für nicht wenige derer, die sich nicht im Einklang mit dem Zeitgeist dünken, ist der Gegenaufklärer S. mit seiner Lust am intellektuellen Tabubruch eine erfrischende Anlaufstation und sein Schicksal in „San Casciano“ ein Menetekel der Intransigenz der sich liberal Nennenden. Wer gerne wider den Stachel der political correctness löckt, der wird im S.schen Begriffs- und Argumentationsarsenal ebenso fündig werden wie der kulturpessimistische Intellektuelle von Rechts oder von Links. Und wer sich durch die Ideologiekritik oder auch nur die (wissenschafts-) politische Macht der modernen Aufklärer sprachlos gemacht sieht, dem kann S. dazu verhelfen, die Sprache wiederzufinden. S. dient insofern als Projektionsfläche für „unzeitgeistige“ intellektuelle Eliten – eine Funktion, der in der heutigen Staatsrechtslehre freilich keine allzu große Bedeutung zukommt.
4. Das Vermächtnis eines Stilisten unter den Staatsrechtslehrern Im begriffsrealistischen Stilisten S. treffen der Ästhet und der Virtuose aufeinander: jener, der um die Bedeutung der sprachlichen Formgebung weiß, und jener, der sie mit großer Meisterschaft beherrscht. Ihm verdanken wir zahlreiche prägnante Begriffsbildungen und eingängige Wortschöpfungen, suggestive Aphoris-
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men und hintergründige Bonmots. Auch das ist ein – und zwar keineswegs zu vernachlässigender – Teil des S.schen Erbes. Nicht jede seiner Sprachprägungen setzt voraus, dass der Verwender sich die S.schen Lehren ganz oder doch wenigstens teilweise zu Eigen macht, dass er sich mit S. identifiziert oder gar „infiziert“ („qui mange du Schmitt en meurt“)36. So dürften sich kaum treffendere Termini als der „dilatorische Formelkompromiß“37 und der „Grenzenlosigkeitsschluß“,38 das „(rechtsstaatliche) Verteilungsprinzip“39 und die „über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht“40 finden lassen, um den beschriebenen Sachverhalt in einer mit der verfassungsstaatlichen (Post-)Moderne versöhnten Wissenschaft auf den Begriff zu bringen. Auch die dichotomen Unterscheidungen von Gesetz und Maßnahme41 oder auch von „institutionellen Garantien“ und „Institutsgarantien“42 lassen sich im verfassungsstaatlichen Kontext aktueller Dogmatik und Theorie kaum wegdenken. Schließlich: Auch heute gültige Erkenntnisse wie „Was Freiheit ist, kann […] in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein soll. Sonst ist es nach allen menschlichen Erfahrungen mit der Freiheit schnell zu Ende.“43 oder auch „Diejenigen, die regieren, sind durch das Volk, nicht vom Volk unterschieden.“44 lassen sich zugleich konziser und gefälliger wohl nicht ausdrücken. Aber natürlich ist das Gros der mit der ihm eigenen Wortmächtigkeit und Ausdrucksvirtuosität geprägten Wendungen Sprache gewordene Gestalt des S.schen Denkens und daher nicht aus oder von diesem zu lösen. Um nur einige wenige Kostproben dieser – nicht selten strategisch, nämlich als Auftaktsätze zu Beginn eines Traktates platzierten polemischen – Formeln und Formulierungen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu geben: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“45 „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist
36 Dieses, die antiultramontane Polemik „Qui mange du pape, en meurt“ variierende Bonmot findet sich bei Quaritsch, Umgang (o. Anm. 13), S. 16. 37 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 32, 118. 38 Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze der Jahre 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 140 (147). 39 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 126, 158, 166, 175, 181, 200. 40 Schmitt, Legalität (o. Anm. 10), S. 35. 41 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 138 ff. 42 Schmitt, Freiheitsrechte (o. Anm. 38), S. 143. 43 Schmitt, Freiheitsrechte (o. Anm. 38), S. 167. 44 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 237. 45 Schmitt, Politische Theologie (o. Anm. 18), S. 11.
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alles.“46 „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“47 „Es gibt einen anti-römischen Affekt.“48 „Der zentrale Begriff der Demokratie ist Volk und nicht Menschheit.“49 „Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert.“50 „Der Wille, sich eine Verfassung zu geben, kann nur durch die Tat bewiesen werden und nicht durch Beobachtung eines normativ geregelten Verfahrens.“51 „[D]ie Gleichheit vor dem Gesetz ist dem rechtsstaatlichen Begriff des Gesetzes immanent, d. h. Gesetz ist nur das, was in sich selbst der Möglichkeit nach eine Gleichheit enthält, also eine generelle Norm.“52 „Die spezifisch politische Unterscheidung […] ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“53 „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“54 „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“55 „Wir denken die Rechtsbegriffe um. […] Wir sind auf der Seite der kommenden Dinge.“56 „Recht durch Frieden ist sinnvoll und anständig; Friede durch Recht ist imperialistischer Herrschaftsanspruch.“57 „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.“58
5. Kann die grundgesetzliche Staatsrechtslehre auf Schmitt verzichten? Stellen S.s Denken und Lehren die heutige (und zukünftige) Staatsrechtslehre noch vor Herausforderungen, wird diese sich gar mit dessen nachwirkendem Erbe jenseits historisierender und damit distanzierender Aneignung beschäftigen müssen? Kaum zwei Wochen nach S.s Tod hat der renommierte Politikwissen-
46 Schmitt, Politische Theologie (o. Anm. 18), S. 22. 47 Schmitt, Politische Theologie (o. Anm. 18), S. 46. 48 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 2. Aufl., München 1925, S. 5. 49 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 234. 50 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 22. 51 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 83. 52 Schmitt, Verfassungslehre (o. Anm. 9), S. 154. 53 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 26 – Hervorhebungen im Original. 54 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 20. 55 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 55 in Variation eines Wortes von Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865). 56 Carl Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, in: DR 1934, S. 225 (229). 57 Schmitt, Glossarium (o. Anm. 25), Eintragung vom 24.6.1951, S. 316. 58 Schmitt, Begriff (o. Anm. 5), S. 10.
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schaftler Kurt Sontheimer (1928–2005) die Losung ausgegeben, dass derjenige, dem die freiheitliche Demokratie am Herzen liege, S. nicht brauche.59 Zutreffend an dieser Spielart der damnatio memoriae ist, dass S.s juridicopolitische Werthaltungen, sprich: dass dessen Antiliberalismus, Antipluralismus, Antirelativismus, Antipositivismus usf. kein konstruktives Fundament für eine moderne Theorie der freiheitlichen, repräsentativen und parteienstaatlichen Demokratie abzugeben imstande sind. Unzutreffend ist indes, dass das S.sche Denken keinen spezifischen, über die ex negativo-Perspektive hinausgehenden Beitrag dazu leisten kann, Theorie und Praxis der freiheitlichen Demokratie reflektierter und profunder, widerstands- und funktionsfähiger zu machen. In herausgehobenem Maße gilt dies für S.s Insistieren auf dem Politischen am Recht und im Recht. In concreto kann das bedeuten: die Fragilität und Volatilität von Normalität und Normativität wahr- und ernst zu nehmen; den Sinn dafür zu stärken, dass, damit Normalität(serwartungen) als Referenzpunkt regelbasierter Normativität formulierbar ist (sind) und ein Mindestmaß sozio-kultureller Homogenität vonnöten; die durch die beiden Hobbesianischen Hauptfragen des „quis iudicabit?“ und „quis interpretatibitur?“ ins Spiel gebrachte institutionellkompetenzielle Seite in Verfassungstheorie und -dogmatik zu prononcieren; den Entscheidungscharakter jeglichen Rechtsgewinnungsaktes – und mit ihm: den Willen (zur Macht) – nicht durch methodisch-dogmatische Idealisierungen des Rechtsdiskurses zu dissimulieren; das Wirken polarer Kräfte und Legitimationen in einer freiheitlichen Demokratie als ebenso unaufhebbare wie fruchtbare Spannung gelten zu lassen. S.s Lehren könnten solcherart als eine Art Antidot fungieren gegen eine zahm-oberflächliche und naiv-universalistische liberaldemokratische Theorie, die ihrer Voraussetzungen und Bedingtheiten, ihrer Ausblendungen und Gefährdungen nicht bewusst ist – und damit Wesen und Wert des demokratischen Verfassungsstaats absichtslos dolos diskreditiert.
Auswahlbibliographie Benoist, Alain de, Carl Schmitt. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Graz 2010 (528 Seiten!).
59 Kurt Sontheimer, Der Macht näher als dem Recht. Zum Tode Carl Schmitts, in: Die Zeit vom 19.4.1985, Nr. 17.
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Primärliteratur60 1912: Gesetz und Urteil, 3. Nachdruck der 2. unveränd. Aufl. von 1969, München 2009. 1914: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 2. Aufl., Berlin 2004. 1921: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 7. Aufl., Berlin 2006. 1922: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9. Aufl., Berlin 2009. 1923: Römischer Katholizismus und politische Form, 5. Aufl., Stuttgart 2008. 1923: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 9. Aufl., Berlin 2010. 1928: Verfassungslehre, 10. Aufl., Berlin 2010. 1931: Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 4. Aufl., Berlin 2003, S. 140–173. 1931: Der Hüter der Verfassung, 4. Aufl., Berlin 1996. 1932: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 8. Aufl., Berlin 2009. 1932: Legalität und Legitimität, 8. Aufl., Berlin 2012. 1933: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 3. Aufl., Berlin 2006. 1933: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, 3. Aufl., Hamburg 1935. 1934: Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, in: DJZ 39 (1934), Sp. 945–950. 1938: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols. Mit einem Anhang, in dem der Aufsatz „Die vollendete Reformation“ von Carl Schmitt abgedruckt ist, sowie einem Nachwort des Herausgebers Günter Maschke, 4. Aufl., Stuttgart 2012. 1939: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, 4. Aufl., Berlin 2009. 1940: Positionen und Begriffe, im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, 3. Aufl., Berlin 1994. 1943/44: Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, in: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 4. Aufl., Berlin 2003, S. 386–429. 1950: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 5. Aufl., Berlin 2011. 1958: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 4. Aufl., Berlin 2003. 1967: Die Tyrannei der Werte. Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger und einer Editorischen Notiz von Gerd Giesler, 3. Aufl., Berlin 2011.
60 Sortiert nach dem Erscheinungsjahr der ersten Buchausgabe, nachgewiesen ist grundsätzlich die jüngste Auflage.
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Sekundärliteratur Beaud, Olivier/Pasquino, Pasquale (Hrsg.), La controverse sur le gardien de la Constitution et la justice constitutionnelle. „Kelsen contre Schmitt“ – Der Weimarer Streit um den Hüter der Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit. „Kelsen gegen Schmitt“, Paris 2007. Bendersky, Joseph W., Carl Schmitt – Theorist for the Reich, Princeton N. J. 1983. Gross, Raphael, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2005. Günther, Frieder, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, München 2004. Hofmann, Hasso, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Aufl., Berlin 2002. Mehring, Reinhard, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009. Meier, Heinrich, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, 3. Aufl., Stuttgart 2009. Müller, Jan-Werner, Ein gefährlicher Geist – Carl Schmitts Wirkung in Europa. Aus d. Engl. von N. de Palézieux (orig.: A Dangerous Mind: Carl Schmitt in Post-War European Thought, 2003), Darmstadt 2007. Quaritsch, Helmut, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 4. Aufl., Berlin 2010. Quaritsch, Helmut (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988. Rüthers, Bernd, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeistverstärkung?, 2. Aufl., München 1990. Schönberger, Christoph, Werte als Gefahr für das Recht? Carl Schmitt und die Karlsruher Republik, in: Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 57–91. van Laak, Dirk, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl., Berlin 2002.
XX Alfred Verdross (1890–1980) Bruno Simma
I. Biographie1 Alfred Verdross wurde am 22. Februar 1890 in Innsbruck als Sohn eines Kaiserjägeroffiziers geboren. Er besuchte das Gymnasium in Rovereto und Brixen und studierte dann Rechtswissenschaften in Wien, wo er 1913 zum Doktor der Rechts- und Staatswissenschaften promovierte. Schon in seiner Studentenzeit hatte er Hans Kelsen kennengelernt, dessen Privatseminare er auch während des Ersten Weltkriegs besuchte. 1916 legte Verdross die Richteramtsprüfung ab und versah in der Folge seinen Militärdienst als Oberleutnant-Auditor am Obersten Militärgerichtshof in Wien. Noch vor Kriegsende wechselte er in die staats- und völkerrechtliche Abteilung des k.k. Aussenministeriums. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde er als Legationssekretär an die Vertretung der jungen österreichischen Republik in Berlin entsandt, wo er bis Ende 1920 tätig war. Während dieser Zeit trat er, wie auch Hans Kelsen, publizistisch für den Anschluss Österreichs an Deutschland ein, was unter den damaligen Umständen keine Nähe zum Nationalsozialismus belegt. Als Beobachter der Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung beeinflusste Verdross durch eine Veröffentlichung eine für die innerstaatliche Stellung des Völkerrechts zukunftsweisenden Textfassung von deren Art. 4 (über die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts im deutschen Rechtsraum). Nach Wien zurückgekehrt, arbeitete Verdross bis zu seiner Ernennung zum (hauptberuflichen) ao. Professor an der Universität Wien im Jahre 1924 in der Rechtssektion des österreichischen Aussenministeriums. Bereits1921 hatte er sich an der Wiener Juristischen Fakultät mit einer Schrift
1 Vgl. dazu die autobiographische Skizze in N. Grass (Hrsg.), Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen (1952) 201 ff.; S. Verosta, „Alfred Verdross – Leben und Werk“, in F. A. Frh. v.d. Heydte u. a. (Hrsg.), Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für Alfred Verdross (1960) 5; B. Simma, „Alfred Verdross (1890–1980): Bibliographical Note with Bibliography“, European Journal of International Law 6 (1995) 103; I. Seidl-Hohenveldern, „Recollections of Alfred Verdross“, ibid. 98; besonders materialreich jüngst J. Busch, „Verdross im Gefüge der Wiener Völkerrechtswissenschaft vor und nach 1938“, in: F.-S. Meissel u. a. (Hrsg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (2012) 139.
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zum Thema „Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten“ für das Fach Völkerrecht habilitiert, unterrichtete daneben aber auch Rechtsphilosophie und Internationales Privatrecht. In Abwehr einer Berufung an die deutsche Technische Hochschule in Brünn wurde er 1925 in Wien zum Ordinarius ernannt – eine Position, die Verdross bis zu seiner Emeritierung dreieinhalb Jahrzehnte lang innehatte. In den folgenden Jahren sollte er eine Reihe von Rufen aus dem Ausland, darunter aus Köln und München, ablehnen. Ebenso verfuhr er im Jahre 1933 mit dem Angebot, in der durch Bruch der republikanischen Verfassung an die Macht gelangten Regierung Dollfuss das Amt des Justizministers zu übernehmen, obwohl er als konservativer Katholik dem österreichischen Ständestaat sicherlich nicht ablehnend gegenüberstand. In den Zwanziger- und Dreissigerjahren erlangte Verdross – als der Võlkerrechtler unter den Hauptvertretern der sog. „Wiener Schule der Rechtstheorie“ (Hans Kelsen, Adolf Merkl und eben Verdross)- nicht nur eine Spitzenposition in der deutschsprachigen Võlkerrechtswissenschaft, sondern auch grosse internationale Anerkennung. So wurde er im Alter von 38 Jahren zum assoziierten Mitglied des renommierten Institut de Droit international gewählt und zwischen 1927 und 1935 nicht weniger als viermal zu Vorlesungen an die Haager Akademie für internationales Recht eingeladen, in deren Kuratorium er ebenfalls berufen wurde. Sein im Jahre 1937 in erster Auflage erschienenes „Völkerrecht“ ist von Michael Stolleis in seiner geschichtlichen Darstellung des öffentlichen Rechts in Deutschland als „wichtigstes Lehrbuch des Völkerrechts jener Zeit“ bezeichnet worden.2 Im Juni 1938, drei Monate nach der Okkupation Österreichs durch das Deutsche Reich, wurde Alfred Verdross durch die nationalsozialistischen Machthaber von seiner Lehrtätigkeit suspendiert. Ein Jahr später wurde er in das Lehramt für Völkerrecht wiedereingesetzt, die Lehrbefugnis für Rechtsphilosophie blieb aber entzogen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Verdross von der Wehrmacht zum Dienst als Ersatzrichter am Prisenhof Berlin verpflichtet. Die Haltung von Alfred Verdross gegenüber dem Nationalsozialismus ist in einer Reihe jüngerer zeitgeschichtlicher Veröffentlichungen eingehend untersucht worden.3 Das sich darin abzeichnende Bild ist für den Verfasser des vorliegenden Beitrags, für den Verdross (nicht nur wissenschaftliche) Vaterfigur und Mentor war, sicherlich problematisch, gibt aber keinen Anlass zu moralischer Verurteilung. Dass er sich mit seiner im Völkerrechtslehrbuch von 1937 geäusserten Einschätzung Mussolinis als eines Verteidigers christlicher Werte und der NS-
2 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 (1999) 399. 3 Juengst von Busch (Anm.1), insbes. 157.
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Völkerrechtsdoktrin als anti-imperialistisch und föderalistisch massiv irrte, muss ohne Zweifel verwundern und enttäuschen, wird aber erklärlicher, wenn wir uns Verdross’ nationalkonservative und vom katholischen Glauben geprägte Weltanschauung vor Augen führen; im übrigen war er mit seiner Hoffnung, dass sich Faschismus und Nationalsozialismus als Bollwerke gegenüber dem Bolschewismus der Stalin-Herrschaft erweisen würden, in guter Gesellschaft – denken wir nur an das Reichskonkordat zwischen Adolf Hitler und dem Heiligen Stuhl 1934 und die aussenpolitischen Erfolge des NS-Regimes bis 1938, die auch im westlichdemokratischen Ausland zahlreiche Bewunderer fanden.4 Gleichwohl kann das Verhalten von Alfred Verdross in der NS-Zeit nicht als vorbildlich gelten, ebensowenig wie seine fehlende Auseinandersetzung damit nach 1945.5 Festzuhalten ist aber auch, dass sein wissenschaftliches Werk in wichtigen Fragen, auf die im folgenden eingegangen werden wird, in prononciertem Gegensatz zur nationalsozialistischen Völkerrechtsdoktrin stand. Nach 1945 erreichte die wissenschaftliche Karriere von Verdross neue Höhen.; dies nicht nur in Wien, wo er seine rechtsphilosophische Lehrtätigkeit wieder aufnehmen konnte und 1951/52 der Universität als Rektor vorstand, sondern auch und vor allem auf internationaler Ebene. So wurde er bald Vollmitglied des Institut de Droit international und 1959–61 dessen Präsident, daneben Mitglied verschiedener bilateraler Schlichtungskommissionen sowie des Ständigen Schiedshofs in Den Haag. Von 1957 bis 1966 gehörte er der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen an; von 1958 bis 1976 wirkte er als Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg; 1961 leitete er als Präsident die von den Vereinten Nationen einberufene Wiener Diplomatenrechtskonferenz. 1969 bis 1972 führte er den Vorsitz in einem Schiedsverfahren zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über bestimmte aus der deutschen Herrschaft 1938–1945 resultierende Vermögensfragen. Im Jahre 1957 wurde ihm von den beiden konservativen Parteien Österreichs die Kandidatur fuer das Amt des Bundespräsidenten angeboten, die Verdross jedoch ablehnte. Er erhielt nicht weniger als drei Festschriften, zahlreiche Ehrendoktorate und Auszeichnungen. Alfred Verdross starb am 27. April 1980 im 90. Lebensjahr in seiner Geburtsstadt Innsbruck. Mit dieser kurzen Schilderung soll die herausragende Stellung deutlich gemacht werden, die Verdross in Österreich, aber auch in Deutschland und in der Schweiz innehatte. In seinem Heimatland verkörperte er gleichsam die Völkerrechtswissenschaft. Persönlich zeichnete er sich durch grosse Beschei-
4 Simma (Anm.1) 36. 5 Busch (Anm.1) 168.
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denheit, Toleranz, Takt, Wärme, Hilfsbereitschaft und Liebe zu seiner Familie aus. Abschliessend sei auf seine Bemühungen um eine moralische Wiedergutmachung der Behandlung hingewiesen, die seinem Kollegen und Freund Hans Kelsen in Österreich nach 1929 wiederfahren war.6
II. Naturrechtlich- universalistische Konzeption des Völkerrechts Die philosophische Ausgangsbasis der Verdross’schen Völkerrechtstheorie, d. h. seine Rechtsphilosophie, ist eine materiale Konzeption des Rechts, die an antike Traditionen und deren Rezeption in der christlich-abendländischen Philosophie anknüpft.7 Für Verdross lässt sich das teleologische Naturverständnis der Antike und des Mittelalters unter heutigen Bedingungen reformulieren und für die Rechtsphilosophie fruchtbar machen.8 Das sich daraus ergebende Rechtsverständnis ist von Natur aus universalistisch; für Verdross findet dieser Aspekt seinen vollkommensten Ausdruck bei den Vertretern der spätscholastischen Schule von Salamanca, Francisco Vitoria und Francisco Suarez. Die Schule von Salamanca betrachtet auch die staatlich organisierten Völker als soziale Wesen, die für ihr friedliches Zusammenleben einer rechtlichen Ordnung, des jus inter gentes, bedürfen. Die Staaten bilden eine Gemeinschaft, die ihrer Natur nach universell ist und den Zweck des bonum commune omnium mithilfe einer Rechtsordnung verfolgt, deren Grundsätze durch die natürliche Vernunft (und damit in letzter Instanz durch den göttlichen Willen) vorgegeben und im einzelnen durch Praxis und Vereinbarungen konkretisiert werden. Es ist nicht übertrieben, diese Gedanken der spanischen Spätscholastiker als Leitmotiv der philosophischen Grundlagen der Völkerrechtsauffassung von Alfred Verdross zu bezeichnen,9 die er nach anfänglicher Sympathie für den Neukantianismus und dessen philosophisch-theoretische Ausformung durch Hans Kelsen seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts immer entschiedener verfocht, zeitweise durch die Lehren des damals einflussreichen Sozialphilosophen Othmar Spann beein-
6 Vgl. Busch (ebd.) 163. 7 Zum folgenden E. Mock, „Die Erschliessung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross“, in: H. Miehsler u. a. (Hrsg.), Ius Humanitatis. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross (1980) 9; G. Luf, „Alfred Verdross als Rechtsphilosoph“ in: Meissel u. a. (Anm.1) 195. 8 Luf (ebd.) 199 f. 9 Vgl. Simma (Anm.1) 38 f.
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flusst.10 Verdross ist also das jenige Mitglied der „Wiener Schule der Rechtstheorie“, das sich bald von der formalistischen Rechtsbetrachtung seiner Kollegen Kelsen und Merkl löste und sich eine materiale, wertgestützte, naturrechtliche Sicht des Rechts zu eigen machte. Der so beschriebenen Verdross’schen Völkerrechtsphilosophie ist der Vorwurf gemacht worden, sich insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg nur ungenügend mit der modernen Rechtsphilosphie auseinandergesetzt zu haben, der die von Verdross bis zuletzt bekräftigte teleologische Grundlage schon lange abhanden gekommen ist. Dem ist wohl zuzustimmen. Alfred Verdross hat seinen prominenten Platz in der Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts nicht durch sein rechtsphilosophisches Werk als solches errungen, sondern dadurch, dass er ein System des Völkerrechts entwickelt hat, das nicht nur in sich einzigartig geschlossen erscheint, sondern auch, wie bei keinem anderen Völkerrechtsgelehrten dieser Epoche, in eine bestimmte Weltanschauung eingebunden ist, was Verdross aber nicht daran hinderte, seine Auffassungen durch stetigen Dialog mit Vertretern anderer Auffassungen weiterzuentwickeln. Wie nun zu zeigen sein wird, hat diese Grundlegung in der christlich-abendländischen Wertordnung und die daraus resultierende Einheit seines rechtlichen Weltbildes die völkerrechtstheoretischen Positionen von Alfred Verdross durchwegs bestimmt – dies aber auf eine Weise, die auch durch die Vertreter anderer rechtsphilosophischer Lager Anerkennung gefunden hat, vor allem durch die gedankliche Schärfe, Logik und systematische Geschlossenheit, die Verdross auch nach seiner Verabschiedung von den weltanschaulichen Maximen der „Wiener Schule“ als deren Angehörigen auszeichnen.
III. Die Schlüsselrolle der allgemeinen Rechtsgrundsätze Der bedeutendste Beitrag, den Alfred Verdross zur Theorie der Quellen des Völkerrechts geleistet hat, liegt in seinen Arbeiten zu den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ i. S. von Art. 38 (1)(c) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs.11
10 Dazu A. Carty,„Alfred Verdross and Othmar Spann: German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law“, European Journal of International Law 6 (1995) 78. 11 Zu den folgenden Abschnitten B. Simma, „Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft“, in Ius Humanitatis (Anm. 7) 23; I. Marboe, „Verdross’ Völkerrechtstheorie vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus“, in Meissel u. a. (Anm. 1) 171.
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Während diese in der modernen Völkerrechtspraxis und -wissenschaft gegenüber Verträgen, Gewohnheitsrecht und immer mehr Formen des „soft law“ an Bedeutung verloren haben, bildeten sie für Verdross ein entscheidendes Fundament seines philosophisch-theoretischen Völkerrechtsgebäudes, denen er über Jahrzehnte nicht weniger als 30 Veröffentlichungen widmete. Der Rechtspositivismus erblickte – und erblickt – in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht mehr als eine Art „Ersatzquelle“ für den Notfall, ein Mittel der Lückenfüllung durch analoge Anwendung von Grundsätzen des höherentwickelten, stärker durchdifferenzierten innerstaatlichen Rechts. Für naturrechtlich fundierte Völkerrechtler insbesondere der Zwischenkriegszeit dagegen läutete die Aufnahme der „general principles“ in den Katalog der Völkerrechtsquellen des Art. 38 die Totenglocke für die positivistische Auffassung, die das Völkerrecht ausnahmslos aus Staatenkonsens hervorgehen liess. Über diese Frage wurde in den Zwanziger- und Dreissigerjahren ein veritabler Glaubenskrieg ausgetragen, in dem auf der Seite der Gegner der Rechtspositivisten Alfred Verdross neben Hersch Lauterpacht die Hauptrolle spielte. Verdross erblickte in der Kategorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze den Berührungspunkt, oder besser: die Schnittfläche, zwischen dem positiven Recht und dessen übergesetzlichen Grundlagen, das Bindemittel seines einheitlichen Weltbildes. Er zeigt auf, dass der voluntaristische Völkerrechtspositivismus schon der jahrhundertelangen Praxis der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit nicht gerecht wurde, die in breiter Fülle von der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze (nicht selten als Ausdruck „internationaler Gerechtigkeit“ bezeichnet) zeugt, ohne dass dabei ein historischer Bruch sichtbar wurde. Für Verdross geht es bei der Anwendung unserer Grundsätze nicht um die schlichte Übernahme staatlichen Rechts in das Völkerrecht. Das in diesem Verfahren herangezogene innerstaatliche Recht ist vielmehr nur Indiz für dahinterstehende allgemeingültige Rechtsgedanken, denen im Völkerrecht selbständige Geltung zukommt. Es geht also bei der Heranziehung der allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht nur um Lückenfüllung, sondern um eine Fundierung des positiven Völkerrechts, um seine Ausfüllung durch die Werte, die Verdross mehr oder weniger direkt aus dem Naturrecht bezieht. Verdross unterscheidet dabei zwischen zwei verschiedenen Gruppen der Grundsätze. Die erste Gruppe, die für seine Völkerrechtsphilosophie bedeutsamere, setzt sich aus Prinzipien zusammen, die den Rechtsordnungen immanent sind, ohne die deren Funktionieren nicht oder kaum denkbar wäre. Sie leiten sich, wie der Grundsatz von Treu und Glauben, entweder unmittelbar aus der Idee des Rechts ab oder liegen bestimmten Rechtsbereichen zugrunde und werden vom Vertrags- und Gewohnheitsrecht vorausgesetzt. In der Terminologie Hans Kelsens verkörpern sie die „Grundnorm“ – oder besser ein Gefüge von Grundnormen –, die aber nicht wie bei Kelsen bloss den Charakter
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einer hypothetischen Annahme haben, sondern die Verbindung zur naturrechtlichen Grundordnung darstellen, ja von deren Werten ausgefüllt werden.
IV. Zwingendes Völkerrecht (jus cogens) Bereits in den Dreissigerjahren verfocht Verdross in einer Reihe von Beitraegen die Auffassung, dass es auch im Völkerrecht zwingende Normen (jus cogens) gebe, ja geben müsse, d. h. Rechtsregeln, denen nicht durch Parteienvereinbarung derogiert werden kann und die zur Nichtigkeit widersprechender Vereinbarungen führen.12 Mit dieser Meinung stand er in prononciertem Gegensatz zur damals herrschenden positivistischen Völkerrechtstheorie, welche Grenzen für den zwischenstaatlichen Konsens, soweit sie sich nicht rechtslogisch ergaben, nicht als eigentlich juristische, sondern lediglich als moralische Beschränkungen staatlichen Handelns ansah. Sein Kampf um die Anerkennung zwingenden Völkerrechts speiste sich aus zwei Wurzeln. Einmal fügte sich sein Eintreten für zwingende Schranken staatlicher Souveränität harmonisch in die naturrechtliche Grundlage seiner eigenen Völkerrechtstheorie, ja ergab sich notwendig daraus. Das Konzept eines völkerrechtlichen jus cogens ist unbestreitbar naturrechtlich „vorbelastet“; damit war Verdross als sein Vorkämpfer gleichsam prädisponiert. Für ihn sind Recht und Moral notwendig miteinander verknüpft, ohne dass sie sich aus diesem Grund inhaltlich decken. Zum anderen aber markierte die Bejahung der Möglichkeit der Nichtigkeit völkerrechtlicher Verträge aus inhaltlichen Gründen auch die Position von Alfred Verdross in einer der wohl heftigsten Streitfragen (vor allem) unter den deutschsprachigen Völkerrechtlern der Zwischenkriegszeit, nämlich über die Rechtsgültigkeit des Versailler Friedensvertrags 1919.13 Die im völkerrechtlichen Schrifttum wohl herrschenden Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses „Diktats“ wurden vom Dritten Reich selbstverständlich gerne aufgenommen, gleichwohl wäre es verfehlt, den akademischen Vertretern dieser Auffassung aus ebendieser pauschal ein Eintreten für die politischen Ziele des Nationalsozialismus zu unterstellen – im Falle von Verdross läge es dies sicher neben der Sache.14 Verdross musste in seinen Veröffentlichungen zum jus cogens nach 1945 keinen einzigen Gedanken der früheren Schriften zurücknehmen.
12 Vgl. die Angaben in der Auswahlbibliographie. 13 Vgl. Marboe (Anm. 11) 182; ferner Stolleis (Anm. 2) 88: „Einen wirklich neutralen Standpunkt gab es bei diesen Stellungnahmen [aus der deutschsprachigen Völkerrechtswissenschaft] nicht“. 14 Als Verdross im Jahre 1979 vom Verfasser zu einem Gastvortrag nach München über ein selbstgewähltes Thema eingeladen wurde, bestand er darauf, über das Thema der Rechtsgül-
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Verdross weist darauf hin, dass die Existenz zwingender Völkerrechtsnormen bis zum Siegeszug des Rechtspositivismus nicht angezweifelt worden war. Im Einklang mit seiner Grundlegung des positiven Völkerrechts in einer naturrechtlichen Ordnung arbeitet er die Geltung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes heraus, der gleichsam die Grenzen der Freiheit des Staatenkonsenses absteckt: keine Rechtsordnung in oder zwischen zivilisierten Staaten kann Verträge, die einen unsittlichen Inhalt haben, als rechtsgültig akzeptieren. Als solche gegen die guten Sitten verstossende Abmachungen sieht Verdross insbesondere Verträge an, die es den Staaten unmöglich machen, die Zwecke ihrer Existenz (Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, Wohlfahrt und Schutz der Bürger im Innern und nach aussen) zu erfüllen. Der Katalog der Normen zwingender Natur, über den im heutigen Völkerrecht so etwas wie Einigkeit im Grundsätzlichen herrscht, hat diese Aufzählung zwar modifiziert und ihr unter dem Schock der humanitären Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust vor allem menschenrechtliche Grundpflichten der Staaten hinzugefügt – dies geschah auch durch Verdross in seiner aus der Nachkriegszeit stammenden Arbeit zu unserem Thema15 –, doch können die staatenbezogenen Normen des jus cogens, wie sie in seinen früheren Schriften formuliert worden sind, immer noch als Kernbestand dieses höheren, gleichsam notwendigen, Rechts gelten. Die Idee des zwingenden Völkerrechts ist nach heftigen Diskussionen durch das wohl bedeutendste Produkt der Kodifikation des Völkerrechts im Rahmen der Vereinten Nationen, das Wiener Übereinkommen über das Recht der völkerrechtlichen Verträge 1969, zu positiv geltendem Recht geworden, das die Nichtigkeit gegen jus cogens verstossender Verträge statuiert.16 Dass dies in einer Weise geschieht, die dem Versuch bedenklich nahekommt, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, hat mit einem Ansatz der Kodifikatoren zu tun, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, nämlich das Konzept des zwingenden Völkerrechts von seinen naturrechtlichen Wurzeln abzutrennen, um es für eine ideologisch gespaltene Staatengemeinschaft ohne irgendein rechtsphilosophisches Credo akzeptabel zu machen. Dennoch ist der Transport des jus cogens aus dem Bereich der Philosophie und Theorie in den der Rechtspraxis gelungen; auch die internationale Gerichtsbarkeit hat die Existenz von jus cogens
tigkeit der Pariser Vorortefriedensverträge zu sprechen. Sein Vortrag machte deutlich, dass es Verdross – über ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn der politischen Brisanz des Themas – um den Nachweis ging, dass seine Thesen aus der Zwischenkriegszeit keine Anbiederung an die Nationalsozialisten, sondern Rechtsauffassungen darstellten, die er auch noch am Ende seines langen Lebens ohne schlechtes Gewissen vertreten konnte. 15 „Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law“ (s. Auswahlbibliographie). 16 Art. 53 und 64 des Wiener Übereinkommens.
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anerkannt und ist damit beschäftigt, die Konsequenzen dieses Rechtsgedankens für die verschiedenen Bereiche des Völkerrechts herauszuarbeiten. Alfred Verdross war ein entscheidender Initiator dieser Entwicklung. Seinen abschreckenden Charakter hat jus cogens inzwischen auch für die erbittertsten Vertreter des Völkerrechtspositivismus verloren; das Wiener Übereinkommen wie auch weitere Kodifikationsarbeiten haben es domestiziert; es ist nicht, wie ursprünglich befürchtet, als juristische Waffe missbraucht worden, mit dem ungeliebte Verträge beseitigt werden könnten, sondern hat sich – wie die Naturrechtsidee überhaupt – zu einem Instrument der Abschreckung, der Warnung vor der Überschreitung der Grenzen entwickelt, die sich die moderne Völkerrechtsgemeinschaft in demokratischer Weise gesetzt hat. Philosophisch wie rechtstheoretisch hat die Idee eines zwingenden Völkerrechts den Rechtspositivismus stets überfordert. Er ist nicht in der Lage, sie systemimmanent zu erklären ohne in einen Zirkelschluss zu verfallen.
V. Der „gemässigte Monismus“ Wenn wir nach einem Thema suchen, das seit Ende des 19. und durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts den erbittertsten Zankapfel in der Völkerrechtswissenschaft bildete und diese manchmal in geradezu metaphysisch anmutende Höhen der Auseinandersetzung verwickelte, so war dies wohl der Streit um das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. Die Auseinandersetzung brach mit der Entwicklung der dualistischen Theorie aus, die, vertreten durch Heinrich Triepel in Deutschland und, ihm eng folgend, durch Dionisio Anzilotti in Italien, von einer vollständigen Trennung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht, begründet durch die Verschiedenheit sowohl der Rechtsquellen als auch der Adressaten dieser Rechtsordnungen, ausging und die innerstaatliche Gültigkeit völkerrechtswidrigen Landesrechts akzeptierte; diese Rechtsordnungen wie zwei Kreise betrachtend, die sich berühren, aber nicht überschneiden konnten. Für Verdross, der nach einigen rechtsphilosophischen und theoretischen Tastversuchen zu einer naturrechtlich fundierten universalistischen Völkerrechtsauffassung, der „Einheit des rechtlichen Weltbildes“ vorgedrungen war, beruhte diese Trennung auf einer petitio principii, der er über Jahrzehnte hindurch in zahlreichen Veröffentlichungen in einem fortwährenden Diskurs mit den Vertretern des Dualismus entgegentrat. Im Laufe dieser Auseinandersetzung war seine Meinung einem gewissen Wandel unterworfen, der hier nicht ver-
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folgt werden kann,17 fand dann aber in der Theorie des sog. „gemäßigten“ oder „gegliederten“ Monismus ihren endgültigen Ausdruck, die in ihrer Ausgewogenheit und Lebensnähe der wissenschaftlichen Persönlichkeit ihres Schöpfers entsprach. Diese Theorie verbindet die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht mit derjenigen, welcher Rechtsordnung dabei der normative Vorrang („Primat“) gebührt. Um ihren „Rohbau“ darzustellen, der von Verdross durch immer neue Belege aus der Rechtserfahrung gegen die dualistische Kritik verteidigt worden ist: die staatliche Rechtsordnung besitzt nicht im Verhältnis zur Völkerrechtsordnung, sondern nur in Relation zu anderen Völkerrechtssubjekten Souveränität, ist dem Völkerrecht also untergeordnet. Souveränität ist die Beschreibung einer besonderen Kompetenz, welche die Staaten aufgrund des Völkerrechts besitzen. Diese können sich nur innerhalb der vom Völkerrecht abgesteckten Kompetenzen rechtlich bewegen und entfalten, wenngleich diese Kompetenzen so weit gespannt sind, dass sie in ihrer Gesamtheit eben Souveraenität genannt werden können. Staatliche Souveränität und unmittelbare Völkerrechtsunterworfenheit bedeuten ein und dasselbe. Die damit skizzierte „Einheit des rechtlichen Weltbildes“ wird auch durch das Vorhandensein von staatlichem Recht, das dem Völkerrecht widerspricht, nicht gefährdet. Konflikte, die aus solchen Widersprüchen entstehen, können durch Anwendung der völkerrechtlichen Regeln über die internationale Streiterledigung und derjenigen über das völkerrechtliche Unrecht und seine Rechtsfolgen in einem völkerrechtlichen Verfahren gelöst werden. Verdross folgert daraus, dass die Existenz völkerrechtswidrigen Landesrechts, weil dieser Widerspruch nur vorläufiger Natur ist, weder bedeutet, dass das Völkerrecht dem Landesrecht nicht übergeordnet ist, noch die Einheit des Rechtssystems zerschlägt. Sein Gedankengebäude setzt voraus, dass es Völkerrechtssätze gibt, die sich über das staatliche Recht und dessen Verfassungen erheben. Diesen überstaatlichen Rechtskreis nennt Verdross in frühen Schriften „Völkerrechtsverfassung.“18 In seiner 1926 erschienenen “ Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ hat er den Begriff der Verfassung allerdings in einem weiteren Sinn verwendet. In diesem Werk bietet Verdross eine Darstellung seines universalistischen Konzepts des allgemeinen Völkerrechts als eines Rechtssystems, das in einer einheitlichen Werteordnung verankert ist und im wesentlichen aus einer Kompetenzordnung besteht. Gegen Ende seines Lebens hat er in seiner Schrift über die Quellen des universellen Völkerrechts sowie in dem in Gemeinschaftsarbeit mit dem Autor entstandenen „Universellen Völker-
17 Dazu aber Simma (Anm. 11) 24 ff.; A. Brodherr, Alfred Verdross’ Theorie des gemässigten Monismus (2005). 18 Vgl. Simma (ebd.) 31.
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recht“ die Charta der Vereinten Nationen zur Verfassungsurkunde der internationalen Gemeinschaft erhoben, die das allgemeine Völkerrecht miteinbezieht. Aus dieser Schilderung sollte klargeworden sein, dass Verdross nur in sehr beschränktem Masse als Vorläufer oder früher Repräsentant der modernen „konstitutionalistischen“ Völkerrechtsauffassung in Anspruch genommen werden kann, der es in Bekämpfung öffentlichrechtlicher Phantomschmerzen darum geht, im Völkerrecht Annäherungen an innerstaatliche verfassungsrechtliche Strukturen zu erkennen bzw. zu verstärken.19
VI. Abschliessende Betrachtung Aus Raumgründen konnte der Verfasser dieses Beitrages nur auf die tragendsten Säulen des Werks von Alfred Verdross eingehen und auch dies nur in knappster Weise. Verdross hat sich daneben in origineller, die wissenschaftliche Diskussion beeinflussender oder gar prägender Weise mit zahlreichen weiteren Völkerrechtsfragen auseinandergesetzt.20 Seinen Rang in der Völkerrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts wird er jedoch vor allem durch die auf einer so systematischen wie präzisen Darstellung des positiven Rechtsstoffes aufruhenden eindrucksvollen Einheit seines völkerrechtlichen Weltbildes behalten.
Auswahlbibliographie Reichsrecht und internationales Recht. Eine Lanze für Art. 3 des Regierungsentwurfes der deutschen Verfassung, Deutsche Juristenzeitung 24 (1919) 291 Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten (1920) Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung (1923)
19 Zum ganzen neuerdings Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht (2012). 20 Man denke beispielsweise an seine meisterhafte theoretische Aufarbeitung der Beziehungen zwischen Staat und Raum anhand des Begriffspaars „territoriale Souveraenität“ und „Gebietshoheit“; an die Durchsetzung der Regel, wonach internationale Verträge im Licht des allgemeinen Völkerrechts auszulegen sind, zuerst im Institut de Droit international, dann in der International Law Commission und damit wohl auch im Wiener Übereinkommen; an die Einbindung neuer Entwicklungen in das bestehende Völkerrechtssystem mittels der Rechtsfiguren des „quasi-völkerrechtlichen Vertrages“ und des „internen Staatengemeinschaftsrechts“; an seine Entfaltung verschiedener Entstehungsformen des Völkergewohnheitsrechts, sowie schliesslich an Verdross’ theoretische Grundlegung der österreichischen dauernden Neutralität.
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Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft (1926) Le fondement du droit international, Recueil des Cours de l’Academie de droit international 16 (1927 I) 251 Les regles generales du droit international de la paix, Recueil des Cours de l’Academie de droit international 30 (1929 V) 275 Les regles internationales concernant le traitement des etrangers, Recueil des Cours de l’Academie de droit international 37 (1931 III) 327 Les principes generaux de droit comme source du droit des gens, Annuaire de l’Institut de Droit international 37 (1932) 283 und 320; ebd. 38 (1934) 490 Les principes generaux du droit dans la jurisprudence internationale, Recueil des Cours de l’Academie de droit international 52 (1935 II) 195 Anfechtbare und nichtige Staatsverträge, Zeitschrift für öffentliches Recht 15 (1935) 289 Forbidden Treaties in International Law, American Journal of International Law 31 (1937) 571 Völkerrecht (1937, 2. Aufl. 1950, 3. Aufl. 1955, 4. Aufl. 1959, 5. Aufl. 1964) „Territoriale Souveränität und Gebietshoheit“, Jus Gentium 1 (1949) 247 Die Wertgrundlagen des Völkerrechts, Archiv des Völkerrechts 4 (1953) 129 Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, in: Rechtsfragen der internationalen Organisation. Festschrift fuer Wehberg zu seinem 70. Geburtstag (1956) 385 Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau (1958, 2. Aufl. 1963) Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, American Journal of International Law 60 (1966) 55 Die normative Verknüpfung von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: M. Imboden u. a. (Hrsg.), Festschrift für Adolf Merkl (1970) 425 Statisches und dynamisches Naturrecht (1971) Die Quellen des universellen Völkerrechts (1973) Universelles Völkerrecht: Theorie und Praxis (gem. mit Bruno Simma 1976, 2. unveränderte Aufl. 1981, 3. Aufl. 1984)
XXI Adolf Merkl (1890–1970) Herbert Schambeck Das Leben eines jeden Menschen ist zeit- und schicksalsgebunden sowie geschichtsbedingt; diese allgemeine Feststellung gilt auch für einen Staatsrechtslehrer, wie es in Österreich ADOLF MERKL war.
I. In Wien, der damaligen Reichs- und Residenzstadt. die auch Hauptstadt des Erzherzogtums unter der Enns war, als Sohn eines Forstakademikers, am 23.3.1890 geboren, verbrachte ADOLF MERKL1 seine Kindheit in Naßwald an der Rax. dem damaligen Dienstort seines Vaters. Auch nach dem frühen Tod seines Vaters blieb ADOLF MERKL,2 zunächst als einziges Kind seiner verwitweten Mutter mit ihr und später gemeinsam mit seiner Frau EDITH, der Tochter eines Wiener Rechtsanwaltes, dieser Gegend um Schneeberg und Rax zeitlebens treu. In Prein an der Rax verbrachte er all seine Freizeit. Größere Reisen, außer zu einigen Jahresversammlungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, hat er nie angetreten, seine Gattin erst nach seinem Ableben.
1 Siehe über Adolf J. Merkl: Autobiographie Adolf Julius Merkl in: Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen, geleitet von Nikolaus Grass, Schlern-Schriften 97, Innsbruck 1952, S. 137 ff. 2 Herbert Schambeck, Leben und Werk von Adolf Julius Merkl, Schriftenreihe der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft, Band 55, Wien 1990; Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf J. Merkl, Leben und Werk, Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts, Band 13, Wien 1989; Adolf J. Merkl Werk und Wirksamkeit, Ergebnisse eines Internationalen Symposions in Wien (22.–23.3.1990), hrsg. von Robert Walter, Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts, Band 14, Wien 1990 sowie Wolf-Dietrich Grussmann, Chronologische Bibliographie der Werke Merkls, in: Walter (Hrsg.), a. a. O. S. 279 ff.; und Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky, Rene Marcic, Herbert Schambeck, 2 Bände, Wien, Frankfurt, Zürich 1968, Neudruck Wien 2010, S. 1969 ff.
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Hier in der niederösterreichischen Bergwelt entstand seine Liebe zur Natur, die sich später in seiner Initiative ausgehend von Niederösterreich zu den Landesnaturschutzgesetzen3 äußerte. ADOLF MERKL erlebte in seiner Jugend Österreich als Vielvölkerstaat zunächst im Studium, später im öffentlichen Leben. Nach der Volksschule in Naßwald an der Raxalpe besuchte er das Gymnasium in Wien-Josefstadt und später in Wiener Neustadt, wo er 1908 maturierte, um an der Wiener Universität Jus zu studieren. An der Universität Wien hatten ADOLF MERKL in den Staatswissenschaften besonders EDMUND BERNATZIK und HANS KELSEN, zu dessen ersten drei Hörern er zählte, ebenso beeindruckt, wie in der Philosophie FRIEDRICH JODL, LAURENZ MÜLLNER, ADOLF STÖHR und vor allem der aus Berlin gekommene Pädagoge und spätere Pazifist FRIEDRICH WILHELM FÖRSTER. Nach dem Absolutorium 1912 trat MERKL schon 1913 als Rechtspraktikant in den Gerichtsdienst, wo er elf Mal in seiner nicht ganz zweijährigen Gerichtspraxis die Verwendungsweise wechselte. Am 31.5.1913 wurde er zum Dr. jur. promoviert. Nachdem ADOLF MERKL im Dezember 1914 zum Richteramtsanwärter ernannt worden war, trat er am 15.1.1915 in den Verwaltungsdienst der Stadt Wien ein und begann so seinen Dienst in der praktischen Verwaltung, der ihm in kurzer Zeit einen breiten Überblick verschaffte. 1916 legte ADOLF MERKL bei der Statthalterei für Niederösterreich die praktische Prüfung für den politischen Verwaltungsdienst ab. Im März 1917 wurde er in das Handelsministerium berufen, und nachdem aus dessen sozialpolitischer Sektion das kk Ministerium für soziale Verwaltung hervorgegangen war, wurde MERKL am 1.1.1918 in dieses berufen, um schon nach drei weiteren Monaten in das staatsrechtliche Büro des k u k Ministerratspräsidiums versetzt zu werden, dessen Vorstand Ministerialrat Dr. JOSEF VON LÖWENTHAL ihn namentlich mit staatsrechtlichen Fragen, den Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn und der staatsrechtlichen Vorbereitung sowie Durchführung der Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest befasste. Diese Karriere ADOLF MERKLS ist aus mehrfachen Gründen bemerkenswert. Ohne die geringste Empfehlung und dazu noch als Bürgerlicher, was im Hinblick auf die damalige Personalpolitik des Ballhausplatzes eine Seltenheit gewesen war, kam er in jüngsten Jahren in die Zentrale der Verwaltung der Monarchie und das aufgrund seiner staatsrechtlichen Veröffentlichungen und trotz dieser Publikationen. Es muss nämlich hervorgehoben werden, dass ADOLF MERKL 1915 und
3 Beachte Dorothea Mayer-Maly, Das Naturschutzanliegen Adolf J. Merkls, Wiener NaturschutzNachrichten, 65/1990, S. 3 ff.; und Ralf Unkart, Merkl und die rechtliche Fundierung des Naturschutzes, in: Walter (Hrsg.), a. a. O., S. 235 ff.
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1916 das Notverordnungsrecht des Kaisers nach § 14 des Gesetzes, mit dem das Grundgesetz über die Reichsvertretung abgeändert wurde, in seiner Anwendung durch Kaiser FRANZ JOSEPH zur Ausschaltung des Reichsrates in Abhandlungen in den Juristischen Blättern4 heftigst zu kritisieren suchte. Die entsprechenden Stellen wurden von der Zensur gestrichen, und es wurden nur der Titel und der Name des Autors verdeutlicht, hingegen nicht der Inhalts.5 Trotz dieser kritischen Haltung konnte ADOLF MERKL seine Laufbahn im Hinblick auf die damals vorherrschende liberale Haltung glänzend fortsetzen und daneben bereits seine Habilitation vorbereiten.
II. In diesen für Österreich so schicksalsschweren Zeiten war ADOLF MERKL nicht nur imstande, an höchst verantwortlicher Stelle als Jurist wegweisend zu wirken, sondern gleichzeitig bereits seine umfangreiche Publikationstätigkeit zu beginnen, die schon damals von dem 26-, 27- und 28jährigen wissenschaftliche Arbeiten entstehen ließ, mit welchen er seine spätere Bedeutung mit der auf ihn bekanntlich zurückgehenden Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung begründete. So erschienen 1916 seine Abhandlungen: „Das Recht im Spiegel seiner Auslegung“6 und „Zum Interpretationsproblem“,7 1917 „Das Recht im Lichte seiner Anwendung“8 und 1918 „Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts“9 sowie seine 1918 so aktuellen Studien „Die
4 Adolf J. Merkl, Die Verordnungsgewalt im Kriege, Juristische Blätter, 44. Jg., 1915, S. 375 f., S. 387 f. (von der Zensur gestrichen), S. 509 ff.; und 45. Jg. 1916, S. 397 f., S. 409 ff., S. 493 ff., S. 505 ff., S. 517 ff. 5 Siehe dazu die Anmerkungen der Redaktion sowie Merkls anlässlich des Abdrucks des der Zensur zum Opfer gefallenen Artikels in den Juristischen Blättern, 48. Jg., 1919, S. 337 ff. 6 Adolf J. Merkl, Das Recht im Spiegel seiner Auslegung, Deutsche Richterzeitung, 8. Jg., 1916, Sp. 584 ff.; 9. Jg., 1917, Sp. 162 ff., S. 394 ff., S. 443 ff.; und 11. Jg., 1919, Sp. 290 ff. 7 Adolf J. Merkl, Zum Interpretationsproblem, Grünhut’sche Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 42, 1916, S. 535 ff., Neudruck in Wiener Rechtstheoretische Schule, a. a. O., 2. Band, S. 1059 ff. 8 Adolf J. Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Sonderabdruck aus der Deutschen Richterzeitung, Hannover 1917. 9 Adolf J. Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Juristische Blätter, 1918, S. 29 ff.
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Rechtseinheit des österreichischen Staates“10 und „Das Österreich von gestern, heute und morgen“11. 1919 bereits habilitierte sich ADOLF MERKL nach 30 bedeutenden wissenschaftlichen Publikationen mit seiner Schrift „Die Verfassung der Republik Deutschösterreich“,12 welche er, wie er später in einem von ihm an ADOLF SCHÄRF gerichteten Brief13 schrieb, „ausschließlich in den Nachtstunden“ verfasst hatte. ADOLF MERKL war nämlich am 2.11.1918, also schon vor der Verzichtserklärung des Kaiser KARL, als erster Beamter des Ministerratspräsidiums dem designierten Staatskanzler der neuentstandenen Republik Deutschösterreich, Dr. KARL RENNER, zur Dienstleistung zur Verfügung gestellt worden. ADOLF MERKL war damals als Staatsrechtler sowohl ein enger Berater des letzten Ministerpräsidenten der zu Ende gehenden Monarchie, Univ.-Prof. Dr. HEINRICH LAMMASCH, wie auch des Staatskanzlers der neuen Republik Dr. KARL RENNER. Beide sprachen bei Beendigung ihrer Funktion als Regierungschef ADOLF MERKL für die während ihrer Amtsführung stets vorzüglich geleisteten Dienste unter voller Anerkennung seines „unermesslichen Pflichteifers“ den wärmsten Dank aus.14 ADOLF MERKL erlebte in der Folge die entscheidenden wegweisenden Zeiten der Entstehung der Republik, die Entwicklung der Provisorischen und anschließend Konstituierenden Nationalversammlung sowie das Werden des BundesVerfassungsgesetzes. MERKL nahm oft an den Sitzungen des Staatsrates teil und hatte sich staatsrechtlich mit dem Staatsvertrag von Saint Germain, seiner Vorbereitung und Durchführung, den Fragen der Rechtsnachfolge bzw. der Verpflichtungsübernahme nach der Monarchie, dem Minderheitenschutz und der Staatsbürgerschaft zu beschäftigen.
10 Adolf J. Merkl, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates. Eine staatsrechtliche Untersuchung auf Grund der Lehre von der lex posterior, Archiv für öffentliches Recht, Band 37, 1918, S. 56 ff. 11 Adolf J. Merkl, Das Österreich von gestern, heute und morgen. Eine staatsrechtliche Frage, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 51 Jg., 1918, S. 189 ff. 12 Adolf J. Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich. Ein kritisch-systematischer Grundriss, Wien, Leipzig 1919. 13 Adolf J. Merkl, Brief an Adolf Schärf vom 18. November 1955, siehe Grussmann, Adolf J. Merkl Leben und Werk, a. a. O., S. 22 (FN 60). 14 Brief des kk Ministerpräsidenten Dr. Heinrich Lammasch an den Ministerialkonzipisten im kk Ministerratspräsidium Dr. Adolf Merkl vom 28.10.1918, Zl. n 10.752 M. P. , sowie von Staatskanzler Dr. Karl Renner vom 7.7.1920, 1458/9 St.K., an den Ministerialvizesekretär der Staatskanzlei Dr. Adolf Merkl; beide aus dem Nachlass im Besitz des Verfassers.
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In dieser Funktion im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes wurde ADOLF MERKL auch dem Unterausschuss des Verfassungsausschusses der Konstituierenden Nationalversammlung beigezogen, war ein enger Mitarbeiter des Berichterstatters des Verfassungsausschusses der Konstituierenden Nationalversammlung IGNAZ SEIPEL und war deshalb auch an der Formulierung entscheidender Teile des Berichtes des Verfassungsausschusses sowie an der Redigierung des B-VG beteiligt. HANS KELSEN würdigte später MERKLS „hervorragenden Anteil an der Vorbereitung der ersten Bundesverfassung der österreichischen Republik“.15 Daneben hatte ADOLF MERKL auf Einladung von Prof. Dr. LUDO HARTMANN seit 1915 begonnen, im Ottakringer Volksheim Volkshochschulvorträge zu halten; eine Tätigkeit, die er bis 1938 fortsetzte. Die Lehrtätigkeit war dann auch seine ständige hauptberufliche akademische Aufgabe, als ADOLF MERKL am 4.12.1920 zum ao. Professor an der Rechtsfakultät der Universität Wien als Nachfolger des nach Hamburg berufenen RUDOLF VON LAUN ernannt wurde. Schon vor seiner Wiener Professorenernennung hatte ADOLF MERKL eine Berufung nach Brünn erhalten gehabt und abgelehnt. Anfang 1933 erfolgte die Ernennung von ADOLF MERKL zum o. Professor an der Universität Wien, nachdem ihm 1930 schon der Titel eines o. Professors verliehen worden war. Dies geschah nach dem Abgang von HANS KELSEN nach Köln und der Ablehnung von an ADOLF MERKL ergangenen Berufungen auf ordentliche Lehrstühle an die deutsche Universität von Prag sowie an die Universität Marburg an der Lahn. Zwei Jahre später, nämlich für das Studienjahr 1934/35, wählte die Wiener Rechtsfakultät ADOLF MERKL zum Dekan.
III. Diese genannten Jahre waren wohl die wissenschaftlich fruchtbarsten von ADOLF MERKL. Allein im Jahr 1921 weist sein Publikationsverzeichnis für dieses Jahr über 44 Veröffentlichungen auf. In diese Zwischenkriegsjahre fallen an Veröffentlichungen von ihm z. B. seine später oft zitierten Abhandlungen 1921 „Zum rechtstechnischen Problem
15 Hans Kelsen, Adolf Merk1 zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23.3.1960, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band X NP (1960), S. 315
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der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung“16 und 1923 über „Demokratie und Verwaltung“17 sowie gemeinsam mit HANS KELSEN und GEORG FRÖHLICH der Kommentar „Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920“,18 1923 sein Buch „Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff“. Eine rechtstheoretische Untersuchung19 von über 300 Seiten und vor allem sein 1927 erschienenes „Allgemeines Verwaltungsrecht“.20 Diese mehr als 400seitige Schrift sollte MERKLS grundlegendes Werk werden. Dieses Buch fand auch international ein starkes Echo, was seine Besprechungen, aber vor allem die Übersetzungen ins Tschechische21 und Spanische22 zeigten. 1969 wurde dieses längst vergriffene Werk über Initiative von KARL KORINEK, von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt im Neudruck mit einem Vorwort von KARL KORINEK23 veröffentlicht. In diesem seinem Hauptwerk hat ADOLF MERKL, wie übrigens auch später 1931 in seinem Beitrag zur ersten Kelsen-Festschrift,24 die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung näher ausgeführt und damit die ursprünglich mehr statische Reine Rechtslehre von HANS KELSEN dynamisiert.25 Der Rang einer Norm in diesem Stufenbau der Rechtsordnung bestimmt sich nach der derogatorischen Kraft. Jeder Rechtssatz, ausgenommen die oberste Norm, nämlich der Verfassungsrechtssatz, der nur bedingender Natur ist, und die Vollstreckungsnorm, die bloß bedingten Charakters ist, ist sonst von zweifacher Natur: er hat einen bedingenden und einen bedingten Charakter. Jeder Rechts-
16 Adolf J. Merkl, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, Zeitschrift für öffentliches Recht, Band I (1921), S. 336 ff. 17 Ado1f J. Merkl, Demokratie und Verwaltung, Wien, Leipzig 1923. 18 Hans Kelsen/Georg Fröhlich/Adolf Merkl (Hrsg.), Die Bundesverfassung vom 1.10.1920, Wien, Leipzig 1922. 19 Adolf J. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff. Eine rechtstheoretische Untersuchung, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band 15, Leipzig, Wien 1923. 20 Adolf J. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien, Berlin 1927 21 Obecne pravo spravni, (Allgemeines Verwaltungsrecht), Band 1, Praha, Brno 1931, und Band 2, Praha, Brno 1932. 22 Teoria General del Derecho Administrativo (Allgemeines Verwaltungsrecht), Madrid 1935, und Teoria General del Derecho (Neudruck), Mexico 1980. 23 Siehe Karl Korinek, Vorwort zum Neudruck von Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Darmstadt 1969, S. VI ff. 24 Adolf J. Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in Alfred Verdross u. a. (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252 ff. 25 Siehe Hans Kelsen, Vorrede zur 2. Auflage „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1923, Neudruck Scientia, Aachen 1960, XV.
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satz ist Teil eines Delegationszusammenhanges im Dienste der Verfassungskonkretisierung. Fragen der Verfassungskonkretisierung einschließlich ihrer Kontinuität bewegte ADOLF MERKL auch nach seinem Ausscheiden aus dem Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes am 3.1.1921 mit seiner Ernennung zum ao. Professor. Bis 1923 blieb er vertragsmäßig als Konsulent zur Verfügung. Es hat auch in späteren Jahren keine entscheidende Phase in der Entwicklung des österreichischen Staatsrechts gegeben, welche nicht von ADOLF MERKL prägend kritisch kommentiert wurde.26 Besonders sei in diesem Zusammenhang auf sein Engagement in Bezug auf die Verfassungsnovelle 192927 verwiesen, in welcher sich MERKL für die Wahrung der Rechtskontinuität, für die Stärkung der direkten Demokratie und die Rechte des Bundespräsidenten einsetzte sowie sich mit der Anschlussfähigkeit Österreichs an das Deutsche Reich auseinandersetzte. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass MERKL ebenso wie HANS KELSEN schon von Anbeginn der Republik ein Befürworter des Anschlusses Österreichs an Deutschland28 war und mit KELSEN an einer gesamtdeutschen Verfassung arbeitete. Ähnliche Tendenzen waren auch vergleichsweise im Strafrecht zu jener Zeit feststellbar, in der FERDINAND KADECKA österreichischerseits und GUSTAV RADBRUCH von Seiten Deutschlands an einem gesamtdeutschen Strafrechtsbuch arbeiteten.
IV. ADOLF MERKL gehörte zu jenen Liberalen29 in Österreich, die für den Anschluss an Deutschland, aber gegen jedes autoritäre faschistische, nationalsozialistische und rassistische Regime waren. MERKL war daher kritisch sowohl gegenüber
26 Beispielsweise seien erwähnt Adolf J. Merkl, Zur Trennung Wiens von Niederösterreich, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 1921, S. 251, sowie zur B-VG-Novelle 1925: derselbe, Epilog zur Verfassungsreform, Der österreichische Volkswirt, 1925, S. 1241 ff. und 1269 ff.; und derselbe, Die österreichische Verfassungsreform, Preußisches Verwaltungsblatt, Bd. 47, 1926, S. 275 ff. 27 Siehe u. a. Adolf J. Merkl, Zur Verfassungsreform. Die Verfassungsnovelle im Licht der Demokratie, Juristische Blätter, 1929, S. 469 ff.; derselbe, Verfassungsreform und Verfassungslegende, Der österreichische Volkswirt, 1929, S. 293 ff.; und derselbe, Zur Verfassungsreform, Wiener Neueste Nachrichten vom 20.10.1929 und vom 27.10.1929, S. 2 f. 28 Dazu näher Grussmann, a. a. O., S. 36. 29 Siehe Theo Maxer-Maly, Der liberale Gedanke und das Recht, in: Festschrift für Ado1f J. Merkl zum 80. Geburtstag, München-Salzburg, 1970, S. 247 ff.
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ENGELBERT DOLLFUSS und KURT VON SCHUSCHNIGG30 als auch gegenüber ADOLF HITLER eingestellt. Die Folgen waren unterschiedlich. ADOLF MERKL konnte sich kritisch mit der sogenannten Dollfußverfassung31 einschließlich der Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes32 auseinandersetzen; 1935 erschien bei Springer sein noch heute aus der Sicht der Staatslehre beachtenswertes Werk „Die ständisch- autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriss“,33 und noch im November und Dezember 1937 sowie Jänner 1938 veröffentlichte er in dem „Österreichischen Volkswirt“ eine Aufsatzreihe,34 welche unabhängig von der damaligen Verfassung Grundfragen des modernen Staates und der Demokratie behandelte. Obgleich MERKL Österreich nach 1933 sehr kritisch gegenüberstand, ohne sich deshalb in parteipolitische Auseinandersetzungen einzulassen, konnte er seine Lehr- und Publikationstätigkeit ungehindert fortsetzen, sieht man von einzelnen auch polemischen Zeitungsattacken ab. KURT VON SCHUSCHNIGG erzählte mit einmal, er hätte mit Frau Dr. EDITH MERKL in dieser Zeit sogar einmal gemeinsam in Wien den Juristenball eröffnet.
30 Vgl. u. a. Adolf J. Merkl, Legitime Diktatur, Wiener Neueste Nachrichten vom 4.10.1932, S. 1 f.; derselbe, Die Verfassungskrise im Lichte der Verfassung, Der österreichische Volkswirt, 1933, S. 584 f.; derselbe, Die Suspension der Pressefreiheit, Neue Freie Presse vom 9.3.1933, S. 2; derselbe, Die Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit, Neue Freie Presse vom 28.3.1933, S. 4; derselbe, Der Verfassungskampf, Arbeiterzeitung vom 26.3.1933, S. 5 f.; und derselbe, Die Führerstellung des Bundeskanzlers, Juristische Blätter, 65. Jg., 1936, S. 177 ff. 31 Vergleiche Adolf J. Merkl, Das neue Verfassungsrecht, Juristische Blätter, 63. Jg., 1934, S. 201 ff., S. 225 ff., S. 265 ff., S. 290 ff., S. 357 ff.; derselbe, Österreichs neue Verfassung, Wiener neueste Nachrichten vom 1.4.1934; und derselbe, Die Wende des Verfassungslebens, Wiener Neueste Nachrichten vom 1.5.1934. Beachte dazu Norbert Leser, Merkls Analyse der ständischautoritären Verfassung, 1934, in: Walter (Hrsg.), a. a. O., S. 213 ff. 32 Siehe Adolf J. Merkl, Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofes, Wiener Neueste Nachrichten vom 9.3.1933; beachte auch derselbe, Den politischen Parteien ins Gewissen! „Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofes“, Der Staatsbürger, Beilage der Salzburger Nachrichten, 12. Jg., 1959, S. I f., und Helmut Pichler, Merkl zur Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Walter (Hrsg.), a. a. O., S. 257 ff. 33 Adolf J. Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriss, Wien 1935. 34 Adolf J. Merkl, Probleme der ständischen Neuordnung Österreichs, Wien 1938, Sonderabdruck einer Aufsatzreihe aus dem österreichischen Volkswirt, in welchem Merkl folgende Themen behandelte: Das Ständeparlament, Der österreichische Volkswirt, 1937, S. 111 ff.; Die Fragen des ständischen Wahlrechts, Der österreichische Volkswirt, 1937, S. 171 ff.; Ständische Staatsverfassung und ständische Selbstverwaltung; Der österreichische Volkswirt, 1937, S. 191 ff.; Die staatspolitische Bedeutung der Ständeordnung, Der österreichische Volkswirt, 1938, S. 299 ff.
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Anders war aber die Situation für ADOLF MERKL nach der Besetzung: Österreichs durch Hitlerdeutschland im März 1938. Er wurde noch im April 1938 außer Dienst gestellt. In der Folge wurde MERKL von der Gestapo einvernommen, wo er sich so heftig gegen ADOLF HITLER aussprach, dass man bei der damaligen Situation meinte, er sei nicht ganz bei Sinnen. Im Dezember 1939 wurde ADOLF MERKL in den dauernden Ruhestand versetzt. Er versuchte daraufhin, einer Tätigkeit als Helfer in Steuersachen nachzugehen, wozu er in seinem Hörsaal einen entsprechenden Vorbereitungskurs besuchte. Diese Situation änderte sich, als er im Oktober 1941 mit der vertretungsweisen Wahrnehmung einer öffentlich- rechtlichen Professur an der Universität Tübingen betraut wurde, wo ihn ein Kreis gleichgesinnter Kollegen erwartete. Manchen von ihnen blieb MERKL auch nach seiner Rückkehr nach Wien verbunden, wie ERICH FECHNER. Nach Beendigung des 2. Weltkrieges und des NS-Regimes gehörte MERKL zu den „Unbelasteten“ seiner Fakultät und man erweiterte seine Venia auch auf Völkerrecht. Am 11.11.1948 wurde ADOLF MERKL neuerlich zum o. Professor an der Wiener Universität ernannt, wo er im Sommersemester 1950 seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm und über seine Emeritierung hinaus bis 1965 fortsetzte.
V. Es ist bemerkens- und hervorhebenswert, dass für ADOLF MERKL die Zeit von 1938 bis 1945 nicht nur eine Zeit des persönlichen Schicksals, sondern auch der neuen Schwerpunktsetzung war. ADOLF MERKL war entsetzt über die Verfolgungen aus rassistischen und politischen Gründen und über die Folgen dieses Regimes überhaupt. Aus diesen Gründen hat er sich nach Beendigung des 2. Weltkrieges bis zu seinem Ableben 1970 mehr als bisher auch mit Fragen der Rechtsethik35 beschäftigt. Er, der Meister der Rechtssatzformenlehre, wendet sich nach dem erschütternden Erleben des Missbrauches positiven Rechts der Rechtsinhaltsbetrachtung zu. Aus der Vielzahl seiner Veröffentlichungen dieser Zeit nach 1945 sei auf seine jeweils grundlegenden Arbeiten „Baustile des modernen Staates“,36
35 Dazu siehe näher Herbert Schambeck, Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl, in: Walter (Hrsg.), a. a. O., S. 266 ff. und derselbe, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986 36 Adolf J. Merkl, Baustile des modernen Staates, Universitas, 1. Jg., 1946, S. 225 ff.
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„Das Flüchtlingsproblem in volkstumsgeschichtlicher und volkstumsrechtlicher Beleuchtung“,37 „Kriegsdienstverweigerung und Friedensbewegung“,38 „Unvergängliches Freiheits-Erbgut“,39 „Tragödie des Gehorsams“,40 „Gnade für Kriegsverbrecher?“,41 „Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechts“,42 „Idee und Gestalt der politischen Freiheit“43 und „Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis“44 verwiesen. Zwei Themenbereiche beschäftigten ADOLF MERKL besonders: die Entwicklung des Verfassungssystems Österreichs45 und der Naturschutz.46
37 Ado1f J. Merkl, Das Flüchtlingsproblem in volkstumsgeschichtlicher und volkstumsrechtlicher Beleuchtung, Christ unterwegs, 2. Jg.,1948, Nr. 4, S. 4 ff. 38 Adolf J. Merkl, Kriegsdienstverweigerung und Friedensbewegung, Friedenswarte, 1949, Nr. 3, S. 123 ff. 39 Adolf J. Merkl, Unvergängliches Freiheits-Erbgut, in: Festschrift für Heinrich Klang zum 50. Geburtstag, Wien 1950, S. 14 ff. 40 AdoIf J.Merkl, Tragödie des Gehorsams, Stuttgarter Zeitung vorn 20.1.1950, S. 3. 41 Adolf J. Merkl, Gnade für Kriegsverbrecher?, Zukunft, April 1951, S. 114 ff. 42 Adolf J. Merkl, Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechts, Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft am 7.12.1950, Juristische Blätter, 1951, S. 60 ff. 43 Adolf J. Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Max Imboden u. a. (Hrsg.), Demokratie und Rechtsstaat, Festschrift für Zaccharia Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff. 44 Adolf J. Merkl, Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften. 1957, Nr. 22, S. 353 f. 45 Hervorgehoben seien Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, a. a. O.; derselbe, Zur Verfassung unserer Republik, Juristische Blätter, 48. Jg., 1919, S. 147 ff. und 181 ff.; derselbe, Die deutschösterreichische Bundesverfassung, Deutsche Juristen-Zeitung, 1921, Sp. 18 ff.; Kelsen/Fröhlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1.10.1920, a. a. O.; derselbe, Epilog zur Verfassungsreform, a. a. O.; derselbe, Das neue Verfassungsrecht, a. a. O.; derselbe, Verfassungsreform in Österreich, a. a. O.; derselbe, Zur Verfassungsreform, a. a. O.; derselbe, Das neue Verfassungsrecht, a. a. O.; derselbe. Die Wende des Verfassungslebens, neue Verfassungsrecht, a. a. O.; derselbe, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, a. a. O.; derselbe, Probleme der ständischen Neuordnung Österreichs, a. a. O.; und derselbe, Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung, in: Hans Lentze/Peter Putzer (Hrsg.), Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 70. Geburtstag, Sa1zburg 1971, S. 517 ff. Dazu Heinz Schäffer, Merkl Darstellung und Kritik des B-VG 1920 und seiner Entwicklung, in: Walter (Hrsg.), a. a. O., S. 159 ff. 46 Aus seinem umfangreichen Schrifttum zu diesem Thema seinen beispielsweise erwähnt: Adolf J. Merkl, Das Walderhaltungsgesetz, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg., 1921, S. 250 f.; derselbe, Das Naturschutzgesetz, Eine Entgegnung, Juristische Blätter, 1925, S. 86 ff.; derselbe, Erreichtes und Erstrebtes im Naturschutz, Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 16. Jg., 1929, S. 45 ff.; derselbe, Das Wiener Naturschutzgesetz und wir, Blätter für Natur-
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In Bezug auf die österreichische Staatsrechtsordnung ging es ADOLF MERKL nach Beendigung des 2. Weltkrieges um die Begründung seiner Theorie der Okkupation Österreichs,47 dass nämlich Österreich 1938 bis 1945 durch die Besetzung von Seiten Hitlerdeutschlands nicht seine Rechts-. sondern nur seine Handlungsfähigkeit verloren und somit die Völkerrechtssubjektivität behalten hatte. Noch als Ordinarius in Tübingen erkannte MERKL, dass die Frage nach der Rechtskontinuität für Österreich von entscheidender Bedeutung werden könne, was sich auch später auf dem Weg zum Staatsvertrag 1955 als richtig erwies. Auf die Zusammenfassung seiner diesbezüglichen Gedanken in seinen Abhandlungen „Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich – eine Geschichtslegende“ und „War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches“ sei besonders verwiesen;48 ausdrücklich sei auch bemerkt, dass sich ADOLF MERKL kritisch mit dem Weg Österreichs zum Parteienstaat auseinandersetzte. Kritische Gedanken MERKLS galten vor allem – bei grundsätzlicher Bejahung der, wie MERKL es ausdrückte, „staatserhaltenden Aufgabe der politischen Parteien“ – dem Verhältnis von personellem Proporz und verfassungsrechtlichem Gleichheitsgebot sowie dem Klubzwang und dem Grundsatz des freien Mandats.49 Neben derart aktuell gebliebenen Anliegen des Staatsrechts und der Politik hat sich ADOLF MERKL zeitlebens mit Aufgaben und Problemen des Naturschutzes beschäftigt. Man geht sicher nicht fehl, wenn man nach heutigen Denk- und Beurteilungskategorien ADOLF MERKL als den „ersten Grünen“ bezeichnet!
kunde und Naturschutz, 22. Jg., 1935, S. 161; derselbe, Naturschutzgebiete in Österreich, Mitteilungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins, Band 50 NF, 1934, S. 111 f.; derselbe, Naturkenntnis, Naturliebe, Naturschutz, Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 28. Jg., 1941, S. 41 ff.; derselbe, Wann erhält Österreich seinen ersten Nationalpark?, Naturschutz 1960, Nr. 17, S. 34 ff.; und derselbe, Die Verunreinigung der Gewässer als innerstaatliches und internationales Rechtsproblem, Diskussionsbeitrag, Verhandlungen des 1. österreichischen Juristentages, II/3, 1961, S. 43 ff. 47 Vgl. Ado1f J. Merkl, War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches?, Archiv für öffentliches Recht, Band 82, 1957, S. 480 ff.; derselbe, 13.3.1938 -Schicksalstag als Rechtsproblem, Der Staatsbürger, 16. Jg., 1963, Nr. 5, S. 1 ff.; und derselbe, Okkupation oder Annexion? Die Rechtsstellung Österreichs in der Zeit der Beherrschung durch das Hitler-Reich, in: Anton Burghardt u. a. (Hrsg.), Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S. 425 ff. 48 Adolf J. Merkl, Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich – eine Geschichtslegende, Juristische Blätter, 1955, S. 439 f.; und derselbe, War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches, Archiv des öffentlichen Rechts, 1957, S. 480 ff. 49 Adolf J. Merkl, Der Staat und die politischen Parteien, Jahrbuch des österreichischen Gewerbevereins, 1962, S. 62 ff. und derselbe, Das Unbehagen im Parteienstaat. Die Antwort der Verfassung, Forum, 6. Jg., 1959, Nr. 62, S. 50 ff.
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ADOLF MERKL beeinflusste die Naturschutzgesetzgebung der österreichischen Bundesländer und gehörte für Jahrzehnte dem Vorstand des deutschen Vereins Naturschutzpark an, der lange Zeit unter dem Vorsitz von ALFRED TÖPFER stand. Es ist erstaunlich, wie sehr sich ADOLF MERKL, je älter er wurde, in einem immer stärker zunehmenden Maße Fragen zuwendete, welche den bloß formaljuristischen Bereich überschritten. Das war sicher kein Gegenstand seines bisherigen juristischen Denkens, wohl aber eine deutliche Weiterentwicklung von Ansätzen. So hielt er neben seinen Vorlesungen zum österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht und zur allgemeinen Staats- und Verwaltungslehre auch jahrelang: Seminare zu „Freiheit und Gerechtigkeit“ ab; durch meine Teilnahme an einem derartigen Seminar bin ich mit ihm und meiner Vorgängerin als Assistentin, der um ADOLF MERKL hochverdienten DOROTHEA MAYER-MALY in Kontakt gekommen, was für meinen späteren Berufs- und Lebensweg ausschlaggebend wurde.
VI. ADOLF MERKL, der sich schon in seiner Jugend in viel beachteten Studien, wie jenen über den rechtlichen Stufenbau, mit den Formen des positiven Rechts beschäftigte, setzte sich in seinem Alter mit dem Missbrauch des positiven Rechts auseinander. Nach der Betrachtung der Rechtssatzformen beschäftigte er sich nunmehr mit den Rechtsinhalten. Besonders sei auf seine Arbeiten über „Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik“50 und seinen grundlegenden Beitrag „Zum 80. Geburtstag HANS KELSENS. Reine Rechtslehre und Moral“,51 beide 1961, hingewiesen. Der Meister des rechtlichen Stufenbaus hatte den Missbrauch der von ihm dargestellten Rechtssatzformen erlebt und gewusst, dass auch im 20. Jahrhundert das Gesetz gegen die Freiheit und Würde des Menschen missbraucht werden kann. MERKL sagte daher oft aus tiefster Überzeugung: „Es gibt Zeiten, in welchen es ehrenwerter sein kann, durch den Staat als für den Staat zu sterben“. Es ist geradezu ein Lebensbekenntnis geworden, als ADOLF MERKL in einer seiner letzten Niederschriften, nämlich seiner schon zitierten Publikation in der
50 Adolf J. Merkl, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik, in: Joseph Höffner u. a. (Hrsg.), Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck, Wien, München 1961, S. 467 ff. 51 Adolf J. Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XI NF, 1961, S. 293 ff.
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HANS KELSEN zum 80. Geburtstag gewidmeten Festnummer der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht über „Reine Rechtslehre und Moralordnung“ feststellte: „Die Reine Rechtslehre ist gerade in ihrem Verdammungsurteil gegen Einmengungen aus anderen normativen und explikativen Wissenschaften eine theoretische Notwendigkeit, ein Durchbruch zum Recht. Weil dieses aber als allzu menschliche Einrichtung zwischen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik“.52 ADOLF MERKL kehrte damit bewusst zu den Gedanken seiner allerersten Veröffentlichung53 zurück. Es war dies die Besprechung des Buches von ERICH JUNG „Das Problem des natürlichen Rechts“, erschienen in der Zeitschrift für öffentliches Recht 1914.54 Dort schon erklärte ADOLF MERKL gleichsam bekenntnishaft, dass er dem natürlichen Recht die Mission zuschreibe, „ständiges ‚regulatives Prinzip des positiven Rechts‘ zu sein“.55 Schon bei dieser Gelegenheit betonte er, dass „der staatliche Befehl seine verpflichtende Kraft nicht aus seinem Ursprung, sondern aus seiner Übereinstimmung mit der Idee des Rechtes empfängt“.56 Auch später in seiner Schrift „Das doppelte Rechtsantlitz“ 191857 und 1923 in seinem Buch „Die Lehre von der Rechtskraft,“58 hat ADOLF MERKL bei aller Darstellung der Rechtsordnung deren präpositive Bezüge nicht aus dem Auge verloren.
52 Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens, a. a. O., S. 313. 53 Merkl, Selbstdarstellung, a. a. O., S. 139, bezeichnet diese Veröffentlichung, obwohl bereits 35 Jahre zurückliegend, als noch heute gültig. 54 Adolf J. Merkl, Buchbesprechung von: Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Jg., 1914, S. 570 ff. 55 Buchbesprechung Jung, a. a. O., S. 570. 56 Buchbesprechung Jung, a. a. O., S. 570. 57 Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, a. a. O., S. 29: „Eine Art naturrechtliche Wurzel fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert; der Vorwurf der ‚Naturrechtlerei‘ ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen“. 58 Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, a. a. O., S. 210: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten als eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen, mit einem Wort als Rechtssystem, als ein rechtlicher Kosmos gedeutet werden können, dann muss es vielmehr als Ausfluss eines gemeinsamen Ursprungs erkannt werden. Die eine Ursprungsnorm ist nicht anders als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, dass sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechts teilt; insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt“
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Nicht übersehen werden soll auch, dass sich ADOLF MERKL mit dem staatsrechtlichen Gehalt der katholischen Soziallehre, ausgehend von päpstlichen Lehräußerungen, beschäftigte, so 193459 und 1961.60 Eine Darstellung des Lebens und Schaffens ADOLF MERKLS ist jedoch unvollständig, wenn man nicht auch auf den dieses Wirken erst ermöglichenden Menschen ADOLF MERKL eingeht. ADOLF MERKL war genügsam bis asketisch, zwar selbstbewusst und überzeugt von der Richtigkeit seiner Einstellung, für die er überall eintrat, aber nie rechthaberisch. Er war persönlich still, zurückhaltend und fast distanziert, aber engagiert für seine Anliegen. In diesem seinen Engagement schonte er sich nicht. Solange er gesundheitlich in der Lage war, nahm er zu aktuellen Themen auch in Leserbriefen Stellung und engagierte sich für seine Anliegen, zeitlebens für den Natur- und Minderheitenschutz, später auch in der Widerstands- und Friedensbewegung, ohne sich ideologisch missbrauchen zu lassen!
VII. ADOLF MERKL nahm an der Entwicklung seiner Zeit, vor allem was die der Politik und des Rechts betraf, Anteil und das auch kritisch, ohne von sich aus Kontakt zu den Repräsentanten des Staates zu suchen. Äußere Anerkennung erhielt ADOLF MERKL erst in späten Jahren. So früh seine Publikationen von Anfang an Aufsehen erregten und starkes Echo fanden, was sich bis zur Stunde in Zitationen fortsetzt, so spät fand er zum Unterschied von HANS KELSEN und ALFRED VERDROSS äußere Anerkennung, die er zwar nie absichtlich anstrebte, aber hernach doch aufmerksam registrierte. Dies war von kirchlicher, staatlicher und akademischer Seite erst gegen Ende seines 7. Lebensjahrzehnts der Fall: So war ADOLF MERKL Ehrendoktor der Universitäten Innsbruck, Tübingen, Salzburg und Thessaloniki geworden. PAPST PAUL VI. hatte ihm das Komturkreuz des Silvesterordens mit dem Stern, die Republik Österreich das Große Silberne Ehrenzeichen, die Stadt Wien die Ehrenmedaille in
59 Adolf J. Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika Quadragesimo anno, Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XIV, 1934, S. 208 ff, Neudruck in Wiener Rechtstheoretische Schule, a. a. O., 1. Band, S. 381 ff. 60 Adolf J. Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Sozialenzykliken und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart, in: Nikolaus Hovorka (Hrsg.), Siebzig Jahre Enzyklika „Rerum novarum“, Schriftenreihe des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, Heft 15, Wien 1961, S. 29 ff.
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Gold sowie den Preis für Geisteswissenschaften und das Land Niederösterreich das Goldene Komturkreuz verliehen. Seinen Lebenswerk vollendete ADOLF MERKL, der zeitlebens herzleidend war, in Wien am 22.8.1970. In einem Ehrengrab der Gemeinde Wien am Zentralfriedhof, links von der Präsidentengruft gelegen, wurde ADOLF MERKL beigesetzt. So hat er, der sich zeitlebens zu den Repräsentanten der Politik, außer diese konsultierten ihn, bescheiden auf die Distanz gesetzt, jetzt umgeben von deren Gräbern, seine letzte Ruhestätte gefunden. Über sein irdisches Dasein hinaus setzte sich die geistige Wirksamkeit von ADOLF MERKL wegweisend in seinen umfangreichen Schriften61 auch neben HANS KELSEN und ALFRED VERDROSS als bedeutender Vertreter der Wiener Rechtstheoretischen Schule62 fort und blieb nicht ohne Einfluss auf die weitere Rechtsentwicklung. So erklärte KARL KORINEK aus seiner Erfahrung als langjähriges Mitglied und späterer Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, dass ADOLF MERKL „die Grundlage für die heute in der österreichischen Staatsrechtslehre und der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes herrschenden methodischen Positionen eines wertorientierten gemäßigten Positivismus gelegt hat …“.63 Auf diese Weise wirkt auch nach seinem Ableben MERKLS mehrdimensionales Rechtsdenken fort. ADOLF MERKL ist es in seinem Bemühen als Jurist nicht allein um das Rechtswissen, sondern auch um das Rechtsgewissen gegangen. Das Recht war ihm nie Selbstzweck, sondern hatte eine dienende Funktion; es sollte für ihn im Dienst der Menschlichkeit stehen.
Auswahlbiographien Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, hrsg. gemeinsam mit Hans Kelsen und Georg Froehlich, Wien 1922, Neudruck Wien 2003. Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff. Eine rechtstheoretische Untersuchung, Leipzig und Wien 1923 Demokratie und Verwaltung, Wien und Leipzig 1923 Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969
61 Siehe Adolf J. Merkl, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, Wolf- Dietrich Grussmann, 6 Bände, Berlin 1993–2009. 62 Näher Herbert Schambeck, Adolf Merkl und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 781 ff. 63 Karl Korinek, Besprechung von Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl – Leben und Werk, Zeitschrift für Verwaltung, Wien 1990, S. 23.
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Verzeichnis der Wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, Band 2, hrsg. von Hans R. Klecatsky, René Marcic † und Herbert Schambeck, Neudruck Wien 2010, S. 1969 ff.
XXII Mein Vater Ludwig Adamovich (1890–1955) Ludwig Adamovich
I. Vorbemerkung Es ist nicht leicht, Leben und Werk des eigenen Vaters darzustellen. Man kann das nicht mit der Distanziertheit tun, die für eine objektive Darstellung notwendig ist. Zu sehr wirken persönliche Erlebnisse hinein. Ich bin in meiner beruflichen Laufbahn sehr stark der meines Vaters gefolgt, mit gewissen Nuancen. Für mich war mein Vater stets ein unerreichbares Vorbild, ein Riese an Arbeitskraft und Pflichtbewusstsein. Aber ein solches Vorbild weckt natürlich auch Ambivalenzen. Bei aller Identifikation regt sich ein gewisser Protest – aus dem Streben nach Eigenständigkeit. Dieses Spannungsverhältnis hat mich das ganze Leben begleitet. Mein Vater war durch und durch mein „Über-Ich“ im Freud’schen Sinn, gegen das andere Persönlichkeitsschichten aufbegehrten, das aber meist die Oberhand gewann. Mein Vater hat eine Autobiografie verfasst, die 1952 im Sammelband „Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen“, herausgegeben von Nikolaus Grass, erschienen ist. In meiner eigenen Autobiografie „Erinnerungen eines Nonkonformisten“, 2011, finden sich etliche Stellen, aus denen sich das Persönlichkeitsbild meines Vaters ergibt.
II. Lebenslauf Mein Vater verkörperte in seiner Herkunft und in seiner Weltanschauung das alte Österreich. Er wurde geboren am 30.4.1890 in Essegg (heute Osijek) in Slawonien, dem Dreiändereck von Ungarn, Kroatien und Serbien. Slawonien wird gerne mit Slowenien verwechselt. Gemäß der damals geltenden Ordnung war mein Vater königlich-ungarischer Staatsbürger und hat erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie durch Option die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Über seine familiären Wurzeln schreibt er in seiner Autobiografie: „Meine Vorfahren väterlicherseits waren Gutsbesitzer und Offiziere in der österreichisch-ungarischen Armee, mütterlicherseits Juristen im öffentlichen Verwaltungsdienst. Sie alle gehörten dem deutschen Kulturkreis an.“
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Was er nicht erwähnt, ist der Umstand, dass die väterliche Familie schon 1714 in den ungarischen Adelsstand erhoben worden war. Im Alter von drei Jahren kam er mit den Eltern nach Wien, das er seither als seine eigentliche Heimatstadt betrachtete und liebte. Mein väterlicher Großvater ist in sehr jungen Jahren verstorben, und die Großmutter musste mit einer Tätigkeit bei Hof die drei Kinder durchbringen, für die damaligen Verhältnisse ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Mit sechs Jahren kam mein Vater in die Vorbereitungsschule des Jesuitenkollegs in Wien-Kalksburg und blieb dort bis zur Matura im Jahr 1908. In seiner Autobiografie schreibt er, dass er nicht nur ein unentwegter Vorzugsschüler, sondern stets auch der Erste in seiner Klasse war. Da zeigte sich schon etwas, das für seinen weiteren Lebensweg charakteristisch sein sollte, nämlich eine Verbindung von vielfältiger Begabung und eisernem Fleiß. Nach mit Auszeichnung bestandener Reifeprüfung absolvierte mein Vater das Studium der Rechtswissenschaft und legte erst nach der Promotion das Einjährig-Freiwilligen-Jahr zurück. Er stand unmittelbar vor der Ausmusterung als der Erste Weltkrieg ausbrach, den er zur Gänze an verschiedenen Fronten als Reserveoffizier der schweren Artillerie erlebte. Über den Zusammenbruch der Monarchie schreibt er wörtlich: „Mit dem Zusammenbruch des alten Donaureiches im November 1918 ist mir buchstäblich eine Welt in Trümmer gegangen. Von Kindheit an im Glauben an dieses wundervolle große Reich aufgewachsen, dessen hohe Mission heute wohl auch manchem damals Ungläubigen klar geworden ist, brauchte ich lange Zeit, um mich in das unentrinnbare Geschehen zu fügen und meine innere Ruhe wieder zu gewinnen.“
Mein Vater trat dann in den Dienst des Landes Niederösterreich und war zunächst bei einer Bezirkshauptmannschaft als Konzeptsbeamter tätig. Diese Dienstleistung bei der politischen Behörde der ersten Instanz brachte ihm, wie er schreibt, eine Schulung in der praktischen Handhabung des Verwaltungsrechts, wie er sie besser und nachhaltiger nicht finden konnte. Er hat dann die vorgeschriebene Dienstprüfung „mit besonderem Erfolg“ abgelegt und wurde im Hinblick darauf zur Niederösterreichischen Landesregierung nach Wien einberufen und dem Präsidium des Amtes als Referent für Verfassungsfragen zugeteilt. Damals bildeten die Bundeshauptstadt Wien und das Land Niederösterreich noch eine Einheit, die mit dem Wirksamwerden der neuen Bundesverfassung aufgelöst werden sollte. An den legislativen Arbeiten zur Durchführung dieses Konzeptes hat mein Vater teilgenommen und ist in Kontakt mit leitenden Beamten des Bundeskanzleramtes geraten. Mit der Konsequenz, dass er mit 1. Dezember 1920 in den Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes einberufen wurde, dem er dann durch sieben Jahre angehörte.
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In allen entwickelten Staaten gibt es Einrichtungen, die sich der Vorbereitung der Verfassungslegislative und verfassungsrechtlichen Angelegenheiten auf Regierungsebene widmen. Der beim österreichischen Bundeskanzleramt eingerichtete Verfassungsdienst ist freilich eine österreichische Besonderheit. Ich kann das beurteilen, weil ich selbst dort durch 25 Jahre tätig war, die letzten sieben Jahre als Leiter. Was mein Vater über diese seine Tätigkeit schreibt, ist allgemein gültig: „Durch meine Tätigkeit im Verfassungsdienst erhielt ich so die denkbar beste Schulung in der Technik der Legislative und einen Einblick in die Entwicklung und Gestaltung der gesamten österreichischen Rechtsordnung, wie ich ihn anderenfalls nie gewonnen hätte.“
Während seiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt lernte mein Vater Hans Kelsen kennen, der noch als wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung tätig war, nachdem er eine hervorragende Rolle bei der Vorbereitung der Bundesverfassung gespielt hatte. Kelsen forderte ihn schon nach kurzer Bekanntschaft auf, sich an der Wiener Fakultät zu habilitieren und schlug ihm als Thema für eine Habilitationsschrift die Bearbeitung der neuartigen Regelung vor, die die österreichische Bundesverfassung für die Prüfung der generellen Rechtsnormen durch den Verfassungsgerichtshof getroffen hat. Mein Vater folgte diesem Rat und konnte sich 1924 mit der Arbeit „Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof“ habilitieren. 1927 wurde mein Vater zum Professor an der Deutschen Universität in Prag ernannt, ein Jahr später zum ordentlichen Professor an der Universität Graz, an der er sechs Jahre verblieb. Im Februar 1930 wurde er zum Mitglied des Verfassungsgerichtshofes ernannt und zum ständigen Referenten gewählt. Damit hatte er, wie er schreibt, jene Aufgabe gefunden, die nach seiner Einschätzung seiner Begabung am meisten entspricht. Mit 1. Oktober 1934 wurde mein Vater zum ordentlichen Professor an der Universität Wien und fast gleichzeitig zum Mitglied des nach der Verfassung 1934 zu bildenden Staatsrates ernannt. Am 15. Februar 1938 wurde er in die letzte österreichische Bundesregierung als Bundesminister für Justiz berufen, die am 11. März 1938 durch eine nationalsozialistische Bundesregierung ersetzt wurde. Der 13. März brachte das vorläufige Ende eines selbständigen Staates Österreich. Dass im nationalsozialistischen Dritten Reich für seine weitere Tätigkeit kein Raum war, war nicht erstaunlich, denn er hatte nie ein Hehl aus seiner vorbehaltlos österreichischen Gesinnung gemacht. Trotz intensiver Bemühungen von Kollegen an der Fakultät, sein Verbleiben im Lehramt durchzusetzen, wurde er mit einer kleinen Pension in den dauernden Ruhestand versetzt und an jeder Beschäftigung gehindert. Nach eigener Aussage schätzte er sich glücklich, dass
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alle diese von der Fakultät wirklich ehrlich gemeinten Bemühungen vergeblich waren und er vor einem unlösbaren Gewissenskonflikt bewahrt blieb. Nach der Wiederherstellung der Republik Österreich im April 1945 stellte sich mein Vater intensiv in den Dienst des Wiederaufbaus. Er wurde zum Rektor der Universität Wien gewählt, die bereits Ende Mai 1945 den Lehrbetrieb wieder aufnehmen konnte. Dieser Wiederaufbau betraf nicht nur die Beseitigung der Kriegsschäden, sondern auch personelle Maßnahmen. Er war, wie er ausführt, ehrlich bestrebt, die „unvermeidlichen Maßnahmen, die diese Aufgabe forderte, möglichst schonungsvoll durchzuführen“. Lapidar schreibt er: „Fünf Semester habe ich das Rektorat unter den schwierigsten Verhältnissen, die die Wiener Universität jemals zu bestehen hatte, geführt.“
Die Tätigkeit als Rektor der Universität Wien war freilich nicht die einzige, die meinem Vater nach der Wiederherstellung der Republik Österreich übertragen wurde. Schon in den ersten Tagen des Mai 1945 wurde er vom damaligen Staatskanzler Dr. Karl Renner eingeladen, die Funktion eines verfassungsrechtlichen Beraters der Provisorischen Staatsregierung zu übernehmen. Er übernahm damit die Aufgabe, die verfassungsrechtlichen Vorlagen, die der wieder entstandenen Heimat eine vorläufige rechtliche Grundlage sichern sollten, auszuarbeiten und in den Sitzungen des Kabinettsrates zu vertreten. Mit der Wiedereinrichtung des Verfassungsgerichtshofes im Herbst 1945 wurde mein Vater zum Vizepräsidenten, im Juni 1946 zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes ernannt. Diese Funktion übte er bis zu seinem Ableben am 23. September 1955 aus. 1953 zeigten sich bereits in dramatischer Weise die ersten Anzeichen der Krebserkrankung, an der mein Vater verstorben ist. Er konnte noch den Abschluss des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 mit den alliierten Besatzungsmächten über die volle Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs erleben. Ebenso konnte er den Eintritt seines Sohnes in den Verwaltungsdienst des Landes Niederösterreich erleben. Während neunmonatiger Bettlägerigkeit hat er – so gut es ging – die Geschäfte des Verfassungsgerichtshofes weitergeführt und bis zuletzt Beispiel gebendes Pflichtbewusstsein bewiesen.
III. Weltanschauung Mein Vater war sein Leben lang Legitimist. In seinen vielfältigen staatlichen Funktionen war er ein treuer Diener der Republik, aber sein Herz schlug für die Monarchie. Legitimismus bedeutet auch Bekenntnis zum Gottesgnadentum und zur
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Synthese von Thron und Altar. Religiosität und politische Überzeugung fließen so ineinander. Stets war mein Vater gläubiger und praktizierender Katholik. Wie bereits dargestellt, hat er in seiner Autobiografie darauf hingewiesen, dass seine Vorfahren dem deutschen Kulturkreis angehörten. Darin liegt nicht der geringste Widerspruch zu seinem betonten Österreichertum, weil er klar zwischen Kultur und Politik zu unterscheiden wusste. Sein betontes Österreichertum erklärt wohl auch, wieso er zur Zeit des ohne Zweifel verfassungswidrigen ständestaatlichen Systems in Österreich vom 5. März 1933 bis 13. März 1938 öffentliche Funktionen ausgeübt hat, obwohl ihm mit Sicherheit klar war, dass die Verfassung 1934 auf illegalem Weg zustande gekommen war. Offenbar war es ihm wichtiger, mit welchen Mitteln auch immer, Maßnahmen zur Stärkung der österreichischen Unabhängigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus zu fördern. Allerdings hat er sich mit Nachdruck gegen die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes gewehrt, die vom ständestaatlichen System inszeniert worden war. Der Staatsrat, in den mein Vater gemäß der Verfassung 1934 berufen worden war, war eines der vier „vorberatenden Organe“ für den Bereich der Bundesgesetzgebung. Formeller Gesetzgeber war der Bundestag. Daneben war aber der Bundesregierung durch ein besonderes Bundesverfassungsgesetz die Ermächtigung erteilt worden, Bundesgesetze – mit Einschluss der Bundesverfassungsgesetze – auch einseitig, ohne Mitwirkung der in der Verfassung 1934 berufenen Organe der Bundesgesetzgebung, zu erlassen. Tatsächlich hat die Bundesregierung in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle von einer Befassung der Organe der Bundesgesetzgebung mit den Gesetzesvorlagen abgesehen und die Bundesgesetze auf dem Wege eines bloßen Ministerratsbeschlusses erlassen. Gegen diese Praxis ist mein Vater, der vom Staatsrat auch in den Bundestag entsendet worden war, dort entschieden aufgetreten. Das beweist, dass er keineswegs ein willenloser Exekutor der ständestaatlichen Ordnung gewesen ist. Freilich verband ihn mit dem autoritären Regime noch etwas anderes als das Österreichertum, nämlich eben das Autoritäre. Er selbst war – sicher ein Ergebnis der zwölfjährigen Erziehung durch die damals keineswegs liberalen Jesuiten – ohne Zweifel eine autoritäre Persönlichkeit. So auch bei der Erziehung seines Sohnes, der ihn zeitweise mehr gefürchtet als geliebt hat; erst in seinen letzten Lebensjahren hat sich das Bild verschoben. Da er ausgesprochen jähzornig war, konnte er einem Kind schon Angst einjagen. Subjektiv war er stets um Obsorge und Gerechtigkeit bemüht; über die angewendeten Methoden lässt sich streiten. Bei aller Detailverliebtheit war mein Vater alles anderes als ein trockener Pedant, er war ein musischer Mensch, dem Kunst und Literatur viel bedeuteten. Seine besondere Liebe galt den alten Sprachen. Freilich hatte er auch eine sehr
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ausgeprägte mathematische Begabung, was man von seinem Sohn nicht behaupten kann. Wie bereits dargestellt, hat Hans Kelsen meinen Vater in jeder Beziehung gefördert. Weltanschaulich gab es einen tiefgreifenden Unterschied zwischen diesen beiden Persönlichkeiten: Kelsen war Agnostiker, mein Vater – wie schon erwähnt – Legitimist und praktizierender Katholik. Aber in zwei Punkten zeigte sich eine überraschende Übereinstimmung. Beide waren durch und durch von der Ordnungsfunktion des positiven Rechts überzeugt. Kelsen schreibt einmal in der Reinen Rechtslehre, dass relative Gerechtigkeit durch jede positive Rechtsordnung gewährleistet sei. Mein Vater hätte das nicht mit diesen Worten formuliert, aber der Ordnungscharakter des positiven Rechts hat für ihn – so paradox es klingt – eine geradezu metaphysische Funktion gehabt. Eine weitere deutliche Übereinstimmung zeigt sich in der Liebe zur Mathematik. Kelsen schreibt in seiner Selbstdarstellung, er hätte sich lieber der Mathematik und den Naturwissenschaften zugewendet als dem Recht. Aber seine Methodik im juristischen Bereich war stark mathematisch inspiriert. Daher auch die Ablehnung aller philosophischen Spekulationen. Die von Kelsen vertretene Identität von Staat und Recht ist nach eigener Darstellung Kelsens durch die Funktion der Rechtsordnung zum Zusammenhalt der Habsburger-Monarchie beeinflusst worden. Auch mein Vater hat dies zweifellos so gesehen. Aber für ihn lag in der Person des Monarchen ein noch wichtigerer Faktor des Zusammenhaltes; in dieser Person fielen aus seiner Sicht „Sein“ und „Sollen“ zusammen. Für meinen Vater waren seine ethischen Maßstäbe Selbstverständlichkeiten; er hat nicht darüber diskutiert. Er war geradezu rigide in seinen moralischen Vorstellungen. Aber mit Naturrecht wusste er sich nichts anzufangen, wie ich gelegentlichen Bemerkungen entnehmen konnte. Ich habe mich öfters gefragt, wie er das mit seinem sehr orthodoxen Katholizismus vereinbaren konnte, der ja das Naturrecht geradezu dogmatisiert. Aber man kann einen Unterschied machen zwischen dem „forum internum“, dem Gewissensbereich, und der äußerlich wahrnehmbaren Norm. Dass sich daraus Konfliktsituationen ergeben können, steht außer Frage.
IV. Wissenschaftliche Arbeit Das rechtswissenschaftliche Credo meines Vaters findet sich in seiner Autobiografie. Er war, wie schon wiederholt betont wurde, durch und durch ein Mann der Praxis des positiven Rechts. Er hielt nichts von rechtswissenschaftlichen Arbei-
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ten ohne den Hintergrund der praktischen Erfahrung. In diesem Zusammenhang zwei wesentliche Zitate: „Die Erfahrungen, die ich in der Praxis in allen drei Instanzen der staatlichen Verwaltung gesammelt, haben in mir die Überzeugung voll und ganz gefestigt, dass zum Vertreter eines modernen Rechtsfaches an unseren Hochschulen nur berufen werden sollte, wer sich selbst in der betreffenden Rechtsdisziplin durch eine entsprechende Zeit praktisch betätigt hat. Nur wer diese Voraussetzungen erfüllt hat, wird in der Lage sein, das ihm anvertraute Fachgebiet theoretisch zu bearbeiten ohne dass er der Gefahr erliegt, ein lediglich gedanklich konstruiertes Kartenhaus von Rechtsgebilden zu errichten, das schon der erste Luftzug aus dem Bereich des wirklichen Lebens zusammenzuwerfen vermag. Ich für meine Person kann wenigstens festhalten, dass mir meine praktische Betätigung im Bereiche der staatlichen Verwaltung nicht nur eine feste Stütze, sondern geradezu eine unentbehrliche Voraussetzung für meine akademische Lehrtätigkeit gewesen ist.“ „Wer meine bisherigen Arbeiten betrachtet, mag auszusetzen haben, dass ich mich zu ausschließlich mit dem positiven Recht befasst, die Theorie demgegenüber vernachlässigt habe. Ich muss diesen Einwand, vielleicht auch jenen des „multa non multum“ gelten lassen. Aber diese vorläufige Beschränkung auf das Gebiet der wissenschaftlichen Behandlung des positiven Rechts entspricht ebenso wie die von mir immer wieder betonte Notwendigkeit einer Verbindung von Theorie und Praxis meiner grundsätzlichen Einstellung. Ich bin der Ansicht, dass die Grundlegung theoretischer Erkenntnisse nur den Abschluss eines Lebenswerkes bilden kann und darf. Auf dem Gebiet des Rechtes sind theoretische Jugendarbeiten, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, zum mindesten gewagt, wenn nicht geradezu verderblich.“
Sehr deutliche Worte, die wohl Widerspruch hervorrufen können und sicher auch hervorgerufen haben. Abgesehen von der bereits erwähnten Habilitationsschrift lag das Schwergewicht der Arbeit meines Vaters ohne Zweifel auf dem Gebiet der Lehrbücher. 1927 erschien sein „Grundriss des österreichischen Staatsrechts“, der in seinen ersten drei Auflagen das Verfassungs- und das Verwaltungsrecht in einem einheitlichen System zusammenfasste, in der vierten Auflage (1947 und 1948) entschloss er sich zu einer gesonderten Darstellung der beiden Rechtsgebiete. Der „Grundriss des österreichischen Verwaltungsrechts“ wurde in fünfter Auflage zum „Handbuch des österreichischen Verwaltungsrechts“ in zwei Bänden (1953 und 1954). Es ist bezeichnend, dass zuerst der zweite Band erschien, der das materielle Verwaltungsrecht zur systematischen Darstellung brachte. Eine fünfte Auflage des Verfassungsrechts als Handbuch konnte erst nach dem Tod meines Vaters 1957 erscheinen und wurde von Hans Spanner bearbeitet. Die sechste Auflage habe ich 1971 selbst bearbeitet. Zur Zeit des Erscheinens der Lehrbücher meines Vaters hatten sie geradezu Monopolcharakter. Heute besteht eine Vielfalt einschlägiger Lehrbücher und es gibt sogar zwei Kommentare zum österreichischen Bundesverfassungsrecht.
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Fortgeführt wurden diese Lehrbücher zunächst durch die von Bernd-Christian Funk und mir selbst herausgegebenen Kurzlehrbücher „Verfassungsrecht“ und „Allgemeines Verwaltungsrecht“, die jeweils drei Auflagen erlebten. Schließlich wurden diese beiden Bände umgestaltet zu einem „Grundriss des österreichischen Staatsrechts“ in vier Bänden, wobei als weitere Mitautoren Gerhart Holzinger, zuletzt auch Stefan Leo Frank, gewonnen werden konnten. Der erste Band ist bereits in zweiter Auflage, der zweite Band schon in dritter Auflage, erschienen. Besonderen Wert legte mein Vater auf die Herausgabe von Gesetzessammlungen. Dazu schreibt er: „Die Herausgabe von Gesetzessammlungen auf dem Gebiete des geltenden Rechts wird, ich weiß es, in wissenschaftlichen Kreisen mitunter nur wenig gewertet. Ich glaube aber, sehr zu Unrecht. Denn welche Unsumme von Kenntnissen auf dem Gesamtgebiet der Rechtsordnung heute von jedem gefordert werden muss, der eine wirklich einwandfreie Gesetzesausgabe veranstalten soll, das weiß nur zu beurteilen und zu würdigen, wer sich selbst dieser mühevollen Aufgabe gewidmet hat. Keine andere Arbeit verlangt und gewährt einen solchen einwandfreien Überblick über die Entwicklung der Rechtsordnung. Und da an den Vertreter jeder modernen Rechtsdisziplin mit Fug und Recht die Forderung gestellt werden muss, ein erster Fachmann auf seinem Rechtsgebiet zu sein und zu bleiben, habe ich mich der Aufgabe der Herausgabe von Gesetzessammlungen trotz der damit verbundenen ungewöhnlichen Belastung bis heute gewidmet.“
Erwähnt sei noch, dass mein Vater die Grundlagen seiner nur einjährigen Tätigkeit an der Deutschen Universität in Prag in einem „Grundriss des tschechoslowakischen Staatsrechts“ (1929) verwertet hat.
V. Verfassungsrichter Es wurde bereits dargestellt, dass aus der Sicht meines Vaters seine Tätigkeit als Verfassungsrichter jene Aufgabe war, die er als seiner Begabung am meisten entsprechend ansah: eine ideale Verbindung von Theorie und Praxis. In der Zwischenkriegszeit gab es in Europa nur drei Verfassungsgerichte, den österreichischen, den liechtensteinischen und den tschechoslowakischen; letzterer ist nie in Aktion getreten. Nach dem zweiten Weltkrieg sind in Europa, aber auch weltweit, die Verfassungsgerichte aus dem Boden gesprossen, wie die Pilze im warmen Regen. Im Vordergrund stand das deutsche Bundesverfassungsgericht, wobei mitunter der Eindruck entsteht, es handle sich um das erste Verfassungsgericht überhaupt. Dabei stand gerade die deutsche Rechtslehre in der Zwischenkriegszeit der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit weitgehend ablehnend gegenüber. Das hat sich mittlerweile gründlich geändert.
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Bei allem Stolz auf die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit hat mein Vater aber auch deutlich die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer solchen Institution hervorgehoben. Mit so mancher Entwicklung der neueren Rechtsprechung wäre er wohl nicht einverstanden gewesen. In einem Vortrag am 7.12.1949 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft hat mein Vater sein Verständnis der Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ausführlich dargelegt. In diesem Vortrag findet sich auch der Satz, das Verfassungsrecht sei ein „streng formales Recht“. Dieser Satz ist später mehrfach hinterfragt worden. Jedenfalls liegt darin die Ablehnung aller Überlegungen, die über das positive Recht hinausgehen, durchaus aber nicht das Kleben an einer reinen Wortinterpretation. Diese ist im Bereich der Grundrechte schon angesichts der vielen unbestimmten Begriffe nicht möglich, im Zeitalter der europäischen Grundrechtskodifikationen schon gar nicht. Es lebt heute niemand mehr, der meinen Vater bei seinem Wirken als Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofes in dessen Beratungen erlebt hat. Dem Vernehmen nach hat er stark dominiert und seine eigene Rechtsauffassung nicht ohne Nachdruck eingebracht. Es gab einige sehr kluge Köpfe im Gerichtshof, aber niemanden, der sich mit meinem Vater an der umfassenden Weite seines Wissens hätte messen können, wohl auch nicht an der Bestimmtheit seines Auftretens. Wie ich selbst aus meiner 19-jährigen Tätigkeit als Präsident des Verfassungsgerichtshofes weiß, hat sich dies heute entscheidend geändert, ebenso die Vielfalt der vertretenen Rechtsmeinungen. Die Zeiten sind vorbei, in denen man den österreichischen Verfassungsgerichtshof mit einer bestimmten Person identifizieren konnte.
Auswahlbibliografie Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof, 1924. Grundriss des österreichischen Staatsrechts, 3 Auflagen, 1927, 1932 und 1935, in 4. Auflage fortgeführt einerseits als Grundriss des österreichischen Verfassungsrechts, 1947, anderseits als Grundriss des österreichischen Verwaltungsrechts, 1948. Letzteres fortgeführt in 5. Auflage als Handbuch des österreichischen Verwaltungsrechts, Band I, 1954, Band II, 1953. Grundriss des tschechoslowakischen Staatsrechts, 1929. Die Bundesverfassungsgesetze, kommentierte Gesetzesausgabe, 8. Auflage, 1953 (die ersten drei Auflagen gemeinsam mit Georg Froehlich, 4. Auflage, 1934, ebenfalls gemeinsam mit Georg Froehlich, unter dem Titel „Die neue österreichische Verfassung“). Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes 1919–1951, 1952.
XXIII Dietrich Schindler (sen.)1 (1890–1948) Daniel Thürer Hier wird, in gedrängter Kürze, ein Bild über Leben, Werk und Wirken dieses bedeutenden schweizerischen Staats- und Völkerrechtlers vorgestellt. Dietrich Schindler lebte von 1890–1948. Als Wissenschaftler, Berater und Staatsbürger prägte er in den Zwanziger und Dreissiger Jahren und in der Zeit des Zweiten Weltkriegs die Entwicklung von Staat und Gesellschaft in der Schweiz und weit darüber hinaus. Schindlers reichhaltiges und grundsätzliches wissenschaftlichen Schaffen und sein praktisches Engagement zeigen Wirkungen bis in die Gegenwart. Die Zusammenstellung dieser kleinen Biographie wurde insofern erleichtert, als es bereits der Sohn des zu Würdigenden, Dietrich Schindler jun., unternommen hatte, ein umgreifendes Lebensbild zu verfassen.2 Kein Anderer als er war besser in der Lage zu schildern, wie Dietrich Schindler lebte und dachte. Er konnte sich, neben seinen persönlichen Erinnerungen aus Familie, Universität und Gesellschaft, auf viele, zum Teil minutiöse Tagebucheinträge seines Vaters stützen. Das nachfolgende Portrait stützt sich ganz wesentlich auf dieses Buch, in dem der Sohn in bemerkenswerter Unabhängigkeit die Gestalt seines Vaters schildert, der nicht nur den gleichen Namen trug und eine sehr ähnliche berufliche Laufbahn aufwies wie er, sondern ihm auch in seiner Erscheinung und in seinen Wesenszügen sehr nahe zu sein schien.
I. Leben Dietrich Schindler wurde am 3. Dezember 1890 in Zürich geboren, und er verstarb in Zollikon (Kanton Zürich) am 10. Januar 1948. Er war Spross einer grossbürgerlichen Familie, die ihre Wurzeln im Kanton Glarus hatte. Der Aufstieg der Familie begann im 18. Jahrhundert mit Samuel Schindler-Schmid, einem Unternehmer
1 Die Kennzeichnung „sen.“, die den hier Gewürdigten von seinem gleichnamigen Sohn (geb. 1924) unterscheiden soll, wird nachfolgend weggelassen; ist der Sohn gemeint, wird „jun.“ angefügt. 2 Dietrich Schindler (jun.), Ein Schweizer Staats- und Völkerrechtler der Krisen- und Kriegszeit: Dietrich Schindler (sen.) 1890–1948, Zürich 2005 (zit. Schindler (jun.)).
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in der Textilindustrie. Dessen Sohn Dietrich Schindler-Schindler (1795–1882), der Urgrossvater des hier Gewürdigten, genoss als erster Angehöriger der Familie in Deutschland eine akademische Ausbildung. Bereits in jungen Jahren wurde er zum Landammann des Kantons Glarus gewählt. Er war Urheber einer neuen Glarner Verfassung, mit der es gelang, eine unheilvolle konfessionelle Spaltung des Kantons zu überwinden, und er wanderte in der Folge nach Zürich aus. Der Vater von Dietrich Schindler, Dietrich Schindler-Huber (1856–1936), war ein energischer Unternehmer, und auch seine Mutter entstammte einer weitsichtigen und tatkräftigen Pionierfamilie aus der Zeit des wirtschaftlichen, städtebaulichen und kulturellen Aufstiegs von Zürich. Der Bruder seiner Mutter, also der Onkel des hier Gewürdigten, war der berühmte Max Huber (1874–1960), der zunächst Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich war und dann Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag und dessen Präsident sowie schliesslich Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz wurde.3 Max Huber hatte schon früh einen prägenden Einfluss auf Dietrich Schindler. Er schrieb seinem Neffen „zum erfolgreichen Übergang in die 5. Klasse“ in einem Brief aus Sri Lanka: „Höre den Schulbuben nicht zu viel. Was sie sprechen ist nicht so gut wie das, was Du zu Hause hörst. Lasse Dir nicht von ihrem Geflunker imponieren, sondern bleibe Dir treu, der ganzen Welt zum Trotze. Preise Dich jeden Morgen glücklich, dass Du Deine Vorbilder in Deinen Eltern besitzest. Gleich ihnen rede nicht zu viel, sondern denke umso mehr und handle. Pfusche in nichts, am wenigsten dann, wenn es Dir darum wäre, es zu tun. Thue jeden Tag etwas Dir zum Trotze.“4 Der willensstarke, „übermächtige“ Vater drängte seinen Sohn später, in seine Firma einzutreten, doch die Aussicht auf eine unternehmerische Tätigkeit befriedigte ihn nicht; er klagte über eine kurze dort verbrachte Zeitspanne als „leere, nutzlose verschwendete Zeit“. Max Huber konnte seinen Schwager überzeugen, dessen Sohn nicht im Unternehmen nachzuziehen und ihn eine akademische Ausbildung und Karriere einschlagen zu lassen, die diesem besser lagen. Schindler hatte Rechtswissenschaft studiert, dies an der Universität Zürich mit einem Auslandsemester (1911/12) an der Universität Leipzig, wo er unter anderem Vorlesungen bei Smend besuchte, und an der Universität Berlin, wo er auch Vorlesungen bei Gierke und bei Liszt belegte. 1916 doktorierte er „summa cum laude“ an der Universität Zürich mit einer Dissertation zum Thema „Die
3 Zu Max Huber vgl. etwa das Sonderheft des European Journal of International Law Vol. 18/1 2007 mit Beiträgen von Daniel Thürer, Dietrich Schindler, Jost Delbrück, Ole Spiermann, Oliver Diggelmann, Daniel-Erasmus Khan und Yves Sandoz. 4 Schindler (jun.), S. 25.
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Rechtsbeziehungen zwischen Bund und Kantonen im Heerwesen“ beim angesehenen Prof. Fritz Fleiner. Fünf Jahre später schloss er zielstrebig seine Habilitationsschrift „Über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie“ ab. Vom Herbst 1921 bis März 1922 hielt sich Schindler zusammen mit seiner kurz zuvor angetrauten Gattin in den Vereinigten Staaten auf. Hier lernte er viele Professoren kennen, mit denen er später in Verbindung blieb, so etwa Felix Frankfurter und Manley O. Hudson. Auch verfasste Schindler im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in den USA verschiedene grundsätzliche Arbeiten. Ein Aufsatz behandelte „Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts in interkantonalen Streitigkeiten“; diese Untersuchung erschien auch in englischer Sprache im American Journal of International Law und wurde in der Folge Grundlage eines Schiedsspruchs in einer umweltrechtlichen Streitigkeit zwischen den USA und Kanada.5 Zwei andere Publikationen bezogen sich auf „Die Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten von Amerika“ und „Die Methode des Rechtsunterrichts in den Vereinigten Staaten von Amerika (Die case method)“, letztere mit einer Schilderung der Begründung dieser Methode durch Columbus Langdell an der Harvard Law School, und „Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz“. Schindler wurde 1922 Privatdozent und war ab 1927 vollamtlicher Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Zürich. Er unterrichtete eine breite Palette von Fächern, die vom Verwaltungsrecht des Kantons Zürich über das Steuerrecht, Bundesstaatsrecht und die Allgemeine Staatslehre bis zur Staatsphilosophie und dann vor allem zum Völkerrecht reichte. 1931/32 liess sich Schindler beurlauben und baute wichtige Kontakte mit Kollegen im Ausland auf: In Deutschland traf er etwa mit Jellinek, Thoma, Triepel, Jahrreiss, Smend, Schmitt, Leibholz, Brun und Erich Kaufmann zusammen, in Paris mit De Lapradelle (Vater und Sohn), Le Fur, Politis, Basdevant sowie André Siegfried und Carl J. Friedrich, in London etwa mit Lauterpacht und Laski, in Oxford mit Brierly und in Cambridge mit McNair, mit denen er zum Teil in regem brieflichem Kontakt blieb. Neben seiner Professur entfaltete Schindler eine reiche Vortragstätigkeit und nahm wesentliche Funktionen im Dienste der Öffentlichkeit wahr. Er war, während des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus, der am stärksten beanspruchte Berater des Bundesrates und anderer Bundesbehörden in völkerrechtlichen Fragen und, in schwierigen Zeiten, Präsident der Verwaltungskommission
5 Trail Smelter Arbitration, 1935 vereinbart in einer nachbarrechtlichen Streitigkeit durch die Regierungen der USA und Kanadas, vgl. hierzu Russell A. Miller, Trail Smelter Arbeitration,in: Rüdiger Wolfrum (ed.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Vol. IX, Oxford 2012, S. 1010 ff.
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der Neuen Zürcher Zeitung. Schindler war ab 1946 auch Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, und er gehörte zu den vier Schweizer Richtern auf der Liste der Cour Permanente d’Arbitrage in Den Haag.
II. Werk Das Werk Schindlers ist gekennzeichnet durch ausserordentliche Vielgestaltigkeit. Es umfasst die verschiedensten Dimensionen der Rechtswissenschaft und erstreckt sich transdisziplinär in andere Wissenschaftsfelder wie Soziologie, Philosophie, Geschichte oder Psychologie; Schindler stiess auch in verschiedenen Schriften in (für Europa) neue wissenschaftliche Disziplinen wie die Politische Wissenschaft vor. Er verfasste Bücher und wissenschaftliche Artikel, deren wichtigste in einer Gesamtausgabe des Werkes wiedergegeben sind,6 aber auch viele Aufsätze für politische Zeitschriften und die Tagespresse, vor allem auch die Neue Zürcher Zeitung. Besonders bedeutsam waren Schindlers Schriften zur Staatstheorie. Sie sind auf dem Hintergrund der politischen Lage, der geistigen Strömungen und der wissenschaftlichen Kontroversen der 1920er und 1930er Jahre zu sehen. Die liberalen und demokratischen Ordnungen in Europa befanden sich in einer Krise. Die neuen, aus Monarchien hervorgegangenen Demokratien in Deutschland und Österreich erwiesen sich als funktionsunfähig. Es herrschte ein Kampf der Parteien und Klassen, der Interessen und Ideen, und auch die Lehre von Recht und Staat war in der Zwischenkriegszeit durch Richtungskämpfe und Umbrüche gekennzeichnet. Schindler bekämpfte den Rechtspositivismus mit seinem rigiden Glauben an das gesetzte Recht sowie die Möglichkeit logischer und begrifflicher Duchdringung und Systembildung des Rechts, wie er vor allem im Kaiserreich von Laband entwickelt worden war, aber auch den in der Weimarer Zeit etwa von Thoma und Anschütz vertretenen Gesetzespositivismus, der – trotz seinem Glauben an die Alleingültigkeit des Gesetzes – historische und politische, nicht aber teleologische und naturrechtliche Auslegungselemente zuliess. Schindler distanzierte sich auch von der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens, welche den Positivismus zu seiner letzten Konsequenz führte, indem sie ihn von allen noch verbliebenen Resten historischer, politischer und weltanschaulicher Aspekte säuberte und auf jeden Inhalt verzichtete, weil dieser sich nach Kelsens Auffassung als nicht wissenschaftsfähig erwies. Schindler lehnte aber auch rein
6 Dietrich Schindler, Recht – Staat – Völkergemeinschaft, Ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlass, Zürich 1948, mit einem Vorwort von Max Huber.
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psychologische Deutungen des Rechts ab, die im Rechtsbewusstsein die eigentliche Quelle jeden Rechts erblickten. Schindlers Interesse lag demgegenüber bei den ausserrechtlichen Voraussetzungen des Rechts und der staatlichen Ordnung. Er betonte, dass alles Recht auf bestimmte Werte bezogen sei, die über dem positiven Recht stehen. Insbesondere wies er aber auf die vielfältigen Verknüpfungen des Rechts mit der sozialen Wirklichkeit hin, wissend, dass alles Recht nur unter bestimmten tatsächlichen Voraussetzungen wirksam werden kann. In der Welt der Theoriendebatte der Weimarer Epoche stand Schindler der Staatslehre von Hermann Heller am nächsten, die dem Ausserrechtlichen eine ähnliche Bedeutung zumass wie er.7 Im Zentrum von Schindlers wissenschaftlichem Werk steht sein 1932 erschienenes Werk „Verfassungsrecht und soziale Struktur“,8 das grosse Aufmerksamkeit fand und in der Folge in fünf Auflagen erschien. Das Buch geht davon aus, dass der Mangel der meisten Theorien über das soziale Leben als Ganzes darin liege, dass diese eindimensional aufgebaut seien. Sie versuchten, das soziale Leben auf ein einziges Prinzip zurückzuführen, während Schindler bestrebt war, Gegensätze wie Sein und Sollen, Wort und Wirklichkeit, Individuum und Gemeinschaft in ein umfassendes Ganzes hineinzustellen. Wichtig sei, die Mitte zwischen polar entgegengesetzten Positionen einzuhalten. „Die Mitte bildet den Bezugspunkt in Schindlers Denken“, schrieb sein Schüler Peter Schneider zum Werk seines akademischen Lehrers.9 Schindler stellte also Dialektik und Synthese ins Zentrum seiner Staatslehre. Das hatte auch seinen besonderen Bezug zur Schweiz. Dietrich Schindler (jun.) schrieb zum Werk seines Vaters: „Schindler reagierte auf den staatstheoretischen Meinungskampf in einer durchaus schweizerischen Art. Da die Schweiz von jeher auf inneren Ausgleich angewiesen war, verhielten sich schweizerische Autoren gegenüber einseitigen Doktrinen stets ablehnend. Die Schweiz entwickelte ein Sensorium für das Politisch Mögliche. Für sie standen nicht abstrakte Theorien im Vordergrund, sondern der konkrete Staat. Schindler nahm den Meinungskampf zum Anlass, eine Lehre zu entwerfen, die alle Einseitigkeiten überwinden und die Erfahrungen des schweizerischen Staates berücksichtigen sollte. Zwei Anliegen standen dabei im Vordergrund. Zum einen wollte er den noch starken Positivismus überwinden, indem er betonte, dass alles Recht auf bestimmte Werte bezogen sei, die über dem positiven Recht stehen. Zum anderen wies er auf die vielfältigen Verknüpfungen des Rechts mit der sozialen Wirklichkeit hin,
7 Vgl. Schindler (jun.), S. 64. 8 Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 5. Aufl., Zürich 1970. 9 Schindler (jun.), S. 72.
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wissend, dass alles Recht nur unter bestimmten tatsächlichen Voraussetzungen wirksam sein kann.“10 Die Sphäre des Lebensmöglichen lag nach Schindlers Lehre in der Mitte, im Ausgleich. Er führte den Begriff der „Ambiance“ ein, der in der Folge mit seinem Namen besonders verbunden wurde. Jede positive Rechtsordnung setze, meinte Schindler, einen bestimmten ausserrechtlichen Kontext, eben eine „Ambiance“ voraus. Im kollektiven Gedächtnis geblieben ist die öffentliche Kontroverse, welche Dietrich Schindler 1942 mit seinem Zürcher Kollegen Zaccaria Giacometti über das Notrecht in den Medien führte.11 Giacometti anerkannte, dass das damals in der Schweiz herrschende Notrecht eine politische Notwendigkeit sei, bedingt durch die schwierige Lage infolge des Krieges. Er kritisierte aber, der Bundesrat habe auf Grund der ihm erteilten Vollmachten ohne formelle verfassungsrechtliche Grundlage auf vielen Gebieten die Funktion des Verfassungsgesetzgebers und des einfachen Gesetzgebers übernommen und die Bundesverfassung sei auf weiten Gebieten ein Trümmerfeld geworden; der Bund erscheine gegenwärtig als „ein autoritärer Staat mit totalitären Tendenzen“, er bilde eine „kommissarische Diktatur“. Schindler betonte, das Notrecht dürfe nicht als ein Werk der Zerstörung hingestellt werden, sein einziger Zweck sei die Wahrung unersetzlicher wirtschaftlicher, politischer und kultureller Werte. Er bejahte die Rechtmässigkeit des Notrechts und leitete sie vor allem aus der Zielsetzung der Verfassung und aus höheren Werten ab. Er betonte, ein Festhalten am Text der Verfassung im Widerspruch zu ihrem höchsten Zweck in einer Notlage wäre ein Missbrauch.12 Wesentlich war vor allem auch Schindlers Wirken als Völkerrechtler. Bevorzugte Themenkreise waren die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, die soziologischen Grundlagen und die Zukunft des Völkerrechts und Neutralitätsfragen.13 Schindler erteilte auch zwei Kurse an der renommierten Académie de Droit international in Den Haag, den einen zum Thema „Le progrès de l’arbitrage obligatoire depuis la création de la Société des Nations“ (1928) und den anderen unter dem Titel „Contribution à l’étude des facteurs sociologiques et psychologiques
10 Schinder (jun.), S. 63/64. 11 Näheres Schindler (jun.), S. 10 ff. 12 Vgl. hierzu Jean-François Aubert, La science juridique suisse et le régime national socialiste (1933–1945), in: Unabhängige Experten Kommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und das Recht, Band I: Öffentliches Recht, Konzept und Redaktion von Daniel Thürer und Frank Haldemann, Zürich 2001, S. 17 ff., 35 ff.; Daniel Thürer, Im Schatten des Un-Rechts-Staates. Reaktionen auf den Nationalsozialismus im schweizerischen Rechtssystem, in: ders. Kosmopolitisches Staatsrecht, Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich/ Baden-Baden, S. 323 ff. 13 Näheres hierzu bei Schindler (jun.), S. 87 ff.
Dietrich Schindler (sen.)
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du droit international“ (1933). 1935 hielt Schindler Vorlesungen an der damals renommierten Internationalen Sommer-Universität im spanischen Santandèr. Dank seiner Mitgliedschaft im Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und als Mitglied des „Institut de Droit international“ wirkte er im Völkerrecht und in der Völkerrechtspraxis auch weit über die Schweiz hinaus.
III. Wirken Es ist nicht leicht, die Wirkung einer Persönlichkeit wie Dietrich Schindler zu beurteilen, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sie zu bemessen. Ist die Ausstrahlung zur Zeit des Wirkens gemeint oder diejenige in die Zukunft hinein? Im eigenen Land oder auch im Ausland? In der Wissenschaft oder in der breiten Gesellschaft? Eine Würdigung ist umso schwieriger, als Schindler im Alter von 57 Jahren unvermittelt mitten aus der Aktivität seines Lebens gerissen wurde, dies in einem Zeitpunkt, als sein Werk noch nicht den angestrebten inneren Abschluss gefunden hatte. Die besondere Bedeutung der Gestalt Schindlers, wie sie in Schriften und Reden zum Ausdruck kam, lag wohl darin, dass er jeder einseitigen Doktrin eine Absage erteilte: dem Positivismus in seinen verschiedenen Spielarten, der „reinen Rechtslehre“ Kelsens, die alle nicht-normativen Elemente aus der Rechtswissenschaft ausblendete, oder rein soziologischen oder psychologischen Deutungen des Rechts. Im Theorienstreit, der die Rechtswissenschaften in seiner Zeit prägte,14 nahm Schindler, wie gesagt, eine mittlere Position ein. Die eine Theorie betrachtete er als komplementär zur anderen. Das verhinderte wohl, den Ruf zu erlangen, Begründer einer eigenen, scharf geschnittenen rechtlichen Doktrin zu sein. Mit seiner Ausgewogenheit und dem Einbezug der „Ambiance“ vertrat Schindler aber, wie mir scheint, eine besonders fruchtbare, wirklichkeitsnahe, dabei aber auch wertegeleitete Auffassung vom Recht. Herausragendes Moment war wohl die „Multipolarität“ seines Staats- und Rechtsverständnisses, wie man heute sagen würde. Seine bedeutsamen Verdienste, aus moderner Sicht betrachtet, liegen wohl im Methodenpluralismus, seiner methodischen Offenheit. Schindlers Schriften waren durch ein für die damalige Zeit sehr ausgeprägtes Interesse für neue, auch ausländische Entwicklungen und für benachbarte Wissenschaftsdisziplinen, aber auch das „Alltagsgeschäft“ von Behörden und
14 Arthur J. Jacobson and Bernhard Schlink (eds.), Weimar a Jurisprudence of Crisis, University of California Press 2000.
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Institutionen gekennzeichnet, doch fällt aus heutiger, durch Menschenrechte geprägten Staatsauffassung auch auf, wie stark beschreibend seine Schriften waren. Das galt etwa für die bereits erwähnte Schrift zur Lynchjustiz in den USA, in der Spuren der (heute vielerorts erwarteten) Empörung fehlten, wie auch für sein Wirken im Zweiten Weltkrieg, wo von „advocacy“ im modernen menschenrechtlichen Sinn noch wenig zu spüren war; das lag wohl auch im Zuge der Zeit und dem damals vorherrschenden Wissenschaftsverständnis. Allerdings kam nach dem Zweiten Weltkrieg, als u. a. von Hersch Lauterpacht Konzeptionen und Elemente des modernen Menschenrechtsschutzes entwickelt wurden, der Menschenrechtsgedanke auch in Schindlers Werk prominent zum Ausdruck, und es wäre interessant zu spekulieren, wie sich dieses weiterentwickelt hätte, wenn Schindler ein längeres Wirken vergönnt gewesen wäre. Dem damaligen Rollenverständnis eines schweizerischen Staatsrechtlers, wohl aber auch dem komplexen, engagiert-zurückhaltenden Charakter Schindlers lagen Auflehnung und Empörung gegen Missstände nicht, vielmehr bemühte er sich um konstruktive Arbeit im Konkreten. Schindler hatte denn auch nie eine aktive politische Rolle als Hauptberuf erwogen; eine solche sei nur möglich, wenn man innerlich unproblematisch sei und jene innere Klarheit und Selbstverständlichkeit besitze, die das Handeln nach aussen erst ermögliche. Das Echo, welches das Werk Schindlers im Ausland auslöste, ist beeindruckend.15 Das Rezensionswesen stand damals in der Blüte, und die Beachtung, die Schindler erfuhr, ist bedeutend. War sie in Deutschland und Österreich vor allem dogmatischer Natur (z. B. Diskussion des Begriffs der Dialektik), so wurde in der Schweiz mit gutem Grund der Charakter einer Staatsauffassung hervorgehoben, der typisch war für die Identität eines kleinen, mehrsprachigen Landes. Im völkerrechtlichen Bereich sind Beiträge Schindlers etwa zur Neutralität mittlerweile durch die Ereignisse weitgehend überholt, doch ist beeindruckend, was er nach dem Weltkrieg zum Menschenrechtsschutz als einer neuen Dimension des Völkerrechts geschrieben hat.16 Insgesamt war vielleicht die Wirkung besonders bedeutsam, die Schindler auf Zeitgenossen und Zeitgeist im weiten Sinne ausübte. Neben seiner akademischen Tätigkeit war er allseits gesuchter und geschätzter Gutachter, und er hatte eine nachhaltige Wirkung nicht nur auf wissenschaftliche Entwicklung, sondern auch auf die Rechtspraxis und das politische Leben insgesamt. Schindlers Engagement als Bürger reichte von seiner zehnjährigen Zugehörigkeit zur Kir-
15 Näheres bei Schindler (jun.), S. 70 ff. 16 Vgl. Gedanken zum Wiederaufbau des Völkerrechts, in: „Vom Krieg und Frieden“, Festschrift für Max Huber, Zürich 1944, S. 99 ff.
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chenpflege in Zollikon, über seine Rolle als hoher Offizier der Schweizer Armee bis zum Dienst an Behörden und Öffentlichkeit, ja die politische und rechtliche Kultur in einem weiten Sinn. Ist seine Wirkung heute verhallt? Das trifft gewiss nicht zu auf sein Buch „Verfassungsrecht und soziale Struktur“, das fünf Auflagen erlebte (die letzte 1976) und 1999 in italienischer Übersetzung erschienen ist. Aus heutiger Perspektive ist wohl wichtig zu sehen, wie sehr Schindler zwar in der schweizerischen Demokratie verwurzelt war, aber auch auf ihre Grenzen hinwies. Eine Verabsolutierung der Volkssouveränität lag ihm fern. Zwischen Demokratie und Liberalismus müsse – so seine Auffassung – eine konstitutionelle Balance bestehen. Zwar forderte Schindler nicht die Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit. Höhere ethische Werte als Ziel und Grundlage des Rechts waren in seinem Staatsund Rechtsdenken aber bereits zentral angelegt, und auch die Menschenrechtsidee, die das Rechtsdenken seit dem Zweiten Weltkrieg so sehr revolutioniert hatte,17 nahm er frühzeitig in sein breites, ganzheitliches, dialektisches Denken auf; die Rechtsidee dürfe, meinte er, nicht der Staatsidee geopfert werden Es ist nicht einfach, dem Werk und Wirken von Dietrich Schindler gerecht zu werden. In mancher Hinsicht waren sie durch die juristische Theoriedebatte der Weimarer Zeit geprägt. Schindler war aber auch über die Parameter der damals vorherrschenden Theorienstreitigkeiten hinaus gegangen. Die (ethischen) Werte und die (soziale, politische) Wirklichkeit, auf die sich Schindler unablässig berief und die er dem Positivismus und dem Dezisionismus entgegenstellte, haben in der Folge im modernen Verfassungs- und Völkerrechtsdenken starke Beachtung gefunden. Schindler stand der „reinen“ Rechtslehre, die mit ihrer „wissenschaftlichen“ Reduktion der Normordnung auf die „Form“ wert- und wirklichkeitsleer in der Welt des Normativen – wie ich sagen würde – gleichsam ein Luftschloss darstellte, fremd gegenüber. Er war auch nicht Anhänger einer szientistischempirischen Methode, wie sie etwa in Amerika von Langdell und seiner Schule vertreten wurde. Er war nicht starrer Dialektiker, sondern methodischer Pluralist. Eindrücklich aus heutiger Sicht ist sein Streben nach ganzheitlicher, grundsätzlicher Betrachtung, die sich wohltuend vom modernen stark fragmentierten Wissenschaftsbetrieb („fragmentic intelligence“) abhebt. Auch das Bild des Bürger-Professors, der nicht durch „Staats“glaube oder „Staats“gesinnung gekennzeichnet ist, aber Verantwortung in der Öffentlichkeit und für das Gemeinwohl sieht und trägt, wird wie bei anderen schweizerischen Staats- und Völkerrechtlern in der kollektiven Erinnerung bleiben. Ein bleibender
17 Vgl. hierzu etwa Elihu Lauterpacht, The Life of Hersch Lauterpacht, Cambridge 2010.
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Platz in der schweizerischen und in der europäischen Geschichte des Staats- und Völkerrechts wird ihm sicher sein.
Bibliographie Dietrich Schindler, Recht – Staat – Völkergemeinschaft, Ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlass, Zürich 1948, mit einem Vorwort von Max Huber Verfassungsrecht und soziale Struktur, 5. Aufl. 1970 Gedanken zum Wiederaufbau des Völkerrechts, in: Festschrift für Max Huber, „Vom Krieg und vom Frieden“, Zürich 1944, S. 99 ff. Administration of Justice in the Swiss Federal Court in International Disputes, American Journal of International Law 15, Nr. 2, April 1921 Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 44, 1925, S. 19 ff. Le progrès de l’arbitrage obligatoire depuis la création de la Société des Nations, Recueil des cours de l’Académie de Droit international 25, 1928 Die Schiedsgerichtsbarkeit seit 1914. Entwicklung und heutiger Stand. Handbuch des Völkerrechts, 5. Band, 2. Abteilung, Stuttgart 1938 Recht und Staat, Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins 1931, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1931, S. 219a Contribution à l’étude des facteurs sociologiques et psychologiques du droit international, Recueil des cours de l’Académie de Droit international 46, 1933 Die schweizerische Neutralität 1920–1938, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 8, 1938, S. 413 ff. Vorwort zu Brierly, Die Zukunft des Völkerrechts, Zürich 1947
XXIV Hermann Heller (1891 – 1933) Uwe Volkmann
I. Zwischen Nachruhm und Vergessen Neben Carl Schmitt, Hans Kelsen und Rudolf Smend wird Hermann Heller bis heute zu den führenden Köpfen der Weimarer Staatsrechtslehre gezählt: den „Großen Vier“ von Weimar, wie es in gelinder Überstilisierung oft heißt.1 Von ihnen ist er derjenige, der uns am wenigsten präsent ist. Schmitt polarisiert mit seinen Schriften wie eh und je und munitioniert derzeit wieder den internationalen Flügel einer politischen Linken,2 die Smendsche Integrationslehre wirkt bis heute in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinein,3 von Kelsen wird gesagt, er erlebe mit seinem ebenso kühlen wie moralfreien Blick auf das Recht gerade eine wundersame Renaissance.4 Nur Hermann Hellers Werk umweht allmählich der Hauch des Vergessens. Noch zu seinem 50. Todestag im Jahr 1983 hätte kaum jemand der Feststellung widersprochen, es sei „zu einem geradezu selbstverständlichen Teil der deutschen Staats- und Verfassungstheorie“ geworden:5 Eine ganze Generation der Staatsrechtslehre hatte Heller gerade für sich wiederentdeckt, seine Arbeiten galten als Fundgrube für ein neues, eigenständiges und irgendwie anderes Rechtsdenken, in seinem MaastrichtUrteil sollte ihm zehn Jahre später sogar das Bundesverfassungsgericht die Reverenz erweisen.6 Aber es nahm ihn dort schon zum Kronzeugen für eine Position in Anspruch, die viele irritierte.7 Und im Grunde war es zu dieser Zeit schon wieder
1 Die Charakterisierung etwa im Beitrag von H. Schulze-Fielitz, in diesem Band. 2 Z. B. Ch. Mouffe, Über das Politische, 2005; dies., Agonistik – Die Welt politisch denken, 2014; G. Agamben, Homo sacer, dt. 2002, S. 13 ff. 3 S. dazu erneut Schulze-Fielitz (Fn. 1); als jüngeres Beispiel ließe sich etwa die Deutung der Wahl als „Grundlage politischer Integration“ nennen, BVerfGE 123, 39 (68). 4 Vgl. dazu die Beiträge in M. Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, 2013, zum Thema dort namentlich C. Schönberger, Kelsen-Renaissance? Ein Versuch über die Bedingungen ihrer Möglichkeit im deutschen öffentlichen Recht der Gegenwart, S. 207 ff. 5 W. Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, JZ 1984, 201 (201 ff.). 6 BVerfGE 89, 155 (186). 7 S. die entsprechende Kritik bei O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Ar-
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still um Hermann Heller geworden. In der Politikwissenschaft nach wie vor als einer ihrer Väter geführt, vielleicht sogar verehrt,8 beginnt er den Juristen erneut zu entgleiten.9 Jüngere Beschäftigungen mit ihm gelten meist nur noch der historischen Figur, die vergleichend in ihre Zeit und deren Debatten eingeordnet wird.10 Zu den letzten runden Todestagen erinnerte keine Tagung, kein Symposion mehr an ihn, kein Sammelband erschien zu seinen Ehren.11 In diesem hier ist er einer von vielen, an die auf diese Weise ein Stück Erinnerung bewahrt werden soll, darunter so mancher, den er an Bedeutung lange Zeit weit zu überragen schien.12 So droht Hermann Heller allmählich wieder zu werden, was er schon zeit seines viel zu kurzen Lebens war: eine Gestalt am Rande.
II. Biographisches Zum Außenseiter bestimmte ihn in jenen Zeiten schon seine jüdische Herkunft, später auch seine politische Gesinnung und wohl auch sein Temperament. Am 17. Juli 1891 als Sohn eines Rechtsanwalts in Teschen an der Olsa geboren, einer Provinzstadt zwischen Mähren und Galizien, studierte er in Wien, Graz, Innsbruck und Kiel Rechts- und Staatswissenschaften; in Graz legte er am 18. Dezember 1915, inzwischen Kriegsfreiwilliger in der österreichischen Armee, während
gument nach 1945, 2003, S. 354 (386); R. van Ooyen, Homogenes Staatsvolk statt europäische Bürgerschaft: Das Bundesverfassungsgericht zitiert Heller, meint Schmitt und verwirft Kelsens postnationales Konzept demokratischer Rechtsgenossenschaft, in: M. Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität, 2010, S. 261. So falsch hat das BVerfG Hellers Begriff der „Homogenität“ freilich nicht verstanden, s. dazu noch unten IV 2 und 3. 8 Vgl. W. Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, 2001, S. 220 ff.; M. Henkel, Hermann Hellers Begründung der Politikwissenschaft, in: Llanque (Fn. 7), S. 208 ff. 9 S. insoweit bereits die skeptische Einschätzung bei R. Wolf, Hermann Heller, KJ 26 (1993), 500 (502). 10 K. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, dort S. 140 ff., 208 ff., 272 ff., 371 ff., 514 ff., jeweils zu verschiedenen Aspekten des Werkes; zuvor bereits W. Fiedler, Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1994. 11 S. demgegenüber noch Chr. Müller/I. Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891–1933, 1984; ein Jahr später erschien dann noch einmal eine Kurzausgabe dieses Bandes, vgl. dies., Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu ehren, 1985. – Immerhin ist Heller nun in der Reihe „Staatsverständnisse“ mit dem Band von Llanque (Fn. 7) vertreten. 12 Es spricht ja durchaus für sich, dass die beiden heute noch hochkontrovers diskutierten Carl Schmitt und Hans Kelsen in diesem Band überhaupt nicht vertreten sind: An sie muss man offenbar nicht mehr erinnern.
Hermann Heller
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seines Heimaturlaubs eine formlose „Kriegspromotion“ ab.13 Noch während des Krieges muss er sich mit der Arbeit „Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke“ beschäftigt haben, mit der er sich – offenbar mit tatkräftiger Unterstützung Gustav Radbruchs – am 10. März 1920 in Kiel habilitierte. Einen Tag vorher war er der SPD beigetreten, allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, den Internationalismus und den historischen Materialismus als ihre Grundlage nicht anerkennen zu können: schon hier zwischen allen Stühlen. Gegen den wiederum nur wenige Tage später ausgebrochenen Kapp-Putsch beteiligte er sich zusammen mit Radbruch an der Organisation des Widerstandes der Arbeiterschaft und wurde mit ihm in Haft genommen; das bereits ausgefertigte Todesurteil konnte nicht mehr vollstreckt werden, weil der Putsch vorher scheiterte.14 Die folgenden Jahre engagierte er sich in der Volks- und Arbeiterbildung: vorerst noch in Kiel, wo er zusammen mit Radbruch die dortige Volkshochschule gründete, ab 1921 dann – als umtriebiger Leiter des neugegründeten Volksbildungsamtes – in Leipzig. Die Schriften, die er dazu und ansonsten während dieser Zeit verfasste, zeigen ihn als einen Idealisten und Schwärmer,15 getragen von innerer Begeisterung für den Sozialismus, den er wiederum eigensinnig und gegen den Strich ganz auf den Nationalstaat fixierte.16 Etwa ab Mitte der zwanziger Jahre wandte sich Heller, zugleich den Kontakt zur Leipziger Universität und ihren führenden Köpfen wie Theodor Litt suchend, wieder den großen theoretischen Fragen von Staat und Recht und damit der Wissenschaft zu. In rascher Folge erscheinen nun die großen Schriften über „Die politischen Ideenkreise der Gegenwart“ (1926) und „Die Souveränität“ (1927), diverse Beiträge zum Reichsverfassungsrecht, zur Staats- und Verfassungslehre sowie zur politischen Theorie, oft ohne klare Abgrenzung gegeneinander; später wird die Auseinandersetzung mit dem heraufziehenden Faschismus und der Dik-
13 Diese und die nachfolgenden Informationen sind im Wesentlichen entnommen von K. Meyer, Hermann Heller. Eine biographische Skizze, PVS 7 (1967), S. 293 ff., auch abgedruckt in Müller/ Staff (Fn. 11), S. 65 ff.; ferner aus Chr. Müller, Hermann Heller: Leben, Werk, Wirkung, GS III, S. 429 ff. 14 Schilderung bei G. Radbruch, Kapp-Putsch in Kiel, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, 1988, S. 298 ff.; Hellers Beitrag eher relativierend Fiedler (Fn. 5), JZ 1984, 203. 15 Aus dem Vorwort seines diesbezüglichen Erfahrungsberichts: „Ich wage die Behauptung, daß die Bildungsarbeit aller, die hier schreiben, aus einem heilig glühenden Herzen kam“, Heller, Freie Volksbildungsarbeit, GS I, S. 623 (625). 16 S. die Schrift Sozialismus und Nation, erstmals 1925, nach dem Vorwort ausdrücklich nicht gedacht für „die geistig zähflüssige Masse gewisser Parteibureaukraten von rechts und links“, ebda., GS I, S. 439; zur Begründung der Volksbildungsarbeit aus sozialistischen Ideen s. erneut ders., Freie Volksbildungsarbeit, GS II, S. 638 ff., 652 ff.
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tatur – umfassend in „Europa und der Fascismus“ (1929) – einen immer breiteren Raum einnehmen.17 1927 hielt er auf der Jahrestagung der Staatsrechtslehrervereinigung das Referat über den Gesetzesbegriff der Reichsverfassung, 1928 bekam er seine erste – freilich außerordentliche – Professur in Berlin, 1932 eine zweite – diesmal ordentliche – an der Universität Frankfurt. Von außen gesehen war Heller damit im Wissenschaftsbetrieb der Weimarer Republik angekommen. Aber er blieb ein Einzelkämpfer: wegen der funkelnden Intellektualität seiner Beiträge innerhalb des Faches respektiert, aber wegen seiner Positionen meist abgelehnt und von niemandem wirklich gemocht; alle Berufungen erfolgten, wird berichtet, gegen erheblichen Widerstand der Kollegen vor Ort.18 1932 vertrat Heller im Prozess „Preußen contra Reich“ die SPD-Landtagsfraktion vor dem Staatsgerichtshof; auf der Gegenseite stand Carl Schmitt.19 Inzwischen hatte er mit den Arbeiten an seiner „Staatslehre“ begonnen, dem auch von ihm so gedachten opus magnum, das er nicht mehr zum Abschluss bringen sollte. Von einem Vortragsaufenthalt in London im März 1933 kehrte er, als er von der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfuhr, nicht mehr nach Deutschland zurück und entschied sich stattdessen für die Annahme einer Gastprofessur in Madrid; dort starb er, gerade 42jährig, am 5. November 1933 an den Spätfolgen eines Herzleidens, das er sich an der Front im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Über den Menschen hinter dem Wissenschaftler weiß man bei alledem wenig. Zeitgenossen schildern ihn als streitbar und aufbrausend, immer bereit, auch diejenigen vor den Kopf zu stoßen, denen er von seinen Positionen her an sich nahe stand.20 1920, noch während seiner Kieler Zeit, hatte er die seinerzeit berühmte Tänzerin Gertrud Falke geheiratet, Tochter eines norddeutschen Heimatdichters; was sie zueinander zog und miteinander verband, ist nicht bekannt. Auch über eine spätere Beziehung zur katholisch-schwärmerischen Lyrikerin Elisabeth Langgässer Ende der zwanziger Jahre, aus der eine Tochter hervorging, würde man gern mehr erfahren. Heller hat die Vaterschaft zwar anerkannt, das Kind aber nie sehen wollen;21 später überlebte sie, von ihrer Mutter selbst an der
17 Frucht eines sechsmonatigen Aufenthalts in Italien, s. im Einzelnen Meyer (Fn. 13), S. 308 f. 18 Vgl. Müller (Fn. 13), S. 438 f.; Meyer (Fn. 13), S. 308 ff. 19 Dazu im Einzelnen A. Kaiser, Preußen contra Reich. Hermann Heller als Prozeßgegner Carl Schmitts vor dem Staatsgerichtshof, in: Müller/Staff (Fn. 11), S. 287 ff. 20 Vgl. die Schilderung bei F. Borinski, Hermann Heller: Lehrer der Jugend und Vorkämpfer der freien Erwachsenenbildung, in: Müller/Staff (Fn. 11), S. 89 (109 f.); Meyer (Fn. 13), PVS 7 (1967), 313. 21 C. Susanek, Neue Heimat Schweden, 2008, S. 116.
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Sammelstelle abgeliefert, Theresienstadt und Auschwitz und schrieb eines der bewegendsten Bücher über die Judenverfolgung und die Todeslager.22
III. Methodische Sonderwege In der Wissenschaft war es neben seiner politischen Grundhaltung vor allem sein methodischer Zugriff, der Heller zum Solitär machte: für sich von großer Eigenständigkeit und Originalität, aber ohne Anschluss an die konkurrierenden Lager. In alledem bleibt dieser Zugriff zugleich unscharf und schwer fassbar; Kontur gewinnt seine Methode eher negativ in der Abgrenzung gegen andere als in der Beschreibung und näheren Bestimmung dessen, worauf sie selber positiv hinauswill. Der Hauptgegner war für Heller der Rechtspositivismus, wie er im Kaiserreich von Gerber, Laband und Georg Jellinek zur vorherrschenden Doktrin des Staatsrechts aufgestiegen und später in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens bis zu seiner äußersten Konsequenz vorangetrieben war. Was sich damit verband, wollte Heller überwinden: die strikte Trennung von Sein und Sollen, die er in Kelsens eigener Konstruktion in sich zusammenbrechen sah;23 die Ablösung des Staates und seines Rechts von ihren ethischen Fundamenten, in der er zugleich eine der Hauptursachen der politischen Krise seiner Zeit sah;24 die an einem logischen und mathematischen Wissenschaftsideal orientierte Begriffsbildung, durch die er „Würde und Wert der Geisteswissenschaften herabgesetzt“ sah;25 die Proklamierung einer vermeintlichen Wertfreiheit und Objektivität, hinter der bei Lichte besehen doch einiges an „psychologisch-soziologische(m) und politischwertende(m) Schmuggelgut“ mitgeführt wurde26 – für ihn allesamt Grundirrtümer einer herrschenden Methode, die es „in ihren Wurzeln zu zerstören“ galt.27 Seinen eigenen Angriff dagegen führte Heller von zwei Seiten. Zum einen sollten Staat und Recht wieder in überpositiven, sittlichen Prinzipien und Rechtsgrundsätzen als ein „überzeitliches Absolutum“ fundiert und – damit zusam-
22 C. Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer, erstmals 1986. 23 Heller hat dies als einer der ersten in seiner Kritik der „Grundnorm“ klar gesehen, vgl. ders., Die Krisis der Staatslehre, GS II, S. 23 f. 24 Ders., Europa und der Fascismus, GS II, S. 475 ff., s. dazu unten IV 1. 25 Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, GS II, 251. 26 Heller, Die Krisis der Staatslehre, GS II, S. 3 (15 f.); speziell hinter Kelsen stand für Heller eine „deutlich liberal gefärbte Staatsrechtsauffassung“, vgl. ders., Staatslehre, GS III, S. 159. 27 Heller, Die Souveränität, GS II, S. 31 (33).
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menhängend – die eigenen normativen Prämissen sichtbar gemacht werden;28 „wer“, heißt es etwa in der Staatslehre, „eine Beschreibung des staatlichen Seins gibt, muß, ob er will oder nicht, die in der Gegenwart den Staat aktualisierenden Willens- und Wertgemeinschaften selbst bewerten und zugleich eine Aussage über die staatliche Zukunft machen“.29 Zum andern sollten Norm und Realität miteinander verschränkt, der Staat und sein Recht in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, als gesellschaftliches Phänomen und als Teil der menschlichen Kultur sichtbar gemacht werden: Die „Wirklichkeit“ von Staat und Recht sollte erfasst werden, mit allem, was dies einschließen mochte.30 Mittel dazu war eine Neukonzeptionierung speziell der Staatslehre als Teil der politischen Wissenschaften, die teils Soziologie sein sollte, teils Kulturwissenschaft, jedenfalls nicht Natur- und auch nicht Geisteswissenschaft; das Interesse galt sowohl dem geschichtlichen Werden als auch der „Struktur“ des Staates.31 „Wirklichkeitswissenschaft“ lautet die immer wieder hervorgeholte und vielfältig hin- und hergewendete Zauberformel dieses Zugriffs.32 Was daran „wirklich“ war, blieb allerdings eigenartig unscharf und zerfloss umso stärker, je mehr Heller sich ihm von immer neuen Seiten zu nähern versuchte: irgendwie dialektisch im Sinne einer vage an Hegel angelehnten Zuordnung von Idealität und Realität,33 weniger empirisch als vielmehr auf ein intuitives Begreifen ausgerichtet, alle beteiligten Einzelwissenschaften zu einer schwer durchschaubaren Mélange verrührend.34 Von der ausgerufenen wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung bleibt so im Ergebnis doch nur eine sehr allgemeine Forderung nach größerer „Lebensnähe“ zurück.35 Ebenso unklar bleibt zuletzt auch der Anwendungsbereich dieser Betrachtung: Von Heller selbst nur für die Staatslehre entworfen und formuliert, wirkt sie sich auf die praktische Rechtswissenschaft kaum aus, obwohl der Staatslehre ausdrücklich die Rolle einer diese informierenden und aufklärenden „Hilfswis-
28 Das Zitat aus Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, GS II, S. 252 ff., dort auch das entsprechende Programm. 29 Heller, Staatslehre, GS III, S. 151. 30 Insoweit vor allem entfaltet in der Staatslehre, GS III, S. 92 ff.. 31 A. a. O., S. 92 ff., 116 ff., 122 ff., 142 ff. Speziell zur Funktion der Geschichte in diesem Zusammenhang P. Goller, Hermann Heller – Historismus und Geschichtswissenschaft im Staatsrecht, 2002 32 Heller, Staatslehre, GS III, S. 79 (156). 33 O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 180 f. 34 Zu diesen letzten beiden Seiten Groh (Fn. 10), S. 145 ff. 35 Vgl. den entsprechenden Vorwurf gegen andere Theorien bei Heller, Staatslehre, GS III, S. 341.
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senschaft“ zugewiesen war.36 Dort sucht man ihre Spuren allerdings vergebens; gerade Hellers eigene Arbeiten zum positiven Verfassungsrecht bewegen sich ganz in konventionellen juristischen Bahnen und kommen meist ohne irgendwelche staatstheoretischen Bezüge aus. Möglicherweise ist Hellers Methode deshalb für die klassische Rechtswissenschaft ganz folgenlos,37 so wie er selbst es in dem beiläufig eingestreuten Satz, „dogmatische Jurisprudenz und Staatslehre“ seien „also nach Gegenständen und Methoden scharf voneinander geschieden“, schon angedeutet hatte.38 Mit dieser strengen Abschichtung ist er wiederum nicht so weit von Kelsen entfernt, wie es die schroffe und bis ins Persönliche reichende Polemik gegen diesen vermuten ließ. Doch auch zur anderen Seite hin, der in sich selbst alles andere als homogenen Gruppe der Antipositivisten, hagelte es Distanzierungen: An Schmitt störte ihn die antidemokratische Grundhaltung, an Smend das Zerfließen von Staat und Recht in einer „Vielheit einander ablösender Integrationsprozesse“.39 Wofür Hellers eigene Herangehensweise in alledem stand, ist heute nicht klarer erkennbar als damals.
IV. Gegenstände und Themen Disparat wie der methodische Zugriff sind auch die Themen wie die Adressaten seiner Schriften: Volkspädagogisches steht neben tiefernster Wissenschaft, politische Großentwürfe wechseln mit Einmischungen in das unmittelbare Tagesgeschehen, Studien zur Staats- und Rechtstheorie mit Arbeiten zum positiven Verfassungsrecht, wobei aber die letzteren oft Auftragsarbeiten waren und insgesamt eher klein an Zahl blieben; dogmatisches Kleinklein und überhaupt die Niederungen des juristischen Alltags haben Heller offenbar nicht sonderlich interessiert.40 Stattdessen dominiert ein Ausgriff ins Grundsätzliche, drängt es ihn von Anfang an zu den Schlüssel- und Schicksalsfragen seiner Zeit, bei deren Behandlung auch seine politische Grundeinstellung immer wieder durchdringen
36 A. a. O., S. 118 ff. 37 So jedenfalls die Vermutung von C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 93 ff. 38 Heller, Staatslehre, GS III, S. 140. 39 A. a. O., S. 144. 40 An dogmatischen Arbeiten ist vor allem sein Gutachten zur Wahlrechtsgleichheit zu nennen, vgl. ders., Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung, GS II, S. 319 ff.; ferner das – allerdings ebenfalls stark mit theoretischen Überlegungen durchsetzte – Staatsrechtslehrerreferat über den Gesetzesbegriff, ders., Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, a. a. O., S. 203 ff.
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kann; seine Staatslehre stellte er in diesem Sinne ausdrücklich unter die leitende Hypothese „von der Unhaltbarkeit der Klassenstruktur des heutigen Staates und von der Gültigkeit der gegen sie gerichteten Entwicklungstendenzen“.41 In den Schriften herrscht dementsprechend fast durchgängig ein hoher Ton vor, Pathos und Polemik sind gängige Stilmittel, Gegner werden oft mit beißender Ironie attackiert, nicht selten auch mit Hohn und Spott übergossen. Unter den behandelten Themen wiederum ragen aus heutiger Sicht drei heraus, die zugleich auch die inneren Leitmotive seines Werkes bilden, von Heller immer wieder aufgegriffen werden und an verschiedenen Stellen ineinander übergehen.
1. Politik In seinen unmittelbar politischen oder jedenfalls auf politische Wirkung zielenden Schriften präsentiert – oder inszeniert – sich Heller als der streitbare Nonkonformist, als der er bis heute gesehen wird: immer auf größtmögliche Eigenständigkeit des Standpunkts bedacht, schwer einzuordnen von potentiellen Freunden und Gegnern, eher auf Distanzierung als auf vorbehaltlose Identifikation – mit wem oder was auch immer – zielend. Die Demokratie von Weimar bejahte er, aber nicht in ihrer um die Wirtschaftsordnung kupierten Minderform.42 Er sympathisierte mit alten sozialistischen Vorstellungen des Klassenkampfs, träumte aber zugleich von einer neuen Kulturgemeinschaft zwischen der Arbeiterschaft und einem Bürgertum, das wieder aus seiner bourgeoisen Enge heraustritt.43 Nicht ohne nationalistische Untertöne beharrte er auf der Idee der Nation als oberstem politischem Gestaltungsprinzip, bekannte sich aber in schwärmerischer Begeisterung auch zur Idee eines europäischen Bundesstaates und den Vereinigten Staaten von Europa als Fortsetzung einer „uralten geistigen Tradition“.44 Die Hochrufe auf die Nationsidee wiederum rückten ihn intellektuell in die Nähe konservativer Kreise, mit denen er ansonsten gar nichts gemeinsam hatte und
41 Heller, Staatslehre, GS III, S. 79 (155). 42 Vgl. Heller, Sozialismus und Nation, GS I, S. 443; s. dazu noch unten 2. 43 S. einerseits Heller, Sozialismus und Nation, GS I, S. 468 ff.; andererseits ders., Nationaler Sozialismus, GS I, S. 571 ff.; Bürger und Bourgeois, GS II, S. 625 ff. Zu den Schwierigkeiten der Einordnung s. insoweit W. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 1968, S. 119 ff.; R. Waser, Die sozialistische Idee im Denken Hermann Hellers, 1985, S. 81 ff., 161 ff. 44 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, GS I, S. 409; ferner ders., Gespräch zweier Friedensfreunde, GS I, S. 421 (424); zusammenfassend zu diesem Aspekt G. Robbers, Hermann Heller: Staat und Kultur, 1983, S. 97 ff.; zu den nationalistischen Untertönen s. Waser (Fn. 43), S. 97 ff.
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von denen er sich durch das gleichzeitige Bekenntnis zu einer neuen Freundschaft mit England und Frankreich aufs äußerste unterschied.45 So eindeutig wie hellsichtig war Heller hingegen dort, wo es um die Verteidigung der Demokratie und gegen die Bedrohung von rechts ging: Die Idee der Diktatur, die auch in der Rechtswissenschaft immer mehr Befürworter fand, hat er von Anfang an bekämpft, den heraufziehenden Faschismus am italienischen Beispiel als einer der ersten wissenschaftlich analysiert, noch bevor das ganze Ausmaß des Schreckens auch nur annähernd absehbar war. Die Ursachen sah Heller bezeichnenderweise und in der für ihn typischen Gleichrichtung von wissenschaftlichem und politischem Weltbild in dem Siegeszug des philosophischen wie des juristischen Positivismus; die von diesem betriebene „Entleerung aller Sinngehalte“ habe „nicht nur dem Staat, sondern der gesamten Kultur den Boden unter den Füßen“ weggezogen.46 Der Faschismus füllte diese Leerstelle nicht, sondern war im Gegenteil ihr unmittelbarer Ausdruck: gekennzeichnet durch die vollständige Abwesenheit eines konsistenten und zuletzt überhaupt jedes Programms, weil er ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen an sich binden wollte,47 durch einen dunklen Irrationalismus, der statt auf den Gedanken auf den Mythos der Tat und die nackte Gewalt setzt,48 durch die Instrumentalisierung des Rechts für beliebige Zwecke, mit der die „willenlose Norm“ ersetzt wird „durch den normlosen Willen, das machtlose Recht durch die rechtlose Macht“;49 der Schritt zur Diktatur ist dann nur noch die notwendige Folge dieser Leere.50 Das ist eine ebenso eigenwillige wie glänzende Analyse. Aber daneben konnte Heller den Gegner auch mit kleinen Sätzen intellektuell erledigen: „Lehrreich“, eröffnete er einmal einen Zeitschriftenbeitrag über den möglichen Nutzen einer Diktatur, „ist zunächst die Feststellung, dass sich die Diktatur in Europa bisher ausschließlich durchgesetzt hat in den Ländern mit der größten
45 Vgl. zu diesem Widerspruch E. Kennedy, Möglichkeiten und Grenzen einer freien Gesellschaft in der politischen Theorie Hermann Hellers, in: Müller/Staff (Fn. 11), S. 347 (355). 46 Heller, Europa und der Fascismus, GS II, S. 467 ff., 477. 47 A. a. O., S. 500 f. 48 A. a. O., S. 509 ff. 49 A. a. O., S. 528. 50 S. die Beschreibung der Diktatur als „politische Erscheinungsform der gesellschaftlichen Anarchie“, Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, GS II, S. 456, dort in Auseinandersetzung mit Oswald Spengler. Daneben analysiert Heller naturgemäß auch die politischen Elemente des Faschismus: romantisch-organologische Staatsvergottung, Charismatisierung des Führers, Gleichsetzung von Partei und Staat, Abschaffung der Grundrechte und aller rechtsstaatlichen Institutionen etc., vgl. Heller, Europa und der Fascismus, GS II, S. 505 ff., 543 ff., 554 ff.
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Analphabetenzahl“.51 Damit ist wie nebenbei auch ihren intellektuellen Wegbereitern das Urteil gesprochen.
2. Staat Auch Hellers Beschäftigung mit dem Staat war vor allem eine Reaktion auf dessen zum Ende der Republik hin immer schmerzhafter empfundene Krise: existenziell bedroht durch den politischen Extremismus, zunehmend handlungsunfähig gegenüber den rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppen, innerlich zerrissen und ohne Orientierung im Geistigen. Hellers Fragment gebliebene Staatslehre lässt sich ebenso wie seine früheren Versuche über den „nationalen Machtstaatsgedanken“ und die „Souveränität“ als Versuch zur Überwindung dieser Krise lesen, zu der er letztlich mit allen seinen Schriften zum Thema beitragen wollte. Lag deren tiefere Ursache darin, dass der Staat „irreal, eine Abstraktion geworden (ist), weil sein Wertgehalt nicht mehr glaubhaft erscheint“, wie er in seiner Faschismuskritik schrieb,52 musste ihr eine materiale Konzeption entgegengestellt werden, die diesen Wertgehalt erneuerte und dadurch zugleich die vorhandenen Entzweiungen zu überwinden imstande war.53 Einheit und Selbstbehauptung des Staates waren dementsprechend die Leitideen seiner Staatslehre, so wie es in dessen bekannter Definition als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ in dichtester Zusammendrängung zum Ausdruck kommt.54 Von diesem Ausgangspunkt her unterschied sich Hellers Versuch zunächst nicht von anderen Staats- und Verfassungslehren der Zeit, für die dies ebenfalls die zentralen Themen waren.55 Neu und von großer Eigenständigkeit war demgegenüber die Art und Weise ihrer näheren Entfaltung. Die Einheit des Staates wollte Heller gewährleistet sehen durch das Moment der Organisation, über das sich der Staat als „ein vielheitliches bewirktes, aber einheitlich wirkendes Aktzentrum“ konstituiert,56 durch seine Ausrichtung auf die Kultur, die als „Inbegriff der diesseitigen menschlichen Bestimmungen“ die Menschen in einen größeren
51 Heller, Was bringt uns eine Diktatur?, GS II, S. 437. Von Heller selbst allerdings wird die Auseinandersetzung mit dem Faschismus eben auch nicht als ausreichend angesehen, vgl. ders., Europa und der Fascismus, GS II, S. 465. 52 Heller, Europa und der Fascismus, GS II, S. 477. 53 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1999, S. 183 f. 54 S. etwa Heller, Staatslehre, GS III, S. 339 ff. 55 Zur herausragenden Bedeutung namentlich des Einheitstopos Stolleis (Fn. 53), 101 ff. 56 Heller, Staatslehre, GS III, S. 342.
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geistig-sittlichen Ordnungszusammenhang einfügt,57 durch seine dialektische Verschränkung mit der Gesellschaft, die ihn gegen die vorherrschende dualistische Vorstellung als „eine in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit tätige Einheit“ konstituiert,58 durch ein pluralistisches Verbandskonzept, kraft dessen das „Volk in Vielheit“ und in seinen verschiedenen Gruppen „sich selbstbewusst als Einheit bilden“ soll,59 durch das Ordnungsprinzip der Nation, das eine „Gemeinschaft der Verhaltungsweisen und Wertüberzeugungen“ begründet,60 schließlich und nicht zuletzt durch ein Mindestmaß an sozialer Homogenität im Sinne eines Zusammengehörigkeits- und Wir-Bewusstseins, in das die „stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe“ eingebunden sind.61 Anders als bei Kelsen, der den Staat als bloße Summe von Rechtsbefehlen definierte, oder in Schmitts Tanz um die selbstherrliche Entscheidung wurde Einheit also nicht monokausal verengt, sondern als komplexe Resultante unterschiedlichster Momente und Wirkfaktoren gedacht. Die Selbstbehauptung sollte demgegenüber gewährleistet werden durch ein Bekenntnis zum nationalen Machtstaat, dessen von Hegel formulierten Grundgedanken Heller trotz mancher Transformation nach wie vor lebendig sah,62 durch einen starken Begriff von Souveränität, kraft welcher der Staat „um des Rechts willen sich gegebenenfalls auch gegen das Recht absolut behauptet“,63 sowie durch die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, „im Ernstfall“ den Angriff auf seine Einheit „letztlich durch physische Vernichtung des Angreifers“ zu beantworten.64
57 Heller, Vom Wesen der Kultur, GS I, S. 425 (428 f.); ferner etwa Staatslehre, GS II, S. 174 ff., 236 ff., 258 ff.; Kultur wird – bei allerdings ganz unklarer Konturierung – in diesem Sinne oft als Schlüsselbegriff von Hellers Staatslehre angesehen, vgl. Robbers (Fn. 44), 92 ff.; Groh (Fn. 10), 169 f. 58 Heller, Staatslehre, GS III, S. 155. 59 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, GS II, S. 427; aus der Staatslehre s. etwa GS II, S. 174 ff., 182 f., 345 f. 60 Heller, Sozialismus und Nation, GS I, S. 462. 61 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, GS II, S. 428 f.. Statt von „sozialer Homogenität“ spricht Heller auch von „politischer Wertegemeinschaft“, vgl. ders., Europa und der Fascismus, GS II, S. 476, von Wirbewusstsein, Zusammenhörigkeitsgefühl etc.; hier fließen wiederum die Konzepte der Nation und der Kultur zusammen. 62 So vor allem die Frühschrift: Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, GS I, dort S. 230 ff. 63 Heller, Die Souveränität, GS II, S. 185. 64 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, GS II, S. 424 f.
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Das wiederum war nicht so weit von Schmitt entfernt, wie es die völlig unterschiedlichen politischen Grundhaltungen vermuten ließen.65 Es unterschied sich andererseits markant von der am unbedingten Vorrang des Rechts festhaltenden Souveränitätskonzeption von Kelsen, dem er doch politisch um so vieles hätte näher stehen müssen. So treten konsequent auch im Hauptwerk alle Gründe einer wissenschaftlichen und politischen Isolation zutage, die selbst ohne den Blick auf das bittere persönliche Schicksal Hellers nicht frei von Tragik ist. Und gerade in ihrem verzweifelten Bemühen um Vereinigung aller gegensätzlichen Gesichtspunkte des Staates in einer Staatslehre bleibt diese selbst schwer fassbar und in ihrem eigentlichen Kern dunkel.
3. Rechtsstaat und Demokratie Am ehesten anschlussfähig blieb Heller für die junge Bundesrepublik auf diese Weise noch mit seinen Überlegungen zur Demokratie und zum Rechtsstaat, die er erneut jeweils um eine material-inhaltliche Komponente anreicherte. Auch dies speiste sich wesentlich aus der Sorge um die gefährdete innere Einheit des Staates. Gegen Schmitts zynische Dekonstruktion des Parlamentarismus aus den Prinzipien von Diskussion und Öffentlichkeit machte er in diesem Sinne geltend, geistesgeschichtliche Basis des Parlamentarismus sei „nicht der Glaube an die öffentliche Diskussion als solche, sondern der Glaube an die Existenz einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage und damit die Möglichkeit eines fair play für den innenpolitischen Gegner“.66 Auch die Demokratie sollte eben „bewusste politische Einheitsbildung“ ermöglichen mit der charakteristischen Besonderheit, dass diese „von unten nach oben“ zu erfolgen hatte.67 Gerade deshalb war sie andererseits auf ein bestimmtes Maß an sozialer Homogenität angewiesen.68 Da diese wiederum gerade in ihrer wesentlichen Bedeutung als Zusammengehörigkeitsbewusstsein und gemeinsame Wertorientierung durch die vorhandenen Klassengegensätze und die ökonomische Ungleichheit gefährdet war, war der Staat ethisch wie rechtlich verpflichtet, diese zu überwinden oder zu ihrer Überwindung beizutragen. Von hier aus ergibt sich zwangsläufig die Forderung nach Transformation der Demokratie in die „soziale Demokratie“ und des Rechtsstaats
65 S. zu den diesbezüglichen Schwierigkeiten der Interpretation abgewogen Groh (Fn. 10), S. 520 ff. 66 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, GS II, S. 427. 67 A. a. O. 68 S. oben 2.
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in den „sozialen Rechtsstaat“, die Heller in vielen Darstellungen bis heute als seine bedeutendste und bleibende Leistung zugeschrieben wird.69 Er hat sie freilich eher beiläufig erhoben als zu einer theoretisch-geschlossenen Konzeption weiterentwickelt.70 Entscheidend und für Heller selbst wohl noch wichtiger war die ethische Fundierung des Rechts, seine prinzipielle Rückbindung an übergreifende Wert- und Ordnungsideen, aus der sich eine solche Forderung mit innerer Folgerichtigkeit, aber eben nur als eine von vielen ergab. Im formellen Gesetz hatte sich deshalb der ihm vorausliegende sittliche „Rechtsgrundsatz“ zu spiegeln,71 im Rechtsstaat das „Gerechtigkeitsideal“,72 in der Demokratie ein materiales Gleichheitsprinzip,73 in den Grundrechten ein allmaßstäbliches „Kultur-“ und „Wertsystem“.74 Der Staat selber, der all dies in sich vereinigte, erschien auf diese Weise durchaus wieder als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ im Hegelschen Sinne, wie es Heller in seinem Frühwerk nicht ohne Sympathie dargelegt hat.75 Sämtliche diesbezüglichen Begriffe sind deshalb bei Heller nicht formelle, sondern materielle, inhaltlich stark aufgeladene Begriffe; sie sollten die politische Ordnung wieder auf jene geistig-ethischen Fundamente gründen, die zu der Zeit, als Heller dies schrieb, längst in Auflösung begriffen waren.
69 Die Begriffe etwa bei Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, GS II, S. 450 f., der „sozialistische“ Rechtsstaat etwa in ders., Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, GS II, S. 411 (416); gelegentlich ist ohne wesentliche Unterscheidung in der Sache auch von der „wirtschaftlichen Demokratie“, vom „demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat“ die Rede, s. ders., Grundrechte und Grundpflichten, GS II, S. 291. Zur heutigen Würdigung unter diesem Gesichtspunkt etwa Stolleis (Fn. 53), S. 184 f.; F. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 47. 70 Anschaulich wird das in der Kontroverse, ob Heller auf den „sozialen“ oder nicht doch eher den „sozialistischen“ Rechtsstaat zielte, vgl. etwa W. Abendroth, Die Funktion des Politikwissenschaftlers und Staatsrechtslehrers Hermann Heller in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Müller/Staff (Fn. 11), S. 213 (219); dagegen und zusammenfassend etwa Groh (Fn. 10), S. 175 ff. In jedem Fall ging es Heller auch darum, „die ‚Anarchie der Produktion‘ durch eine gerechte Ordnung des Wirtschaftslebens zu ersetzen“ und „zu diesem Ziel das Privateigentum möglichst weitgehend“ zu beschränken, Heller, Grundrechte und Grundpflichten, GS II, S. 291. 71 Vgl. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, GS II, S. 227 ff.; zusammenfassend in diesem Sinne ders., Staatslehre, GS III, S. 332: „Unter Recht verstehen wir … in erster Linie die die positiven Rechtssätze fundierenden sittlichen Rechtsgrundsätze.“ 72 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, GS II, S. 449. 73 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, GS II, S. 430 f. 74 Heller, Europa und der Fascismus, GS II, S. 545, dort unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Smend. 75 Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, GS I, S. 101 ff. Der Begriff und die Entfaltung bei G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 257 ff.
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V. Was bleibt von Hermann Heller? Mit diesem Programm hätte Hellers Stunde nach 1945 schlagen können, vielleicht auch müssen: Terrorherrschaft, Holocaust und Krieg hatten ein moralisches Trümmerfeld hinterlassen, eine richtungs- und orientierungslose Gesellschaft suchte nach neuen geistigen Grundlagen und Haltepunkten, das Naturrechtsdenken erlebte eine Renaissance, unbelastete Vordenker waren rar geworden. Aber um Heller machte man vorerst einen Bogen. Die Staatsrechtslehre der frühen Bundesrepublik bediente sich lieber bei Schmitt und Smend, die selber noch – wenngleich nun unter unterschiedlichen Voraussetzungen – schrieben und wirkten, ihre Ideen auf diese Weise weitergaben und eigene Schulen bildeten, deren Vertreter alsbald auf einflussreichen Lehrstühlen saßen. Die großen Kontroversen der fünfziger Jahre – um die normative Entfaltung des Sozialstaatsprinzips, um die neue Deutung der Verfassung als Wertordnung – fanden weitgehend ohne Bezugnahme auf Heller statt.76 Erst ab 1960 wandert Heller allmählich in die Texte und Fußnoten von Autoren wie Horst Ehmke, Konrad Hesse und Peter Häberle ein.77 Seine Hochzeit aber fiel nicht zufällig in die siebziger und achtziger Jahre: Mit der Studentenbewegung war ein frischer Wind durch die Republik geweht, man arbeitete die Vergangenheit auf und brach mit den Vätern, die Universitäten sollten vom „Muff von tausend Jahren“ durchlüftet werden, Hoffnungen auf eine umfassende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verbanden sich mit alten Utopien egalitärer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. In dieser Situation stand Hellers linke Orientierung seiner Rezeption nicht entgegen, sondern begünstigte sie und trug sie vielleicht sogar auch.78 Mit dem erstmaligem Erscheinen der Gesamtausgabe seiner Werke im Jahre 1971 setzte nun eine regelrechte Flut von Veröffentlichungen über Heller ein, die seine Antworten auf die Gegenwartsfragen seiner Zeit begierig aufzunehmen bereit waren und auf
76 Charakteristische, weil selbst wieder von einer Außenseiterposition formulierte Ausnahme: W. Abendroth, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 12 (1954), 86; ders., Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: FS Ludwig Bergstraesser, 1954, S. 279 ff., jeweils bezogen auf die Formel vom sozialen Rechtsstaat. 77 Lepsius (Fn. 33), S. 366 f. 78 Bezeichnend der Versuch von Müller in der Gesamtausgabe (Fn. 13), gerade diesen Teil des Hellerschen Werkes zu bewahren, GS III, S. 443 ff., 450 ff. Konservativeren Bewunderern Hellers wiederum macht er bis heute Schwierigkeiten, so dass man ihn nach allen Kräften zu relativieren versucht, vgl. Fiedler (Fn. 5), JZ 1984, 203 ff.
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ihre Brauchbarkeit unter den veränderten Bedingungen testeten.79 Heute, da die Aufbruchsstimmung jener Jahre längst der Ernüchterung gewichen ist, wendet man sich wieder anderen Autoren zu; nur im – freilich selber noch wenig rezipierten – Versuch Peter Häberles, die Verfassungsrechtswissenschaft als Kulturwissenschaft zu erneuern, findet Heller derzeit noch eine letzte Heimstatt.80 Die Gründe mögen einmal darin liegen, dass Hellers Themen nicht mehr sonderlich aktuell sind: Der soziale Rechtsstaat ist, wenn auch in einer marktwirtschaftlichgemäßigten Variante, längst erreicht und nirgends mehr ernsthaft umstritten; Hellers Etatismus scheint uns im Zuge von Europäisierung und Internationalisierung schon merkwürdig fern; die Sorge vor der Diktatur, deren Abwehr Heller große Teile seines wissenschaftlichen und publizistischen Werkes widmete, treibt heute kaum noch jemanden um. Und gerade im methodischen Zugriff, mit dem Heller seiner Zunft einst die Richtung weisen wollte, scheint die Zeit über ihn hinweggegangen. Namentlich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat mittlerweile Mittel und Wege gefunden, Recht und Politik, Recht und Moral sowie Recht und Wirklichkeit miteinander kurzzuschließen, die Hellers letztlich ganz auf die Staatslehre beschränkten Ansatz weit hinter sich lassen. Ob Hellers Zeit noch einmal kommen wird, steht demgegenüber dahin.
Auswahlbibliographie Hellers Werke sind zusammengestellt in: Hermann Heller, Gesammelte Schriften, hrsgg. von Christoph Müller, 3 Bände, 2., durchges. und um ein Nachwort erw. Ausgabe, Tübingen 1992, in den Nachweisen jeweils zitiert als GS I, II und III. Wichtige, darin enthaltene Arbeiten sind (mit ursprünglichem Erscheinungsort bzw. Fundstelle): Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Leipzig und Berlin 1921 (GS I, S. 21 ff.) Grundrechte und Grundpflichten, in: Teubners Handbuch der Staats- und Wirtschaftskunde, Bd. 2, Leipzig und Berlin 1924, 1 ff. (GS II, S. 281 ff.) Sozialismus und Nation, Berlin 1925, 2. Aufl. 1931 (GS I, S. 437 ff.) Die Krisis der Staatslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), 289 ff. (GS II, S. 3 ff.) Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926 (GS I, S. 267 ff.)
79 Zu nennen sind etwa die Arbeiten von Martin Drath, s. etwa ders., Art. Staat, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 2432 ff.; ferner die Bücher von Schluchter (Fn. 43), Robbers (Fn. 44), Müller/Staff (Fn. 11). 80 Vgl. die vielfältigen Bezugnahmen bei P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998.
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Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, Berlin und Leipzig 1927 (GS II, S. 31 ff.) Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL 4 (1928), 98 ff. (GS II, S. 203 ff.) Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: Probleme der Demokratie, Berlin 1928, 35 ff. (GS II, S. 421 ff.) Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 55 (1929), 321 ff. (GS II, S. 249 ff.) Rechtsstaat oder Diktatur?, Tübingen 1930 (GS II, S. 443 ff.) Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung. Ein Rechtsgutachten, Berlin und Leipzig 1929 (GS II, S. 319 ff.) Europa und der Fascismus, Berlin und Leipzig 1929, 2. Aufl. 1931 (GS I, S. 463 ff.) Staat, in: A. Vierkandt u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, 608 ff. (GS III, S. 3 ff.) Staatslehre, hrsgg. von G. Niemeyer, Leiden 1934, 2. Aufl. 1961, 3. Aufl. 1963, 4. Aufl. 1970, 6. rev. Aufl. Tübingen 1983 (GS III, S. 79 ff.)
XXV Karl Loewenstein (1891–1973) Oliver Lepsius Über das Werk und die Person von Karl Loewenstein sind wir gut informiert,1 vor allem durch die vorzügliche Biographie von Markus Lang, die Loewenstein in jeder Hinsicht gerecht wird.2 Loewenstein selbst, ein weltläufiger, gebildeter und mit Witz gesegneter Mann, hat eine Autobiographie verfasst, die jedoch unveröffentlicht geblieben ist.3 Nicht zuletzt auf sie konnte auch sein Biograph zurückgreifen. Hier kann es folglich nicht darum gehen, in das Werk Loewensteins einzuführen oder sein Leben darzustellen. Mir ist es indes wichtig, den nach meinem Eindruck originellen und nach wie vor vorbildlichen Ansatz Loewensteins näher zu betrachten. Man kann zwar nicht sagen, dass die deutsche Staatsrechtslehre
1 Vgl. E. Fraenkel, Geleitwort, in: Karl Loewenstein, Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, IX–XVI; E. C. Stiefel/F. Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950), 1991, 101–104 und öfter; A. Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, 1996; P. Badura, Karl Loewenstein – Staat und Verfassung: Die Kontrolle politischer Macht, in: P. Landau/H. Nehlsen (Hrsg.), Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2001, 32–44; M. Lang, Karl Loewenstein zwischen den „Ideen von 1789“ und den „Ideen von 1914“, in: M. Gangl (Hrsg.), Linke Juristen in der Weimarer Republik, 2003, 217–245; ders., Politikwissenschaft als „amerikanisierte“ Staatswissenschaft, in: M. Dreyer u. a. (Hrsg.), Amerikaforschung in Deutschland, 2004, 137–160; R. C. van Ooyen, Ein moderner Klassiker der Verfassungstheorie, Karl Loewenstein – Eine Skizze, ZfP 51 (2004), 68–86; ders. (Hrsg.), Verfassungsrealismus: Das Staatsverständnis von Karl Loewenstein, 2007; S. Harrecker, Degradierte Doktoren. Die Aberkennung der Doktorwürde an der Universität München während des Nationalsozialismus, 2007, 319–322. Kurze Würdigungen: P. Lerche, AöR 96 (1971), 574 f.; R. Zippelius, JZ 1971, 700 f.; K. v. Beyme, AöR 98 (1973), 617–619; F. Hermens, ZfP 21 (1974), 1–3; P. Schneider, JZ 1974, 409 f.; ders., NDB 15 (1987), 103 f.; M. Lang, Karl Loewenstein, in: G. Riescher (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis Young, 2004, 293–296; ders., in: S. Kailitz (Hrsg.), Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, 2007; ders., Karl Loewenstein. From Public Law to Political Science, in: A. Fair-Schulz/M. Kessler (Hrsg.), German Scholars in Exile, 2011, 19–50; L. Wildhaber, Persönliche Erinnerungen an Karl Loewenstein, in: van Ooyen, supra, 35–39. Die Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages, 1971, gaben heraus: H. S. Commager, G. Doeker, E. Fraenkel, F. Hermens, W. C. Harvard, T. Maunz, dort unvollständiges Verzeichnis der Schriften, 509–516. 2 M. Lang, Karl Loewenstein. Transatlantischer Denker der Politik, 2007. 3 Seine Autobiographie. „Des Lebens Überfluß“ befindet sich im Amherst College, Archives and Special Collections, Karl Loewenstein Papers, Box 15a. Autobiographische Einblicke gestattet auch Loewensteins Vorwort zu seinem Buch: Staatswissenschaft und Staatspraxis in Großbritannien, Band I, 1967, VII–XII.
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Karl Loewenstein aus ihrem Gedächtnis getilgt hätte. Jedoch scheint es eher sein Name, sein Schicksal als Emigrant oder seine disziplinäre Zwangsmigration von der Staatsrechtslehre zur Politikwissenschaft zu sein, welche die Erinnerung wach halten, weniger indes sein Anliegen, sein Gegenstand oder seine Methode, Verfassungsrechtswissenschaft zu betreiben. Dem soll hier Aufmerksamkeit geschenkt werden, bewusst auch mit dem Ziel, für Loewensteins Anliegen in der heutigen Zeit zu werben. Wenn die Zeichen der Zeit richtig gedeutet werden, steht die Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Deutschland vor einer Wiederbelebung ihrer theoretisch angeleiteten, vergleichend informierten, institutionen- und modell orientierten Tradition4 und ist im Begriff, ihre Überfixierung auf materielles Recht und Systembildung zu überwinden.5 Das Interesse am juristischen Denken von Karl Loewenstein mag daher nicht nur historisch begründet sein, sondern auch in den zukünftigen Erkenntnisinteressen im öffentlichen Recht Wurzeln finden. Angesichts eines gewissen Orientierungsbedürfnisses, wie Recht in der vielbeschworenen Entwicklung zu Mehrebenensystemen auch jenseits dogmatischer Systembildung wissenschaftlich beschrieben und beeinflusst werden kann, darf auch das Werk von Karl Loewenstein auf frische Neugier hoffen.
I. Wofür steht das Werk Loewensteins? Fünf Thesen Unter den deutschen Staatsrechtslehrern nimmt Karl Loewenstein in mehrfacher Hinsicht einen besonderen Platz ein. Er zählt erstens zu den von Anfang an überzeugten Demokraten und macht eine explizit demokratische Verfassungslehre zu seinem Forschungsgegenstand. Das trifft in der Weimarer Republik, als Loewenstein die akademische Laufbahn einschlägt, alles in allem nur auf eine Minderheit in der deutschen Staatsrechtslehre zu. Für ihn ist die Demokratie von Anbeginn der gesellschaftliche und rechtliche Normalzustand, was für jemanden, der seine politische Sozialisation noch während des Ersten Weltkriegs erhalten hat,
4 Das Programm fand einen inzwischen fast kanonisierten Ausdruck im Bericht des Wissenschaftsrats, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, 2012; englische Übersetzung 2013. Stellvertretend darf in der Sache etwa verwiesen werden auf A. v. Bogdandy u. a. (Hrsg.) Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I, 2007 bis Band IV, 2011 (weitere Bände im Erscheinen) sowie W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006 bis Band III, 2009; 2. Aufl. 2012/2013. 5 Vgl. O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof u. a. (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 39–62; M. Jesatedt/O. Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008.
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schon beachtlich ist. Loewenstein teilte keine Sentimentalität an Kaiserreich oder Monarchie und er glaubte auch nicht an die neuen Heilserwartungen, die sich mit den gegensatzaufhebenden neuen philosophischen Strömungen verbanden. Nationalismus ist ihm fremd, er ist auch kein „Vernunftrepublikaner“. Sein Thema ist nicht die Transformation des Rechtsstaats zur Demokratie, sondern die Funktionsweise und Funktionsfähigkeit der Demokratie. Er bettet, zweitens, das Programm einer demokratischen Verfassungslehre in einen verfassungsvergleichenden Ansatz ein: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten bilden die typologischen Eckpunkte und formen den analytischen Rahmen. Mit der Vergleichung gewinnt er zugleich eine Distanz zu diesen Rechtsordnungen, die er nicht um ihrer selbst willen traktiert, sondern als verschiedene Ausdrucksformen eines einheitlichen Grundproblems begreift. Obwohl die Weimarer Staatsrechtslehre noch in bewundernswerter Weise mit den ausländischen Verhältnissen vertraut war und sich die Tradition der Vergleichung aus dem späten 19. Jahrhundert bewahrte, darf Loewensteins Interesse an den großen demokratischen Rechtsordnungen doch als etwas Außergewöhnliches hervorgehoben werden. Er präsentiert sich als ein Denker, der zutiefst in den klassischen westlichen Verfassungsordnungen verwurzelt ist. Sowohl über Frankreich als auch über Großbritannien und die USA hat Loewenstein große Monographien geschrieben.6 In ihren Verfassungstraditionen war er gleichermaßen zu Hause, was ihn in den Stand versetzte, Verfassungsrecht in einer dynamischen Modellierung von vier unterschiedlichen Traditionslinien zu erfassen. Heute noch kommt uns dieser Ansatz einer strukturierenden, westlichen Verfassungslehre modern und nötiger denn je vor. Sein Programm, eine vergleichende demokratische Verfassungslehre, wird, drittens, mit einer Methode verfolgt, die in der deutschen Rechtswissenschaft bis heute eine Minderheitenrolle einnimmt. Seine juristische Analyse orientiert sich nämlich nicht am Wortlaut der Normen, nimmt also nicht die Texte, ihre Exegese und kommentierende Aufbereitung zum Gegenstand, sondern untersucht die politische Wirkungsweise der Normen. Loewenstein geht es um die Frage, wie sich Herrschaftsverhältnisse juristisch analysieren lassen, also um den Beitrag des Rechts zur Organisation sozialer und politischer Macht. Er begreift Recht nicht als idealisierungsfähiges verselbständigtes System. Wie sich Recht tatsächlich darstellt, ist zum einen die Folge der Herrschaftsverhältnisse, in denen Recht
6 K. Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, 1922; ders., Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959; ders., Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, 2 Bände, 1967.
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erzeugt und angewendet wird. Zum anderen hat Verfassungsrecht die Aufgabe, diese Herrschaftsverhältnisse zu strukturieren, nicht, sie einfach hinzunehmen. Das gelingt ihm nicht immer gleichgut, aber Loewenstein kann aus der vergleichenden Verfassungslehre eine Reihe von Einsichten geeigneter und weniger geeigneter Lösungen gewinnen. Sein juristisches Interesse folgt daher nicht dem Code von rechtmäßig oder rechtswidrig, sondern eher der Frage: zweckmäßig oder unzweckmäßig. Damit greift Loewenstein eine juristisch zentrale Kategorie auf, welche die deutsche Rechtswissenschaft aber aus ihrem Forschungsprogramm verdrängt und als scheinbar rechtspolitisches Thema gerne anderen überlassen hat. Loewenstein orientiert sich, viertens, interdisziplinär an der Geschichte und an der Soziologie. Über Recht will er nicht sprechen ohne ein Vorverständnis von den sozialen und politischen Herrschaftsverhältnissen und -bedingungen zu besitzen. Umgekehrt sieht er, dass die Wirkung von Recht sich nicht im judikativen Kontrollprogramm erschöpft, sondern durch die Ausgestaltung des politischen Lebens wirkmächtig wird. Recht organisiert die Interessenformierung und die Interessenartikulation; es teilt Rechte und Möglichkeiten zu. Recht wirkt auf und in Institutionen. Eine Behandlung des Rechts ohne Institutionen, eine Staatsrechtslehre ohne Organe und Verfahren, verfehlte für Loewenstein ihren Resonanzraum. Die Wirkung von Recht geht über die konventionellen Wirkungsformen, Gesetz und Urteil, generell-abstrakte und individuell-konkrete Normen, weit hinaus, und will von Loewenstein gerade auch in diesen Dimensionen erfasst und analysiert werden. Diese im Wirkungsbereich von Recht angelegte Nähe zur Politik, Geschichte und Soziologie macht Loewenstein fast zu einem Solitär in der deutschen Staatsrechtslehre. Vergleicht man ihn mit den großen Ansätzen in der Weimarer Staatsrechtslehre,7 der geisteswissenschaftlichen Richtung (Smend, Holstein, Kaufmann), der normativistischen Richtung (Kelsen), der dezisionistischen Richtung (Schmitt) oder der idealistischen Richtung (Heller), so müßte Loewenstein als Vertreter einer herrschaftsbezogenen Institutionenlehre bezeichnet werden. Dementsprechend orientiert sich sein Werk auch recht wenig an Themen des materiellen Rechts, bei denen sonst gemeinhin der wissenschaftliche Schwerpunkt deutscher Juristen liegt. Wichtiger sind ihm die Kompetenzen, das Verfahrensrecht sowie die Arbeitsweise und Zusammenarbeitsformen von Organen, also das Intra- und das Interorganrecht. Das Besondere an Loewenstein ist also nicht etwa, dass er das Verhältnis von Recht und Politik thematisiert – das tun viele. Es ist vielmehr die Art, wie er dieses Verhältnis erfasst,
7 Zu einer Einordnung Loewensteins in die Grundpositionen der Weimarer Staatsrechtslehre siehe auch van Ooyen, Ein moderner Klassiker (Fn. 1), 78–83.
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nämlich nicht im Wege des traditionellen Gegensatzes von Recht und Politik, in dem Recht als Mittel zur Kontrolle von Politik begriffen wird. Loewenstein hat vielmehr die Wirkungsweise von Recht in der Demokratie verinnerlicht. In der Demokratie entsteht Politik aus Recht und wirkt durch Recht. Recht und Politik im Stile des Rechtsstaats des Kaiserreiches gedanklich und wissenschaftlich zu trennen, muss in seinen Augen den Auftrag der Rechtswissenschaft in der Demokratie verfehlen. Fünftens schließlich steht Loewenstein stellvertretend auch für die Vertreibung der pluralistisch-demokratischen Staatsrechtslehre aus Deutschland. Die Machtergreifung Hitlers beendete nicht nur die Demokratie, sondern bewirkte auch einen geistigen Niedergang, der sich in der Staatsrechtslehre besonders als Verlust der pluralistischen, parlamentarischen Traditionslinien auswirkte. Durch den Nationalsozialismus wurde die pluralistische Geisteshaltung ausgebürgert. Überleben konnte sie nur in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, zurückgekehrt ist sie in die junge Bundesrepublik nur teilweise. Loewensteins doppelte Expatriierung, aus seinem Land und aus seiner Disziplin, macht ihn zu einem fast typischen Vertreter des lebendigen Geistes der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen fortschrittliche Strömungen in Deutschland nicht überleben konnten.
II. Das opus magnum: Die Verfassungslehre (1957/1959) Um einen Eindruck vom wissenschaftlichen Anliegen Loewensteins zu gewinnen, wollen wir einen Blick auf sein opus magnum werfen, die „Verfassungslehre“, 1959 in deutscher Übersetzung veröffentlicht.8 Sie ist Loewensteins Hauptwerk, weniger vom Umfang her betrachtet als vom Genestand und der Methodik. Mit
8 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 1959 (2. Aufl. mit einem Nachtrag 1968; 4. Aufl. 2000), übersetzt von Rüdiger Broemer; die Originalausgabe erschien unter dem Titel Political Power and the Governmental Process, 1957. Das Buch geht auf Vorlesungen zurück, die Loewenstein im Januar 1956 an der University of Chicago gehalten hat. Die Grundstruktur des Buches ist allerdings schon einige Jahre früher erkennbar, vgl. ders., Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, AöR 77 (1952), 387. Diese Abhandlung kann wie eine vorbereitende Kurzfassung der „Verfassungslehre“ gelesen werden. In den Rezensionen wurde die „Verfassungslehre“ vor allem ob ihrer verfassungshistorischen und verfassungsvergleichenden Gelehrsamkeit vielfach bewundert, aber von den deutschen und US-amerikanischen Rezensenten oft nicht richtig verstanden, weil den Rezensenten meist die nähere Kenntnis des britischen Verfassungsrechts fehl-
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diesem Buch präsentiert Loewenstein eine Quintessenz seines Schaffens: eine vergleichende und typologisierende Studie zur Organisation von Macht und Herrschaft durch Verfassungen, zugleich durch und durch werbend für demokratische Umgangsformen.
1. Das Verfassungsverständnis Die Grundgedanken Loewensteins kehren in diesem Werk mustergültig wieder: Verfassungen regeln Macht und haben das politische Leben, seine Organisation durch Institutionen, seine Voraussetzungen und Bedingtheiten zum Gegenstand. Es geht Loewenstein nicht um ein schlüssiges System von Normen, die eine perfekte Welt in eine verfassungsrechtliche Form gießen, sondern um die Fähigkeit, Macht und Herrschaft zu formen und zu kontrollieren. Dem materiellen Recht, das in der deutschen Rechtstradition, auch jener des Staatsrechts, in aller Regel übergewichtig die Aufmerksamkeit auf sich zieht, widmet sich Loewenstein nur ganz am Rande. Stattdessen treten das Organisations-, Kompetenz- und Verfahrensrecht in den Vordergrund. Man könnte seinen Ansatz auch einen institutionenzentrierten bezeichnen, sowohl in der deskriptiven Analyse als auch in der normativen Strukturierung: Wie sind die Institutionen beschaffen? Welche Kompetenzen haben sie, wie können sie diese erfüllen, welches sind die Gegenspieler, welche Rückwirkungen haben die Institutionen auf das politische Leben und den politischen Prozess? Solchen Fragen ist seine Verfassungslehre gewidmet. Welche Stärken und Schwächen weisen die jeweiligen Regierungssysteme und Verfassungsmodelle auf? Was kann man daraus strukturell lernen für das Verhältnis von Macht, Herrschaft, Recht und Politik? Die Verfassung lässt für Löwenstein nicht als Korpus von Normen, rein textlich begreifen. Sie ist vielmehr eine „Apparatur der Machtkontrolle“, und das meint er nicht nur als Feststellung, sondern auch als Fragestellung.9 Während man oft lesen kann, Verfassungen dienten der Machtkontrolle, der Herrschaftsbegrenzung und Herrschaftsbegründung, geht Loewenstein den Wirkungen auf Macht und Herrschaft tatsächlich nach. Er begreift Macht und Herrschaft nicht als bloße Kategorie, die zur Bezugsgröße der Verfassung wird, sondern als eine politische und soziale Realität, ohne deren Erfassung das Studium der Verfassung sinnlos bleibt. Man kann hier das Weimarer Legat erkennen; der Demokratie ohne Demo-
te, die für das Verständnis von Loewensteins Ansatzes wichtig ist. Zur Aufnahme der „Verfassungslehre“ durch die Rezensenten im Überblick: Lang (Fn. 2), 79–85. 9 Vgl. Loewenstein, Verfassungslehre, 127 f., 148, 168 f., 189.
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kraten half kein Text. Auf die Effektivität der Machtkontrolle kommt es ihm an, um die Normativität einer Verfassung beurteilen zu können, nicht auf die abstrakte Geltung eines Normtextes oder seine verfassungsgerichtliche Aufbereitung in Maßstäben, die für sich genommen noch nichts bewirken.10 Loewenstein arbeitet nicht mit einem „Verfassungsbegriff“; er fragt nicht nach dessen Definitionsmerkmalen. Er hat ein funktionales oder relationales Verfassungsverständnis, spricht vom „Telos der Verfassung“. Ihr Telos liegt in der Institutionalisierung der aufgeteilten Ausübung politischer Macht. An einer Stelle nennt er fünf Grundbestandteile als unreduzierbares Minimum einer echten Verfassung.11 Es sind Funktionskategorien: (1) die Zuweisung von Staatsaufgaben an unterschiedliche Machtträger zur Vermeidung von Machtkonzentration, (2) ein planvoller Mechanismus für das Zusammenspiel dieser Machtträger, (3) ein Mechanismus zur Vermeidung von gegenseitigen Blockierungen, damit sich nicht ein Machtträger aufschwingen kann, (4) eine Methode zur Anpassung der Normen an veränderte soziale und politische Verhältnisse, (5) sowie die Anerkennung individueller Selbstbestimmung durch Grundrechte. Für die Beurteilung einer Verfassung im konkreten wie auch für Aussagen über die Verfassung im allgemeinen ist daher eine konkrete Analyse bzw. eine typologische Erfassung der tatsächlichen Machtverhältnisse unerlässlich. Seine Darstellung erhält dadurch einen durchgängig dynamischen Charakter. Denn Loewenstein muss, um verallgemeinerungsfähige Aussagen treffen zu können, immer auch auf tatsächliche Machtstrukturen eingehen und Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart liefern. Das politische Leben ist daher in einem wissenschaftlich konstitutiven Sinne präsent. Laufend werden konkrete Konflikte genannt und auch namentlich individualisiert. Nicht geht es um eine historische Schilderung verfassungsrechtlicher Sachverhalte oder Aspekte der politischen Geistesgeschichte, sondern um reale Machtkonstellationen, die auf Normen einwirken oder durch Normen geformt werden. Wer als klassisch geschulter deutscher Jurist an dieses Buch herangeht, könnte überrascht werden, weil den begrifflich-deduktiven Methoden, die in der deutschen Rechtswissenschaft perfektioniert sind, kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es mag deutschen Juristen auch ungewohnt sein, Normen im Hinblick auf politische Sachverhalte erfassen zu sollen; ihnen liegt es viel näher, politische Sachverhalte unter Zugrundelegung von Normen zu beurteilen. Bei Loewenstein indes erhalten die Verfassungsnormen keinen normativen Selbststand, keine textliche Autonomie,
10 Vgl. auch Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, AöR 77 (1952), 387 (390–392). 11 Loewenstein, Verfassungslehre, 131.
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keinen inhärenten Systemanspruch. Funktionale Typisierungen treten an die Stelle von begrifflich-systematischen.
2. Herrschaftskontrolle als Organ-Kontrollen Sein Forschungsprogramm richtet sich daher auf Institutionenarrangements der drei Staatsgewalten. Mit verfassungshistorischen und staatssoziologischen Beispielen vor allem aus den wesentlichen westlichen Referenzrechtsordnungen wird dabei das Grundproblem der Herrschaftskontrolle und Verantwortungszurechnung illustriert. Aber auch bei der abstrakten Behandlung der Lehre von der Gewaltenteilung wird seine Fragestellung deutlich: In ihrer kanonisierten abgrenzenden Form lehnt er die Lehre von der Gewaltenteilung ab. Sie habe durch die Demokratie, besonders durch den Parlamentarismus eine neue Gestalt bekommen: Aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten von Regierung und Parlament könne mit Hilfe der Gewaltenteilung keine Herrschaftskontrolle und Verantwortungszurechnung mehr bewirkt werden. Die Kontrollfunktion des Parlamentes sei angesichts der praktischen Macht der Regierung bei der Vorbereitung und Durchführung der Entscheidungen illusorisch geworden.12 Die echte Gewaltenteilung, wie sie den amerikanischen und französischen Autoren vorgeschwebt hatte, sei „bis zur praktischen Unbrauchbarkeit entleert worden“. An ihre Stelle sei die zeitgenössische „Trinität der Gewalten-Ausübung“ getreten,13 die drei Elemente aufweist: Entscheidungsfällung, Durchführung und Kontrolle.14 Zu diesen Funktionen tragen die Gewalten gemeinsam bei. Hier wird die Betrachtung dynamisch; sie lässt sich kaum noch auf generell-abstrakte Lehrsätze reduzieren,15 es geht letztlich um zweckmäßigere und weniger erfolgreiche Verfahrensregime, die jedoch nur im politischen Kontext beurteilt werden können. Gerade um der situativen Betrachtung zu entrinnen benötigt Loewenstein die verfassungsvergleichende Methode. Nur durch die Verwendung vergleichender Analysen können institutionelle, politische und prozedurale Einsichten erfasst werden, nämlich als gemeinsame Lehrsätze im Kontrast der jeweiligen Erfahrungen.
12 Ebd., 31–33, 422 f. 13 Ebd., 422. 14 Ebd., 39–49. 15 So auch E. Fraenkel (Fn. 1), XII: Je tiefer Loewenstein in die Materie eindrang, desto nachhaltiger habe sich bei ihm die Überzeugung verfestigt, dass Brauchbarkeit und Nützlichkeit einer Verfassung von so vielen Variablen abhänge, dass Verallgemeinerungen unzulässig seien.
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Grundsätzlich unterscheidet Loewenstein zwischen horizontalen und vertikalen Kontrollen.16 Bei den horizontalen Kontrollen differenziert er zwischen Intra-Organ-Kontrollen und Inter-Organ-Kontrollen. Beide werden jeweils für die verschiedenen Gewalten anhand seines reichen vergleichenden und historischen Wissens durchdekliniert. An vertikalen Kontrollen behandelt er den Föderalismus, die Grundrechte und den zivilgesellschaftlichen Pluralismus. Betrachten wir die Vorgehensweise Loewensteins an zwei Beispielen aus dem Bereich der horizontalen Kontrollen näher um einen exemplarischen Eindruck von seiner Verfassungslehre zu gewinnen: der Macht der Gerichte sowie der Macht der Wählerschaft.
3. Die Macht der Gerichte Im Rahmen von Loewensteins dynamischem Gewalten-Verständnisses und des Beitrages der Gewalten für die drei Staatsfunktionen (Entscheidungsfindung, -durchsetzung, Kontrolle) kommt den Gerichten eine Rolle zu, die deutlich über die Kontrollfunktion hinausgeht, nämlich die eines Machthabers.17 In der deutschsprachigen Literatur dürfte es kein zeitgenössisch vergleichbares Werk geben, in dem die Gewalt der Gerichte so unverblümt als Machtausübung behandelt wird – in deutlichem Kontrast zu der bis heute gerade in Deutschland überwiegenden Meinung, die die Funktion von Gerichten als eine kontrollierende, hütende und freiheitssichernde idealisiert. Mit dem richterlichen Prüfungsrecht werden Gerichte als dritter Machtträger konstituiert; sie übernehmen der Sache nach eine politische Kontrolle. Folgerichtig spricht Loewenstein aus, was bis heute selten thematisiert wird: Gerade die Unabhängigkeit des Richters, ein Grundpfeiler des rechtsstaatlichen Systems, berge die Gefahr des Missbrauchs in sich. Er spricht von der zwingenden Notwendigkeit, in die richterliche Funktion „technische Mittel zur Selbstbeschränkung einzubauen“, die vor der Willkür der Richterbank schützen.18 Auch auf Gerichte wendet Loewenstein die Kriterien der Intra- und InterOrgan-Kontrollen an. Als Intra-Organ-Kontrollen behandelt er die kollegiale Ordnung der Gerichte, Einstimmigkeitserfordernisse im Richterkollegium, Rechtsmittel und Instanzenzug, Einbindung von Geschworenen (Gedanke der Jurisdik-
16 Für eine systematische Darstellung vgl. auch Lang (Fn. 2), 62–79. 17 Vgl. Verfassungslehre, 15, 44 f., 117, 186, 247 ff., 265. 18 Ebd., 186.
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tion vor seinesgleichen statt vor einem Berufsrichterstand).19 Besonders erhellend aber sind seine Ausführungen über die Inter-Organ-Kontrollen der Gerichte. Die rechtsschöpfende Macht der Gerichte ist im Common Law-Rechtskreis naturgemäß präsenter als in den kodifikationsorientierten Rechtsordnungen; in den USA gesellen sich zudem die Erfahrungen mit dem richterlichen Prüfungsrecht des U. S. Supreme Court hinzu. Zunächst hebt er den gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber ungesetzlichen Verwaltungsakten hervor, grenzt das französische Modell der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom britischen Rechtsschutz der ordentlichen Gerichte gegen ultra-vires-Akte ab. Sein eigentliches Interesse aber gilt dem richterlichen Prüfungsrecht über die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten. Die Normenkontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit übersteige „bei weitem den legitimen Bereich der gerichtlichen Tätigkeit. … Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist ihrem Wesen nach politische Kontrolle, und wenn sie sich gegenüber den anderen Machtträgern durchsetzt, ist sie in Wirklichkeit eine politische Entscheidung. Wenn die Gerichte das Recht der Nachprüfung beanspruchen und ausüben, hören sie auf, lediglich das Organ zur Ausführung der politischen Entscheidung zu sein, und sie werden zu einem den anderen politischen Machtträgern ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Machtträger zu eigenem Recht.“20 Seine Analyse geht über die klassische Rechtfertigung der rechtsprechenden Gewalt im Federalist Nr. 78 von Hamilton hinaus. Hamilton hatte die Gerichts barkeit als die „least dangerous branch“ bezeichnet. Man könne ihr die Letztkontrolle übertragen, weil sie weder eine Vollzugsgewalt besitze noch eigene Interessen verfolge („neither force nor will“).21 Loewensteins Behandlung des Problems, das heute als „counter-majoritarian difficulty“ bezeichnet wird,22 greift nicht zu einer generell-abstrakten Funktionenaufteilung von demokratischer Rechtspolitik und verfassungsgerichtlichem Kontrollanspruch, sondern schichtet mehrere Konfliktlagen ab, bei denen mal zugunsten der Gerichte, mal zugunsten der Demokratie entscheiden wird. Dem Gericht billigt er die Prüfungszuständigkeit vor allem in föderativen Streitfragen zu. Die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Gliedstaat sei die „legitime Domäne des richterlichen Prüfungsrechts“.23 Differenzierter urteilt er im Hinblick auf die Grundrechte. Geht es bei der Grundrechtskontrolle um die Wahrung der Freiheit eines einzelnen oder einer Gruppe, zählt auch diese Aufgabe zum legitimen Anwendungsbereich des richterlichen
19 Ebd., 186. 20 Ebd., 247 f. 21 Kurze Diskussion des Federalist Nr. 78 bei Loewenstein, 248 f. 22 Begriff von A. Bickel, The Least Dangerous Branch, 1962. 23 Loewenstein, Verfassungslehre, 250.
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Prüfungsrechts, selbst wenn es sich im Einzelfall um eine politische Entscheidung des Gerichts handeln könne. Anders aber urteilt Loewenstein, wenn die Richter den Anspruch erheben, sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen der politischen Machtträger nach Wert oder Unwert zu behandeln. „Hat die richterliche Prüfungszuständigkeit politische Entscheidungen zum Gegenstand, nimmt sie den Charakter einer politischen Kontrolle durch die Gerichte an, die theoretisch der Rechtsprechungsfunktion nicht zukommt.“24 Hier versagten die Inter-Organ-Kontrollen, weil sich die anderen politischen Organe nicht hinreichend gegen gerichtspolitische Entscheidungen behaupten können und auch der Wähler keine Kontrolle über das Gericht ausüben kann. Die Verfassungsänderung sei nur ein theoretisches Mittel. Sein Urteil über die Verfassungsgerichtsbarkeit fällt hier sehr kritisch aus: „Ein einzelner Machtträger, der weder in demokratischer Weise berufen noch gegen politischen Mißbrauch seiner Macht gefeit ist, maßt sich das Recht an, die politischen Entscheidungen der anderen vom Volke gewählten und überwachten Machtträger zu durchkreuzen und zunichte zu machen; er selbst aber ist dank seiner Unabsetzbarkeit keinerlei wechselseitigen Kontrollen seitens der übrigen Machtträger, einschließlich der Wählerschaft, unterworfen.“25 Man kann Loewensteins Position so reformulieren: Mit föderativem oder subjektivrechtlichen Rechtsschutzziel ist die Verfassungsgerichtsbarkeit als Inter-Organ-Kontrolle legitim; ein objektives Rechtsschutzziel gegenüber Gesetzen, zumal im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, steht ihr aber nicht zu. Auch als subjektives Recht schätzt er die Wirtschaftsgrundrechte nicht. Sie dienten bloß den wirtschaftlichen Bedürfnissen und politischen Zielen des Wirtschaftsbürgertums vor staatlicher Intervention und gesellschaftlicher Umverteilung.26 Im Bereich der Wirtschaftsfreiheiten vertraut Loewenstein auf die anderen Formen der Inter-Organ-Kontrolle im politischen Prozess und besonders auch auf die Wählerschaft, die Verteilungsfragen zu entscheiden berufen sei. Man spürt, wie die Erfahrungen im Konflikt zwischen dem New Deal Präsident Franklin Delano Roosevelts und dem Laissez-Faire-Supreme Court in den 1930er Jahren Loewensteins kritische Haltung beeinflusst haben.27 Wenn er die politische Funktion der Gerichte trotzdem hinnimmt, dann nur als Ausdruck spezifisch amerikanischer Verfassungstraditionen. Die politische Rolle des Supreme Court
24 Ebd., 251. 25 Ebd., 253. 26 Ebd., 338. Vgl. auch die Kritik an der Verbindung von Rechtsstaat mit den Interessen von Industrie und Finanzkapital bei dems., Verfassungswirklichkeit (Fn. 10), 434 f. 27 Ebd., 265, 338, 343.
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sei zu einem Bestandteil des Verfassungslebens geworden. Auch sei sie im spezifisch amerikanischen Institutionenarrangement als Gegengewicht zu den hektischen Schwankungen zwischen Kongress und Regierung akzeptabel. Schließlich würde der politische Schaden durch den wirkungsvollen Schutz der Bürgerrechte wettgemacht.28 Loewenstein ist bereit, im Falle der USA eine historisch-politisch bedingte Ausnahme zu machen. Man kann seinen Rechtfertigungsansatz als Vorwegnahme moderner Rechtfertigungen der counter-majoritarian difficulty lesen, weil dort auch nach der politischen Relevanz typisierbarer Konfliktlagen graduell mal zugunsten der Gerichte, mal zugunsten der Demokratie entschieden wird. Man denke nur an John Hart Elys Repräsentationsverstärkungs-Theorie zur Rechtfertigung des bürgerrechtsaktivistischen Warren Courts.29 Im Übrigen aber warnt Loewenstein eindringlich vor einer „Judizialisierung der Politik“, bezieht sich dafür auf die Erfahrungen mit dem Staatsgerichtshof der WRV, kritisiert aber auch die Behandlung der EVG-Kontroverse durch das BVerfG.30 Den Trend, politische Konflikte durch (verfassungs-)gerichtliche Instanzen lösen zu wollen, sieht er außerordentlich kritisch, nämlich als einen politischen Akt ohne demokratisches Mandat. Hier drohe die Verwischung von Rechtsprechung und Politik. Darunter litten beide, weil die politisch verantwortlichen Machtträger die Sache nicht mehr entscheiden und die Gerichte ihre politischen Entscheidungen nicht durchsetzen könnten. In diesem Szenario geht die Inter-Organ-Kontrolle fehl, weil die Entscheidungsmacht und die politische Verantwortung der Entscheidung auseinanderfallen. Loewenstein resümiert: „Im Machtprozeß entspricht das Maximum an Interorgan-Kontrollen nicht immer ihrem Optimum.“31
4. Die Macht der Wähler Originell ist schließlich, wie Loewenstein das Volk in die Verfassungslehre einbaut.32 Zunächst fällt auf, dass nicht, wie in der deutschen Staatsrechtslehre üblich, von Volk die Rede ist, sondern von der Wählerschaft. Loewenstein hat keine andere Wahl, wenn er dem Volk die Funktion einer Interorgan-Kontrolle zuspricht. Dies erklärt wiederum, warum Loewenstein beim Verhältnis der Gewal-
28 Ebd., 254. 29 J. H. Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, 1980; dazu J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003. 30 Löwenstein, Verfassungslehre, 263. Zur Kontroverse: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, 1994, 28–39. 31 Verfassungslehre, 265. 32 Ebd., 266 ff.
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ten und ihrer Kontrolle zuvor immer wieder auf Verantwortungszurechnung und -klarheit abgestellt hat, denn die Kontrolle der Verfassungsorgane durch das Volk setzt zum einen die Handlungsfähigkeit des Volkes als Wählerschaft voraus (Willensbildung, Wahlrecht, Parteien), zum anderen einen klaren Empfänger dieser Kontrolle. Das Volk wird also nicht als legitimatorisches Zurechnungssubjekt der Staatsgewalt behandelt, sondern als Kontrollorgan im politischen Prozess. Es geht ihm also nicht primär darum, die Repräsentation zu perfektionieren, den Volkswillen „abzubilden“ oder die Wahlrechtsgleichheit zu maximieren, sondern die politische Handlungsfähigkeit der Wähler zu institutionalisieren. Die Wahl und das Wahlverfahren spielen für die Herrschaftskontrolle daher eine zentrale Rolle. Für Loewenstein ist es wichtig, dass der Wähler auch tatsächlich kontrollieren kann und sich seine Wahlentscheidung nicht in einem allgemein legitimierenden Kollektivakt erschöpft, dessen Herrschaftskontrolle erst durch weitere Organe aufbereitet und mediatisiert wird. Die Wähler sollen effektiv zum Ausdruck bringen können, welche Personen oder Parteien sie für die Ausübung der Herrschaftsbefugnisse bevorzugen. In seinen Augen das beste Modell liefert der britische Parlamentarismus, weil hier mit der Parlamentswahl praktisch zugleich die Führer der siegreichen Partei in Regierungsämter berufen werden.33 Am britischen System schätzt Loewenstein, wie es ihm gelingt, die Wählerschaft unmittelbar zu einem politischen Akteur zu machen, der wie ein Organ gegenüber den anderen Verfassungsorganen handelt, der die Richtung angeben und ihre Umsetzung auch überprüfen kann. Dem Zweiparteiensystem kann Loewenstein viel Gutes abgewinnen, weil es die Kontrolle durch die Wählerschaft genauso garantiert wie die effektive Herrschaftsausübung. In parlamentarischen Regierungssystemen mit Verhältniswahlrecht hingegen ist die Bildung der Regierung an den Zwischenschritt einer eigenständigen Willensbildung des Parlamentes gebunden (Mehrheitsbildung durch parteipolitische Kompromisse, Koalitionsverhandlungen), was die Kontrolle durch die Wählerschaft mediatisiert. Die Inter-Organ-Kontrolle der Wählerschaft erfolgt allerdings nur punktuell, nämlich im Zeitpunkt der Wahl. Dem Wahlsystem wendet er daher besondere Aufmerksamkeit zu; sie gilt auch den Mitteln, wie in der Massendemokratie dem Wähler die Persönlichkeiten und die Programme der Parteien nahegebracht werden können, erneut also den sozialen und politischen Bedingungen der Herrschaftskontrolle. Unter diesen Bedingungen schneiden alle Wahlsysteme suboptimal ab; ein vollkommenes Wahlgesetz, dass allen Bewerbern gleiche Chancen
33 Verfassungslehre, 267.
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einräumt, müsse erst erfunden werden, stellt Loewenstein lakonisch fest.34 Zum Mehrheitssystem fallen ihm genügend Beispiele von Wahlgesetzen ein, „die ohne jede Scham zugunsten bestimmter Parteien oder etablierter Interessen zurechtgestutzt sind“. Nur Großbritannien sei eine einigermaßen gerechte Lösung gelungen. Dem Verhältniswahlrecht gelinge zwar die Einbindung der Minderheiten in der Massendemokratie besser, doch nähme es dafür gravierende Nachteile in Kauf: die Entfremdung der Wähler von der Politik infolge der Herrschaft der Parteien über das Wahlverfahren, das Monopol der Parteienoligarchie bei der Kandidatenauswahl und -reihung, die Mechanisierung des politischen Prozesses, die Zersplitterung des Wählerwillens durch das Auftreten zahlreicher Parteien, sowie die Schwierigkeit, „aus der in viele Parteien gespaltenen Versammlung eine stabile Regierung hervortreten zu lassen, da diese infolge der Zersplitterung ihren Rückhalt bei kleinen und kleinsten Gruppen suchen muß.“35 Im Ergebnis beurteilt Loewenstein die Wahlsysteme nach ihrer Fähigkeit, wie es ihnen gelingt, die Funktion der Wählerschaft als des obersten Machtträgers im politischen Prozess und ihr Kontrollrecht von Parlament und Regierung zu gewährleisten. Dieses Kriterium ist Loewenstein auch deshalb wichtig, weil es im normalen politischen Prozess auch zu gegenseitigen Blockierungen zwischen den Machtträgern kommen kann. Solche Konflikte könne letztlich nur die Wählerschaft lösen, weshalb sie dann auch einen durch das Wahlsystem gewährleisteten Einfluss auf die anderen Machtträger haben muss.36
III. Das versteckte Modell: Großbritannien In der „Verfassungslehre“ begegnen dem Leser Beispiele aus vielen Verfassungen der Welt, nicht nur den Grundtypen des westlichen Verfassungsdenkens. Lateinamerika ist sehr präsent, man spürt die Vertrautheit des amerikanischen Professors mit dem Konstitutionalismus in Südamerika.37 Auch den neuen Verfassungen im Gefolge der Entkolonialisierung gilt seine Aufmerksamkeit, man spürt hier das Interesse an den Verfassungsfragen des Britischen Empires. Die Kenntnis und Belesenheit der Verfassungen der Welt ist stupend. Schon Klaus v. Beyme würdigte Loewenstein als den besten Kenner des ausländischen Verfas-
34 Ebd., 274. 35 Ebd., 281. 36 Ebd., 287, 291. 37 Vgl. dazu auch M. Neves, Präsidentialismus in Lateinamerika und Karl Loewenstein, in: van Ooyen, Verfassungsrealismus (Fn. 1), 193–199.
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sungsrechts und Verfassungsvergleicher seit Gneist, Hatschek und Jellinek.38 Auf eine vergleichbar dichte Verarbeitung unterschiedlicher Verfassungen aus allen Kulturkreisen der Welt wird man im deutschen Sprachraum erst wieder bei Peter Häberle treffen, freilich mit einem anderen methodischen Vorverständnis.39 Insgeheim wird bei aller historisch informierten Vergleichung die Vorliebe Loewensteins für Großbritannien und seine parlamentarische Kabinettsregierung deutlich.40 Das zeigt sich implizit am Ziel der Verfassungslehre zur politischen Herrschaftskontrolle, an der Geringschätzung von schematischen oder systematischen Kompetenzabgrenzungen, an der Präferenz für eine Regierung, die eng vom Parlament kontrolliert wird und zugleich die Kontrolle über die Gesetzgebung in der Hand hat, an der Einbindung der Wählerschaft als Kontrollorgan oder an der Leistung von Parteien für die Einbeziehung der Wählerschaft in den politischen Prozess.41 Nicht zuletzt zeigt sich die Präferenz für Großbritannien in der Vernachlässigung von Verfassungstexten ganz allgemein. Verfassungsnormen werden von Loewenstein nur selten genannt; ihrer Auslegung und Kommentierung gewinnt er noch seltener etwas ab. Er vermisst nicht wirklich, was das Vereinigte Königreich nicht kennt. Ein erfolgreicher Verfassungsstaat zeichnet sich für Loewenstein nicht durch eine Verfassungsurkunde oder besondere Textgläubigkeit aus. Sein Modell der „normativen Verfassung“ stellt auf die Wirkung von Normen ab, nicht auf die Geltung eines Normtextes, und die normative Wirkung der Verfassung zeigt sich für Loewenstein nicht in Verfassungsgerichtsentscheidungen, sondern darin, wie der politische Prozess und das Agieren der Machtträger tatsächlich von ihr beeinflusst werden. Das britische Vorbild wird auch in der Kritik am Unbritischen deutlich. Sehr skeptisch äußert sich Loewenstein etwa zum Föderalismus, dem er, geleitet vom Beispiel der USA, einen allgemeinen Niedergang vorhersagt.42 Nicht wirklich
38 K. v. Beyme, AöR 98 (1973), 617; der Sache nach ebenso E. Fraenkel (Fn. 1), XIII. 39 Vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998; ders., Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013. Häberle stellt stärker als Loewenstein den Normtext in den Mittelpunkt (Textstufenparadigma, Verfassungsvergleichung als Auslegungsmethode) und gewinnt den Realitätsbezug über den Begriff der Kultur, nicht Macht und Herrschaft. Vgl. auch Häberles sanft distanzierende Besprechung der 2. Aufl. von Loewensteins Verfassungslehre durch P. Häberle, JZ 1970, 196. 40 Offen bekennt Loewenstein sein alte Liebe zu England als „Lieblingsgegenstand seiner öffentlichrechtlichen Bemühungen“ im Vorwort zu seinem umfangreichsten Werk, Staatspraxis (Fn. 6), Band I, VII. 41 Deutlich auch K. Loewenstein, Verfassungswirklichkeit (Fn. 10) 402: Das britische Kabinettssystem als die wirksamste Regierungsform. 42 Ebd., 302 ff., 328 ff. Siehe auch ders., Verfassungswirklichkeit (Fn. 10), 414–416: der westdeutsche Föderalismus als „künstlich und unfruchtbar“.
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positiv schneidet auch die Verfassungsgerichtsbarkeit ab, die, abgesehen von Bund-Länder-Streitigkeiten, nur beim subjektiven Freiheitsschutz überzeugt,43 der aber auch von einem obersten Gericht erbracht werden kann. Präsidentielle Systeme stehen bei Loewenstein unter verkapptem Autokratie-Verdacht und begünstigen die Herrschaft der Bürokratie.44 Seine Zurückhaltung gegenüber präsidentiellen Verfassungsordnungen wird zudem durch die Erfahrungen mit den neopräsidentiellen Systemen in Lateinamerika gespeist. Es mag sein, dass Loewenstein das britische Modell idealisiert hat, denn es fällt schon auf, wie sich zu den anderen drei Ländern die kritischen Beispiele häufen. An Frankreich bewundert Loewenstein die Zeit der revolutionären Verfassunggebung mit ihrer Debatte um Volksgesetzgebung und Repräsentation.45 Ihn fasziniert, wie das Volk selbst zum gesetzgebenden Akteur wird, Herrschaftsgewalt übernimmt, und neben das Repräsentationsorgan tritt. Es schält sich schon seine Präferenz für ein Repräsentativsystem mit plebiszitären Elementen (Macht der Wählerschaft) heraus. Die Unstetigkeit der französischen Verfassungsentwicklung bis hin zur Verfassung der Fünften Republik (just zum Zeitpunkt als Loewenstein seine Verfassungslehre schrieb), macht ihn aber nicht froh. Auch entsprechen die französischen Formen des Parlamentsabsolutismus der Dritten und Vierten Republik genauso wenig seiner Vorstellung von Inter-Organ-Kontrollen wie der Neopräsidentialismus der Fünften Republik.46 Der deutschen Entwicklung misstraut er, das Scheitern Weimars als Lebensthema vor Augen. Für die Bismarck-Verfassung hat er nichts übrig,47 und im Übrigen ist sein ganzes verfassungsrechtliches Denken nicht an der deutschen Zentralkategorie des Rechtsstaats ausgerichtet. Es ist die Demokratie als die Herrschaftsorganisation des Pluralismus, die ihn beschäftigt. Hier ist, auch 1959, der deutsche Traditionsfundus in der Tat noch bescheiden. Gegenüber der jungen Bundesrepublik legt Loewenstein eine distanzierte Haltung an den Tag. In den 1950er Jahren registriert er einen gedrosselten Aufbruch zur Demokratie und eher restaurative Tendenzen. Die Adenauer-Zeit schule weder zur Demo-
43 Verfassungslehre, 250 f., 339 ff. Siehe auch D. Burchardt, Karl Loewenstein und die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: van Ooyen, Verfassungsrealismus (Fn. 1), 137–155. 44 Vgl. neben der Verfassungslehre auch K. Loewenstein, Der Staatspräsident. Eine rechtsvergleichende Studie, AöR 75 (1949), 130–192. 45 Vgl. K. Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, 1922 (als Dissertation abgeschlossen 1918). 46 Vgl. Verfassungslehre, 430–442 (Nachtrag zur 2. Aufl. 1969). 47 Ebd., 146.
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kratie noch zum Parlamentarismus, klagt er.48 Man muss Loewenstein zu Gute halten, dass die Gouvernantenrolle Karlsruhes49 noch nicht voll zur Entfaltung gekommen war50 und es bis zum ersten Machtwechsel in Bonn noch eine Weile dauern sollte. Das neue Bonner System bezeichnet er als demoautoritären kontrollierten Parlamentarismus. Die Stabilität des Kabinetts sei mit einem hohen Preis erkauft worden, es werde nämlich dem demokratischen Prozess „die Kehle zugeschnürt; die Parlamentsmajorität beugt sich der Regierung ohne Murren; die öffentliche Meinung hat keinerlei Einfluß auf die durch das Verhältniswahlrecht in ihren Mandaten geschützte Regierungsmehrheit und noch weniger Einfluß auf die Regierung.“51 Mit demoautoritär will Loewenstein dem Umstand Rechnung tragen, dass die Regierung zwar auf demokratische Weise ins Amt gelangt ist, danach aber die politische Führung autoritär und ohne jede Begrenzung durch das Parlament oder die Wählerschaft ausübt.52 Diese Beobachtung ist treffsicher und hat auch über Adenauers Kanzlerdemokratie hinaus einen Beschreibungswert.53 Keineswegs euphorisch, aber letztlich doch immer wohlwollend, fällt sein Urteil über die Vereinigten Staaten aus. Loewenstein ist ein genauer Kenner der amerikanischen Verhältnisse. Über US-amerikanisches Verfassungsrecht hat er immer wieder geschrieben. Sein diesbezügliches Hauptwerk, „Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten“ erscheint im gleichen Jahr wie die deutsche Übersetzung der „Verfassungslehre“ und ist demselben Verfassungsverständnis verpflichtet: Die Wirkung der Verfassung zeigt sich darin wie die Verfassungsorgane funktionieren. Für die Vereinigten Staaten ist dieser Ansatz schon deshalb überzeugend, weil der Verfassungstext weitgehend änderungsresistent ist und sich zugleich im Laufe der Zeit das Institutionengefüge wesentlich geändert hat: Machtverlagerungen vom Kongress auf den Präsiden-
48 Ebd., 94. 49 Von Loewenstein schon als solche apostrophiert, ebd., 263. 50 Loewenstein beklagt vielmehr die Erfolglosigkeit des BVerfG in der EVG-Kontroverse, vgl. 160, 262 f.; dazu auch sein Aufsatz The Bonn Constitution and the European Defense Community Treaties, Yale L. J. 64 (1955), 805–839; ebenso ders., La Constitutionnalité des Traités instituant la Communauté Européenne de Défense et la Constitution de Bonn, Revue de Droit Public et de la Science Politique 71 (1955), 632–669. 51 Verfassungslehre, 93. 52 So ebd., 94. Kritische Bemerkungen auch 160, 237 sowie in: Rechtsgutachten, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2, 1953, 337–401. Zur Kategorie „demoautoritär“ in Bezug auf die Bundesrepublik auch schon Loewenstein, Verfassungswirklichkeit (Fn. 17), 401 f. 53 Positiver fällt Loewensteins Urteil über die Bundesrepublik 1968 aus. Grundrechtsschutz, Reaktion auf die Spiegel-Affäre, Adenauers Nachtrag zur 2. Aufl. der Verfassungslehre 1969, 417 (462 f.).
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ten, auf den Supreme Court, von den Staaten auf den Bund, Entwicklung einer verselbständigten Verwaltung als quasi vierter Gewalt. Um ein Verständnis der verfassungsrechtlichen Entwicklung und des verfassungsrechtlichen Denkens in den USA zu erhalten, ist das Werk auch heute noch lesenswert. Man findet in ihm nur schwer zugängliche Informationen, etwa über das Wahlrecht, die Parteienstruktur, die „Techniken der Präsidialführung“ oder auch die Arbeitsweise des Kongresses. Bemerkenswert ist auch folgendes: In Abgrenzung zum deutschen Vorgehen54 verknüpft das Buch die verfassungshistorische mit der geltendrechtlichen Darstellung, denn die historische Entwicklung erweist sich als unmittelbar relevant für die Konfliktfälle der Gegenwart: sie gibt die Muster der Analyse vor, sie erlaubt die Prognose der Entscheidung, ihre Fälle ermöglichen die analoge Einordnung neuer Tatsachen. Am Beispiel des US-amerikanischen Verfassungsrechts kann Loewenstein sein Verfassungsverständnis daher bestens demonstrieren und umsetzen und es scheint stimmig, wenn er uns die sozialen und politischen Hintergründe der behandelten Entwicklung und Konfliktfälle näherbringt, die Interessen der Akteure und Organe aufdeckt. 1950 schon hatte Loewenstein der breiteren deutschen Öffentlichkeit das Wesen der amerikanischen Verfassung nahebringen wollen. Sein im Grundtenor für ein demokratisches Gemeinwesen werbendes Bändchen idealisiert das amerikanische Verfassungsrecht nicht, weist im Gegenteil ständig auf die Eigenheiten und Nachteile hin und ermuntert die deutschen Leser, den amerikanischen Erfahrungsfundus als Anstoß für den Neuaufbau der Demokratie in Deutschland zu verarbeiten.55 Kurz darauf veröffentlicht er im Jahrbuch des öffentlichen Rechts einen 150seitigen Abriss über die neueren Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht – eine in jeder Hinsicht bewundernswerte Leistung. Die Veränderungen im Gewaltengefüge vom New Deal über die Kriegswirtschaft bis zur antikommunistischen Obsession in der Nachkriegszeit werden mit feinem Gespür für die politischen Interessen und die Handlungsbedingungen von Institutionen für jede Gewalt aufgezeichnet. Dies ist vielleicht der distanzierteste Text
54 K. L. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, Vorwort VII f. 55 K. Loewenstein, Vom Wesen der amerikanischen Verfassung, 1950, vgl. besonders 48–51: „Auch drüben ist nicht alles Gold, was glänzt, und von vielen Dingen des öffentlichen Lebens kann man nicht einmal behaupten, daß sie glänzen.“ Die Demokratie könne nicht durch Lehrbücher gelehrt und auch nicht mit Zwang verpflanzt werden. Man müsse sie erlebt haben, um sie zu verstehen, und sie sei erlernbar, am besten indem man sieht, wie es andere Völker gemacht haben. Der Text geht auf Vorträge zurück, die Loewenstein im Sommer 1948 in der amerikanischen Zone über die amerikanische Verfassung und Demokratie gehalten hat.
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Loewensteins über die USA.56 Erneut kann er ihrem Föderalismus wenig abgewinnen. Mit deutlichen Worten brandmarkt er auch die Einschränkung der politischen Rede durch die Kommunistenverfolgung, die er als Hexenjagd bezeichnet. Letztlich überwiegt aber das Grundvertrauen in die Selbstheilungskräfte eines stabilen demokratischen Lebens. Zuversichtlich ist er auch im Hinblick auf die Verbesserung der Rechtsstellung der schwarzen Bevölkerung.57
IV. Stationen seines Lebens Loewenstein wurde am 9. November 1891 in eine angesehene Münchener Familie aus Kaufleuten und Anwälten geboren. In der Familie herrschte ein liberaler, aufgeschlossener und weltläufiger Geist. Seine Kindheit war unbeschwert, als echter Münchener schätzte er die Musik, die Kultur und das Bergsteigen. Gegen den väterlichen Wunsch, der lieber eine kaufmännische Ausbildung gesehen hätte, begann er nach erfolglosen Lehrzeiten in London und New York das Studium der Rechtswissenschaft in München um alsbald, 1911, ein Studienjahr in Paris zu verbringen. Vor dem 20. Geburtstag hatte er also die drei großen Demokratien, denen sein wissenschaftliches Werk gelten sollte, schon persönlich kennengelernt –ungewöhnlich selbst in der polyglotten Welt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es folgte eine Studienzeit in Heidelberg, die mit der Bekanntschaft zu Max und Marianne Weber 1912 sein Leben veränderte.58 Um die Frauenrechtlerin Marianne Weber kennenzulernen, sprach er im Haus der Webers vor, traf dort aber nur ihren Mann, dem als entpflichtetem Professor der junge aufgeweckte Mann als Gesprächspartner gelegen kam. So begann eine Zeit intensiver Belehrung. Loewenstein nahm an den sonntäglichen jour fixes der Webers teil und pflegte eine lebhafte Korrespondenz mit Max Weber, den er dann nach Webers Umzug in München wiedertraf. Die Beziehungen waren so vertrauensvoll, dass Marianne Weber nach dem Tod ihres Mannes dem jungen Loewenstein das Manuskript
56 K. Loewenstein, Staatspolitik und Verfassungsrecht in den Vereinigten Staaten, JöR N. F. 4 (1955), 1–152. Siehe schließlich: ders., Ketzerische Betrachtungen zur amerikanischen Verfassung, in: Gedenkschrift Max Imboden, 1972, 233–254. 57 Die „Grundrechte und der Kommunismus“ und die Freiheitsrechte der „Neger“ sind auch die Hauptthemen im Teil zu den Grundrechten in: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis (Fn. 6), 531 ff., 575 ff. 58 Die Begegnung mit den Webers schildert Loewenstein lebhaft: Persönliche Erinnerungen an Max Weber, in: K. Engisch u. a. (Hrsg.), Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-MaximiliansUniversität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, 1966, 27–38; vgl. auch M. Lang (Fn. 2), 95–98, der auch auf die Schilderung in der Autobiographie zurückgreifen konnte.
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von Max Webers Rechtssoziologie zur Erinnerung schenkte (weshalb es heute noch erhalten ist). Mit dem Oeuvre Webers war Loewenstein also bestens vertraut. Nicht zuletzt das Interesse an Macht und Herrschaft verdankt er Weber, wie auch die Orientierung an einer dynamischen Behandlung von Ideen, Interessen und Institutionen sowie den Blick über die deutschen Gegebenheiten hinaus.59 Als Weber noch nicht der Jahrhundertgelehrte unserer Tage war, warb Loewenstein für sein Werk, verteidigte es später auch gegen falsche Einschätzungen und Beurteilungen.60 Mit Fug und Recht kann man Loewenstein als einen anhänglichen Schüler Max Webers bezeichnen, vielleicht denjenigen Juristen, der Webers Anliegen am besten verstanden hat. Den Referendardienst absolvierte Loewenstein lustlos, bestand 1916 den bayerischen Staatskonkurs als siebtbester, was ihm eine Tätigkeit im Staatsdienst eröffnete. Nach bestandener Doktorprüfung trat er 1919 in den Dienst der Staatsanwaltschaft München, in demselben Jahr trat er auch in die DDP ein. Den Staatsdienst verließ er aber schon nach einem Quartal, wechselte in die Anwaltschaft und eröffnete 1920 seine eigene Kanzlei alsbald mit der Adresse Maximilianstraße 40. Diese entwickelte sich prächtig, besonders mit englischen Mandaten. Auch Thomas Mann zählte zu seinen Klienten. Wissenschaftlich beschäftigte er sich in den 1920er Jahren nahezu ausschließlich mit dem englischen Verfassungsrecht. Mit ihm tauchte er gedanklich in die Welt einer funktionierenden Demokratie ein.61 Er übersetzte auch das Buch „Modern Democracies“ von James Bryce,62 dessen Aufbau und Stil auf Loewenstein abfärbte. Der krönende Abschluss seiner
59 A. Anter, Karl Loewenstein, Max Weber und der politikwissenschaftliche Realismus, in: van Ooyen, Verfassungsrealismus (Fn. 1), 85–101. 60 Loewensteins Buch: Max Webers staatspolitische Auffassungen in der Sicht unserer Zeit, 1965, ist nicht unmaßgeblich durch die Dissertation von Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 1959, motiviert, dessen Hauptthese Loewenstein zurückweist, vgl. 65 ff. mit Fn. 16. In demselben Sinne schon K. Loewenstein, Max Weber als Ahnherr des plebiszitären Führerstaats, KZfSS 13 (1961), 275–289; siehe auch ders., Max Webers Beitrag zur Staatslehre in der Sicht unserer Zeit, in: Engisch (Fn. 67), 131–146. 61 K. Loewenstein, Das Problem des Föderalismus in Großbritannien, Annalen des Deutschen Reichs 1921, 1–95; Die britischen Parlamentswahlen im November 1922, 1923; Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, Erinnerungsgabe Max Weber, 1923, 85–110; Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832–1867), Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 51 (1924), 614–708; Minderheitsregierung in Großbritannien, 1925; Die Magna Charta des britischen Weltreichs, AöR N. F. 12 (1927), 155–272; Verfassungsleben in Großbritannien 1924–1932, JöR 20 (1932), 195–319. Zu Loewensteins Englandstudien siehe auch M. Lang (Fn. 2), 117–135. 62 James Bryce, Moderne Demokratien, ohne Jahr (1923).
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Englandstudien sollte dann ein zweibändiges Werk rund vierzig Jahre später, 1967, bilden.63 In den goldenen Jahren der Weimarer Republik rechnete sich Loewenstein Chancen auf eine akademische Karriere aus und fasste den Plan, sich zu habilitieren. Es musste dafür ein Thema aus dem deutschen Staatsrecht gewählt werden. Mit „Erscheinungsformen der Verfassungsänderung“64 habilitierte er sich 1931 an der Münchener Fakultät,65 wurde zum Privatdozenten ernannt, bot Veranstaltungen zum britischen und vergleichenden Verfassungsrecht und völkerrechtliche Übungen an66 und konnte noch an der letzten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer in Halle teilnehmen.67 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Loewenstein rasch klar, dass er als Jude (konfessionslos seit 1918) in Deutschland nicht bleiben konnte und keine akademische Zukunft hatte. Noch 1933 nahm er Kontakt zu Bekannten und Institutionen in den Vereinigten Staaten auf. Die Bemühungen trugen nach einigem Hin und Her Früchte: Von 1934–1936 wurde er als Associate Professor of Political Science an die Graduate School der Yale University berufen und konnte noch Ende 1933 mit seiner Frau Deutschland verlassen.68 In Yale verlief die Zeit nicht schlecht, doch eine dauerhafte Stellung zeichnete sich dort nicht ab. Er war nicht der einzige stellensuchende Emigrant und hatte es als Staatsrechtslehrer schwer, einen Platz zwischen Juristen und Politikwissenschaftlern zu finden. Unter den Emigranten entschied sich die Yale Law School schließlich für den Privatrechtler Friedrich Kessler, den man im Curriculum besser einsetzen konnte und der ein großer contracts scholar werden sollte.69 Loewensteins Sujets jedoch wurden an den Law Schools nicht unterrichtet; öffentli-
63 Loewenstein, Staatspraxis (Fn. 6); ferner ders., Der britische Parlamentarismus. Entstehung und Gestalt, 1964. 64 Erschienen Tübingen 1931. Die u. a. gegen Carl Schmitt gerichtete Kernthese lautete, es gebe nur formelle, nicht aber materielle Schranken der Verfassungsänderung. 65 Die Lehrbefugnis lautete auf allgemeine Staatslehre, deutsches und ausländisches Recht, sowie für Völkerrecht. Zur Habilitation näher Lang (Fn. 2), 136–159. 66 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse 1932 und 1933, http://epub.ub.uni-muenchen.de/view/subjects/vlverz_04.html. 67 Diskussionsbeitrag Loewensteins, VVDStRL 7 (1932), 192–194), mit Widerspruch zum Referat von Gerhard Leibholz zum Thema Wahlrechtsreform. 68 Lang (Fn. 2), 159–171; T. Rensmann, Munich Alumni and the Evolution of International Human Rights Law, Eur. J. Int’l L. 22 (2011), 973–991 (979 f.). 69 Zu Loewensteins Beurteilung in Yale und warum man ihn dort nicht sinnvoll einsetzen konnte Kyle Graham, The Refugee Jurist and American Law Schools, 1933–1941, Am. J. Comp. L. 50 (2002), 777–817 (787, 799 f.). Zu Kessler: H. Beinstein, Friedrich Kessler’s American Contract Scholarship and its Political Subtext, in: M. Lutter u. a. (Hrsg.), Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, 1993, 85–93.
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ches Recht existierte als Fach nicht, nur mühselig konnte sich das Verwaltungsrecht an den Law Schools etablieren, und im constitutional law dominierte die socratic method mit case books.70 Die intensiven Bemühungen Loewensteins, an einer Law School unterzukommen, scheiterten.71 Er teilt hier das Schicksal vieler deutscher Juristen, die aufgrund ihres Fächerzuschnitts, fehlender Kenntnisse im amerikanischen Recht und der unvertrauten case method von den Law Schools nicht eingesetzt und weitergelob wurden.72 In realistischer Einschätzung schrieb Loewenstein 1936 an Gerhard Leibholz über Stellenaussichten in Amerika: „Die Juristen sind am schlechtesten gestellt, da man für Leute, die im kontinentalen Recht ausgebildet sind, einfach keine Verwendungsmöglichkeit hat.“73 Selbst Hans Kelsen musste sich sagen lassen, er sei „not at all a lawyer from our American standpoint“.74 Gerade die Öffentlichrechtler unter den Emigranten waren gezwungen, in der Politikwissenschaft unterzukommen, einem Fach, das in den USA auch entstand, weil sich die Law Schools primär mit dem Common Law befassten. Auf die Formierung der Politikwissenschaft in den USA haben die deutschen Emigranten (über die Juristen hinaus) einen nicht unerheblichen Einfluss gehabt.75 Wie etwa Arnold Brecht, Ernst Fraenkel, Hans Kelsen, Hans Morgenthau oder Franz Neumann konnte Loewenstein froh sein, in der Political Science unterzukommen: 1936 stellte ihn das Amherst College ein, ein im Westen
70 Siehe O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, 230 ff., 277 ff. 71 Ausführlich behandelt von Lang (Fn. 2), 172–191; vgl. auch ders., Juristen unerwünscht? Karl Loewenstein und die (nicht-)Aufnahme deutscher Juristen in der amerikanischen Rechtswissenschaft nach 1933, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2003, 55–84. 72 Die Schwierigkeiten werden anschaulich dargestellt und (auch zu Loewenstein) biographisch aufgearbeitet bei E. C. Stiefel/F. Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950), 1991. Siehe auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band 1945–1990, 2012, 361–366; aus Sicht der Law Schools: Graham (Fn. 78). 73 Brief v. 16.10.1936, zitiert nach Lang (Fn. 2), 319 f. Er fährt fort: Die kontinentalen Gelehrten müssten sich vollständig umstellen, „um hier von Nutzen zu sein. Man interessiert sich so gut wie gar nicht für Theorie, das Staatsrecht wird rein pragmatisch gelehrt und gelernt, europäische Parallelen sind kaum von Interesse und unsere dogmatische Betrachtungsweise gilt als unwesentlich, was sie ja bei Licht besehen auch ist, … Was hier gilt, ist die deskriptive Methode, bei der Institutionen beschrieben, aber nicht rechtstheoretisch beurteilt werden. Dazu kommt, dass sozialpsychologische Interessen im Vordergrund stehen, nicht geisteswissenschaftliche, und das haben wir eben nicht gelernt und niemals betont.“ 74 Aus einem Brief von Thomas Reed Powell, Law School of Harvard University, an Dean R. G. Gettell, Summer Sessions, University of California, Berkeley, 9.1.1942, University of California, Personalakte Hans Kelsen, ohne Paginierung. 75 Vgl. M. R. Lepsius, Juristen in der sozialwissenschaftlichen Emigration, in: Lutter (Fn. 78), 19–31; M. Stoffregen, Kämpfer für ein demokratisches Deutschland. Emigranten zwischen Politik und Politikwissenschaft, 2002.
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Massachusetts etwas abgelegenes „ivy league college“. So renommiert die Einrichtung war: Als liberal arts college hatte sie keine Law School und graduate students durfte Loewenstein auch nicht unterrichten. Damit war die dreifache Vertreibung komplett: aus dem Heimatland, aus der Muttersprache, aus der Wissenschaftsdisziplin. Auf Loewensteins wissenschaftliches Werk wirkte sich dies allerdings kaum aus. Er blieb seinen vergleichenden und historischen Themen treu, arbeitete sich ins amerikanische Verfassungsrecht ein und analysierte den Niedergang des Verfassungsrechts im nationalsozialistischen Deutschland.76 Weite Beachtung fand seine in Amherst entwickelte Idee der streitbaren Demokratie, als deren konzeptioneller Urheber er gelten kann.77 Er entwickelte sie aus einem Vergleich, wie die Demokratien in Weimar sowie in Spanien, Italien, Portugal und Österreich zugrunde gegangen waren. 1942 zählte er zu einer Expertenkommission, die das American Law Institute bei einem Statement über „essential human rights“ beriet. Mit dem Statement des ALI begann der Prozess, die Menschenrechte zu kodifizieren. Loewenstein plädierte dort für soziale Grundrechte und ein Grundrecht auf Demokratie, das schließlich 1948 Eingang in Art. 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fand.78 Thilo Rensmann hält ihn für den innovativsten Kopf unter den Beratern des ALI.79 Es waren produktive Jahre. Von Juli bis August 1945 kehrte Loewenstein als Berater in der Legal Division der amerikanischen Militärregierung nach Deutschland zurück.80 Er prüfte Rechtsvorschriften auf nationalsozialistische Elemente, hielt staatsbürgerliche Vorträge und begutachtete die bayerische Justiz und ihr Personal im Rahmen der Entnazifizierung. Treffsicher nahm er zur NS-Nähe der juristischen Professorenschaft Stellung; seine Gutachten über Carl Schmitt führten zu dessen längerer
76 K. Loewenstein, Law in the Third Reich, Yale L. J. 45 (1936), 779–815; ders., Dictatorship and the German Constitution 1933–1937, University of Chicago Law Review 4 (1937), 537–574; ders., Government and Politics in Germany, in: J. Shotwell (Hrsg.), Government in Continental Europe, 1940, 279–569. 77 K. Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights, APSR 31 (1937), 417–432, 638– 658. Vgl. A. Kirshner, A Theory of Militant Democracy, 2014, 2 f., 105 f., 148 f.; J.-W. Müller, Das demokratische Zeitalter, 2013, 248–251; M. Stoffregen, Von der Repression zur Rechtsstaatlichkeit, in: van Ooyen, Verfassungsrealismus (Fn. 1), 157–191 (158–165); Lang (Fn. 2), 207–221; Rensmann (Fn. 77), 989 f. 78 Näheres bei Lang (Fn. 2), 235–242; Rensmann (Fn. 77), 981–990; ders., Karl Loewenstein, Ernst Rabel und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Der Staat 46 (2007), 129–152 (136 ff.). 79 Rensmann (Fn. 87), 148; ders., (Fn. 77), 988, 990. 80 Nähere Schilderung bei Lang (Fn. 2), 247–262.
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Inhaftierung durch die amerikanischen Behörden.81 Loewenstein hatte klare Vorstellungen, wie Deutschland zu entnazifizieren und für die Demokratie vorzubereiten sei: durch ein Durchforsten des Rechts, den Austausch des Personals und eine kontinuierliche gesellschaftliche reeducation.82 Der Militärregierung, die konkrete Organisationsprobleme zu beheben hatte, gingen seine grundsätzlichen Vorschläge zu weit. Sie ließen sich angesichts der tatsächlichen Möglichkeiten kaum umsetzen,83 sehr zum Missfallen Loewensteins.84 Beachtlich sind schließlich Loewensteins Berichte über die juristischen Fakultäten in Bayern (1946) und in München (1948). Sie verschaffen einen lebhaften Einblick in die desolate Personalsituation. Am Ende sind alle von Loewenstein als nationalsozialistisch belastet beurteilte Münchener Professoren Mitglieder der Fakultät geblieben. Ihre Lehrstühle blieben bis zum Abschluss der Entnazifizierungsverfahren vakant. Und mit dem Rechtshistoriker San Nicolò wurde 1951 ausgerechnet jemand zum Rektor gewählt, der ein scharfer Nazi gewesen war.85 Bemühungen Loewensteins, auf eine Professur in München berufen zu werden, hatten trotz politischer Fürsprecher (Wilhelm Hoegner) keinen Erfolg, weil sich ausgerechnet Erich Kaufmann als einflussreicher Gegner erwies. Im Zusammenhang mit der Loewenstein zustehenden Wiedergutmachung gelang dann aber 1956 eine Lösung. An der Juristischen Fakultät wurde eine neue ordentliche Professur für Politische Wissenschaft und Rechtspolitik geschaffen, die kurzerhand von der Staatswirtschaftlichen Fakultät geborgt worden war, und Loewenstein auf diese Professur berufen. Von der Lehre war er befreit, weil er in Amherst unterrichtete, und 1958, Loewenstein war inzwischen 67 Jahre alt,
81 Details bei Lang (Fn. 2), 249–252; siehe auch R. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009, 438 ff.. 82 K. Loewenstein, Political Reconstruction, 1946; Comment on „Denazification“, Social Research 1947, 365–369; Law and the Legislative Process in Occupied Germany, Yale L. J. 57 (1948), 724–760, 994–1022; Reconstruction of the Administration of Justice in American-Occupied Germany, Harvard L. Rev. 61 (1948) 419–467, sowie ein im Nachlaß befindliches Ms. Legal Reconstruction in Germany (1948), das R. W. Kostal, The Alchemy of Occupation: Karl Loewenstein and the Legal Reconstruction of Nazi Germany: 1945–1946, Law & Hist. Rev. 29 (2011), 1–52, auswertet. 83 Zum Konflikt von Loewensteins Vorschlägen und dem konzilianten Pragmatismus der Militärregierung Kostal (Fn. 91), 34–40, 46–50. Loewenstein drang vor allem nicht mit dem Vorschlag durch, die Richterschaft auszutauschen. 84 Vgl. seine verärgerten Tagebucheintragungen, berichtet von Kostal (Fn. 91), 50 f. 85 Vgl. Lang (Fn. 2), 252–257, der aus einem Bericht Loewensteins v. 23.4.1946 prägnante Urteilen über das fachliche Niveau und die ideologische Belastung der Münchener Professoren zitiert. Siehe auch Kostal (Fn. 91), 42–44. Auf Loewensteins Expertise soll ein Artikel in der New York Times, 23.4.1946, S. 8, zurückgehen, der betitelt war: Munich University. Hotbed of Nazism.
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konnte er emeritiert werden,86 was ihm die Pensionsansprüche im Wiedergutmachungsverfahren sicherte und die Stelle für die Staatswirtschaftliche Fakultät wieder freimachte. So wurde er am Ende seiner Laufbahn doch noch ordentlicher Professor an einer juristischen Fakultät. Regelmäßig reiste er nach München, nahm am akademischen Leben teil, hielt auch brieflichen Kontakt, vor allem mit Theodor Maunz, der auch die treibende Kraft bei der Berufung war.87 Er sparte weder mit sarkastischen Hieben noch mit einfühlsamen Bildern, resümiert Peter Lerche und ergänzt: „Wer je den Vorzug hatte, an einem Tische mit ihm gespeist zu haben, wird sich des Eindrucks nicht entledigen können, daß aus vielen seiner hingeworfenen Sätze andere ganze gelehrte Abhandlungen machen würden.“88 Auf einer Deutschlandreise verstarb Loewenstein am 10. Juli 1973 in Heidelberg.
V. Der Kontextualist im Kontext Loewenstein ist kein Theoretiker und erst recht kein Dogmatiker. Er entzieht sich der in Deutschland so beliebten Trennung von Theorie und Praxis. Weder meint er, eine abstrakt geborgte Theorie verfassungsrechtlich umsetzen zu müssen, noch stilisiert er eine theoretisch uninformierte Praxis als dogmatische Systembildung. Man kann seinen Ansatz daher in angenehmer Weise als „undeutsch“ bezeichnen: Er ist Empiriker, Pragmatiker, Politiker. Sein Verständnis gelungener Verfassungen optimiert weder den Rechtsstaat noch die Demokratie. Es geht um die Organisation und Kontrolle des Institutionenverhältnisses wie des Interessenpluralismus. Der Verrechtlichung von Herrschaftsbeziehungen, sei es durch den Glauben an ein Normensystem, sei es durch die Judizialisierung der Kontrolle, steht er skeptisch gegenüber. Zur Organisation des Institutionenverhältnisses trägt Verfassungsrecht vor allem Verfahrensrecht bei; zur Organisation des Interessenpluralismus liefert es die bürgerlichen Freiheitsrechte. Im Übrigen vertraut Loewenstein auf den politischen Prozess, der sich seine Rechtsbeziehungen selbst schafft. Der Vorrang der Verfassung ist bei ihm wenig ausgebildet: Er würde nur zur übertriebenen und unzweckmäßigen Verrechtlichung und Entpolitisierung der Herrschaftskontrolle führen. Loewensteins Ansichten sind britisch geprägt, wenn es ums Recht, und sie sind weberianisch geprägt, wenn es um die Herrschaft geht. Man tut einem so gelehrten Denker wie Loewenstein sicher
86 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse (Fn. 75), die Loewenstein als ordentlichen Professor führen im SS 1957, WS 1957/58, als entpflichteten Professor ab SS 1958. 87 Näheres zu alldem bei bei Lang (Fn. 2), 258–262, Harrecker (Fn. 1), 321. 88 P. Lerche, Karl Loewenstein zum 80. Geburtstag, AöR 96 (1971), 574 (575).
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unrecht, ihn auf zwei Konstanten zu reduzieren. Für seine Einordnung in den Traditionsfundus der deutschen Staatsrechtslehre mag diese Einordnung gleichwohl hilfreich sein, weil sie seine Originalität begründet: Der Gegenstand der Verfassung ist kein genuin rechtlicher, wie er sich etwa im Vorrang der Verfassung äußert. Ihr Gegenstand ist Macht und Herrschaft, also eine soziologisch-politische Größe. Und auch das Mittel der Verfassung ist kein genuin rechtliches, wie es sich etwa im vermeintlich letzten Wort der Verfassungsgerichtsbarkeit äußert. Ihr Mittel sind Kontrollarrangements der Machtträger, und diese beruhen nicht nur auf rechtlichen Vorgaben, sondern auf politischen Prozessen. In der deutschen Staatsrechtslehre versuchte man, dem Problem der Verfassungswirklichkeit anders Herr zu werden, ja verstand unter Verfassungswirklichkeit, die typischerweise in einer Spannung zum Verfassungstext steht, schon etwas anderes als Loewenstein.89 Es verwundert daher nicht, dass sich die deutsche Staatsrechtslehre alles in allem doch eher schwer tut, einen solchen Ansatz, den man auch als Grenzbestimmung und Aufweis der Machtlosigkeit eines genuin rechtlichen Verfassungsrechts bezeichnen kann, als juristischen Beitrag zu würdigen. Sie behilft sich gerne damit, Loewensteins Nähe zur Politikwissenschaft hervorzuheben und wenn sie dergestalt seine interdisziplinären Fähigkeiten würdigt, liegt darin doch auch eine Form der Distanzierung. Loewenstein selbst hat sich jedoch Zeit seines Lebens als Jurist verstanden und unter disziplinären Ausbürgerungen gelitten.90 Seine Leistung in der Politikwissenschaft kann hier nicht gewürdigt werden.91 Für die Rechtswissenschaft aber kann man sagen: Vielleicht muss die Zeit erst kommen, in der man die Weitsichtigkeit und die Westlichkeit des Loewensteinschen Ansatzes zu würdigen versteht. Mit neuen Ansätzen der Kontextualisierung oder mit dem Modell des Rechtspluralismus im Mehrebenensystem erhalten Rechtsfragen einen neuen Zuschnitt, für den Loe-
89 Kritisch zu dieser überkommenen Sicht etwa W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit: ein deutsches Problem, 1968, P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, FS Theodor Maunz, 1970, 285–300, auch in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 47–60; M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: C. Grabenwarter/O. Depenheuer (Hrsg.), Verfassungstheorie,, 2010, § 1 Rn. 46 ff.; C. Waldhoff, Verfassungsgeschichte und Theorie der Verfassung, ebd., § 4 Rn. 31, jeweils m. w. N. 90 Vgl. seine Selbstbeschreibung im Vorwort (Fn. 3), VIII: „Der Verfasser, in Deutschland als positivrechtlicher Jurist ausgebildet – allerdings hatte in ihm, dem Schüler Max Webers, von jeher der verkappte Soziologe gesteckt –, konnte in seiner neuen Heimat seinen Horizont erweitern und sich zum Politikwissenschaftler verwandeln, glücklicherweise ohne damit seiner ursprünglichen Neigung als Verfassungsjurist untreu werden zu müssen.“ Siehe auch Lang (Fn. 2), 318–321. 91 Für einen Klassikerstatus van Ooyen (Fn. 1), eher nachdenklich hingegen Lang (Fn. 2), 299 ff.
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wensteins Zugriff stimulierend wirken kann: Mehr denn je liegt in der evolutiven Entwicklung von Institutionenarrangements und der Kontrolle komplexer Herrschaftsverhältnisse, die sich nicht mehr systemrein nationalen oder supranationalen aber auch nicht mehr einer der klassischen Staatsgewalt zurechnen lassen, die europäische Normalität. Juristisch angeleitete Empirie, juristischer Pragmatismus und das Vertrauen in den politischen Prozess sind jedenfalls verheißungsvolle Erfahrungsgrößen, die uns Karl Loewenstein für den Weg in die Zukunft mitgibt.
XXVI Zaccaria Giacometti (1893–1970) – Staatsrechtslehre als Kunst? Andreas Kley
I. Herkunft und Ausbildung Zaccaria Giacometti wurde 1893 als zweiter Sohn des Lehrers Zaccaria Giacometti (1856–1897) und der Cornelia Stampa (1868–1905) in Stampa im protestantischen und italienischsprachigen Bergell geboren.1 Sein Vater starb 1897 und seine Mutter 1905, als er zwölf Jahre alt war. Der vier Jahre ältere Bruder Cornelio († 1955) und Zaccaria fanden nach dem Tod ihrer Mutter bei Rodolfo Baldini (1842– 1909) und dessen Haushälterin Unterkunft. Baldini war der Bruder der Grossmutter mütterlicherseits. Der Grossonkel hatte früher die Confisérie Baldini Frères in Marseille geführt. Den Sommer verbrachten die Brüder jeweils in seinem Sommerhaus in Maloja-Capolago am Silsersee und den Winter in Borgonovo im Haus „Ca d’Baldin“. Zur Familie gehörten die Künstler Giovanni Giacometti (1868–1933) und seine Söhne Alberto (1901–1966), Diego (1902–1985) und der Architekt Bruno (1907–2012, Vetter mütterlicherseits) und Augusto (1877–1947, Vetter väterlicherseits). Zaccaria Giacometti ist über die väterliche und die mütterliche Seite mit den Künstlern verwandt. Augusto und Zaccaria besassen väterlicherseits einen gemeinsamen Grossvater, ihre Väter waren Brüder. Giovanni und Zaccaria jun. besitzen väterlicherseits einen gemeinsamen Urgrossvater; sie sind Vetter zweiten Grades. Zudem heiratete Giovanni Annetta Stampa, die Schwester von Zaccarias Mutter und aus dieser Ehe entsprossen die Künstler, darunter der weltberühmt gewordene Alberto. Zaccaria war also über die mütterliche Seite ein Vetter der Künstler Alberto, Diego und des Architekten Bruno. Wegen des frühen Todes von
1 Vgl. Werner Kägi, Zaccaria Giacometti. Zum 60. Geburtstag am 26. September 1953, NZZ vom 26.9.1953, Nr. 2224, Blatt 5, S. 6; Werner Kägi, Zaccaria Giacometti, zum 70. Geburtstag am 26. September, NZZ vom 26.9.1963, Nr. 3846, Morgenausgabe, Blatt 4; vgl. die Biobibliographie bei Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacumetti, Zürich 2014, 460 ff.; Benjamin Schindler, 100 Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz, ZSR 2011 II 331 ff., 430 f.; Alfred Kölz, Freiheit und Demokratie. Zum hundertsten Geburtstag von Zaccaria Giacometti, ZSR 1993 143–155 = Ausgewählte Schriften, hrsg. von Alfred Kölz, Zürich 1994, S. 331 ff.
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Zaccarias Eltern verkehrte er häufig im Haus von Giovanni und Annetta Giacometti; er war für deren Kinder wie ein Bruder. Wegen dieser nahen Beziehungen bestehen zahlreiche Porträts von Zaccaria, welche die Künstler Giovanni und sein Sohn Alberto anfertigten. Der Waisenknabe musste wegen der familiären Unterstützung und dem namhaften Erbe seiner Eltern und seiner Grossmutter keine materielle Not leiden; er konnte sich eine gute Ausbildung finanzieren. Zaccaria Giacometti verliess das Bergell und damit das italienische Sprachgebiet 1907, indem er in das Internat der Evangelischen Lehranstalt in Schiers/Graubünden eintrat. Er besuchte von der 1. bis zur 1914 abgeschlossenen 7. Klasse das Gymnasium mit Griechisch- und Lateinunterricht.2 Das Internat hatte einen militärischen Tagesablauf und liess den Schülern wenig Freiraum.3 Zaccaria muss als Jugendlicher eine aussergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein. Sein aus Basel stammender Mitschüler Christoph Bernoulli (1897–1981), der 1913 in Schiers eintrat, als Zaccaria die 6. Klasse besuchte,4 berichtete: „Er überragte seine Mitschüler durch Geist, Bildung und Kunstsinn; er genoss, ohne es zu ahnen, die Verehrung der ganzen Anstalt. Die Lehrer bewunderten ihn und behandelten ihn nicht wie einen Schüler. Die Schüler selbst spürten Unterschied und Abstand“.5 Zaccaria interessierte sich für Theologie und Philosophie und beabsichtigte, wie der Jahresbericht von Schiers anlässlich seiner Hochschulreife 1914 vermerkte, „philosophische Studien“. Die Lehranstalt pflegte gute Beziehungen zu ihrem Basler Freundeskreis, weshalb er das Studium zunächst an der Universität Basel aufnahm. Am 28. April 1914 immatrikulierte er sich an der Phil. I-Fakultät, aber im Wintersemester 1915/1916 schrieb er sich in der juristischen Fakultät6 ein, wo ihn die Professoren Andreas Heusler (1834–1921) und Carl Wieland (1864–1936) beeindruckten.7 Am 13. Juli 1916 wechselte Giacometti von Basel an die Universität Zürich8 und schloss dort sein Studium 1919 mit dem Dr. iur. ab. In seiner Dissertation behandelte er die Trennung von Kirche und Staat.9 Wenige
2 Vgl. Schülerliste der Evangelischen Lehranstalt Schiers vom Jahre 1865 an, Schiers 1937, S. 52. 3 Vgl. Bruno Giacometti erinnert sich, Gespräche mit Felix Baumann, Zürich 2009, S. 33. 4 Vgl. Schülerliste (Anm. 2), S. 62. 5 Vgl. Christoph Bernoulli, Jugenderinnerungen an die Familie Giacometti, DU 1962, Heft Nr. 258, 16 ff., 16 f.; mehrfach abgedruckt, z. B. ders., Alberto Giacometti 1901–1966, Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bern usw. 1973, S. 9 ff. 6 Auskunft des Archivars der Universität Basel vom 30.6.2011 nach Konsultation der Matrikel. 7 So sein Schüler Werner Kägi (Anm. 1, NZZ 26.9.1963). 8 Siehe Matrikel Nr. 24530, www.matrikel.uzh.ch/pages/559.htm#24527. 9 Zaccaria Giacometti, Die Genesis von Cavours Formel „Libera Chiesa in libero Stato“, Diss. Zürich, Aarau 1919.
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Jahre später publizierte er einen Quellenband zu dieser Thematik.10 Die Habilitationsschrift von 1924 befasste sich mit der Frage der Ausdehnung des öffentlichen Rechts gegenüber dem Zivilrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichts.11 Seine akademische Antrittsvorlesung vom 11. Juli 1925 hielt er über die „Auslegung der Bundesverfassung“.12 Fritz Fleiner (1867–1937) war sein Mentor und Förderer; Giacometti blieb sich auch als Gefolgsmann Fleiners treu. Seine Herkunft, sein Denken und seine Arbeitsweise machten ihn zu einer eigenständigen und unverwechselbaren Persönlichkeit. Giacometti vermittelte umgekehrt seinem musischen Lehrer Fritz Fleiner die Kunst von Giovanni Giacometti. Er machte die beiden miteinander bekannt und in der Folge kam es zu verschiedenen Porträts, die der Künstler von Fritz Fleiner und dessen Frau Fanny anfertigte. Nach dem Studium arbeitete Giacometti etwa in der ersten Hälfte des Jahres 1920 vertretungsweise in der eidgenössischen Justizabteilung in Bern. Diese Tätigkeit gefiel ihm wenig, weshalb er nach Zürich zurückkehrte, wo ihn sein Lehrer Fritz Fleiner als Privatsekretär anstellte, damit er ihm bei der Fertigstellung des Schweizerischen Bundesstaatsrechts helfe (erschienen 1923 in Tübingen). Als die ersten Bögen im Herbst 1922 erschienen, war diese Arbeit beendet. Fritz Fleiner beriet die „Zürich“-Versicherungen mit Gutachten, und er trat 1922 in deren Verwaltungsrat ein. Wegen der rechtlichen Turbulenzen im europäischen Versicherungsmarkt war juristischer Rat gefragt und man muss annehmen, dass Fleiner seinen Schüler Giacometti als Direktionssekretär der „Zürich“-Versicherungen empfahl. Diese Stelle verschaffte ihm ein Auskommen, denn er heiratete 1923 Gertrud Mezger (1896–1973). Die Arbeit gestattete ihm eine weitere publizistische Tätigkeit in Zeitschriften und bei der Neuen Zürcher Zeitung sowie die Ausarbeitung der Habilitationsschrift. 1927 ernannte die Universität Zürich Giacometti zum ausserordentlichen Professor für öffentliches Recht und Kirchenrecht. Er konnte, zusammen mit Dietrich Schindler sen., in die Lücke treten, welche die Nichtwiederwahl von Professor Eduard His geschaffen hatte. Das Engagement von Fritz Fleiner war für Schindler und Giacometti entscheidend. Eine ordentliche Professur bekleidete Giacometti – als Nachfolger Fritz Fleiners – in den Jahren 1936–1961, 1954/55 amtierte er als Rektor der Universität. 1933 legte er als erster Autor eine Studie über die Praxis
10 Zaccaria Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Kirche und Staat, Tübingen 1926. 11 Zaccaria Giacometti, Über die Grenzziehung zwischen Zivilrechts- und Verwaltungsrechtsinstituten in der Judikatur des schweizerischen Bundesgerichts, Habil. Zürich, Tübingen 1924. 12 Text: NZZ vom 24.7.1925, Nr. 1161, Morgenausgabe, Blatt 1, S. 1 f.
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des Bundesgerichts zur staatsrechtlichen Beschwerde vor.13 Als weitere wichtige Werke Giacomettis sind seine Darstellung des Staatsrechts der Kantone und seine Neubearbeitung von Fleiners Bundesstaatsrecht zu nennen. 1960 veröffentlichte er den ersten (und einzigen) Band seiner Allgemeinen Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts. 1960 erkrankte Giacometti, trat 1961 von seiner Professur zurück und am 10. August 1970 starb er.14 Das Grab Giacomettis befindet sich im Bergell, auf dem Friedhof der Kirche San Giorgio von Borgonovo, wo auch Eltern, Onkel, Tanten und Vetter bestattet sind. Giacometti hinterliess wie alle seine Vetter, die Künstler waren, keine Nachkommen. Giacomettis bedeutendes Werk umfassen einerseits systematische Abhandlungen, namentlich sein Staatsrecht der Kantone, das Bundesstaatsrecht oder seine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts. Andererseits kommen in allen seinen Schriften wichtige wissenschaftliche Anliegen zum Ausdruck.
II. Die Rolle des katholischen Kirchenrechts im Rechtsunterricht Das katholische Kirchenrecht spielte im 20. Jahrhundert keineswegs nur an der katholischen Universität von Fribourg eine wichtige Rolle. Vielmehr pflegten evangelisch-reformierte und liberal ausgerichtete Professoren auch an den Rechtsfakultäten der Universitäten von Bern und Zürich, später auch in Basel, dieses Fach. Diese Entwicklung setzte mit dem Kulturkampf und der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 ein.15 Insbesondere an der Zürcher Fakultät besass das Kirchenrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung in Lehre und Forschung. Fritz Fleiner nahm sich seiner in den Jahren 1895–1897, Max Huber in den Jahren 1902– 1916 und erneut Fleiner 1916–1936 an.16 Zaccaria Giacometti war wegen seiner Publikationen qualifiziert,17 als Nachfolger Fleiners ebenfalls Kirchenrecht zu
13 Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichtes, Zürich 1933. 14 Die Würdigung verfasste Werner Kägi, Zaccaria Giacometti. Das Lebenswerk des schweizerischen Staats- und Verwaltungsrechtlers, NZZ vom 6.9.1970, Nr. 413, S. 51 f. 15 Vgl. zu den Details Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 2011, S. 77 ff. 16 Vgl. Kley (Anm. 15), S. 79 f. 17 Vgl. vorne Anm. 9 und 10.
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lesen. Das katholische Kirchenrecht hatte den evangelisch-reformierten Giacometti fasziniert. Für Giacometti wie für Fleiner war das kanonische Recht ein Vorbild oder gar Massstab des Verwaltungsrechts. In seinen Allgemeinen Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts verwies Giacometti immer wieder auf das kanonische Recht,18 um Parallelen und Gegensätze aufzuzeigen. Im Rückblick betrachtet, erfüllte der Unterricht im kanonischen Recht drei Aufgaben:19 1) Es waren nicht der Inhalt, sondern die Formen, die Struktur und die Institutionen des kanonischen Rechts, die sich das öffentliche Recht des Rechtsstaates nutzbar machen konnte. Wesentliche Elemente des Verwaltungsrechts basieren auch auf dem kanonischen Recht. Der Unterricht im kanonischen Recht verfolgte so einen propädeutischen Zweck. 2) Die meist evangelisch-reformierten Staats- und Verwaltungsrechtslehrer sahen die Geschlossenheit des kanonischen Rechts, das seinerseits im römischen Recht wurzelte, als Kennzeichen einer „societas perfecta“ an.20 So berichtete der langjährige Präsident des Zürcher Verwaltungsgerichts, Hans Peter Moser (1920– 2002), über die Kirchenrechtsvorlesung von Zaccaria Giacometti:21 „Ich erinnere mich, wie sehr er das katholische Kirchenrecht – fernab von jeder Metaphysik – als Manifestation einer ‚societas perfecta‘ bewunderte. Nebenbei gesagt: wesentliche Elemente des französischen Verwaltungsrechts, das auf dem Umweg über Otto Mayer und Fritz Fleiner Giacometti beeinflusste, gehen auf das kanonische Recht zurück, so der Begriff der Verfügung“.
Das kanonische Recht war ein Ideal, das dem staatlichen Recht als Vorbild diente. Das zentralistische Rechtssystem der römisch-katholischen Kirche übte trotz der konfessionellen Gegensätzlichkeit eine inhaltliche Faszination aus. 3) In konfessioneller Hinsicht erlaubte es der Unterricht im kanonischen Recht den Professoren, die für den staatstragenden Freisinn nötige Distanz zum Katholizismus zu markieren. Zaccaria Giacometti verkörperte mit seiner strikten Ablehnung des Katholizismus diese ideologische Funktion beispielhaft. In der Abgrenzung erfolgte eine integrierende Bestätigung der evangelisch-reformierten
18 Giacometti, Allgemeine Lehren, z. B. S. 138 und Anm. 3, S. 139, 170 Anm. 121, S. 189 Anm. 42, S. 191 Anm. 51, S. 259 Anm. 65. 19 Vgl. Kley (Anm. 15), 84. 20 Vgl. Fritz Fleiner, Geistiges Weltrecht und weltliches Staatsrecht, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 262 ff., 267. 21 Aus einem Brief vom 18. April 2000, zitiert bei Cyril Hegnauer, Zürcher Ius-Studium 1939– 1946: ein Rückblick, in: Commentationes Historiae Iuris Helveticae V (2010) S. 61 ff., 67.
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Glaubensgemeinschaft und des vom Freisinn und Liberalismus bestimmten Bundesstaates.
III. Liberale Grundeinstellung Zaccaria Giacometti folgte nicht nur in seinen konfessionellen, sondern auch in seinen politischen Anschauungen seinem Lehrer Fritz Fleiner: Als durch und durch liberaler Gelehrter erhob er kantianisch „allein die Freiheit zum Prinzip“22 und setzte sie seinem Rechtsdenken voraus. Er beharrte stets auf der Rechtsstaatsidee und akzeptierte keine unkontrollierte und in einem „freien Ermessen“ befindliche Staatstätigkeit. Giacometti begründete dies mit den Freiheitsrechten, der Rechtsgleichheit und dem daraus abgeleiteten Willkürverbot, die als „Ersatz des fehlenden Verwaltungsgesetzes“ fungierten. Diese Verfassungsnormen seien „als richtungsgebende Maxime für die positive nähere konkrete Gestaltung dieser freien Verwaltungstätigkeit“ zu verstehen. Das ergebe sich aus dem freiheitlichen Sinn dieser Verfassungsnormen; vor allem das Willkürverbot sei „der allerwichtigste Verfassungsgrundsatz, welcher als positive rechtliche Maxime für gesetzesfreie Verwaltungshandlungen in Frage“ komme.23 Die Verwirklichung dieser grundlegenden Idee dauerte noch Jahrzehnte. Georg Müller erneuerte und konkretisierte Giacomettis Anliegen in seinem Aufsatz über Reservate staatlicher Willkür;24 in der Rechtsprechung drang diese Auffassung erst 2003 im Falle zweier wegweisender Einbürgerungsurteile des Bundesgerichts25 durch. Wegen seiner konsequent rechtsstaatlichen Haltung lehnte Giacometti ein selbständiges (polizeirechtlich oder anderswie begründetes) Verordnungsrecht der Regierung zunächst kategorisch ab.26 In seinen Allgemeinen Lehren differenzierte er die Verordnungen in die bekannten Kategorien und liess nun Vollziehungsverordnungen und selbständige Verordnungen zu. Er sah aber in diesen dennoch eine „Gefahr für den Rechtsstaat und die Referendumsdemokratie“, die jedoch in Kauf zu nehmen sei, da beide Prinzipien den „staatspolitischen Not-
22 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Akademie-Ausgabe, Band VI, Berlin 1907/14, S. 340. 23 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 285 ff., 286 (beide Zitate). 24 Georg Müller, Reservate staatlicher Willkür. Grauzonen zwischen Rechtsfreiheit, Rechtsbindung und Rechtskontrolle, in: Festschrift Hans Huber, Bern 1981, S. 109–125. 25 Bundesgerichtsentscheid 129 I 217 (Emmen) und 129 I 232 (SVP Stadt Zürich). 26 Vgl. Abschnitt IV.
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wendigkeiten anzupassen“ seien.27 Er vertrat in seinem Spätwerk also eine moderate Auffassung, die sich von seinen strikten Prinzipien löste. Giacometti trat als klassischer Liberaler für eine staatsfreie Sphäre des Individuums ein. Allerdings nahm nach dem Zweiten Weltkrieg der Bund seine sozialstaatliche Gesetzgebung in Angriff. Giacometti passte sich dieser Entwicklung behutsam an und anerkannte 1960 den Sozialstaat insofern, als er ausführte, dass sich freiheitlicher Staat und Sozialstaat nicht ausschlössen:28 „Der Freistaat ist (…) in seinen Aufgaben nicht beschränkt, er ist nicht schlechthin ein Staat mit begrenzten Zwecken, ‚ein Nachtwächterstaat‘, sondern ein Staat, der seine Zwecke auf ausschliesslich freiheitlicher Grundlage verfolgt“.29 Giacometti konnte den Sozialstaat als in liberaler Sicht unbedenkliche Ergänzung des „Freistaates“ ansehen. Freilich lehnte er den bundesdeutschen Ausdruck „Daseinsvorsorgestaat“ ab, denn dieser stelle eine „Verharmlosung des Etatismus“30 dar. Tatsächlich war die Zeit des klassisch liberalen Freistaates am Ablaufen, nachdem auch die bürgerlichen Parteien für die sozialstaatliche Gesetzgebung eintraten. Die noch von Fleiner 1923 hervorgehobene Wertschätzung der „persönlichen Selbständigkeit“31 des Schweizers war der Bereitschaft gewichen, staatliche Unterstützung entgegenzunehmen. Das sollte bedeutende Rückwirkungen auf die allgemeinen Grundrechtslehren nach sich ziehen.32
IV. Die Kontroverse über das Notrecht Der ausgesprochen autoritäre Charakter der Zwischenkriegszeit zeigte sich exemplarisch am vereinfachten und beschleunigten Verfahren der Rechtsetzung im Bund. Dieser benützte das demokratische Verfahren der Bundesgesetzgebung mit anschliessendem Referendum immer weniger. Dafür bevorzugte er die Polizeigeneralklausel, was ihm die Rechtsetzung mittels Polizeinotverordnungen erlaubte. Ferner rief die Bundesversammlung immer häufiger die Dringlichkeitsklausel an, was die Bundesbeschlüsse vom Referendum ausnahm. Anlässlich des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges gab die Bundesversammlung dem Bundesrat die extrakonstitutionellen Vollmachten: Diese verschoben die Rechtsetzung
27 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 148 ff., Zitate 162 und 163. 28 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 2 Anm. 3. 29 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 2. 30 Giacometti, Allgemeine Lehren, 46 Anm. 32. 31 Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, S. 761. 32 Vgl. hinten Abschnitt V.
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nahezu unbegrenzt von der Bundesversammlung auf den Bundesrat, um der Kriegsnotlage Herr zu werden. Die beiden Zürcher Staatsrechtslehrer Dietrich Schindler (sen.) und Zaccaria Giacometti führten verschiedene Kontroversen über diese vereinfachten Rechtsetzungsverfahren.33 Schindler vertrat im Streit darüber konsequent die Haltung der Bundesbehörden, während Giacometti in diesen Rechtsetzungsverfahren einen Verfassungsbruch sah. Im Folgenden ist beispielhaft auf die Auseinandersetzung um das extrakonstitutionelle Staatsnotrecht einzugehen. Lehre und Literatur nahmen die Vollmachten des Jahres 1939 zunächst schweigend hin. Erst ab 1940 erschienen einzelne Artikel über das Vollmachtenrecht; dabei setzten die Autoren voraus, dass die Grundlage der Bundesratsverordnungen nicht in Zweifel zu ziehen sei. Es findet sich einzig ein Beitrag des Advokaten und Publizisten Agénor Krafft (1895–1964) über das waadtländische Vollmachtenrecht, der feststellte: „Il s’agit là d’une révolution juridique, empruntée malheureusement à l’esprit totalitaire et en contradiction avec les efforts de générations à ce jour“.34 Kraffts Feststellungen trafen uneingeschränkt auch auf die Vollmachten des Bundes zu. Vor dem Hintergrund dieses verbreiteten Schweigens kam es zu einer öffentlichen Kontroverse zwischen Schindler und Giacometti. Giacometti bestritt, dass das Vollmachtenregime auf einer Verfassungsgrundlage beruhte. In einem Vortrag vom 13. Juli 1942 führte er aus, die Bundesverfassung sei „heute auf weiten Gebieten ein Trümmerfeld“. Der Bund erscheine „als ein autoritärer Staat mit totalitären Tendenzen“35 und die Freiheitsrechte seien ausgeschaltet:36 „Das undemokratische und antiliberale Vollmachtenregime (…) stellt einen illegalen Notsteg dar, der die freiheitliche Schweiz mit einem ihr unbekannten autoritär totalitären Land verbindet. Dieser Notsteg kann (…) zu einem gewaltenmonistischen totalitären Exekutivstaat hinüberleiten“.
33 Vgl. im Detail Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien seit 1848, Bern 2004, S. 763 ff. und 824 ff. m.w.H.; Kley (Anm. 15) S. 167 ff., 192 ff. 34 Agénor Krafft, Législation de guerre vaudoise, in: Schweizerische Juristen-Zeitung 36 (1939/40), S. 202. 35 Zaccaria Giacometti, Die gegenwärtige Verfassungslage, in: Schweizerische Hochschulzeitung 1942, S. 139–154, 144 (beide Zitate). 36 Giacometti, Verfassungslage (Anm. 35), S. 148.
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Schindler hingegen war besorgt, dass die These der Illegalität des Vollmachtenregimes als Vorwand für Auflehnungen gegen die Bundesbehörden missbraucht werde:37 „Es wird ja niemand behaupten wollen, dass es der Wille der Verfassung sei, auch dann in allen Einzelheiten angewendet zu werden, wenn darüber der Staat, mit dem die Verfassung und jedes von ihr geschaffene Recht steht und fällt, zugrunde geht“.
Er gab damit die Auffassung des Bundesrates in seinem Bericht zur Volksinitiative betreffend Dringlichkeits- und Notrecht38 wieder; seine Auffassung setzte sich durch, das Vollmachtenregime blieb in Kraft. Die Bundesversammlung hob es erst auf Druck einer Volksinitiative auf.39 Das Bundesgericht seinerseits erklärte sich 1942 ausserstande, den Gebrauch der Vollmachten durch den Bundesrat zu kontrollieren.40 Im Jahr 2000 sprach es im Urteil Joseph Spring von einem gerechtfertigten Staatsnotstand und sah die notrechtlichen Massnahmen des Flüchtlingsrechts als rechtmässig an.41
V. Grundrechte Nach liberaler Auffassung gibt es keine einfachere Antwort auf die Frage nach dem sachlichen Schutzbereich der Grundrechte als diejenige Fritz Fleiners: Danach spricht „im Rechtsstaat die Vermutung für die Freiheit des Individuums von staatlichem Zwang (…). In diesem Sinne enthält der Satz ‚was nicht verboten ist, ist erlaubt‘ eine Rechtswahrheit. Sie ist niedergelegt in den Vorschriften der Verfassungsurkunden (…), welche Freiheit und Eigentum der Bürger ausdrücklich garantieren“.42 Der vor allem durch die Vollmachtenregimes errichtete Sozial- und Interventionsstaat schränkte nun den Raum der durch das Gesetzmässigkeitsprinzip freigehaltenen (unqualifizierten) Freiheit erheblich ein. Zaccaria Giacometti erkannte dieses Problem und suchte es verfassungsrechtlich zu lösen. Er forderte die Anerkennung einer ungeschriebenen, allgemeinen Frei-
37 Dietrich Schindler, Notrecht und Dringlichkeit, NZZ vom 19. und 20.10.1942, Nr. 1669 und 1671. 38 Vgl. Bundesblatt 1939 I 533. 39 Vgl. Bundesbeschluss betreffend die Aufhebung der Vollmachten von 1939 vom 18. Dezember 1950, Amtliche Sammlung der eidgenössischen Gesetze 1950 1493. 40 Bundesgerichtsentscheid 68 II 308 E. 2 S. 317 ff. 41 Bundesgerichtsentscheid 126 II 145 E. 4b/cc S. 161. 42 Vgl. Fritz Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, (1. Aufl. Tübingen 1911) 8. Aufl. 1928, 389, und weitere Hinweise bei Kley (Anm. 15), S. 213 Anm. 1358.
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heitsgarantie als eines ungeschriebenen Rechts der Bundesverfassung bereits als junger Publizist 192443 und griff diese These im Staatsrecht der Kantone44 und im Bundesstaatsrecht45 sowie in seiner Rektoratsrede von 195546 wieder auf: „Aus dem liberalen Wertsystem und dem Sinn des Kataloges der Freiheitsrechte in der Bundesverfassung lässt sich nämlich folgern, dass die Bundesverfassung jede individuelle Freiheit, die praktisch wird, das heisst durch die Staatsgewalt gefährdet ist, garantiert, und nicht allein die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählten Freiheitsrechte“.
Giacomettis Haltung beruhte auf einem kantianischen Denkansatz: Der Vernunftbegriff des Rechts bestimmt die Freiheit als Denkvoraussetzung einer jeden Staatsphilosophie. Diese Haltung hatte er von seinem Lehrer Fritz Fleiner übernommen, dabei ist die Freiheit nicht etwa eine naturrechtliche Annahme, sondern sozusagen prozeduraler Ausgangspunkt des Vernunftdenkens. Viele Staatsrechtler teilten Giacomettis Auffassung.47 Hans Huber, der Berner Verfassungsrechtler, wandte sich gegen eine allgemeine Freiheitsgarantie und trat vielmehr für einen punktuellen Ausbau des Grundrechtskataloges ein, da „die Grundrechte des Bundesverfassungstextes von bedenklicher Lückenhaftigkeit“48 seien; deshalb müsse der Verfassungsgeber auch die ungeschriebenen Leitgrundsätze der Verfassung anerkennen. Huber kritisierte Giacomettis „radikalrechtsstaatlichen“ Vorschlag, der das Missverständnis begünstige, dass unbegrenzte Möglichkeiten gegeben seien.49 Das Bundesgericht folgte Huber, indem es die These einer allgemeinen ungeschriebenen Freiheitsgarantie ablehnte50 und allmählich sechs ungeschriebene Grundrechte anerkannte.51 Es folgte Giacometti insofern, als es unter anderem verlangte, dass
43 Vgl. Zaccaria Giacometti, Zur Verfassungsmässigkeit der bundesrätlichen Vorlage über das Hotelbauverbot, NZZ vom 6.8.1924, Nr. 1168, Abendblatt, S. 1. 44 Zaccaria Giacometti, Staatsrecht der Kantone, S. 169. 45 Giacometti, Bundesstaatsrecht, S. 241 f. 46 Giacometti, Freiheitsrechtskataloge S. 149 ff. 47 Vgl. Kley (Anm. 1), S. 409 ff. 48 Hans Huber, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts (1955), in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht. Ausgewählte Aufsätze 1950–1970, Bern 1971, S. 329 ff., 336 f. 49 Huber (Anm. 48), S. 338 Anm. 34. 50 Bundesgerichtsentscheid 97 I 45 E. 3 S. 49. Ansonsten zitierte das Bundesgericht Giacomettis Aufsatz von 1955 nie. 51 Vgl. die Nachweise bei Kley (Anm. 15), S. 228 Anm. 1459.
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das anzuerkennende Recht ein „unentbehrlicher Bestandteil der rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung des Bundes“52 sein müsse. Als ein klassischer Liberaler, der die Beziehung zwischen Individuum und Staat zu seinem Thema wählt, musste Giacometti die Drittwirkung der Grundrechte ablehnen, da sie dadurch „denaturiert“53 würden: „Die Annahme einer solchen Drittwirkung (…) im Sinne eines Schutzes des Einzelnen gegen Freiheitsbedrohungen seitens Drittpersonen wird im Rechtsstaate durch das Polizeirecht, Strafrecht, durch die Sozialgesetzgebung usw. erfüllt. So sind z. B. Auswüchse der Handels- und Gewerbefreiheit in der Gestalt des Kartellwesens durch eine Kartellgesetzgebung als polizeiliche Beschränkung der privatrechtlichen Seite der Handels- und Gewerbefreiheit (…) zu bekämpfen. (…) Eine solche Drittwirkung würde eine Relativierung der Freiheitsrechte bedeuten, ja den Rechtsstaat in Frage stellen. Man vergegenwärtige sich, was z. B. die Drittwirkung der Rechtsgleichheit, der Pressefreiheit, der persönlichen Freiheit usw. für Folgen hätte“.54 Giacometti hatte schon früher in einem Gutachten zur Zulässigkeit einer Entlassung eines Arbeitnehmers wegen Beitritts zu einer Gewerkschaft dafür gehalten, dass ein Privater die Grundrechte mangels Geltung gegen ihn gar nicht verletzen könne. Giacometti löste den Fall zivilrechtlich und kam zum Ergebnis, dass die fristlose Kündigung wegen eines Beitritts zu einer Gewerkschaft mangels eines wichtigen Grundes unzulässig sei. Seine liberale Haltung und die soziale Verantwortung konnte er mit dem geltenden Zivilrecht hinreichend darstellen.55
VI. Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts Die Schaffung eines wissenschaftlichen Werks zum Verwaltungsrecht drängte sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Die letzte Auflage von Fleiners Institutionen stammte aus dem Jahr 1928, weshalb die Rechtsentwicklung das Grundlagenwerk überholt hatte. Zudem stabilisierte sich die Rechtsetzung nach
52 Bundesgerichtsentscheid 89 I 92 E. 3 S. 98 unter Anführung von Zitaten Giacomettis, seiner Dissertanten sowie von Hans Huber; vgl. ferner Bundesgerichtsentscheid 96 I 104 E. 1 S. 107, 100 Ia 392 E. 4c S. 400, 121 I 367 E. 2a S. 370. 53 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 108 f. Anm. 23. 54 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 3 f., Anm. 8, auch 108 Anm. 23. 55 Siehe Gutachten vom 21. Februar 1942, erstattet dem Sekretariat des Schweizerischen Verbandes des Personals öffentlicher Dienste, nicht veröffentlicht. Giacometti nahm den Bundesgerichtsentscheid 129 III 35 vorweg, siehe dazu Kley (Anm. 15), S. 329 Anm. 2099.
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der Beendigung des Vollmachtenregimes 1952. 1960 erschien der erste und einzig gebliebene Band. Giacometti deduzierte das Verwaltungsrecht aus der Verfassung und auf der Grundlage seiner „aufklärerisch-rousseauischen“56 Staatsauffassung. Giacometti verwendete und zitierte zwar die Praxis, das geschah aber nur punktuell. Zusätzlich kritisierte er sie anhand seines deduktiven und von der Verfassung ausgehenden Vorgehens heftig. Er überzog das Verwaltungsrecht ohne Rücksicht auf die Praxis mit aus der Verfassung gewonnenen Grundprinzipien. Seine Lösungsvorschläge waren gegen die Praxis, eigenwillig und hätten oftmals zu erheblichen Konzeptänderungen geführt. Giacomettis Buch widersprach fundamental der verharrenden Haltung der Verwaltung und der Gerichte. Es konnte sich nicht unmittelbar durchsetzen. Giacometti war ein berühmter Professor und das Buch erhielt viele Rezensionen. Diese waren wegen seiner abweichenden und eigenwilligen Meinungen teilweise kritisch. Schon eine oberflächliche Lektüre wirke für den Leser „mitunter etwas mühsam und grau“.57 Der Berner Verwaltungsgerichtspräsident Gottfried Roos verglich das Buch „mit dem Werk eines Philosophen (…), der von einem an die Spitze gestellten, nicht mehr weiter beweisbaren Axiom ausgeht und daraus seine ganze Weltanschauung ableitet. Es ist auch nicht nur Erkenntnis, sondern zugleich Bekenntnis eines kompromisslos von der Freiheitsidee durchdrungenen Menschen, der die Gefahren der heutigen Zeit für Freiheit und Recht klar erkannt hat und ein Bollwerk dagegen zu errichten versucht“.58 Giacomettis Schüler Max Imboden rezensierte das Werk in der Neuen Zürcher Zeitung59 und hob die strenge Deduktion hervor: „Man muss die von Giacometti befolgte Methode vor allem als strengste Deduktion kennzeichnen. Am Anfang der weitausholenden Darstellung stehen Idee und Begriff des Rechtsstaates. Der Rechtsstaat, verstanden als die juristische Seite der freiheitlichen Staatsauffassung, ist die Substanz, aus der der Autor die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechtes erschliesst. (…) Die konkreten Forderungen, die der Autor aus dem materiellen Gehalt der den modernen Menschen verpflichtenden Staatsidee gewinnt, bezeugen aufs schönste die Fruchtbarkeit seiner Methode“.60
56 Kölz (Anm. 33), S. 816. 57 Walter Geering, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 1961, S. 454. 58 Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 97 (1961), S. 451. 59 NZZ vom 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7. 60 NZZ vom 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7.
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Die Deduktionsmethode erwies einerseits dem Positivismus Referenz, indem alle Prinzipien einen Aufhänger in einer geschriebenen Norm oder der Verfassung zugewiesen erhielten und andererseits erlaubten sie dennoch die in der Deduktion verkleidete Rechtsschöpfung.61 Kreativität liess sich als Normgehorsam ausgeben. Der Ausgangspunkt von Giacomettis „Staatsphilosophie“ besteht in der axiomatischen Grundannahme,62 dass der Angelpunkt des Rechtsstaates die individuelle Freiheit darstellt. Aus diesem Grund „bildet ja jede Verwaltungsrechtsnorm rechtsstaatlich besehen letzten Endes eine Ausnahmebestimmung“.63 Daher muss die für den Bürger günstigere Auslegung von Verwaltungsrechtsnormen den Vorzug haben.64 Man muss sich die Tragweite dieser Aussage vor Augen führen: Der Regelfall ist die individuelle Freiheit, der Ausnahmefall ist das Verwaltungsrecht. Dieser Satz ist für ordentlich konditionierte Professoren des öffentlichen Rechts nachgerade denkunmöglich, wie die Rezensionen zeigten. Denn damit wird „alle Verwaltung (…) zur Sünde wider den Geist des Rechtsstaates“.65 Dagegen sind für Giacometti Freiheit und Gewaltenteilung „apriorische Denkkategorien“.66 Das zweite Fundament von Giacomettis Lehren ist das demokratisch beschlossene formelle Gesetz, das allein die Grundlage der Verwaltungstätigkeit bilden kann. Damit werde nicht bloss die Freiheit geschützt, „sondern zugleich eine demokratische Rechtsherrschaft garantiert und damit auch das demokratische Wertsystem des Rechtsstaates im Sinne der politischen Freiheit auf der Rechtssetzungsstufe verwirklicht“.67 Die „demokratische Methode der Gesetzgebung“ bedeute „eine besonders wirksame Garantie des Bürgers gegen allzu umfassende Freiheitsbeschränkungen durch die gesetzgebende Behörde“.68 Das Vertrauen Giacomettis in das Volk ist immens. Beim Verfassungsreferendum trage „das
61 Ivo Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Band II: Grundrechte, Zürich 1982, 196; Kley, (Anm. 15), S. 441 ff. 62 So Max Imboden, NZZ vom 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7 zur Bedeutung des Gewaltenteilungsdogmas. 63 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 224. 64 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 223 f. In Anm. 105 zitiert er u. a. auch den Grundsatz „in dubio pro libertate“, den das Bundesgericht im Entscheid 44 II 421 (und nicht 43 II 421, das ist einer der zahlreichen Versehen, die Giacometti beim Niederschreiben von Zahlen unterlaufen) anführt und der im 19. Jahrhundert wohl vorherrschende Rechtsanschauung war, Bundesgerichtsentscheid 45 I 119 E. 6 S. 133 f. und dazu Kley, (Anm. 15), S. 213 f. m.w.H. 65 Hans Peter Ipsen, AöR 88/1963, S. 352 ff., 365. 66 Max Imboden, NZZ vom 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7. 67 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 20. 68 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 21.
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Volk als verfassungsändernde Gewalt auch ohne Bindung an ewige Normen die Garantien der rechtsstaatlichen Prinzipien in sich selber; die Stimmberechtigten erscheinen dann als politische Garanten der Rechtsstaatsverfassung“.69 Es liegt auf der Hand, dass Giacometti Verwaltung und Rechtsprechung strikt an das demokratische Gesetz bindet. Der Spielraum für irgendwelche Gesetzessurrogate verringert sich damit. Der dritte Pfeiler von Giacomettis Philosophie besteht in der unmittelbaren Verfassungsmässigkeit der Verwaltung als ein Surrogat der Gesetzmässigkeit. Giacometti verwirft jede andere Grundlage der Verwaltungstätigkeit als das Gesetz, also etwa das Gewohnheitsrecht oder die richterliche Rechtsfindung. Deshalb zieht er die unmittelbare Verfassungsmässigkeit der Verwaltung heran, welche die Verwaltungsbehörden bei der Ausübung gesetzesfreier Verwaltung unmittelbar bindet.70 Namentlich die Freiheitsrechte und der Gleichheitssatz bilden die Normen, aus denen er die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts gewinnt.71 Die Verwaltungstätigkeit bleibt dank diesen deduzierten Rechtsgrundsätzen stets Rechtsanwendung. Die Rezensenten haben in diesem Denken eine „grossartige Einseitigkeit“,72 eine „Überspitzung“,73 „höchste Intensität“ oder „Unnachgiebigkeit“74 oder eine „zwingende Geschlossenheit (der) Gedankenführung“75 gesehen. Die konkreten Folgerungen für die Praxis seien nachgerade verheerend, denn zahlreiche Phänomene und Institute sind entweder überflüssig oder verfassungswidrig. Beispielsweise hielt er die Lehre des besonderen Gewaltverhältnisses wegen der umfassenden Geltung des Gesetzmässigkeitsprinzips für entbehrlich.76 Giacometti zitierte die deutsche Lehre, „wonach die Gewalt im besonderen Gewaltverhältnis eine persönliche Gewalt, eine Haus- oder Herrengewalt sei“77 und distanzierte sich mit einem Ausrufezeichen (!) von dieser Meinung. Ipsen kommentierte diesen „rechtsstaatlichen Eifer“ so: „Nun, das von Giacometti angefügte Ausrufungszeichen ist ersichtlich eine Demonstration rechtsstaatlicher Entrüstung des freien Bürgers darüber, dass ein deutscher Autor noch im Jahre 1956 eine verwaltungs-
69 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 27 f. 70 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 284. 71 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 285. 72 Gottfried Roos, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 97 (1961), 451; ähnl. M. K. , Verwaltung im Rechtsstaat, Die Tat vom 22.10.1960 Nr. 290, 3. 73 Walter Geering, Schweizerisches Zentralblatt für Staats und Gemeindeverwaltung 1961, 455. 74 Hans Peter Ipsen, AöR 88/1963, 352 ff., 364., beide Ausdrücke. 75 Carl-Hermann Uhle, Verwaltungsarchiv 52/1961, 425 ff., 431. 76 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 269 ff., 321 ff. 77 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 271 Anm. 112.
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rechtliche Beziehung derart atavistisch charakterisieren und annehmen konnte, noch heute sei sie von Herrengewalt bestimmt“.78 Der Rezensent Ipsen versuchte anschliessend die Ehrenrettung der deutschen Lehre, indem er das Ganze als Giacomettis Fehlinterpretation darstellte. Die Anlage des Werks brachte es mit sich, dass Giacometti aus dem Gleichheitssatz sowie aus den Freiheitsrechten eine grosse Zahl von Prinzipien herleitete. Auf diese Weise formulierte er etwa das Willkürverbot, den Grundsatz von Treu und Glauben, den Grundsatz von Nulla poena sine lege, oder den Rückforderungsanspruch für eine irrtümliche Geldleistung an den Staat.79 Dadurch vermochte Giacometti einen durchgehenden Zusammenhang zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht darzutun.
VII. Würdigung Zaccaria Giacometti war einer der grossen Staatsrechtslehrer, die im 20. Jahrhundert in der Schweiz wirkten. In seiner Biographie und in seinen Schriften spiegelt sich die Geschichte des Verfassungs- und Verwaltungsrechts der Schweiz. Betrachtet man seine Persönlichkeit, so fällt seine eigenständige Prägung auf, was sein Auftreten im Hörsaal als auch die von ihm vertretenen Positionen anbelangt. Zu Giacomettis Zeiten lasen die Professoren nach ihren eigenen Vorstellungen, auch wenn das in didaktischer Hinsicht vielleicht nicht immer optimal war. Giacomettis Schüler Werner Kägi schilderte die Verbindung von rechtswissenschaftlichen Anliegen und Unterricht wie folgt: „Was den Forscher bewegt, trägt der Dozent in den Hörsaal. Schmucklos und nüchtern ist der Vortrag Zaccaria Giacomettis, aber von einer zwingenden Logik, ganz an die Sache hingegeben. Von einer beneidenswerten Konzentration, die ihn alles (…) überhören lässt“.80 Diese Vortragsweise gehört im besten Sinne des Begriffs an eine Forschungsuniversität, die den Unterricht eben gerade nicht auf die gute Unterhaltung der Studierenden ausrichtet, sondern ganz am Nachdenken und Überlegen orientiert ist. Cyril Hegnauer bestätigte diese Darstellung und fügte ihr wesentliche Elemente hinzu:81
78 Hans Peter Ipsen, AöR 88/1963, S. 352 ff., 366. 79 Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 287 ff. 80 Werner Kägi, NZZ 26.9.1953 (Anm. 1). 81 Hegnauer (Anm. 21), S. 66.
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„Seine Vorlesungen waren nicht Frontalbegegnungen. Es ging ihm nicht darum, den Stoff gärtnerhaft den Hörern einzupflanzen, sondern ihnen Gelegenheit zu bieten, Ohrenzeugen seiner verbalen Gedankenentfaltung zu werden. Er konnte zum Ostfenster des Hörsaals treten und einen fernen Punkt fixierend ein Problem analysieren, gleich einem Bildhauer, der an der Skulptur hier ein Stück wegnimmt und dort eines zufügt, oder einem Maler, der seine Pinselstriche immer wieder verbessert. Als einmal etwas Unruhe aufzukommen schien, hielt er erstaunt inne, blickte bekümmert ins Auditorium und beschämte – ohne auch nur die Stimme zu erheben – die Schwätzer mit den Worten: ‚Aber meine Erren, Sie sind doch gheine Ghinder mehr!‘ Seine Versenkung liess ihn unvermeidlich den Gang der Uhr vergessen. Erst wenn Minuten nach dem Glockenzeichen diskretes Scharren laut wurde, konnte er, wie aus Entrückung erwachend, schüchtern fragen: ‚Ja, hat es schon geläutet?‘“.
Giacometti hatte trotz oder sogar wegen seiner Vortragweise eine grosse Anhängerschar begeisterter Studenten, die seine Geradlinigkeit schätzten:82 „In seinem Urteil unerbittlich und kompromisslos, war er keineswegs apolitisch, aber er schied die politische Meinung streng vom juristischen Urteil. Die absolute Grundsatztreue – an Jesaja erinnernd – machte ihn glaubwürdig und begründete sein Ansehen in der Öffentlichkeit und seine Verehrung durch die Studierenden“. Mit seinem mutigen Einstehen für die freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung hatte er sich unter den Schweizer Staatsrechtslehrern einen Namen verschafft, der seinesgleichen sucht. Er brachte mit Werner Kägi und Max Imboden zwei bedeutende Schüler hervor, die freilich ihre eigenen Wege gingen, was seiner freiheitlichen Haltung entsprach. Der Name Giacometti spielt in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine überragende Rolle, womit die Frage naheliegt, ob in Giacomettis juristischen Arbeiten nicht wenigstens strukturell eine Spur der Künstler erkennbar ist. Cyril Hegnauer beschrieb den unterrichtenden Professor als einen Künstler, der die Studenten wie ein Werkstück formt.83 Diese Ähnlichkeit im Vorgehen lässt sich auch in seiner rechtswissenschaftlichen Arbeitsweise feststellen. Giacometti dachte die Rechtsordnung konsequent zu Ende, ohne Rücksicht auf Opportunität. Insofern glich er seinem Vetter Alberto, der auf der Suche nach dem Ausdruck von Gestalt war und sich durch keine äusseren Umstände beirren liess. So lehnte Giacometti die durch die Bundesbehörden ausgeübten vielfältigen Notrechte (Dringlichkeitsrecht, Polizeinotverordnungen, Staatsnotrecht) konsequent und ohne Umschweife ab,84 weil diese Art von Rechtsetzung dem Rechtsstaat widerspricht. Er musste deshalb harte Kritik und gar die Ächtung seitens der Bundesbehörden
82 Hegnauer (Anm. 21), S. 66 f. 83 Vgl. Hegnauer (Anm. 21), S. 66. 84 Vgl. Abschnitt IV.
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in Kauf nehmen. Das tat seinem Ansehen, ja seinem Ruhm als einer rechtsstaatlichen Autorität keinen Abbruch, im Gegenteil. Giacometti erreichte mit seiner unbequem konsequenten, rechtsstaatlichen Ausrichtung und seiner hergebrachten Freiheitsliebe den Rang einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit. Er steht deshalb bei seinen nunmehr in die Jahre gekommen Studenten, die sich davon anstecken liessen, noch immer in höchstem Ansehen. Auch sind seine Texte noch immer packend, wenngleich seine trockene, sachliche und logisch-schrittweise Vorgehensweise auch etwas Bemühendes hat, das auf den ersten Blick abschrecken mag. Er war sozusagen ein juristischer Künstler, der ein bleibendes Werk hinterlassen hat. Namentlich sein unvollendetes Werk Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts besticht durch graziösen Aufbau und filigrane Verstrebungen und gehört zu den grossen Kulturleistungen juristischen Denkens im 20. Jahrhundert. Dass die Praxis in ihrer notgedrungenen Kurzsichtigkeit eine solche geistige Architektur eher ungnädig aufgenommen hat, unterstreicht den künstlerischen Charakter des Werks.
Ausgewählte Werke von Zaccaria Giacometti Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich 1941 (zit. Staatsrecht der Kantone). Die gegenwärtige Verfassungslage, in: Schweizerische Hochschulzeitung 1942, S. 139–154 (zit. Verfassungslage). Schweizerisches Bundesstaatsrecht. Neubearbeitung des Werkes von Fritz Fleiner, Zürich 1949 (zit. Bundesstaatsrecht) Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 74 I (1955) S. 149 ff. (zit. Freiheitsrechtskataloge) Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, Zürich 1960 (zit. Allgemeine Lehren) Ausgewählte Schriften, hrsg. von Alfred Kölz, Zürich 1994. In den Anmerkungen finden sich weitere Literaturangaben sowie weitere Werke von Zaccaria Giacometti
XXVII Hermann von Mangoldt (1895–1953) Heinrich Amadeus Wolff
I. Lebenslauf1 Hermann von Mangoldt wurde am 18. November 1895 in Aachen als Kind einer preußischen Akademikerfamilie geboren. Sein Vater, Hans von Mangoldt, war Mathematikprofessor und der spätere Gründungsrektor der Technischen Hochschule Danzig und selbst Kind eines Hochschullehrers, Hans Carl Emil von Mangoldt, Professor für Nationalökonomie und Kameralwissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Die Mutter, geb. Gertrud Sauppe, war die Tochter des Göttinger Altphilologen Hermann Sauppe. Nach der Schule trat Herrmann von Mangoldt zunächst 1914 der Marine bei, verblieb dort den gesamten Ersten Weltkrieg in verschiedenen Verwendungen, ab September 1916 als Leutnant z. S. Ab 1939 wird er als „begeisterter Seeoffizier“2 erneut in der Marine gewesen sein, zuletzt als Korvettenkapitän i. A. mit einer Verwendung im Stab der Sicherungsstreitkräfte West und dort den Zweiten Weltkrieg bis Mitte 1944 mitgemacht haben. 1919 konnte er sein Studium des Bauingenieurwesens in Danzig aufnehmen, das er aber nach zwei Semestern wieder abbrach, um sich der Haff- und Flußflottille des Ostpreußischen Freiwilligenkorps anzuschließen. Von dort wurde er Oktober 1919 als Offizier in den Reichswasserschutz (d. h. der Wasserschutzpolizei) übernommen. In dieser Funktion lernte er die Bedeutung des Rechts kennen, die ihn dazu veranlasste Rechtswissenschaften an der Albertus-Universität Königsberg zu studieren, von 1922/23
1 S. dazu v. a. Ulrich Vosgerau, Hermann von Mangoldt, in: Günter Buchstab, Hans-Otto Kleinmann, In Verantwortung vor Gott und den Menschen, Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49, 2008, 271, 277 f.; und Waltraut von Mangoldt, Hermann von Mangoldt, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, Hamburg 1965, 221 ff.; Walter Jellinek, Hermann von Mangoldt, Reden zu seinem Gedächtnis, in: Veröffentlichung der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft, n. F. Nr. 6, 1953, S. 10 ff.; Viktor Böhmert, Hermann von Mangoldt, JZ 1953, 253 f.; Walter Strauß, Hermann von Mangoldt zum Gedächtnis, DÖV 1953, 247 f.; Christian Starck, Hermann von Mangoldt (1895–1953): Mitglied des Parlamentarischen Rates und Kommentator des Grundgesetzes, AöR 121 (1996), 438 ff.; ausführlich Angelo O. Rohls, Hermann von Mangoldt (1895–1953), 1997, S. 15 ff. 2 Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 28.
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bis 1926. Unmittelbar vor dem Referendarexamen (Juli 1926) schied er aus dem Polizeidienst aus, und trat dann das Referendariat an, welches er im März 1930 mit dem Großen juristischen Staatsexamen im vorgerückten Alter von 34 Jahren abschloss. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon seine Dissertation vorgelegt und eine Assistentenstelle am Institut für Luftrecht der Universität Königsberg seit 1929 inne. Er nahm zusätzlich einen Posten als Gerichtsassessor an, von der er sich aber zugleich beurlauben ließ, um sich mit einer von Ernst von Hippel betreuten Habilitationsschrift über „Geschriebene Verfassung und Rechtssicherheit in den Vereinigten Staaten“ habilitieren zu können. 1931 erhielt er die venia legendi für Öffentliches Recht und Luftrecht und verblieb die folgenden Jahre als Privatdozent in Königsberg. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, war er ohne feste Stellung, für einen Öffentlichrechtler, der zudem eine Sympathie für das amerikanische Verfassungsrecht besaß, keine günstige Ausgangslage. 1933 erhielt er dennoch die Lehrstuhlvertretung der Stelle von Albert Hensel, der in Tübingen wegen seiner jüdischen Abstammung „beurlaubt“ worden war. 1934 tritt von Mangoldt dem Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen (BNSDJ) bei, verfasst neben zahlreichen weiteren Arbeiten zwei Aufsätze zu nationalsozialistisch relevanten Themen. Zunächst einen sehr kurzen Beitrag zur Überfremdung an entlegener Stelle (1934)3 und anschließend fünf Jahre später einen etwas längeren zum Rassenrecht (1939). In Tübingen wird er 1935 zunächst zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor und 1936 zum planmäßigen außerordentlichen Professor ernannt unter gleichzeitiger Zuweisung einer regulär frei gewordenen Professur. Zum 1. April 1939 folgt die Ernennung zum ordentlichen Professor, nachdem er 1937 einen Ruf an die Universität Hamburg abgelehnt hatte. Zum Jahreswechsel 1940/41 folgte er einem Ruf an die Friedrich-Schiller-Universität Jena und zum 1. April 1943 an die Christian-Albrechts-Universität Kiel, wo er Direktor des Instituts für Internationales Recht wurde. Von 1939 bis 1944 hielt er wegen des Militärdienstes keine Vorlesungen, demnach in Jena überhaupt nicht, sondern nahm diese erst wieder auf, als er Ende 1944 wegen gesundheitlicher Gründe aus der Kriegsmarine ausschied. Sein Institut war aus Angst vor Bomben auf seinen Wunsch in die Bahnhofswirtschaft des Dorfes Faulrück umgezogen. Bei Kriegsende sollte zwar die wissenschaftliche Karriere von Hermann von Mangoldt, bezogen auf Berufungen, beendet sein, sein Wirken als deutscher
3 Wehrpolitische Bedeutung der wirtschaftlichen Überfremdung, in: Deutsches Offiziersblatt 1934, 510.
Hermann von Mangoldt
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Staatsrechtslehrer begann aber erst.4 Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau fängt er zunächst an politisch tätig zu werden. Die Ausgangslage war für ihn, als Öffentlichrechtler, Völkerrechtler und Kenner des anglo-amerikanischen Rechts ausgesprochen gut. Seinen Anfang nahm die Wiederaufbauleistung zunächst an der Fakultät und Universität (er übernahm 1945 die Dekanatsgeschäfte, 1947/48 war er Rektor).5 Sein Institut wurde von der UNO als „recognized center for the studies of international affairs“ anerkannt, wodurch es sämtliche Publikationen und Protokolle der UNO erhielt. Als Vertreter der Universität wurde er in den ersten, noch von der britischen Militärregierung einberufenen und am 26. Februar 1946 zusammengetretenen schleswig-holsteinischen Provinziallandtag entsandt. Dort war er Vorsitzender des Verfassungsausschusses für das Land Schleswig-Holstein und wirkte maßgeblich an der Ausarbeitung der schleswigholsteinischen Landesverfassung mit. Ab April 1946 (und bis 1950) gehörte er dem ersten frei gewählten schleswig-holsteinischen Landtag an. Zunächst parteilos, schloss er sich 1946 der CDU an. Von April 1946 bis April 1947 war er Vorsitzender des Innenausschusses des schleswig-holsteinischen Landtages. Das Amt des Innenministers von Schleswig-Holstein hatte er kurz inne (12. Juni bis 22. November 1946), unter dem Ministerpräsidenten Theodor Steltzer. Der Landtag von Schleswig-Holstein entsandte ihn mit drei weiteren Vertretern 1948/49 in den Parlamentarischen Rat. Dort wurde er zum Vorsitzenden des Ausschusses für Grundsatzfragen gewählt und war zusätzlich Mitglied im Rechtspflege-, Hauptund Redaktionsausschuss; überliefert ist die Selbsteinschätzung, dieses Wirken gehöre zu der Krönung seiner Lebensarbeit.6 1950 beendet er seine politische Karriere. Hermann von Mangoldt blieb zwar weiterhin beratend für die Regierung tätig,7 ging aber wieder zurück in die Wissenschaft und begann an seinem Kommentar zum Grundgesetz zu arbeiten. Diese Arbeit war ihm wichtiger als die ihm angetragene und von ihm abgelehnte (damals noch lebenslange) Stelle eines Richters am Bundesverfassungsgericht. Demgegenüber lehnte er 1952 die Mitgliedschaft des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen nicht ab, da er diese für die Erstellung des Kommentars als nicht hinderlich ansah. Auch familiär ging er neue Wege. Nachdem seine Ehe im September 1948 auf Antrag seiner Frau geschieden worden war, heiratete er im
4 S. auch zu dieser Zeit die in Fn. 1 genannten Nachweise, sowie G. Leibholz, Hermann von Mangoldt, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253. 5 S. nur Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band 1945– 1990, 2012, S. 57. 6 Waltraut von Mangoldt, von Mangoldt (Fn. 1), Hamburg 1965, 221, 226. 7 S. zu dem folgenden G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.: U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 281.
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Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts
April 1949 in Wyk auf Föhr die Rechtsanwältin Waltraut Hunnius. Hermann von Mangoldt starb am 24. Februar 1953 im Alter von 57 Jahren. Grund war eine Lungenembolie, die er sich in einer Fernfolge eines Sturzes auf einer vereisten Straße zuzog. Der Tod war für alle überraschend.8
II. Sein wissenschaftliches Werk Prägend für das Leben von Hermann von Mangoldt waren seine akademischen Familienverhältnisse, sein Hang zu den Naturwissenschaften, zur Marine, zum amerikanischen Verfassungsrecht sowie die Zeit im Nationalsozialismus und des Wiederaufbaus. Das wissenschaftliche Werk Hermann von Mangoldts zerfällt in vier Abschnitte, die weniger durch wissenschaftliche Entwicklungsstufen des Autors selbst, sondern durch die politischen Verhältnisse erzwungen wurden (Weimarer Phase, Publikationen unter dem Nationalsozialismus, Aufbauphase und nachkonstitutionelle Phase). Hermann von Mangoldt war einer der Wissenschaftler, die vom Schicksal zur richtigen Zeit an den richtigen Ort gesandt wurden. Man könnte fast glauben, dass das Schicksal ihm als Preis für die unglaublich erfolgreiche Entfaltungsmöglichkeit den frühen Tod aufzwängte. Begonnen hat er mit Arbeiten zu den Themenbereichen See-, Polizei-, Gewerbe- und Luftfahrtrecht sowie zur Rechtsvergleichung. Seine Dissertation und auch die sonstigen Arbeiten waren thematisch durch den Umstand geprägt, dass von Mangoldt über eine Materie schrieb, die er großteils von seiner Berufstätigkeit her kannte. Schon die Dissertation lebt von der klaren und reinen Anwendung der juristischen Methode. Der Sache nach handelt es sich bei der Arbeit mit dem Titel: „Grundprobleme des deutschen öffentlichen Binnenschifffahrtsrechts“ nicht um eine Erörterung einzelner Probleme des Wasserverkehrsrechts, sondern um eine umfassende und abschließende Durchdringung dieses Rechtsgebiets, die in sechs Teilen Geschichtliches, Begriffliches, die Rechtsquellen, die Behördenorganisation sowie die materielle Verwaltung dieses Gebiets darstellt und ins Zentrum die Binnenschifffahrtsfreiheit und ihre Einschränkbarkeit stellt.
8 Vgl. die Nachrufe von G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; Walter Schoeneborn, AöR Bd. 78 (1953), 257 ff.; Volker Böhmert, *JZ 1953, 253 f.; W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f.; Alex Meyer, Zeitschrift für Luftrecht, Bd. 2 (1953), S. 126; Rudolf Laun/Viktor Böhmert/Hartwig Bülck, Hermann von Mangoldt, Jahrbuch für internationales Recht, 1954, 5 ff.; Erich Schneider, Hermann von Mangoldt, Reden zu seinem Gedächtnis, in: Veröffentlichung der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft, n. F. Nr. 6, 1953, 7 ff.; Walter Jellinek, ebenda, S. 10 ff.
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Sie ist an den Landesrechtsordnungen orientiert und arbeitet gemeinsame Prinzipien heraus. Im Nationalsozialismus erleidet sein Literaturverzeichnis einen deutlich erkennbaren Schnitt. Arbeiten zum deutschen Recht fehlen oder werden zumindest sehr rar. Der Schwerpunkt seines Schaffens lag in dieser Zeit vor allem in seiner zweiten Monographie zum amerikanischen Verfassungsrecht. Den Grundstein dazu legte seine Habilitation zur Geschriebenen Verfassung und Rechtssicherheit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Breslau, 1934. Die Arbeit unterscheidet sich deutlich von der Dissertation, da der Versuch unternommen wird, eine fremde Rechtsordnung als solche darzustellen, die Vergleiche mit dem deutschen Recht standen nicht im Vordergrund. Die Arbeit beruht daher auf dem richtigen, aber nicht weit verbreiteten Gedanken, schon die Durchdringung von Geltendem könne eine wissenschaftliche Leistung sein. Die in der Arbeit gewählte Gesamtüberschrift, das Verfassungsrecht als höheres Recht und die Verwirklichung seines Vorrangs, verdeutlicht, dass der Autor mit dieser Arbeit Prinzipien entdeckte, die später in Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2 und Art. 93 GG einflossen. Walter von Jellinek wies darauf hin, bei dieser Rechtsvergleichung habe von Mangoldt schon wichtige Impulse erhalten, die er später in den Parlamentarischen Rat einbrachte, in dem er betonte, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erstatte keine Gutachten, dass bei der Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit gelte und dass daher bei Nichtigkeitserklärung ein höheres Mehrheitsquorum des Spruchkörpers verlangt werde.9 Diese Untersuchung wird fortgeführt von der deutlich umfangreicheren 1938 erschienenen Schrift „Rechtsstaatsgedanke und Regierungsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika“.10 Während er sich in der Habilitationsschrift noch auf die formale Ausgestaltung des Verfassungsrechts konzentriert hatte,11 richtet er sein Augenmerk nun auf die geistigen Grundlagen des amerikanischen Verfassungslebens. Einen rechtswissenschaftlich orientierten Verleger fand Hermann von Mangoldt nicht, was der kritischen Tendenz des Werkes zugeschrieben wird.12 Zu diesem Werk hat W. Strauß in seinem Nachruf geschrieben: „Wie einst Jonathan Swift die Zustände seiner Zeit auf dem Umweg über Gullivers Reisen spiegeln musste, so konnte von Mangoldt die geistigen und verfassungsrechtlichen Grundlagen der bürgerlichen Freiheit deutschen Lesern
9 Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 15. 10 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 276. 11 Vgl. Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253. 12 W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f.; U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 276 f; Waltraut von Mangoldt, von Mangoldt (Fn. 1), Hamburg 1965, 221, 223.
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in jenen Jahren nur an Hand eines ausländischen Vorbilds nahebringen.“13 Diesem Urteil wird nicht widersprochen.14 Schwerpunkte dieses Werkes, die fortwirkten, war das Problem der Justiziabilität des Gleichheitssatzes.15 Die Auffassung, es habe in dieser Zeit keinerlei Paktieren mit den Machthabern des dritten Reiches gegeben,16 ist fast richtig, aber, wie schon erwähnt, nicht ganz.17 Mit dem dreiseitigen Beitrag in der Württembergischen Verwaltungszeitschrift wollte von Mangoldt den Vorwurf, er sei zu wenig nationalsozialistisch eingestellt, der Sache nach abschwächen.18 In diesem Werk billigt von Mangoldt der deutschen Rassengesetzgebung die Verfolgung „hohe[r] ethische[r] Ziele“ zu. Die mit diesem Beitrag eingegangenen Konzessionen an die Machthaber sind objektiv gesehen sehr gering. Zu Recht wird gleichzeitig darauf hingewiesen,19 dass er seinen Vergleich der NS-Judenpolitik mit der rechtlichen Diskriminierung der Farbigen in den Südstaaten der USA (vor 1954) nicht mit einem Ergebnis festhält, sondern schließt: „Das Dargelegte dürfte […] genügen, um sich ein gewisses Urteil zu bilden. Die Entscheidung, zu wessen Gunsten ein Vergleich […] ausfallen müsste, kann ich jedenfalls getrost dem Leser überlassen.“20 Zwischen den Zeilen wird schon deutlich, dass von Mangoldt mit der nationalsozialistischen Zielsetzung gerade nicht einverstanden war, sondern sich bemühte, weitgehend rechtsvergleichende Beschreibungen an Stelle einer Zustimmung zu setzen, wenn auch positive Wertungen zum Rassenrecht formal zu finden sind. Hermann von Mangoldt wurde in der Nachkriegszeit nicht als ein Mitläufer der nationalsozialistischen Staatslehre wahrgenommen21 und wird dies auch heute ganz überwiegend nicht.22 Diese Einschätzung ist auch richtig. Die starke Betonung auf Rechtsfragen außerhalb des deutschen Rechts bei gleichzeitig bestehendem unleugbaren
13 W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f.; der Sache nach zustimmend G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung, 2008, 271, 276. 14 Ebenso Starck, AöR 121 (1996), 438, 440. 15 Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 16. 16 So G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f. 17 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung, 2008, 271. 18 Ausführlich Rohls, von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 48 ff. 19 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 275. 20 Hermann von Mangoldt, Württembergische Verwaltungsblätter, Württembergischen Verwaltungszeitschrift* 21 G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f.; Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253 f.; f.; Waltraut von Mangoldt, von Mangoldt (Fn. 1), Hamburg 1965, 221, 223; Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 26. 22 M.Stolleis, Geschichte (Fn. 5), 2012, S. 120. Soweit ersichtlich bildet die einzige Ausnahme eine nur im Internet veröffentlichte nicht persönlich zurechenbare Wertung: Dr. Hermann von Mangoldt ein Jurist und Nazi, der abgeschworen haben wollte, versus Bonner Grundgesetz als
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Interesse für das innerstaatliche Recht,23 die Begeisterung für das amerikanische Verfassungsrecht, die zeitgenössische Kritik, seine Werke seien nicht nationalsozialistisch genug,24 seine langen Verweilzeiten in der Marine und das deutliche Übergewicht anderer Beiträge sowie sein offensichtlich befreites und beherztes Eingreifen in das nationale Recht nach 1949 sprechen sehr deutlich dagegen. Der Eintritt in den BNSDJ, der in seiner Hochzeit über 100.000 Mitglieder hatte, und die beiden erwähnten Beiträge dürften daher auf die Einschätzung Hermann von Mangoldts zurückgehen, diese Konzession an den Zeitgeist zur eigenen Absicherung eingehen zu müssen.25 Leicht wird es ihm kaum gefallen sein, so richtig glücklich ist dies rückblickend auch nicht, prägend für das Gesamtwerk ist dieser Abschnitt aber nicht. Die dritte Phase ist durch die Fragen der Zeit nach dem Kriegsverlust bestimmt. So schrieb er im Winter 1944/45 die erst 1948 erschienene Abhandlung über die „völkerrechtlichen Grundlagen für die Verfolgung von Kriegsverbrechen“, in der er im Anschluss an die jedenfalls vor 1939 vorherrschenden Lehren zu dem Ergebnis kommt, dass nur das „Kriegsverbrechen im engeren Sinne“ als Begriff des Völkerrechts anzuerkennen sei, nicht aber das Führen eines Angriffskrieges oder das Verbrechen gegen die Menschlichkeit; auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Staatsoberhäuptern schließt er grundsätzlich aus. Diese Schrift wurde zu „eine(r) Art völkerrechtliche(r) Erbauungslektüre, als (wenn auch nur „geistigen“) Triumph über die empfundene „Siegerjustiz“ der Alliierten“.26 Daneben widmete er sich der Frage des verfassungsrechtlichen Neuanfangs zunächst literarisch,27 anschließend im Parlamentarischen Rat. Die Arbeit nahm er ernst und verteidigte sie auch literarisch nach außen. Das Grundgesetz besitzt eine ganze Reihe von Einflüssen, formuliert wurde es jedoch vom Parlamentarischen Rat – und auf diesen hatte Hermann von Mangoldt als Öffentlichrechtlicher und als Vorsitzender des „Ausschusses für Grundsatzfragen“ einen erheblichen Einfluss. Der Ausschuss tagte am häufigsten. Das
ranghöchste Rechtsnorm der Bundesrepublik Deutschland, von 13.06.2011, http://causa-lenniger.grundrechtepartei.de/archives/15148 (letzter Zugriff Mai 2012). 23 So zu Recht W. Strauß (Fn. 1), DÖV 1953, 247 f. 24 Vgl. Reuß, JW 1934, 2760 zur Habilitation. 25 Ausführlich dazu Rohls, von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 32, s. a. S. 34. 26 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 278; s. a. W. Strauß, DÖV 1953, 247 f.; Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253 f.; Viktor Böhmert, in: von Mangoldt, Reden zu seinem Gedächtnis (Fn. 1), 1953, 33, 34 f. 27 Hermann von Mangoldt, Zur rechtlichen Natur der bizonalen Wirtschaftsverwaltung, MDR 2948, 438 ff.: ders., Grundsätzliches zum Aufbau einer deutschen Staatsgewalt, Eine staats- und völkerrechtliche Studie, Hamburg, 1947.
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Sprecherverzeichnis weist ihn mit über 100 Äußerungen auf.28 Sein Vorsitz wird als straff und zielorientiert bezeichnet.29 Er soll oftmals bei Fragen, bei denen er überstimmt wurde, weiterhin kreativ mitgewirkt haben und die Lösungen unter Zugrundelegung der von ihm eigentlich nicht präferierten Ausgangslage verbessert haben.30 Offenbar schlug auch nach dem Polizeidienst noch immer ein Beamtenherz im positiven Sinne in seiner Brust. Er besaß eine hohe sprachliche Sicherheit, auch wenn seine rhetorische Begabung nicht ausgeprägt gewesen sein soll. Weggefährten berichteten, es sei spürbar gewesen, wie sehr ihm ausgleichende gemeinsame Aufbauarbeit statt Kampf und Vernichtung Andersdenkender am Herzen gelegen hätten.31 Für alle Bereiche galt diese Eigenschaft allerdings nicht, wie ein von ihm vehement eingelegter Widerspruch gegen eine Wiederaufnahme E. R. Hubers in die Staatsrechtslehrervereinigung zeigt.32 Sein eigener Anspruch bestand offensichtlich darin, die innere Einheitlichkeit des Grundgesetzes so weit wie möglich zu wahren und die Verständlichkeit zu gewährleisten.33 Bestimmender Einfluss wird ihm zugeschrieben bei der Formulierung der Grundrechte, den völkerrechtlichen oder bundesstaatlichen Fragen, der Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems mitsamt der Rolle des Bundespräsidenten.34 Die Verfassungsgerichtsbarkeit, sowie der Abschnitt über die Rechtspflege,35 insbesondere die Formulierung des Art. 25 GG wird ihm zugeschrieben,36 sein Einfluss auf Art. 79 GG ist streitig.37 Nicht immer konnte er sich durchsetzen, wie im Bereich der Präambel,38 dem Art. 18 GG,39 Art. 22 Abs. 2 GG40 und dem Art. 3 GG; bei Art. 6 und Art. 7 GG rügte er die Abweichung von dem Bemühen, sich auf die Setzung unmittelbar geltenden Rechts zu beschränken.41 Überwiegend geht man davon aus, Hermann von Mangoldt habe einen Einfluss
28 Starck, AöR 121 (1996), 438, 442. 29 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 270 f. 30 Vgl. nur Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 16. 31 Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 30. 32 Vgl. Rohls, Hermann von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 128. 33 Hermann von Mangoldt, Zum Beruf unsere Zeit für die Verfassungsgebung, DÖV 1948, 51, 52 f. 34 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 272 f. 35 G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f.; U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 280. 36 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 280. 37 Kritisch Rohls, von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 121 ff. 38 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 274; ausführlich Rohls, von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 32, s. a. S. 92 ff. 39 Ule, Rezension, DVBl 1950, 590 f. 40 S. dazu ausführlich Rohls, von Mangoldt (Fn. 1), 1997, S. 109 ff. 41 Vgl. Starck, AöR 121 (1996), 438, 443 f.
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auf die Konzeption und wesentliche Teile des Grundgesetzes gehabt wie wenige andere Mitglieder.42 Keiner der anderen Väter und Mütter des Grundgesetzes dürfte seitens des Bundesverfassungsgerichts und der Staatsrechtslehre annähernd so häufig im Rahmen der historisch-subjektiven Auslegungsmethode der Grundrechte herangezogen und zitiert worden sein. Die vierte und letzte Phase setzt mit Beendigung der Arbeit im Parlamentarischen Rat ein. Jetzt wechselt von Mangoldt wieder die Rolle und arbeitet mit den klassischen Mitteln des dogmatischen, positiv-rechtlich denkenden Juristen. Er wurde Mitherausgeber des „Jahrbuchs für internationales und ausländisches öffentliches Recht“ sowie des „Jahrbuchs für öffentliches Recht“. In dieser Zeit entstand auch dessen bekannter erster Band, der die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes darstellt und so gut wie alle historischen Betrachtungen prägte.43 Im Vordergrund stand das Abfassen des bekannten Grundgesetzkommentars, der im Laufe seines Entstehungsprozesses immer umfangreicher wurde und dessen Qualifizierung als das Standardwerk der Nachkriegszeit unbestritten ist.44 So heißt es, er selbst habe den Kommentar als weiteren Höhepunkt seines Lebenswerkes verstanden.45 Die erste Auflage war als Werk mit drei Lieferungen gedacht, es sollten fünf werden. Vier Lieferungen seines Grundgesetzkommentars sind noch zu Lebzeiten erschienen; die fünfte und letzte war zum Zeitpunkt seines unerwarteten und frühen Todes im Februar 1953 im Manuskript fertig gestellt.46 In diesem Werk widmet er sich der Auslegung des Grundgesetzes, aufgrund seiner Kenntnisse mit einer etwas stärker genetisch orientierten Sichtweise, wobei die protokollierten Diskussionsbeiträge in dem Ausschuss nicht immer mit der späteren Kommentierung übereinstimmten, woran man ersehen kann, dass Hermann von Mangoldt das juristische Argument nicht für abstrakt richtig und gut hielt, zumal bei pflichtbewussten Menschen ein Unterschied zwischen Gemeinschaftsarbeit und persönlichen Ansichten erkennbar ist.47 Zudem wandelte sich die Art der Bearbeitung während der Lieferungen, indem die Bedeutung der Darstellung der Entstehungsgeschichte abnahm.48 Der Kommentar huldigte dabei nicht nur die Ergebnisse des Parlamentarischen Rats. So hielt er den Art. 19 Abs. 1 GG für
42 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 272; Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10 f. 43 M.Stolleis, Geschichte (Fn. 5), 2012, S. 140, Rn. 156. 44 Ule, Rezension, DVBl 1953, 32; s. a. M.Stolleis, Geschichte (Fn. 5), 2012, S. 137. 45 G. Leibholz, JöR Bd. 2 (1953), S. III f. 46 Ule, Rezension, DVBl 1953, 32. 47 U. Vosgerau, in: Buchstab/Kleinmann, Verantwortung (Fn. 1), 2008, 271, 272 f. 48 Ule, Rezension, DVBl 1953, 32.
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zu weitgehend,49 bei Art. 19 Abs. 4 GG schloss er die besonderen Gewaltverhältnisse aus,50 die Gesetzeskraft von Entscheidungen des BVerfG sah er kritisch.51 Der Vorwurf, sein Kommentar würde die Grundrechte zu sehr einschränken, was daran zu ersehen sei, dass er unter verfassungsmäßiger Ordnung jedes ordnungsgemäß, d. h. nach Vorschriften der Verfassung ergangene Gesetz verstehe,52 dürfte mittlerweile an Kraft verloren haben. Will man das Gesamtwerk bewerten, so fällt zunächst auf, dass Hermann von Mangoldt nicht in festen Kategorien über das eigene Wirken dachte. Hermann von Mangoldt war offenbar persönlich und geistig beweglich. Er gehörte nicht zu den Menschen, die mit zwanzig Jahren schon sagen konnten, was sie mit fünfzig tun werden, und dies war die Voraussetzung dafür, dass er in dem Augenblick, in dem es darum ging, gestalterisch die neue Rechtsordnung aufzubauen, so gut vorbereitet war wie kaum ein anderer. Er war auch als Wissenschaftler nicht auf die üblichen Formen des akademischen Wirkens festgelegt. Wissenschaft kann auch die Ausarbeitung eines Grundgesetzes sein, auch wenn man mit NichtWissenschaftlern zusammenarbeitet. Seine Arbeiten hatten immer einen engen Bezug zu den Fragen der Zeit. Sein wissenschaftliches Arbeiten war problem- und praxisbezogen, er war ein „Gestalter des Rechts“53. Das ist nicht nur am Gesamtwerk zu spüren, sondern auch an den einzelnen Arbeiten. Seine Arbeiten zeichneten sich durch die Kombination der Heranziehung des tragenden Grundes einer Regelung mit einer praxisnahen Sicht ihrer Wirkung aus. Die Verfassung sollte lebendig bleiben.54 Er dachte in dem Spannungsfeld, das die ältere Staatsrechtswissenschaft mit dem Begriffspaar Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit umschrieb.55 Er war kein Positivist, sondern ließ auch dem ungeschriebenen Recht und der Rechtsfortbildung ausreichend Raum. Seine Grundausrichtung ist mit dem Leben in der Begriffswelt des Rechtsstaates liberaldemokratischer Prägung56 zutreffend beschrieben. Die Wirklichkeit durch Recht zu steuern, war ihm ein Anliegen, das er ernst nahm.
49 Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 19 Anm. 3, S. 119. 50 H. v. Mangoldt, Grundgesetz (Fn. 49), 1953, Art. 19 Anm. 6, S. 123. 51 H. v. Mangoldt, Grundgesetz (Fn. 49), 1953, Art. 19 Anm. 6, S. 517. 52 Ule, Rezension, DVBl 1950, 590 f. 53 Schneider, in: Veröffentlichung der SH Universitätsgesellschaft (Fn. 8), 1953, 7, 8. 54 Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253 f. 55 Deutlich Hermann von Mangoldt, Der Fraktionszwang, SJZ 1950, 336 ff. 56 Böhmert (Fn. 1), JZ 1953, 253 f.; s. a. M.Stolleis, Geschichte (Fn. 5), 2012, S. 142: konsevative Grundeinstellung.
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Daher reagierte er auf Kritik nicht immer so gelassen,57 wie es die Qualität seiner Arbeit ohne weiteres gestattet hätte. Grundsätzlich ist die Grundausrichtung von Mangoldts als staatstragend, funktionsbezogen und konservativ zu bezeichnen: Über sechzig Jahre später wird man resümieren können, dass es offenbar gerade die von Hermann von Mangoldt beeinflussten Charakteristika waren, die dem Grundgesetz die lange Lebensdauer und den bestimmenden Einfluss auf das politische Geschehen sicherten. Mit seinem Eintreten für das Erfordernis einer einfachen Mehrheit und nicht einer 2/3-Mehrheit des Gesetzes, das Hoheitsrechte i. S. v. Art. 24 Abs. 1 GG überträgt, hat er mit den Grundstein für die heute gegebene internationale Verflechtung und auch die Erleichterung der europäischen Einigung gelegt.58
Auswahlbibliografie von Hermann v. Mangoldt Grundprobleme des deutschen Binnenschifffahrtsrechts, Königsberg, 1928. Neue Fragen aus dem Luftrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Eisenbahn- und verkehrsrechtliche Entscheidungen und Abhandlungen 1930, 146–168. Das Luftrecht der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1930, in: Archiv für Luftrecht, Bd. 1 (1931), 22–43. Löschung von Hypotheken in der Rückwirkungszeit. Unrichtigkeit des Grundbuches und Anwendung des § 892 BGB im Aufwertungsrecht, in: AcP 134 (1931), 81–94. Die preußische Polizeirechtsreform, in: Fischers Zeitung, Bd. 68 (1932), 289–318. Nebenbestimmung bei rechtsgewährenden Verwaltungsakten, in: Verwaltungsarchiv, Bd. 37 (1932), 8–127. Geschriebene Verfassung und Rechtssicherheit in den Vereinigten Staaten, Breslau, 1934. Ärzte und Heilpraktiker in der Rechtsprechung und Gesetzgebung der Vereinigten Staaten von Amerika, in: AöR n. F., Bd. 28 (1937), 155–193. Rechtsstaatsgedanken und Regierungsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika, Essen, 1938. Rassenrecht und Judentum, in: Württembergische Verwaltungszeitschrift 1939, 49–51. Verfassungsrecht und Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Reichsverwaltungsblatt 1940, 485–489. Kriegsdokumente über Bündnisgrundlagen, Kriegsziele und Friedenspolitik der Vereinten Nationen, Hamburg, 1946. Grundsätzliches zum Neuaufbau einer deutschen Staatsgewalt, 1947. Das Kriegsverbrechen und seine Verfolgung in Vergangenheit und Gegenwart, in: Jahrbuch für internationales und ausländisches öffentliches Recht, Bd. 1 (1948), 283–334.
57 Vgl. Hermann von Mangoldt, Rezension von: Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, MDR 1950, 702 f. 58 S. Jellinek, von Mangoldt (Fn. 1), S. 10, 25.3
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Die Kriegsziele der Vereinten Nationen und das Völkerrecht der Nachkriegszeit, Hamburg 1948. San Francisco Charta der Vereinten Nationen, Hamburg, 1948. Zum Beruf unserer Zeit für die Verfassungsgebung, in: DÖV 1948, 51–53. Zur rechtlichen Natur der bizonalen Wirtschaftsverwaltung, in: MDR 1948, 438–442. Die Grundrechte, in: DÖV 1949, 261–263. Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, in: AöR, Bd. 75 (1949), 273–290. Das Bonner Grundgesetz, Berlin/Frankfurt, 1950. Das Völkerrecht in den neuen Staatsverfassungen, in: Jahrbuch für internationales Recht, Nachtragsband 1950/51, 11–25. Der Fraktionszwang, in: SJZ 1950, 336–340. Die Auflösung des Bundestages, in: DÖV 1950, 697–699. Besprechung „Über das Grundgesetz“ von Hans-Peter Ipsen, in: MDR 1950, 702. Ist eine Zwangsmitgliedschaft bei Berufs- und Wirtschaftsverbänden mit dem Grundgesetz vereinbar?, in: Betriebs-Berater 1951, 621 ff. Ist die Änderung des Grundgesetzes erforderlich, um in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit militärisch Verbände aufstellen zu können?, Bonn, 1952.
XXVIII Hans Peters (1896–1966) Wilfried Berg
I. Biographisches Hans Carl Maria Alfons Peters wurde am 5. September 1896 in Berlin geboren. Sein Vater war als Oberpräsident ein hoher preußischer Verwaltungsbeamter, zuletzt Vizepräsident des Provinzialschulkollegiums und stellvertretender Kurator der Universität Münster. Die Wurzeln seiner Familie finden sich im Rheinland und in Westfalen. Nach dem Besuch der humanistischen Gymnasien in Koblenz und Münster studierte er zunächst Mathematik; denn seine Liebe gehörte den Naturwissenschaften, aber: „Nach dem ersten Weltkrieg sagte ich mir, du bist zu dumm geworden für die Mathematik, zur Juristerei reicht es noch“.1 So studierte er dann Rechts- und Staatswissenschaften in Münster, Wien und Berlin. 1921 promovierte er bei Rosenfeld in Münster über das Thema „Verwaltungswidrigkeit und Polizeiwidrigkeit und ihre Beziehungen zur Rechtswidrigkeit“. Schon 1925 folgte in Breslau die Habilitation bei Hans Helfritz mit einer Arbeit über die „Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen“.2 Bis 1928 lehrte er in Breslau als Privatdozent und wurde dann als beamteter außerordentlicher Professor an die Universität Berlin berufen, wo er 1946 einen ordentlichen Lehrstuhl erhielt. Neben dieser wissenschaftlichen Karriere war Peters acht Jahre lang auf allen Stufen der preußischen Staatsverwaltung aktiv – eine Gleichzeitigkeit von Wissenschaft und
1 S. den Bericht „Talar für ein neues Amt“, Kölner Stadt-Anzeiger v. 16.11.1964, S. 6, wo die feierliche Einführung Hans Peters’ in das Amt des Rektors der Universität zu Köln als der „Höhepunkt in der Laufbahn des 68jährigen Emeritus der Verwaltungswissenschaften“ bezeichnet wurde. – Zur Biographie s. insbesondere Ernst Friesenhahn, Nachruf auf Hans Peters, in: Gedächtnisschrift Hans Peters, 1967, S. 1 ff.; Ulrich Karpen, Hans Peters 1896–1966, DÖV 1996, 776 ff.; Klaus Stern, In Memoriam Hans Peters, 1967, S. 7 ff. – Karl Peters, der 1904 in Koblenz geborene, acht Jahre jüngere Bruder, war einer der bedeutendsten Strafrechtslehrer seiner Zeit, dessen „reiches und umfassendes Werk“ als „Mahner und Reformer“ Jürgen Baumann in der Festschrift „Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren“, 1984, S. 1 ff. würdigt. Er setzte sich auf ganz andere Weise als sein „großer Bruder“ für Recht und Gerechtigkeit ein; seine „zutiefst humane und dem Menschen verpflichtete Haltung“ (Baumann) zeigte sich nicht zuletzt in vielen kostenlosen Strafverteidigungen für Studenten, Zeugen Jehovas, für Schwache und Außenseiter. 2 Tiefgreifende Analyse bei Klaus Joachim Grigoleit/Jens Kersten, Hans Peters (1896–1966), Die Verwaltung 30 (1997), S. 366–371.
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Praxis, die sein gesamtes Berufsleben kennzeichnet. Nachdem er beide juristischen Staatsexamina mit Auszeichnung bestanden hatte, war er zunächst zwei Jahre in der Kommunalabteilung des preußischen Innenministeriums tätig. Von 1928–1932 leitete er unter Kultusminister Carl Heinrich Becker das Generalreferat Universitäten. Damit nicht genug: Hans Peters war im besten Sinne auch ein „politischer Professor“.3 Er war seit 1923 Mitglied der Zentrumspartei und wurde 1933 in den preußischen Landtag gewählt. 1945 war er Mitbegründer der CDU und zusammen mit Kurt Landsberg von 1945–1948 Vorsitzender der CDU-Fraktion in der Berliner Stadtverordnetenversammlung und nach seiner Berufung an die Universität zu Köln (1949) von 1952 bis 1961 Ratsherr im Rat der Stadt Köln. Unvergeßlich sind die Leistungen, die Hans Peters für und durch die GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft erbracht hat. Deren Vorsitz übernahm er noch 1940 – kurz bevor sie von den Nationalsozialisten verboten wurde. 1949 war er Wiederbegründer und Vorsitzender der Görres-Gesellschaft bis zu seinem Tode. Unvergeßlich ist auch sein Einsatz als Vorsitzender der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. 1959 leitete er in Wien die erste Tagung außerhalb Deutschlands und erreichte auch den Beitritt Schweizer Kollegen. „Ein Leben im Dienste der Fortbildung“ hat Hans Peters einen Beitrag zur Würdigung des ersten Geschäftsführers des Bundesverbandes Deutscher Verwaltungs- und Wirtschaftsakademien Dr. Fritz Müssigbrodt überschrieben.4 Er selbst hatte die Notwendigkeit der beruflichen Weiterbildung frühzeitig erkannt und sich intensiv insbesondere für die Beamtenfortbildung eingesetzt, von 1928–1950 als Studienleiter der Verwaltungs-Akademie Berlin und danach gleichzeitig als Studienleiter der Verwaltungs-Akademien Aachen und Düsseldorf.5 Bandbreite und Tiefe des wissenschaftlichen Werkes von Hans Peters sind kaum zu ermessen.6 Ein „Klassiker“ ist sein „Lehrbuch der Verwaltung“, 1949, – nicht nur des Verwaltungsrechts! – dem ein groß angelegtes Lehrbuch des Deut-
3 Vgl. Karpen, Fn. 1, S. 778. Ähnliches konnte Hans Zacher über Hans Nawiasky (1880–1961) schreiben, in: Juristen im Portrait, Festschrift 225 Jahre C. H. Beck, 1988, S. 605. Peters seinerseits zählte Nawiasky zur „vorderste(n) Linie der deutschen Staatsrechtslehrer“, JZ 1960, 762 f. in seinem Glückwunsch zu Nawiaskys achtzigstem Geburtstag. – Treffend sieht Stern, Fn. 1, S. 8 f. das politische Wirken Peters’ als die „dritte Grundlage seines weitgespannten Arbeitsfeldes“. 4 Vgl. Peters, in: Die Fortbildung 1/59, S. 15 f. 5 Vgl. Wolfgang Wittmann, Verwaltungs- und Wirtschaftsakademien, 1951, S. 15, 21 ff., 30 ff., 159. Zum vergleichbaren Engagement Hans Nawiaskys ebenda, S. 179 ff.; s. a. Hellmuth Günther, Hans Nawiasky als Staats- und Beamtenrechtler, BayVBl. 2011, 453 f. m. w. N. 6 S. das Verzeichnis der Schriften und Aufsätze in der Gedächtnisschrift Hans Peters, 1967, S. 977–985 und die Würdigungen z. B. bei Stern, Fn. 1, S. 10 ff.; Grigoleit/Kersten, Fn. 2.
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schen Staatsrechts hätte folgen sollen.7 Die Herausgabe des monumentalen dreibändigen „Handbuch(s) der kommunalen Wissenschaft und Praxis“ (1956–1959) ist das Ergebnis seiner steten Beobachtung und Begleitung der Praxis, „derentwegen schließlich die Rechtswissenschaft betrieben wird“.8 Für sein Werk und Wirken hat Peters zahlreiche eindrucksvolle Ehrungen erfahren. Er war Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, Komtur mit Stern des Ordens vom Hl. Gregorius und Ritter vom Heiligen Grab. Die Universität Löwen (Belgien) verlieh ihm 1962 die Ehrendoktorwürde. Die feierliche Einführung in das Amt des Rektors der Universität zu Köln wurde in der Presse als „Höhepunkt in der Laufbahn des 68jährigen Emeritus“ bezeichnet.9 Eine besondere Ehre war es für ihn, zum zehnten Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953 im Bundeshaus in Bonn die Gedenkrede halten zu können.10 – An seinem Seelenamt nahm Kardinal Frings teil. Die zu seinem 70. Geburtstag geplante Festschrift konnte nur als Gedächtnisschrift erscheinen. Zwanzig Jahre nach seinem Tod wurde die Petersallee in Berlin-Wedding, die zuvor Carl Peters gewidmet war, im Zuge einer Umwidmung nach ihm benannt.
II. Die dramatischsten Epochen der deutschen Geschichte Aufgewachsen und erzogen im Kaiserreich, erlebte Peters den ersten Weltkrieg, Entstehung und Ende der ersten deutschen Republik, den Terror des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und dessen Untergang im zweiten Weltkrieg, die Herrschaft des Kommunismus in Ost- und Mitteldeutschland und den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. In den beiden Weltkriegen stand er fast zehn Jahre im Kriegsdienst, zunächst als Hauptmann und später als Major.
7 Der Entwurf eines ersten Teils wurde 1969 von Peters’ Schülern Jürgen Salzwedel und Günter Erbel unter dem Titel: Hans Peters, „Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung“ herausgegeben. 8 S. nur Friesenhahn, Fn. 1, S. 3. 9 S. Kölner Stadt-Anzeiger, Fn. 1. 10 Peters, Verpflichtung für Gesamtdeutschland, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. Juni 1963, Nr. 104/S. 922 ff.
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1. Wirken in der Weimarer Republik Mit dem sog. „Preußenschlag“ hatte Reichspräsident von Hindenburg durch eine auf Art. 48 WRV gestützte Notverordnung „betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen“ vom 20. Juli 1932 den amtierenden Reichskanzler von Papen zum Reichskommissar für das Land Preußen eingesetzt und ihn unter anderem ermächtigt, die preußische Landesregierung abzusetzen. Peters vertrat im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches die preußische Landtagsfraktion der Zentrumspartei. Eindringlich warnte Peters davor, der Argumentation Carl Schmitts zu folgen, denn andernfalls könne „letzten Endes die ganze Weimarer Verfassung durch Maßnahmen des Art. 48 Abs. 2 außer Kraft gesetzt werden“.11 Das Gericht folgte Peters im wesentlichen nicht, und so kann die Entscheidung des Staatsgerichtshofs als „Vorspiel“ für die folgende Beseitigung des Föderalismus in Deutschland durch den Nationalsozialismus gesehen werden.12
2. Widerstand gegen Nationalsozialismus und Kommunismus Schon in seiner Breslauer Zeit war Peters in Kontakt zu Helmuth James Graf von Moltke gekommen, der als Korrespondent einer amerikanischen Zeitung den Preußenschlag-Prozeß beobachtet hatte.13 Im Sommer 1940, nach Hitlers Siegen in Frankreich und Norwegen, wurde ein Widerstandskreis gegründet, der „Kreisauer Kreis“, benannt nach dem schlesischen Landgut des Grafen von Moltke.14 In diesem Kreis engagierte sich Peters bei der Erarbeitung des Kulturprogramms, das die Basis bilden sollte für die erst danach erarbeiteten Stellungnahmen zu
11 Vgl. Peters, in: A. Brecht (Hrsg.), Preußen contra Reich, 1933, S. 341. Durch das nationalsozialistische Ermächtigungsgesetz zur „Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933 wurde der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung überhaupt aufgehoben, vgl. Wilhelm Mößle, Die Verordnungsermächtigung in der Weimarer Republik, in: Möller/Kittel (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40 – Beiträge zu einem historischen Vergleich, S. 273 f., S. 279 f. zu Art. 48 Abs. 2 WRV und S. 278 zur Kritik an Carl Schmitt. Zum Verhältnis zwischen Peters und Carl Schmitt s. Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 372 f. S. a. Karpen, Fn. 1, S. 777: Eine Karriere an der Universität Berlin, wo Carl Schmitt wirkte, sei Peters nach 1933 versagt gewesen. 12 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 122; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rn. 518 ff., 522, 577 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 705 ff. Zum Hintergrund s. a. Peters, Fn. 7, S. 83 f. 13 Dazu Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 373 f. m. w. N. 14 Zur Zusammensetzung des Kreisauer Kreises Stern, Fn. 12, S. 895 f.
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Staatsaufbau, Wirtschaft und Außenpolitik. Individuelle Bildung und Verantwortung in Familie, Schule und Kirchen und die kommunalen SelbstverwaltungsGemeinschaften sollten letztlich auch die organisatorischen Grundlagen für den Staatsaufbau legen.15 Auch wenn Peters’ aktives Engagement im Widerstand ihn zur „Ausnahmefigur unter den Staatsrechtslehrern seiner Zeit macht“ (Grigoleit/Kersten), fällt die Interpretation mancher seiner „offiziellen“ Schriften nicht leicht, „die – teils verhalten – Zustimmung signalisieren“, auch wenn man sich bemüht, „zwischen den Zeilen zu lesen“.16 Zu bedenken ist dabei, daß sich Peters z. B. im Jahre 1936 mit Sicherheit nicht hat vorstellen können, daß der totale Staat des Nationalsozialismus auf den totalen Krieg und dann bewußt auf seinen Untergang zusteuerte – daß dieser Staat kein Interesse an seiner Selbsterhaltung mehr hatte und so weder Rechtsstaat sein konnte noch gar mußte.17 Peters war zutiefst überzeugt von der Kraft der sittlichen Werte, die die Basis einer freiheitlichen Grundordnung bilden und die letztlich nicht außer Kraft gesetzt werden können.18 Er hat wohl geglaubt, zeitgebundene politische Strömungen und daraus resultierende totale Machtansprüche durch Verträge und kluge Schachzüge bändigen zu können. In jedem Fall werde aber – sollte sich der Staat z. B. nicht an das Konkordat halten – die Kirche Kraft des Glaubens ihrer Angehörigen und der sie verbindenden Werte den „Endsieg“ davontragen.19 Unmittelbar nach der Machtergreifung, als sich Hans Nawiasky mit Glück gerade noch in die Schweiz retten und der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung durch die Gestapo entziehen konnte, sah Peters es als „klugen Schachzug“, den damaligen Staatssekretär und späteren Reichsminister Hans-Heinrich Lammers zur Übernahme der Führung des Reichsverbandes Deutscher Verwaltungsakademien zu bewegen. Damit war zwar die Umorganisation nach dem „Führerprinzip“ und die „Gleichschaltung“ der Akademien eingeleitet. Aber Lammers hatte „Verständnis für eine fachliche Fortbildungsarbeit“. Nur etwa 15 % der Vorlesungen
15 Ausführlich dazu Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 375 ff. m. w. N. S. ferner L. von Trott zu Solz, Hans Peters und der Kreisauer Kreis: Staatsrechtslehrer im Widerstand, 1997. 16 Letztere „Anweisung“ gibt Peters später selbst, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 19. – Zur Problematik mit umfangreichen Textbelegen Grigoleit/Kersten, Fn. 2, z. B. S. 379 ff. 17 S. aber Peters, Totaler Staat und die Kirche, in: Kleineidam-Kuss (Hrsg.), Die Kirche in der Zeitenwende, 1936, S. 321 f. – Zum „Nero“-Befehl Hitlers vom 19. März 1945 und zu seinen – an den Schlußmonolog des Rienzi in Wagners früher „großer tragischer Oper“ gemahnenden – Bemerkungen gegenüber Albert Speer, das deutsche Volk habe sich als das schwächere erwiesen und nur die Minderwertigen blieben übrig s. Stern, Fn. 12, S. 888 ff. 18 S. dazu Peters, Rede zum zehnten Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, Fn. 10, S. 925. 19 Vgl. Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 380.
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an den Akademien enthielten „weltanschauliche Schulung“ durch die NSDAP, während der fachliche Charakter der Arbeit der Verwaltungs-Akademien erhalten blieb, „so daß nach 1945 die Wiederaufnahme der Tradition von 1933… möglich war …“.20 Als Ordinarius an der Humboldt-Universität Berlin und zugleich als der erste Dekan der Juristischen Fakultät mußte er erleben, daß in West-Berlin die Freie Universität gegründet wurde. Bis zuletzt stand er dazu, Gegner dieser politischen Neugründung gewesen zu sein: „Man sollte so lange wie möglich in Ost-Berlin bleiben“.21 Nach Ablehnung ehrenvoller Rufe an die Universitäten Freiburg und München und nach langem Zögern nahm er endlich zum 1. Oktober 1949 den Ruf an die Universität zu Köln an.22 Als Mitglied der CDU in der Berliner Stadtverordnetenversammlung hatte Peters wiederum mit viel Optimismus geglaubt, Zugeständnisse der SED bei der Schaffung der Landesverfassungen in der sowjetischen Besatzungszone erreichen zu können.23 Auch sein Widerstand gegen die Errichtung des zentralistischen SED-Regimes blieb letztlich vergeblich. Ebenso wie bei der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten fehlte ihm auch beim Aufbau des kommunistischen Regimes in Mitteldeutschland die Vorstellung dafür, daß ein Staat ideologische Ziele durch seine Perversion zum Unrechtsstaat verfolgen und erreichen könnte.
3. Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg Nach der Erfahrung von zwei Unrechtsstaaten24 in Deutschland setzte sich Hans Peters nach dem zweiten Weltkrieg mit aller Kraft wissenschaftlich, poli-
20 Vgl. Peters, Fn. 4, S. 15 f. S.a. Wittmann, Fn. 5, S. 21 ff., 155 ff., 179 ff. 21 S. Kölner Stadt-Anzeiger, Fn 1. 22 S. dazu Friesenhahn, Fn. 1, S. 5; Stern, Fn. 1, S. 8. – Im Jahre 1388 hatte Papst Urban VI. dem Rat der freien Stadt Köln das Recht zur Gründung einer Universität verliehen. Die Universität zu Köln pflegte Partnerschaften mit den Universitäten Clermont-Ferrand (Frankreich) und Kabul (Afghanistan). An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät lehrten etwa Hans Kelsen von 1930– 1933, Hans Carl Nipperdey, der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Hermann Jahrreiß (s. den Nachruf von Klaus Stern, Hermann Jahrreiß – Persönlichkeit und Werk, AöR 119, 1994, S. 137–155), Heinrich Lehmann, Gerhard Kegel, Walter Erman und Karl Carstens – Bundespräsident von 1979–1984. 23 Stern, Fn. 12, S. 1064 meint, Peters „urteilte wohl etwas zu euphemistisch“ über die „dosierte Nachgiebigkeit“ der SED; zur gänzlichen Abschaffung der Länder in der DDR S. 1068 f. 24 Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 394 f. sehen die Unrechtserfahrung als „Kern- und Wendepunkt von Person und Werk Hans Peters’“; seine engagierte Gegnerschaft zum Unrechtsstaat hebe ihn weit aus der Menge anpassungsfähiger deutscher Staatsrechtslehrer heraus. – Zur Instrumenta-
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tisch und als akademischer Lehrer dafür ein, die freiheitliche demokratische Grundordnung „auch geistig zu festigen und hier eine staatliche Gemeinschaft zu entwickeln, die von innen her so gekräftigt und vorbildlich ist, daß sie ihre nationale Aufgabe auch den zwangsweise ferngehaltenen Deutschen drüben gegenüber voll erfüllen kann und auf sie anziehend wirkt … Nur eine sittlich untermauerte Demokratie kann auf die Dauer Bestand haben. Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie!“25 Er führte kein „stilles Gelehrtenleben“ wie Rudolf Smend,26 dessen Integrationslehre er aus der Praxis heraus im Staatsbewußtsein der Bürger effektiv werden lassen wollte.27 Zugleich war in ihm angelegt, seine wissenschaftlichen Lehren zu leben im Sinne einer Einheit von Forschung, Lehre und Gestalten als aktiver Demokrat und Republikaner.
a) Freie Entfaltung der Persönlichkeit Im Zentrum aller Ordnung steht für Hans Peters die Persönlichkeit des einzelnen. „Der Mensch als das Primäre bedarf der Ergänzung durch die Familie, die freiwilligen Gemeinschaften und schließlich durch den Staat. Letzterer hat danach nur subsidiär in Funktion zu treten, wobei kaum bestritten ist, daß der moderne Massenstaat sehr viel mehr Bedürfnisse zu erfüllen hat als es dereinst bei den Stadtstaaten und überhaupt in der Vergangenheit üblich war“.28 Mit dem „Personalis-
lisierung des Rechts im Kommunismus Wilfried Berg, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, 1992, S. 49 f. 25 Peters, Fn. 10, S. 926. 26 S. Axel Frh.von Campenhausen, Rudolf Smend 1882–1975, JöR NF 56, 2008, 229. 27 Vgl. Peters, Fn. 10, S. 924 unter ausdrücklicher Berufung auf Rudolf Smend. 28 Vgl. Peters, Fn. 7, S. 213. S.a. Hans Peters, Zu den Grenzen der staatlichen Versicherungsaufsicht, in: Festschrift für Heinrich Lehmann zum 80. Geburtstag, 1956, II. Band, S. 894: „Das allgemeine Sicherheitsbedürfnis des modernen Menschen, dem der heutige Staat auf Kosten der Freiheit mehr und mehr nachgibt, sowie das für das ständige Überhandnehmen der staatlichen Beschränkungen der Freiheit charakteristische Perfektionsstreben, nicht zuletzt aber auch das fast jeder Behörde innewohnende Verlangen, ihre Zuständigkeit auszuweiten, gepaart mit der Bequemlichkeit der davon betroffenen Bürger, haben auch im Privatversicherungswesen zu einer Ausdehnung der staatlichen Aufsichtsbefugnisse geführt, die gelegentlich mit den sonst so gern betonten Gedanken der sozialen Marktwirtschaft wie des Rechtsstaats in Widerspruch steht und – trotz oder gerade wegen der Macht der Gegenkräfte- eine Besinnung auf einige grundlegende rechtliche Überlegungen erheischt. … Zu den aktuellen Aufgaben der Wissenschaft vom öffentlichen Recht gehört es, durch Klarstellung der wahren Rechtslage den alles überwuchernden Tendenzen des modernen Verwaltungsstaates auf Ausdehnung seiner Tätigkeit entgegenzutreten“.
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mus“ findet er „einen Mittelweg zwischen Individualismus und Kollektivismus in der gemeinschaftsgebundenen Individualität und nimmt damit die herrschende Interpretation der grundgesetzlichen Ordnung vorweg“.29 Nach der von ihm entwickelten „Persönlichkeitskerntheorie“ bedeutet freie Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes die Auswirkung des echten Menschentums im Sinne eines christlich-humanistischen Ideals. Keinesfalls könne aus Art. 2 Abs. 1 GG ein subjektives Verfassungsrecht darauf abgeleitet werden, alles zu tun oder zu unterlassen, was nicht verboten ist. Freie Entfaltung der Persönlichkeit könne in ihrem wahren Sinne allein dem menschlichen Individuum vorbehalten sein, weshalb Art. 2 Abs. 1 GG seinem Wesen nach auf juristische Personen unanwendbar sei.30 Dabei gelte selbst dieses „wichtigste und bedeutendste Freiheitsrecht“ nicht schrankenlos. Die im „Soweit“-Satz enthaltene Einschränkung durch die „verfassungsmäßige Ordnung“ sei keine Einschränkung durch jedes formelle Gesetz sowie jede sonstige gültige Rechtsnorm. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Elfes-Urteil vom 16.Januar 1957 (BVerfGE 6, 32) Art. 2 Abs. 1 GG als Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit mißverstehe, dann müsse es diesen Fehler durch einen weiteren Fehler korrigieren und die Schranken dieses Freiheitsrechts auf die gesamte Rechtsordnung erstrecken.31 – Die Zeit ist über die Persönlichkeitskerntheorie hinweggegangen. Peters’ Kampf gegen die „Trivialisierung“ des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat dennoch Bleibendes hinterlassen. In Reaktion auf die wertindifferente Interpretation der Weimarer Verfassung und auf die totalitäre Ideologie des Nationalsozialismus hat Peters die Verantwortung des einzelnen in der Gemeinschaft für die werthafte und wehrhafte Demokratie nicht nur für die junge Bundesrepublik sondern für alle Zeit ins öffentliche Bewußtsein der Deutschen gebracht.
b) Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt Peters’ Bekenntnis zu gemeinwohlbezogenem, verantwortungsbewußtem Gestalten hat auch sein Verständnis der öffentlichen Verwaltung geprägt. Die öffentliche Verwaltung war auch nach dem zweiten Weltkrieg als „eigenständige Staatsgewalt“ Schwerpunkt seiner Forschung und seines politischen Engagements.32
29 Vgl. Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 384 mit Nachweis in Fn. 162; zur Kritik S. 387. 30 Vgl. Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 669 ff.; ders., Die Zulassung von Hypothekenbanken, 1959, S. 33 f. 31 Vgl. Peters, Fn. 7, S. 205 f., 263 f. 32 Vgl. Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 389 ff.
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Wenn es um die Definition des Verwaltungsbegriffs ging begnügte er sich nicht mit der simplen negativen Bestimmung, daß Verwaltung diejenige Staatsgewalt sei, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung betreibe.33 Mit Akribie arbeitet er heraus, daß die Exekutive ganz maßgeblich an der Entwicklung und Formulierung der Parlamentsgesetze und durch Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsakte an ihrer Konkretisierung und Geltung in der Praxis beteiligt ist. Ebenso zeigt er auf, daß die Verwaltungsbehörden über Widerspruchs- und Bußgeldverfahren durchaus auch Aufgaben wahrnehmen, die man gemeinhin der Judikative vorbehalten glaubt. Das Gewaltenteilungsprinzip sei insoweit nur noch „Baustein“ oder „Leitsatz“ des geltenden Verfassungsrechts. Mit Vehemenz hat er sich gegen die Lehre vom „Totalvorbehalt“ gewehrt. Dagegen sei die Freiheitsidee der Gewaltenteilungslehre ohne jede Einschränkung durchzuhalten, weil sie dazu zwinge, die Staatsmacht verschiedenen Organen anzuvertrauen und so die Freiheit des einzelnen schütze: „Nicht im Pluralismus liegt die Hauptgefahr für den heutigen Staat, sondern in der Diktatur, d. h. in der Ansammlung der Macht in der Hand eines einzelnen oder einiger weniger, und zwar um so mehr, als die moderne Technik und das Angewiesensein fast aller Bürger auf die summierte Unterstützung durch die öffentliche Hand … in stärkerem Maße als früher den Einzelnen hilflos dem Staat auszuliefern drohen“.34 Anders als die Rechtsprechung ist die Verwaltungstätigkeit aus Peters’ Sicht nicht notwendig vom Gesetz gesteuert, sondern weitgehend „selbstinitiative und allein an der Staatsidee orientierte Gestaltung“.35 Wesentliches Merkmal ist für ihn das „freie Ermessen“. „Seinem Temperament entsprach hier der aktive und gestaltende Landrat oder Oberpräsident alten preußischen Stils weit mehr als der ängstlich nach Rechtsnormen suchende, Verwaltungsgericht und Rechnungshof fürchtende Verwaltungsbeamte“.36 So wie der Wert der Persönlichkeit Bezugspunkt der Grundrechte und Ausgangspunkt des demokratischen Aufbaus von unten nach oben ist, so kommt es Peters in der öffentlichen Verwaltung „in erster Linie auf die Persönlichkeit der höheren Verwaltungsbeamten und ihre innere weltanschauliche Einstellung“ an.37 Die Aufbaujahre der Bundesrepublik Deutschland waren vielerorts ohne Zweifel von dieser Haltung geprägt. Die seitdem ungebrochene, stetig steigende Flut immer engmaschigerer bundes-
33 Zum Streit um die Methoden, den Begriff der Verwaltung im materiellen Sinne näher zu bestimmen Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 1 Rn. 5 ff. Zum Bemühen Peters’ um eine „Positivdefinition“ der Verwaltung Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 391. 34 Vgl. Peters, Fn. 7, S. 184 ff. mit Fn. 141 und S. 193. 35 Vgl. Grigoleit/Kersten, Fn. 2, S. 391 f. 36 Vgl. Stern, Fn. 1, S. 15. 37 Vgl. Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 26.
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einheitlicher Gesetze, die Unzahl ständig aktualisierter und verfeinerter Verwaltungsvorschriften, die ausufernde Überwachung durch Rechnungshöfe und durch Gerichte aller Arten und auf allen Ebenen mit der von Peters bekämpften „Subjektivierung“ der Verwaltungskontrolle nehmen einer auf Gestaltung angelegten Persönlichkeit des Verwaltungsbeamten die Luft zum Atmen. Gleichwohl haben empirische Forschungen ergeben, daß selbst dort, wo die Verwaltung nahezu einheitliche Gesetze vollzieht, sich die Verwaltungspraxis ganz erheblich voneinander unterscheidet.38 In neuen Aufgabenfeldern wie der Regulierungsverwaltung müssen die Behörden inzwischen zunehmend wieder Gestaltungsaufträge ausführen. Die finale Programmierung ihres Handelns durch die Gesetze gewährt ihnen einen Raum administrativer Letztentscheidung, den das Bundesverwaltungsgericht als „Regulierungsermessen“ bezeichnet.39 Die europäische Entwicklung gibt darüberhinaus zunehmend Anlaß, selbst Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive erneut zu diskutieren.40 Die „Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt“41 bleibt Thema.
III. Versuch einer Würdigung Hans Peters war der „unruhige Mann, der viel unterwegs war“.42 Auch er hatte nur ein Leben, das völlig unerwartet und viel zu früh zu Ende ging; aber er führte viele
38 Dazu Wilfried Berg, Verwaltung in einem Europa der Regionen, in: Liber Amicorum für Peter Häberle, 2004, S. 425 ff. mit Nachweisen zur Einbürgerungspraxis in verschiedenen Regionen Deutschlands und Frankreichs. 39 Vgl. Joachim Wieland, Regulierungsermessen im Spannungsverhältnis zwischen deutschem und Unionsrecht, DÖV 2011, S. 705 ff. S. a. Christoph Ohler, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, DVBl 2011, S. 1061 ff., 1068 zur umfassenden sachlichen Unabhängigkeit der drei europäischen Finanzmarktbehörden, die durch den europäischen Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2011 geschaffen wurden und über „denkbar weite Ermessensspielräume und rein generalklauselartige Befugnisse verfügen“. 40 Vgl. Markus Möstl, Rechtsetzungen der europäischen und der nationalen Verwaltungen, DVBl 2011, 1076 ff. – Zur Entwicklung und zum Scheitern der „gouvernementalen Normsetzung“ in der Weimarer Republik s. Mößle, Fn. 11, S. 274 ff. 41 So der Titel der 1965 veröffentlichten, am 16. November 1964 „überraschend temperamentvoll“ vorgetragenen Rektoratsrede Peters’, vgl. Kölner Stadt-Anzeiger vom 17. November 1964, S. 22: „Gemessenen Schrittes ins Amt“. S. auch Stern, Fn. 1, S. 15 f.; Jürgen Salzwedel, Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt – zur Bedeutung des Lebenswerkes von Hans Peters heute, in: Jahres- und Tagungsberichte der Görresgesellschaft 1996, 1997, S. 23 ff. 42 Vgl. Friesenhahn, Fn. 1, S 1.
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Leben zu selben Zeit, er besaß die „Gabe der Bilokation“,43 und zwar so, daß er sich – wo immer er war – stets mit vollem Einsatz engagierte. Es konnte sein, daß man ihm in der Pause eines Gürzenichkonzertes begegnete, wie er Manuskripte und Seminararbeiten korrigierte – gleichzeitig voll konzentriert auf das Konzert, auf Kultur und Wissenschaft. Er war begeisterter und begeisternder Lehrer, der in seinem hervorragend ausgestatteten Institut für Verwaltungswissenschaften nicht nur seinen Mitarbeitern, sondern auch manchem interessierten Studenten einen Arbeitsplatz für Seminar- und Hausarbeiten und Entfaltungsraum in der Massenuniversität bot. In seinem Seminar, in seinen Vorlesungen und Übungen hat er als Mentor die Studienwahl und den Berufsweg ungezählter Schüler nachhaltig bestimmt. Auch hier motivierte ihn die Unrechtserfahrung des Nationalsozialismus, eine Erfahrung, die er der akademischen Jugend weitergeben mußte: „Als die Welle des Nationalsozialismus über Deutschland hereinbrach, standen ihr allzu zahlreiche Juristen hilflos gegenüber und ließen sich durch die Technik formaler Legitimität blenden …“.44 Er war Kommunalpolitiker und Weltmann, der „Staatsgesinnung und Weltoffenheit zu verbinden wußte“.45 Mit seiner profunden Kenntnis des Hochschulrechts und mit seinen jahrzehntelangen Erfahrungen in Staats- und Universitätsverwaltung schuf er die Verfassung der Universität zu Köln von 1963 und verwirklichte sie im Anschluß als Rektor des Amtsjahres 1964/65 in der Praxis.46 Wo immer er wissenschaftlich arbeitend, akademisch lehrend und mit zupackendem Griff politisch gestaltend tätig war wanderte sein „Falkenblick“ unablässig zwischen Leben und Rechtsordnung, zwischen Sein
43 Wie er selbstironisch bemerkte, wenn er auf mehreren Veranstaltungen „synchron“ auftauchte, vgl. Karpen, Fn. 1, S. 782. 44 Vgl. Peters, Fn. 7, S. 58 zugleich mit einem flammenden Plädoyer für das Studium des öffentlichen Rechts. S. a. Stern, Fn. 1, S. 6 zu Peters’ begeisterter Betreuung der akademischen Jugend; ebenso Karpen, Fn. 1, S. 776. 45 Vgl. Stern, Fn. 1, S. 20. 46 Vgl. Stern, Fn. 1, S. 17/18; Karpen, Fn. 1, S. 777.- § 1 der Verfassung der Universität zu Köln von 1963 lautete: „(1) Die Universität ist eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die in Freiheit des Forschens, Lehrens und Lernens der Wissenschaft zu dienen berufen ist und sich bei ihrem Dienste dem Wohle des Volkes und den völkerverbindenden Idealen verpflichtet weiß. (2) Es ist im besonderen ihre Aufgabe, die studierende Jugend zu wissenschaftlichem Denken und Urteilen zu erziehen und sie dadurch auf Berufe vorzubereiten, die eine wissenschaftliche Bildung erfordern. (3) Die Universität zu Köln führt auch die Tradition der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau fort“.
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und Sollen hin und her. Der „Blick auf die Praxis, derentwegen schließlich die Rechtswissenschaft betrieben wird“47 hat sein gesamtes Berufsleben geprägt. Hans Peters war gläubiger Katholik, der fest zu seiner Kirche stand, auch in einer Zeit, als dazu viel Mut gehörte.48 Und zugleich war er – wie der Renaissancemensch und Protestant Ulrich von Hutten – doch „kein ausgeklügelt Buch“, sondern „ein Mensch in seinem Widerspruch“ (Conrad Ferdinand Meyer). Der Blick auf sein Leben ergibt kein homogenes Bild, so wie der Blick auf die vier extrem widersprüchlichen Staatsverfassungen, die die siebzig Jahre währende dramatischste Epoche der deutschen Geschichte geprägt haben und die er durchlebt hat. Es bleibt das Faszinosum seiner Persönlichkeit für die nach Vorbildern suchenden jungen Juristen,49 weitergetragen im Leben und Wirken seiner Schüler. Und es bleibt die ewige Aufgabe der freien Entfaltung der Persönlichkeit, des in sittlicher Verantwortung und Disziplin gemeinschaftsgebundenen Individuums – der Angelpunkt seines Lebenswerks.
Auswahlbibliographie Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, 1926 Das Notverordnungsrecht nach Art. 55 der Preußischen Verfassung, VerwArch Bd. 31, 1926, S. 375 ff. Zentralisation und Dezentralisation, 1928 Totaler Staat und die Kirche, in: Kleineidam-Kuss (Hrsg.), Die Kirche in der Zeitenwende, 1936, S. 303 ff. Staatsidee und öffentliche Verwaltung, in: Görresgesellschaft (Hrsg.), Drei Vorträge vor der Limburger Generalversammlung 1935, 1936, S. 25 ff. Zwischen Gestern und Morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage, 1946 Deutscher Föderalismus, 1947 Problematik der deutschen Demokratie, 1948 Rechtsstaat und Verwaltung, 1949 Lehrbuch der Verwaltung, 1949 Die Stellung des Bundes in der Kulturverwaltung nach dem Bonner Grundgesetz, in: Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 292 ff. Aktuelle Probleme des Verfassungsrechts im Landkreis, 1953
47 Vgl. Peters, Zentralisation und Dezentralisation, 1928, S. 1; ders., Fn. 7, S. 59. Siehe auch oben im Text zu Fn. 8. 48 Vgl. Friesenhahn, F. 1, S. 3: Hans Peters war ein „aufrechter Demokrat mit einem untrüglichen Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, er war aber auch ein mutiger Mann“, wie nicht zuletzt sein Einsatz im „Preußenschlag“-Prozeß bewies. 49 Vgl. Jürgen Salzwedel und Günter Erbel, in: Hans Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, Vorwort S. VI.
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Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S 669 ff. Auslegung der Grundrechtsbestimmungen aus der Geschichte, in: Historisches Jahrbuch 1953, S. 457 ff. Fortgeltung rechtsstaatswidrigen Reichsrechts aus der nationalsozialistischen Ära? In: Christliche Existenz und Erziehung, Ehrengabe an Johann Steffes, 1953, S. 150 ff. Die Zuständigkeit des Bundes im Rundfunkwesen, 1954 Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, VVDStRL 11, 1954, S. 177 ff. Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954 Kombination verschiedener Verfassungsgrundsätze als Mittel der Verfassungsauslegung, in: Festschrift für Karl Arnold, 1955, S. 117 ff. Elternrecht, Erziehung, Bildung und Schule, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. IV, 1. Halbband, 1960, S. 369 ff. Die Positivierung der Menschenrechte und deren Folgen, in: Festschrift für Johannes Messner, 1961, S. 363 ff. Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen innerhalb der Widerstandsbewegung gegen Hitler, 1961 Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt, 1965 Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, bearbeitet von Jürgen Salzwedel und Günter Erbel, 1969
XXIX Carlo Schmid (1896–1979) Michael Kilian
I. Ein Exot als Wanderer zwischen zwei Welten Carlo Schmid ist der einzige deutsche Staats- und Völkerrechtler, der fast sein ganzes Berufsleben, nicht nur eine bestimmte Periode daraus, der Politik gewidmet hat. Allenfalls Walter Hallstein, dem Schmid in der Außen- und Europapolitik öfters begegnet ist und der zugleich Professorenkollege in Frankfurt war, sowie Karl Carstens sind als Zivil- und Wirtschaftsrechtler bzw. Völkerrechtler vergleichbare Beispiele. Als Jurist bewegte sich Schmid im Grenzbereich von Politik, Kunst und Wissenschaft zugleich, als Ästhet und Dichter, Bundes- und Landespolitiker, Professor für Staats- und Völkerrecht wie für Politikwissenschaften, Parteipolitiker, Außen- und Verfassungspolitiker formte er eine Ausnahmeerscheinung sowohl der deutschen Politik wie der deutschen Rechtswissenschaft. Carlo Schmid ist mit dieser Kombination in der deutschen Nachkriegspolitik wie in der deutschen Rechtswissenschaft eine Einzelerscheinung geblieben, er hat keine Nachfolger gefunden. Einzig der Staatsrechtler Peter Schneider ist – in allerdings nicht annähernd vergleichbarer Weise – ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Literatur und (Hochschul-)Politik gewesen.1 Kind des Kaiserreichs, in den Wirren der Weimarer Republik seinen Weg suchend, die Zeit des Nationalsozialismus durchlebend und durchleidend, ergriff Schmid die Chance zur Wiedergeburt Deutschlands nach der Katastrophe in einer „deutschen Republik“ humaner Demokratie, eingebettet in ein befriedetes Europa. Intellektueller Parteipolitiker oder doch eher parteigebundener Intellektueller? Ein „echter“ Parteipolitiker war er sicher nicht, und keiner in seiner Partei, der SPD, sah ihn so. So sehr die Juristerei, und vor allem die Staats- und Völkerrechtswissenschaft, sein Denken prägten: ein „Juraprofessor“ und Staatsrechtsordinarius im klassischen Sinn zu sein, entsprach ebenfalls nicht seiner Natur, so sehr er sich in- und außerhalb der Universität als „Lehrer“ fühlte. Schmid war in seinen Anfängen wissenschaftlicher Referent für Völkerrecht, er war (Wieder-)Gründungs-Mitherausgeber des Archivs des öffentlichen Rechts, er gehörte der Vereinigung der deutschen
1 Peter Schneider, Carlo Schmid zum 70. Geburtstag, AöR 92 (1967), S. 136.
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Staatsrechtslehrer von 1950 bis zu seinem Tod 1979 an,2 er war aber auch seit 1952 Mitglied des PEN-Clubs. Er verkörperte so eine einzigartige Mischung aus Politiker, Wissenschaftler und sozial empfindendem Humanisten: Künstlernatur und Philosophentum prägten sein Grundverständnis, das er als homme de lettres, bonvivant, gourmet, ja zuweilen auch als libertin auslebte – nicht ohne Grund treffen all diese ur-französischen Charakterisierungen auf den Halbfranzosen Carlo Schmid zu. In der spießigen Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik oft ein geheimes oder auch offenes Ärgernis.
II. Lebensgang Über Carlo Schmids Leben geben seine Autobiographie und zwei Biographien Auskunft. Seine gut lesbaren „Erinnerungen“ (1979) unterliegen, wie bei Autobiographien wohl unvermeidlich, der persönlichen Gewichtung, auch der Selbstzensur.3 Wissenschaftlichen Ansprüchen genügen die Portraits von Gerhard Hirscher von 1986 und vor allem von Petra Weber aus dem Jahr 1996. Geboren wurde Carlo Schmid am 3.12.1896 in Perpignan, wo sein Vater als Lehrer deutsch und englisch unterrichtete. Schmid wuchs als verwöhntes, zugleich aber streng und bildungsbürgerlich erzogenes Einzelkind in einem Lehrerhaushalt zunächst in Weil der Stadt, dann in Stuttgart auf.4 Sein breit gebildeter Vater entstammte einer bodenständigen Bauern- später Gastwirtsfamile aus der schwäbischen Ostalb, konnte studieren und suchte sich als Sprachlehrer in Frankreich eine Existenz. Dort heiratete er Anna Erra, ebenfalls Lehrerin, die in einer Weinbauern und Weinhändlersfamilie im südfranzösischen Roussillon verwurzelt war. Getauft auf den Namen Karl, in der Familie Charlot gerufen, wan-
2 Zunächst wurde Schmid im Mitgliederverzeichnis als „Karl“, später als „Carlo“ bezeichnet. Auch noch Publikationen nach 1946 unterzeichnete Carlo Schmid mit dem Vornamen Karl und er wurde auf den Tübinger Lehrstuhl auch unter diesem Vornamen berufen; auch als AöR-Mitherausgeber firmierte er unter Karl Schmid. 3 Marc Beise, Carlo Schmid als Vorbild. Zur Einheit von Geist, Recht und Politik, in: M. Kilian (Hg.), Dichter, Denker und der Staat, Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, Tübingen 1993, S. 91 ff. (100 Anm. 29). 4 Über Schmids Leben ist natürlich seine Autobiographie „Erinnerungen“ von 1976 eine Primärquelle, die aber, wie stets bei Memoiren üblich und unvermeidlich, der persönlichen Gewichtung und Filterung der Ereignisse und Motive unterliegt. Eine gründliche Recherche, die alles so weit wie möglich im Leben von Schmid ausleuchtet, enthält die wissenschaftliche Biographie von Petra Weber aus dem Jahr 1996. Auf beide Publikationen stützt sich der folgende Lebensabriss von Carlo Schmid.
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delte sich Schmids Vorname in Deutschland in Carlo. Dieser Name blieb ihm auf seinem späteren Lebensweg erhalten.5 Carlo Schmid verlebte eine eher einsame Kindheit.6 Als Schüler war er ein Spätentwickler, bis in seine Studentenzeit plagte ihn Schüchternheit; im Schwäbischen ließ ihn seine halbfranzösische Herkunft zum Außenseiter werden. Erst später fand er in der Wandervogel-Bewegung einen Kreis Gleichgesinnter, in dem er sich wohlfühlte. Der große Rhetor, Charmeur und Causeur zeigte sich jedenfalls in seiner Kindheit und Jugend noch nicht. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg begann Leutnant a. D. Schmid im Frühjahr 1919 in Tübingen sein Studium. Erst hatte es Medizin sein sollen, dann überredete ihn ein Freund zum Jurastudium. Später bekannte er, diese Wahl nie bereut zu haben, da der Juristenberuf einen mit Menschen in den unterschiedlichsten Situationen zusammenbringe. Schmid hörte u. a. den Finanzwissenschaftler Ludwig Stephinger, schloss sich einer „Sozialistischen Studentengruppe“ an und hielt dort bald auch Vorträge, noch ohne die spätere Brillanz; und er begann auch, Gedichte zu rezitieren. In seinen Erinnerungen nennt Schmid keine Lehrer, die ihn besonders beeindruckt hätten, immerhin lehrten zu dieser Zeit in Tübingen Max Rümelin und Philipp Heck.7 Nach 6 Semestern folgte im Herbst 1921 bereits das Erste Staatsexamen mit dem Prädikat IIa, das beste in Württemberg seit vielen Jahren.8 Am 28.12.1921 folgte die Heirat mit Lydia Hermes aus Duisburg, Studentin der Staatswissenschaften, damals eine Ausnahmeerscheinung. Während des Referendariats am Amtsgericht Tübingen verfasste Schmid bei dem Frankfurter Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer seine Dissertation über „Die Rechtsnatur der Betriebsvertreter nach dem Betriebsrätegesetz“.9 Das Rigorosum am 2.8.1923 wurde mit einem schlichten „bestanden“ absolviert, was Schmid nicht zufrieden stellte; allerdings war die Arbeit eher referierend ausgefallen und hatte keine neuen Gesichtspunkte ergeben. Im Frühjahr 1924 folgte zügig die zweite Staatsprüfung am OLG Stuttgart mit der Glanznote „ausgezeichnet“. Damit stand Schmid die Richterlaufbahn offen. Da eine entsprechende Stelle aber noch nicht frei war, blieb nur die ungeliebte Tätigkeit als Rechtsanwalt, die ihn für ein Jahr nach Reutlingen führte. Als dann 1925 der Dienstantritt als Gerichtsassessor am Amtsgericht Tübingen erfolgte, war Schmid bereits Familienvater, und schon 1927 konnte er in Tübingen ein Eigenheim bauen.
5 S. dazu auch Beise a. a. O. 103 Anm. 45. 6 Erinnerungen S. 11 ff., 22 ff.. 7 Erinnerungen S. 80 ff.. 8 Weber a. a. O. S. 52. 9 270 Seiten, die Arbeit wurde nicht veröffentlicht, s. Erinnerungen S. 99 ff..
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III. Völkerrechtler, Staatsrechtler und Politologe Obwohl er als Richter sehr erfolgreich war, blieb er in der Honoratiorengesellschaft Tübingens ein Außenseiter und war daher froh, im September 1927 eine Stelle als wissenschaftlicher Referent im Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin antreten zu können. Das Institut war 1925 von Victor Bruns gegründet worden und hatte seinen Sitz im Berliner Stadtschloss. Zu den Aufgaben des Instituts gehörte vor allem, die schwierige völkerrechtliche Position des Reichs nach dem Versailler Vertrag offensiv in Gutachten, Expertisen und Verfahrensbegleitungen vor internationalen Gerichten und Schiedshöfen wissenschaftlich zu vertreten. Schmid wurde am Institut Referent für Polen und die Tschechoslowakei und bildete sich dort u. a. zum Experten für die Rechte der deutschen Minderheiten in diesen Ländern aus.10 Sein wissenschaftlicher Umgang im Schloss konnte illustrer nicht sein: neben Bruns waren dort Rudolf Smend, Heinrich Triepel und Erich Kaufmann tätig, auf der Referentenebene waren es v. a. Hermann Heller und Gerhard Leibholz. Während dieser Zeit arbeitete auch Walter Hallstein in einem anderen Kaiser-Wilhelm-Institut im Schloss als Referent. Beide müssen sich daher dort begegnet sein. Vor allem zu Kaufmann und Heller fand Schmid ein sehr enges, freundschaftliches Verhältnis, wobei Heller, der 1920 der SPD beigetreten war, zu seinem geistigen und politischen Mentor wurde. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Berliner Institut wurde Schmid 1929 von der Fakultät in Tübingen im Völkerrecht und im internationalen Privatrecht mit einer Arbeit über „Die Rechtsprechung des StIGH in Rechtssätzen dargestellt“ habilitiert, sie wurde 1932 in Stuttgart publiziert. Betreuer war Heinrich Pohl. Zurück in der Justiz, wurde er 1931 zum Landgerichtsrat in Tübingen ernannt und lehrte nebenbei als Privatdozent an der dortigen Universität.11 Als politisch unzuverlässig eingestuft, wurde ihm eine wissenschaftliche Karriere verwehrt; 1940 konnte er als Kriegsverwaltungsrat bei der deutschen Militärverwaltung in Lille weiteren Nachstellungen entgehen.12 Erst im Juni 1945 wurde er von der Tübinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät als eine Art von Wiedergutmachung zum außerordentlichen Professor an der Universität ernannt.13 Die Fakultät wollte damit das bisher vernachlässigte Völkerrecht stärken.
10 S. Erinnerungen S. 119 ff. und Näheres auch bei Weber a. a. O. S. 59 ff.. 11 Nach Beise a. a. O. S. 103 soll ein Zerwürfnis mit Bruns über eine Veröffentlichung im Institut der Anlass für die Rückkehr nach Tübingen und in die württembergische Justiz gewesen sein. 12 Erinnerungen S. 155 ff./175 ff.; Weber a. a. O. S. 82 ff./126 ff.. 13 S. dazu Beise a. a. O. S. 104 und Anm. 59.
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Auf der Liste für ein Ordinariat befand sich auch der Wiener Ordinarius Alfred Verdross, der sich aber entschloss, in Wien zu bleiben. Schmid übernahm 1946 den „Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht“.14 Auf diesem Tübinger Lehrstuhl stand er für acht Jahre in einer langen, seit 1842 nicht unterbrochenen wissenschaftlichen Kontinuität: seine Vorgänger waren Karl Heinrich Ludwig Hoffmann, Ludwig Jolly, Fritz Fleiner, Carl Sartorius und Felix Genzmer. Seine Nachfolger wurden Adolf Schüle, Thomas Oppermann sowie Martin Nettesheim.15 Die Zahl der übrigen staatlich-öffentlichen Ämter und der Parteiämter Carlo Schmids lässt sich kaum überblicken, ganz abgesehen von seinen Mitgliedschaften in den unterschiedlichsten Gremien innerhalb und außerhalb des Bundestags und der SPD. Sein politischer Einstieg begann 1945 im Amt eines „Landesdirektors für Kult, Kunst und Erziehung“ (Schul- und Hochschulwesen) und damit des Reorganisators der Universität Tübingen;16 er wurde sowohl Staatsrat des Landes Württemberg-Baden als auch Landesdirektor für Justiz, Kultur, Erziehung und Kunst, dann Präsident des Staatssekretariats von Württemberg-Hohenzollern.17 Als solcher war Schmid Teilnehmer an der Ministerpräsidenten-Konferenz im Juni 1947 in München wie an der Niederwald- und der Rittersturz-Konferenz im Sommer 1948, auf welchen die Grundlagen einer zu schaffenden deutschen Verfassung beschlossen wurden.18 Schmid arbeitete im Herbst 1946 den Verfassungsentwurf des neuen Landes Württemberg-Baden aus, worin sich erstmals das Instrument eines „konstruktiven Mißtrauensvotums“ befand. Seit 1946 Landesvorsitzender der wieder gegründeten SPD im Land Württemberg-Hohenzollern blieb er von 1947 bis 1973 Mitglied des Bundesvorstands des SPD, er war Mitglied der deutschen Delegation 1955 in Moskau und 1959 kurze Zeit Kanzlerkandidat der SPD. Abgeordneter des Bundestags war Schmid von Anbeginn 1949 bis 1972, dort war er auch erster stellvertretender Bundestagspräsident. Schmid war Vizepräsident der Europa-Union und Präsident der Versammlung der WEU, schließlich Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rang eines Botschafters.
14 S. Manfred Erhardt, „Zur Genealogie des Lehrstuhls OPPERMANN“ in: Birk/Dittmann/Erhardt (Hrsg.), Kulturverwaltungsrecht im Wandel, 1981, S. 195 (202)., zur Berufung Schmids in Tübingen s. Weber a. a. O. S. 238 f.. 15 Erhardt a. a. O. S. 195 ff.. 16 Mit Konrad Zweigert und Hans Rupp als Unterstützern, die der Krieg mit ihrem Kaiser-Wilhelm-Institut nach Hechingen südlich von Tübingen verschlagen hatte. 17 Einzelheiten dieser komplizierten Ämtergeschichte bei Weber a. a. O. S. 202 ff.. 18 Zu Schmids Erleben dieser Schlüsselzeit der späteren Bundesrepublik Deutschland s. Weber a. a. O. S. 330 ff..
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Bemerkenswert ist auch Schmids zweite Karriere als Wissenschaftler, die er neben seinen umfangreichen politischen Verpflichtungen in einem anderen Fach, dem der Politikwissenschaft, betrieb.19 Nach Erteilung eines Rufes auf den entsprechenden Frankfurter Lehrstuhl wechselte Schmid Anfang der fünfziger Jahre die Universität. Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb, ein Parteifreund aus Nachkriegstagen, hatte dies angeregt. Bessere Arbeitsmöglichkeiten und die Nähe Frankfurts zu Bonn gaben den Ausschlag; zudem hatte sich das junge Land Baden-Württemberg nicht allzu sehr darum bemüht, Schmid zu halten.20 Unter dem Rektorat des schwäbischen Landsmanns Max Horkheimer (ein Nachfolger Walter Hallsteins in diesem Amt) trat Schmid im Frühjahr 1953 seine neue Tätigkeit an. Es hatte Widerstände sowohl in der Rechtswissenschaftlichen wie in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät gegeben, die weniger in der Person Schmids als in hochschulpolitischen Gründen zu suchen waren.21 Am Institut für Politische Wissenschaften wurde er als Direktor Nachfolger von Ernst Wilhelm Meyer, der neue Lehrer fand bei den Studenten großen Zuspruch.22 Schmid nahm seine Lehrverpflichtungen am Wochenende und an Montagen neben seinen politischen Verpflichtungen über fast fünfzehn Jahre hinweg penibel wahr. Sein erster Assistent war der Smend-Schüler Wilhelm Hennis, der zugleich der bekannteste seiner Schüler wurde.23 Enttäuschungen blieben nicht aus: anstelle des Wunschkandidaten Golo Mann als zweitem Direktor wurde Iring Fetscher berufen; Otto Kirchheimer lehnte den an ihn ergangenen Ruf auf den zweiten Lehrstuhl am Institut 1962 ab und blieb in den USA. Auch der Kontakt zu Kollegen fiel dem wissenschaftlichen „Quereinsteiger“ Schmid schwer. Dies galt auch für den Frankfurter Theodor Adorno, dessen Werk Schmid an sich – was wundert’s – schätzte.24 Im Nachhinein mag man das bedauern, denn die beiden intellektueller Ästheten hatten in ihrem brillanten Außenseitertum manches gemeinsam. Schmids Vorbilder in seiner breit angelegten Lehre waren Max Weber und Hermann Heller,25 er entwickelte sich aber auch zum erfolgreichen Aquisiteur von Drittmitteln (heute eine Berufungsvoraussetzung) und konnte durch seine Verbindungen zu Wirtschaft und Verbänden das Institut mit Forschungsgeldern ausstatten. Einer der dort Forschenden war Peter von
19 Auch andere Politikwissenschaftler wie Schmids Tübinger Kollege Theodor Eschenburg und sein Assistent Wilhelm Hennis waren bekanntlich zunächst Juristen gewesen. 20 Weber a. a. O. S. 511/12. 21 Weber a. a. O. S. 512 f.. 22 Weber a. a. O. S. 514 ff.. 23 Zu den zahlreichen anderen Schülern s. Weber a. a. O. S. 519 ff.. 24 Weber a. a. O. S. 521. 25 Weber a. a. O. S. 514.
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Oertzen. Im Wintersemester, kurz nach dem siebzigsten Geburtstag, folgte im WS 1966/67 die Emeritierung – rechtzeitig vor den dann einsetzenden Studentenunruhen in Frankfurt und anderswo. Solange Schmid in Tübingen wohnte, lebte er in einem (für Tübinger Verhältnisse) villenähnlichen Haus im Stil der Neuen Sachlichkeit in der Unteren Schillerstrasse/Ecke Goethestrasse, nicht allzu weit von der Neuen Aula entfernt, Hauptgebäude der Universität und Sitz der Rechtsfakultät. In Schmids Tübinger Wohngegend wurde posthum ein neu errichtetes Gymnasium nach ihm benannt. Nach seiner Scheidung in den fünfziger Jahren lebte Schmid zunächst in kleineren Wohnungen in der Nähe des Bundeshauses, so wie er in Bonn immer schon über eine zweite Bleibe verfügt hatte, bis er mit seiner neuen Lebensgefährtin in der Nähe von Bonn in ein kleines Haus in Ägidienberg-Orscheid, Ortsteil Orscheid, einzog. Stilgerecht mit Blick auf das Siebengebirge östlich von Bad Honnef in einer heute nach ihm benannten Strasse.
IV. Der Politiker und Denker Das deutsche politische Personal der Neuzeit, erst recht das der Nachkriegszeit, hat, neben Gestalten mit breiter humanistischer Bildung wie etwa FranzJosef Strauß, nur wenige echte Intellektuelle aufzuweisen: Theodor Heuss, Adolf Arndt, Gerhard Storz, Hans Maier, Peter Glotz, Erhard Eppler, Kurt-Georg Kiesinger.26 In Österreich wäre Bruno Kreisky hier zu nennen. Carlo Schmid ist einer der bedeutendsten unter ihnen, und nicht ohne Grund hatte er vielfache Bezüge zu Frankreich aufzuweisen, wo das Intellektuellentum in Öffentlichkeit, Diplomatie und Politik seit jeher verwurzelt ist und keineswegs einen Sonderfall darstellt, denkt man nur an Chateaubriand, de Lamartine, de Vigny, Thiers, Clémençeau, Jaurès, Herriot, Malraux oder auch Mitterand.27 In der deutschen Politik wurde er zum Exoten, bestaunt, bewundert, belächelt, beargwöhnt.28 An ihm zeigte sich am deutlichsten die Gratwanderung des Intellektuellen und Wissenschaftlers in
26 In gewisser Hinsicht könnte man diese Liste noch um Karl-Theodor zu Guttenberg, Willy Brandt und Rainer Barzel erweitern, die in der Politik eine geistige Aufgabe und nicht nur eine Machterhaltungsstrategie sahen und deshalb auch als Autoren wirkten. 27 Die Liste wäre zu ergänzen um die Literaten, die, wie John St. Perse, Paul Claudel, Roger Peyrefitte, Georges Bernanos, Maurice Druon oder Jean Giraudoux, im französischen Auswärtigen Dienst standen, und um Schriftsteller, die wie Hugo, Zola, Barrès oder Sartre, engagiert in der französischen Öffentlichkeit wirkten. 28 Marc Beise a. a. O. S. 91 ff..
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seinem Verhältnis zur Macht – zweifellos eines der großen geisteswissenschaftlichen Themen des zwanzigsten Jahrhunderts.29 Es wurde auch zum Thema für Schmid selbst, wie zahlreiche Äußerungen belegen.30 Carlo Schmids Beispiel folgten eine ganze Reihe von Staatsrechtslehrern in die Politik, mehr oder weniger erfolgreich, meist jedoch nur zu kurzen Ausflügen, wenngleich andere, wie Hugo Preuß und Hans Kelsen, (auch Carl Schmitt), einflussreich politiknah gearbeitet haben. Aber Schmid war der einzige, der ab einem Punkt seines Lebens, man könnte den deutschen historischen Zusammenbruch und Wiederbeginn des Jahres 1945 dafür ansetzen, beschloss, dieses Leben nunmehr der Politik zu widmen. Allerdings ging er darin, anders als die meisten, nicht auf; zu vielschichtig und zu breit angelegt war seine Interessen, und zu komplex gestaltete sich seine sensibel angelegte Persönlichkeit. Neben seinem bedeutenden politischen Wirken war Schmid als Wissenschaftler und als Gestalter des Grundgesetzes wie auch der Landesverfassung von Württemberg-Hohenzollern zunächst in den Hintergrund geraten. Je weiter sich aber das Grundgesetz zum 40., 50., 60. Jahr seiner Einführung jährt, desto deutlicher zeichnen sich die Konturen seines Werks als maßgeblichem Rechtsschöpfer der deutschen Nachkriegsverfassung ab. Dabei wollte Schmid aus patriotischer Sorge, die deutsche Teilung dadurch zu vertiefen, gerade keine Voll-Verfassung schaffen. Denn er befürchtete nicht zu unrecht, die sich abzeichnende und dann rasch vertiefende deutsche Spaltung könnte sich als endgültig erweisen. Er gehörte in der Folge zu den immer weniger werdenden deutschen Politikern, welche die Option einer Wiedervereinigung des Getrennten aufrechterhalten wollten – und am Ende sollte er damit Recht bekommen. Tragischerweise hat er diesen historischen Augenblick um genau zehn Jahre versäumt. Schmid war einer der bedeutsamsten und wirkungsvollsten Redner und Rhetoriker im Deutschen Bundestag, wie überhaupt die ersten Legislaturperioden des neuen deutschen Parlaments mit einer ganzen Reihe von herausragenden Rednern besetzt waren. Ein rhetorisches Niveau, das keine der späteren Zusammensetzungen des Gremiums mehr erreichte. Neben Schmid wären hier Schumacher, Dehler, Erler, Strauß, Arndt, Kiesinger, später auch der junge Helmut Schmidt zu nennen. Es war die hohe Zeit der mit Leidenschaft geführten Grund-
29 S. aus der Literatur nur Julian Benda, La Trahison des Clercs, 1927; Margret Bovery, Verrat im Zwanzigsten Jahrhundert, 4 Bde. Rowohlts deutsche Enzyklopädie 1956–1960; Hauke Brunkhorst, Der entzauberte Intellektuelle, 1990; Wolf Lepenies, Kultur und Politik, Deutsche Geschichten, 2006. 30 Carlo Schmid, Politik und Geist, Ges. W. 1, Stuttgart 1961. S. a. Jens/W. Graf Vitzthum, Dichter und Staat. Über Geist und Macht in Deutschland, Berlin/New York 1991.
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satzdebatten. Mit Franz-Josef Strauß (und mit Walter Jens) konnte sich Schmid in fließendem Latein unterhalten. Carlo Schmids Denken war nicht ohne Widersprüche:31 Er betrieb als Jurist die Volksbefragung gegen die Atombewaffnung mit, und bekannte sich doch später gegen allzu plebiszitäre Elemente im deutschen Verfassungsleben. Er verkörperte wie kein zweiter die Intellektualität in der Politik, und doch misstraute er, selbst Intellektueller von Rang, einem Einfluss dieser Intellektuellen auf die Politik. Er war deutscher Patriot und ließ dies die Besatzungsmächte deutlich spüren, nicht ohne Grund war er ein Bewunderer von Kurt Schumacher. Aber er war auch ein Versöhner, vor allem mit Frankreich, aber auch mit den anderen ehemaligen Kriegsgegnern, und er verstand sich als deutscher Europäer. Er war elitär und wollte die Elite fördern. Bildung sollte aber all denen, die sich darum bemühten, offen stehen. Die Massengesellschaft der Moderne war ihm unheimlich, hier stand er Ortega y Gasset nahe. Er blieb aber dennoch – und gerade deswegen – überzeugter Sozialist, trotz Konrad Adenauers Werben, er gehöre doch eigentlich zu den Bürgerlichen. Dazu kannte er die Geschichte mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten und Leiden viel zu gut, und wollte die Zustände, soweit er auf sie Einfluss nehmen konnte, verändern. Er war aber gleichzeitig Realist genug, um nicht in ein abgehobenes Weltverbesserertum zu verfallen: dafür liebte er das Leben und seine Genüsse, auch den Luxus, viel zu sehr. Er gehörte zur Bildungselite und war ein Schöngeist, konnte aber auch polemisieren, ja verletzen und auch austeilen, wie der Verf. es noch persönlich miterleben konnte. Er war wohl im Grunde in sich gekehrt und wurde wie viele, denen es ähnlich geht, gerade deshalb ein guter Volks-, Wahlkampf- und Debattenredner. In ihm rangen Selbstzweifel und Mut, Machtinstinkt und Gewissensqualen paarten sich. Zu den großen politischen Lebensthemen Schmids, um die seine Reden, Vorträge, Zeitungsartikel und Zeitschriftenessays immer wieder kreisten, gehörte der soziale Ausgleich zwischen den Bevölkerungsschichten und sozialen Klassen in einem „dritten Humanismus“;32 jede Art von Klassenkampf waren dem Bürgersohn aus bescheidenen Verhältnissen zuwider. Schmid war deutscher Patriot und blieb es bis zuletzt, er litt am Unglück Deutschlands und am politischen Unvermögen seiner Führungsschichten in der Vergangenheit. Die zweite deut-
31 S. zur Gedankenwelt Schmids auch Beise a. a. O. S. 98 ff., 107 ff., 115 ff. und die umfangreiche Autobiographie von Petra Weber passim, sowie natürlich Schmids eigene „Erinnerungen“ und Essaysammlungen. 32 Zur wenig bekannten Berührung Schmids mit den Stefan-George-Kreis s. neuerdings Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister, Stefan George Nachleben (2009), jetzt dtv TB Nr. 34703, 2012, S. 260 ff., 456 ff., 489 ff..
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sche Republik sollte es besser machen: Der Bürger sollte nicht mehr gehorsamer Untertan, sondern Mitgestalter werden, auch wenn dazu durchaus eine allgemeinpolitische Erziehung und Aufklärung nötig ist. Die politische Abstinenz des deutschen Bildungsbürgertums erachtete er als deutsches Verhängnis, dem er entgegentreten wollte. Die deutsche Einheit, bereits in den Jahren ab 1946 für Jahrzehnte von Ost wie auch von West verspielt, war sein ersehntes Lebensziel, das er nicht mehr erreichte und erleben durfte. Er hätte im Herbst 1989, anders als viele in seiner Partei (nicht Willy Brandt!), keine Sekunde gezögert, jede Chance einer Wiedervereinigung – und das war sie – zu nutzen. Und selbstverständlich fühlte er sich, Abkömmling zweier europäischer Kernvölker, als Europäer, und zwar von der ersten Stunde der Nachkriegszeit an. Dies hatte ihm den schwierigen Kontakt zur misstrauischen französischen Besatzungsmacht im Südwesten erleichtert. Das sich allmählich formende vereinte Europa hat er von Anfang an mit Ideen, in deutschen wie europäischen Ämtern und Reden begleitet und befördert. Und nicht zuletzt: Carlo Schmid lebte und verkörperte eine Bildungsidee, die weit von den bloßen Ausbildungs-Nützlichkeiten von heute entfernt war. Bildung war für ihn Aufgabe, nicht dünkelhafter Sockel: Alle, die sie erstreben, sollen auch in ihren Genuss kommen. Bis ins hohe Alter verstand er sich deshalb als engagierter Pädagoge, oft ließ er sich als Vortragender und Diskussionsredner in Schulen einladen. Bildung war für ihn nicht primär Aus-Bildung, sondern schöpferischer Lebensinhalt und zugleich Stütze in den Stürmen der Zeit, ein Gedanke, der den heutigen Generationen immer wieder nahe gebracht und im Einzelnen vergegenwärtigt werden muss.
V. Der Künstler und Literat Schon als Student begann Schmid, im kleineren Kreis Gedichte zu rezitieren. Er verfasste zunehmend auch eigene Gedichte in deutsch und französisch, später kamen Übersetzungen aus und in die romanischen Sprachen hinzu. Eine Übersicht des hier Geleisteten bietet die nachstehende Auswahlbibliographie seiner Werke. Wären ihm neben seinen vielen Ämtern und Aktivitäten mehr Stunden verblieben – oder hätte er der Politik gar ganz entsagt –, so wäre aus ihm ein bedeutender Autor und Publizist geworden, dem man sowohl Lyrik- und Essaysammlungen, historische Monographien, ja sogar amüsante Stücke, Romane und Erzählungen hätte zutrauen dürfen. An solchen Autoren ist die deutsche Literatur nicht allzu reich. Was von ihm an belletristischen Werken dennoch vorgelegt
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wurde, ist beeindruckend genug; ja, man könnte ihn mit einigem Grund unter die „Dichterjuristen“ einreihen.33 Enge Verbindungen pflegte er stets zum Theater und zu dessen Akteuren und Akteurinnen. Er spielte zuweilen selbst in Stücken mit, trat als Kabarettist auf und versuchte sich als Regisseur. Vielleicht geriet ihm hier auch der Literat, Theatermacher und Minister J. W. v. Goethe zum Vorbild. Als historischer und politischer Essayist der deutschen Nachkriegszeit blieb Schmid in der Breite seiner Themen und der Gewandtheit seiner Sprache und Argumentation ohne Pendant, allenfalls Golo Mann wäre hier noch zu nennen. Einen adaequaten Nachfolger hat er auch hier nicht gefunden, sieht man vielleicht von Helmut Schmidt einmal ab.
VI. Der Verfassungsschöpfer Carlo Schmid war, neben einigen wenigen weiteren Politikern,34 die beherrschende Gestalt der Verfassungsberatungen sowohl auf der Insel Herrenchiemsee35 wie im Parlamentarischen Rat in Bonn, wo er bei den beiden entscheidenden Ausschüssen, dem Hauptausschuss, den Vorsitz führte,36 und im Ausschuss für Grundsatzfragen maßgeblich als Berichterstatter mitarbeitete. Seine zahlreichen, markanten und die Diskussionsergebnisse fast immer prägenden Wortmeldungen waren in einer einfachen, plastischen Sprache gehalten, oft mit guten Beispielen unterlegt, viele davon rechtsvergleichender Art. Sie bezogen vor allem Erfahrungen aus der Verfassungsentwicklung in Weimar mit ein. Diese Praxisnähe des Juristen, zugleich das Lebenswirkliche mit dem Anschaulichen verbindend, schöpfte der Wissenschaftler Schmid aus seiner umfassenden Kenntnis des deutschen und europäischen Verfassungsrechts, des Völkerrechts und der deutschen Kultur und Geschichte. Er wurde daher, Jahrhunderte nach dem Schwaben Philip Melanchthon, wieder zu einem „praeceptor germaniae“. Seine weitaus mächtigste, „nachhaltigste“ Wirkungsgeschichte fand Carlo Schmid somit im Konvent von Herrenchiemsee und dann vor allem im Parlamentarischen Rat in Bonn. Deshalb soll aus seinem breit gestreuten Werk pars
33 S. a. Beise a. a. O. S. 94 ff.. 34 Peter Häberle nennt neben Schmid drei weitere Namen der maßgeblichen Akteure: Th. Heuss, A. Süsterhenn und G. A. Zinn; s. Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Neuausgabe des JöR Bd. 1, Hg. P. Häberle, 2010, Einleitung S. XXVI. 35 Verfassungskonvent vom 10. bis 23.8.1948. 36 Genau: vom 11.11.1948 bis zum 10.2.1949.
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pro toto eine Auswahl aus besonders prägnanten Zitate und Aussagen geboten werden, gleichsam als Ansporn an die jüngere Generation, es Schmid gleich zu tun, und als Jurist klar, unabhängig und wegweisend zu denken:37 „Wir haben unter Bestätigung der alliierten Vorbehalte das Grundgesetz zur Organisation der heute freigegebenen Hoheitsbefugnisse des deutschen Volkes in einem Teile Deutschlands zu beraten und zu beschließen. Wir haben nicht die Verfassung Deutschlands oder Westdeutschlands zu machen“.38 Dieser Text sollte deshalb nicht „Verfassung“, sondern „Grundgesetz“ genannt werden.39 Auch sonst gab Schmid die verfassungs-strategisch passende Richtung vor: in der Staatsbezeichnung „Deutsches Reich“ schwingen „sehr schöne, aber auch sehr gefährliche Untertöne mit“. Er empfahl deshalb die Benennung „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, da die „Grundorganisationsschicht“ des Staates die Bundesrepublik Deutschland ist, was in der Bezeichnung zum Ausdruck gebracht werden müsse.40 Bloß „Deutschland“ würde das staatlich gefasste Gebiet auf Deutschland einengen, während „Bundesrepublik“ zum Ausdruck bringe, dass dieses Deutschland als staatliches Gebilde der Sache nach noch bestehe, wenn auch als Gefüge zerstört sei. „Bundesrepublik“ sei zugleich ein demokratisches, soziales und republikanisches Programm mit Volkssouveränität, der Begrenzung staatlicher Gewalt durch verfassungsmäßige Rechte, Rechtsstaat, Gleichheit vor dem Gesetz und dem Mut zu sozialen Konsequenzen.41 Schmid betonte das „gesamtdeutsche Mandat“ des Parlamentarischen Rats, der sich zur Einheit Deutschlands bekenne.42 Das Grundgesetz stelle keinen Akt der Separation da: Es sei eine „deutsche“, keine bloß „westdeutsche Verfassung“ oder eine gar eine bloße Verfassung der Länder als Rechtskörper. Die Abgeordneten fühlten sich als Vertreter des gesamten deutschen Volkes. Der Parlamentarische Rat habe daher ein gesamtdeutsches, nicht teildeutsches Mandat.43 Die Präambel verkörpere deshalb mehr als nur einen „pathetischen Vorspruch“, sondern enthalte zugleich rechtlich erhebliche Feststellungen, Bewertungen,
37 Zitate sämtlich aus: G. Leibholz/H. v. Mangoldt (Hg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 1, Tübingen 1951, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes i.A. der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rats und des Bundesministers des Innern aufgrund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rats bearb. von K-B v. Doemming, R. W. Füsslein und W. Matz. 38 S. 15. 39 S. 16. 40 S. 17. 41 S. 20. 42 S. 23, 25, 41. 43 S. 27.
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Rechtsverwahrungen und Ansprüche vor allem, was die deutsche Einheit anbelange. Das Bundesverfassungsrecht folgte im wegweisenden Grundvertragsurteil dieser Auffassung.44 Maßgeblich waren auch seine Beiträge zum materiellen Verfassungsrecht: „Die Grundrechte … regieren das GG; sie dürfen nicht nur ein Anhängsel des GG sein“.45 Schmid wandte sich gegen einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Zwar müsse es notwendigerweise Einzelschranken geben, dabei dürfe aber ohne das Grundrecht nicht in seiner Substanz angetastet werden.46 Peter Häberle baute diese Bemerkung bekanntlich später zu seiner bedeutsamen Monographie aus.47 Art. 1 GG wurde von Schmid vorformuliert mit dem staatlichen Schutzauftrag, der Begründung der Menschenwürde in den einzelnen Grundrechten und der Grundrechts-Bindung aller drei Gewalten und auch der Länder als unmittelbar geltendes Recht. Er warnte allerdings auch davor, Grundrechte als Naturrecht absolut zu setzen, da gerade dieses, wie die Geschichte zeige, wandelbar sei.48 Wichtige Vorbringen Schmids, die oft in die spätere wörtliche Fassung einer Bestimmung einflossen, betrafen auch die Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG,49 das Eigentumsgrundrecht in Art. 14 GG50 oder die Staatsangehörigkeit, Art. 116 GG,51 bei der er hellsichtig auf das Offenhalten zugunsten einer Mehrfach-Staatsangehörigkeit drang, da die europäische Einigung künftig ohnehin danach verlange. Im Staatsorganisationsrecht betonte Schmid, dass die repräsentative Demokratie das Volk in Organen vergegenwärtige.52 Die Staatsgewalt gehe deshalb vom Volk aus, weil keine Trennung von Volk und Staat53 geschehen dürfe, was in der deutschen Geschichte allzu oft der Fall gewesen sei. Sämtliche Einwürfe Schmids wirken in den heutigen Debatten aktueller denn je. Auch zu Art. 23 GG (a.F.) finden sich Kernsätze: „Der Vorgang (der deutschen Einigung) besteht im Beitritt. Da ist ein Teil Deutschlands, der beitreten will; da ist das Deutschland, dem man beitreten will, und das ist schließlich drittens die Eingliederung in den Bund, die durch Bundesgesetz erfolgt … Wir wollen den Beitritt so wenig wie möglich
44 S. u. a. BVerfGE NJW 1973, 1539. 45 S. 42. 46 S. 43. 47 Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. A. 1983. 48 S. 48/49. 49 S. 124. 50 S. 146 f.. 51 S. 163. 52 S. 196. 53 S. 197.
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erschweren und so offen wie möglich gestalten“.54 Wer hier das Wort „Visionär“ nicht in dem Mund nehmen kann, dem ist nicht zu helfen. Der Völkerrechtler Schmid prägte das Grundgesetz vor allem auch in den internationalen Passagen, so bei Art. 24,55 Art. 2556 und 32 GG. Bei Art. 26 GG bekam Carlo Schmid leider nicht Recht mit der Forderung: „Sollten wir nicht eine klare und unverklausulierte Erklärung abgeben, dass in Deutschland keine Kanonen mehr gebaut werden sollen, nicht nur für uns nicht, sondern auch für andere nicht“.57 Heute steht die Bundesrepublik im Kriegswaffenexport an dritter Stelle in der Welt! Auch zur kommunalen Selbstverwaltung berühren seine Bemerkungen noch heute, in Zeiten rigoroser Gemeindegebietsreformen: „Wir müssen überhaupt dazu kommen, die Gemeinden in ganz anderer Weise als bisher zu allgemeinen Trägern der ersten Stufe der Obrigkeit zu machen“. Dies geschah in der Vorformulierung des Art. 28 II GG als dem „Grundrecht“ der Kommunen.58 Schmid widerriet auch der Unterscheidung zwischen alten und neuen Ländern (Art. 29 GG): „Tun wir das, dann schaffen wir ein Gefälle des Ranges im Verhältnis der einzelnen Länder zueinander … Man würde damit gegen das Prinzip der Wertgleichheit der Länder verstoßen, das doch die Grundlage unseres Werkes sein soll“.59 1990 war man anderer Auffassung. Zum Problem einer funktionierenden Föderation kam von Schmid die richtige Erkenntnis, daß alle Bundesstaaten der Welt Produkte der Geschichte und nicht der Selbstverwirklichung eines juristischen oder logischen Systems oder gar einer Idee sind.60 Den immer wieder sich erneut meldenden Flurbereinigern der deutschen (mittleren und kleineren) Länder sei dieser Gedanke einmal mehr ins Stammbuch geschrieben. Auch eine Eingabe bedeutender deutscher Forscher (Heisenberg, Regner, Zenneck, Rein), die eine frei sich entfaltende Forschung als Existenzfrage des deutschen Volkes forderten, machte sich Schmid zu Eigen.61 Heute ist diese Forderung ebenso berechtigt wie damals.
54 S. 218, 219. 55 S. 225/6. 56 S. 230 ff.. 57 S. 237, 241. 58 S. 254. 59 S. 280. 60 S. 459. 61 S. 522.
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Im Staatsorganisationsrecht waren es u. a. Art. 33,62 5963 und der zentrale Art. 79 III GG,64 bei denen Schmid auch im Parlamentarischen Rat nochmals seinen Einfluß ausübte. Wo immer es passte, konnte Schmid auch hier aus seiner reichen verfassungshistorischen und rechtsvergleichenden Bildung schöpfen.65 Der Bundespräsident müsse eine „pouvoir neutre“ sein und sich deshalb aus dem Streit der Meinungen heraushalten.66 Zum Richterstand in der Demokratie trug Schmid vor, der Richter habe nicht nur „an und für sich“ das Gesetz anzuwenden, sondern handle aufgrund bestimmter Wertmaßstäbe. In einem demokratischen Staat könnten nur Richter geduldet werden, die die „Wertmaßstäbe der Demokratie“ anwendeten, die nicht „in Gesetzen stünden“, sondern „im Bewusstsein“ des Richters liegen müssten und das „Produkt einer persönlichen Lebensentscheidung“ seien. Es genüge nicht, wenn ein Richter „formal-demokratisch“ entscheide. Sein Urteil müsse vielmehr von den „Wertmaßstäben“ getragen sein, die den „Kern der Demokratie“ ausmachten.67 Alles ewig geltende Kernsätze, der Richter Schmid wusste, wovon er sprach. Er war auch der Auffassung, dass der Grundrechtskatalog des GG „einen Mindeststandard“ darstelle. Den Ländern stehe es daher frei, über diesen Standard hinaus zu gehen.68 Dies ist in der Folge, vor allem in den Verfassungen der neuen Länder ab 1992, auch geschehen. Aktuell auch die Bemerkung, die endgültige deutsche Verfassung (Art. 146 GG) werde „originär“ und nicht im Wege der Abänderung des GG entstehen.69
VII. Bedeutung und Nachwirken Carlo Schmid starb nach längerer schwerer Krankheit am 11. Dezember 1979 in Bad Honnef. Er bekam ein Staatsbegräbnis mit einer Trauerfeier am 15.12. im Plenarsaal des Bundestags, es sprachen Karl Carstens, Richard Stücklen, Helmut Schmid, der französische Botschafter Jean Brunet und Willy Brandt. Die Beisetzung Schmids fand zwei Tage später in seiner früheren Wahlheimat in Tübingen
62 S. 312. 63 S. 415. 64 S. 576. 65 z. B. S. 312, 687. 66 S. 681. 67 S. 729, in dem mir vorliegenden Bibliotheksexemplar wurde diese Passage von einem unbekannten Juristen doppelt angestrichen und mit einem zweifachen Ausrufezeichen versehen. 68 S. 298, 911. 69 S. 925.
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auf dem Bergfriedhof statt, wo auch der von Schmid verehrte Ernst Bloch, dessen „Geist der Utopie“ er bewunderte, seine Ruhestätte gefunden hatte. Hier sprachen Erhard Eppler und der Theologe Norbert Greinacher. Das Begräbnis dagegen erfolgte auf dem Stadtfriedhof hinter der Neuen Aula der Universität, seiner wissenschaftlichen Wirkungsstätte, dem schwäbischen Parnass. Die nächsten Nachbargräber fügen sich nahtlos in Schmids Leben und Vorlieben ein: es sind die Politiker Eberhard Wildermuth und Kurt-Georg Kiesinger, die Wissenschaftler Ludwig Dehio, Eduard Spranger und Enno Littmann, vor allem aber die Dichter und Dichterinnen Ottilie Wildermuth, Hermann und Isolde Kurz, Ludwig Uhland und Friedrich Hölderlin, der Schmids lebenslanger Leitstern blieb. Hölderlins Grabspruch würde auch zum Lebensmotto Carlo Schmids passen.70 Carlo Schmid hatte die Vereinigung, ja die Verschmelzung von Macht und Geist gesucht, ein sehr deutsches Thema. Und er scheiterte letztlich, musste wohl scheitern, weil er ohne Vorbild in der deutschen Staatstradition war; Goethe und Bismarck sind keine überzeugenden Gegenbeispiele.71 In seiner Partei, der SPD, der er stets loyal verbunden war, blieb er ein Außenseiter. Man schätzte, ja bewunderte ihn, vertraute ihm aber keine wesentliche Machtstellung an. Maßgebliche Parteiämter blieben ihm versagt, er hat sich darin nicht bewähren können. Die einzige Ausnahme stand schon am Beginn seiner Parteikarriere: der Fraktionsvorsitz im Parlamentarischen Rat. Er präsidierte, er war der berufene Redner und auch Wahlkämpfer, er war Ideengeber und Programmatiker. Keine dieser Positionen konnte er als Sprungbrett zu höheren Stellungen in der Partei oder im Staat nutzen: nicht Parteivorsitzender, weder Bundeskanzler noch Bundespräsident. Dasselbe gilt für die europäischen Ämter und Positionen, und für den deutschen Staat, dem er stets zu dienen bereitstand: war er im Kleinstaat WürttembergHohenzollern noch Staatssekretär und Regierungschef, dann stellvertretender Staatspräsident, so reichte es in der Bundespolitik nur zum Vizepräsidenten des Bundestags und zuletzt zu einem einflusslosen Ministeramt, Minister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder; und dies auch nur für kurze drei Jahre in einer Großen Koalition, der sein Landsmann Kurt-Georg Kiesinger, ebenfalls Rhetor von Rang, präsidierte.72
70 „Im heiligsten der Stürme falle zusammen meine Kerkerwand, und herrlicher und freyer walle mein Geist in’s unbekannte Land“, aus dem Gedicht „Das Schicksaal“. 71 Aus der großen Zahl an Literatur zu diesem Thema s. neben den schon oben (Anm. 29) genannten Büchern Heinrich Mann, Geist und Tat, 1910–18; Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918; bis zu Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, 2006. 72 Sein beamteter Staatssekretär im Bundesratsministerium war Dr. Friedrich Schäfer, ein Schwabe, mit dem er bereits in der Landesregierung von Württemberg- Hohenzollern zusammen gearbeitet hatte.
so:
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Francois Seydoux, französischer Botschafter in Bonn, charakterisiert Schmid „Da ist ferner der großzügige, verbindliche und beredsame Carlo Schmid, dessen Mutter eine Französin war; das hat den Vorteil, daß er sich in einer Gewandtheit in unserer Sprache auszudrücken vermag, die unsere Bewunderung erregte. Fast könnte man ihn mit Herriot vergleichen. Bei ihm hält sich das Diplomatische mit dem Politischen die Waage, und wäre ihm nicht ein anderer Aufstieg bestimmt gewesen, hätte man ihn als Botschafter nach Paris entsenden können“.73
Und als Wissenschaftler? Als Völkerrechtler gab er zu frühen Hoffnungen Anlass, später schlug er andere Wege ein. Als Politologe wollte und konnte er keine Schule schaffen; die zahlreichen Partei- und öffentlichen Ämter ließen das Verfassen größerer wissenschaftlicher Monographien nicht zu. Es blieb ein Engagement in der Lehre und bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, und eine – anspruchsvolle – politische Essayistik. Für die Rechtswissenschaft bleibt die zeitgebundene völkerrechtliche Forschung am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und an der Juristischen Fakultät in Tübingen, die vor allem um Fragen des Versailler Vertrags und seiner Nachkriegsordnung und deren Folgen für Deutschland kreiste. Seine große – und bleibende – Tat war die wesentliche Mitgestaltung deutscher Nachkriegsverfassungen, beginnend mit der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern, dann von Württemberg-Baden, vor allem aber des Grundgesetzes im Herrenchiemseer Konvent und im Parlamentarischen Rat. Hier erwies sich der wissenschaftlich gebildete Politiker als Glücksfall, und hier hat der Völker- und Staatsrechtler Carlo Schmid, wie gezeigt, seine Erfüllung und seine Ausstrahlung bis in die heutige Zeit gefunden. Der Staatsrechtler als Theoretiker wie als taktisch vorgehender Praktiker der Verfassungsgebung verkörperte eine Sternstunde der Verfassungsdogmatik, wie es eine Generation zuvor Hugo Preuß für die neue Reichsverfassung gewesen war. Carlo Schmid bereits zu seiner Zeit ein „Unzeitgemäßer“, eine „deutsche Möglichkeit“ der Verbindung von Geist und Tat,74 von Politik, Wissenschaft und Kunst? Von der Gegenwart politischen Alltags her gesehen erscheint Schmid in seiner bildungsgesättigten Welt der Kunst und Literatur sehr fern. Er kannte noch seinen Kanon europäischer und gerade auch deutscher Geistesschöpfungen und
73 Aus: „Beiderseits der Rheins“, Erinnerungen, zit. nach Eugen Schmid, Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Prof. Dr. Carlo Schmid, in: Setzler, Wilfried (Hg.), Carlo Schmid 1896–1979. Zum 100. Geburtstag, Heft 19 Kleine Tübinger Schriften, 1996, S. 23 (24). 74 Grundsätzlich etwa Helmut Plessner, Gesellschaft und Gemeinschaft, 1924; Das Schicksal deutschern Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche/Die verspätete Nation, 1935/1959.
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benötigte dazu keine „Leitkultur“. Das „Ewige“ des deutschen Geistes in Dichtung und Philosophie war ihm stets präsente Gegenwart und befruchtete zugleich sein politisches Denken. Bruno Kreisky, Sozialist und österreichischer Bundeskanzler, selbst ein Intellektueller und Bildungsbürger in der Politik – freilich, anders als Schmid, auch ein Machtmensch – charakterisiert Carlo Schmid in seinen „Erinnerungen“ in unnachahmlicher Weise: „… Der großartige Carlo Schmid war eine der faszinierendsten Figuren, denen ich je begegnet bin – der letzte Polyhistor unter den Politikern. Wir luden ihn gern zu Reden nach Österreich ein, weil es einfach eine Lust war, zuzuhören und mit ihm zu lachen; er war eine unerschöpfliche Quelle seltener, völlig unbekannter Zitate. Ein Mann, der gleichermaßen des Französischen wie des Deutschen mächtig war; ein Mann, der über einen – fast möchte man sagen – prätentiösen Wortschatz verfügte; ein Redner, der auf jede Spur eines falschen Pathos verzichtete. Er war von beträchtlichem Körperumfang, und seine Korpulenz ließ den kleinen Kopf mit dem charakteristischen Gesicht direkt in den Körper übergehen. Aber wenn er am Rednerpult stand – und infolge seiner Körperfülle schwitzte er natürlich stark –, hing man an seinen Lippen. Er sprach immer mindestens eine Stunde lang, und wenn man den Saal verließ, wirkte das, was er gesagt hatte, noch lange nach. Die Deutschen besaßen in Carlo Schmid einen begabten Politiker von seltenem Format. …“.75
Carlo Schmid als ferne Gestalt des sich selbst Bildenden, des Lesens und Schreibens, Übersetzens, Redenhaltens, Parlierens: kurz ein Vorbild?76 Dies in einer Zeit, die jede Vorbildwirkung ablehnt, alles Geschichtliche ignoriert, alle Geistestätigkeit in das Prokrustesbett des ökonomischen Nutzens eines Marktes, der Messbarkeit und Vergleichbarkeit in sog. „rankings“ presst, und der jede schöpferische Muße, soweit sie nicht auf verwertbare Ideen abzielt, vollkommen abhanden gekommen ist?77 Hierzu nochmals Kreisky: „Der Tod Carlo Schmids hat eine Lücke gerissen, die nicht wieder geschlossen werden kann. Da die Politik jedoch immer mehr verflacht und an intellektueller Farbigkeit verliert, ist sein Verlust nur wenigen bewusst geworden. Den älteren unter denen, die ihn kannten, fehlt er, weil es zu den Glücksfällen des Lebens gehört, Menschen wie ihm zu begegnen, die
75 Bruno Kreisky, Im Strom der Politik. Erfahrungen eines Europäers, Erinnerungen Teil II, 1988, S. 38 f.. 76 So Beise in der Summe seiner Betrachtungen über Carlo Schmid a. a. O., s. bes. S. 115. 77 S. hierzu in unübertrefflicher Weise die Essays des Schriftstellers Martin Mosebach, einem gelernten Juristen.
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einen über die Düsternis der Alltagspolitik hinweg heben: Ein Treffen mit Carlo Schmid war immer ein kleines Weltereignis“.78
Der Blick auf Carlo Schmid muss also in ein „Dennoch“ münden. Schmid würde seine Welt heute nicht wiedererkennen, er würde aber auch in „geistfernen Zeiten“ (Hans Wollschläger) dieses Geistige unverzagt anmahnen und vor den Abgründen der Geistferne warnen, wie er es Zeit seines Lebens, unter anderen Vorzeichen und unter anderen Zeitumständen, getan hat. Also doch ein Vorbild für alle unabhängig gebliebenen Geister, worunter sich auch die deutschen Staatsrechtslehrer zählen sollten – und Carlo Schmid war einer der ihren.
Auswahlbibliographie 1. Werke von Carlo Schmid (Auswahl) Das Oeuvre Schmids, hier hat dieser Begriff wirklich seine Berechtigung, umfasst über 1.100 Schriften, Reden, Aufsätze, Artikel und Interviews.79 Aus dieser Fülle hier nur eine charakteristische Auswahl:
a) Beispiele aus dem wissenschaftlichen Werk (chronologisch): Die Rechtsnatur der Betriebsvertretungen nach dem Betriebsratsgesetz, Dissertation, betreut von Hugo Sinzheimer, Frankfurt/M., 1923, 270 S. unv. Die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Rechtssätzen dargestellt, Stuttgart 1932 (Habilitationsschrift) Wege und Ziele der Deutschen Außenpolitik, in: Für und Wider. Lebensfragen deutscher Politik, Offenbach/Frankfurt/M. 1952, S. 19–39 Der Deutsche Bundestag in der Verfassungswirklichkeit. In: Friedrich Schäfer, Finanzwissenschaft und Finanzpolitik, Festschrift für Erwin Schoettle, Tübingen 1964, S. 269–284 Politik als geistige Aufgabe, Ges. Werke Bd. 1, Bern/München/Wien 1973, auch als Knaur-TB Nr. 438, 1976 Les relations franco-allemandes. Carlo Schmid-Maurice Schuman, in: Dialogues francoallemands. France Culture/Goethe Institut in Paris (Hg.), 1976, S. 9–32
78 Kreisky a. a. O. S. 39. 79 Vgl. Erhardt a. a. O. S. 203.
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b) Aus dem politischen Werk: Bundestagsreden, 1966 Politik und Geist. Gesammelte Werke 1, Stuttgart 1961, darin „Weimar – Chancen und Risiken einer Verfassung“, „Das Problem der Macht in der Demokratie“, (Vorträge). Hinzu kommen zahlreiche öffentliche Vorträge, die in den aufgelisteten Sammelbänden publiziert worden sind. Die Forderung des Tages, Stuttgart 1946
c) Aus dem autobiographischen, essayistischen und literarischen Werk: Römisches Tagebuch, Tübingen-Stuttgart 1947 (als Karl Schmid) Erinnerungen, Bern/München/Wien 1979, auch als Goldmann-TB Nr. 11316, 1981 Europa und die Macht des Geistes, Ges. Werke Bd. 2, Bern/München/Wien 1973, auch als Knaur-TB Nr. 439, 1976 Gedichte, in: Castrum Peregrini 1953, Heft 14, S. 34–37 Tätiger Geist. Gestalten aus Geschichte und Politik, Hannover 1964
d) Protokolle und Dokumentationen in Zusammenhang mit Carlo Schmid: Das Grundgesetz. Dokumente seiner Entstehung, hg. von H. P. Schneider, bish. 6 Bde Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge/Band 1, Hg. Gerhard Leibholz/ Hermann v. Mangoldt, Tübingen 1951, darin: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, im Auftrag der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rats und des Bundesministers des Innern, bearb. v. Klaus-Berto v. Doemming/Rudolf Werner Füsslein/ Werner Matz sowie Neuausgabe des JöR Band 1, Tübingen 2010, hg. und eingeleitet von Peter Häberle S. V-XXVI
e) Übersetzungen von Carlo Schmid: Dionisio Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Berlin/Leipzig 1929 (gem. mit C. Bruns) Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Tübingen/Stuttgart 1947, 3. A. Frankfurt/M. 1976 Charles de Gaulle, Die Schneide des Schwertes, Frankfurt/M. 1981 (posth.) Julien Green, Der andere Schlaf, Frankfurt/M. 1956 André Malraux, Anti-Memoiren, Frankfurt/M. 1968 Michelangelo, Sonette, Castrum Peregrini Heft 20, S. 43–55 Paul Valery, Über Kunst. Essays, Berlin/Frankfurt/M. 1959 f) Eine Carlo Schmid-Bibliographie wurde von Hans Georg Lehmann, Bonn-Bad Godesberg 1977 bearbeitet. S. weiter die Bibliographie bei Petra Weber, Carlo Schmid, Suhrkamp-TB 1998, st 2912, S. 931–939.
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2. Werke über und zu Carlo Schmid Auerbach, Hellmuth, Die politischen Anfänge Carlo Schmids. Kooperation und Konfrontation mit der französischen Besatzungsmacht, VfZ 36, 1988, S. 595–648 Beise, Marc, Carlo Schmid als Vorbild. Zur Einheit von Geist, Recht und Politik, in: M. Kilian (Hg.), Dichter, Denker und der Staat, Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, Tübingen 1993, S. 91 ff. Eschenburg, Theodor, Letzten Endes meine ich doch, Erinnerungen, 1933–99, Berlin 2000, S. 83 ff., bes. S. 108 f., 114 f., 199 ff. Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, Hg. Theodor Eschenburg/Theodor Heuss/Georg August Zinn unter Mitwirkung von Wilhelm Hennis, Tübingen 1962 Hirscher, Gerhard, Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik. Eine politische Biographie, Bochum 1986 Jens, Walter, Alle Macht dem Parlament, Walter Jens zum 100. Geburtstag von Carlo Schmid, DIE ZEIT v. 6.12.1996 Schroeder, Klaus-Peter, Carlo Schmidt (1896–1979) – Ein deutscher Europäer, in: K. Beckmann/J. Dieringer/U. Hufeld (Hg.), Eine Verfassung für Europa, 2. A. 2005, S. 21–35 Weber, Petra, Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie. München 1996, sowie als Suhrkamp-TB st 2912, 1998 Wiedergeburt des Geistes. Die Universität Tübingen im Jahr 1945, Dokumentation, bearb. v. M. Schmidt/V. Schäfer, Univ.Archiv Tübingen, Reihe 2, Heft 13, Teil IV Mann der ersten Stunde, S. 85–89 Zu Schmids Rolle im Parlamentarischen Rat s. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. II, Deutsche Geschichte von Deutschen Reich bis zur Wiedervereinigung, München 2001, S. 132–135. S. hierzu auch den entsprechenden Teil der Bibliographie bei Petra Weber, Carlo Schmid, a. a. O. S. 941–956.
XXX Hans J. Wolff (1898–1976) Markus Möstl
I. Als Hans J. Wolff am 5. November 1976 in seinem 79. Lebensjahr starb, war man sich in den Nachrufen einig, dass die deutsche Rechtswissenschaft einen ihrer Großen verloren hatte1 und dass sein Name in der Geschichte des deutschen Verwaltungsrechts immer mit Respekt genannt werden würde.2 Insbesondere in seinem dreibändigen „Verwaltungsrecht“,3 lange Zeit eines der klassischen Standard- und zentralen Referenzwerke4 des deutschen Verwaltungsrechts, findet sich sein gerade in der jungen Bundesrepublik enorm prägender Einfluss auf die Formung und wissenschaftliche Durchdringung des Verwaltungsrechts verkörpert.
II. Hans J. Wolff5 wurde am 3. Oktober 1898 in Elberfeld als Sohn eines Textilfabrikanten geboren. Nach dem Besuch des dortigen Städtischen Realgymnasiums und der Reifeprüfung 1917 nahm er am ersten Weltkrieg teil. Er wurde schwer verwundet und mit dem Eisernen Kreuz beider Klassen ausgezeichnet. Auf das Rechtsstudium in Göttingen, Bonn, Halle und München und das Bestehen der Ersten juristischen Staatsprüfung im Jahre 1922 folgte die Ausbildung als Gerichtsreferendar und sodann als Regierungsreferendar im besetzten Rhein-
1 Achterberg, AöR 102 (1977), 118. 2 Kriele, NJW 1977, 28/29. 3 Wolff, Verwaltungsrecht I, 1956; Verwaltungsrecht II, 1962; Verwaltungsrecht III, 1966 (Reihe „Juristische Kurz-Lehrbücher“ des Verlages C. H. Beck), seither viele, regelmäßige Neuauflagen, später fortgeführt von Bachof, dann von Stober und Kluth. 4 Kriele, in „Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, 1988, S. 694; Bachof, JZ 1977, 69. 5 Kurzdarstellungen seines Lebens in Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans J. Wolff zum 75. Geburtstag, 1973, S. 501 ff.; Kriele (Fn. 4), 694/695 ff.; ders., NJW 1977, 28 f.; Achterberg, AöR 192 (1977), 118 ff.; Bachof, JZ 1977, 69 f.
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land, wo er als kommissarischer Bürgermeister und Landratsvertreter früh Verantwortung übernehmen musste. 1925 promovierte er in Göttingen mit einer von Julius Hatschek betreuten Dissertation. Die Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst bestand er 1926 mit hervorragendem Erfolg. Eine Tätigkeit als Regierungsassessor und später Generalreferent der Hochschulabteilung im Preußischen Kultusministerium schloss sich an. Zugleich arbeitete er an einer groß angelegten Untersuchung über „Organschaft und juristische Person“;6 mit deren ersten Band („Juristische Person und Staatsperson“) habilitierte er sich – unter Betreuung von Friedrich Giese – im Jahre 1929 in Frankfurt am Main für die Fächer „Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Staats- und Verwaltungslehre und Rechtsphilosophie“. Im Jahre 1933 wurde er (als Nachfolger von Hermann Heller) auf einen Lehrstuhl für öffentliches Recht berufen, durfte sein Amt jedoch auf Betreiben der Nationalsozialisten aus politischen Gründen nicht antreten.7 Erst ab 1935 konnte er seine akademische Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor am HerderInstitut im fernen Riga fortsetzen;8 nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges war er Berater des deutschen Gesandten und zur Rettung des deutschen Kulturgutes bei der Umsiedlung der Volksdeutschen aus Lettland und wurde für diese Tätigkeit ausgezeichnet. Nach Ablehnung eines Rufes nach Marburg wurde er zum ordentlichen Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie zum Direktor der Institute für Staatsrecht und für Rechtsphilosophie an der Deutschen Karls-Universität zu Prag berufen; er war dort auch Dekan sowie Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Nach dem Kriege verlor Wolff seine Frau, die auf der Flucht aus Prag bei der Geburt einer Tochter starb; mit seinen vier Kindern gelangte er zunächst in Oberbayern an. Er heiratete erneut und wirkte ab 1946 in Münster, zunächst vertretungsweise sowie sodann ab 1948 – bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1967 – als ordentlicher Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und Direktor des Kommunalwissenschaftlichen Instituts an der Universität Münster. 1947/48 war er als Mitglied des Beratenden Ausschusses für Verwaltungs- und Öffentliches Recht in der Britischen Besatzungszone an der Ausarbeitung der Verordnung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (MRVO Nr. 165) beteiligt, die später bei der Schaffung der VwGO modellhaften Einfluss erlangte. 1950 referierte er auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung über die Entwicklung des Polizei-
6 Als zweibändiges Werk erschienen in den Jahren 1933/34: Wolff, Organschaft und juristische Person, Erster Band: Juristische Person und Staatsperson, 1933; Zweiter Band: Theorie der Vertretung, 1934; Nachdruck jeweils 1968. 7 Dazu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 266. 8 Dazu Menger, AöR 93 (1968), 590.
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und Ordnungsrechts in der Britischen Besatzungszone9 und trug auch 1951/52 als Mitglied der Polizeistudienkommission des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt am Main zur Fortentwicklung des Polizeirechts bei. 1952 wurde er als Gründungsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Abteilung in die Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen berufen; 1952–54 war er Erster Vorsitzender der Staatsrechtslehrervereinigung sowie 1958/1959 Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Münster. Über viele Jahre fungierte als Studienleiter der Verwaltungsakademien in Münster und Hagen, als stellvertretender Vorsitzender des Justizprüfungsamtes Hamm und Vorsitzender des Prüfungsamts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Prüfungen der Universität Münster sowie als nebenamtlicher Richter am Oberverwaltungsgericht Münster. Auf ein 1948 herausgegebenes Vorlesungsmanuskript „Allgemeines Verwaltungsrecht“ aufbauend entstand ab Mitte der 1950er Jahre das dreibändige opus magnum zum Verwaltungsrecht,10 das später in ständigen Neuauflagen weiterentwickelt wurde und die Arbeitskraft Wolffs zunehmend band. Gleichwohl gelang es ihm, auch auf dem Gebiete der Rechtsphilosophie weiter tätig zu sein; namentlich rief er im Jahre 1957 die von ihm geleitete und sehr aktive Westfälische Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie ins Leben, auf deren von ihm präsidierten Veranstaltungen namhafte Rechtsphilosophen vortrugen. Hans J. Wolff wurde für seine Verdienste vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahre 1973 wurde er durch Schüler und Kollegen mit einer an seinen Forschungen orientierten Festschrift „Fortschritte des Verwaltungsrechts“11 geehrt. Er verstarb am 5. November 1976, von einem plötzlichen Tod aus der Arbeit gerissen; noch an seinem Todestage schrieb er, wie Otto Bachof berichtet,12 diesem einen Brief, in dem er sich mit Kritikern seiner Ansichten auseinandersetzte. Er wurde seinem Wunsch entsprechend in der Stille beigesetzt.
III. Über das Wesen und die persönliche Art von Hans J. Wolff geben die von Schülern oder Kollegen, die ihn kannten, verfassten Glückwünsche, die Nachrufe sowie
9 Wolff, VVDStRL 9 (1952), 134 ff. 10 Siehe oben Fn. 3. 11 Siehe oben Fn. 5. 12 Bachof, JZ 1977, 69.
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insbesondere ein von Martin Kriele verfasster Beitrag in der Festschrift zum 225. Jubiläum des Verlages C. H. Beck Auskunft;13 namentlich letzterer Beitrag kann mit einer Reihe aufschlussreicher Anekdoten aus dem Leben Wolffs aufwarten, die jedoch nur von denen überzeugend geschildert werden können, die ihn persönlich erlebt haben, und deswegen hier nicht wiedergegeben werden. Durchgehend wird Wolff als ein tief von der Kantschen Ethik und preußischem Pflichtbewusstsein geprägter Mensch beschrieben, für den Selbstdisziplin, Gründlichkeit aber auch Zurückhaltung und persönliche Bescheidenheit charakteristisch waren. Hervorgehoben werden die von seiner Gestalt und Lebensleistung ausgehende natürliche Autorität, die er ausstrahlte, aber auch Güte und Herzlichkeit, die er insbesondere seinen Schülern entgegenbrachte, sowie sein in den von Kriele geschilderten Anekdoten zum Ausdruck kommender Humor. Wolffs Arbeitsstil war – gerade in der Bewältigung, Sammlung und Ordnung des riesigen Stoffs für sein „Verwaltungsrecht“ – von äußerster Genauigkeit und Bemühung um Vollständigkeit geprägt, in der – nach einem Urteil Bachofs – jedoch kein Hang zur Pedanterie zum Ausdruck kam, sondern das Wissen darum, dass saubere handwerkliche Arbeit unerlässliche Voraussetzung schöpferischer Wissenschaft ist.14 Seine Mitarbeiter bezog er offenbar – bis hin zum Auftrag, Vorentwürfe für Abschnitte seines Werkes zu verfassen, aber auch, indem er ihnen seine Texte zur kritischen Diskussion vorlegte – durchaus intensiv in die eigene Arbeit ein.15
IV. Was die großen Qualifikationsschriften von Hans J. Wolff anbelangt, sticht zunächst die 1925 erschienene Göttinger Dissertation „Die Grundlagen der Organisation der Metropole“16 ins Auge, die die Frage nach der rechtlichen Formung, d. h. der angemessenen rechtlichen Gestalt des modernen Phänomens der Riesenstadt zum Gegenstand hat. Sie beeindruckt (mag aus heutiger Sicht auch manche Einschätzung überholt erscheinen) nicht nur durch ihre innovative Themenstellung, sondern auch durch den in ihr zum Einsatz gebrachten Methodenreichtum, indem sie zu einem großen Teil auf sozialwissenschaftlichen (auch durch umfangreiche statistische Daten belegten) Erkenntnissen und Untersu-
13 Nachweise oben Fn. 4 und 5; außerdem Menger, AöR 93 (1968), 590 f. 14 Bachof, JZ 1977, 69/70. 15 Kriele (Fn. 4), S. 694/697. 16 Wolff, Die Grundlagen der Organisation der Metropole, 1925.
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chungen aufbaut und sich überdies gewandt auch auf rechtsvergleichendem Terrain bewegt (da ausführlich auch auf Metropolen wie London, Paris, New York etc. eingegangen wird). Der groß angelegten, grundlegenden und auch rechtstheoretisch weit ausholenden Untersuchung „Organschaft und juristische Person“,17 mit deren Band 1 sich Wolff in Frankfurt habilitierte, blieb es im Nationalsozialismus zunächst versagt, größere Wirkung entfalten zu können; als umso einflussreicher konnte sie sich (auch über das Wolffsche Verwaltungsrechtslehrbuch) auf die wissenschaftliche Durchdringung des Verwaltungsorganisationsrechts in der Bundesrepublik erweisen.18
V. Hans J. Wolff galt nach dem Zusammenbruch des NS-Staates – zu Recht – als politisch nicht belastet, was sicher dazu beigetragen hat, dass Wolff in der Nachkriegszeit einen so prägenden Einfluss auf die Formung des Verwaltungsrechts der Bundesrepublik entfalten konnte (vgl. seine Heranziehung als Berater bereits durch die Britische Besatzungsmacht).19 Dass zwischen dem etwa vom Staatsdenken des Göttinger Neu-Kantianer und republikanischen Demokraten Leonhard Nelson geprägten20 Wolff und den Nationalsozialisten eine ideologische Distanz bestand, wird in der Biographie Wolffs bereits daran deutlich, dass ihm die NSDAP, wie unter II. ausgeführt, die Annahme des Frankfurter Lehrstuhls verwehrte und Wolff infolgedessen für seine weitere akademische Karriere zunächst den weiten Weg nach Riga gehen musste.21 An dem Gesagten ändert auch die von Wolff noch 1933 herausgebrachte Schrift „Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches“22 nichts.23 Freilich wird diese Schrift dem heutigen Leser bereits durch die Art, wie sie das Versagen der „absoluten Demokratie“ und des „liberalistischen, relativistischen und pluralistischen Staates“24 der Weimarer Zeit analysiert, sowie insbesondere darin, dass sie sich (wie andere Schriften dieser Zeit) in dem Rahmen der prinzipiellen Anerkennung der neuen Verfassungslage,
17 Siehe oben Fn. 6. 18 Böckenförde, in FS Wolff (Fn. 5), S. 269 ff.; Battis, NJW 1989, 884. 19 Kriele, (Fn. 4), 694/695. 20 Kriele (Fn. 4), 694/699. 21 Battis, NJW 1989, 884/885. 22 Wolff, Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, 1933. 23 Zum Folgenden Battis, NJW 1989, 884 f. 24 Wolff (Fn. 22), S. 17 ff., 24.
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der durch die Verhältnisse der sich verfestigenden NS-Herrschaft gezogen war, halten musste und auch gehalten hat,25 als letztlich nicht akzeptabel erscheinen. Dennoch wird bei der Lektüre deutlich, dass der Schrift (in scharfem Kontrast zu anderen Schriften dieser Zeit) jeglicher ideologischer Überschwang fehlt und dass sie insgesamt als eine Art Versuch eines an sich von einem anderen Denken herkommenden Wissenschaftlers erscheint, der neuen Lage etwas Sinnhaftes abzugewinnen und sie nach eigenen Vorstellungen zu interpretieren – nicht ohne zugleich sich abzeichnenden Fehlentwicklungen eindämmend entgegenzutreten: Es ist insofern signifikant, dass Wolff die neue Herrschaftsform als „autoritäre Demokratie“ kennzeichnet, in der die Herrschaftswaltung nach wie vor vom Volk getragen und namens des Volkes ausgeübt wird und in der trotz des eingetretenen Verfassungswechsels auch die zugrunde liegende verfassunggebende Gewalt nicht etwa ausgetauscht worden sei; eindringlich ist auch die gegen Ende der Schrift ausgesprochene Mahnung, dass Führung verantwortungsbewusste Mitgestalter, d. h. nicht Unfreie, sondern Freie voraussetze.26 Es kann deswegen nicht verwundern, dass die Schrift Wolffs in Rezensionen durch linientreuere Kollegen z. T. scharf kritisiert wurde.27 Freilich ist unverkennbar, dass Wolff – wie die Rufe nach Marburg und Prag belegen – durchaus auch unter den Bedingungen des NS-Staates einen Platz in der Wissenschaft gefunden hatte; und doch fällt auf, dass sich Wolff während der NS-Zeit, von einigen Abhandlungen zur Rechtsphilosophie und Methodenlehre abgesehen, mit Veröffentlichungen eher zurückhielt.28 Wolff selbst beschrieb seine Rolle während des Dritten Reiches so: „Ich war kein Held, aber ich habe mich wenigstens nicht kompromittiert“.29
VI. Seine volle wissenschaftliche Blüte an Schaffenskraft und Einfluss bei der Formung des Verwaltungsrechts erlangte Wolff nach dem Kriege und in der Bundesrepublik. Dies gilt zunächst in praktischer Hinsicht durch seine prägende Mitwirkung beim Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Britischen Besatzungszone und seine (durch reichhaltige publizistische Tätigkeit begleitete) Kommissionsmitarbeit zur Fortentwicklung des Polizeirechts. Von großer Bedeu-
25 Stolleis (Fn. 7), S. 320. 26 Wolff (Fn. 22), S. 13, 39, 44. 27 Nachweise bei Battis, NJW 1989, 884/885. 28 Kriele, NJW 1977, 28. 29 Zitat nach Kriele (Fn. 4), 694/695.
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tung ist aber auch sein eminenter Beitrag zur theoretischen Durchdringung und Weiterentwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts durch sein – aus der Keimzelle des Vorlesungsmanuskripts zum Allgemeinen Verwaltungsrecht 1948 hervorgegangenes – dreibändiges Verwaltungsrechtslehrbuch.30 Wolff sah die großen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus der (u. a. infolge der umfassenden Rechtsschutzgewährleistung) gestiegenen Bedeutung des öffentlichen Rechts, aus der gerade im Vergleich zum Zivilrecht noch weit weniger weit fortgeschrittenen dogmatischen Durchdringung und dem geringen Kodifikationsgrad des Verwaltungsrechts sowie aus dem neuen Verfassungsumfeld des Grundgesetzes ergaben.31 Er ergriff die hierin liegende Chance und schuf mit seinem dreibändigen und für lange Zeit zum Standardwerk werdenden Verwaltungsrechtslehrbuch einen wichtigen Eckstein in der Konstruktion des sich formierenden Verwaltungsrechts der jungen Bundesrepublik. Kennzeichnend für sein Lehrbuch sind vor allem ein (in der neueren Verwaltungsrechtswissenschaft wieder spürbar aus der Mode gekommener) unbändiger Wille – zur gliedernden Ordnung und Durchdringung des Stoffs (sichtbar an feinsten Untergliederungen, in denen teilweise beinahe jeder Satz einen eigenen Gliederungspunkt einnimmt), – zur begrifflichen Präzision und durchdachten Definition (sichtbar an dem thesenhaften, weithin ohne Erläuterungen und Auseinandersetzungen auskommenden Stil des Lehrbuches sowie an unzähligen, den Duktus des Buches prägenden Definitionen), – zur Vollständigkeit der Darstellung (sichtbar an vielen langen Aufzählungen oder z. B. daran, dass selbst scheinbare Selbstverständlichkeiten wie die Messung der Zeit32 als rechtserhebliche Tatsache präzise erläutert werden).33 Das Urteil Norbert Achterbergs, Wolff habe das Verwaltungsrecht zur bis dahin höchsten terminologischen und systematischen Prägnanz geführt, erscheint vor diesem Hintergrund gut begründbar.34 Nachhaltigen Einfluss hat Wolff indes nicht nur durch die bis hierher umrissene Ordnungs- und Präzisierungsleistung, sondern vor allem auch durch seine Innovationskraft erlangt: An entscheidenden Stellen des Verwaltungsrechts ist es ihm gelungen, durch schöpferischen
30 Siehe oben Fn. 3. 31 Vgl. Kriele, (Fn. 4), 694/696; vgl. auch die Einführung in Wolff, Verwaltungsrecht I, 1956, § 1. 32 Wolff, Verwaltungsrecht I, 1956, § 37. 33 Ähnlich: Kriele (Fn. 4), 694; ders., NJW 1977, 28; Bachof, JZ 1977, 69/70. 34 Achterberg, AöR 102 (1977), 118/120.
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Einfall35 neue Kriterien und dogmatische Figuren zu begründen, die sich in Wissenschaft und Praxis durchgesetzt haben. So gehen z. B. die Sonderrechtslehre zur Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht,36 die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht37 oder die Figur des dinglichen Verwaltungsakts maßgeblich auf ihn zurück.38 Kennzeichnend für Wolffs Doktrin ist das Bestreben, die öffentliche Gewalt rechtsstaatlich zu bändigen und demokratischer Kontrolle zu unterwerfen.39 Die für ihn typische – selten anzutreffende – Kombination praktischer Verwaltungserfahrung (sowohl in der Ministerialverwaltung als auch als Richter des Oberverwaltungsgerichts) und gründlicher philosophischer Bildung hat sein Werk geprägt.40
VII. Wolff war – neben seinem prägenden Wirken als Verwaltungsrechtler – stets auch auf dem Gebiete der Rechtsphilosophie tätig.41 Als herausragender Ausweis seines rechtsphilosophischen Denkens wird gerne die Abhandlung „Über die Gerechtigkeit als principium juris“42 genannt. Von seiner Leistung als Begründer und Leiter der Westfälischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Staatsphilosophie war bereits unter II. die Rede.
VIII. Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch Wolffs Verdienste um die Universität. Dies gilt zunächst in theoretischer Hinsicht; denn nicht zuletzt durch die verwaltungsorganisatorischen Arbeiten Wolffs wurde der Doppelcharakter der Universität als Anstalt und Körperschaft juristisch fassbar.43 In praktischer Hinsicht kommt
35 Dazu Bachof, JZ 1977, 69/70. 36 Wolff, AöR 76 (1950–51), 205. 37 Wolff, Verwaltungsrecht I, 1956, § 23 I. 38 Kriele (Fn. 4), 694 f. 39 Menger, AöR 93 (1968), 590. 40 Bachof, JZ 1977, 69. 41 Kriele (Fn. 4), 694/699 f.; ders., NJW 1977, 28; Achterberg, AöR 102 (1977), 118/120, auch zum Folgenden. 42 Wolff, in FS Sauer, 1949, 103 ff. 43 Kriele (Fn. 4), 694/695.
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Wolffs bereitwilliger Einsatz in der akademischen Selbstverwaltung hinzu, etwa als Dekan in Prag und Münster oder als geistiger Vater der seinerzeit als eine der modernsten geltenden Verfassung der Westfälischen Wilhelms-Universität.44 Wolff war Mitglied des Hochschulrechtsausschusses der Westdeutschen Rektorenkonferenz und wurde nach seiner Emeritierung in den Gründungsausschuss der Universität Bremen berufen. Dass er 1952–54 erster Vorsitzender der Staatsrechtslehrervereinigung gewesen ist, ist bereits unter II. erwähnt worden.
IX. Hans J. Wolff wirkte in hohem Maße schulbildend und brachte eine große Zahl an Schülern hervor; unter den von ihm betreuten oder mitbetreuten Habilitationen sind die Namen Ridder, Menger, von Unruh, Böckenförde, Küchenhoff, Kriele, Dreier, Steiger und Hoppe zu nennen.45 Er hat das deutsche Verwaltungsrecht der jungen Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt; seine Lehren haben noch heute nachhaltigen Einfluss.
Auswahlbibliographie Die Grundlagen der Organisation der Metropole, Diss. Jur. Göttingen 1925 Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, 1933 Organschaft und Juristische Person, Bd. I: Juristische Person und Staatsperson, 1933 (Neudruck 1968); Bd. II: Theorie der Vertretung, 1934 (Neudruck 1968) Evangelische Ethik des Politischen. Eine Auseinandersetzung mit Georg Wünsch, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. 32 (1938/39), S. 225–261 Über die Gerechtigkeit als principium juris, in: Festschrift für Wilhelm Sauer, 1949, S. 103–120 Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht, AöR 76 (1950), S. 205–217 Die Nichtigkeit von Verwaltungsakten, MDR 1951, S. 523–527 Werdendes Polizei- und Ordnungsrecht in den Ländern der Britischen Besatzungszone, DVBl. 1951, S. 300–303 und 334–337 Die Gestaltung des Polizei- und Ordnungsrechts insbesondere in der britischen Besatzungszone, VVDStRL 9 (1952), S. 134–180 Begriff und Kriterium der Wahrheit, in Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 587–605 Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 33–52
44 Menger, AöR 93 (1968), 590/591, auch zum Folgenden. 45 Kriele (Fn. 4), 694/700.
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Die Rechtsgestalt der Universität, 1956 Verwaltungsrecht I. Ein Studienbuch, 1956 (seither in vielen Neuauflagen) Verwaltungsrecht II. Ein Studienbuch, 1962 (seither in vielen Neuauflagen) Rechtsformen gemeindlicher Einrichtungen, Archiv für Kommunalwissenschaften 1963, S. 149–174 Öffentliche Sachen, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. 8 (1964), S. 36–40 Verwaltungsrecht III. Ein Studienbuch, 1966 (seither in vielen Neuauflagen)
XXXI Friedrich Berber1 (1898–1984) Albrecht Randelzhofer
I. Wer während der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und bis 1967 an der Universität München studierte, konnte miterleben, wie nicht nur solche Berühmtheiten wie der Theologe und Philosoph Romano Guardini oder der Historiker Franz Schnabel Studenten der verschiedensten Fachrichtungen und nicht studentische Gasthörer zu vielen Hunderten Semester für Semester in ihre Hörsäle lockten, sondern auch der Jurist Friedrich Berber. Seine Vorlesungen zum Völkerrecht und insbesondere zur Allgemeinen Staatslehre und zur Staatsphilosophie waren weit über die Juristische Fakultät hinaus Anziehungspunkte für ganze Generationen von Studenten. Friedrich Berber war akademischer Lehrer aus Leidenschaft und Überzeugung. Für ihn war die Lehre nie nur ein als lästig empfundener Annex zur Forschung. Die Lehre hatte in seinem Wirken und in seinem Selbstverständnis einen hohen Stellenwert. Ihr widmete er sich mit dem gleichen Einsatz und der gleichen Hingabe wie seiner Forschung. Nie hat er einen Hörsaal ohne sorgfältigste Vorbereitung betreten, und so souverän er im Hörsaal war, eine Viertelstunde vor jeder Vorlesung befiel ihn eine nervöse Spannung, in der er sich jede Störung seiner Konzentration verbat und die wohl Voraussetzung für große Vorlesungen ist. Was leicht und elegant wirkte, war auch hier das Ergebnis ernsthafter, hingebungsvoller Arbeit. Dabei schöpfte er aus vielen Quellen, keinesfalls nur der rechtswissenschaftlichen. Insbesondere die Geschichte, die Philosophie und die Religionswissenschaften bildeten gewichtige Bestandteile seiner Vorlesungen und machten sie so reich und faszinierend. Gerade der Jurastudent, durch die Enge und Spezialität mancher rechtswissenschaftlichen Vorlesung für Anfänger irritiert und entmutigt, fand hier, was er sich von der Universität erhofft und
1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen durchgesehenen und ergänzten Text des Verfassers in dem Sammelband „Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten“. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988, S. 170–177. Die Herausgeber danken dem Verlag C. H. Beck für die freundliche Überlassung der Rechte für diesen Wiederabdruck.
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erträumt hatte: universitas im Sinne einer umfassenden und tiefschürfenden Behandlung eines Stoffes. Und wenn es nicht der Stoff gewesen wäre, der gebannte Aufmerksamkeit und hingebungsvolles Interesse bewirkte, dann wäre bereits die Form, in der er dargeboten wurde, ein großer intellektueller Genuß gewesen. Als Vortragenden zeichneten Berber klare Gliederung und sprachliche Eleganz aus, die nie auf Kosten der Verständlichkeit erreicht wurde. Und doch würden gedankliche Klarheit und sprachliche Brillanz das Phänomen Berber im Hörsaal nur zum Teil erklären. Das ganz Besondere an Berbers Vorlesungen lag wohl darin, daß er seinen Hörern das Gefühl vermittelte, sie durch seine Vorlesungen an einem Wissen teilnehmen und teilhaben zu lassen, das einerseits zwar weit entfernt von jeder Art obskurer Geheimlehre war, andererseits aber auch entfernt von dem allgemein anerkannten Wissen. Daß ihm die Vermittlung dieses Gefühles gelang, hat vielleicht auch mit jenen Unwägbarkeiten zu tun, auf die Berber selbst mitunter anspielte, wenn er, nur zum Teil scherzend, darauf hinwies, daß der Beruf des Professors im Hörsaal viel gemeinsam habe mit dem eines Schauspielers. Unter diesem Aspekt ist ihm wohl die Kargheit heutiger Hörsäle nicht als adäquate Bühne erschienen. Wie anders sei das doch gewesen, meinte er mitunter, als bei den Vorlesungen von Johann Heinrich Jung-Stilling, seiner Zeit berühmter Professor für Finanzund Kameralwissenschaften in Marburg, zwei livrierte Diener mit Kandelabern neben dem Vorlesungspult standen. Es ist nicht leicht zu sagen, in welchem Maße Berber sich seiner suggestiven Kraft bewußt war. Jedenfalls hat er sie nie dazu genützt, aus seinen Hörern und Schülern eine ihm blind ergebene Gefolgschaft zu formen. Wenn man im Zusammenhang mit ihm überhaupt von Schülern spricht, so muß man der Vorstellung entgegentreten, Friedrich Berber habe eine wissenschaftliche Schule im strengen Sinne begründet oder auch nur begründen wollen. Er verkündete kein geschlossenes System, in das er seine Schüler einzwängen wollte, sondern war Vorbild durch eine bestimmte Haltung, sich wissenschaftlichen Fragen zu nähern und mit ihnen umzugehen. Er verlangte keine bedingungslose Gefolgschaft und vertrat keinen herrischen Anspruch auf geistige Unterwerfung. Es ging ihm nicht darum, seine Ideen als unbezweifelbare Wahrheiten zu verkünden und ihre Propagierung seinen Schülern als Aufgabe aufzuerlegen. Gegenüber solchen Formen wissenschaftlicher ‚Gewalttätigkeit‘ war er durch sein reiches Wissen gefeit, insbesondere sein Wissen um die Relativität aller sogenannten Systeme. Was er verlangte und forderte, war wissenschaftliche Neugierde, Offenheit für vielfältige Fragestellungen und die Einsicht in die notwendigerweise ethische Fundierung des Rechts, insbesondere auch des Völkerrechts. Innerhalb dieser Postulate ließ er seinen Schülern, auch soweit sie seine Doktoranden oder Habilitanden wurden, sowohl in der Themenwahl wie auch bei den Ergebnissen, voll-
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kommene Freiheit. Auf der anderen Seite gestattete er sich selbst gerade nicht jene Freiheit im Umgang mit Dissertationen und Habilitationsschriften, die nicht selten bei großen Gelehrten anzutreffen ist und die sich darin äußert, daß der Doktorand oder Habilitand sehr lange Zeit auf die Durchsicht und Bewertung der Arbeit warten muß. Auch hier bewährte sich Berbers strenges Dienstethos. In der kürzest möglichen Zeit konnte jeder mit einer sorgfältigen, um Gerechtigkeit bemühten Bewertung rechnen. Da es ihm nicht um die Begründung einer wissenschaftlichen Schule im engeren – und damit problematischen – Sinne zu tun war, ist es nur folgerichtig, daß er als seine Schüler nicht nur jene verstand, die die Universitätslaufbahn, ein Wort, das er sicher nicht gern gehört hätte, gewählt hatten, auch nicht nur den großen Kreis seiner Doktoranden, sondern alle, die, von seinem Denken angezogen, seine Nähe suchten und fanden. Ihnen öffnete er sich in Gesprächen im kleinen Kreise in einer Weise, wie dies in einer Vorlesung oder selbst in einem Seminar kaum möglich ist. Überhaupt, so eindrucksvoll und wahrhaft brillant er vor einem großen Auditorium war, er bevorzugte die kleine Runde, das tiefgreifende Gespräch. In diesen Gesprächen hatte man noch mehr als in den Vorlesungen Teil an dem aus so vielen Quellen gespeisten, weit über die Rechtswissenschaft hinausreichenden Wissen und Verstehen Berbers.
II. Neben den bereits genannten Gründen für den überragenden Erfolg als akademischer Lehrer ist ein weiterer, wichtiger zu nennen. Seine Lehre war, jedenfalls im Völkerrecht, unmittelbar verknüpft mit seiner Forschung. Berbers opus magnum, sein dreibändiges Lehrbuch des Völkerrechts, erschien zwischen 1960 und 1964 (2. Auflage zwischen 1969 und 1977), entstand also in unmittelbarer Verknüpfung mit den zur gleichen Zeit gehaltenen Vorlesungen. Letztere waren der unmittelbare Ausfluß seiner Forschungsarbeit. Berbers Lehrbuch ist eine der führenden, eigenständigen Darstellungen des Völkerrechts, mit der sich der Autor einen bleibenden Platz in dieser Wissenschaft gesichert hat. Viele der Grundgedanken sind bereits in der 1934 erschienenen programmatischen Schrift ‚Sicherheit und Gerechtigkeit‘ erkennbar. So insbesondere der Grundton des gesamten völkerrechtlichen Schaffens Berbers, nämlich die Überzeugung, daß bei aller Einsicht in den politischen Charakter des Völkerrechts seine ethische Verankerung unverzichtbar ist. Was in der genannten Schrift im Kern angelegt war, wird in dem dreibändigen Lehrbuch in großem Rahmen entfaltet.
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Die unverwechselbare Handschrift des Autors zeigt sich im ersten Band ganz besonders in dem einleitenden Kapitel über Begriff, Wesen und insbesondere die Besonderheiten des Völkerrechts. Letztere erkennt Berber im genossenschaftlichen, dezentralisierten, konkreten, politischen und ethischen Charakter des Völkerrechts. Die Dezentralisierung ergibt sich vor allem daraus, daß das Völkerrecht nicht von internationalen Organen, sondern von den Organen der einzelnen Staaten garantiert wird. Die konkrete Natur folgt daraus, daß die Rechtssubjekte nicht als Staaten schlechthin, sondern als konkrete, historische Mächte in das Völkerrecht eintreten. Der politische Charakter ist dadurch bedingt, daß das dem überwiegenden Teil des Völkerrechts zugeordnete Lebensgebiet ein politisches ist. Gemäß seinem ethischen Charakter ist das Völkerrecht nicht ohne gewisse moralische Bindung der Außenpolitik möglich. Bei aller Betonung dieser Besonderheiten des Völkerrechts gegenüber dem innerstaatlichen Recht hält Berber entschieden am Völkerrecht als einer Rechtsordnung fest, einer Rechtsordnung freilich, in der der Zwang zur Durchsetzung nicht im entferntesten die Rolle spielen kann, wie im innerstaatlichen Recht, vielmehr die ethische Fundierung von ausschlaggebender Bedeutung ist. Der zweite Band des Lehrbuches ist in der deutschsprachigen Völkerrechtsliteratur konkurrenzlos. Er allein enthält eine umfassende, systematisch überzeugende Darstellung des Kriegsrechts im engeren Sinne. Nur für wirklichkeitsfremde Vertreter und Betrachter des Völkerrechts, die meinten, mit dem völkerrechtlichen Gewaltverbot sei der Krieg auch tatsächlich aus der Welt geschafft, und die Behandlung des Kriegsrechts daher überflüssig, konnte es eine Überraschung sein, daß gerade dieser zweite Band schon nach wenigen Jahren eine 2. Auflage erlebte. Wenn der dritte Band auch in mancher Hinsicht die Funktion eines Auffangbeckens für die in den ersten beiden Bänden nicht behandelten Bereiche erfüllt, so ist er doch in erster Linie, und dies macht seine grundlegende Bedeutung aus, das einzige Lehrbuch, das ein umfassendes System der völkerrechtlichen Kriegsverhütung bietet. So sehr dies Berbers Grundpostulaten von Sicherheit und Gerechtigkeit entspricht, erliegt er doch nicht der Gefahr, gerade in diesem Bereich das geltende Völkerrecht in idealisierter, seine Wirkungsmöglichkeiten überschätzender Weise darzustellen. Insgesamt ergibt sich der hohe Rang des Gesamtwerkes aus der sprachlichen Klarheit, der überzeugenden Systematik und der Wirklichkeitsnähe der Darstellung. Hier handelt es sich nicht um das nur geistreiche Werk eines Stubengelehrten, sondern um eine wirklichkeitsnahe, den Vorrang der Staatenpraxis gegenüber bloßen Lehrmeinungen stets berücksichtigende Darstellung des Völkerrechts, wie es ist. Dies bedeutet auf der anderen Seite nicht, daß der Autor nicht immer wieder an den notwendigen Stellen Vorschläge für eine Verbesserung des geltenden Rechts macht. Dabei zeichnen
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ihn Augenmaß und Einsicht in das Machbare aus. Jeder Leser des Werkes wird nicht nur auf juristischem Gebiet verläßlich und reich belehrt, er erfährt auch vieles über die historischen, politischen und philosophischen Hintergründe und Zusammenhänge. Wenn auch für den Studenten und den bereits Kundigen unterschiedlich, die Lektüre dieses Werkes ist ein Bildungserlebnis für jeden Leser. Es kann nicht verwundern, daß ein aus so vielen Quellen schöpfender Gelehrter mehr an den großen Linien und dem Überblick über das Ganze interessiert und dazu befähigt war, wie dies durch das Schreiben eines großen Lehrbuchs belegt wird. Jedenfalls auf einem Gebiet hat es Berber aber auch zum Rufe des weltweit anerkannten Spezialisten gebracht, nämlich auf dem des internationalen Wasserrechts. Seine 1955 erschienenen ‚Rechtsquellen des internationalen Wassernutzungsrechtes‘ (1964 als Rivers in International Law), waren lange Zeit das führende Werk auf diesem Gebiet und haben ihm weltweite Anerkennung gebracht. Dieses Buch ist eine Folge seiner Erfahrungen, die er auf diesem wichtigen Gebiet als Rechtsberater der indischen Regierung gesammelt hatte. In dieser letztgenannten Eigenschaft war er ganz entscheidend am Zustandekommen des Indusvertrages zwischen Indien und Pakistan beteiligt, dessen Formulierung überwiegend auf ihn zurückgeht. Dem Spezialgebiet des Wasserrechtes blieb er als Berichterstatter des einschlägigen Ausschusses der International Law Association verbunden. Die bekannten Helsinki Rules von 1966 sind sein Werk. Galt der Staatsphilosophie, wie seine Vorlesungen belegten, schon lange seine Liebe und sein Interesse, so ermöglichte ihm erst die durch die Emeritierung gewonnene Zeit, auch auf diesem Gebiete in bedeutungsvoller Weise literarisch hervorzutreten. 1973 erschien sein ‚Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte‘, das bereits 1978 eine 2. Auflage erlebte. Ein solches Werk konnte auch nur im Alter als Frucht staunenswerter Belesenheit und langen Überdenkens entstehen. So sehr Berber in diesem Buch andere Autoren in deren Worten zu uns sprechen läßt, er verzichtet nicht auf die eigene Wertung. Daß diese mitunter noch vorsichtig und indirekt erfolgt, liegt nicht daran, daß der Autor keine eigene Meinung dazu hätte; vielmehr geschieht es aus einer Abneigung gegen apodiktische Urteile heraus, wobei diese Skepsis auch den eigenen Standpunkt umfaßt. Trotz dieser grundsätzlichen Zurückhaltung findet der aufmerksame Leser interessante, ja kühne Akzente genug. Wer ist bisher schon dem Gedanken nachgegangen, daß die alttestamentarischen jüdischen Propheten eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit gespielt haben? Mit Ausnahme der Bücher zum internationalen Wasserrecht sind Berbers Werke alle im Verlag C. H. Beck erschienen. Für den zuständigen Lektor war es sicher ein großes Glück, daß er dabei nicht mit der bei großen Geistern mitunter anzutreffenden ‚genialen Schlamperei‘ konfrontiert war, was den Zustand der Manuskripte und den Zeitpunkt ihrer Ablieferung anlangte. Infolge seiner
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strengen Arbeitsdisziplin und hohen Schaffenskraft war Berber stets in der Lage, zugesagte Termine einzuhalten und die eingereichten Manuskripte in tadellosem Zustand abzuliefern. Überfordert hätte er seinen Lektor wohl nur dann, wenn er ihm mit Anspruch auf Befolgung vorgetragen hätte, was er gelegentlich in guter Laune im kleinen Kreise zum besten gab: Als der berühmte Oswald Spengler, Autor des Verlages C. H. Beck, gestorben war, hat sich sein Lektor aus Gram darüber das Leben genommen. Berber fügte augenzwinkernd hinzu, leider werde dies bei seinem Tode nicht der Fall sein.
III. Weniger als bei den meisten anderen Gelehrten war das private Leben Friedrich Berbers geschieden von seiner Persönlichkeit als wissenschaftlicher Lehrer und Forscher. Dies lag nicht zuletzt daran, daß er Junggeselle geblieben war. Freilich wäre es verfehlt, daraus auf eine Abneigung gegenüber Frauen zu schließen. Soweit sie geistvoll und gutaussehend waren, zählten sie zu den von ihm ganz besonders geschätzten Gesprächspartnerinnen. Dennoch ermöglichte ihm das Fehlen einer Familie die nahezu ausschließliche Hinwendung an die Wissenschaft auch in seinem privaten Leben. Seine Bibliothek hätte manchem Institut Ehre gemacht und ermöglichte ihm, in weitgehender Zurückgezogenheit hoch über dem Tegernsee seiner Arbeit nachzugehen. In einer Zeit, in der das Mittelmäßige nach vorne drängt, war er allem Lauten, Aufdringlichen und zum Markte Drängenden abhold. Er lebte ein zurückgezogenes, strenger Disziplin unterworfenes, der Wissenschaft gewidmetes Leben. Es kann nicht Wunder nehmen, daß solche Zurückgezogenheit zu vielfachen Spekulationen und Legendenbildungen, zum Teil der abenteuerlichsten Art, Anlaß bot. Nichts wäre aber falscher, als in ihm den typischen, vielzitierten Gelehrten im elfenbeinernen Turm ohne Bezug zur Wirklichkeit zu sehen. Denn so sehr er in den Jahren seiner Münchner Professur dem Bild des gelehrten Forschers entsprach, so wenig war sein Leben in den üblichen Bahnen einer wissenschaftlichen Karriere verlaufen und so wenig entbehrte es des vielfachen Bezuges zur Wirklichkeit. Und doch erscheint es vom Ende her gesehen so, als wären alle früheren Etappen seines Lebens letztlich nur Vorbereitung und Hinführung auf seine Zeit als Professor an der Universität München gewesen, eine Zeit, die er selbst als Erfüllung empfand. Jede vorausgegangene Etappe trug auf ihre Weise zur Ernte der späten Jahre bei, und die wesentlichsten Determinanten waren schon in frühen Jahren ausgeprägt. Die große Bedeutung, die religiöse Fragen im Leben und Werk Berbers spielten, geht zurück auf die Geburt am 27. November 1898 in Marburg als Sohn eines
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Methodistenpredigers und die stark religiös geprägte Atmosphäre des Elternhauses. Herausragende Leistungen im in Ansbach abgelegten Abitur führten zur Aufnahme in die von König Max II. errichtete renommierte Stiftung Maximilianeum in München und zum Studium der Rechtswissenschaften an der dortigen Universität. Den größten Eindruck auf Berber machte dabei freilich der Soziologe Max Weber. Religiöse und ethische Fragen beschäftigen auch den Studenten in existentieller Weise und führten zu intensiven Kontakten mit Quäkerkreisen in England. Nach glänzend absolviertem Großem Juristischem Staatsexamen erfolgte der Eintritt in den bayerischen Justizdienst als Staatsanwalt und dann Richter. Bald aber empfand Berber, daß seine eigentliche Neigung und Berufung auf wissenschaftlichem Gebiet lag. So ergriff er 1930 gerne die Möglichkeit, auf der Grundlage eines Lehrauftrages an der renommierten Hochschule für Politik in Berlin, Staats- und Völkerrecht zu lehren. Seit 1936 war er daneben am Institut für Auswärtige Politik in Hamburg in leitender Funktion tätig. In beiden Funktionen und seit Beginn des Krieges formell dem Auswärtigen Amt unterstellt, konnte es nicht ausbleiben, daß er in vielfältige Beziehungen zu den damaligen Machthabern geriet. Mancher Vorwurf ist ihm hinsichtlich dieser Zeit nach dem Kriege gemacht worden, ohne daß freilich derartige Vorwürfe näher substanziiert worden wären. Der Verfasser dieses Beitrages fühlt sich nicht berufen, darüber selbst ein Urteil zu fällen. Es sei ihm aber gestattet, auf eine Aussage Arnold Toynbees hinzuweisen, mit dem Berber seit 1935 Kontakte unterhielt. In seinem 1967 erschienenen Buch Acquaintances schreibt Toynbee über Berber dem Sinne nach, er sei kein Anhänger der Nationalsozialisten gewesen, doch habe er sich nach außen so getarnt, daß mitunter selbst Freunde über seine wahren Absichten in Zweifel gerieten. Seine eigene Sicht der Dinge und Einschätzung seiner Rolle gibt Berber in seinen 1986 posthum wiederum im C. H. Beck Verlag erschienenen Lebenserinnerungen, die den beziehungsreichen Titel ‚Zwischen Macht und Gewissen‘ tragen, vor allem in den beiden umfangreichen Kapiteln ‚Die Machtergreifung des Nationalsozialismus‘ und ‚Meine Genfer Mission‘, die nahezu die Hälfte des Buches ausmachen. Ende 1943 nützte Berber eine Entsendung durch das Auswärtige Amt in die Schweiz, um dort zu verbleiben. Im Zusammenwirken mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz widmete er sich völkerrechtlich-humanitären Bemühungen, denen Erfolg nicht versagt blieb. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mußte er die Schweiz verlassen. In der französischen Besatzungszone arbeitete er zunächst als Rechtsanwalt und danach als Rechtsberater der französischen Militärregierung. In Anknüpfung an seine Verbindungen nach England ergab sich 1951 die Möglichkeit, Rechtsberater der indischen Regierung zu werden. Berber ergriff diese Möglichkeit, und die Jahre zwischen 1951 und 54 waren für ihn nicht nur Jahre reicher praktischer völkerrechtlicher Tätigkeit, sondern auch
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Jahre des Kennenlernens einer anderen Kultur und Religion. Sein ‚Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte‘, das sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, daß es die übliche, auf Europa beschränkte Sicht überschreitet, hätte ohne diese Jahre in Indien so bestimmt nicht geschrieben werden können. So sehr er die Zeit in Indien als Bereicherung und Erweiterung seines Gesichtskreises empfand, so gerne folgte er doch 1954 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Völkerrecht, Rechtsund Staatsphilosophie an der Universität München. Für diese Aufgabe, die er als seine eigentliche Berufung empfand, war er durch sein bisheriges Leben, durch seine Tätigkeit in der Justiz, als Anwalt und Rechtsberater und als Diplomat, als Kenner der Geschichte, der Religion und der Philosophie weit über den europäischen Bereich hinaus in hervorragender Weise vorbereitet. Seine Vorlesungen und seine Bücher belegen, welch reiche Ernte einzubringen ihm möglich war. Friedrich Berber starb am 23. Oktober 1984 in Kreuth in Oberbayern.
Auswahlbibliographie Die Rechtsbeziehungen der britischen Dominions zum Mutterland, Diss. Erlangen 1928, Ansbach 1929 Die Rechtsquellen des internationalen Wassernutzungsrechts, München 1955 Lehrbuch des Völkerrechts, München 1960–64: Bd. 1: Allgemeines Friedensrecht, Bd. 2: Kriegsrecht, Bd. 3: Streiterledigung, Kriegsverhütung, Integration Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte, München 1973 Zwischen Macht und Gewissen, Lebenserinnerungen. Posthum herausgegeben von Ingrid Strauss, München 1986.
XXXII Ernst Fraenkel (1898–1975) Alexander von Brünneck Ernst Fraenkel1 wurde am 26. Dezember 1898 als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern in Köln geboren.2 Nach ihrem frühen Tod wuchs er seit seinem 16. Lebensjahr in Frankfurt am Main bei einem Onkel mütterlicherseits auf. Die weltoffengebildete, progressiv-liberale Atmosphäre dieses Hauses prägte ihn tief. Nach dem Abitur war Ernst Fraenkel von 1916 bis 1918 Kriegsteilnehmer. Von 1919 bis zum Referendarexamen 1921 studierte er Rechtswissenschaft und Geschichte in Frankfurt am Main. Sein wichtigster akademischer Lehrer war Hugo Sinzheimer, dessen Stationsreferendar und Assistent er zwischen 1922 und 1924 wurde. Bei Sinzheimer promovierte Fraenkel 1923 über das Thema „Der nichtige Arbeitsvertrag“.3
I. Verteidigung der Weimarer Verfassung Im Jahre 1927 ließ sich Fraenkel als Rechtsanwalt in Berlin nieder. Schwerpunkt seiner Tätigkeit war zunächst das Arbeitsrecht. In der Endphase der Weimarer Republik setzte sich Fraenkel in vielen Publikationen leidenschaftlich für die Erhaltung der demokratischen Verfassung ein. Seine Argumentationen gingen aus von den Positionen der demokratischen Staatsrechtslehre der Weimarer Republik.4 Er spitzte ihre Überlegungen aber in kämpferischer Weise zu: „Durchglüht von dem Glauben an die Möglichkeit des Sieges der Kultur und Gesittung“,5 warb er offensiv für die Bewahrung der Menschen- und Grundrechte, von Rechtsstaat, Parlamentarismus und Demokratie.
1 Sein Werk ist ediert in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 1–6, Baden-Baden 1999– 2011. 2 Seine Biographie ist dargestellt von: Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel, Ein politisches Leben, Frankfurt/New York 2009. 3 Abgedruckt in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 69–120. 4 Dazu Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010. 5 Ernst Fraenkel, Chronik vom Juli/August 1932, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 590.
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Seine verfassungstheoretischen Positionen entwickelte Fraenkel zwischen 1929 und 1932 in fünf Aufsätzen in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“.6 Entscheidend kam es ihm auf die Zurückdrängung der auf Art. 48 WRV gestützten Diktatur an, die durch Carl Schmitts Konzeption einer „autoritären Demokratie“ legitimiert wurde.7 Ihr setzte Fraenkel 1932 das Modell einer „dialektischen Demokratie“ entgegen, womit er seine Gedanken zur „kollektiven Demokratie“8 von 1929 weiterentwickelte.9 In der „kollektiven“ oder „dialektischen Demokratie“ sollte sich der Staatswille – innerhalb des rechtsstaatlichen und parlamentarischen Rahmens – durch immer neue Auseinandersetzungen und Kompromisse zwischen den Parteien und sozialen Gruppen bilden, die unterschiedliche Interessen repräsentieren.10 Voraussetzung für dieses Modell sei die Geltung der liberalen Freiheitsrechte, die „ein politisches Kulturwerk überzeitlicher Bedeutung“ darstellten.11 Fraenkels „kollektive“ bzw. „dialektische Demokratie“ von 1929 und 1932 enthielt bereits Grundannahmen seiner Pluralismustheorie, die er seit Ende der fünfziger Jahre vertrat.12 Um dem Parlament seine zentralen Aufgaben bei der Herstellung der sozialen und politischen Kompromisse zurückzugeben, formulierte Fraenkel Ende 1932 einen Gedanken, dessen Bedeutung weit über die damalige Zeit hinausreichte: „Unser Vorschlag geht dahin, einem Mißtrauensvotum des Parlaments gegen den Kanzler oder Minister nur dann die Rechtsfolge des Rücktrittszwanges zu verleihen, wenn die Volksvertretung das Mißtrauensvotum mit dem positiven Vorschlag an den Präsidenten verbin-
6 Kollektive Demokratie (1929), in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 343; Die Krise des Rechtsstaats und die Justiz (1931), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 445; Abschied von Weimar? (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 481; Um die Verfassung (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 496; Verfassungsform und Sozialdemokratie (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 516. 7 Vgl. bes. Ernst Fraenkel, Um die Verfassung (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 507/8. 8 Ernst Fraenkel, Kollektive Demokratie (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 343. 9 Dazu: Hubertus Buchstein, Von Max Adler zu Ernst Fraenkel. Demokratie und pluralistische Gesellschaft in der sozialistischen Demokratietheorie der Weimarer Republik, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 534–606. 10 Vgl. bes. Ernst Fraenkel, Um die Verfassung (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 502/3, 504/5 11 Ernst Fraenkel, Abschied von Weimar? (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 492. 12 Gerhard Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus, Politische Vierteljahresschrift 1986, S. 6–27.
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det, eine namentlich präsentierte Persönlichkeit an Stelle des gestürzten Staatsfunktionärs zum Minister zu ernennen.“13
Diese Anregung ist im „konstruktiven Mißtrauensvotum“ des Art. 67 GG realisiert worden. Fraenkels Vorschlag von 1932 knüpfte an verschiedene Äußerungen in der staatsrechtlichen Diskussion seit dem Ende der zwanziger Jahre an.14 Fraenkel führte die disparaten Ansätze dieser Debatte aber selbständig weiter zu dem für die Struktur des späteren Art. 67 GG entscheidenden Punkt: Die Ablösung des bisherigen Kanzlers wurde von der Einigung des Parlaments auf einen neuen Kanzler abhängig gemacht. Daher ist Fraenkels eigene Einschätzung richtig, daß er „die erste eingehende schriftlich festgehaltene wissenschaftliche Begründung des ‚konstruktiven Misstrauensvotums‘ in dem […] Artikel vom Dezember 1932“15 vorgelegt habe.16 Ernst Fraenkel ist der wissenschaftliche Urheber des in der Geschichte des Verfassungsrechts neuartigen konstruktiven Misstrauensvotums.
II. Der Doppelstaat Wegen seiner Kriegsteilnahme behielt Fraenkel 1933 die Zulassung zur Anwaltschaft. Mit großem persönlichem Mut und Engagement für die Sache der Gegner des Nationalsozialismus praktizierte er bis zu seiner Emigration 1938 weiter als Anwalt – unter den demütigenden und einschränkenden Bedingungen, die ihm als Juden auferlegt wurden. Zur wichtigsten Aufgabe Fraenkels im nationalsozialistischen Berlin wurde die heimliche Ausarbeitung der ersten großen kritischen Analyse des national-
13 Ernst Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S 523. 14 Lutz Berthold, Das konstruktive Misstrauensvotum und seine Ursprünge in der Weimarer Staatsrechtslehre, Der Staat 1997, S. 81–94. 15 Ernst Fraenkel, Vorwort zum Neudruck (1968), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 660. 16 Entspr.: Daniel Burchardt, Der Staat der Ungeduldigen. Ernst Fraenkel, die Weimarer Verfassungskrise und das konstruktive Misstrauensvotum in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), (Doppel-) Staat und Gruppeninteressen, Baden-Baden 2009, S. 143–183; Heinrich Erdmann, Neopluralismus und institutionelle Gewaltenteilung, Opladen 1988, S. 192–208, 365– 367; Adolf M. Birke, Das konstruktive Mißtrauensvotum in den Verfassungsverhandlungen der Länder und des Bundes, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1977, S. 77–92 (81); Martin Müller, Das konstruktive Mißtrauensvotum, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1972, S. 275–291 (285–288, bes. Fn. 62); Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1960, S. 96- 98.
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sozialistischen Herrschaftssystems: „Der Doppelstaat“. Das Manuskript wurde in französischem Diplomatengepäck aus Deutschland herausgebracht. Es erschien in überarbeiteter Form in englischer Sprache unter dem Titel „The Dual State“ 1941 und 1969 in den USA, 1974 in deutscher Rückübersetzung sowie 1983 in italienischer Übersetzung als „Il doppio Stato“. Im „Doppelstaat“17 analysiert Fraenkel die Verfassungsrealität des Nationalsozialismus vom Standpunkt eines vom Regime unabhängigen Beobachters. Seine Grundthese ist, daß im Nationalsozialismus zwei Formen der Herrschaft nebeneinander bestehen: Im „Normenstaat“ gelten die bisherigen Rechtsvorschriften in dem Umfang weiter, wie es zur Funktionsfähigkeit des fortexistierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im „Maßnahmenstaat“ wird nicht nach rechtlichen Regeln, sondern nach Kriterien politischer Opportunität entschieden, um die Herrschaft des Regimes zu sichern und um seine spezifischen Ziele – wie die Judenverfolgung – durchzusetzen. Im Zweifel entscheidet der Maßnahmenstaat nach seinem Interesse, ob eine Angelegenheit nach den Regeln des Normenstaates oder nach den Bedürfnissen des Maßnahmenstaats behandelt wird. Der im Ergebnis dominierende Maßnahmenstaat wird formal legitimiert durch die Abschaffung der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips in der sog. Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar l933.18 Treffend bezeichnet Fraenkel die Reichstagsbrandverordnung als die „Verfassungsurkunde“ des Dritten Reichs.19 Der aus der täglichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstandene „Doppelstaat“ beschreibt anschaulich an Hand vieler Beispiele die tatsächliche Funktionsweise des Regimes, insbesondere die juristischen Mechanismen zur Entrechtung seiner Opfer. Als Gegenbild zum Nationalsozialismus hält Fraenkel an „einer am Gerechtigkeitsprinzip ausgerichteten Ordnung“ des „weltlichen Naturrechts“ fest.20 Fraenkel entwickelt den „Doppelstaat“ in detaillierter kritischer Auswertung der nationalsozialistischen Literatur und der zeitgenössischen Rechtsprechung. Er analysiert die praktische Bedeutung und die oft vernichtenden Konsequenzen der von der Literatur und der Rechtsprechung verwendeten Legitimationsformeln der nationalsozialistischen Ideologie. In erschütternder Weise zeigt Fraenkel, wie
17 Hier zitiert nach: Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, 3. Auflage, mit einem Nachwort von Horst Dreier, Hamburg 2012. 18 RGBl. I S. 83. 19 Ernst Fraenkel, Doppelstaat (Fn. 17), S. 55 und 75. 20 Ernst Fraenkel, Doppelstaat (Fn. 17), S. 45, 159–201, Zitate S. 184, 173.
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die Literatur und die Rechtsprechung die herkömmliche Rechtsdogmatik aufgaben, insbesondere das Rechtsstaatsprinzip zugunsten der politischen Ziele des Nationalsozialismus außer Kraft setzten. Damit ist der „Doppelstaat“ ein Antipode zu den etwa gleichzeitig entstandenen regimetreuen Lehrbüchern, wie dem „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ von Ernst Rudolf Huber21 oder der „Verwaltung“ von Theodor Maunz.22 Der „Doppelstaat“ ist die einzige innerhalb Deutschlands während der Jahre 1933 bis 1945 entstandene kritische Untersuchung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Das Buch fand seit Mitte der siebziger Jahre in der wissenschaftlichen Literatur und in der Publizistik eine breite Resonanz.23 Fraenkels mit „erstaunlicher Hellsichtigkeit und Genauigkeit im Zugriff“ entwickelte Grundgedanken wurden „inzwischen durch die Forschung vielfach bestätigt.“24 Der „Doppelstaat“ erlangte den Rang einer „klassische Studie“.25
III. Die pluralistische Demokratie Rechtzeitig gewarnt mußte Ernst Fraenkel am 20. September 1938 aus Deutschland fliehen. Er studierte von 1939 bis 1941 amerikanisches Recht an der Law School der Universität Chicago. Von 1946 bis 1950 war er Rechtsberater bei amerikanischen Behörden in Korea. Seit 1951 war Fraenkel Dozent, seit 1953 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Seit Ende der fünfziger Jahre entwickelte Fraenkel sein Konzept der pluralistischen Demokratie. Er formulierte es in mehreren Aufsätzen, die er 1964 in dem Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien“ zusammenfaßte, der 2011 in 9. Auflage erschien.26 Ernst Fraenkels Konzept der pluralistischen Demokratie geht davon aus, daß das Gemeinwohl nicht – wie in totalitären Regimen – den politischen Instanzen von außen – z. B. durch Ideologien – a priori vorgegeben ist. Stattdessen wird
21 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl., Hamburg 1939. 22 Theodor Maunz, Verwaltung, Hamburg 1937. 23 Dazu mwN: Horst Dreier, Was ist doppelt am „Doppelstaat“?, Zu Rezeption und Bedeutung der klassischen Studie von Ernst Fraenkel, Nachwort in: Fraenkel, Doppelstaat (Fn. 17), S. 274– 300. 24 Michael Stolleis, Rezension des Doppelstaates, JZ 1984, S. 1096/7. 25 Horst Dreier, (Fn. 23), S. 274; entspr. Michael Stolleis, ebda. 26 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 9. erweiterte Aufl., BadenBaden 2011 (UTB 3529).
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das Gemeinwohl in der pluralistischen Demokratie in einem kontroversen Sektor der politischen Willensbildung in offenen Verfahren a posteriori ermittelt. An dem Prozeß der Gemeinwohldefinition können alle interessierten Individuen, Gruppen, Verbände, Parteien und die Öffentlichkeit mitwirken. Der politische Willensbildungsprozeß zielt auf einen Ausgleich zwischen den kontroversen Positionen, der durch die Bildung von Kompromissen erreicht wird. Das Gemeinwohl erscheint als Resultante, „die sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird.“27
Um ein Abgleiten in Chaos und Unrecht zu verhindern, müssen alle Beteiligten einen nicht-kontroversen Sektor als Rahmen für den Prozeß der politischen Willensbildung anerkennen. Dazu gehört die Einhaltung der grundlegenden Verfahrensregeln, die vor allem in der Verfassung niedergelegt sind. Maßgeblich beruht die pluralistische Demokratie auf der Bewahrung der zentralen Wertorientierungen der europäischen Naturrechtstradition, insbesondere auf der Geltung der Menschenrechte und des Rechtsstaatsprinzips. Dieses für die damalige Zeit neuartige Konzept entwickelte Fraenkel hauptsächlich aus der englisch-amerikanischen Verfassungstradition. Fraenkel trug damit zur „Verwestlichung der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“ bei.28 Überzeugend widerlegte Fraenkel die Restbestände des autoritären und obrigkeitsstaatlichen Denkens, das in Deutschland bis in die sechziger Jahre lebendig war. Fraenkels Konzept der pluralistischen Demokratie formulierte weithin das Selbstverständnis des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland seit dem Beginn der sechziger Jahre. Charakteristisch war, daß Fraenkel auf dem 45. Deutschen Juristentag 1964 den Festvortrag hielt über das Thema: „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie.“29 Das Konzept der pluralistischen Demokratie fand große Anerkennung in der allge-
27 Ernst Fraenkel, ebda., S. 62. 28 Alfons Söllner, Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Leviathan 2002, S. 132–154. 29 Abgedruckt in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 26), S. 256– 280.
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meinen wie in der Fachöffentlichkeit30 – ungeachtet der teilweise scharfen Kritik im Zusammenhang mit der Studentenbewegung.31 Als demokratische Zielvorstellung gibt es zum Pluralismus nach dem Scheitern der Rätediskussion und der staatssozialistischen Systeme keine Alternative.32 Fraenkels Konzept der pluralistischen Demokratie wurde seit den siebziger Jahren zunehmend von der Allgemeinen Staatslehre rezipiert.33 Der Sache nach war das Konzept der pluralistischen Demokratie eine Weiterführung des seit den fünfziger Jahren weit verbreiteten Konzepts der Integration, das Rudolf Smend und seine Schule entwickelt hatten. Das vergleichsweise diffuse Konzept der Integration wurde durch das Pluralismuskonzept konkretisiert, weil es die tatsächlichen Mechanismen und Funktionsbedingungen des Integrationsprozesses definierte. Insbesondere enthält Fraenkels Konzept der pluralistischen Demokratie auf mehreren Ebenen staatstheoretische Begründungen für die Interpretation des Grundgesetzes, wie sie durch das Bundesverfassungsgericht geprägt wurde. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip reflektiert und sichert das von Ernst Fraenkel immer wieder formulierte Postulat der Offenheit des politischen Prozesses. In auffälliger Parallelität zu Ernst Fraenkel formuliert der Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts von 1985: „Über die freiheitliche demokratische Ordnung heißt es im KPD-Urteil, sie gehe davon aus, daß die bestehenden, historisch gewordenen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserungsfähig und -bedürftig seien; damit werde eine nie endende Aufgabe gestellt, die durch stets erneute Willensentscheidungen gelöst werden müsse (BVerfGE 5, 85 [197]). Der Weg zur Bildung dieser Willensentscheidungen wird als ein Prozeß von ‚trial and error‘ beschrieben, der durch ständige geistige Auseinandersetzung, gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften gebe (a. a. O. [135]; vgl. auch BVerfGE 12,113 [125])“.34
30 Vgl. die Übersicht über die Sekundärliteratur in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 26), S. 31–35. 31 Nachweise im Vorwort des Herausgebers zu Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 26), S. 26/7. 32 So schon Eckhard Jesse, Pluralismustheorie ohne demokratische Alternative, Neue Politische Literatur 1979, S. 145–163. 33 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Band, München 2012, S. 365–367. 34 BVerfGE 69, 315 [345/6]; entspr. BVerfGE 89, 155 [185].
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Auf diesem Ansatz beruhen viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, zum Parteienrecht, zum Abgeordnetenstatus, zum Parlamentsrecht oder zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung. Die ausdifferenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten ist sowohl Ausdruck wie Garantie der kontroversen Grundstruktur des politischen Willensbildungsprozesses. Die Grundrechtsjudikatur gewährleistet allen Individuen und Gruppen ein Recht auf Teilnahme am Prozeß der Gemeinwohldefinition a posteriori. Im Ergebnis sicherte diese Auslegung der Grundrechte die Mitwirkung aller Interessierten im kontroversen Sektor der politischen Willensbildung in ständig erweitertem Umfang. Die auf dem Vorrang der Verfassung beruhende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine institutionelle Gewährleistung des nichtkontroversen Sektors der politischen Willensbildung. Die Durchsetzung der formalen Verfahrensregelungen des Grundgesetzes, die Konkretisierung der inhaltlichen Wertentscheidungen der Grundrechte, die Wahrung der in Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Art. 1 und 20 GG, sowie die Handhabung der Regeln über die Streitbare Demokratie sind wirksame Mechanismen zur Sicherung des nichtkontroversen Sektors, der eine unabdingbare Voraussetzung der pluralistischen Demokratie ist. Die für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts methodisch grundlegenden Instrumente der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung konkretisieren das für den politischen Prozeß maßgebliche Konzept des Kompromisses für den justiziellen Sektor. Weil den Instrumenten der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung der im politischen Prozeß weithin akzeptierte Mechanismus des Kompromisses zu Grunde liegt, ermöglichen sie die Formulierung von rechtlichen Entscheidungen, die in der Öffentlichkeit und bei den Betroffenen überwiegende Anerkennung finden. In diesem Sinne konstatierte schon Winfried Brugger „eine weitgehende Konvergenz zwischen der […]Pluralismustheorie und dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Fraenkels Pluralismustheorie kann in Anspruch nehmen, auf verfassungstheoretischer Ebene das Profil des Grundgesetzes deutlich und differenziert vor Augen zu führen.“35
35 Winfried Brugger, Theorie und Verfassung des Pluralismus – Zur Legitimation des Grundgesetzes im Anschluß an Ernst Fraenkel, in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, Baden- Baden 1999, S. 220–252 (Zitat S. 249); entspr. Andreas Voßkuhle, Hugo Preuss als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, Der Staat 2011, S. 251–267 (bes. S. 262–267).
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Das Pluralismuskonzept bezeichnet die konkreten Bedingungen, die zu einer wirksamen Umsetzung der Postulate des Grundgesetzes in die Verfassungsrealität notwendig sind. Es weist auf Defizite und Schwachstellen hin, die die Funktionsfähigkeit des Verfassungssystems des Grundgesetzes gefährden. Ernst Fraenkels Pluralismustheorie ist ein staatstheoretisches Fundament für die Auslegung des Grundgesetzes.
Bibliographie Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Band 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, Herausgegeben von Hubertus Buchstein, Baden-Baden 1999 Band 2, Nationalsozialismus und Widerstand, Herausgegeben von Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 1999 Band 3, Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea, Herausgegeben von Gerhard Göhler, Baden-Baden 1999 Band 4, Amerikastudien, Herausgegeben von Hubertus Buchstein und Rainer Kühn, Baden-Baden 2000 Band 5, Demokratie und Pluralismus, Herausgegeben von Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 2007 Band 6, Internationale Politik und Völkerrecht, Politikwissenschaft und Hochschulpolitik, Herausgegeben von Hubertus Buchstein und Klaus-Gert Lutterbeck, Baden-Baden 2011 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 9. erweiterte Auflage, Herausgegeben und eingeleitet von Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 2011 (UTB 3529) (Mit Nachweis der Sekundärliteratur S. 31–35) Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, 3. Auflage, Mit einem Nachwort von Horst Dreier: Was ist doppelt am „Doppelstaat“? Zu Rezeption und Bedeutung der klassischen Studie von Ernst Fraenkel, Herausgegeben von Alexander v. Brünneck, Hamburg 2012 Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel, Ein politisches Leben, Frankfurt/New York 2009
XXXIII Hans Huber (1901–1987) – der „Preis der Unsicherheit und der Unruhe“ Andreas Kley
I. Ausbildung und Berufstätigkeiten Hans Huber bekannte in seiner Abschiedsvorlesung am 23. Juni 1970, „er bemühe (sich) immerfort (…), Wandlungen aufgeschlossen zu beobachten, selbst um den Preis der Unsicherheit und Unruhe“.1 Es ist ein Charakteristikum von Hubers Leben und Werk, dass er diese Wandlungen nicht nur beobachtet, sondern aktiv mitvollzogen hatte. Er ging mit der Zeit und dachte bei grundlegenden theoretischen Konzepten, etwa im Bereich der Grundrechte und des Völkerrechts, in die Zukunft. Hubers Werdegang verlief geradlinig und mit Erfolg:2 1901 wurde er in St. Gallen geboren, studierte in Zürich und Bern Rechtswissenschaft und doktorierte 19263 bei Walther Burckhardt. Nach einer kurzen Zeit in der Advokatur war Huber 1929–1934 Bundesgerichtssekretär, bevor ihn die Bundesversammlung 1934 zum Bundesrichter wählte.4 In den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs tat sich Bundesrichter Hans Huber mit autoritär geprägten Reden und Publikationen hervor. Dies führte dann auch dazu, dass Hubers Wahl 1946 zum ordentlichen Professor für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht und die Einführung an der Berner Universität nicht konfliktfrei verlief.5 Huber wirkte als Professor in Bern von 1946–1970, 1959/1960 auch als Rektor. Während dieser ganzen Zeit publizierte er zahlreiche Artikel und Rezensionen, zum Teil auch in der Tagespresse, und erstattete viele Gutachten.6 Aufgrund seiner Verankerung in der damals
1 Vgl. Hans Huber, Gesamtsituation des Rechts, S. 11. 2 Vgl. Lebenserinnerungen von Hans Huber, verfasst am 6. März 1973, in: Hans Huber zum Gedächtnis. 24. Mai 1901 bis 13. November 1987, Bern 1988, S. 23 ff.; siehe umfassender als in diesem Beitrag: Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 2011, S. 164 ff., 173 ff., 220 ff., 311 ff., 498 ff. 3 Hans Huber, Der Kompetenzkonflikt zwischen dem Bund und den Kantonen, Diss. Bern 1926. 4 Bundesblatt 1934 I 522. 5 Vgl. Markus Feldmann, Tagebuch 1945–1955, Basel 2002, S. 97 f. 6 Vgl. etwa das Verzeichnis der Schriften von Hans Huber, in: ders., Rechtstheorie, S. 623 ff.
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staatstragenden freisinnig demokratischen Partei und seinen öffentlichen Auftritten genoss er hohes Ansehen. Hans Huber starb 1987 in Muri bei Bern. In seiner Zeit am Bundesgericht und an der Universität Bern übte Huber mit all seinen Tätigkeiten in der Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Lehre und auch politisch einen grossen Einfluss aus. Umso erstaunlicher ist, dass seine Person weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die erwähnte Mannigfaltigkeit seines Wirkens, aber auch der Umstand, dass er ausser seiner Dissertation keine Monographien hinterliess, dürften dazu beigetragen haben. Den letztgenannten Umstand hob Huber im Rückblick selbst heraus: „Ich hatte eine Scheu davor, Erkenntnisse schwarz auf weiss zu sehen und durch den Wandel der Wirklichkeit erstarren und überholen zu lassen. (…) Auch lag wohl mehr Gewicht auf der Lehrtätigkeit als der Forschung“.7 Im Folgenden sollen wichtige Aspekte dieses vielfältigen Lebens nachgezeichnet werden.
II. Bundesrichter und Publizist in autoritärer Zeit In den 1930er Jahren war Huber Befürworter einer starken Exekutive unter Eindämmung demokratischer Mitbestimmung. Fasziniert von der Führer- und Macht-Ideologie8 des „Dritten Reichs“ äusserte er in einem Vortrag vom 20. Mai 1933 vor der Liberalen Jugend der Schweiz, dass „das 19. Jahrhundert mit seiner Auffassung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorbei, unwiederbringlich vorbei ist“.9 Diese Äusserungen erfolgten nachgerade echoartig kurz nach der Suspendierung der Grundrechte und der Annahme des Ermächtigungsgesetzes in Deutschland. Sie blieben indes nicht unwidersprochen: Die liberale Gegenmeinung vertrat in der Aussprache von Anfang Mai 1933 vor den Zürcher Freisinnigen Junioren Eduard Zellweger, ebenfalls Mitglied der Jungliberalen: „Wer, wie die Fronten, den Liberalismus zusammenschlagen will, zerstört zwei Drittel unserer Fundamente“.10
7 Lebenserinnerungen (Anm. 2), S. 29. 8 Vgl. Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems: Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart 1987, S. 77 ff. 9 Hans Huber, Nationale Erneuerung. Rede gehalten am Jahreskongress der Liberalen Jugend der Schweiz in Flüelen am 20./21. Mai 1933, Separatabzug aus dem St. Galler Tagblatt, 1933, S. 3; siehe die Darstellung von Hubers hervorragender Rolle bei dieser Tagung: Alfred Gebert, Jungliberale Bewegung der Schweiz 1928–1938 (Diss. rer. pol. Bern 1980), Bern 1981, S. 62 ff. 10 NZZ vom 4.5.1933, Nr. 805, Blatt 5 (auch nachfolgendes Zitat).
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Huber sprach sich in der Ferienwoche 1933 der Jungliberalen Bewegung für die Initiative auf Totalrevision der Bundesverfassung aus.11 Denn damit werde die Demokratie gegen die verfassungslose Diktatur verteidigt; es gehe um die Sicherung der Herrschaft des Gesetzes und gegen die Herrschaft von Menschen. Die Freiheitsrechte hielt Huber formal aufrecht, aber er interpretierte sie in ihr Gegenteil um. So forderte er etwa unter dem Titel Pressefreiheit, dass die Regierung die Zeitungen zwingen können müsse, Regierungsartikel abzudrucken. Dabei erweise sich das „nicht als Einschränkung der freien Meinungsäusserung, sondern als Wiedergewinnung einer teilweise verlorenen Freiheit, wie denn überhaupt die staatlichen Eingriffe in die Individualrechte oft keinen andern Zweck haben, als eine gefährdete Freiheit durch gesetzliche Ordnung (…) wieder herzustellen“.12 Da die bürgerliche Mehrheit dieser Zeit autoritär dachte, sprach nichts gegen eine Wahl des Freisinnigen Hans Huber zum Bundesrichter; im Gegenteil wählte das Parlament Huber gerade wegen seiner markigen Äusserungen. Anlässlich seiner Wahl 1934 stellte die freisinnige Neue Zürcher Zeitung lobend fest, dass Huber sich „rasch in der vordersten Linie unter den Führern dieser (jungliberalen; A. K. ) Bewegung“ befunden und sich so der Öffentlichkeit bekannt gemacht habe; „seine politischen Führereigenschaften lassen den Wunsch wach werden, Dr. Huber werde auch nach seiner Berufung ins Bundesgericht aus dem öffentlichen Leben nicht ausscheiden“.13
III. Der umstrittene Rechtsstaat In seinem Referat für den schweizerischen Juristentag 1936 über die Garantie individueller Verfassungsrechte meinte Huber, der Sinn der Grundrechte habe sich „von ihrem historischen Ursprung, dem Naturrecht der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolution losgelöst; die Staatsauffassung der amerikanischen und französischen Revolution ist abgestorben“.14 Der Referent schätzte das Naturrecht und damit inbegriffen die Freiheitsidee und die Grundrechte nicht. Huber sprach mehrfach von „naturrechtlichem Beiwerk“15 und für
11 Anfang September 1933 in Sundlauenen; Huber galt als Experte für die Frage der Totalrevision, vgl. Gebert, Jungliberale Bewegung (Anm. 9), S. 263 Anm. 66, vgl. auch: Hans Huber, Zur Frage der Totalrevision der Bundesverfassung, in: Politische Rundschau 12 (1933), S. 89–111. 12 NZZ vom 11.9.1933, Mittagausgabe Nr. 1633, Blatt 5. 13 NZZ vom 23.3.1934, Abendausgabe Nr. 518, Blatt 7 S. 1. 14 Hans Huber, Garantie, insb. S. 197a. 15 Vgl. z. B. Huber, Garantie, S. 27a, 29a, 47a.
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das schweizerische Staatsrecht stellte er wegen des Absterbens des Naturrechts fest, „dass es keine unbedingt unabänderliche, unaufhebbare und unantastbare Grundrechte der Verfassung mehr gibt“.16 Die Ideologie des rationalistischen Individualismus des 18. Jahrhunderts sei überwunden, „und die Geschichte der Grundrechte ist in hohem Masse eine Geschichte der Abwendung von der Ideologie und Zuwendung zu den praktischen Forderungen. An der Auffassung, dass der Staat um der Einzelnen willen da sei, kann nicht mehr festgehalten werden“.17 „Ballast ist die Auffassung, dass die Freiheitsrechte und die Rechtsgleichheit notwendiges Verfassungsrecht seien“.18 Freiheitsrechte waren für Huber nämlich keine Rechtssätze: „Wortlaut und Sinn der Freiheitsrechte sind sozusagen im Stadium des blossen Postulates, des blossen Programmes stehengeblieben“.19 Huber übernahm die Meinung der konservativen Juristen in der Weimarer Republik, die die Grundrechte als nicht verbindliche Programmsätze ansahen und somit ihrer Wirkung berauben wollten. Das Referat polemisierte insgesamt gegen die subjektiven Freiheitsrechte, gegen das aufklärerische Naturrecht und gegen den Positivismus. Zustimmung erhielt allein eine „Rechtsidee“,20 deren ins Beliebige reichende Offenheit schon die nationalsozialistischen Juristen vordemonstriert hatten. Dem Referenten Huber widersprach in der Diskussion ausgerechnet der 1933 aus Deutschland geflohene Staatsrechtler Hans Nawiasky, der zunächst Lehrbeauftragter und ab 1945 Professor an der damaligen Handelshochschule St. Gallen war. Der österreichische Jurist hatte die Unrechtsakte des NS-Regimes aus unmittelbarer Nähe mitverfolgt. Nawiasky erkannte, dass Huber zu jenen gehörte, die auf den „Abbau des Rechtsstaates hinwirken wollten“.21 Er widersprach der zentralen These Hubers, dass der Staat nicht um des Menschen willen da sei, sondern umgekehrt der Mensch um des Staates willen. Mit dieser These nahm Huber negativ eine Formulierung aus dem deutschen Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee (1946) vorweg. Am Entwurf von Herrenchiemsee arbeitete auch Hans Nawiasky mit; vielleicht konnte er seine Formulierung quasi als späte Antwort
16 Huber, Garantie, S. 44a. 17 Huber, Garantie, S. 47a, vgl. auch S. 121a. 18 Huber, Garantie, S. 47a. 19 Huber, Garantie, S. 143a. 20 Huber, Garantie, S. 152a („staatsrechtliche Idee“); ders., Die staatsrechtliche Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung von Verbandsbeschlüssen und ‑vereinbarungen, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 59 (1940), S. 331 ff., insb. S. 413 f. 21 Votum von Hans Nawiasky an den Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 55 (1936), S. 671a ff., insb. S. 672a.
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an Huber einfügen.22 Am Schweizer Juristentag 1936 formulierte Nawiasky seine Kritik als Flüchtling zurückhaltend, da sein Leben durch eine denkbare Rückschiebung nach Deutschland bedroht war. Nawiasky sah die Gefahr, dass man Huber folgend „in einen Staat abgleitet, in welchem das Individuum auf öffentlichem Boden, im öffentlichen Recht, seine Persönlichkeitswürde einbüsst“.23 Vier Jahre später verschärfte Huber den Ton. In einem Artikel vom August 1940 plädierte er für eine Rückbildung der demokratischen Rechte, für die Beschränkung der Kompetenzen des Parlaments auf gewisse Kontrollaufgaben und für einen Vorrang der Regierung. Er machte das „Geständnis“, dass er 1933 „mit sittlichem Ernst und heller Begeisterung die nationale Erneuerung“ anstrebte, aber den „Weg der Fronten in die Radikalisierung und in die Nachahmung des Auslandes nicht betreten konnte und wollte“. Allerdings wollte Huber 1940 die Unabhängigkeit der Schweiz nicht preisgeben, sondern nötigenfalls kämpfen.24 Dann fuhr er, von Carl Schmitt25 inspiriert, fort: „Morsch ist der sogenannte bürgerliche Rechtsstaat. Darunter versteht man eine staatliche Organisation mit Gewaltentrennung, mit möglichst absoluter Gewährleistung individueller Freiheiten und mit parlamentarischer Gesetzgebung“. „Die Gewaltentrennung (…) hat uns ebenfalls ein Jahrhundert lang von den wirklichen staatsorganisatorischen Aufgaben abgehalten: Die Lehre von der Gewaltentrennung ist schuld, dass das Wesen schöpferischer Regierung verkannt und dass Regierung ganz in Verwaltung und Rechtsanwendung aufgelöst wurde; sie ist ferner schuld daran, dass bei der Errichtung des Wirtschaftsstaates die allein sachgemässe, auf Arbeitsteilung und Eignung begründete Verordnungsgesetzgebung der Regierung gehemmt war und immer noch mit der Fiktion gesetzlicher Grundlage (…) arbeiten musste (…). Die viel zu absolute Auffassung der Freiheitsrechte endlich hat uns lange verhindert, ihren Missbrauch zu unterdrücken und zu unterscheiden, ob jene, die sich darauf berufen, auch innerhalb der staatlichen Gemeinschaft stehen (…)“. „Der bürgerliche Rechtsstaat ist dahin, ob wir wollen oder nicht. (…) In einen Nihilismus würde der Untergang des bürgerlichen Rechtsstaates münden, wenn eine fragwürdig gewordene Autorität nur gerade noch mit normlosen Entscheidungen Schwierigkeiten der konkreten Situation aus dem Weg räumen wollte. Rechtsstaat in einem höhern Sinne bleiben wir, wenn wir trotz umwälzender Änderungen der staatlichen Organisation im Verhaltungsrecht die übernommene Rechtskultur bewahren“.
22 Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Köln 1950, S. 26, verwies für die Herkunft auf Art. 100 der bayrischen Landesverfassung, an der er selbst ebenfalls mitgearbeitet hatte; im Übrigen liess er die Herkunft offen. 23 Nawiasky, Votum (Anm. 21), S. 672a. 24 Hans Huber, Die neue Ordnung in der Schweiz, in: Schweizerische Hochschulzeitung, Drittes Heft, Zürich August 1940, S. 149–157, folgende Zitate S. 151 ff.; vgl. ferner Kley (Anm. 2), S. 181 Anm. 1149. 25 Vgl. die Nachweise bei Kley (Anm. 2), S. 181 Anm. 1150.
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„Eine Totalrevision der Verfassung ist heute nicht tunlich. Es ginge zu lange und zu schwer, und dann ist ja die Verfassung selber ein Institut des bürgerlichen Rechtsstaates. Die neue Ordnung setzt sich selber durch, und auf die Formen kommt es weniger an, als früher“. „Heute (kommt) es mehr auf Gestaltung, als auf blosse Erhaltung an. Nur die ewig Gestrigen klammern sich an eine Latte, statt ans Land zu schwimmen. Unser Wille aber nährt sich an der brennenden Berufung eines christlichen Humanismus in der Gegenwart europäischer Revolution, und zu dieser Berufung gehört auch die Existenz einer dauerhaften Schweiz“.
Den Ansichten von Bundesrichter Huber widersprach der spätere Zürcher Professor Werner Kägi: Es lasse aufhorchen, wenn ein Bundesrichter „so apodiktisch über den bürgerlichen Rechtsstaat“ urteilt und „sein Ende voraussagt“. Kägi warnte: „Die Idee der Verfassung ist in Gefahr“. Es sei „unhaltbar und unverständlich, wenn Huber unsern Verfassungsstaat zu einer ‚geschichtlichen Erscheinung des 18. und 19. Jahrhunderts’“ stemple. Bedenklich sei auch das „Schlagwort vom ‚bürgerlichen Rechtsstaat‘, weil hier unwillkürlich das Odium und Ressentiment mitklingt, das ihm als Kampfparole gegen das Weimarer System anhaftet“. Kägi deckte die wahre Herkunft von Hubers Redewendungen unmissverständlich auf: Der „bürgerliche Rechtsstaat“ dürfe nicht „zur verfälschenden Signatur werden, ebenso wenig wie gewisse andere Formeln aus der politischen Verfassungslehre Carl Schmitts, die da und dort beim Verfasser anklingen“.
IV. „Hans Huber-Bern“ und Carl Schmitt Kägi hatte richtig beobachtet. Huber war ein Bewunderer von Carl Schmitt, las seine Schriften, insbesondere die Verfassungslehre von 1928, und beschäftigte sich mit ihm intensiv. 1930 bewertete Huber in einem Vortrag Schmitt als „einen der grössten Köpfe der Gegenwart“ und als „überlegenen Ratgeber Hindenburgs und Schleichers“.26 Hubers Einstellung zu Schmitt änderte sich in dem Masse, wie sich die geistespolitische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg änderte. In der Nachkriegszeit vermied er zunächst zunehmend die Zitierung von Schmitts Schriften. Diesem entging der allmähliche Gesinnungswandel Hubers nicht. In einem Brief von Ende Juli 1954 schrieb Schmitt:27
26 Hans Huber, Die Handels- und Gewerbefreiheit und ihre heutige Bedeutung. Vortrag im Industrie-Verein St. Gallen, St. Gallen 1930, S. 16. 27 Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hrsg. v. Armin Mohler, Berlin 1995, S. 163. Es war Ernst Forsthoff, der von Huber diese Schrift erhalten hatte und Schmitt darüber berichtete, vgl. sogleich Anm. 28.
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„Hans Huber ist Professor für öffentliches Recht in Bern; er hat am 13. Januar 1954 einen Vortrag über Recht-Staat-Gesellschaft in der Aula der Universität Bern28 gehalten; er zeigt sich auch über meine neuesten Formulierungen gut informiert, vermeidet es aber, die heiligen Hallen der Berner Aula durch die Nennung meines Namens zu entweihen“.
Das stimmte; Huber war mit Schmitts Schriften noch immer gut vertraut. Zu Beginn der 1950er Jahre hatte Huber noch keine Probleme, in Rezensionen beiläufig auf Schmitt hinzuweisen.29 Erst als er 1958 der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer beitrat, galt es bezüglich den beiden antipositivistischen Gruppen um Smend und Schmitt, der ausserhalb der Vereinigung blieb, Stellung zu beziehen. Es war von vorneherein klar, dass sich Huber für Smend entschied, denn das entsprach seinem „Rechts- und Verantwortungsgefühl“ und der Anforderung an den Juristen, „sich gegen Unrecht zu empören“.30 Zudem entsprach Smends Integrationslehre Hubers etatistischer Grundrechtsauffassung. Hubers Ton gegen Schmitt verschärfte sich 1958, als er die Habilitationsschrift von Peter Schneider Ausnahmezustand und Norm zum Anlass nahm, um über Carl Schmitt zu schreiben.31 Die Rezension handelt über weite Strecken nicht von Schneiders Buch, sondern von Schmitt. Vergleicht man diesen Text mit einer Schrift Hubers von 1940,32 so liest sie sich wie ein Selbstkommentar, ja wie ein versteckter Selbstwiderruf. Huber entglitt in seinem Anti-Schmitt-Pamphlet, das sich um Schneider rankte, etwa folgende Fussnote:33 „Dem Rezensenten schwebte seit langem beharrlich die Frage vor, wieso Schmitt in der ‚Verfassungslehre‘ und überall den Rechtsstaat stets den ‚bürgerlichen‘ nannte. Glaubte er wirklich, mit dem Problem der Beschränkung, Verteilung und Rationalisierung der Staatsmacht und der Legitimation der Machtausübung, und weiter mit der Bedeutung des Rechtsstaates für Loyalität und Legitimität auf die einfache Weise fertig zu werden, dass er das rechtsstaatliche Denken und Trachten in eine bereits überholte Zeitspanne und Gesellschaftsschicht verwies, der man überdies leicht Staatsfeindlichkeit, Geschichtslosigkeit und vielleicht sogar eine Enge des Horizontes und einen platten Progressismus andichten konnte? Carl Schmitt hat mit Klarheit das für den Rechtsstaat grundlegende Verteilungsprinzip blossgelegt: Einer prinzipiell unbegrenzten Freiheit des Menschen steht eine prinzipiell begrenzte Eingriffsmöglichkeit für den Staat in diese Freiheit gegenüber. Wenn er
28 Vgl. die Bemerkungen bei Kley (Anm. 2), S. 220 Anm. 1412. 29 Vgl. z. B. Hans Huber, Besprechung von Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 74 (1954), S. 514; ders., Grundrechte, S. 194. 30 Hans Huber, Das juristische Studium, in: Die Akademischen Berufe, Bern 1956, S. 5 ff., S. 7, 13. 31 Hans Huber, Einige Bemerkungen über die Rechts- und Staatslehre von Carl Schmitt. Zu Peter Schneiders Buch „Ausnahmezustand und Norm“, in: Juristen-Zeitung 1958, S. 341–343. 32 Huber, Ordnung (Anm. 24). 33 Vgl. Huber, Bemerkungen (Anm. 31), S. 343 Anm. 16.
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auch diesen Verteilungsgrundsatz den bürgerlichen hiess, bewies er, dass er kein inneres Verhältnis zu ihm besitzt“.
Ein Jahr später, 1959, schuf Huber zusammen mit seinem Mitstreiter in Deutschland, Adolf Schüle,34 die neue Textgattung der „Nicht-Rezension“. Er lehnte es darin explizit ab, die Schmitt-Festschrift zu besprechen, denn diese sei ein „bedenkliches Zeichen“, und gegenüber einem der „vordersten geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus“ von „politischer Charakterschwäche“ sei Schweigen angezeigt.35 Warum hatte Huber, wenn Schweigen angezeigt war, ein Jahr zuvor so ausführlich Schmitt verurteilt? Und immerhin hatte Huber zu Beginn der 1950er Jahren Schmitt und dessen Freund Forsthoff noch bedenkenlos zitiert. Forsthoff schickte er seinen Vortrag von 1954 Recht, Staat und Gesellschaft.36 Carl Schmitt ist dieses widersprüchliche Verhalten 1960 aufgefallen:37 „Es hagelt jetzt von allen Seiten auf mich los. Auch die Schweizer Juristen-Zeitung (Prof. Hans Huber, Bern) hat sich in die (…) Front begeben. Was treibt eigentlich einen Schweizer Bourgeois wie diesen Hans Huber-Bern, den ich nie gesehen habe, zu seinem VerfolgungsEifer? Es ist mir alles rätselhaft“.
Wenn Schmitt die Schriften Hubers aus den Jahren 1933–1944 nicht kannte, musste ihm dies tatsächlich rätselhaft vorkommen. 1964 war für Schmitt die Beurteilung klar: Für ihn war der „Rüpel Hans Huber“ jemand, der „taktlos anrempelt“.38 Von aussen betrachtet kontrastiert Hubers intensive Beschäftigung mit dem Werk von Carl Schmitt mit dem Schweigen darüber, was er 1940 unter einer „neuen Ordnung“ verstand. Was wollte Huber wirklich? – Die unterbliebene Reflexion seiner früheren Postulate (ver‑)leitete ihn zu einer „Verfolgung“ von Carl Schmitt. Er schwieg über seinen eigenen Fall, aber verurteilte Schmitt als Apologeten des Dritten Reichs. Leistete er auf diese Weise ein genügendes „Soll an tätiger Reue“? Erhielt er in seiner Abwehr von Schmitt indirekt Gelegenheit, in entlastender Form über sich selber zu sprechen?
34 Siehe zu Adolf Schüle Kley (Anm. 2), S. 221 Anm. 1418. 35 Hans Huber, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 78 I (1959), S. 431 f. Diese Nicht-Rezension wiederholte sich unter Erwähnung von Huber in einer redaktionellen Mitteilung in der Schweizerische Juristen-Zeitung 56 (1960), S. 64. 36 Vgl. Anm. 28. 37 Carl Schmitt, Schreiben von Schmitt an Mohler vom 19. Januar 1960, in: Schmitt – Briefwechsel (Anm. 27), S. 269. 38 Schreiben von Schmitt an Forsthoff am 10. Januar 1964, in: Ernst Forsthoff, Briefwechsel Carl Schmitt 1926–1974, Berlin 2007, S. 200.
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V. Staatsverantwortung für Grundrechte Huber äusserte nach dem Zweiten Weltkrieg Ideen, die in der Schweiz wesentlich zur Entwicklung der Grundrechtslehre beitrugen. Ironischerweise bargen seine eher freiheitskritischen Äusserungen der Zwischenkriegszeit dieses Gedankengut bereits in sich, wenn er etwa die Meinung vertrat, dass die staatlichen Eingriffe in die Freiheit den Zweck hätten, „eine gefährdete Freiheit durch gesetzliche Ordnung wieder herzustellen“.39 Was meinte er damit? Sollte der Gesetzgeber den Missbrauch wirtschaftlicher Freiheiten abstellen? Die Unbestimmtheit seiner Aussagen, die fast jede Interpretation zulassen, ist ein Spezifikum seines gesamten Schaffens. Peter Häberle veröffentlichte 1962 seine bahnbrechende Dissertation,40 in welcher er die Institutionenlehre von Maurice Hauriou für die allgemeinen Grundrechtslehren fruchtbar machte. Häberle sprach den Grundrechten einen „Doppelcharakter“ zu. Neben der individualrechtlichen Seite als subjektive öffentliche Rechte haben die Grundrechte auch eine „institutionelle Seite“: „Sie bedeuten die verfassungsrechtliche Gewährleistung freiheitlich geordneter und ausgestalteter Lebensbereiche, die ihrer objektiv-institutionellen Bedeutung wegen sich nicht in das Schema individuelle Freiheit – Schranke der individuellen Freiheit einfangen lassen“.41 Hans Huber, der in den 1930er Jahren das ja schon vorgedacht hatte, rezensierte Häberles Dissertation positiv. Er vermerkte dankbar die Ablehnung von Schmitts „schroffem“ Gegensatz von institutionellen und Institutsgarantien, d. h. von Einrichtungen des öffentlichen und des Privatrechts;42 es werde „aufs neue deutlich, dass Grundlage sogar der Freiheitsrechte nicht eine unbegrenzte Autonomie des Menschen ist, sondern das Menschenbild der Grundrechte bereits der gemeinschaftsbezogene Mensch ist“.43 Huber wollte „Hans und Heiri“44 in die
39 Vgl. Anm. 12. 40 Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt (Diss. Freiburg i.Br.), Karlsruhe 1962, 3. Aufl. Heidelberg 1983; Frieder Günther, Denken vom Staat her, München 2004, S. 253. 41 Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 40), S. 70. 42 Vgl. Carl Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl. Berlin 1985, S. 181 ff., insb. S. 215 f., oder ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Rechtsverfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 ff., insb. S. 155 ff. 43 Hans Huber, Rezension Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 82 (1963), S. 72 ff., S. 73. 44 Huber, Ordnung, S. 149.
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Rechtsordnung einbinden; sie sollten sozusagen vergesellschaftet werden und sich in der als „frei“ definierten Rechtsordnung auch frei fühlen müssen. Die institutionelle Grundrechtstheorie kam zur richtigen Zeit, da die gesetzgeberische Entwicklung und damit die Rechtsprechung auf eine gewisse Erweiterung der Grundrechtstheorie sozusagen warteten. Der schweizerische Staat hatte, durch die Vollmachtenregime der beiden Weltkriege bereits daran gewöhnt, im Zuge der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr Aufgaben übernommen. Die alte politische Forderung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, den Aufgabenkreis des Staates zu erweitern, wurde mehrheitsfähig. Im Bereich der Freiheitsrechte waren nach der neuen Theorie nicht mehr die Menschen allein zuständig, vielmehr kamen die Normenkomplexe hinzu, die die Lebensbereiche „verfassen“, sie „stützen“ und „prägen“. Das liberale Verteilungsprinzip erfuhr danach eine starke Relativierung: Die staatlichen Aufgaben wuchsen gewaltig und im gleichen Umfang formten sie die Freiheit, indem sie diese zur rechtlich geordneten Freiheit machten. Die verfassungsrechtlich naheliegende Folge der institutionellen Grundrechtstheorie bestand darin, dass der Staat für die reale Verwirklichung der Grundrechte die Verantwortung übernahm. Zusätzlich sollte sich das institutionelle Denken nicht nur auf das öffentliche Recht beschränken, sondern in allen Rechtsgebieten, insbesondere im Privatrecht, wirksam werden. Das bedeutete, dass der Adressatenkreis der Grundrechte zu erweitern war: Diese verpflichteten auch die Privaten untereinander und drangen damit in ein neues Gebiet vor.
VI. Internationale Öffnung von Rechtswissenschaft und Rechtsordnung Huber dachte seiner Zeit weit voraus, als er die Rechtwissenschaft und die Rechtsordnung international öffnen wollte. Er bemühte sich nach dem Zweiten Weltkrieg um Kontakte mit der deutschen Staatsrechtslehre. 1952 schrieb er seinem einstigen Diskussionsgegner von 1936, Hans Nawiasky, einen Brief, in dem er ihn über den Stand der Auslandskontakte orientierte. Nawiasky war selbst ein „Brücken-Professor“, der sozusagen eine Doppelprofessur in München und in St. Gallen innehatte. Huber schrieb, er habe zusammen mit Werner Kägi den deutschen Kollegen mitgeteilt, dass die Schweizer vorerst einmal als Gäste an den Tagungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer teilnehmen wollten. Ein förmlicher Beitritt käme später in Frage, wenn sichergestellt sei, dass Carl Schmitt nicht in die Vereinigung aufgenommen werde. Er habe sich dann in der Schweiz umgehört, „um zu erfahren, wer überhaupt ein Interesse an einer Mit-
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gliedschaft bekunden würde“. „Es hat sich herausgestellt, dass die Herren Giacometti und Nef aus politischen Gründen gänzlich abgeneigt sind, Beziehungen dieser Art aufzunehmen. Bei den Herren Kägi, Imboden, Ruck, Wackernagel, Oswald (…) bestehen solche Erwägungen hingegen nicht“.45 Man zögerte allerdings noch mit dem Beitritt und erst 1958 traten Hans Huber und Max Imboden als erste Schweizer nach 1945 bei. Letzterer war 1960/61 Vorstandsmitglied. Später folgten nach und nach weitere schweizerische Staats- und Verwaltungsrechtslehrer.46 Hubers Idee einer Öffnung der Lehre realisierte sich allmählich; nach Max Imboden waren immer wieder Schweizer Professoren Referenten und Vorstandsmitglieder der Vereinigung. Hubers Idee einer Öffnung bezog sich auch auf die Rechtsordnung. Der Wiederaufbau und die Befriedung Europas forderten nach 1945 eine verstärkte internationale Zusammenarbeit. Die Schweiz blieb zunächst abseits und erst viel später realisierte die Politik, dass eine selbstgenügsame Isolation keine Zukunft versprach. In den 1960er Jahren zeichnete sich die Entstehung einer überstaatlichen Rechtsordnung immer mehr ab. Es entsprach dem Zug der Zeit, dass Hans Huber in einem Vortrag vom 27. November 1963 die These aufstellte, dass der Nationalstaat „am Ende seiner geschichtlichen Wirksamkeit angelangt“ sei. Für die Schweiz stellte er die bedeutende Forderung auf: „Der Fremde ist nicht mehr zum vorneherein der Feind, das Recht entwickelt sich langsam zu einem Weltrecht“.47 Die schweizerische Politik blieb aber zurückhaltend und in gewisser Weise ist das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht nach wie vor ungeklärt.48
VII. Eine Würdigung Hans Huber war weniger ein Wissenschaftler als ein politischer Akteur; als aktiver jungliberaler Politiker, Bundesrichter und Professor bewegte er sich unentwegt in der Öffentlichkeit. Er war auch ausserordentlich vielgestaltig: Vor dem Zweiten Weltkrieg gegen das Naturrecht eingestellt, verwendete er sich danach für Emil
45 Schreiben von Hans Huber an Hans Nawiasky vom 22.8.1952, enthalten im Teilnachlass von Hans Nawiasky in der Bibliothek des Instituts für öffentliches Recht und Politik an der LudwigMaximilians-Universität in München. 46 Vgl. die Nachweise im Einzelnen: Kley (Anm. 2), S. 223 Anm. 1431. 47 Vgl. Hans Huber, Die Schweiz am Ende des nationalstaatlichen Zeitalters, NZZ vom 30.11.1963 Morgenausgabe Nr. 4965, Blatt 8.; sodann ders., Die Schweiz und die schwindende Nationalstaatlichkeit, in: Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 35 (1964), S. 188 ff. 48 Vgl. im Einzelnen Kley (Anm. 2), S. 334 ff.
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Brunner, der für seine Naturrechtslehre den juristischen Ehrendoktor der Berner Fakultät erhielt. Der zeitgemäss autoritäre Huber vor 1945 zeigte sich nach Kriegsende als ein grandseigneuraler Ewig-Gestriger.49 Vor dem Krieg verehrte er Carl Schmitt, 1958 griff er Schmitt in der Öffentlichkeit heftig an. Vor 1945 hielt er den Rechtsstaat für „morsch“, danach trat er für die Ausweitung des Gesetzmässigkeitsprinzips und den gerichtlichen Rechtsschutz ein. Vor dem Krieg hielt Huber die aufklärerische Begründung der Menschen- und Freiheitsrechte für „abgestorben“, danach empörte er sich über Grundrechtsverletzungen. Vor dem Krieg war ihm der Rechtspositivismus gleichgültig und teilweise sogar recht,50 danach verurteilte er unablässig dessen kalten „Formalismus“ und „Logizismus“51 und bezeichnete ihn als „deutsche Pseudowissenschaft“.52 Er bekannte sich nach 1945 zu Rudolf Smend und benutzte dessen antipositivistische Kampfvokabel der „geisteswissenschaftlichen“ Methode. In Huber realisierte sich die „Situationsgebundenheit des Rechts“:53 Je nach politischer Lage und rechtlichen Bedürfnissen konnte er die eine Theorie vertreten und die andere verwerfen; in einer neuen Situation ergab sich das Gegenteil. Huber verwendete so ziemlich jede Theorie, welche die Wissenschaft vom öffentlichen Recht schon aufgestellt hatte. Die wichtigste Kontinuität in Hubers Denken bestand im Glauben an den Staat. Der Staat stand für ihn im Mittelpunkt: Er wollte die Grundrechte punktuell und von Fall zu Fall gewährleisten. Der Staat sollte auch soziale Fürsorge leisten. Fehlentwicklungen jeglicher Art waren vom Staat zu korrigieren. Diese etatistische Denkweise sollte in den Jahren nach seinem Tod immer mehr um sich greifen und zu einer massgebenden Anschauung des 21. Jahrhunderts werden. Huber setzte seine Flexibilität und Offenheit mit Begabung ein. Er sah wesentliche Entwicklungen voraus und praktizierte eine Arbeitsweise des Unver-
49 Der Jurist werde, erklärte er Schülern, bisweilen als „konservativer Warner, als Hemmschuh, als Ewig-Gestriger bezeichnet, wo in Wirklichkeit das Recht selber eine Dauerregelung für die Zukunft hat treffen wollen“, vgl. Hans Huber, Studium (Anm. 30), S. 19; ähnlich ders., Recht, Staat und Gesellschaft, S. 8. 50 Er bezweifelte mit Burckhardts Rechtspositivismus die Rechtsnatur des Völkerrechts: vgl. Huber, Garantie, S. 44a. 51 Hans Huber, Rezension von H. G. Lüchinger, Die Auslegung der schweizerischen Bundesverfassung, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 74 (1954), S. 508–513; ders., Grundrechte, S. 209 (Logizismus, Formalismus); ders., Studium (Anm. 30), S. 12; ders., Rezension von Z. Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, in: Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 86 (1949), S. 72 ff. 52 Hans Huber, Rezension von Hans Thieme, Das Naturrecht 1947, in: Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 84 (1948), S. 221 f. 53 Vgl. Dietrich Schindler, Über den Rechtsstaat (1934), in: ders., Recht, Staat, Völkergemeinschaft. Ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlass, Zürich 1948.
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bindlichen, die nunmehr die Rechtswissenschaft des 21. Jahrhunderts auszeichnet. Zudem war er den Studenten gegenüber aufgeschlossen und setzte sich für sie ein.54 Die meisten Professoren des öffentlichen Rechts sind in die Fussstapfen Hans Hubers getreten. Sein berufliches Leben nahm paradigmatisch das vorweg, was im Wissenschaftsbetrieb des 21. Jahrhunderts zu einer Lebensbedingung der universitären Juristen geworden ist. Die einzelnen Persönlichkeiten würden diese Arbeitsweise zwar für sich zurückweisen. Betrachtet man dagegen die von den Professoren des öffentlichen Rechts vertretenen Theorien und Meinungen, so überblickt der distanzierte Betrachter einen weithin praktizierten Eklektizismus. Dieser führt dazu, dass die historischen Voraussetzungen der Wissenschaft vom öffentlichen Recht zunehmend in Vergessenheit geraten, statt dass sie für Problemlösungen der Gegenwart herangezogen werden.
Ausgewählte Werke Hans Hubers Die Bedeutung der Grundrechte für die sozialen Beziehungen unter den Rechtsgenossen, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 139 ff. Die Gesamtsituation des Rechts. Abschiedsvorlesung vom 23. Juni 1970, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 11 ff. Die Garantie der individuellen Verfassungsrechte, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 55 (1936), S. 1a ff. Über die Geltung des Völkerrechts, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 565 ff. Die Grundrechte in der Schweiz, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Band I/1, Berlin 1966, S. 175 ff. Über den Initiativbetrieb und über Ausführungsgesetze zu Volksinitiativen. Zugleich eine Auseinandersetzung mit einer Richtung der Politikwissenschaft, in: Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, Basel 1982, S. 342 ff. Öffentlichrechtliche Gewährleistung, Beschränkung und Inanspruchnahme privaten Eigentums in der Schweiz, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 197 ff. Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 329 ff. Recht, Staat und Gesellschaft, Bern 1954. Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht. Ausgewählte Aufsätze 1950–1970, Bern 1971. Der Standort des Richters in der modernen Gesellschaft, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 63 (1962), S. 65 ff. Vertrauen und Vertrauensschutz im Rechtsstaat, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Werner Kägi, Zürich 1979, S. 193 ff.
54 Vgl. die Würdigung von Gerhard Winterberger, Das war eine goldene Zeit. Erinnerungen an die Berner rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der vierziger Jahre, in: Schweizer Monatshefte 1983 (Nr. 63), S. 127 ff., S. 132 f.
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Weltweite Interdependenz. Gedanken über die grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rückständigkeit des Völkerrechts, in: Hans Huber, Rechtstheorie, S. 601 ff.
XXXIV Carl Joachim Friedrich (1901–1984) Stephan Kirste Auf der Basis eines historisch wie systemvergleichenden Ansatzes hat Carl Joachim Friedrich eine Theorie des Verfassungsstaates entwickelt, deren Konsequenzen für die Erfassung des Problems des Totalitarismus auch heute noch in der Politikwissenschaft diskutiert werden.
I. Leben Friedrich wurde am 5. Juni 1901 als Karl Joachim Christian Leopold Friedrich in Leipzig in ein großbürgerliches Elternhaus geboren.1 Seine Mutter war Tochter des Reichsgerichtspräsidenten Carl von Bülow, der Vater Medizinalrat und Professor für Chirurgie. Dessen ausgeprägter Nationalismus hat bei Karl einen ausgesprochenen Antinationalismus und Europabegeisterung hervorgerufen. Protestantisch erzogen, wurde er später Mitglied der reformerischen Jugendbewegung, der bündischen Jugend und der akademischen Freischar. Ein Medizinstudium brach er ab und begann 1921 ein Studium der Nationalökonomie zunächst in Marburg und dann an der Heidelberger Philosophischen Fakultät. Dort wurde er 1930 bei Alfred Weber, dem Bruder von Max Weber, mit einer Dissertation über das nord-amerikanische Eisenbahnwesen promoviert.2 Die Dissertation argumentiert überwiegend in den geistigen Bahnen des Doktorvaters und will dessen standorttheoretischen Ansatz für die „Durchdringung der nordamerikanischen Industrieentwicklung“3 fruchtbar machen. Als Vertreter der deutschen Jugendbewegung reiste er ab 1923 in die USA. 1924 heiratete er dort. Gemeinsam mit Arnold Bergstraesser gründete er die „Deutsche Vereinigung für staatswissenschaftlichen Studentenaustausch“ als Vorläuferin des heutigen DAAD und leitete dessen Außenstelle in den USA bis 1926. Das Verhältnis der
1 Lietzmann 1999, S. 19 f. auf die dortige Biographie stützen sich die folgenden Ausführungen. 2 Carl Joachim Friedrich, Aus der staatlichen Regelung des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten. Geschichtliche, rechtliche und wirtschaftliche Grundzüge der Regelung der Finanzen der amerikanischen Eisenbahngesellschaften unter dem Esh-Cummins-Act 1920, Dissertation Heidelberg 1925 (Manuskript 111 S., Harvard University Archives: Pusey Archives, Cambridge/ Mass.). 3 Zit. Nach Lietzmann 1997, S. 274; ders. 1999, S. 28 f.
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beiden Weber-Schüler Friedrich und Bergstraesser war jedoch nicht spannungsfrei, da sie unmittelbare Konkurrenten um Heidelberger Stellen waren: Bergstraessser hatte den fünf Jahre jüngeren Kollegen gewissermaßen nach New York herauskomplimentiert, um ihn als Konkurrenten in Heidelberg loszuwerden.4 Tatsächlich war der Aufenthalt in Amerika nicht zu Friedrichs Schaden: Ab 1926 zunächst mit einem Lehrauftrag versorgt, ab 1931 als „associate“ und ab 1936 dann mit einer Stelle als „full Professor“ für Regierungslehre in Harvard versehen, machte er dort bald Karriere und wurde 1938 eingebürgert – nicht als Flüchtling vor dem Nationalsozialismus, sondern als geschätzter Wissenschaftler. Akademisch und politisch-praktisch wanderte Friedrich zwischen den Welten: Spezialist für deutsche und europäische Verwaltungspolitik5 sowie mitteleuropäisches politische Theorie und Verfassungsrecht6 und ihr Botschafter in Harvard – in Deutschland ein Interpret und Vermittler des amerikanischen Rechtssystems. Weltanschaulich fühlte er sich freilich noch lange eher Deutschland als dem Puritanismus der amerikanischen Ostküste zugehörig.7 Zunächst kennzeichnete ihn durchaus eine Affinität zu autoritärem Denken, die sogar eine gewisse Wertschätzung für Carl Schmitt einschloss und Hitler bis zum Hitler-Stalin-Pakt nicht als ein gravierendes Problem verstand,8 sondern eher als mit seiner Volksideologie rückwärtsgewandtes, nicht lebensfähiges und daher vorübergehendes Phänomen. Schmitt hatte sich auch bei Walter Jellinek für Friedrich für einen Lehrauftrag – zwar nicht am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften wohl aber an der juristischen Fakultät eingesetzt.9 Friedrich war jedoch mit Rücksicht auf den nationalsozialistischen Umbruch in Deutschland zunächst skeptisch.10 Er bot dann aber doch im Sommer 1933 zwei rechtsvergleichende Veranstaltungen an.11
4 Lietzmann 1997, S. 269. 5 Hierzu etwa Friedrich 1933, S. 185 ff. 6 Etwa Friedrich 1959, S. 801 ff. 7 Lietzmann 1999, S. 48. 8 Noch 1943 empfahl er der amerikanischen Gegenpropaganda: „Hitler should be presented to the Germans not as a criminal but as a fool“, Friedrich 1943, S. 89. 9 Lietzmann 1999, S. 79 f. 10 Im März 1933 fragte er Jellinek, „ob es Ihnen und der Fakultät lieber sein würde, wenn meine Gastvorlesungen für ein Jahr verschoben würden … weil ich mir denken könnte, daß Sie in diesem Augenblick irgendwelche Sonderunternehmungen, die zu Störungen Anlass geben könnten, vermeiden möchten“, UAH B-7207/1, zit. nach Mussgnug 2006, S. 290. Jellinek, der selbst um seine Stelle bangen mußte, antwortete am 1. April 1933, daß sich die öffentliche Stimmung in Deutschland nicht gegen Ausländer, sondern gegen Juden richte und Friedrich willkommen sei, Mussgnug 2006, S. 291. 11 Hans Schneider gegenüber erwähnt er, daß er bereits 1933 Gastprofessor für Allgemeine Staatslehre an der Fakultät gewesen sei, Brief vom 11.11.1963, zit. nach Lietzmann 1999, S. 246
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Gemeinsam mit dem Soziologen Talcott Parsons12 gründete an der Harvard University die „School for Overseas Administration“, die das Besatzungspersonal auf eine spätere Verwaltungsaufgabe in Mitteleuropa und Japan ausbilden sollte. Damit war er selbst auch vorbereitet dafür, an den Beratungen des Marshallplans mitzuwirken. Den Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius D. Clay, beriet er von 1946–1949 als Governmental Affairs Adviser bei der Frage der neuen Staatsform Deutschlands13 und hatte über diesen Einfluß auf die Verfassunggebung in den Ländern der westlichen Besatzungszonen.14 Für ihn besuchte er auch den Convent von Herrenchiemsee. Ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre wandte sich Friedrich auch akademisch wieder Deutschland zu: Am 7. Februar 1956 erhielt er zusätzlich zu seiner Stelle in Harvard an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg15 die Rechte „eines persönlichen Ordinarius für die Dauer der Zugehörigkeit zum Lehrkörper der Universität Heidelberg (Juristische Fakultät)“ für Staatslehre und Politik verliehen16 und gehörte zugleich auch der philosophischen Fakultät an. Ab 1960 wurde in Abstimmung mit Dolf Sternberger als zweitem Leiter seinem Antrag
Fn. 534. –Friedrich hat die Vorlesung „Das angelsächsische Staatsrecht in vergleichender Darstellung“ und das Seminar „Recht, Gesetz und Verfassung im angelsächsischen Staatsrecht“ angeboten, Mussgnug 2006, S. 291. Klaus-Peter Schroeder (2010, S. 688) nimmt an, daß Friedrich die Veranstaltungen jedoch wegen der Störungen nicht gehalten hat. Ob die Veranstaltungen tatsächlich stattfanden, konnte nicht mehr geklärt werden: Klaus-Peter Schroeder hat auf meine Nachfrage noch einmal die Personalakten, Dorothea Mussgnug die Universitätsakten durchforscht, jedoch ohne daß klare Belege gefunden werden konnten. Beiden danke ich herzlich für ihre spontanen und uneigennützigen Mühen bei der Aufklärung. 12 Zum wissenschaftlichen Verhältnis zu Parsons vgl. O’Neill 2009, S. 288 f.: „Systems theory was cautiously laid over the Aristotelian-Althusian pillar of this thought“ – sie gewannen aber nie die Oberhand über seinen genuin geisteswissenschaftlichen Ansatz. 13 Er selbst analysiert diesen Prozeß in Friedrich 1949, S. 465 ff. und 1949a, S. 706: „The constitution is, broadly speaking, of the type envisaged in the instructions of the Allies to the German Minister Presidents. Clearly, it is democratic and guarantees civil liberties. It is also definitely the constitution of a federal state, as that term is customarily understood in political theory and comparative government. The new state is more federal than Austria and Canada, about as federal as Switzerland and the United States, less federal than the German Empire and the British Commonwealth of Nations“. 14 Waibel 1996, S. 254: Der Einfluß war so groß und wichtig, daß sich Clay für die Rückkehr Friedrichs einsetzte, als dieser 1946 zunächst nach Harvard zurückkehren mußte, vgl. a. 304 f., 322 f. 15 Seit 1951 war er bereits Ehrendoktor der Juristischen Fakultät aufgrund seiner Verdienste für das Fach Politikwissenschaft und seinen Beitrag zum transatlantischen Kulturaustausch, Schroeder 2010, S. 688. 16 UAH, PA 3813, zit. nach Schroeder 2010, S. 689.
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auf Einrichtung eines „Instituts für politische Wissenschaften“ stattgegeben. In dieser Zeit arbeitete er besonders mit Hans Schneider eng zusammen.17 Friedrich war auch wissenschaftspolitisch tätig: Er beteiligte sich 1952 an der Gründung der „Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft der Politik“, die später zur „Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft“ wurde.18 Die Gründungsversammlung hatte jedoch das Zeug zum Skandal: Selbst ein lebende Verkörperung für die Kontinuität einer verfassungsstaatlich denkenden Politikwissenschaft in Deutschland, rühmte er deren Tradition, nachdem der damalige Bundespräsident Heuss – sich selbst als Politikwissenschaftler verstehend – mit viel Pathos von einer Stunde Null derselben gesprochen hatte.19 Anders als diejenigen, die sich in der Emigration bereits in den 30er Jahren von der deutschen Politikwissenschaft distanziert hatten oder auch als diejenigen, die dies aus ganz anderen Gründen mit der Forderung nach einer Stunde Null in der jungen Bundesrepublik taten, war Friedrich einer der ganz wenigen, die in ihrer kritischer Nähe zu den Staatswissenschaften Kontinuität zeigen konnten. Nach seiner Emeritierung zog er sich in die USA zurück und verstarb dort nach langer Krankheit auf seiner Farm am 19. September 1984.
II. Das wissenschaftliche Werk Friedrich hat ein umfangreiches wissenschaftliches Werk hinterlassen, das neben Arbeiten zur Politikwissenschaft, Rechtsphilosophie, Nationalökonomie auch Untersuchungen zur Ideengeschichte enthält.20
17 Schneider hielt gemeinsam mit Friedrich in dieser Zeit – politisch bunt gemischte Seminare, an denen etwa R. u. D. Mussgnug und K. v. Beyme teilnahmen (Hinweis dankt Verf. R. Mussgnug, unzutreffend danach Stolleis 2012, S. 363, der offenbar von politisch homogenen Seminaren ausgeht: „(„Ob diese ‚Heidelberger Schule‘ (Alexander Rüstow, Dolf Sternberger, Carl Joachim Friedrich, Klaus v. Beyme, M. Rainer Lepsius) in ihrem intensiven deutsch-amerikanischen Austausch mit der um Ernst Forsthoff, Hans Schneider, Karl Doehring, Reinhard Mussgnug, Ernst-Wolfgang Böckenförde und anderen gebildeten Gruppe ausgeprägt konservativer und staatszentrierter Öffentlichrechtler in engeren Kontakt trat, muß hier offenbleiben.“). Diesen Hinweis danke ich Reinhard Mussgnug, vgl. auch Lietzmann 1997, S. 23. 18 Lietzmann 1997, S. 270. 19 Lietzmann 1999, S. 13. 20 Übersicht bei von Beyme 1971b, S. 646 ff.; Lietzmann 1999, S. 305 ff.
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1. Wissenschaftliche Ausgangspunkte Abgesehen von der Prägung seines Frühwerks durch Albrecht Weber, liegen seine philosophischen Ausgangspunkte in der alteuropäisch-politischen politikwissenschaftlichen Tradition von Aristoteles, Bodin, Althusius und Kant,21 die ab den 40er Jahren um Elemente des Pragmatismus John Deweys ergänzt werden. In seiner Demokratie- und Republiktheorie spielt Rousseau eine gewichtige Rolle.22 Verfassungstheoretische Fragen scheinen ihn zunächst so wenig zu interessieren, daß er nicht einmal die verfassungsrechtlich problematischen Aspekte seines Dissertationsthemas berücksichtigt.23 Es liegt vielleicht in der Natur der Politikwissenschaft, daß sich auch Friedrich, wenn er ideengeschichtliche Ausflüge unternimmt, auf den „Urvater der Wissenschaft von der Politik“,24 auf Aristoteles bezieht.25 Er ist Aristoteliker, insofern er den Menschen als Gemeinschaftswesen ansieht, wenn er die Kategorien von Egoismus vs. Gemeinwohlorientierung als Bewertungsaspekte etwa für die Unterscheidung von Propaganda und Erziehung heranzieht26 oder annimmt, daß Demokratie in der Gefahr steht, in Diktatur umzuschlagen.27 Diese Orientierung zeigt sich auch in einem gewissen teleologischen Denken.28 Prinzipien für eine theoretische Erfassung dieser Sozialität findet Friedrich neben Aristoteles auch bei Althusius. Er würdigt ihn als einen der ersten Soziologen des Staates und zieht ihn zur Erklärung der Notwendigkeit von Institutionen heran. Die Politik des Althusius vermittelt er der amerikanischen Wissenschaft. Bei aller Bedeutung der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen kann doch der
21 O’Neill 2009, S. 284 f., dies befähige ihn gerade dazu, für die modernen, komplexen Probleme des Konstitutionalismus angemessene Kriterien zu entwickeln, S. 296. Zu Kant besonders instruktiv die Analyse der UN-Charta vor dem Hintergrund von Kants Friedensschrift, Friedrich 1947a, S. 10 ff.; Friedrich 1970, S. 1 ff. 22 Später hat er ein differenziertes Verhältnis zu ihm, vgl. etwa Friedrich 1958/59, S. 601: Die volonté générale sei das, was die Gesellschaft als Ganze rationaliter wolle. Mit seiner Konzeption von partikularem und Allgemeinwillen sei er jedoch fehlgegangen. 23 Lietzmann 1999, S. 31. 24 Friedrich 1954, S. 326. 25 „Die Philosophie des Aristoteles hat wahrscheinlich einen größeren Einfluß auf das Abendland ausgeübt als irgendeine andere Geistesmacht, es sei denn die Lehren des Christentums“, Friedrich 1953, 2; vgl. auch 1947, S. 978, 980, 989: wo er ihn aber durchaus zeitgemäß weiterdenkt. 26 Friedrich 1958/59, S. 608 f.: Er hält Propaganda für zulässig, wenn sie einem legitimen Organisationszweck dient und öffentlich gemacht ist. Unter den Bedingungen einer marktmäßigen Medienlandschaft kann sie autonomieförderlich sein. 27 Friedrich 1942, S. 87. 28 Auf das er insbesondere in seiner Rechtsphilosophie, S. 11 f. eingeht.
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Aufbau der Gesellschaft nicht von atomisierten ausgehen, sondern muß aus kleineren und größeren Gemeinschaften (Consociationes) hervorgehen und den Einzelnen in die Verantwortung für sie nehmen; das erscheint Friedrich ein sinnvolleres Modell zu sein, als die behaviouristischischen Ansätze, die seine Disziplin nach dem II. Weltkrieg in den USA prägten. Dank seines institutionellen Denkens habe Althusius auch die Beschränkung der Politikwissenschaft auf das Feld des Rechts vermieden.29 Nach dem zweiten Weltkrieg verband sich seine Heidelberger republikanische Prägung mit einem amerikanischen Demokratieverständnis und insbesondere auch mit dem Pragmatismus John Deweys30 und kam in „Man and his Government“31 und der Betonung der Bedeutung des „Common Man“32 zum Ausdruck. Er betont freilich immer wieder, daß ihm Formulierungen wie „Volkssouveränität“ oder „alle Macht geht vom Volke aus“ ein Leben lang unangemessen vorkommen.33 Ihr stellt er „Responsibility“ and „Responsiveness“ einer eher technokratischen Führungselite an die Seite.
2. Zur Methode Friedrichs Politikwissenschaft ist für Friedrich Freiheitswissenschaft: Sie hat freie Betätigungen Menschen zum Gegenstand und setzt kritikfähige, freiheitliche Institutionen voraus, um sich entfalten zu können.34 Bezeichnenderweise ist das kurze Metho-
29 „‚Politics is the science of linking human beings to each other for a sociallife‘, so begins the ‚Politics‘ of Althusius. lf one considers this definition just as it stands, one will perceive that Althusius was primarily concerned with what we now call the sociological or political field, rather than with the legal field. lt is the most important short-coming of Gierke’s study that he did not sufficiently emphasize this distinction. … Gierke … identifies politics with public law. This identification is even less in keeping with Althusius’ view“, (Hg.) Politica Methodice Digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the Third Edition of 1614. Augmernted by the Preface to the First Edition of 1603 and by Hitherto Unpublished Letters of the Author. With an Introduction of C. J. F. Cambridge/MA, S. LXIII f., zit. nach Lietzmann 1999, S. 53. 30 Friedrich 1944, S. 423. 31 Friedrich 1942. 32 Friedrich 1944, S. 421: The common man „must be seen as a creature of custom and sentiment and only occasionally of reason. Yet it is wrong to suppose that this reason can never play a role in communal judgments on social affairs“. 33 Friedrich 1959a, S. 23. 34 Friedrich 1954, S. 336: „zur höchsten aller Wissenschaften geworden, wie in den Tagen des Aristoteles. Denn wer wollte leugnen, daß für alle freien Menschen die Durchbildung einer die Freiheit ermöglichenden Staatlichkeit die letzte und höchste, die nie endenwollende, aber auch
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denkapitel im „Verfassungsstaat der Neuzeit“35 als Anhang beigefügt: Er geht recht unbekümmert mit verschiedenen, nicht immer verträglichen Erkenntniswegen um.36 Friedrich selbst nennt seine Methode „kritische Tatsachenforschung“ und „philosophisch-synthetisch“: „Sie interessiert sich für das Funktionieren der großen Anstalt, die wir Staat nennen, sie ordnet ihn ein in eine Vielfalt von gesellschaftlichen Zusammenhängen, sie bedient sich des Vergleiches, und nicht mit Unrecht hat man diese Lehre in Amerika auch als comparative government bezeichnet. Philosophisch-synthetisch aber möchte ich diese Auffassung von der Wissenschaft von der Politik nennen, weil sie versucht, in engster Bindung an Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie und Nationalökonomie alle für den Staat wesentlichen Erkenntnisse zusammenzufassen.“37 Politikwissenschaft ist also die Einheit der Sozialwissenschaften voraussetzend, interdisziplinär38 und – wie Peter Badura es nannte – „synkretisch“.39 Wenn es dieser Theorie um Reinheit geht, dann allenfalls deshalb, um die Politikwissenschaft von ihrer rechtswissenschaftlichen Dominanz zu befreien.40 Den Grund für diese Usurpation sieht Friedrich in einer seit von Mohl bestehenden Haltung, für „die eigentlich politischen Probleme nur geringes Interesse“ zu zeigen.41 Bei der Synthese sei immer auch der Mensch zu berücksichtigen.42 Nahezu jedes Kapitel seines „Verfassungsstaates“ ist vergleichend aufgebaut: Historisch-ideengeschichtlich und systematisch. Eingehend wird etwa die Entwicklung der Gerichtsverfahren in England und Kontinentaleuropa dargestellt43 oder die Gewaltenteilung konzeptionell bei Harrington, Locke und Montesquieu und verfassungsgeschichtlich bei Cromwell. Mal ist der Vergleich problematisie-
die nie langweilige Aufgabe bedeutet, die in der Wissenschaft von der Politik ihre universale, philosophisch und geistig klarste Zusammenfassung und Fortbildung findet?“ vgl. auch Friedrich 1947, S. 989. 35 1953, S. 698 ff. 36 „Friedrich ist politisch und methodisch immer Pluralist geblieben. Das hat ihm gelegentlich den Vorwurf mangelnder Konsistenz eingebracht, ihm aber in den repräsentativen Geschichten der Politikwissenschaft jene Kritik erspart, welche die Polemik gegen … Protagonisten bestimmter Methoden und approaches vorbrachte“, von Beyme 1971, S. VI. 37 Friedrich 1953, S. VII. 38 Friedrich 1953, S. 714 39 Badura 1960, S. 132. 40 „Wenn die Jurisprudenz weiterhin darauf besteht, die Arbeit der Wissenschaft von der Politik mit zu erledigen, dann wird für keine der beiden Disziplinen viel dabei herauskommen“, Friedrich 1953, S. 712. 41 1953, S. 330. 42 Friedrich 1953, 705 f. 43 Friedrich 1953, S. 119 f.
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rend in der englischen, der französischen,44 der deutschen, schwedischen und dann wieder positiv in der us-amerikanischen Verfassungsgeschichte;45 immer ist er in der Zusammenschau der Regelungen und ihrer Bedeutung virtuos.46 Auch das Parteienwesen untersucht Friedrich zunächst in seinen abstrakten Möglichkeiten und sodann auf dieser Basis in sowohl historischer als auch nationaler Hinsicht.47 Die für die Vergleichung notwendige Systematisierung findet freilich nur bei einzelnen Instituten statt. Vor der Bildung von Rechtskreisen und der Begründung aus ihnen schreckt Friedrich zurück.48 Zwar distanziert sich Friedrich vorsichtig von Weber, doch bleibt sein Beschreibungsmodell etwa in der Totalitarismusforschung eher Max Weber verwandt,49 obwohl der dessen Idealtypen lieber durch Realtypen ersetzt.50
44 Treffend etwa die Beobachtung in Friedrich 1953a, S. 42: „The United States Constitution sprang from an effort to organize an effective government where there had been none before, whereas the French constitutions sought to organize a constitutional, republican government to take the place of the antecedent autocracy“. 45 Friedrich 1953, S. 200 ff. 46 Vgl. etwa auch die Darstellung der Französischen Verfassung der 5. Republik, die er vor dem Hintergrund sowohl der deutschen Tradition bis zum GG als auch der amerikanischen analysiert, Friedrich 1959, S. 801 ff. 47 Friedrich 1955, S. 477 ff. 48 Und spricht eher beiläufig von Verfassungsfamilien, etwa Friedrich 1953a, S. 43. 49 Friedrich 1953, S. 700 f.: „Jede wissenschaftliche Feststellung, ob in der Form der Verallgemeinerung ausgesprochen oder nicht, ist eine hypothetische Beschreibung dessen, was im gegebenen Fall das Phänomen zu sein scheint. Eine hypothetische Verallgemeinerung … umgreift eine größere Anzahl von Phänomenen, die gewisse Eigenschaften gemeinsam haben … Wir stellen hier nur fest, daß diese verallgemeinernd-beschreibende Formel mit den beobachtenden Phänomenen übereinstimmen muß, von denen sie abgeleitet ist. Wenn irgendeine Beobachtung gemacht oder bestätigt wird, die der Formel widerspricht, dann muß eben die Formel so abgeändert werden, daß auch die neue, harte kleine Tatsache’, wie William James einmal solch eine abweichende Beobachtung treffend bezeichnet hat, in ihr mit einbegriffen ist.“ Adam 1978, S. 30; Lietzmann 1999, S. 151 f. 50 Friedrich 1961a, S. 19 f.: Der Realtypus soll einen geringeren Abstraktionsgrad als der Idealtypus besitzen und dem beschriebenen Phänomen ähnlicher sein.
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3. Forschungsthemen Friedrichs im Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften a) Die Rechtsphilosophie Gewiß nicht Ausfluß eines Interessenschwerpunktes, sondern wohl eher ein Gelegenheitswerk, ist „Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive“ jedoch nicht nur eine kurze Ideengeschichte grundlegender Prinzipien der Rechtsphilosophie, sondern in ihrem abschließenden Systematischen Teil zugleich auch eine Grundlegung wichtiger Elemente von Friedrichs Staatstheorie. Die wenig zur Kenntnis genommene51 Abhandlung enthält kaum Ausführungen zur Straf- oder Zivilrechtsphilosophie. Auch das historische Setting der betreffenden Philosophien wird nicht berücksichtigt.52 Die Ausführungen zur antiken und mittelalterlichen Rechtsphilosophie fallen sehr konventionell aus.53 Leitend ist die Unterscheidung zwischen einem voluntaristischen und einem rationalistischen Rechtsverständnis. Ihr erster Grundgedanke ist, daß jede politische Ordnung ein Grundgesetz – eine Verfassung – benötigt. Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke der Vorgängigkeit und Vorrangigkeit des Rechts vor der politischen Ordnung durch das Werk.54 Weil er dies nicht berücksichtigt habe, sei Platons Konzeption der Politeia gescheitert.55 In dieser Perspektive sieht Friedrich bereits bei Aristoteles den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung angelegt.56 Entsprechend wird die Leges-Lehre bei Augustinus vorgestellt. Mithin sucht Friedrich im Werk bedeutender Philosophen Elemente der modernen Verfassungsstaatlichkeit. Ein zweiter – auch heute noch bereichernder Ansatz – ist Friedrichs Versuch, die Rechtsphilosophien Kontinentaleuropas mit England,57 der Alten und der Neuen Welt ins Gespräch zu bringen. Dies zeigt sich etwa, wenn er Ciceros „Wir sind Diener des Rechts, um frei sein zu können“ mit der Idee der American Founding Fathers von „a government of law and not of men“ zusammenbringt, der Souveränitätslehre Bodins und Althusius‘ diejenige von Hooker und Th. Smith
51 Vgl. aber die Besprechung on Schilling 1957, S. 142 ff. 52 Schilling 1957, S. 145. 53 Schilling 1957, S. 145: „Diese Geschichtsschreibung hält sich noch durchaus in der großen deutschen Tradition und ihrer gründlichen von Verständnis getragenen Kenntnis der Einzelheiten. Trotzdem ist sie bereits stark perspektivisch zurechtgerückt“. 54 So etwa auch bei Thomas, Friedrich 1955, S. 27. 55 Friedrich 1955, S. 9 f. 56 Friedrich 1955, S. 13. 57 Friedrich 1955, S. 31.
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gegenüberstellt und die Naturrechtslehre eines Francis Bacon mit derjenigen von Grotius und Pufendorf,58 vergleicht, bzw. feststellt: „Wie auf Bodin Althusius, so folgt auf Hobbes Locke“ – wobei der jeweils Letztgenannte ihm näher liegt. Ähnlich vergleicht er die Historische Rechtsschule mit Henry Sumner Maine und erkennt bei Marx und Engels Spuren des englischen Materialismus (86). Schließlich stellt er Max Weber und andere soziologische Ansätze mit den American Legal Realists (109 f.) und das Wiederaufleben des Naturrechts diesseits und jenseits des Atlantiks einander gegenüber. In diesen Kapiteln geht die Schrift Friedrichs deutlich über das hinaus, was andere zeitgenössische Geschichten der Rechtsphilosophie (Verdroß,59 Welzel) boten. Zeigen diese Passagen deutlich das komparatistische Interesse Friedrichs in seinen politikwissenschaftlichen Hauptwerken, fällt doch auf, daß andere zentrale Themen kaum in ihrer ideengeschichtlichen Dimension Berücksichtigung finden: So geht er praktisch nicht auf den Republikanismus bei Cicero60 und Kant ein, der ihm ansonsten in seinem politischen Werk doch so wichtig ist. Bei einem der Totalitarismustheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts fällt auf, daß Aussagen der Philosophen zum Widerstandsrecht oder auch zum Tyrannenmord, zu den Regierungsformen gar nicht oder sehr knapp abgehandelt werden. Die „Philosophie des Rechts“ gewinnt dann aber mit dem 19. Jahrhundert auch abgesehen von den vergleichenden Passagen wieder an Intensität und Originalität. Die Auseinandersetzung mit Marx und Engels gehört zu den originellsten Kapiteln des Werkes. Zwar erwidert er auf Engels Idee eines Rechts auf Revolution als einzigem „wirklich historischen Recht“, daß kaum ein gegenwärtiger Staat dieses Recht anerkenne;61 zugleich attestiert er ihm aber „ein glühendes Verlangen nach wirklichem Recht. Der Glaube an diese Möglichkeit einer endgültigen Verwirklichung der Gerechtigkeit, diese Apokalypse der menschlichen Gesellschaft, ist der eigentliche Kern ihrer Rechtsphilosophie. Sie ist idealistisch im höchsten Maße und fordert daher ein Höchstmaß an Zwang und Gewalt zu
58 Friedrich 1955, S. 50. 59 Alfred Verdroß 1958. 60 Übrigens auch in politikwissenschaftlichen Schriften, Friedrich 1954, S. 327. 61 Friedrich 1955, S. 91: „In der heutigen Welt kann man wohl genau das Gegenteil behaupten. Keiner der bestehenden Verfassungsstaaten anerkennt ein solches Recht, und in vielen derselben sind sehr eingehende und zum Teil weitgehende Gesetze damit befaßt, dieses Recht als Unrecht zu brandmarken und seine Ausübung auf jede erdenkliche Weise zu verhindern. Das gilt aber nicht nur für die Verfassungsstaaten, sondern in noch erhöhtem Maße von den totalitären Staaten und insbesondere von der Sowjetunion.“
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ihrer Durchführung.“62 Das leitet dann in der Tat über zu seiner Verfassungs- und Totalitarismustheorie.
b) Die Verfassungstheorie Seine Verfassungstheorie hat Friedrich im staatstheoretischen Hauptwerk, „Der Verfassungsstaat der Neuzeit“ entfaltet.63 Die Verfassung wird von ihm von der Freiheit her verstanden: „Der Ewigkeitswert der Verfassung liegt darin, daß sie es ermöglicht, Freiheit durch Recht und Recht durch Freiheit zu verwirklichen.“64 „Die Verfassung ist der Versuch, den Lebenswillen eines Volkes und seiner Glieder, der Bürger, in feste Formen zu fassen“.65 Sie ist also keine juristische Norm, sondern ein politischer Prozeß, durch den die Staatsgewalt beschränkt wird. Analytisch lassen sich fünf Verfassungsbegriffe unterscheiden: Erstens ein umfassender, der Verfassung und politische Ordnung gleichsetzt („philosophischer Verfassungsbegriff); zweitens der juristische Verfassungsbegriff: Verfassung als Verkörperung der grundlegenden Rechtsauffassungen des Gemeinwesens. Ferner einen historischen Verfassungsbegriff. Viertens einen strukturellen Verfassungsbegriff, der auf die Verschriftlichung in einer Verfassungsurkunde abstellt. Fünftens schließlich meinten einige Autoren, daß nur eine demokratisch gebildete Verfassung diesen Namen verdiene, verträten also einen verfahrensmäßigen Verfassungsbegriff. Der Konstitutionalismus „schafft ein System wirksamer Beschränkungen für das Handeln der Regierung. Er unterwirft sozusagen den ‚Staat‘ der Verfassung … Allgemeinverständlicher, doch weniger exakt ausgedrückt, handelt es sich um ein System von Regeln zur Gewährleistung des ‚fair play‘, wodurch eine ‚verantwortliche‘ Regierung entsteht“.66 Der enzyklopädische „Verfassungsstaat“ folgt einem klaren Aufbau: Der erste Teil beschreibt die Struktur des Staates („Der moderne Staat: Wesen und Entwicklung“) mit Kapiteln zu Bürokratie, Territorialität, Frieden, Polizei, Gesetz-
62 Friedrich 1955, S. 93. 63 Berlin – Göttingen – Heidelberg 1953. Das Werk ist eine von Friedrich mehrfach durchgesehene und korrigierte Übersetzung von „Constitutional Government and Democracy“, 4. Aufl. New York/London 1951. Dieses war 1937 in erster Auflage als Constitutional Government and Politics erschienen. 64 Friedrich, Der Ewigkeitswert des Verfassungsgedankens, 15.3.47, Papers OMG 2, 17.39,5, Box 2, zit. nach Waibel 1996, S. 118. 65 Friedrich 1955, S. 138. 66 Friedrich 1953, 26.
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gebung und Justiz; es folgt eine Analyse der verfassungsstaatlichen Ordnung, im dritten Teil der Realisierung dieser Strukturen mit Analysen zu Repräsentation, Staatsorganen, Parteien und weiteren pluralistischen Arrangements, sowie einem abschließenden vierten Teil zu Störungen des Verfassungsstaates, wozu auch eine kritische Auseinandersetzung mit unmittelbarer Demokratie einerseits und zwei Formen von Diktatur gehört. Dieser pluralistische Ansatz ist in seinem späten Werk „Man and his Government“ noch ausgebaut worden, wo er deutlicher normative Aspekte einer guten Ordnung und ihrer Institutionen aufgreift.67 Gemeinwohl und Gerechtigkeit sind danach die Hauptzwecke des Staates.68 Leitend ist der Gedanke des „limited government“. Dieses Prinzip ist in der englischen „Rule of Law“ vorgebildet worden und legt im demokratischen Verfassungsstaat auch der Selbstbestimmung des Volkes rechtliche Zügel an und begründet und beschränkt die Ausübung der Staatsgewalt. So unterscheidet die Friedrich die funktionale und von der räumlichen, föderalen Gewaltenteilung69 und interessieren ihn bei Darstellung der Elemente des Staates deren Verrechtlichung.70 Letztlich zeigen die Entwicklungen des II. Weltkriegs und des Kalten Krieges, daß der Konstitutionalismus nicht nur auf internationaler Basis funktionieren kann. Denn Frieden und Konstitutionalismus bedingen sich wechselseitig.71 Friedrich erwägt daher eine freiheitliche Bundesverfassung als Weltverfassung,72 bzw. ein Weltrecht.73 Hinsichtlich der Staatsform vertritt Friedrich zunächst in den 30er Jahren – auch insofern inspiriert durch seinen Doktorvater Alfred Weber – einen elitären Republikanismus: Kritisch gegenüber einer Herrschaft der Massen und der Notwendigkeit einer weiteren Rationalisierung von Herrschaft, sieht er nur in einer am Gemeinwohl orientierten Herrschaft von Führungspersönlichkeiten eine Möglichkeit der sinnvollen Herrschaftsausübung.74 Diese Regierung muß nicht demokratisch sein. Sie ist unabhängig vom Willen des Volkes auf das für es Beste gerichtet und kann daher auch in einer konstitutionellen Diktatur bestehen. Dieser autoritäre Ansatz brachte ihn in die Nähe zu Carl Schmitt. Dessen Dikta-
67 Friedrich 1963. Hierzu auch O’Neill 2009, S. 287. 68 Friedrich 1953, S. 115 f. 69 Friedrich 1953, S. 196 f. 70 So etwa, wenn er bei der Darstellung der Polizei auf die Anfänge der Gesetzgebung und auf die Verordnung als Mittel der Verwaltungsprogrammierung eingeht Friedrich 1953, S. 104 f. 71 Friedrich 1953, S. 100. 72 Friedrich 1953, 39. 73 Friedrich 1955, S. 143. 74 Hierzu sein Modell von „Leadership“, Friedrich 1961, S. 20 f.
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turbuch schätze er in der Tat sehr und wollte es ins Amerikanische übersetzen lassen75 – ein Vorhaben, von dem er jedoch angesichts der Parteinahme Schmitts für den Nationalsozialismus Abstand nahm.76 Mit der Konzeption seines „Common Man“ wächst jedoch die demokratische Komponente seiner Theorie. Wohl auch nach der Auseinandersetzung mit John Dewey fordert er: „All we need is the much more tempered belief in the comparatively greater wisdom of the many.“77
c) Die Totalitarismustheorie Carl J. Friedrich gilt als Begründer der klassischen Totalitarismustheorie. Diese Einschätzung wird freilich weder den gewichtigen Vorarbeiten, auf die sich Friedrich stützen konnte, noch seiner Selbsteinschätzung gerecht, nach der die Totalitarismustheorie keineswegs seine gewichtigste Erkenntnisleistung war.78 In „Totalitarian dictatorship and autocracy“ wurde die Theorie von Friedrich in konsequenter Koautorschaft mit Zbigniew Brzeziński ausgearbeitet. Die Gesamtkonzeption stammt jedoch von Friedrich.79 Die Grundunterscheidung ist diejenige zwischen einer konstitutionellen und einer totalitären Diktatur: „Während die konstitutionelle Diktatur sich formell durch die Regularien ihrer Institutionalisierung, Befristung und Kontrolle, aber vor allem materiell durch den ausdrücklichen Willen zur Etablierung einer Verfassungsordnung (‚constitutional government‘) auszeichnet, ist die totalitäre Diktatur formell durch den neu entworfenen Katalog ihrer Merkmale und vor allem materiell durch die Gegnerschaft gegen die Kriterien einer konstitutionellen Demokratie … sowie durch die Proklamierung einer ‚wahren Demokratie‘ im Sinne der Sowjetunion gekennzeichnet“.80 Sechs Merkmale sind es, die eine totalitäre Diktatur ausmachen: eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol, eine zentral gelenkte Wirtschaft.81 Es reicht nicht aus, daß eines dieser Merkmale vorliegt. Auch wenn sein Modell im Laufe der Jahre insofern changiert, scheint er doch die Auffassung zu vertreten, daß ein totalitärer Staat nur bei einer
75 Lietzmann 1999, S. 245. 76 Lietzmann 1997, S. 281 f. 77 1942, S. 31. 78 Dazu differenzierend Lietzmann 1999, S. 119 ff. 79 1957, S. 7 f. 80 Lietzmann 1999, S. 283. 81 1957, S. 19; Kailitz 2007, S. 129 ff.
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Kombination der Merkmale besteht.82 Seinen Kern aber machen die totalitären, nicht auf die Wiedereinführung des Konstitutionalismus gerichteten Absichten aus. Man braucht wohl Friedrichs republikanische Staatsauffassung im Sinne der Verpflichtung auf das Gemeinwohl, um eine beschränkte „konstitutionelle Diktatur“ zum Wohle des Volkes aber ohne dessen Zustimmung für gerechtfertigt zu halten. Sie ist freilich durch den Zweck – die Widerherstellung der staatlichen Ordnung und insbes. der Verfassung – nicht aber durch ihre Mittel: Verletzung der Selbstbestimmung der Bürger in einer Ausnahmelage legitimiert. Ihre Gefahr besteht erstens in der Perpetuierung, da zumeist die Macht des Repräsentanten des Souveräns, also des Parlaments, ausgeschaltet wird, und zweitens in der Ausweitung der für legitim gehaltenen „Diktaturen“ nämlich etwa auch der „funktionalen Diktatur“ und einer „Entwicklungsdiktatur“, die zur wirtschaftlich-technischen Entwicklung eines Volkes errichtet wird. Ungebunden durch ein Organ, das die Kriterien der Entwicklung festlegt, nimmt die entsprechende Diktatur permanent für sich in Anspruch, für den Fortschritt zu wirken und auf ihre Überwindung hinzuarbeiten. Die verfassungsrechtliche Legitimation einer solchen Diktatur besteht jedoch nur dann, wenn sie als pouvoir constitué verstanden wird und bemißt sich anhand der bestehenden Verfassung.83 Diese tut daher gut daran, sich für besondere Lagen eine Notstandsverfassung zu geben, die Gründe und Dauer der „konstitutionellen Diktatur“ genau definiert. Ihr Ziel muß die Wiedereinführung der Verfassungsstaatlichkeit sein.84 Diese „Diktatur“ könnte in der Sprache der Federalists eine republikanische Demokratie genannt werden. Im Gegensatz zu einer demokratischen Republik, stützt sich die Einführung dieser Demokratie auf eine gemeinwohlorientierte
82 Später spricht Friedrich von einem Syndrom von Merkmalen, 1965, S. 609; zur Entwicklung seiner Totalitarismustheorie vgl. Adam 1978, S. 17 f. 83 „It is this government according to law that is usually meant when people speak of the ‘rule of law’. Such a government may be strongly authoritarian, as indeed military government is bound to be; but it is not despotic if it abides by its own laws … Allied policy has been directed in each case, not toward imposing democracy, but toward imposing restraints upon those elements of the population who would sabotage efforts of the constitutionalists and who would seek to under-mine and eventually destroy constitutional democracy“, 1950, S. 6. 84 Wie dies etwa auch für Militärregierungen gilt, die trotz der militärischen Notwendigkeiten auf eine rechtliche Stabilisierung hinwirken müssen: „Among the most delicate tasks of the military governor is this: to avoid interfering with such a re-emergence of a will [of occupied peoples, S. K. ] to be free, while yet executing his mission of maintaining law and order and the safety of communication“, Friedrich 1943a, S. 541.
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Elite, die dem Volk seine (Selbst-)Bestimmung zurückgibt,85 wie der Arzt einen komatösen Patienten aus seinem Koma erweckt.86 Die demokratische Republik hingegen geht von einem revolutionären Akt des Volkes aus und rechnet mit dessen verantwortungsbewußter Selbstbestimmung bei der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, wie dies die Verfassungsväter der amerikanischen Verfassung voraussetzen konnten.
III. Zur Wirkung von Carl J. Friedrich Carl J. Friedrich steht einerseits in der Tradition der Staatslehren von Robert von Mohl und Georg Jellinek. Mit ihnen teilt er nicht nur einen interdisziplinären, sondern auch einen komparatistischen Ansatz. Während die beiden Juristen jedoch unter dem liberalen Rechtsstaat der konstitutionellen Monarchie Staatslehre noch als Teil der gesamten Staatsrechtswissenschaft verstehen konnten, beginnt sich die Politikwissenschaft angesichts des Aufgabenwachstums des Staates und der weiteren funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt von der Rechtswissenschaft abzulösen. Friedrich beobachtet die Notwendigkeiten dieses Prozesses und fördert ihn konzeptionell. Vor diesem Hintergrund ist sein interdisziplinärer Zugang zu verstehen. Sein antipositivistischer Ansatz versucht sich zugleich über eine Verfassungs- und Philosophievergleichung rückzuversichern. Daß dabei systematische Geschlossenheit und Begründungstiefe nicht immer mithalten, wird durch die Breite der Begründungen und die Wachsamkeit gegenüber neuen Problemgestaltungen weitgehend wieder ausgeglichen. Zu diesen neuartigen Fragestellungen gehört das Problem eines auch mediengestützten Totalitarismus. Daß sich die Rezeption Friedrichs weitgehend auf die Totalitarismustheorie beschränkt, wird seinem Werk nicht gerecht.87 Mit seinem Aristotelismus, seiner Wertschätzung für die Gemeinschaften im Sinne Althusius‘ und von bindenden Kräften von Institutionen ist Friedrich –
85 Diese Selbstbestimmung hat er verteidigt – auch dann, wenn von Kollegen unterstellt wurde, die Amerikaner hätten die Verfassungen in den neuen Bundesländern geschrieben, vgl. Friedrichs „A Reply“ (to Delbert Clark), 1950, S. 201: „They were not so written, but are the products of German drafts and discussions lasting from April till December 1946. In point of fact, numerous articles were highly controversial between the U. S. and the Germans; in one case, the conflict was so pronounced that a special referendum had to be held“. 86 Federalist 1982, Nr. 10 S. 55 87 Beyme 1984, S. 478.
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ähnlich wie Philipp Selznick88 ein Vorläufer des Kommunitarismus.89 Durch seine andauernde Verwurzelung mit der Heidelberger Schule schlägt er aber zugleich die Brücke zur mitteleuropäischen Tradition dieser politischen Bewegung. Die Beschäftigung mit Friedrich würde die Kommunitaristen somit an ihre eigenen Wurzeln erinnern.90 Friedrich führte kaum große wissenschaftstheoretische Debatten. Mit einer Begeisterung für den politischen Stoff wirft er sich jeweils in die Darstellung seines Themas. Damit bereicherte er die deutsche Nachkriegsdiskussion um die intensivere, aus unmittelbarer Anschauung gewonnenen Aspekte des Vergleichs mit der anglo-amerikanischen Rechtswelt. Methodische Erwägungen sind marginal. Die Überzeugung von der Einheit der Sozialwissenschaften setzt er an die Stelle einer „reinen“ Scheidung der Wissenschaften vom Gemeinwesen. Die Wiener Trennkost der reinen Staatsrechtslehre opfert Friedrich der saftigen synkretistischen Mischkost mit den erlesensten Zutaten von Verfassungen aus allen Teilen der Welt. Stephan Kirste, Salzburg
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88 Selznick 1992. 89 Zu seinen Auswirkungen auf die Theorie des Historischen Institutionalismus, O’Neill 2009, S. 290 f. 90 Zum Kommunitarismus in der deutschen Rechtswissenschaft vgl. Brugger S. 337 ff.
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XXXV Theodor Maunz (1901–1993) Peter Lerche Zu den einflussreichsten Staatsrechtslehrern des vorigen Jahrhunderts, vielfach nachwirkend in die Gegenwart, zählt gewiss Theodor Maunz (1901–1993). Er vereinigte in sich eine Reihe hervorragender Begabungen: zumal als Forscher, Lehrer, Politiker, Gutachter, Prozessvertreter, war aber auch nicht frei von erheblichen Belastungen. Als Forscher trat er nach dem Krieg mit sehr vielen Arbeiten unterschiedlichster Art glanzvoll hervor. Die größte Wirkung erzielte er wohl durch seine zahlreichen Beiträge für den Großkommentar zum Grundgesetz, der auch jetzt noch den Namen „Maunz-Dürig“ trägt. Dieser hochangesehene Kommentar, ein Loseblattwerk, der heute von einer größeren Zahl von Autoren getragen wird, wurde zunächst wesentlich auch durch berühmt gewordene Beiträge von Günter Dürig geprägt. Die bei Maunz durchwegs besonders spürbare Praxisnähe heißt nicht etwa Kapitulation vor praktischen Anforderungen. Eher lässt sich sagen, dass Maunz die Forderungen künftiger Praxis gewissermaßen witterte. Das führte zumeist – nicht immer – zu klaren Handreichungen, Vieles vorausdenkend, alles behutsam systematisierend, starren Doktrinen abhold. Sein enormer Einfluss auf die Praxis einschließlich der Gerichtsbarkeit veranschaulichte den Erfolg. Diesen erreichte er zusätzlich durch einen Reichtum an sonstigen verfassungswie verwaltungsrechtlichen Arbeiten im Gesamtgebiet des deutschen öffentlichen Rechts samt Finanz- und Wirtschaftsverwaltungsrecht. Das europäische Recht konnte freilich nicht mehr zu seinen Interessengebieten gelangen. Wohl aber betrachtete er schon früh intensiv die Gesamtproblematik der Wiedervereinigung, so wie sich diese zu jener Zeit darstellte und setzte auch hier weitnachwirkende Akzente. Besondere Verbreitung unter den Studierenden fand sein Einführungsbuch „Deutsches Staatsrecht“ (seit 1951), das von angesehenen Autoren weitergeführt wurde. Seine Praxisnähe erwies sich z. B. schon 1932 in der Vertretung Bayerns gegen die Reichsregierung im Streit vor dem Staatsgerichtshof für das deutsche Reich. Später traten sehr häufige Prozessvertretungen oder Gutachten hinzu. Während seine Habilitationsschrift „Hauptprobleme des öffentlichen Sachenrechts“ (1933) nichts mit dem NS-Regime zu tun hatte, erlag er später als Professor in Freiburg i. Br. dessen Verführungen. Das bezeugen leider viele Schriften. Doch hielt er z. B. an der stetigen Beteiligung an der Fronleichnamsprozession fest und ver-
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suchte auch sonst, manchen zu helfen. Daher ist es verständlich, dass er nach der Kapitulation unterstützendes Mitglied des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und Mitglied des Vorläufigen Ministerrates im Südweststaat wurde. Mit Hilfe eines Sondervotums von Hans Nawiasky (seines Doktorvaters) berief man ihn an die Münchener Juristische Fakultät, Teil seiner bayerischen Heimat. Das Amt des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus übte er 1957–1964 aus. Das war eine Zeit grundlegender Reformen in Schule und Hochschule, auch von Neugründungen. Ohne seine Fähigkeit, Kompromissformeln zu finden, wäre Manches nicht realisierbar geworden. Als später seine Belastungen während des NS-Regimes im vollen Umfang hervortraten, wurde ihm der Rücktritt nahegelegt. Es mag sein, dass das Bewusstsein dieser Belastungen dazu beitrug, ihn vor ministerieller Überheblichkeit zu bewahren, doch wäre eine solche seinem Naturell ohnehin fremd gewesen. Mit seiner Spottlust überzog er Vieles, sie richtete sich jedoch auch und gerade gegen sich selbst. Dies konnte man bis in die Nähe seines hohen Alters bemerken. Noch während seiner höchst ergiebigen Zeit als Minister arbeitete er mit erstaunlicher Kraft und Selbstdisziplin an seinen wissenschaftlichen Publikationen weiter, meist am frühen Morgen beginnend. Als Lehrer wusste er seine Hörer zu begeistern, zumal in der „Großen Vorlesung“, deren Daseinsberechtigung seinerzeit oft bestritten wurde. Das zog auch Studierende anderer Fakultäten an. Maunz trug nicht schlicht vor, sondern zwang zum Mitdenken auf vielfältige Weise, reich an Fragen, auch an plastischen Anekdoten, die ihm überall in Fülle verfügbar waren. Am Ende seiner Lehrtätigkeit erprobte er noch – voller Gestaltungswillen – neue Formen der Lehre. Den Prüflingen gegenüber war er ein derart milder – allzu milder – Prüfer, dass dies seinerseits anekdotenbildend wirkte. Von seinen Mitarbeitern verlangte er – sozusagen selbstverständlicherweise – viel, umhüllte dies aber mit äußerster Höflichkeit. Ein Beispiel: Als der Verfasser als Assistent zusammen mit dem Assistenten eines anderen Ordinarius am Morgen ihr gemeinsames Zimmer betraten, fand der Kollege einen Zettel vor mit dem Inhalt „Anruf!“; auf der Tischhälfte des Verfassers lag ein Zettel: „Rege ergebenst gelegentlich Anruf an, Ihr Maunz.“ Ob sich unter dieser Ausdrucksform eine gewisse Distanziertheit verbarg, ist schwer zu entscheiden. Es gab jedenfalls Momente, in denen Maunz im Gespräch auch im Inneren auftaute; etwa dann, wenn die Rede aus irgendeinem Anlass auf seine Familienangehörigen kam. Der Tod seiner Ehefrau berührte ihn aber so, dass er darüber nach außen, soweit ich dies beurteilen kann, kaum sprach. Seine Höflichkeit galt im Übrigen nicht minder dem einzelnen Studierenden, wenn dieser etwa mit Bekümmernissen den Weg zu ihm suchte und wohl stets
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fand, wie ebenso etwa auswärtigen Besuchern; dies mit nicht beschreibbaren Höhepunkten, wenn japanische Kollegen erschienen. Dann entwickelte sich, wie der Verfasser schon andernorts andeutungsweise vermerkte, ein Groß-Zeremonien-Stück edelster Begrüßungskunst, das wohl auch im Fernen Osten seinesgleichen sucht und in Europa nostalgische Erinnerungen weckt. Der gegenseitigen Verbeugungen wollte keiner der Beteiligten ein Ende setzen, je tiefer, desto besser, bis es dann doch einmal genug sein musste. Auch fügt sich in dieses Bild folgende für Maunz charakteristische Tatsache ein. Nachdem er, übrigens durch Zeitungslektüre, überraschend erfuhr, dass er zum Kultusminister berufen werden sollte, und dies sich dann auch realisierte, verfuhr er nach Betreten der Amtsgebäude so: Zunächst stellte er sich dem Pförtner vor; hernach ging er von Amtszimmer zu Amtszimmer und stellte sich ebenfalls jedes Mal den jeweiligen Ministerialbeamten vor. Es gab also kein Zusammenrufen aller Beamten mit Darstellung und Vorführung der eigenen Person – das wäre für Maunz untypisch gewesen. Eine Schule hat Maunz mit seinen Habilitanden nicht gebildet. Das hätte er auch nicht gewollt. Er achtete stets auf Selbständigkeit und nahm deren Früchte sich selbst als Ansporn zu erneutem Durchdenken. Das verwehrte ihm auch, sich einer der damals im Schwange befindlichen Hauptströmungen in der deutschen Staatsrechtslehre anzuschließen, so sehr er z. B. föderalistisch betonte Lösungen bevorzugte, aber stets pragmatisch gewürzt und gebändigt. Eben durch diese Gesamthaltung hat er auf seine Schüler eingewirkt, sei es in intensiver, sei es in schwächerer Art. Die erwähnte mitreißende Große Vorlesung verbaute ihm nicht, auf seine Seminartätigkeit Wert zu legen und zwar mit besonderem Gewicht. So verlangte er von jedem Seminarteilnehmer, dessen eigene Meinung – sei es ausführlicher, sei es nur kurz – zu dem jeweiligen Seminarthema darzulegen. Je nach Seminarstunde führte diese Methode eher zu großer Vielseitigkeit oder zu Wiederholungen. Man konnte dies nicht voraussagen. Von Bedeutung war, dass (wie der Verfasser ebenfalls schon andernorts angemerkt hat) Maunz sich sogar während der Zeit seiner letzten Lehrstuhltätigkeit mit Verve auch neuen Gestaltungen des akademischen Unterrichts zuwandte; das formte er namentlich im sogenannten Kleingruppen-System aus. Hierzu heißt es im Vorwort der Festgabe für Maunz zum 70. Geburtstag (1971 bei C. H. Beck erschienen): ‚Bis in sein letztes aktives Semester erprobte er auch neue Formen der akademischen Lehre, zugleich wohl ahnend, dass die menschliche Güte und Bescheidung, die ihn auszeichnen, mit das Geheimnis seines großen Erfolgs als Lehrer bilden‘. Zu seinen Belastungen zählt die erst nach seinem Tode aufgedeckte, nie wirklich bewiesene, aber doch wohl sehr wahrscheinliche stille Mitarbeit an einer rechtsextremen Zeitung. Seine ungemein vielfältige, fruchtbare sonstige Tätig-
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keit in ihrer ganzen Fülle nach dem Kriege kann dadurch aber nicht ausgelöscht werden.
Zur Auswahlbibliographie Der Reichtum seiner Publikationen nach dem Kriege lässt es kaum zu, einzelne von ihnen bewertend herauszugreifen. Immerhin nehmen die schon erwähnten zahlreichen Beiträge im Kommentar „Maunz/Dürig“ in ihrer Gesamtheit eine Sonderstellung ein, ebenso wie das ebenfalls schon genannte Einführungsbuch „Deutsches Staatsrecht“. Doch ist es so gut wie unmöglich, aus der sehr hohen Zahl seiner sonstigen Veröffentlichungen einzelne herauszuheben. Genannt seien daher nur seine Mitarbeit am Sammelband Mang-Maunz-Mayer-Obermayer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern sowie seine Mitarbeit am Sammelband Maunz, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz.
XXXVI Gerhard Leibholz (1901–1982) Von Christian Starck
I. Leben Gerhard Leibholz wurde am 15. November 1901 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren, aber so wie seine beiden Brüder christlich getauft.1 Mit hohen Geistesgaben ausgestattet begann er sein Studium ungewöhnlich jung und trat mit seiner ersten (philosophischen) Dissertation über „Fichte und der demokratische Gedanke (1921) als 19jähriger in die wissenschaftliche Laufbahn ein. Es folgten 1925 die zweite (juristische) Dissertation über die Gleichheit vor dem Gesetz, 1926 das Assessorexamen und eine Woche später am 6. April die Eheschließung mit Sabine Bonhoeffer.2 Nach kurzer Zeit als Richter am Amtsgericht nahm Leibholz eine Stelle als Referent am Institut für ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an. Er übernahm dort das Italien-Referat. Im Jahre 1927 wurde sein erstes Kind, die Tochter Marianne, geboren. 1928 erschien sein Buch „Zu den Problemen des faschistischen Verfassungsrechts“, das aus der Arbeit am Kaiser-Wilhelm-Institut hervorgegangen war. Im gleichen Jahr habilitierte er sich an der Universität Berlin mit der Arbeit „Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert“, die 1929 erschien. 1929, in seinem 28. Lebensjahr, folgte er einem Ruf an die Universität Greifswald, wo im folgenden Jahr seine zweite Tochter Christiane geboren wurde. Aufgrund eines Rufes an die Universität Göttingen im Mai 19313 ging die Familie nach Göttingen und bezog ein Haus auf der Herzberger Landstraße. Im Sommersemester 1933 wurden bereits Leibholz’ Vorlesungen gestört oder durch SA-Leute verhindert. Die kleinen Töchter waren in der Schule judenfeindlicher Stimmung ausgesetzt.4 Aufgrund von Fürsprachen konnte Leibholz Vorlesungen noch im WS 1934/35 halten. Mit Erlass vom 4.3.1935 wurde er von seinem Lehramt unter Beibehaltung der Bezüge beurlaubt und an die Universitätsbiblio-
1 Sabine Leibholz-Bonhoeffer, vergangen, erlebt, überwunden, 4. Aufl. 1983, S. 100. 2 Leibholz-Bonhoeffer (Anm. 1), S. 75. 3 Zu den Umständen des Rufes vgl. Manfred H. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901–1982) – Leben, Werk und Richteramt, 1995, S. 28 ff. 4 Siehe dazu Leibholz-Bonhoeffer (Anm. 1), S. 94 ff.
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thek „versetzt“, damit er möglichst wenig Berührung mit dem Publikum habe.5 Der Erlass wurde alsbald dahin abgeändert, dass sich der Beschäftigungsauftrag auf die Erforschung ausländischen, besonders faschistischen Staatsrechts erstreckte. Im Dezember 1935 wurde Leibholz auf eigenen Antrag emeritiert, allerdings mit der Maßgabe, dass er den Forschungsauftrag beibehalte. Leibholz wollte mit seinem Antrag den zu erwartenden Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Gesetzen zuvorkommen. Leibholz reiste öfters in die Schweiz und nach Holland. Ein Ausreiseantrag nach Italien wegen seiner Forschungen scheiterte an einer negativen Stellungnahme des damaligen Dekans der Juristischen Fakultät. Als sich abzeichnete, dass die Juden ihre Reisepässe entzogen bekommen, reiste er als Ferienreise getarnt am 9. September 1938 mit Frau und Töchtern in die Schweiz6 und gelangte von dort über Frankreich nach England, wo Leibholz und seine Frau vorher noch nie gewesen waren. Die ersten Jahre in England waren für die Familie Leibholz schwierig. Leibholz konnte nur sehr wenig Englisch.7 Es halfen aber sein Schwager Dietrich Bonhoeffer und dessen Freunde und Bekannte der Familie. Mit Kriegsbeginn wurde Leibholz als „feindlicher Ausländer“ interniert, lange Zeit bestand die Furcht, nach Australien oder Kanada verschifft zu werden. Im Sommer 1940 wurde Leibholz freigelassen und konnte mit seiner Familie nach Oxford ziehen, wo er Gastdozent wurde. Mit George Bell, dem Bischof von Chichester und Mitglied des Oberhauses, pflegte Leibholz einen intensiven Gedankenaustausch, insbesondere über Deutschlands innere Lage und die Perspektiven der Nachkriegszeit.8 Er focht gegen die in England übliche Gleichsetzung von Deutschen und Nationalsozialisten und verteidigte den deutschen Widerstand. Erst 1947 erhielt Leibholz „nach unendlichen Mühen“ von den englischen Behörden die Erlaubnis, in das zerstörte Deutschland zu reisen.9 Sofort wurden Kontakte zur Göttinger Fakultät geknüpft. 1951 wurde Leibholz zum Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt und erhielt in Göttingen den Auftrag, das Fach Politische Wissenschaften an der Juristischen Fakultät der Universität zu vertreten. Erst 1958 übernahm er den für ihn neugeschaffenen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Allgemeine Staatslehre. Leibholz wirkte 20 Jahre als Richter des Bundesverfassungsgerichts bis 1971 für den Wie-
5 Wiegandt (Anm. 3), S. 39 f. auch zum Folgenden. 6 Leibholz-Bonhoeffer (Anm. 1), S. 113 ff. 7 Leibholz-Bonhoeffer (Anm. 1), S. 120. 8 Dokumentiert in Eberhard Bethge/Ronald C. D. Jasper (Hrsg.), An der Schwelle zum gespaltenen Europa. Der Briefwechsel zwischen George Bell und Gerhard Leibholz 1939–1951, Stuttgart 1974. 9 Leibholz-Bonhoeffer (Anm. 1), S. 229.
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deraufbau des demokratischen Rechtsstaates in Deutschland. Im Laufe des Jahres 1971 kehrte er ganz nach Göttingen zurück und hielt Kontakt besonders mit den jüngeren Fakultätsmitgliedern. Bis zu seinem Tode am 19. Februar 1982 waren ihm noch zehn Jahre vergönnt.
II. Werk 1. Die Gleichheit vor dem Gesetz In der Einleitung zu seiner Dissertation „Die Gleichheit vor dem Gesetz“ (1925) stellt Leibholz eine große Machtfülle des modernen Parlaments fest und bezweifelt die Respektierung des Rechtsgedankens durch die Parlamentsmehrheit. Den „Kampf zwischen individueller Libertas und staatlichem Imperium“ sieht er in erster Linie geregelt durch die Grundrechte. Leibholz wendet sich dem Gleichheitssatz zu, der herkömmlich nur die Rechtsanwendungsgleichheit verbürgte, also seine verwaltungsrechtliche und justizrechtliche Garantiefunktion erst nach der Gesetzgebung entfaltete und damit auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit hinauslief. Leibholz begründete gegen dies überkommene Auffassung die Bindung auch des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz aus der Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung und mit der Notwendigkeit, das Individuum vor Willkürakten des Gesetzgebers zu schützen.10 Denn das Gesetz als Ausdruck materieller Allgemeinheit und der Vernunft und damit die Gewährleistung der Gleichheit durch das Gesetz waren problematisch geworden.11 Leibholz konnte für seine Ansicht an eine Arbeit seines Lehrers Heinrich Triepel12 anknüpfen. Er stützte sich ferner auf die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und des Schweizerischen Bundesgerichts.13
10 Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. 1959, S. 34 ff.; auf Beziehungen zu Gerhard Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 1921 – politische Gleichheit (S. 57) und die sozialpolitischen Konsequenzen der Gleichheitsgarantie (S. 58) – weist hin Gerald Stourzh, „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“ (2004), in Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte, 2011, S. 279 ff. 11 Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, 1933, S. 30 ff. 12 Heinrich Triepel, Goldbilanzverordnung und Vorzugsaktien, Berlin 1924, S. 26 ff. mit weiteren Nachweisen. Auf ihn und andere verweist Leibholz (Anm. 10), S. 34, Fn. 1. 13 Leibholz (Anm. 10), S. 36 ff.
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Den Gleichheitsbegriff bestimmt Leibholz nicht allgemein im Sinne eines Differenzierungsverbots. Vielmehr findet er in der Verfassung zahlreiche Differenzierungen, wie die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, das Wahlrecht erst vom Eintritt der Volljährigkeit, die Bekleidung öffentlicher Ämter nach Qualifizierung usw.14 Auch andere Verschiedenheiten berechtigten den Gesetzgeber zu einer in bestimmten Beziehungen rechtlich differenten Behandlung einzelner Gruppen, freilich sei der Gesetzgeber nicht befugt, aufgrund einer tatsächlichen Verschiedenheit jede beliebige Differenzierung vorzunehmen.15 Den materiellen Gehalt des Gleichheitssatzes findet Leibholz nicht positiv in der Gerechtigkeit, da diese nicht inhaltlich definiert werden könne,16 sondern vielmehr negativ im Verbot der Willkür, einem Element des zu Ende gedachten Rechtsstaats. Leibholz unterscheidet zwischen Unrichtigkeit und Willkür. Für Unrichtigkeit gebe es viele Gründe, die verfassungsrechtlich nicht auffangbar seien. Deshalb sei es gerechtfertigt, die Gleichheitsforderung auf das Verbot der Willkür zu beschränken.17 Dabei hat Leibholz unter Heranziehung der Rechsprechung des amerikanischen Supreme Court das praktische Problem im Sinn, dass anderenfalls ein am Maßstab des Gleichheitssatzes urteilender Gerichtshof sich zum eigentlichen Gesetzgeber erheben würde.18 Die nähere Eingrenzung des Willkürbegriffs erfolgt durch Aussagen, die ein Vierteljahrhundert später in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übernommen werden: Ein Akt ist dann willkürlich, wenn er von einer sachfremden Motivation getragen wird.19 Wesentlich Gleiches soll gleich, aber auch wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden.20 Deshalb hätten Minderheiten das Recht auf kulturelle Autonomie, d. h. sie könnten verlangen, dass sie in religiösen und kulturellen Fragen nach anderen Gesetzen als die Mehrheit behandelt werden. Auch könnten sozial motivierte Gesetze mit ihrem besonderen Schutz die Lebenslage sozialer Unterschichten verbessern.21 Allgemein formuliert Leibholz 1931:22 „Willkür liegt vor, wenn für gesetzgeberische Differen-
14 Leibholz (Anm. 10), S. 38 ff.; vgl. Christian Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, in: Link (Hrsg.), Die Gleichheit im Verfassungsstaat. Symposion zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, 1982, S. 51, 61 ff. 15 Leibholz (Anm. 10), S. 47. 16 Leibholz (Anm. 10), S. 60. 17 Leibholz (Anm. 10), S. 77 f. 18 Leibholz (Anm. 10), S. 181 ff. 19 Leibholz (Anm. 10), S. 89; ähnlich BVerfGE 1, 14, 52. 20 BVerfGE 4, 144, 155; 86, 81, 87. 21 Leibholz (Anm. 10), S. 220, 237. 22 Leibholz (Anm. 10), S. 237, ähnlich BVerfGE 12, 341, 348; 51, 1, 23.
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zierung oder Gleichbehandlung ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Grund sich nicht ausfindig machen lässt.“ Für die Feststellung des Willkürtatbestandes schließt Leibholz jedes subjektive Verschulden aus und stellt auf das objektive Vorliegen von Willkür ab.23 Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz (Art. 1 Abs. 3 GG) hat das Grundgesetz ebenso festgelegt wie es verschiedene verfassungsgerichtliche Verfahren geschaffen hat, in denen Normenkontrollen eingeleitet werden können (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 4a, Art. 100 GG). Der von Leibholz benutzte Willkürbegriff ist übernommen worden, auch im Hinblick auf dessen rein objektiv-rechtliche Bedeutung. Neuerdings soll die sog. „neue“ Formel24 eine über die Willkürkontrolle hinausgehende intensivere Normenkontrolle ermöglichen. Sie lautet: „Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.“ Diese Formulierung der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung besagt nichts anderes als die auf Leibholz rückführbaren alten Formulierungen von der Unangemessenheit oder des Fehlens eines einleuchtenden Grundes.25 Der von Leibholz schon erwähnte verfassungsrechtliche Kontext beantwortet viele Fragen über den zureichenden Grund von Ungleichbehandlungen.26
2. Die Repräsentation in der Demokratie Der zweite Schwerpunkt im Werk von Gerhard Leibholz ist die Repräsentation in der Demokratie27 und damit zusammenhängend die Rolle der politischen
23 Leibholz (Anm. 10), S 95, ähnlich BVerfGE 2, 266, 281; 83, 82, 84. 24 BVerfGE 55, 72, 88; 75, 108, 157. 25 Vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. Bd. I, 2010, Art. 3 Rn. 11; Wolfgang Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3 Rn. 27; Werner Heun, in: Dreier, Grundgesetz Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 21 f. 26 v.Mangoldt/Klein/Starck (Anm. 25), Rn. 13–22. 27 Der Titel der Habilitationsschrift lautet: „Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentationssystems. Ein Beitrag zur Allgemeinen ‚Staats- und Verfassungslehre“ 1929, die 2. Aufl. 1960 und die 3. Aufl. 1966 trugen den Titel: „Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert“. Ein photomechanischer Nachdruck von 1973 trägt den Titel: „Die Repräsentation in der Demokratie“ (danach im folgenden die Zitate).
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Parteien. Von seinem phänomenologischen Aufsatz28 aus bestimmt Leibholz Repräsentation als die Vergegenwärtigung etwas Abwesenden.29 Damit liegt die verfassungstheoretische und praktisch-verfassungsrechtliche Bedeutung der Repräsentation in der funktionellen Integration des Staates,30 was Rudolf Smend für die Wahlen herausgestellt hat.31 Leibholz konstatiert für die Weimarer Demokratie einen defizienten Modus der Repräsentation durch den starken Einfluss der Parteien. Hiergegen betont er aber die Unabhängigkeit der Abgeordneten, hält jeden Vertrag über die Ausübung des Mandats oder über den Verlust des Mandats für nichtig.32 Leibholz stellt eine Spannung zwischen Verfassungsrecht und Wirklichkeit in den Demokratien der Gegenwart fest33 und spricht von einer schweren Krise angesichts besonders der Diktaturparteien in Russland, Italien und Spanien und der zunehmenden Mediatisierung des einzelnen Abgeordneten durch die parlamentarische Fraktion, die aus den Angehörigen der Partei gebildet worden ist, für die er kandidiert hat. So repräsentierten heute der Abgeordnete und der Minister nicht mehr das Volksganze, sondern die Fraktion. Leibholz führt die Krise auf das Verhältniswahlsystem zurück, das die politischen Gruppierungen in der Bevölkerung widerspiegeln soll. Repräsentation und Proporz passten nicht zusammen.34 Im Oktober 1931 hat Leibholz auf der Staatsrechtslehrertagung in Halle den Bericht über „Grundlagen des modernen Wahlrechts“ gehalten35 und seine Vorstellungen von der Repräsentation weiterentwickelnd die „wesensmäßige Verschiedenheit von Mehrheits- und Verhältniswahlsystem“ als Ausdruck des Gegensatzes von repräsentativem Parlamentarismus und modernem Parteienstaat bezeichnet. Er sieht einen unauflöslichen Widerspruch zwischen repräsentativem Parlamentarismus (Art. 21 WRV) und Verhältniswahlsystem (Art. 22 WRV). Eine Wahlrechtsreform im Sinne des massendemokratischen Parteienstaates verlange eine Beseitigung der autoritären Parteiherrschaft durch eine gesetzlich
28 Siehe dazu Gerhard Leibholz, Die Repräsentation in der Demokratie, 1973, S. 112. 29 Leibholz (Anm. 28), S. 26 unter Hinweis auf Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1929, S. 209: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen.“ 30 Leibholz (Anm. 28), S. 60. Siehe dazu Wiegandt (Anm. 3), S. 150 f. 31 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 154 f. 32 Leibholz (Anm. 28), S. 96 f. 33 So die Überschrift des 4. Kapitels des Repräsentationsbuches. 34 Leibholz (Anm. 28), S. 116. 35 VVDStRL7 (1932), S. 159 ff., wiederabgeduckt in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 9 ff.
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erzwungene Demokratisierung des gesamten Parteibetriebes. Diese Forderung ist 1949 ins Grundgesetz aufgenommen worden. Danach muss die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 21 Abs. 1 Satz 3). Nach dem 2. Weltkrieg hat Leibholz die weiteren Auflagen seiner Repräsentationsschrift um Texte zum Gestaltwandel der Demokratie ergänzt. Darin wendet er sich vom klassischen Repräsentationsbegriff ab und nimmt die Wirklichkeit der politischen Parteien in seine verfassungsrechtlichen Überlegungen auf.36 Das liberal-repräsentative Parlamentssystem sei dem Parteienstaat gewichen, der die rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie darstelle.37 Für diese Feststellung spielte Art. 21 GG eine Rolle, der die Funktion, Gründungsfreiheit, innere Ordnung und das Finanzwesen der politischen Parteien konstitutionalisierte. Leibholz ist nun ganz auf die Konstitutionalisierung der Parteien eingegangen und erhob sie in den Rang von Verfassungsorganen mit allen verfassungsprozessualen und finanzrechtlichen Konsequenzen, die das Bundesverfassungsgericht während seiner Richterzeit gezogen hat.38 1966 hat das Bundesverfassungsgericht von der Leibholzschen Parteienlehre Abstand genommen und die Parteien als frei konkurrierende und aus eigener Kraft wirkende Gruppen bezeichnet und Parteienfinanzierung auf Wahlkampfkostenerstattung reduziert.39 26 Jahre später hat sich das Bundesverfassungsgericht der Leibholzschen Lehre wieder angenähert, indem es feststellt:40 Die Mitwirkung der politischen Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes lasse sich nicht auf die unmittelbare Wahlvorbereitung reduzieren. Da sich die Wahlvorbereitung in die beständige Wirksamkeit der Parteien bruchlos einfüge, sei es entgegen der bisherigen Rechtsprechung nicht geboten, die Grenzen der staatlichen Parteienfinanzierung in der bloßen Erstattung der Wahlkampfkosten zu suchen. So kann man die Parteienlehre von Leibholz letzten Endes als praktisch erfolgreich ansehen, wenigstens was seine Konsequenzen daraus für die staatliche Finanzierung der Parteien anbelangt. Im Hinblick auf den Status der Abgeordneten war Leibholz zunächst an einem idealistischen Repräsentationsbegriff orientiert, mit dem die Verhältnisse in der Zwischenkriegszeit nicht vereinbar waren.41 Aus der Konstitutionalisierung der politischen Parteien durch Art. 21 GG schloss nun Leibholz, dass die
36 Leibholz (Anm. 28), S. 224 ff. 37 Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie (1952), in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 93 f. 38 BVerfGE 1, 208, 225; 2, 1, 73; 4, 27, 30. Finanzierung: BVerfGE 8, 51, 63. 39 BVerfGE 20, 56, 107, 113 ff. 40 BVerfGE 85, 264, 285. 41 Leibholz (Anm. 28), S. 98 ff.
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Abgeordneten verfassungsrechtlich gesehen in einem unauflöslichen Abhängigkeitsverhältnis zu der Partei stehen, für die sie angetreten sind. So sei das Parlament nicht mehr der Ort der ergebnisoffenen Argumentation der einzelnen Vertreter des ganzen Volkes, sondern der Ort, in den die Exponenten der Parteien, in Fraktionen zusammengeschlossen, die vorgefertigten Meinungen der Parteien zur Geltung brächten.42 In der Parteiendemokratie seien nicht die Abgeordneten, sondern die Parteien in ihren Entschließungen frei. Dem Konflikt dieser Auffassung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist Leibholz folgendermaßen begegnet.43 Der Verfassunggeber habe ein Dilemma geschaffen, indem er sich in der gleichen Urkunde zu zwei verschiedenen, letztlich mit einander nicht vereinbaren Typen der Demokratie bekennt. Art. 38 bewirke aber im Gesamtzusammenhang der Verfassung gesehen nicht mehr, als dass äußerste Konsequenzen des Parteienstaates abgemildert werden. So fehle dem Fraktionszwang, der sich aus der Logik des Parteienstaates ergebe, heute noch die verfassungsrechtliche Legitimität. Und ein Parteiaustritt führe nicht zum Verlust des Mandats. Blankoverzichtserklärungen, die auf das Mandat bezogen sind, seien ungültig. Leibholz hat einerseits die Bedeutung der Parteien für die politische Willensbildung des Volkes richtig eingeschätzt. Im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hat er jedoch nicht die erforderliche Trennung zwischen Parteizugehörigkeit des Abgeordneten mit freiem Mandat vorgenommen. Von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit des Art. 21 und des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer Harmonie. Die Einheit bzw. Verknüpfung dieser beiden Vorschriften wird durch die menschlichen Personen bewirkt, die jeweils Parteimitglieder und zugleich Abgeordnete sind. Sie bestimmen die Partei- bzw. Fraktionslinie nach ihrem geistigen und taktischen Vermögen mit, zumindest haben sie eine reale Chance mitzubestimmen. Die Annahme einer unauflöslichen Autonomie zwischen Art. 21 und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG unterstellt, dass die Parteien (Fraktionen) von einem oder wenigen Parteiherrschern bestimmt werden, denen ein willenloses Parteivolk zu Diensten steht. Solch eine Deutung ist nur scheinbar realistisch, überträgt vielmehr obrigkeitsstaatliches Denken auf die innere Ordnung der Parteien und die parlamentarischen Verhältnisse. Es wird übersehen, dass die genannten Artikel selbst Hinweise auf ihre Verknüpfung bieten. Einerseits sind die Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), andererseits muss
42 Leibholz (Anm. 28), S. 228. 43 Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1974, S. 114 ff.; vgl. BVerfGE 2, 1, 72 ff.
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die innere Ordnung der Parteien – wie Leibholz weitsichtig schon 1931 forderte – demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG).44 Zutreffend ist auch darauf hingewiesen worden, dass die Einbindung des einzelnen Abgeordneten in die Partei/Fraktion ihm einen stärkeren Einfluss und seine Unabhängigkeit von partikularen Interessen sichert.45 Leibholz kommt freilich das Verdienst zu, die Funktion der politischen Parteien im demokratischen Staat als unverzichtbar beschrieben zu haben, da sie das Volk erst politisch handlungsfähig machen.46
3. Verfassungsgerichtsbarkeit Schon in seiner Dissertation über die Gleichheit hat Leibholz den Schutz des Individuums gegenüber der Gesetzgebung und das richterliche Prüfungsrecht erörtert.47 Dieses Thema hat er nach dem Krieg, insbesondere nach seiner Ernennung zum Richter des Bundesverfassungsgerichts, ausführlich behandelt und praktiziert. In dem von ihm verfassten Statusbericht des Bundesverfassungsgerichts48 und in weiteren Schriften49 sieht er den besonderen Charakter des Grundgesetzes in der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die die Normativitität der Verfassung sichert. Insbesondere seien es die Verfahren der Normenkontrolle, die die Gesetzgebung unter die Verfassung zwängen. Verfassungsgerichte gehörten zur Rechtsprechung, da sie bestrittenes Recht feststellten. Das Bundesverfassungsgericht als Organ der Gewaltenkontrolle bewege sich bei der Ausübung seiner rechtsprechenden Funktion innerhalb jenes Verfassungsrechtskreises, in dem der Staat sein spezifisches Wesen bestimmt und erst zur wirklichen Einheit sich konstituiere. Der Prozess der staatlichen Integration vollziehe sich mit Hilfe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das anders als die obersten Bundesgerichte zu den obersten Verfassungsorganen gehöre. Die organisationsrechtlichen Konsequenzen aus der so beschriebenen Stellung des Bundesverfassungsgerichts als oberstes Verfassungsorgan zieht
44 Ähnlich Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Rn. 602. 45 Hans H. Klein, Gerhard Leibholz, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 528, 538. 46 Klein (Anm. 45), S. 537. 47 Leibholz (Anm. 10), S. 123 ff. 48 JöR Bd. 6 (1957), S. 109 ff. 49 Siehe vor allem Gerhard Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat (1953) in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 168–184.
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Leibholz,50 indem er das Gericht aus der Abhängigkeit vom Bundesjustizminister löst, also der Justizverwaltung entzieht, was bedeutet, dass Akten nicht mehr über das Bundesjustizministerium versandt werden, dass der Präsident der oberste Dienstvorgesetzte der Bediensteten des Bundesverfassungsgerichts ist sowie Geschäftsordnungshoheit und eigener Einzelplan im Staatshaushalt. Diese Konsequenzen haben sich in der Gesetzgebung durchgesetzt und gelten heute auch für die Landesverfassungsgerichte.51
III. Leben und Wirkung Leibholz hat drei gänzlich verschiedene Epochen der deutschen Geschichte erlebt. In der Weimarer Demokratie hat er in seinen Büchern neue Tendenzen aufgegriffen und staatsrechtlich verarbeitet. Erst 30 Jahre alt, lagen diese Arbeiten vor. Sein Leben und Wirken erfuhr während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur einschneidende und hemmende Veränderungen. Von seinem Lehrstuhl in Göttingen vertrieben, später zehn Jahre lang im Exil in England mit wenig Entfaltungsmöglichkeiten beobachtete er die Entwicklung in Deutschland, setzte sich im Hinblick auf die Nachkriegszeit für die Unterscheidung zwischen Deutschland und dem Nationalsozialismus ein und tauschte sich mit den Bischof von Chichester über die Bedeutung des Christentums und der Kirchen für die Politik aus.52 Seit 1947 wieder in Deutschland, arbeitete er für die Festigung des 1949 durch das Grundgesetz eingerichteten Verfassungsstaates. Er bekam die Chance, 20 Jahre lang als Richter des Bundesverfassungsgerichts zu wirken und auf den Status des Bundesverfassungsgerichts sowie auf die Rechtsprechung des Zweiten Senats Einfluss zu nehmen, indem er seine in der Weimarer Zeit entwickelten Lehren zur Geltung brachte und weiterentwickelte.
50 Siehe JöR 6 (1957), S. 114 ff. 51 Christian Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder, in: Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VI, 2008, S. 322–328. 52 Siehe dazu Bethge/Jasper (Anm. 8), passim; Christoph Link, Gerhard Leibholz – Leben und Werk, in: ders. (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat. Symposion zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, 1982, S. 23, 26; Klein (Anm. 45), S. 539 ff.; Wiegandt (Anm. 3), S. 48 ff.; Peter Unruh, Erinnerung an Gerhard Leibholz (1901–1982) – Staatsrechtslehrer zwischen den Zeiten, in: AöR 126 (2001), S. 60, 65; Josef Ackermann, Gerhard Leibholz, Reden anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 26.4.2002, Herzberger Landstraße 57, in: Göttinger Jahrbuch, Band 50, 2002, S. 211, 213; Werner Heun, Leben und Werk verfolgter Juristen – Gerhard Leibholz (1901–1982), in: Eva Schumann (Hrsg.) Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 300 ff.
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Bibliographie Die Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Studie auf rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Grundlage, Berlin 1925; 2. Aufl. mit sechs ergänzenden Studien aus den Jahren 1926–1951, München und Berlin 1959. Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems. Ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, Berlin und Leipzig 1929; 2. Aufl. unter dem Titel „Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert“ durch einen Vortrag erweitert, Berlin 1960; 3. erweiterte Aufl. Berlin 1966; photomechanischer Nachdruck 1973 unter dem Titel „Die Repräsentation in der Demokratie“. Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, München und Leipzig 1933. Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958; 2. unveränderte Aufl. 1964; 3. erweiterte Aufl. 1967. Der Status des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 6 (1957) S. 110–137, auch in: Das Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe 1963, S. 61–86; 2. Aufl. in: Das Bundesverfassungsgericht 1951–1971, Karlsruhe 1971, S. 31–57. Politics and Law, Leiden 1965. Verfassungsstaat – Verfassungsrecht, Stuttgart 1973. Franz Schneider, Bibliographie Gerhard Leibholz, 2. neubearbeitete und erweiterte Aufl. Tübingen 1981, 92 Seiten.
XXXVII Ernst Friesenhahn (1901–1984) Hans Meyer Ernst Friesenhahn stammt aus einer Lehrerdynastie. Der Urgroßvater war Lehrer im Hunsrück, der Großvater hatte als Volksschullehrer den Sprung vom Hunsrück nach Hirzenach an den Rhein geschafft1 und der Vater den als Gymnasiallehrer nach Oberhausen. Dass er ein begnadeter Hochschullehrer wurde, verdankte er offenbar einem familiären Gen. Diese Begabung rettete ihm in den dreißiger Jahren die höchst unsichere und finanziell fast bedeutungslose Stelle als Dozent an der Bonner Fakultät, wo ihm Rektor, Fakultät und sogar der nationalsozialistische Dozentenbundführer die Stange gegen denunzierende Nazi-Studenten hielten, was Letzterem freilich später von der Partei angekreidet wurde. Ein Ordinariat war ihm verschlossen: Carl Schmitt hatte für eine böse Notiz in seiner Berliner Personalakte2 gesorgt. Nach der „Reichskristallnacht“3 flüchtete er in die Anwaltschaft. Seine Vorlesungen hielt er ohne Manuskript, gestützt nur auf eine Sammlung von Zetteln höchst unterschiedlicher Provenienz, meist Rückseiten von Briefumschlägen, auf denen er Einfälle und Funde in fast unleserlichen Kürzeln gekritzelt hatte. Er sprach konzentriert und druckreif. Er war freilich der einzige Dozent, der von sich behaupten konnte, „Nationalsozialismus“ oder später „Bundesverfassungsgericht“ in einer Silbe zu sprechen. Seine Offenheit und Genauigkeit in der Argumentation, die Ablehnung jeder anderen Autorität als das gute Argument, seine konzeptionelle Kraft und die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit sicherten ihm das Ohr seiner Zuhörer und waren das Geheimnis des langjährigen „Friesenhahn-Seminars“, das nach seiner Emeritierung zusammenblieb, ja noch heute, achtundzwanzig Jahre nach seinem Tode, eine Fortsetzung in dem zweimal im Jahr stattfindenden Treffen des „Friesenhahnkreises“ hat.
1 Wo Friesenhahn als Junge oft seine Ferien verbrachte. Seit dieser Zeit war er von der Eisenbahn fasziniert, die in dem engen Rheintal nahe der Loreley eng an den Häusern vorbeifuhr. Sein Seminar hat ihm in den späteren Jahren zu seiner großen Freude einmal einen Güterfahrplan der Bundesbahn geschenkt. 2 Die Professorenakten wurden zentral in Berlin geführt. Partei und später auch die SS konnten ein Veto bei Berufungen einlegen. 3 Wie der spöttische Volksmund die Novemberpogrome 1938 nannte.
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Er selbst hat sich einmal4 „ganz stolz als Rheinländer aus kleinbürgerlichen Verhältnissen“ bezeichnet, zugleich aber berichtet, dass sein Vater, obwohl die katholische Familie im Kulturkampf betroffen, preußisch-wilhelminisch gesonnen war mit einem Hang zum Militär, bei dem er nie gedient hatte. Tief hatten ihn in dem „schmutzigen Oberhausen“ der Spartakusaufstand 1918 und die Freicorps, das Aufscheinen roher Gewalt, beeindruckt und einen konservativen Grundzug entstehen lassen oder verstärkt, den er Zeit seines Lebens beibehalten hat. Es war aber ein Konservatismus, dem der Status quo nicht die Leitschnur war. Sich nur auf eine herrschende Meinung zu berufen, wäre ihm nie eingefallen. Auf einer Rückschau zu seinem 80. Geburtstag hat er seinem Seminar eindringlich berichtet, wie oft er schon in der Ausbildung und als junger Assessor mit Erfolg gegen die herrschende Meinung votiert habe. Der Kampf für das Sondervotum im Bundesverfassungsgericht, den er schließlich gewonnen hat, ist nur ein markantes Beispiel dieser Haltung. Das Studium der Nationalökonomie in Bonn fand er langweilig und es war Martin Wolff, ein begnadeter Zivilrechtslehrer, der ihn zur Erkenntnis einer juristischen Begabung brachte; er wurde der erste Jurist in seiner Familie. Die gleiche Faszination ging von Carl Schmitt aus; dieser brachte ihn zum öffentlichen Recht. Friesenhahn muss ihm schon im Studium aufgefallen sein und da Schmitt ihn auch im Referendarexamen prüfte, bot er ihm die einzige Assistentenstelle an, die es in der Fakultät gab.5 Neben der Korrektur studentischer Arbeiten in einer Reihe von Fächern hatte Friesenhahn vor allem Carl Schmitt zuzuarbeiten, so bei der „Verfassungslehre“ Korrektur zu lesen. Er erlebte ihn als sehr diskussionsund überzeugungsfreudig. Von Schmitt stammt auch der Vorschlag zum Thema der Doktorarbeit „Der politische Eid“.6 Schmitt ging 1928 nach Berlin und Friesenhahn konzentrierte sich auf sein Assessorexamen. Sein Nachfolger als Assistent in Bonn erfüllte aber die Erwartungen nicht und Albert Hensel, den Friesenhahn sehr schätzte, bot ihm die Stelle erneut an, wodurch er zu Richard Thoma kam, dem süddeutschen Liberalen mit starkem nationalen Akzent. Als überzeugter Demokrat wurde er von Friesenhahn durchaus als Gegenpol zu Carl Schmitt dankend wahrgenommen.
4 Am 11. Januar 1982 hatte er „seinem Seminar“ einen Lebensbericht gegeben, dem ich viele bis dahin unbekannte Details über die Weimarer Zeit, die Zeit des Nationalsozialismus und den Aufbau nach 1945 verdanke. 5 Die Professoren hatten keine Assistenten. 6 1928 erschienen, erlebte die Arbeit 1979 (Darmstadt) eine Neuauflage. Seine letzte, 1984 posthum erschienene Arbeit galt demselben Thema: Börner, Jahrreiß, Stern (Hrsg.), Über den Anwaltseid im Rahmen der neueren Entwicklung des politischen Eides“ in Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Carl Carstens, Band 2, S. 569–587.
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Hensel, der wohl bedeutendste Steuer- und Finanzrechtler seiner Zeit,7 war es auch, der Friesenhahn die Steuerberatung des Hochschulverbandes verschaffte, eine Einnahmequelle, ohne die er in den Jahren bis 1938 an der Universität nicht hätte überleben können.8 Thoma vertraute dem noch nicht habilitierten Assistenten Anfang der dreißiger Jahre den heute noch lesenswerten Beitrag „Staatsgerichtsbarkeit“ im Handbuch des Deutschen Staatsrechts an.9 Der eigentlich vorgesehene Reichs- und Staatsgerichtshofspräsident Simons konstatiert in einem Nachtrag des Handbuchs: „Der Artikel Friesenhahns über die Staatsgerichtsbarkeit ist meines Erachtens die klarste und konsequenteste Darstellung, die das schwierige Problem bisher gefunden hat“ und spricht später von der „Haltung eines so autoritativen Schriftstellers wie Friesenhahn“.10 In einer früheren Kontroverse über das vom Staatsgerichtshof in Anspruch genommene Recht einer einstweiligen Verfügung11, 12 hatte Simons von den „kategorischen Äußerungen eines scharfsinnigen
7 1933 aus Rassegründen entlassen, verstarb er bald in Italien, wohin er sich zurückgezogen hatte. 8 Die höchst spärlichen Einnahmen als Dozent reichten zum Leben kaum und Friesenhahn musste jahrelang in Verwaltungsakademien in Aachen, Köln und Trier unterrichten, was neben den schwierigen familiären Verhältnissen und den schlechten Verkehrsbedingungen auch seine Gesundheit stark angriff. 9 Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1932, S. 523– 545. Ein außerordentlicher Vertrauensbeweis; er zeigt, dass nicht nur Carl Schmitt die Potenz des jungen Friesenhahn richtig eingeschätzt hat. 10 Walter Simons, Handbuch (s. Anm. 6), S. 737, 738 u. 740. Er spricht von einem Assistenten! 11 Friesenhahn hatte 1931 in einem Sonderheft der Zeitschrift der Jungkonservativen „Der Ring“ (S. 659–662) die Inanspruchnahme des im Gesetz nicht vorgesehenen Instituts der einstweiligen Verfügung scharf kritisiert, worauf Simons neben dem oben Zitierten sagte: „Es ist das Vorrecht des Theoretikers, schroffe Forderungen der Logik zu stellen, und die schwere Pflicht des Praktikers, den wechselnden Anforderungen des Lebens – hier des staatlichen Zusammenlebens unseres Volkes – gerecht zu werden,“ nicht ohne den süffisanten Satz anzufügen: „Der Staatsgerichtshof wird um so ruhiger diese seine Pflicht weiter erfüllen, als die Theoretiker untereinander in den meisten Punkten verschiedener Meinung sind.“ § 32 BVerfGG hat aus dieser Kontroverse den Schluss gezogen, die „einstweilige Anordnung“ ausdrücklich vorzusehen und sehr differenziert zu regeln. 12 Bracher wähnte Friesenhahn wegen des Aufsatzes bei den Jungkonservativen verortet und sah in diesem eine scharfe politische Polemik gegen den Staatsgerichtshof. Das Sonderheft als solches sprach wohl auch dafür, weil Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber anders als Friesenhahn sich nur unter Pseudonym beteiligt hatten. Friesenhahns Einschätzung, dass es sich bei seinem Beitrag um „eine klare (wenn auch freche) fachjuristische Abhandlung“ gehandelt habe, wird durch die Kritik von Simons bestätigt (s. Anm. 10).
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Denkers“ gesprochen13 und mit „scharfsinnig“ ein Leitwort angesprochen, das Friesenhahn Zeit seines Lebens begleitet hat.14 Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde eine Konstante in Friesenhahns Leben. Thoma habilitierte ihn mit Hilfe von Johannes Heckel aufgrund des Handbuchartikels, an dem er zwar weitergearbeitet hatte. Der politische Umbruch machte aber die Fortführung des Vorhabens illusionär. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Berufschancen. Friesenhahn stellte einen Aufnahmeantrag für die NSDAP. Vor seinen Schülern erläuterte er 1982: „Wir waren damals doch ziemlich unwissend; es ist gar keine Frage, dass die Weimarer Republik gewisse Schwächen hatte und dass wir von der nationalen Welle angesteckt waren und zunächst nicht erkannten, was eigentlich der Umsturz 1933 bedeutete. Wir Assistenten beschlossen dann doch, uns zur Parteimitgliedschaft anzumelden. Als Dozenten wurden wir auch in die SA gezwungen. Ich war also auch SA-Anwärter.“15 Der irreführend „RöhmPutsch“ genannte „Hitler-Putsch“ am 30. Juli 1934, den Carl Schmitt mit seinem „Der Führer schützt das Recht“-Aufsatz gerechtfertigt hat, bestimmte Friesenhahn, das noch nicht erfüllte16 Aufnahmegesuch mit dem ebenso waghalsigen wie schlitzohrigen Argument zurückzuziehen, er fühle sich den hohen Anforderungen, die der Führer an die Mitgliedschaft stelle, nicht gewachsen. Die innere Einstellung Friesenhahns zum Nationalsozialismus war aber schon vor dem Röhm-Putsch manifest geworden. Am 28. Mai 1934 rief ihn Carl Schmitt aus Berlin an und bot ihm die Hauptschriftleitung der Deutschen Juristenzeitung an, die er gleichgeschaltet hatte. Friesenhahn lehnte das gut dotierte
13 Lammers/Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Artikel 13 Abs. 2 RV, Bd. IV (1932), S. XV. 14 Auf dem Symposion zu Friesenhahns 70. Geburtstag hatte der ehemalige Verfassungsrichter Geiger berichtet, im Zweiten Senat habe man das Wort „scharfsinnig“ nur mit der Versicherung benutzen können, es sei nicht beleidigend gemeint. Sein fast in jeder Beziehung anderer Bonner Fakultätskollege Ulrich Scheuner hat einmal zu seinem Assistenten Willhelm Kewenig gesagt: „Ich verstehe das nicht, bei dem Friesenhahn geht immer alles auf.“ 15 Die Erinnerung trog Friesenhahn wohl in diesem Punkt. Es gab für die SA anders als bei der NSDAP keine Aufnahmesperre. Dozentenbundführer Carl Schmitt hatte den Dozenten dringend nahegelegt, doch wenigstens in eine der nationalsozialistischen Untergliederungen einzutreten. In Wirklichkeit hatte Friesenhahn nach dem Rückzug seines Beitrittsantrages bei der NSDAP von der SA eine Auszeit verlangt, weil seine beruflichen Pflichten ihm den regelmäßigen Dienst nicht erlaubten, andernfalls werde er um die Genehmigung des Austritts ersuchen. Praktisch erlosch im Folgenden die Mitgliedschaft. 16 Es gab einen Aufnahmestopp, weil die Zahl der „Märzgefallenen“ selbst für die NSDAP zu groß war.
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Angebot trotz seiner prekären finanziellen Lage ab.17 18 Damit war der endgültige Bruch zwischen beiden markiert.19 Auf Carl Schmitt ist aber zurückzuführen, dass Friesenhahns Personalakte in Berlin den Vermerk erhielt „Repräsentant des politischen Katholizismus“.20 Dazu Friesenhahn zu seinem Seminar: „Ich muss betonen, dass ich niemals einer Partei angehört habe und die einzige Zentrumsversammlung, die ich jemals besucht habe, war die, auf der Carl Schmitt geredet hat“. Friesenhahn berichtete seinem Seminar von früh gestoppten Rufversuchen aus Heidelberg,21 Halle, Köln und München. Erst nachdem der Vermerk in der Personalakte auf Betreiben eines Verwandten gelöscht worden war, wäre während des Krieges fast eine von Ernst Forsthoff22 betriebene, nach der Lage aber mehr als zweischneidige Berufung nach Königsberg geglückt, scheiterte aber am Sicherheitsdienst der SS.
17 Friesenhahn erzählte, nachdem er vom Briefeinwurf nach Hause zurückgekehrt sei, habe er einen Brief Ernst Rudolf Hubers vorgefunden, der ihn beschwor, das Angebot anzunehmen und versuchte, ihn bei seiner katholischen Ehre zu packen: Er, Huber, habe an den Katholiken immer bewundert, dass sie unerschütterlich zu ihrer Sache stünden. Diese Haltung sei auch jetzt gefragt, wo es um eine fundamentale Neuordnung des Staates gehe. Vor dem AssessorExamen hatten Huber, Tulla Simons, die Tochter des Reichsgerichtspräsidenten und Hubers spätere Frau, und Friesenhahn eine Arbeitsgemeinschaft gebildet. Friesenhahn hat Huber ohne Rechtfertigung dessen, was dieser in der NS-Zeit geschrieben hat, immer die Treue gehalten und Huber hat ihm den 6. Band seiner Deutschen Verfassungsgeschichte „im Gedenken an die gemeinsamen Bonner Jahre und an das einstige Bemühen um die Staatsprobleme der Weimarer Zeit“ gewidmet. Sie haben sich nicht geduzt. 18 Friesenhahn war bei der Absage an Schmitt von seinen katholischen Freunden bestärkt worden. Trotz der in späteren Jahren zunehmenden inneren Distanz zur Amtskirche hat er sich der Sache immer verbunden gefühlt. Hohe Ehrungen durch den Papst und die Görres Gesellschaft zeigen den Wert, den man ihm beimaß. 19 Er wurde bis zum Ende nicht geheilt. Auf Drängen (Frau Friesenhahn sprach gut rheinisch von „triezen“) eines jüngeren Schmittanhängers der Bonner Fakultät hat der alte Friesenhahn ihm zu einem hohen Geburtstag eine Karte geschickt, was vermutlich unterblieben wäre, wenn damals schon die Tagebücher Schmitts von 1949 veröffentlicht worden wären, in denen er sich als „toten Löwen“ stilisiert, dem „angesichts des Herrn Friesenhahn“ ein amerikanischer Soldat einen Eselstritt in den Rücken versetzt habe (Eberhard v. Medem (Hrsg.), Carl Schmitt Glossarium – Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, S. 261 f.). 20 Schon Schmitt hatte in der Berliner Unterredung mit Friesenhahn auf die geringen Chancen eines Rufs wegen dessen katholischer Bindung hingewiesen. 21 Welche sinnvolle Mühe man sich damals bei Berufungsverfahren gab, zeigt der Hinweis Friesenhahns, Prof. Engisch sei damals von Heidelberg nach Bonn gekommen, um sich inkognito seine Vorlesung anzuhören; er habe aber mit Grippe im Bett gelegen. 22 Gerhard Schiedermaier war der Königsberger Dekan, treibende Kraft war nach Schilderungen Friesenhahns Ernst Forsthoff.
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Die „Reichskristallnacht“ 1938 war der entscheidende Anlass für Friesenhahn, die Stelle und damit die Lehre des Staats- und Verfassungsrechts an der Universität aufzugeben, und in das Anwaltsfach zu flüchten. Auch hier erfuhr er erst später, als er „Persilscheine“23 ausstellen musste, dass er die Zulassung allein dem Geschäftsführer der Anwaltskammer zu verdanken hatte, der ihm wohl gesonnen war24 und der von seiner Partei deshalb später auch gerügt worden war. Mit 39 Jahren erzielte er zum ersten Mal ein angemessenes Einkommen. Mit 45 Jahren wurde Friesenhahn endlich ordentlicher Professor für öffentliches Recht in Bonn,25 wo seine Karriere früh gestoppt worden war.26 Neben der Aufbauarbeit als Dekan und stärker noch 1950–51 als Rektor war er intensiver, als bekannt ist, in die staatliche Aufbauarbeit einbezogen. Seinem Seminar berichtet er, er habe im Wesentlichen die Militärregierungsverordnung 165 selbst geschrieben,27 die für die britische Zone Grundlage der Verwaltungsgerichtsbarkeit bis 1960 geblieben ist, und auch großen Einfluss auf die Formulierung der Gemeindeordnung genommen. Selbst die Gliederung der britischen Zone in Länder habe er28 wesentlich mitbestimmt. Knapp zwanzig Jahre nach seinem Handbuchartikel über „Die Staatsgerichtsbarkeit“ wurde Friesenhahn Mitglied des Zeiten Senats des Bundesverfassungsgerichts und blieb dies zwölf Jahr; er war vom Bundesrat gewählt. Das Amt passte in einer besonderen Weise zur Person. Gerecht zu sein, war ihm ein inneres Anliegen. Jürgen Salzwedel formuliert in seiner Gedächtnisrede nicht ohne Grund: „Niemals ist mir jemand begegnet, der wie er in so hohem Maße sogar dem Risiko der Überobjektivität ausgesetzt war, weil er sich vor naheliegenden Lösungen, die
23 So nannte der Volksmund die entlastenden Bescheinigungen, die Unbelastete, meist Honoratioren, NSDAP-Mitgliedern ausstellten, die sich gleichwohl anständig benommen hatten. In der Bezeichnung steckte natürlich auch ein Vorbehalt, weil manche reine Gefälligkeitsbescheinigungen waren. 24 Er hat gegenüber dem Präsidenten der Anwaltskammer immer argumentiert, einen so hochqualifizierten Juristen könne sich die Kammer nicht entgehen lassen. 25 Er konnte zwischen Köln und Bonn wählen, die Stadt Bonn war ihm aber nach dem Auszug aus Oberhausen ans Herz gewachsen. 26 Soldat ist Friesenhahn nicht gewesen, was vermutlich auf seine chronischen Magenprobleme zurückzuführen ist. In Köln wurde die Familie ausgebombt und zog nach Bad Godesberg, wohin auch die Fakultät evakuiert worden war. Voll Begeisterung konnte er über die ersten Jahre mit den Kriegsheimkehrern als Studenten und von den engen Beziehungen zu Mitgliedern des Parlamentarischen Rates erzählen. 27 In einem 1948 in Hamburg erschienen Sammelwerk „Justiz und Verfassung“ hat Friesenhahn unter dem Titel „Justiz und Verwaltungsrechtsschutz“ (S. 103–131) die verfassungsgeschichtlichen, verfassungspolitischen und systematischen Grundlagen dargelegt. 28 Und Ulrich Scheuner.
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seiner Grundhaltung entsprachen, sichtlich fürchtete wie vor einer Versuchung des Teufels.“29 In vielen Vorträgen und Veröffentlichungen hat Friesenhahn sich mit Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit befasst, darunter ist ein Vortrag vor der Konferenz der Präsidenten und Vizepräsidenten der Landesverfassungsgerichte mit den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts „Zum Verhältnis von Bundesund Landesverfassungsgerichtsbarkeit“ aus dem Jahre 1956; der Auftrag zeigt, welches Ansehen er schon früh im gesamten Gericht genoss.30 Sein Buch „Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland“ ist ins Italienische und Japanische übersetzt worden.31 Wenn es Not tat, stellte er sich auch öffentlich vor das Gericht. Als 1952 bei dem Verfassungsstreit über den EVG-Vertrag beide Senate Gefahr liefen, über die Inanspruchnahme des „roten“ (1. Senat) durch die Opposition wie des „schwarzen Senats“ (2. Senat) durch die Regierungsmehrheit gegeneinander ausgespielt zu werden, dekretierte das zusätzlich vom Bundespräsidenten in derselben Sache durch einen Gutachtenauftrag angerufene Plenum des Gerichts in freier, in der Sache aber begründeter Rechtsfindung, beide Senate seien an eine Plenarentscheidung gebunden.32 Das Problem war nur, dass der Gutachtenauftrag zwei Tage vor der Entscheidung zurückgenommen worden war. Dies führte zu einer heftigen Gerichtsschelte („das Gericht sei in erschütternder Weise vom Wege des Rechts abgewichen“), an der sich vor allem bekannte südwestdeutsche Rechtsanwälte beteiligten, darunter auch Bundesjustizminister Dehler.33 Die Aufregung
29 Siehe In memoriam Ernst Friesenhahn, Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn (1985), Bd. 59, S. 30. Öfter hat Friesenhahn den Spruch „Wissen und Gewissen machen den Juristen“ zitiert. 30 Zwanzig Jahre später veröffentlichte Friesenhahn eine völlig überarbeitete Fassung unter dem Titel „Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit“ in Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts (1976), S. 749–799, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die damals nur für die Verfassungsrichter gedachte Vervielfältigung bald über den Kreis hinaus bekannt und damit zitierfähig wurde, was genutzt wurde. 31 Von Angelo Antonio Cervati (1965) und Kenji Hirota (1972). Sein Interesse ging aber über die Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus und umfasste Probleme und Organisation der Rechtsprechung insgesamt, wie vielfältige meist grundsätzliche Aufsätze zum Thema vor und nach der nationalsozialistischen Zeit zeigen. 32 BVerfGE 2, 79–98. 33 Nach einer auf dieser Äußerung beruhenden Intervention des Bundespräsidenten Theodor Heuss hat Konrad Adenauer den eigenwilligen Thomas Dehler nach der Wahl 1953 nicht wieder zum Justizminister vorgeschlagen, sich dafür aber einen Fraktionsvorsitzenden Dehler eingehandelt, der noch schwerer zu bändigen war.
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war groß und Friesenhahn hielt in dem auch mit Ministerialbeamten überfüllten Hörsaal der Bonner Universität ein flammendes Plädoyer zu Gunsten der Plenarentscheidung,34 dessen Wirkung Adenauer zu dem Rat geführt haben soll: „Lasst mir den Friesenhahn in Ruhe“. Hier zeigt sich der kämpferisch-streitbare Friesenhahn.35 Wie alle seine Aufgaben hat er auch die als Richter sehr ernst genommen. In seinem Nachlass findet sich eine Fülle von Voten, auch wenn er nicht Berichterstatter war. Bekannt ist sein Sondervotum zum Schulstreit, in dem es um die Geltung des Reichskonkordats auch für das Land Niedersachsen ging. Fraglich war, ob sich ein Staat durch Aufgliederung in Länder und entsprechende Kompetenzübertragung aus völkervertraglichen Bindungen befreien könne. Friesenhahn verneinte das und verwies auf die Möglichkeit der Vertragsanpassung. Dass er sich in diesem Punkte im Senat nicht durchsetzen konnte, war ein Grund, von da an die Idee des Sondervotums massiv zu vertreten.36 Wie sehr man sich im Senat im Übrigen auf ihn verließ, zeigte die Mahnung des Richter Geiger an seine Mitarbeiter nach Friesenhahns Ausscheiden: „Jetzt müssen wir auf Alles selber aufpassen.“ Friesenhahn hat von dieser wie von allen seinen Tätigkeiten wenig Aufhebens gemacht. Stärker in die Öffentlichkeit trat er, als er 1962 Präsident des Deutschen Juristentages wurde. Diese damals vor allem von der hohen Gerichtsbarkeit dominierte Standesvertretung der deutschen Juristen öffnete er für alle
34 Sein späterer Fakultätskollege Jürgen Salzwedel hat auf der Gedenkfeier für Friesenhahn den großen Eindruck, den diese Vorlesung damals gemacht hat, plastisch beschrieben: „In der denkwürdigen Vorlesung im Dezember 1952 hat er vor einem atemlosen Auditorium das Ringen um die methodisch gewonnene Erkenntnis so eindrucksvoll nachvollzogen, die Offenheit in der Entwicklung der Argumente beider Seiten, die Gewichtung ihres Beitrags, die geradezu schmerzhafte Hinwendung zu einer Lösung so begreiflich gemacht, dass uns allen unvergesslich geblieben ist, was die junge Verfassungsrechtsprechung sein konnte und werden sollte“ (s. Anm. 29, S. 30; s. auch S. 22). 35 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Gericht hat Friesenhahn gelegentlich Prozessvertretungen vor dem Bundesverfassungsgericht angenommen. Bei einer mündlichen Verhandlung war Adolf Arndt sein Kontrahent. Friesenhahn hatte wie immer brillant vorgetragen und Arndt hatte es offensichtlich schwer, gegen die Argumente anzugehen. In der Not behauptete er etwas, was, wie der Referent aus dem zuständigen Ministerium Friesenhahn zuflüsterte, nicht zutraf. Friesenhahn replizierte verletzend scharf, worauf Arndt nach der Verhandlung auf ihn zuging und sagte, Herr Friesenhahn, nehmen Sie es doch nicht so ernst, das versuchen wir Anwälte manchmal so. 36 Das Thema und die Sache war ihm so wichtig, dass er das Sondervotum, was einige als ungehörig empfanden, in der Conrad-Gedächtnisschrift, Beiträge zur Rechtsgeschichte (1979), S. 151– 180 veröffentlicht hat. Auf die Einwände ist er in der „Vorbemerkung“ eingegangen.
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juristischen Berufsgruppen und die Referendare, was fast zur Verdoppelung der Mitgliedszahlen führte. Schon beim Antritt seines Amtes erklärte er, entgegen der bisherigen Übung einer fast lebenslangen Präsidentschaft nur zwei Juristentage zu amtieren. Er setzte mit Konrad Redeker einen angesehenen Anwalt als Nachfolger durch und kämpfte gegen beachtliche Widerstände für eine Veranstaltung auf dem Essener Juristentag 1966 mit dem Titel „Probleme der Verfolgung und Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.“ Widerstände gab es in der Ständigen Deputation, dem Leitungsgremium des Juristentages, ebenso wie in einigen Landesjustizverwaltungen. Der unausgesprochene Vorwurf war der der Nestbeschmutzung und der für notwendig erachtete Schutz der Strafgerichtsbarkeit, die auch in den großen KZ-Prozessen nur Gehilfen fand, aber keine Täter und insgesamt milde Strafen verhängte. Friesenhahn setzte 1965 eine eigene Klausurtagung in Kronberg durch,37 auf der sich Beteiligte an solchen Prozessen, Ankläger, Nebenkläger und Verteidiger, zwei Generalstaatsanwälte, jüngere Strafrechtsprofessoren und ein Zeitgeschichtler unter Beisein von Friesenhahn und Redeker als Gäste auf eine kritische Erklärung einigten. Gegenüber Stimmen aus der Mitgliedschaft, aber auch aus einigen Landesjustizverwaltungen, das Thema auf dem Essener Juristentag 1966 nicht zu behandeln, und gegenüber einem unterschwelligen Missbehagen in der Ständigen Deputation entschloss sich Friesenhahn, die Veranstaltung auf die eigene Kappe zu nehmen. Die Autorität, die ihm in der Deputation zugewachsen war, erlaubte ihm ein solches Vorgehen. Der Erfolg gab ihm recht, über 800 Zuhörer folgten den Ausführungen gebannt und zeigten, dass die neue Generation die Bedenken der älteren nicht mehr teilte.38 Vielleicht hat auch die erste Reise einer deutschen Juristengruppe nach Israel einen Anstoß für Friesenhahn gegeben. Im März 1962 besuchten er nämlich mit Horst Ehmke und einem Teil beider Seminare Israel und fand dort das vertriebene Deutschland wieder in Gestalt eines Richters des obersten Gerichts, eines mächtigen Ombudsmanns und zugleich Rechnungshofpräsidenten, eines Majors der Armee, eines Kibbuz-Finanzchefs und vieler Familien, bei denen die deutsche Gruppe freundliche Aufnahme fanden, obwohl die meisten von Ihnen Verwandte in den Konzentrationslagern verloren hatten.39 Von dieser Reise flog Friesenhahn
37 Es war vor allem eine Staatsanwältin, Barbara Just-Dahlmann, die Friesenhahn in mehreren Gesprächen davon überzeugte, dass nur er eine solche Behandlung im Juristentag durchsetzen könne. 38 Zu Recht ist diese Veranstaltung in der Schrift „Recht mitgestalten – 150 Jahre Deutscher Juristentag 1860 bis 2010“, S. 99–105 eingehend behandelt. 39 Der in den Mitteilungen der List-Gesellschaft (Basel, Fasc. 4 (1963/1964), Nr. 1/2) erschienene und von Ehmke und Friesenhahn herausgegebene „Bericht über eine Studienreise junger deut-
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von Neapel nach Deutschland, wo er zum Präsidenten des Juristentages gewählt werden sollte. Nicht von ungefähr war es Friesenhahn, der die Schweizer Staatsrechtslehrer bewog, wieder in die Deutsche (und das meint deutschsprachige) Staatsrechtslehrervereinigung zurückzukehren. Er hielt engere Beziehungen zu einem Teil der schweizerischen Kollegen und nach seiner Emeritierung mehrere Jahre Vorlesungen in Basel. Auf den dort erhaltenen Ehrendoktor konnte er stolz sein. Friesenhahn hat sich immer damit gebrüstet, keines seiner Ämter je angestrebt zu haben. Er hat sie aber alle voller Einsatz ausgefüllt. Dass bei diesem Lebenslauf kein opus magnum geschrieben werden konnte, ist evident. Friesenhahn lag aber auch mehr die novellistische Form. Hier war er brillant. Wer der Staatsrechtslehrerkollegen wäre wohl 1935 auf die Idee gekommen, zu fragen, was mit dem Eid geschieht, bei dem man dem Führer Treue und Gehorsam schwört, wenn Hitler stirbt – angesichts des propagierten tausendjährigen Reichs?40 Und das in einer vom Chef der Reichskanzlei herausgegebenen Festschrift? Oder: Wer hätte es 1937 gewagt, in dem vom Reichsminister und Reichsleiter der NSDAP Hans Frank herausgegebenen „Deutschen Verwaltungsrecht“ bei der Behandlung der „Selbstverwaltung öffentlicher Genossenschaften“41 in aller Klarheit zu begründen, warum das Führerprinzip in ihnen nicht gelten könne? Danach hat Friesenhahn bis zum Ende des Krieges nur noch steuer- und erstattungsrechtliche Abhandlungen geschrieben, für die sein Anwaltsberuf und die Beratungsfunktion für den Dozentenbund42 die Anregung gaben. Die 1950 gehaltene Rektoratsrede „Staatrechtslehrer und Verfassung“43 gab Friesenhahn Anlass, auf das Verhalten der Profession in der NS-Zeit zurückzukommen. Auf der ersten Tagung der wiederbegründeten Vereinigung Deutscher
scher Juristen aus Bonn und Freiburg nach Israel“ und damit in eine mittlerweile versunkene Jugendzeit des Staates Israel ist heute noch lesenswert. Friesenhahns Seminar hat in dem Kulmhof-Prozess, dem zweiten großen KZ-Prozess, die drei einzigen überlebenden Zeugen betreut, darunter einen damals 11-Jährigen, der bei der Restliquidierung des Lagers einen Genickschuss überstanden hatte. 40 Friesenhahns Antwort war: Alle bisherigen Eide sind hinfällig und müssten erneuert werden. So in seinem Beitrag „Über den Eid des Beamten“ in der von ihm herausgegebenen Festschrift zum 10jährigen Bestehen der Mittelrheinischen Verwaltungsakademie, 1935, S. 72. 41 § 13, S. 262–281. 42 Der Hochschulverband war zunächst in den Dozentenbund und dann in den NS-Dozentenbund überführt worden. Friesenhahn war als Berater beibehalten worden, „weil man keinen Bessern fand“, wie er erzählte, und wurde so ungefragt automatisch Mitglied einer NS-Gliederung, was bei den Engländern anlässlich seiner „Entnazifizierung“ eine freilich nur kurzzeitige Irritation hervorgerufen hatte. 43 Krefeld (Scherpe-Verlag), 1951, S. 6/7.
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Staatsrechtlehrer 1949 sei es „um zwei enge begrenzte positive Auslegungsfragen des Grundgesetzes“ gegangen. „Die zwölf Jahre, in denen Macht vor Recht gegangen war und von einer Verfassung im Sinne einer echten Ordnung nicht gesprochen werden konnte, waren wie ausgewischt. Die wenig ruhmvolle Haltung der deutschen Staatsrechtswissenschaft in jenen Tagen – unsere Schuld? wurde mit Stillschweigen übergangen, aber auch die grundsätzliche Aufgabe des Staatsrechtslehrers in der nun beginnenden Verfassungsepoche kam nicht zum Ausdruck.“ Friesenhahn schließt an: „Welch ein gespenstischer Vorgang.“ Einige Jahre später hatte er erneut Anlass zu einer Intervention. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 1953 das Erlöschen der Beamtenrechte am 8.5.1945 festgestellt,44 was ihm auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1954 beim Thema „Die Berufsbeamten und die Staatskrisen“ herbe Kritik vom Referenten Richard Naumann45 und weit überwiegend46 in der Diskussion einbrachte. Was die Mehrheit erregte war der minutiöse Nachweis, dass das Regime im „Dritten Reich“ den Charakter des „parteipolitisch neutralen Berufsbeamtentums“ (Art. 130 WRV) zerstört hatte. Friesenhahn verteidigte den Spruch seiner Kollegen des Ersten Senats mit ebensolcher Schärfe wie Präzision: „Es hat den Anschein, als ob manche Leute als Hauptbegriffsmerkmal, als das eigentlich Wesentliche des Berufsbeamten annehmen, dass er alle Staatskrisen in seiner persönlichen Rechtstellung völlig unangetastet überdauert“ und: „Jedenfalls dürfte darüber Übereinstimmung herrschen, dass das Berufsbeamtentum eine tragende Einrichtung des modernen Staates ist. Daher wäre wohl eher der Schluss gerechtfertigt, dass dieses Berufsbeamtentum von Staatskrisen nicht unberührt bleiben kann“ (S. 164). Friesenhahn nimmt auch die Gelegenheit wahr, auf eine Kontroverse 1930/31 über die wohlerworbenen Rechte der Beamten (Art. 129 WRV) hinzuweisen, in der er „in hoffnungsloser Minderheit“ (S. 166) gegen die Garantie summenmäßig erworbener Rechte des einzelnen Beamten gefochten und die Garantie lediglich
44 BVerfGE 3, 58–162, die bis dahin mit über 100 Seiten weitaus längste Entscheidung des Gerichts. 45 VVDStRL 13 (1955), S. 93 f. 46 Von Giese (S. 156), Helfritz (S. 156), Jellinek („äußerst befremdende Konstruktion“), Wenzel (160), (Forsthoff (161),Weber (171) und Ipsen (176): Zustimmung zum Tenor, aber Anfechtung der Gründe, Wacke (180), Pfeiffer (180), Merk (182), Ermacora (191). Friesenhahn kann sich einen methodischen Hieb nicht verkneifen: „Ich kann mich nur wundern, wieso auf einmal und in unserem Kreis so „normativ“ gedacht wird, während sonst die historisch-politische Methode doch durchaus Mode ist“ (S. 168).
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als eine institutionelle aufgefasst hatte.47 Art. 33 Abs. 5 GG hat später diese These übernommen. Friesenhahns Werk umfasst mit an die 100 Titel ein breites Panorama. Er hat sich mit Grundrechtsfragen ebenso befasst wie mit Fragen der Staatsorganisation und des politischen Systems einschließlich der Stellung der Parteien und der Religionsgemeinschaften. Aber auch im Verwaltungsrecht wie dem Kommunal-, Polizei-, Planungs- und Energierecht hat er sich schriftstellerisch betätigt. Um diese Arbeiten bewerten zu können, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass das Maß an vorhandener Literatur über die einzelnen Themen bis in die 60er Jahre spärlich war, wenn zu einzelnen Themen Literatur überhaupt vorhanden war.48 Charakteristisch für Friesenhahns Arbeitsweise ist vielleicht sein Vortrag „Grundgesetz und Energiewirtschaft“,49 zu dem er zur Eröffnung des Instituts für Energierecht an seiner Bonner Fakultät gebeten worden war, obwohl er auf diesem Gebiet nicht gearbeitet hatte. Er seziert die Rechtslage zwischen Bundesund Landeszuständigkeit bei der Energieaufsicht in der Ausführung des weiter geltenden Energiewirtschaftsgesetzes von 1935 zum einen, der Stellung der Gemeinden als private Wegeeigentümer, als Widmungsberechtigte zur Eröffnung des Gemeingebrauchs und als Träger der „öffentlichen Energieversorgung“ mit elektrischer Energie und Gas zum anderen und schließlich den privaten Energieversorgern als normalen Wirtschaftsunternehmen oder als Beliehenen und ihre grundrechtliche Stellung. Ohne einen archimedischen Punkt lässt sich dieses Beziehungsgeflecht überzeugend nicht ordnen. Er findet ihn in der gesetzlichen Festlegung der Energieversorgung mit Elektrizität und Gas als eine „öffentliche“ Aufgabe, die die Unternehmen ungeachtet ihrer privatrechtlichen Natur zu einem Element öffentlicher Verwaltung mache. Es war nur konsequent, das überkommene System in einigen Facetten für rechtswidrig zu erklären. Es war ein Nebenthema in Friesenhahns Arbeit, zeigt aber seine gestalterische Kraft und mit der Einbeziehung geschichtlicher Entwicklung ein besonderes Merkmal seiner Forschungen. Der Wirtschaftsrechtler Ballerstedt, der aus zivilistischer Sicht in der Debatte Gegenpositionen bezog, meinte einleitend, es sei ihm „ein Bedürfnis, vorweg zum Ausdruck zu bringen, wie sehr mich seine Darlegun-
47 Gehaltskürzung und wohlerworbene Beamtenrechte, Wirtschaftsdienst, 1930 S. 1143–1146. 48 Der lange Zeit einzige Grundgesetzkommentar mit einem gewissen Anspruch, der „Maunz/ Dürig“, begann erst 1958 mit seinem sich mehr als zehn Jahre hinziehenden Aufbauwerk; die erste Auflage der „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ von Konrad Hesse erschien 1967. 49 Elektrizitätswirtschaft 1957, S. 12–21.
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gen gefesselt haben.“ Das ist vielen seiner Hörer geschehen: einer Persönlichkeit, die präzise und gehaltvoll ihre Thesen vorträgt, kann man sich schwerlich entziehen. 1966 widmet Friesenhahn seinem ehemaligen Senatskollegen am Bundesverfassungsgericht Gerhard Leibholz eine auch die Stellung des Gerichts berührende Abhandlung „Zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten“. Es wurde ein klassischer Text.50 Markant wiederum die Sicht auf die gänzlich andere Stellung des Reichspräsidenten, gar des Monarchen in der konstitutionellen Monarchie, der Nachweis, dass die dem Präsidenten obliegende Ausfertigung des Gesetzes keine Garantie für die Verfassungsmäßigkeit bedeuten kann, dass die Nichtausfertigung keine Verbindlichkeit herstellt und dass ein solcher Akt ohne Verfahrensregeln dem Grundgesetz fremd wäre.51 Unmittelbaren Einfluss auf die Verfassungspraxis hatte der Beitrag „Die Rechtsentwicklung hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen des Bundes“ in der Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates.52 In ihm wird in der für Friesenhahn charakteristischen Weise die Spreu vom Weizen getrennt. Luzide weist er nach, dass die Rede von der Verantwortung des Bundesrates für ein „Zustimmungsgesetz“ keinen Sinn ergibt (S. 206–262); sie war nur zu dem Zweck erfunden worden, um auf diese Weise jedes Änderungsgesetz zu einem Zustimmungsgesetz auch der Zustimmung zu unterwerfen. Die Ablehnung in BVerfGE 37, 363, 380 ff. stützt sich weitgehend auf Friesenhahns Äußerungen. Am meisten bekannt und vielfältig nachgesprochen ist seine Sentenz in seinem Staatsrechtslehrervortrag 1957 „Parlament und Regierung im modernen Staat“: „Die Staatsleitung aber steht Regierung und Parlament gewissermaßen zur gesamten Hand zu“.53 Die ganze Abhandlung ist der Versuch, den Wandel des Parlaments von dem überkommenen Repräsentativorgan zu einer echten Volksvertretung in seiner Auswirkung auf die einzelnen Funktionen des Parlaments und vor allem auf seine Stellung gegenüber der Regierung auszubuchstabieren. So stehe der Regierung kein solches Vorbehaltsgebiet zu, wie es das Parlament in seiner Gesetzgebungskompetenz besitze. Daher könne das Parlament durch
50 Die moderne Demokratie und das Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd. II 1966, S. 679– 694. 51 Siehe aus heutiger Sicht Hans Meyer, Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – Staatsrechtliche Argumentation auf dem Prüfstand, JZ 2011, 602–608. 52 Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974. 53 VVDStRL 16, 9–73 (38). Aufgenommen in Theo Stammen (Hrsg.). Strukturwandel der modernen Demokratie, Darmstadt 1976, S. 109–185 und auszugsweise in Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Köln 1967 S. 307- 319 mit „Einführung“ S. 304 f.
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Organisationsgesetz durchaus auch Fragen der Regierungsorganisation regeln. Andererseits empfiehlt er dem Parlament, bei der Einräumung von Verordnungsermächtigungen, also gegenüber der Regierungsarbeit, großzügig zu sein. Friesenhahn hat das „modern“ in der ihm gestellten Aufgabe also ernst genommen. Versucht man ein Resümee, so haben wir in der Gestalt von Ernst Friesenhahn einen begnadeten Lehrer, dessen juristische Potenz von Carl Schmitt wie Richard Thoma schon früh erkannt worden ist, der aber in seiner Entwicklung durch den Einbruch des Nationalsozialismus in einer fruchtbaren Zeit des Lebens gehemmt wurde, eine Zeit, von der er bescheiden nur sagte, man habe sich „durchgewurschtelt“, der aber nach der Niederlage an der Wiedererrichtung eines demokratischen Deutschlands von Anfang an mitwirkte und über die Position als Dekan und Rektor zwölf Jahre ein kluger und sehr geachteter Bundesverfassungsrichter wurde, den Deutschen Juristentag modernisierte und gegen erhebliche Widerstände die Behandlung deutscher Kriegsverbrechen auf diesem Forum durchsetzte, der trotz der Hindernisse in seinem Lebenslauf eine Fülle von Einzelstudien zum weiten Feld des Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsrechts geschrieben hat, die alle durch Präzision und konzeptionelle Überzeugungskraft bestechen und bei aller konservativen Grundstimmung einen progressiven und oft mit herrschenden Meinungen ins Gericht gehenden Charakter haben: ein Mensch des 20. Jahrhunderts und doch eine sehr eigene Persönlichkeit, der keine Schule machen wollte, aber Schüler machte, der für seine Profession ein Vorbild war und dem der Staat, dem er diente, wie seine Schüler Dank schulden. Eine Festschrift hat er sich verbeten.
XXXVIII Ernst Forsthoff* (1902–1974) Hans Hugo Klein
I. Leben und akademischer Werdegang August Wilhelm Heinrich Ernst Forsthoff wurde am 13. September 1902 in Laar (heute Ortsteil von Duisburg) als Sohn des evangelischen Pfarrers Heinrich F. und seiner Ehefrau Emmy geb. Bergfried geboren.1 Nach dem Abitur 1921 nahm er, zunächst eher lustlos, das Studium der Rechtswissenschaften auf, das ihn über Freiburg und Marburg nach Bonn führte. Hier begegnete er im SS 1923 Carl Schmitt, dessen Übung im Öffentlichen Recht für F., wie er später bekannte, „zu einem lebensentscheidenden Ereignis“ geworden ist; hier sei er zum Juristen geworden.2 1924 legte F. die Erste, 1928 die Zweite Juristische Staatsprüfung ab, 1925 wurde er bei Carl Schmitt mit der Arbeit „Der Ausnahmezustand der Länder“
* In dankbarer Erinnerung an Karl Doehring (1919 bis 2010), der sich wie der Autor bei Ernst Forsthoff habilitierte und den Text dieses Beitrags in seiner ersten Fassung noch gelesen hat. 1 Zum Folgenden sei insbesondere hingewiesen auf: W. Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff. Kolloquium aus Anlass des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Forsthoff, 2003 (mit Beiträgen von W. Blümel, K. Doehring, M. Herdegen, H. H. Klein und M. Ronellenfitsch); K. Doehring, Ernst Forsthoff. Leben und Werk, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986, Band III, 1985, S. 437 ff.; ders., Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225jährigen Bestehen des Verlages C. H. Beck, 1988, S. 341 ff.; P.Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung, JZ 1975, S. 685 ff.; ders., Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, ZSchweizR N. F. 95 (1976), S. 477 ff.; R. Herzog, Gedenkrede auf Ernst Forsthoff, in: M. Herdegen u. a. (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, 2009, S. XXIII ff.; H. H. Klein, Forsthoff, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 2, 7. Aufl., 1986, Sp. 649 ff., auch in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 588 ff.; D. F. Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit 1902–1974, 2011; D. Mußgnug/R. Mußgnug/A. Reinthal (Hrsg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff/Carl Schmitt (1926–1974), 2007; R. Mußgnug, Forsthoff, in: Badische Biographien, hrsg. von B. Ottnad, Band 1, 1982, S. 121 f.; K.-P. Schroeder, „Eine Universität für Juristen und von Juristen“. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert, 2010, S. 571 ff.; C. Schütte, Progressive Verwaltungsrechtswissenschaft auf konservativer Grundlage. Zur Verwaltungsrechtslehre Ernst Forsthoffs, 2006; U. Storost, Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff, 1979. 2 Ansprache am 11.07.1953 zum 65. Geburtstag Schmitts, abgedruckt in: Briefwechsel (Fn. 1), S. 397 f.
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promoviert. Die Habilitation erfolgte 1930 in Freiburg3 mit der Schrift „Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat“. Im Jahr 1933 erhielt Forsthoff seinen ersten Lehrstuhl in Frankfurt/M. Es folgten Berufungen nach Hamburg (1935), Königsberg (1936), Wien (1941) und Heidelberg (1943). Schon in Hamburg geriet Forsthoff in erste Konflikte mit der NSDAP, in Königsberg zog er nicht nur als Rechtsberater des Oberkirchenrats der Altpreußischen Union in Berlin den massiven Unmut der NS-Machthaber auf sich.4 Die Folge war, dass ihm der Antritt des Wiener Lehramts verboten wurde. Dennoch widerfuhr ihm zu Beginn des Jahres 1946 das gleiche Schicksal: auf Geheiß der amerikanischen Besatzungsmacht wurde er aus dem Dienst entlassen. Erst im April 1952 konnte Forsthoff auf seinen Lehrstuhl zurückkehren.5 Von 1960 bis 1963 bekleidete F. das Amt des Präsidenten des Verfassungsgerichts der Republik Zypern, das er niederlegte, als Staatspräsident Erzbischof Makarios sich weigerte, eine zugunsten der türkischen Minderheit getroffene Entscheidung zu vollziehen. Innerhalb wie – vor allem im Rahmen der Ebracher Ferienseminare6 – außerhalb der Universität entfaltete Forsthoff eine überaus erfolgreiche Lehrtätigkeit. Dass er sich mit Vollendung des 65. Lebensjahrs zum WS 1967/68 emeritieren ließ, wurde von den Studenten, die ihn mit einem Fackelzug umzustimmen suchten, darum sehr bedauert. Die folgenden Jahre waren intensiver wissenschaftlicher Arbeit gewidmet.7
3 Die Berliner Handels-Hochschule, an der Schmitt seit 1928 lehrte, hatte kein Habilitationsrecht. Näher: Meinel (Fn. 1), S. 40 ff. 4 Forsthoffs anfängliche Illusion von der positiven Einstellung des NS zum Christentum zerstob rasch. Besonderen Ärger erregte er, als er in einem Gutachten den (vergeblichen) Versuch unternahm, mit rechtlichen Argumenten den Plan Himmlers zu verhindern, den Quedlinburger Dom in eine profane Weihestätte für König Heinrich I. umzuwidmen. Dazu: Ernst Forsthoff, Res sacrae, AöR 70 (1940), S. 209 ff. 5 Zu den bedrängten Lebensumständen Forsthoffs in der Zeit zwischen 1946 und 1952, in der er und seine Familie oft nicht über ein festes Einkommen verfügten, s. Meinel, S. 304 ff. 6 Dazu: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967. Ferner: F. Meinel, Die Heidelberger Secession. Ernst Forsthoff und die „Ebracher Ferienseminare“, Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft V/2 2011, S. 89 ff. 7 „Der Staat der Industriegesellschaft“ erschien 1971, die 10. Auflage des „Lehrbuchs des Verwaltungsrechts“ 1973. S.a. K. Frey, Vorwort zur 2. Aufl. von „Rechtsstaat im Wandel“, 1976, S. IX ff.
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Außer den bereits genannten „Ebracher Studien“ wurden Forsthoff zwei Festschriften gewidmet.8 Im Jahre 1969 wurde er mit dem Ehrendoktor der Universität Wien ausgezeichnet.9 Am 13. August 1974 ist Ernst Forsthoff nach längerer Erkrankung in Heidelberg gestorben.
II. Das Werk I (bis 1945) In einer Situation, in der „das liberal-demokratische Modell westlicher Prägung bei vielen“ – keineswegs nur bei den Extremen von rechts und links – „hoffnungslos diskreditiert“ war,10 setzten nicht wenige, innerhalb wie außerhalb der Staatsrechtslehre, ihre Hoffnung auf einen starken, seinen Primat über die Gesellschaft behauptenden Staat, wie er etwa in den Kreisen der „Konservativen Revolution“11 als „totaler Staat“12 gefordert wurde, und nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler auf die von seiner Partei angekündigte „nationale Revolution“. Was darunter zu verstehen war, blieb zunächst undeutlich genug, erschien aber gerade deshalb auch im Sinne einer staatlichen Disziplinierung der „Bewegung“ form- und beeinflussbar. Auch Forsthoff fiel diesem Irrtum, wenn auch nur kurzfristig, zum Opfer.13 In seiner Schrift „Der totale Staat“14 wandte sich Forsthoff mit Entschiedenheit gegen den „nihilisierten liberalen Staat“,
8 K. Doehring u. a. (Hrsg.), Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967; R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972 (2. Aufl. 1974). 9 Zu der für die Wiener Universität wenig rühmlichen Vorgeschichte dieser Auszeichnung s. Doehring, in: Blümel (Fn. 1), S. 15 f. 10 H. Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff. (14); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Band 1914– 1945, 1999, S. 200. 11 A. Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 4. Aufl., 1994; kritisch: S. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 1993. 12 Forsthoff gebrauchte den Begriff, soweit ersichtlich, erstmals in den Schlussbemerkungen von „Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat“, S. 182. 13 Dass es sich um einen (fatalen = schicksalhaften) Irrtum handelte, hat Fotrsthoff selbst in späteren Jahren in vielen privaten Gesprächen, aber auch öffentlich (vgl. nur: Der Staat der Industriegesellschaft, S. 53 f.) eingeräumt. – Dazu etwa: Doehring, in: Semper Apertus (Fn. 1), S. 442. 14 1. Aufl. 1933, 2. Aufl. 1934. Zumal die 2. – unter dem Eindruck der von A. Rosenberg und R. Freisler geübten Kritik umgearbeitete und verschärfte – Aufl. enthält zahlreiche antisemitische Äußerungen; s. a. Deutsche Geschichte seit 1918 in Dokumenten, 1935, S. 290, 306. Zur 2. Aufl. des „Totalen Staates“: Meinel, S. 89 ff.
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gegen Parlamentarismus und Parteienstaat, Individualismus, Pluralismus und Föderalismus. Er plädierte für eine vom Ballast individualrechtlicher Bindungen befreite „Herrschaftsordnung“, für die totale Inpflichtnahme des einzelnen für das Ganze. Überzeugt, dass der Staat, um seine existenzwichtigen Aufgaben erfüllen zu können, nicht subjektiver Willkür ausgeliefert werden dürfe, schrieb er aber auch: „Die Bewegung kann aufgehen in der Person des Führers. Der Staat kann es nicht. … Der Staat ist gebunden an Tradition, Gesetz und Ordnung.“15 Indem Hitler der Führer des Reiches wurde, sei er unter ein neues Gesetz getreten. Forsthoff zeigte sich hier wie auch in anderen Publikationen der ersten beiden Jahre nach Hitlers „Machtergreifung“ als überzeugter Nationalsozialist, war aber auch bemüht, gegenüber der von regelloser Dynamik beherrschten „Bewegung“ die Form berechenbarer staatlicher Ordnung zu behaupten.16 In der 2. Auflage seines „Totalen Staates“ resignierte F. allerdings vor der inzwischen auch gesetzlich verfügten Einheit von Partei und Staat:17 er sprach jetzt vom „nationalsozialistischen Staat“. Die Faszination verflog rasch. An der weiteren Entfaltung des NS-Staates als „völkischer Staat“ oder „Führerstaat“ hat sich F. nicht beteiligt. Schon in Hamburg erregte er Anstoß, weil er in einem Vortrag auf der Bindung des Richters an das Gesetz bestand und die Allgemeinverbindlichkeit des Parteiprogramms der NSDAP bestritt.18 Königsberg wurde für ihn „ein Ort des Ausweichens und der äußeren Ruhe“.19 Innere Ruhe freilich dürfte ihm in dieser Zeit, in der er aus seiner wachsenden Distanz zum NS keinen Hehl machte und sich für die Kirche engagierte, nicht beschieden gewesen sein. Wissenschaftlich gehörten die Königsberger Jahre für Forsthoff zu den ertragreichsten. Nachdem sich für ihn durch die Errichtung der souveränen Diktatur des „Führers“ die Verfassungsfrage „erledigt“ hatte20 – worin sollte sie auch bestehen, wenn, wie Herbert Krüger zutreffend bemerkte,21 der Führer bereits die
15 1. Aufl., S. 31. In der 2. Aufl. erscheint dagegen Hitler als „Walter des Jahrtausende alten deutschen Staatstums“, die „Bewegung“ wird zu dessen eigentlicher Trägerin (S. 35). 16 Dazu Storost (Fn. 1), S. 63. – Es war Forsthoffs Etatismus, der ihm die Gegnerschaft der Parteiideologen eintrug. 17 Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 01.12.1933, RGBl I S. 1016. 18 Dazu: E.-W. Böckenförde, Zum Briefwechsel zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt, AöR 133 (2008), S. 261 ff. (265). 19 Stolleis (Fn. 10), S. 285. 20 Ernst Forsthoff, Das neue Gesicht der Verwaltung und der Verwaltungsrechtswissenschaft, DR 1935, S. 331 f. 21 Führer und Führung, 1935, S. 45.
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Verfassung selbst war?22 –, wandte sich Forsthoff vorrangig dem Verwaltungsrecht zu, dessen überkommene Technik nach seiner Meinung gegenüber der sozialgestaltenden Verwaltung versagte. Denn das Recht bestimme nicht nur die Schranken, sondern auch den Inhalt des Verwaltungshandelns.23 Mit der bahnbrechenden Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ (1938) gelang Forsthoff, wie zu Recht gesagt worden ist, „der zentrale, ja der bis heute entscheidende wissenschaftsgeschichtliche Schritt, der über die verwaltungsrechtlichen Systeme des Spätkonstitutionalismus hinausführte“.24 Mit ihr versuchte Forsthoff, „die Kluft zwischen der überkommenen Systematik des Verwaltungsrechts und der Wirklichkeit zu schließen.“25 Die Aufgaben (statt der Handlungsformen) der Verwaltung wurden in den Mittelpunkt der Verwaltungsrechtswissenschaft gerückt. F. ging es nicht um eine Verdrängung des klassischen Verwaltungsrechts der Eingriffsverwaltung aus dem Focus der Verwaltungsrechtswissenschaft, sondern um eine der juristischen Methode verpflichtete (und nicht etwa nur soziologische) Erschließung der Wirklichkeit der sich auch privatrechtlicher Mittel bedienenden Leistungsverwaltung („Daseinsvorsorge“) und deren rechtliche Domestizierung. Im Blick auf die unaufhebbare existentielle Abhängigkeit des einzelnen von staatlichen Leistungen, die „soziale Empfindlichkeit des modernen Massendaseins“,26 forderte er eine staatliche Risikohaftung für deren Ausfall27 und die (zum damaligen Zeitpunkt nichts weniger als selbstverständliche) Gesetzesbindung der Verwaltung.28 Und mehr noch: Forsthoff legte dar, im modernen Staat behaupte sich der Mensch nicht durch eine ihm garantierte individuelle Freiheit, sondern durch die – normativ zu sichernde – Teilhabe an den Leistungen der Verwaltung, in welcher Rechtsform auch immer sie erbracht werden, einschließlich eines geordneten gerichtlichen Rechtsschutzes.29 Es war also der juristische Sinn des Begriffs
22 An Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sei erinnert. 23 Vorwort zur 1. Aufl. des Lehrbuchs des Verwaltungsrechts, 1950, S. V. 24 Meinel, S. 102; s. a. S. 216. 25 Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Aufl., 1950, Vorwort, S. VI. 26 DR 1935, S. 398. 27 In seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts entwickelte Forsthoff folgerichtig das Rechtsinstitut der staatlichen Gefährdungshaftung (1. Aufl., S. 259 ff.; 10. Aufl., S. 359 ff.), an dem er festhielt, obwohl ihm Wissenschaft und Praxis dabei nicht gefolgt sind. Dazu: F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 368 ff. 28 Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 1 f. – Dazu auch Meinel (Fn. 1),S. 126. 29 Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 45 f., 49 f. – Deshalb konnte Forsthoff auch sagen: „Die Grundrechte gehören der Geschichte an (ebenda, S. 1; s. a. S. 45). Ob dies mehr als eine der Zeit geschuldete realistische Wirklichkeitsanalyse war, wird man bezweifeln dürfen. Im WS 1943/44 erklärte F. seinen Heidelberger Hörern, die Beseitigung der liberalen Grundrechte sei nur sinn-
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Daseinsvorsorge, der Teilhabe an den Leistungen der Verwaltung den Schutz des öffentlichen Rechts zu verleihen.30 Auch in den Folgejahren kreiste Forsthoffs Denken darum, wie es gelingen könne, „in einer notwendig rationalisierten und technisierten volklichen Umwelt den Raum nicht des Individuums, aber der Persönlichkeit zu behaupten“.31 Die Königsberger Vorträge „Grenzen des Rechts“ (1941) und „Recht und Sprache“ (1940) gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die alsbald nach der Veröffentlichung von „Die Verwaltung als Leistungsträger“ einsetzenden Vorarbeiten für das Lehrbuch des Verwaltungsrechts und das unveröffentlichte Manuskript „Aufgabe und Methode der Verwaltungsrechtswissenschaft“ (1942). Eine weitere Frucht dieser Zeit war der 1940 erschienene Grundriss „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“,32 in dem nicht von ungefähr die Entwicklung des Verfassungsstaats in (Brandenburg-)Preußen breiten Raum einnimmt.33
III. Das Werk II (1945 bis 1974) 1. Nach den für Forsthoff und seine große Familie überaus schwierigen Nachkriegsjahren,34 in denen er vorübergehend erwog, sich aus der Universität zurückzuziehen, betrat er 1950 mit der Veröffentlichung seines „Lehrbuchs des Verwaltungsrechts“ erneut die akademische Bühne. Mit einem Schlag sicherte er sich dadurch den ersten Rang in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft.35 In glänzendem Stil geschrieben, behauptete das Werk über mehr als zwei Jahr-
voll, wenn „das Personsein auf andere Weise gewahrt ist“, d. h. durch die Garantie von Teilhaberechten des Einzelnen an den Leistungen der Daseinsvorsorge: zit. nach Meinel (Fn. 1), S. 176; s. a. S. 178, 213. 30 Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 9. 31 Ernst Forsthoff, Grenzen des Rechts, 1941, S. 20. 32 Die 1. Aufl. behandelte die deutsche Verfassungsgeschichte entgegen den zeitgenössischen Erwartungen, die vor allem auf die Darstellung des angeblichen Niedergangs vor 1933 gerichtet waren (s. die Buchbesprechung von H. Muth, Grundlinien der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, DR 1941, S. 1269 ff.), nur bis 1871, die 2. schon in den letzten Kriegsjahren fertiggestellte dann auch die Zeit bis 1933; sie konnte erst 1961 erscheinen. – Zu diesem Buch: E. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, 2005, S. 262 ff. 33 Als „Preußenmystiker“ wird Forsthoff bezeichnet von J. Kersten, Friedrich Julius Stahl (1802– 1861), in: S. Grundmann u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin, 2010, S. 205 ff. (226). 34 Dazu: Briefwechsel (Fn. 1), S. 19 ff.; Meinel (Fn. 1), S. 304 ff. 35 Hans Schneider, NJW 1972, S. 1654; ders., DÖV 1974, S. 596.
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zehnte für Studium, Wissenschaft und Praxis geradezu „kanonischen Rang“36 – „insofern in vielem M. Hauriou und Lafferière vergleichbar“.37 Forsthoffs Lebensthema war der Staat. Er fürchtete um seine Fähigkeit zur Durchsetzung des Gemeinwohls gegenüber gesellschaftlichen Partikularismen und Interessen. Deshalb ließ er sich in seinen Anfängen von den Sirenenklängen der vom NS propagierten „nationalen Revolution“ gefangen nehmen. Deshalb setzte er auf die Verwaltung als den sachorientierten stabilen Faktor in schwankender Zeit. Und deshalb handelte auch das Lehrbuch des Verwaltungsrechts vom Staat.38 In der Verwaltung hat der Staat seinen Schwerpunkt. Nicht so sehr als ordnungswahrender Eingriffsstaat sondern als zuverlässiger Leistungsstaat gewinnt er Legitimität.39 Hier ist er darum auch verletzlich. Im Lehrbuch werden – nach einem instruktiven Überblick über Wesen und Geschichte des Verwaltungsrechts – dessen rechtsstaatliche Strukturen entwickelt, die Forsthoff in Fortsetzung seiner mit der Schrift von 1938 einsetzenden Überlegungen auf die für die Daseinsvorsorge zuständige Verwaltung übertrug. So selbstverständlich für Forsthoff die Wiederinkraftsetzung der Grundrechte nach dem Ende des „Dritten Reiches“ war, so überzeugt war er auch davon, dass die verfassungsrechtliche Absicherung individueller Freiheit im 20. Jahrhundert allein eine menschenwürdige Existenz nicht mehr zu verbürgen imstande sei.40 Dabei übersah er nicht, dass mit der Wiederherstellung der Grundrechte die juristische Bedeutung des Begriffs Daseinsvorsorge eine Relativierung erfuhr. Denn unter den Bedingungen der sich im Schutze der rechtsstaatlichen Verfassung entfaltenden industriellen Gesellschaft ist sie es, die in erster Linie die Daseinssicherung besorgt. Die Daseinsvorsorge ist nurmehr eine staatliche Komplementärfunktion, eine gewichtige allerdings.41
36 H. Quaritsch, NJW 1974, S. 2120; ebenso P. Häberle, JZ 1975, S. 688. 37 Häberle, ebenda. 38 Doehring, Juristen im Portrait (Fn. 1), S. 348; Schütte (Fn. 1), S. 18. 39 M. Bullinger, Der Beitrag von Ernst Forsthoff zum Verwaltungs- und Verfassungsrecht, in: K. Grupp/U. Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für R. Mußgnug zum 70. Geburtstag, 2005, S. 399 ff. (403). 40 Vgl. Meinel (Fn. 1), S. 338 f. 41 Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 20 f. – Zur Daseinsvorsorge und ihrer aktuellen Bedeutung s. Ronellenfitsch in: Blümel (Fn. 1), S. 53 ff., insb. S. 67 ff.; derselbe, Daseinsvorsorge und service d’intérêt général im Interventionsstaat, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung. Symposion zu Ehren von W. Blümel zum 80. Geburtstag, 2009, S. 27 ff.; mit anderer Akzentuierung J. Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, Der Staat 44 (2005), S. 543 ff.
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Forsthoffs Lehrbuch des Verwaltungsrechts – „der Forsthoff“, wie es bald hieß – brachte den allgemeinen Teil des Verwaltungsrechts, der damals noch ungeschrieben war,42 in mustergültiger Stringenz, begrifflicher Klarheit und „unter Einbettung seines Gegenstandes in den geistesgeschichtlichen, soziologischen, ökonomischen und politischen Zusammenhang, aus dem er täglich neu erwächst“43, zur Darstellung.44 Beispielhaft wusste Forsthoff nach dem Urteil Peter Baduras „soziologische Analyse und juristische Dogmatik“ zu verbinden.45 Entgegen manchen Erwartungen, die sich an „Die Verwaltung als Leistungsträger“ geknüpft hatten, übernahm Forsthoff die wissenschaftliche Tradition des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts,46 dessen systematische Qualität ihm unüberholbar erschien.47 Das führte nicht zur Vernachlässigung der Leistungsverwaltung oder gar zum Verzicht auf deren rechtsstaatliche Durchformung. Aber Forsthoff blieb bewusst, dass die gestaltende Verwaltung Rechtsstrukturen aufweist, „die mit den herkömmlichen methodischen Mitteln der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht voll erfasst werden können“.48 Dabei lag schon dem Lehrbuch die hier noch unausgesprochene Erkenntnis zugrunde, dass die „Aufgabe, die Eingriffsverwaltung und die Daseinsvorsorge in einem einheitlichen Rechtssystem zusammenzufassen, … ungelöst (ist) – und das vielleicht deshalb, weil sie in der Tat unlösbar ist“.49
42 Das Verwaltungsverfahrensgesetz, das auch einen großen Teil des allgemeinen Verwaltungsrechts kodifizierte, ist am 1. Januar 1977 in Kraft getreten. 43 H. P. Ipsen, Buchbesprechung, AöR 76 (1950/51), S. 377 ff. 44 In der Einleitung zu seiner Übersetzung von Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ schreibt Forsthoff: „So sehr das Buch seinen Gegenstand erschöpfen und etwas Abschließendes sein sollte, so wenig vergaß er darüber den Künstler des Wortes und der Architektur des Ganzen, als den er sich nicht ohne Selbstbewusstsein empfand“ (S. XVI). Es könnte sich dabei auch um eine Charakteristik des eigenen Werkes handeln. 45 Die Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung und der soziale Rechtsstaat, DÖV 1966, S. 624 ff. (626); E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2004, S. 164 f. 46 Vgl. das Vorwort zur 1. Aufl. des Lehrbuchs, 1950, S. VII. Kritisch: A. Vosskuhle, Allgemeines Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, in: D. Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 935 ff. (959). 47 Trotz der von ihm selbst gerügten Unzulänglichkeiten spricht Forsthoff denn auch mit höchstem Respekt von Otto Mayers wissenschaftlicher Leistung: die ihm zu verdankende „rechtswissenschaftliche, d. h. von den Rechtsmodalitäten ausgehende Gliederung und Darstellung des Verwaltungsrechts ist der deutschen Wissenschaft zum bleibenden Besitz geworden“ (Lehrbuch, 10. Aufl., S. 52). 48 Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., S. 73 – s. a. die folgenden Seiten. 49 Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats (1953), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 65 ff. (70); s. a. E. Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959,
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Plan und Planung sind spezifische und keineswegs neue, im 20. Jahrhundert aber zu eminenter Bedeutung gelangte Vorgehensweisen zur Koordinierung staatlicher Tätigkeiten. Besondere Bedeutung als unverzichtbare Handlungsform der Verwaltung hat der Plan für das Raumordnungs-, später auch für das Umweltrecht gewonnen. Forsthoff hatte diese Entwicklung vermöge seiner Sensibilität für die rechtsstaatliche Formtypik staatlichen Handelns, in die sich der Plan nicht ohne Weiteres fügt, früh im Blick, wie die grundlegenden Studien seines Schülers und langjährigen Mitarbeiters Willi Blümel zeigen.50 Zusammen mit ihm erstattete Forsthoff dem Bundesminister des Innern 1969 das im folgenden Jahr veröffentlichte große Rechtsgutachten „Raumordnungsrecht und Fachplanungsrecht“, das nicht zuletzt das Ineinandergreifen beider Erscheinungsformen der Planung zum Gegenstand hat. Innerhalb des Abschnitts „Die Lehre vom Verwaltungshandeln“ fanden dann „Plan und Planung“, soweit es sich um den raumbezogenen Plan handelt, auch Eingang in die 10. Auflage des Lehrbuchs des Verwaltungsrechts.51 2. So unbestritten Forsthoffs Autorität auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts war – unbeschadet einzelner Streitpunkte wie F.s Festhalten an der Pflicht zur Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte52 –, so kontrovers wurden und werden seine verfassungsrechtlichen Positionen und seine „Realanalysen“ der Bundesrepublik Deutschland53 diskutiert. Forsthoff hatte nach dem Krieg für einen Staatsaufbau „von unten nach oben“, für eine Stärkung des genossenschaftlichen Elements54 und, um den Einfluss der Parteien zu begrenzen, für den Verzicht auf die direkte Wahl zentraler Parlamente geworben – in der (glücklicherweise irrigen, aber aus der Sicht der unmittelbaren Nachkriegszeit nachvollziehbaren) Annahme, dass Deutschland für lange Zeit keine Chance haben werde, wieder zu wirtschaftlichem Wohlstand
S. 54. – Zum „Scheitern der verwaltungsrechtlichen Systembildung“ und dessen Gründen: Meinel (Fn. 1), S. 148 ff., mit Nachw. 50 Vgl. die Nachweise bei Forsthoff, Lehrbuch, 10. Aufl., S. 302; v. a. aber W. Blümels Habilitationsschrift von 1967 „Die Planfeststellung. Zweiter Teil: Die Planfeststellung im geltenden Recht“, die erst 1994 als Nr. 140 der Speyerer Forschungsberichte gedruckt worden ist. Ferner: E. Forsthoff, Über Mittel und Wege moderner Planung, in: J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung III, 1968, S. 21 ff. 51 S. a. E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 115 f. 52 Vgl. Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., S. 262 ff. 53 Vgl. nur Ernst Forsthoff, Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse (1960), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 1 ff. 54 Hierzu stimmt die unter dem Gesichtspunkt der Bürgerbeteiligung positive Einschätzung der kommunalen Selbstverwaltung in Forsthoffs Vortrag „Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“ (1958), in: Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 111 ff.
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und politischer Bedeutung zu gelangen. So begegnete Forsthoff wie nicht wenige seiner Zunftgenossen dem Grundgesetz anfänglich mit Zurückhaltung. Seine Skepsis blieb. Aber in positiver Wendung konzentrierte er sich nun auf die Bewahrung des Rechtsstaats und die Sorge um die Staatlichkeit der Bundesrepublik55 – wie im Verwaltungsrecht in dem Bemühen, dem Staatsrecht und der Verfassungstheorie die der sozialen Wirklichkeit entsprechende Form zu geben.56 In beiderlei Hinsicht kam es zu z. T. heftigen Auseinandersetzungen mit der sich entwickelnden h. L. Forsthoffs Staats- und Verfassungslehre findet sich einer Vielzahl oft auf die konkrete Situation bezogener Studien,57 weshalb Ungereimtheiten nicht ausbleiben konnten.58 In seinem Spätwerk „Der Staat der Industriegesellschaft“59 hat F. viele seiner Überlegungen zusammengefasst. a) Forsthoffs primäre Sorge galt der Erhaltung der Normativität des Verfassungsrechts. Er stritt deshalb unbeirrbar gegen die „Entformalisierung der Verfassung“ durch eine materiale Verfassungsauslegung. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete der während der 50er Jahre ausgefochtene Streit um die verfassungsrechtliche Bedeutung des Sozialstaatsprinzips. Die Schärfe der Auseinandersetzung erklärt sich nicht zuletzt aus den in den Anfangsjahren der Bundesrepublik unternommenen Versuchen, die Verfassung des Grundgesetzes offen zu halten für die Etablierung einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.60 Dem ist die Staatsrechtslehre zwar in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht gefolgt. Sie pendelte sich jedoch auf einer Linie ein, die das Sozialstaatsprinzip als ein die Grundrechte modifizierendes Element verstand und dem Gesetzgeber damit insbesondere im Bereich des Eigentums weitgehende
55 Hinter der Sorge um den Staat stand die um die Staatsrechtswissenschaft, von der der Abbau der Staatlichkeit bereits Besitz ergriffen habe: Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik (1968), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 25 ff. (37). Zum Thema: J. Isensee, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 6 Rdnrn. 52 ff. (bes. 56), 57 ff. 56 Im Vergleich mit der modernen Verfassungstheorie rühmt Forsthoff Montesquieu wegen seines Bemühens, „die ganze Fülle der politischen Wirklichkeit, die mit dem Begriff Verfassung umschlossen wird, im Griff zu behalten, sie nicht einer formalen Systematik und Begriffsbildung zu opfern“ (Einleitung S. LII). 57 Die wichtigsten finden sich in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976. 58 Beispiele bei Häberle, ZSchweizR (Fn. 1), S. 483. 59 M. Bullinger, (Fn. 39), S. 404, berichtet von dem völlig zerlesenen Zustand des einzigen in der Freiburger Bibliothek des öffentlichen Rechts vorhandenen Exemplars dieses Buches. 60 Vgl. spät noch W. Abendroth, Das Grundgesetz, 1966, S. 68. – Die Kontroverse ist dokumentiert in dem von Forsthoff herausgegebenen Sammelband „Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit“, 1968.
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Gestaltungsmöglichkeiten einräumte.61 Es konnte also zumindest der Eindruck entstehen, als sollten der Rechtsstaat und seine individualrechtlichen Gewährleistungen zur Disposition einer sozialstaatlichen Umgestaltung stehen, wobei durchaus unklar war, was jenseits bestehender sozialer Sicherungssysteme unter Sozialstaat zu verstehen sei. Dem ist Forsthoff in seinem Referat auf der Bonner Staatsrechtslehrertagung 1953 mit großer Entschiedenheit entgegengetreten,62 wobei vor allem seine These „Sozialstaat und Rechtsstaat lassen sich auf der Verfassungsebene nicht verschmelzen“ auf Widerspruch stieß. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis hat Forsthoff allerdings damit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit nicht jede verfassungsrechtliche Bedeutung absprechen oder gar die Bedeutung des Sozialstaats leugnen wollen:63 Das Bekenntnis des Grundgesetzes zum Sozialstaat deutete er als eine an Gesetzgebung und Verwaltung gerichtete Staatszielbestimmung. Indes war Forsthoff nicht geneigt, den (unauflöslichen!) Widerspruch zwischen Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit durch Wohlfühlformeln zu verschleiern – was der Sozialstaat dem einen gibt, muss er zuvor einem anderen (und seien es spätere Generationen) genommen haben. Forsthoff wollte erreichen, dass Maßnahmen zur Verwirklichung des Sozialstaates sich an den rechtsstaatlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes messen lassen müssen,64 während die „Verschmelzung“ beider Verfassungsgrundsätze darauf zielte, den Rechtsstaat gegenüber unter dem Signum der Sozialstaatlichkeit daherkommenden Vorhaben gleichsam zu entwaffnen.65
61 Verfassungspolitisch bedeute dies, schrieb Forsthoff 1959, die Umdeutung der Grundrechte in wesentlich sozial determinierte Pflichtbindungen unter weitgehender Eliminierung ihres liberalen Gehalts: Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 130 ff (141). 62 Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff. = Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 65 ff. 63 Vgl. nur Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., 1073, S. 4. – Dazu W. Pauly, Verfassungs- und Verfassungsprozessrecht, in: D. Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 883 ff. (896). 64 Beispielhaft sei hingewiesen auf die von Forsthoff konsequent verfochtene Trennung zwischen eigentumsrechtlichem Bestandsschutz und sozialstaatlicher Umverteilung qua Besteuerung: Eigentumsschutz öffentlich-rechtlicher Rechtsstellungen, NJW 1955, S. 1250 ff.; s. a. Das politische Problem der Autorität, in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 14 ff. (18). 65 Forsthoff war sich überdies sicher, dass der Sozialstaat verfassungsrechtlicher Absicherung im Grunde gar nicht bedürfe, weil sich der moderne Staat der „sozialen Realisation“ schon um seiner Selbsterhaltung willen nicht entziehen könne. Auch darin hat ihm die Entwicklung über alle Erwartung hinaus Recht gegeben.
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In der Sache hatte Forsthoff weitgehend Erfolg. Im Sinne seiner Deutung des Sozialstaatsprinzips als Staatszielbestimmung erkennt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, das Sozialstaatsprinzip begründe Pflichten des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.66 Es sei nicht geeignet, „Grundrechte ohne nähere Konkretisierung durch den Gesetzgeber, also unmittelbar zu beschränken“. Genau darauf war es Forsthoff angekommen. Allerdings fügt das Gericht hinzu, dem Sozialstaatsprinzip könne Bedeutung zukommen „für die Auslegung von Grundrechten sowie für die Auslegung und verfassungsrechtliche Beurteilung von … grundrechtseinschränkenden Gesetzen“.67 Das dürfte dahin zu verstehen sein, dass sozialrelevante Gemeinwohlbelange geeignet sein können, Grundrechtseingriffe zu legitimieren, diese sich aber am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit messen lassen müssen. Das ist umso selbstverständlicher, als eine Reihe grundrechtlicher Gewährleistungen ausdrücklich sozialstaatlich motivierte Gesetzesvorbehalte enthalten. b) Über das Thema Sozialstaat weit hinaus haben Fragen der Verfassungsinterpretation besonders in den 1950er und 1960er Jahren die Staatsrechtslehre in sehr grundsätzlicher Weise beschäftigt.68 Das gilt zumal für Forsthoff.69 Er formulierte den zentralen Streitpunkt: „das Problem der Verfassungsinterpretation als Gesetzesinterpretation“.70 Im Gegensatz zu der von Forsthoff so bezeichneten, nach seiner Meinung zur Verunsicherung des Verfassungsrechts führenden „geisteswissenschaftlich-werthierarchischen“ postulierte er die Rückkehr zur „juristischen“ Methode. Um dieser Verunsicherung zu begegnen, beschrieb er den Rechtsstaat, bewusst provokativ, als „ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit“.71 Das Grundgesetz sei wie jedes Gesetz nach den klassisch von Savigny formulierten Regeln der juristischen Hermeneutik auszulegen.72 Davon ausgehend hat Forsthoff beharrlich vor allem die
66 BVerfGE 59, 231 (263); zuletzt BVerfGE 100, 271 (284). 67 BVerfGE 59, 231 (262 f.). 68 Vgl. nur die von R. Dreier und F. Schwegmann herausgegebene Aufsatzsammlung „Probleme der Verfassungsinterpretation“, 1976; ferner: E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation. Bestandsaufnahme und Kritik (1976), in: derselbe, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 53 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1. Band, 2. Aufl., 1984, S. 123 ff. 69 Vgl. vor allem die in Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, in Kap. V abgedruckten Beiträge. 70 R. Dreier (Fn. 67), S. 7, 15. 71 Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 152. Die Provokation, die auch in der Erstveröffentlichung in der Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff., lag, führte zu erbitterten Auseinandersetzungen in der deutschen Staatsrechtslehre. 72 Dazu: A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. (258 ff.); Böckenförde (Fn. 68), S. 56 ff. Die Vorstellung, Gesetzesauslegung sei ein wertungsfreier
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Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten kritisiert,73 deren „Umdeutung“ in ein „Wertesystem“ für ihn der „Auflösung klarer Begrifflichkeit im Gerede“ gleichkam.74 Forsthoff diagnostizierte die Ablösung des Rechtsstaats durch den Justizstaat, in dem das BVerfG sich als Gesetzgebung und Verwaltung übergeordnet betrachte. Es war unstreitig, dass Forsthoff damit wichtige Fragen gestellt hatte. Sie sind insbesondere in Ansehung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch allgemein für die Bindung des Richters an das Gesetz, von ungebrochener Aktualität.75 Auch hat das BVerfG Forsthoffs Warnungen vor einem Verständnis der Grundrechte als Wertsystem nicht überhört76 und damit der hohen Ideologieanfälligkeit der Grundrechtsdogmatik Rechnung zu tragen versucht. Es hat allerdings daran festgehalten, dass „das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente der objektiven Ordnung aufgerichtet hat“,77 und aus der objektiven Bedeutung der Grundrechte Schutzpflichten des Staates abgeleitet, die sich zu Leistungsansprüchen verdichten können.78 Ganz im Sinne Forsthoffs betrachtet das BVerfG die Verfassung als (mit einigen Beson-
Vorgang, lag Forsthoff durchaus fern. In der Ansprache anlässlich des ihm von Heidelberger Studenten am 19.01.1967 dargebrachten Fackelzugs bemerkte er, nicht die Norm sei das letzte Wort des Juristen: „Dieses letzte Wort fällt im Normvollzug, von dem wir wissen, dass er ein komplexer Vorgang ist. Es wird von der subjektiven Instanz des verantwortlichen Gewissens gesprochen.“ – zitiert nach E.-W. Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2. Aufl., 2011, S. 46 Fn. 88. 73 S. dazu den Brief Forsthoffs an Carl Schmitt vom 05.06.1958 (Briefwechsel [Fn. 1] Nr. 105). Schon in der Diskussion über seinen Staatsrechtslehrervortrag hatte Forsthoff einen Zusammenhang hergestellt zwischen den Versuchen, der Sozialstaatsklausel einen selbständigen normativen Charakter zuzuschreiben, und der Gefahr, den Boden exakter Verfassungsexegese zu verlassen: VVDStRL 12 (1954), S. 128. 74 Der Staat der Industriegesellschaft, 1972, S. 69. 75 Vgl. nur BVerfGE 128, 193 (209 ff.). – Zur Funktionsbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit: H. H. Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur. Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat, in: P. Kirchhof u. a. (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. Festschrift für F. Klein, 1994, S. 511 ff., auch in: Das Parlament im Verfassungsstaat (Fn. 1), S. 409 ff., mit Nachw. – Das BVerfG ist sich des Problems bewusst: BVerfGE 95, 1 (15), was Grenzüberschreitungen, wie sie ihm gelegentlich vorgeworfen werden, naturgemäß nicht ausschließt. 76 Vgl. nur BVerfGE 50, 290 (337 f.). – Zum Problem: H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, 1993; U. Di Fabio, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, 2006, § 46. 77 BVerfGE 73, 261 (Leitsatz). 78 BVerfGE 35, 79 (114); 96, 56 (64). – Dazu: H. H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVBl 1994, S. 489 ff., auch in: Das Parlament im Verfassungsstaat (Fn. 1), S. 179 ff.
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derheiten ausgestattetes) Gesetz mit konkreten Regelungsgehalten, die nicht beliebiger Geltungsfortbildung zugänglich sind. Versucht man, Bilanz zu ziehen, ist festzustellen: Mit seinem Versuch, die Verfassungsauslegung vollständig an den überkommenen Canon juristischer Auslegungsregeln zurückzubinden, ist Forsthoff gescheitert – nicht zuletzt, weil auch sie, schon im Blick auf die historische und teleologische Interpretation, aber auch in Ermangelung einer anerkannten Rangfolge der verschiedenen Auslegungsmethoden,79 Sicherheit und Berechenbarkeit richterlicher Entscheidungsfindung nicht zu garantieren vermögen. Auch ist nicht ohne Grund bemerkt worden, dass Forsthoffs eigene Methode der Verfassungsauslegung, abgesehen von der pauschalen Bezugnahme auf die „klassischen“ Auslegungsregeln,80 keine deutlichen Konturen zeigt.81 Forsthoffs Befürchtung, dass eine materiale Verfassungsauslegung einen Abbau der Normativität der Verfassung bewirken werde, ist zwar nicht unberechtigt. Indessen vermag die Interpretation von Texten vermittels welcher Methode auch immer niemals Ergebnisse mit der Sicherheit des syllogistischen Schlusses zu liefern, da ihr stets ein wertendes Moment innewohnt. Eine mit dem Anspruch der Gemeinverbindlichkeit auftretende Methodenlehre hat das BVerfG nicht entwickelt – es konnte und durfte das auch nicht, da es „die Kompetenz jeder Gerichtsbarkeit (übersteigt), ins Abstrakte gewendete Fragen dieser Art endgültig zu beantworten“.82 Mit Recht hat sich also das Gericht bei der Auslegung von Verfassungsnormen eine gewisse Flexibilität bewahrt, sich aber andererseits der „disziplinierenden und rationalisierenden Funktion“83 der allgemein anerkannten Auslegungsregeln auch nicht entzogen. Vor allem aber hat Forsthoff bei der Beurteilung der Verfassungsgerichtsbarkeit geirrt. Die ihr im Verfassungsstaat zukommende Rolle – „der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu dienen“84 –, die Funktion des BVerfG als Gericht und Verfassungsorgan (§ 1 Abs. 1 BVerfGG), ist ihm fremd geblieben.85
79 Dazu Dreier (Fn. 68), S. 23 ff. 80 Vgl. Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung (1961), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 153 ff. (173). 81 Von einer „uneingeholten offenen Flanke“ von Forsthoffs Position spricht Böckenförde (Fn. 68), S. 60. 82 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, 1. Band, S. 333 ff. (336). 83 Lerche (Fn. 82), S. 357. 84 BVerfGE 62, 1 (45). 85 „Aber wer wird schon Richter in Karlsruhe!“, schrieb Forsthoff am 24.06.1971 an Carl Schmitt (Briefwechsel [Fn. 1] Nr. 326). Der Verfasser dieser Zeilen hat sich oft gefragt, was Ernst Forsthoff,
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c) Mit seinem 1971 erschienenen Buch „Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland“ hat Forsthoff weit über das eigene Fach hinaus und bis in die Gegenwart Aufsehen erregt.86 Sein Gegenstand ist die „Erinnerung an den Staat“, wie die doppelsinnige Überschrift des ersten Kapitels des Buches lautet. Forsthoff wandte sich dezidiert gegen Bestrebungen, den Staat in der Verfassung (und die Staatsrechtswissenschaft in der Verfassungsrechtswissenschaft) aufgehen zu lassen.87 Dem Staat obliegt der Schutz der Freiheit seiner Bürger, um „zu verhindern, dass sich aus der gesellschaftlichen Ungleichheit neue privilegierte Rechtsklassen entwickeln“, wie Forsthoff in Anlehnung an Lorenz von Stein formuliert. Das ist der Kern der freiheitsstiftenden rechtsstaatlichen Verfassung, die in diesem Sinne die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft voraussetzt.88 Nur ein nicht von den gesellschaftlichen Kräften beherrschter, sondern sie dominierender Staat, ausgestattet mit eigener, aus der Zustimmung der Staatsgenossen fließender Autorität, kann diesen Schutz bewirken. Forsthoff befürchtet, dass das „Konkret-Allgemeine … keine organisierte Instanz mehr hat, die stark genug ist, dieses Konkret-Allgemeine zu seiner Sache zu machen und wirksam zu vertreten“.89 Denn der Staat trete heute der individuellen Freiheit „nicht mehr als geistig-politische Potenz mit anerkannter Autorität gegenüber, sondern als ein legislatives und administratives Gemeinwesen, das zu seinen Zwecken kommen will“.90 Dass der Staat zur „Funktion der Gesellschaft“ geworden ist,91 bedeutet aus Forsthoffs Sicht aber nicht, dass er instabil ist.
hätte er es noch erlebt, gesagt hätte, als im Dezember 1983 einer seiner wichtigsten Gesprächspartner (Ernst-Wolfgang Böckenförde) und einer seiner Schüler (der Verfasser) zu Richtern des BVerfG ernannt wurden. 86 Vgl. nur A. Gehlen, Wie stark darf der Staat sein?, DIE WELT Nr. 49 vom 27.02.1971; M. Otto, Die Situation ist da, FAZ Nr. 291 vom 14.12.2005, S. 37. 87 Dazu: E. Forsthoff, Einleitung, S. 9, in: ders., Lorenz von Stein, 1972. 88 Dazu Forsthoff (wie Fn. 87), S. 18, 19 f. Aus heutiger Sicht vgl. nur: H. H. Rupp, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2. Band, 2004, § 31; ferner: K.-H. Ladeur, in: Verfassungstheorie (Fn. 45), § 18 Rdnr. 49: Staat als Moderator der „Gesellschaft der Netzwerke“, s. a. Rdnr. 51 mit Fn. 199 zu F. 89 Der Staat der Industriegesellschaft, S. 30. 90 Von der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft (1968), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 188 ff. (191); s. a. Der Staat der Industriegesellschaft, S. 51 ff. – „Der Staat hat den Raum einer objektiv geistigen Staatlichkeit verloren“: Haben wir zuviel oder zuwenig Staat? (1955), in: Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 63 ff. (73). In seiner Besprechung von Forsthoffs Buch bemerkt W. von Simson, die Bundesrepublik habe etwas verloren, das anderen Staaten erhalten blieb, „den Glauben an eine im Staat bewahrte unbedingt zu erhaltende Lebensform“ – Der Staat 11 (1972), S. 51 ff. (58). 91 Der Jurist in der industriellen Gesellschaft (1960), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 232 ff. (239).
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Allerdings verdanke er seine Stabilität einerseits der von ihm bewirkten sozialen Umverteilung, andererseits den Leistungen, die die Industriegesellschaft für das soziale Ganze erbringt: Vollbeschäftigung und wachsender Wohlstand (wodurch sie mittelbar auch die Umverteilungsmacht des Staates allererst ermöglicht). Der Staat stelle dafür nur die Rahmenbedingungen bereit, ihm bleibe – mit einem erst später gebräuchlich gewordenen Begriff – die Gewährleistungsverantwortung. Mithin drohe ihm Gefahr, wenn dieses Zusammenspiel nicht mehr funktioniere. Eine weitere Herausforderung des Staates der Gegenwart sah Forsthoff in der „technischen Realisation“, in der Bedrohung also durch die nicht primär auf die Befriedigung vorhandener, sondern von ihr selbst erzeugter Bedürfnisse gerichtete Technik: „der technische Prozess produziert sich um seiner selbst willen.“92 Der Staat habe drei Möglichkeiten, sich auf die Technik einzulassen. Sich mit ihr zu identifizieren, sie für seine Zwecke zu instrumentalisieren; das bedeute die prinzipielle Negation der individuellen Freiheit (Beispiel: die bolschewistischen Staaten). Oder aber er lasse der Technik und ihrer Indifferenz gegenüber allem Humanen freien Lauf. Drittens könne der Staat den Rahmen bestimmen, innerhalb dessen die technische Realisation vonstatten geht. Forsthoff denkt an Gefährdungen der Umwelt und daran, dass die Technik „möglicherweise in absehbarer Zukunft nach den Ergebnissen der genetischen Forschung den Menschen selbst verändert“.93 Daran müsse sich der Staat bewähren, und dazu bedürfe er, weil die Technik selbst ein Machtphänomen sei, „selbst der gleichen, wenn nicht einer überlegenen Macht“, was keineswegs bedeute, dass er aufhöre, ein Rechtsstaat zu sein.94 Forsthoff sorgte sich um Freiheit und Humanität, denn er zweifelte an der Fähigkeit des bundesdeutschen Staates, der technischen Realisation95 Grenzen zu ziehen, das „Konkret-Allgemeine“ gegenüber den „Großstrukturen“ der Industriegesellschaft durchzusetzen. Der Staat, der seine Stabilität der Industriegesellschaft verdanke, könne ihr gegenüber keine Herrschaftsfunktionen ausüben.96 Hier hoffte Forsthoff auf große regionale Einheiten und globale Kooperation.
92 Der Staat der Industriegesellschaft, S. 41. 93 Ebenda, S. 45 f. 94 Ebenda, S. 46 f. 95 Interessante Deutung des Begriffes der (sozialen resp. technischen) „Realisation“ bei Meinel (Fn. 1), S. 462 ff. 96 Sinnfällig zeigte sich dies für F. am Rückgang der Bedeutung des Juristen in der öffentlichen Verwaltung, wo er zunehmend und wegen der wachsenden Angewiesenheit der Verwaltung auf spezifisches Fachwissen durch den Experten ersetzt werde. Dessen Wissen aber „ist kein anderes als dasjenige, das in entsprechenden Stellungen der Wirtschaft benötigt wird“. Deshalb verliere die Verwaltung „die führende Stellung, die sie gegenüber der Gesellschaft hatte“ und die auf
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Forsthoff vermied bündige Antworten. Fertige Lösungen hatte er nicht parat. Er diagnostizierte mit ungewöhnlichem Scharfblick97 Probleme moderner (Rechts-)Staatlichkeit. An ihrer fortdauernden Aktualität ist kein Zweifel, ob es sich um das Aushandeln von Gesetzen oder gesetzesvertretende Absprachen etwa in der Energie- oder Gesundheitspolitik handelt, die Krise des Verteilungsstaates bei schrumpfendem Sozialprodukt und ins Unermessliche wachsender Staatsverschuldung, den kaum noch beherrschbaren Lobbyismus von Interessengruppen, die Ohnmacht der Staaten gegenüber den Finanzmärkten oder der Veränderung des Klimas, das Ringen des Staates um die Durchsetzung ethischer Maßstäbe in der Gentechnik, aber auch um den Versuch, durch supranationale Organisationen und internationale Zusammenarbeit Gestaltungsmacht gegenüber technischen und ökonomischen Realisationen98 zurückzugewinnen. Forsthoffs Fragen nach der Veränderung des demokratischen Verfassungsstaates unter den Bedingungen der Industriegesellschaft harren auch 40 Jahre nach dem Erscheinen seines Buches noch immer einer Antwort.
IV. Schluss Ernst Forsthoff war ein Konservativer – obschon er dem Konservativismus, wie er in der Bundesrepublik verstanden wurde (und erst recht heute verstanden wird) durchaus fernstand. Konservativ war sein Eintreten für den Staat als den gegenüber den partikularen Kräften der Gesellschaft selbständigen und von ihnen unabhängigen, mit eigener Würde und Autorität ausgestatteten und eben dadurch zum Schutz der Freiheit des einzelnen befähigten Hüter des Gemeinwohls und
ihrer Distanz zur Gesellschaft beruhte: Der Staat der Industriegesellschaft, S. 105 ff. (Zitate S. 112, 113). S. a. die Aufsätze „Der lästige Jurist“ (1955) und „Der Jurist in der industriellen Gesellschaft“ (1960), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 227 ff., 232 ff. 97 Ein Beispiel: 1948 (!) schrieb F. im „Pressedienst für undoktrinäre Politik“: „die Aktivierung der Technik, insbesondere der modernen Kommunikationsmittel, (ist) in den modernen Herrschaftsformen eine Tatsache von außerordentlicher Wichtigkeit für die Verfassunggebung. … Mit der Ausdehnung dieser technischen Mittel vervielfacht sich ihre politische Ambivalenz. An sich sehr wohl dazu geeignet, eine echte unmittelbare Verbindung zwischen Regierenden und Regierten herzustellen, werden sie zu Mitteln der Täuschung und zur Aufrichtung unwahrhaftiger propagandistisch-politischer Räume. Die Entwurzelung des Menschen in der Vermassung, seine Kritiklosigkeit und seine emotionale Reizsamkeit führen dazu, dass er allen möglichen Täuschungen … zum Opfer fällt …“ – zit. nach Meinel (Fn. 1), S. 330. 98 Von ökonomischer Realisation spricht M. Herdegen, in: Blümel (Fn. 1), S. 41 ff. (51), in Bezug auf die Wirtschafts- und Währungspolitik, die den Staat als Regelungsinstanz herausfordere.
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für das Berufsbeamtentum als Verkörperung dieses Gedankens. Die Entwicklung, die die Bundesrepublik unter seinen Augen nahm, reflektierte er im Wesentlichen als eine Erscheinung des Verfalls. Indes: gerade diesem außerhalb des allgemeinen und mitunter selbstzufriedenen Konsenses über das geglückte Experiment der zweiten deutschen Demokratie belegenen Standpunkt verdanken die damals noch junge Republik und nicht minder das Deutschland von heute scharfsichtige Analysen ihrer Schwächen. Dabei hat – nach dem Urteil Roman Herzogs99 – Forsthoff „und keiner mehr als er – gesehen, wie sehr sich die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen seit der Entstehung des Begriffspaares ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ geändert haben.“ Denn Forsthoff war weit davon entfernt, sich ein Bild der Wirklichkeit zurecht zu zimmern, das der Realität nicht standhielt. Im Gegenteil: im Verwaltungs- wie im Verfassungsrecht wurde er nicht müde, die Hereinnahme der mit nüchternem Blick wahrgenommenen (und manchmal in provozierender Absicht polemisch überzeichneten) Wirklichkeit in die Rechtswissenschaft einzufordern. Im Gespräch, hier in bescheidener Zurückhaltung, wie in seinen Schriften, hier in eindrucksvoller Breite und Tiefe, entfaltete sich Forsthoffs weit über das Fach hinausgreifende historische, literarische und philosophische Bildung. Auf dieser Grundlage ruhten die Gelassenheit, mit der er den zahllosen Anfeindungen begegnete, denen er vor wie nach 1945 ausgesetzt war, seine innere Unabhängigkeit und die Unbeugsamkeit, die – seinen Gegnern ein Ärgernis, seinen Freunden und Schülern ein Vorbild – ebenso kennzeichnend für ihn waren wie die vielfach bezeugte, durch nichts zu erschütternde Vornehmheit seines Charakters.100
Auswahlbibliographie Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat. Eine Untersuchung über die Bedeutung der institutionellen Garantie in den Artikeln 127 und 137 der Weimarer Verfassung, 1931. Der totale Staat, 1933; 2. veränderte Aufl. 1934. Das neue Gesicht der Verwaltung und die Verwaltungsrechtswissenschaft, Deutsches Recht 1935, S. 331–333. Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938. Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1940; 2. veränderte Aufl. 1961; 3. unveränd. Aufl. 1967. Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, 1940.
99 (Fn. 1), S. XXVII. 100 S. nochmals Herzog (Fn. 1), S. XXIII; ferner: Doehring, in: Blümel (Fn. 1), S. 16 ff. („Ernst Forsthoff als Freund“).
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Grenzen des Rechts, 1941. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. In neuer Übertragung eingeleitet und herausgegeben von Ernst Forsthoff, 2 Bände, 1951. Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Band: Allgemeiner Teil, 1950; die 10. und letzte Aufl. erschien 1973. Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950 bis 1964, 1964; 2. veränderte Aufl. 1976. Der Staat der Industriegesellschaft, 1971. Ausführliche bibliographische Angaben in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 2. Aufl., 1974, S. 495 ff., und bei Meinel (Fn. 1), S. 498 ff.
XXXIX Arnold Köttgen (1902–1967) Peter Badura
I. Werdegang und akademisches Wirken Arnold Köttgen wurde am 22. September 1902 in Bonn geboren. Nach dem Studium in Marburg, Graz, München und Jena, Beschäftigungen als Regierungsreferendar und Regierungsassessor sowie als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beim Deutschen Landkreistag habilitierte sich Köttgen (Dr. iur. 1924, Jena) 1928 in Jena für Öffentliches Recht. Die Habilitationsschrift „Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie“ widmete er seinem Lehrer Otto Koellreutter.1 1931 wurde der Privatdozent als ordentlicher Professor an die Universität Greifswald berufen, wo er bis 1943 tätig war. Köttgen war 1943 bis 1945 beim Regierungspräsidenten in Kattowitz (O. S.) dienstverpflichtet, konnte jedoch daneben eine akademische Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor in der Wirtschaftshochschule Berlin ausüben. Nach dreijähriger russicher Lagerhaft nahm Köttgen zunächst 1948/49 eine Gastprofessur in der Universität Köln wahr, um dann als Generalreferent für Verfassungsrecht in das Bundesministerium des Innern berufen zu werden. Köttgen wurde 1951 ordentlicher Professor in der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und gehörte dann seit November 1952 als Nachfolger von Rudolf Smend der Juristischen Fakultät der Friedrich-August-Universität Göttingen an. Nach langer und schwerer Krankheit für wenige Monate auf den Katheder und an den Schreibtisch zurückgekehrt ist Arnold Köttgen am 10. Februar 1967 gestorben.
II. Demokratie und Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts Der Umbruch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zufolge des Weltkrieges, des Sturzes der Monarchie und des Übergangs zur Demokratie gab Köttgen für die Zeit der Weimarer Republik und auch noch nach 1945 eine
1 A. Köttgen, Otto Koellreutter zum 70. Geburtstag, DÖV 1953, 760.
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wesentliche Perspektive für die Erfassung und Formulierung der Grundfragen des Staats- und Verwaltungsrechts. Die konstitutionelle Monarchie hatte den Dualismus zwischen der durch die Krone repräsentierten Staatlichkeit traditioneller Prägung und der durch Verein, Gemeinde und Volksvertretung repräsentierten Gesellschaft mit besonderer Prägnanz zur Darstellung gebracht. Der Fortfall der für die Monarchie charakteristischen Konstruktion von Staat und Gesellschaft veränderte die Stellung der Gemeinden, die – als politischer Integrationsfaktor gedacht – eine betonte Sonderstellung eingenommen hatten; sie verstanden sich, wie Köttgen es sah, weder als Teil der Staatsverwaltung, noch als rein gesellschaftliche Institution. Noch deutlicher wandelte sich die Stellung des Berufsbeamtentums und das Amt des Beamten mit der „Absage an die Idee des staatstragenden Standes“, die seit 1919 der „immanenten Logik einer demokratischen Republik“ entsprach.2 Die neue Reichsverfassung verhieß programmatisch den „gesellschaftlichen Fortschritt“, der nur auf Kosten gesellschaftlicher Autonomie zu denken war und der notwendig die „zentripetale Dynamik eines sozialen Verwaltungsstaates“ auslöste und hinter der sich die ganze Problematik des dann in Art. 20 GG ausdrücklich anerkannten „sozialen Bundesstaates“ verbarg. „Seitdem sich die neue Reichsverfassung von 1919 in ihrer Präambel ausdrücklich zum Staatsziel der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts bekannte, sind Wirtschaft und Gesellschaft mehr und mehr in existentielle Abhängigkeit von einer Verwaltung geraten, deren Verantwortung sich seitdem nicht mehr in ihren traditionellen Ordnungsfunktionen erschöpft“.3 Das Gesetz dient immer häufiger nur zur Einkleidung administrativer Aktionsprogramme des Sozialstaates. Staats- und Verwaltungsrecht erscheinen in den konzentrierten und das Detail nicht scheuenden Abhandlungen Arnold Köttgen stets eingefügt in das Kontinuum der Staatspraxis und der Verwaltungswirklichkeit. Sein juristisches Denken war sich in ganz ungewöhnlichem Maße der gesellschaftlichen und politischen Realien bewusst, die Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung bestimmen und auf die das staatliche Wirken Einfluß nimmt. Dabei verließ die interdisziplinäre Vergewisserung nicht die Eigengesetzlichkeit juristischer Methode und Begrifflichkeit. Das in der Zeit fortschreitender Rechtszerstörung geschriebene Lehrbuch „Deutsche Verwaltung“ (1936, 2. Aufl., 1937, 3. Aufl., 1944), mit der Arnold Köttgen einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung des verwaltungsrechtlichen Positivismus geleistet hat, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Das Buch folgte der Umbenennung der Vorlesung „Verwaltungsrecht“ in „Verwal-
2 Struktur und politische Funktion öffentlicher Verwaltung, S. 783. 3 Ebd., S. 772; Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, S. 34.
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tung“ durch die Eckhardsche Studienreform.4 Es kann als „einer der letzten Versuche“ bezeichnet werden, „Rationalität und Gesetzesbindung der Verwaltung, das Verwaltungsrecht als ‚Ordnungssystem‘ gegen das Chaos regelloser Machtausübung zu verteidigen“. So gesehen ist das Buch der „qualitativ wohl bedeutendste Beitrag zur verwaltungsrechtlichen Lehrbuchliteratur während des Nationalsozialismus“.5 Die Überprüfung des Existenzrechts und der Wandlungen überlieferter Institutionen gegenüber veränderten politischen Strukturen und das damit zusammenhängende Thema des Wandels staatlicher Funktionen im intervenierenden Wirtschaftslenkungs- und Sozialstaat der Gegenwart sind für das Erkenntnisinteresse und den wissenschaftlicher Zugriff Köttgens charakteristisch.6 Seinem realitätsbezogenen und kritischen Blick, der sich auch bei den eigenen Ergebnissen nicht beruhigte und sich von dogmatischen Einseitigkeiten freihielt, mussten gerade solche Erscheinungen auffallen, die durch den Fortgang und die Umbrüche des sozialen und politischen Lebens besonders betroffen wurden oder in einen krisenhaften Zustand gegenüber dem Gestaltungswillen gesellschaftlicher und politischer Kräfte verfielen. Von Anbeginn und bis zuletzt war die Arbeit Köttgens dem Berufsbeamtentum, dem bundesstaatlichen Aufbau, der kommunalen Selbstverwaltung und der Freiheit der Wissenschaft in der Universität zugewandt. Das „Bleibende und Unveräußerliche der deutschen Universität“ wird „in einer lebendigen Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Kräftebildungen der industriellen Massengesellschaft“ herausgekehrt.7
III. Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie Die Habilitationsschrift Köttgens von 1928 deckt in Art. 130 WRV einen inneren Widerspruch dahingehend auf, dass dort der Beamte im demokratischen Staat in erster Linie als Staatsbürger mit politischer Freiheit erscheint und erst dann als Staatsdiener. „So wird man auch die Deutsche Reichsverfassung nicht von dem Vorwurf freisprechen können, dass sie bei ihren sich mit der Beamten befassen-
4 V. Götz, Arnold Köttgen, S. 346, 348 f. 5 M. Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre im Nationalsozialismus, S. 720 f. 6 W. Weber, Gedenkrede, in: In memorian Arnold Köttgen, S. 16. 7 Ders., S. 18.
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den Bestimmungen weniger die staatliche Seite dieses Fragenkomplexes betont hat, als die berufsständische der Beamtenschaft, deren individuelle Sphäre man mit den in der Verfassung gegebenen Garantien schützen wollte. Demgegenüber ist gerade in der Gegenwart mit Rücksicht auf das stark geschwächte Staatsgefühl der Hinweis unumgänglich, dass der Schwerpunkt in allen diesen Fragen stets bei dem Staat und niemals bei den Beamten liegen kann, dass lediglich staatliche Interessen den Ausschlag geben“.8 Die Demokratie gibt ihrer allgemeingültigen Staatsidee nach dem Staat eine neue gesellschaftliche Grundlage; sie schafft eine organische Verbindung von Staat und Volk. Damit ist auch „das Band gegeben, das Beamtentum und Staat aneinander zu knüpfen berufen ist“. Vor diesem Hintergrund betont Köttgen die Notwendigkeit einer „parteipolitischen Neutralisierung des Beamtentums“.9 Art. 33 Abs. 5 GG liegt auf der Linie von Köttgens damaligen Vorstellungen, indem die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ durch die Gesetzgebung zu berücksichtigen sind, nicht aber die „Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte“ der Beamten gewährleistet wird, wie in Art. 129 Abs. 4 Satz 1 WRV. In seinem Lehrbuch beharrte Köttgen darauf, dass sich die Existenz des Beamtenrechts „allein von den besonderen Notwendigkeiten her“ versteht, „die bei der Bewältigung bestimmter öffentlicher Aufgaben bestehen“. „Der tiefere Sinn des Beamtentums als tragender Verfassungseinrichtung des modernen Staates erschließt sich nicht vom Beamten, sondern allein vom Amt her“.10 Nach dem Krieg hat Köttgen sich ausführlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 58) zu Art. 131 GG und dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen vom 11. Mai 1951 (BGBl. I S. 307) auseinandergesetzt, dessen leitende Rechtsauffassung dahin geht, dass alle Beamtenverhältnisse am 8. Mai 1945 erloschen sind. Er hält den Gründen des Urteils entgegen, dass sie den irrigen Eindruck erweckten, speziell die Staatsämter in Justiz und Verwaltung seien substantiell nationalsozialistisch gewesen, und dass das Beamtenrecht und die auf ihm beruhenden Beamtenverhältnisse „isoliert“ beurteilt worden seien. „Die Devastierung des rechtsstaatlichen Beamtenverhältnisses war … sicherlich kein singuläres Phänomen.“ Der Beamte teilte der Idee nach das allgemeine Schicksal, woran eine nachträgliche juristische Würdigung der Vorgänge von 1933 und 1945 nicht ganz werde vorbeigehen können.
8 Berufsbeamtentum, S. 4. 9 Ebd., S. 73, 86, 112. 10 Deutsche Verwaltung, 2. Aufl., 1937, S. 124; 3. Aufl., 1944, S. 107.
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IV. Der soziale Bundesstaat In seinem umgreifenden Bericht über den Einfluss des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung in der 2. und 3. Legislaturperiode des Bundestages behandelt Köttgen die Entwicklung der Bundesrepublik unter den Vorzeichen eines Verwaltungsstaates.11 Angesichts der Realitäten eines akzentuierten Industriestaates ist der Sozialstaat seinem Wesen nach Interventionsstaat, auch wenn der soziale Rechtsstaat die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung keinesfalls vorbehaltlos zur Disposition demokratischer Willensbildung gestellt hat. Dieses Faktum wurde zwangsläufig zum „Schrittmacher das Zentralstaates“, dem die sachlogische Priorität auf den seit 1919 vorrangig gewordenen Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik ernsthaft nicht zu bestreiten ist, auch wenn das Grundgesetz dem Bundesgesetzgeber eine sozialpolitische Blankovollmacht schuldig geblieben ist. „Die Realisierung der Programme eines um Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts bemühten Verwaltungsstaates ist aus sachlogischen Gründen vornehmlich eine Aufgabe des Zentralstaates“.12 Dieser Entwicklung korrespondiert in Antithese zum politischen Föderalismus der „gesellschaftliche Unitarismus“ mit der Konsequenz, dass Länder und Gemeinden durch einen evidenten Konzentrationsprozeß der Gesellschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Köttgen findet dann jedoch in den Parteien und deren politischem Mandat das Potential für die Garantie eines „staatlichen Minimums“: Nach Lage der Dinge könnten die Verantwortung für das Gemeinwohl und damit für den Staat nur die Parteien tragen.13
V. Die kommunale Selbstverwaltung und der Gesetzgeber „Unter den Arbeiten Arnold Köttgens nehmen diejenigen zum Kommunalrecht und den Kommunalwissenschaften einen hervorragenden und wohl sogar den ersten Platz ein“.14 Das Verhältnis der Gemeinden zu der Verwaltung ist
11 Bericht, 1962, S. 183–206. 12 Sozialer Bundesstaat, 1960; Bericht aaO., S. 182, 187. 13 Innerstaatliche Gliederung und moderne Gesellschaftsordnung, 1861, S. 81 f. (unter Bezugnahme auf Johannes Heckel, 1927), 93 f. 14 Vorwort (W. Weber und H. Herzfeld) in: Kommunale Selbstverwaltung zwischen Krise und Reform, 1968.
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„jedenfalls für die Juristen“ – so Köttgen – „nicht nur eine wissenschaftsinterne Methodenfrage“.15 Schon für die Weimarer Zeit wird die Frage aufgeworfen, ob die Selbstverwaltung angesichts des gesamtgesellschaftlichen Durchdrigungswillens und –potentials der Demokratie vor zentralistischen Tendenzen auf Dauer wirksam gesichert werden kann, und dann entschieden dahin beantwortet, dass von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen Demokratie und Selbstverwaltung keinerlei Raum sein könne, und wird dazu auf die besondere Aufgabe hingewiesen, die eine gebietskörperschaftliche Selbstverwaltung gerade im demokratischen Staat zu erfüllen hat. Nicht die Demokratie, wohl aber der Parteienstaat müsse als ein Gegensatz zu jeder Selbstverwaltung stehend angesehen werden.16 Das letztgenannte Urteil wird für das Grundgesetz in ganzer Schärfe nicht gelten können; nach dem Kriege und unter dem Grundgesetz hat Köttgen unter Bezugnahme auf Art. 21 GG das politische Mandat der Parteien sogar lebhaft unterstrichen. Köttgen legt den wesentlichen Unterschied der kommunalen Selbstverwaltung gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung der Körperschaften betonter Sachstruktur zugrunde und versteht die Gemeindeverwaltung, unbeschadet einer gewiß nicht fehlenden Sachverantwortung, als „politische Verwaltung“: Die Gemeinde ist, dem Staat in dieser Hinsicht gleichartig, ein politisches Gemeinwesen; Kommunalpolitik ist somit kein strukturelles aliud gegenüber der staatlichen Innenpolitik.17 Daraus ergeben sich wesentliche Konsequenzen für Art und Zuschnitt der kommunalen Autonomie und für das nur in beschränktem Umfang mögliche Maß verantwortlicher Mitarbeit ihrer Bürger. Denn der Gesetzgeber beansprucht auf vielen Gebieten ein kaum noch verhülltes Entscheidungsmonopol. Im sozialen Staat haben Gemeinde und Staat den gleichen politischen Auftrag zur Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts. Hier, wie im ganzen, bestimmt im wesentlichen der Gesetzgeber, der die „Schlüsselfigur des Verwaltungsstaates“ ist, das Verhältnis von Staat und Gemeinde. Das Gesetz besitzt gegenüber der Gemeinde nicht lediglich die Vollmacht zur Schrankenziehung. Es bildet vielmehr die Grundlage ihrer Existenz.18
15 A. Köttgen, Die Gemeinde als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, ArchKommWiss. 1962, S. 3. 16 Krise der kommunalen Selbstverwaltung, 1931, S. 36, 46, 50. 17 Wesen und Rechtsformen der Gemeinden und Gemeindeverbände, 1956, S. 194; Sicherung der gemeindlichen Selbstverwaltung, 1960. 18 Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, 1957, S. 27, 35 f
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VI. Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität Unter entschiedener Hervorhebung des objektiven Gewährleistungsgehalts des Grundrechts (Art. 5 Abs. 3 GG) sieht Arnold Köttgen den vom Staat zu achtenden und zu schützenden Kern der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre in der Eigengesetzlichkeit der insbesondere in der Universität verkörperten Wissenschaft, an der Lehrende und Studenten mit pflichtgebundenen Rechten als Inhaber eines besonderen akademischen Status teilhaben. Der Universität ist eine „Autonomie des ihr speziell anvertrauten Sachgebietes“ eigen. Der Dezisionismus des modernen Verwaltungsstaates besitzt legitime Gestaltungsvollmacht weder für Forschung und Lehre selbst, noch für das Zentrum der ihnen zugeordneten Universitätsverfassung. „Nicht die Subjektivität des einzelnen Professors oder Studenten, sondern das objektiv gegebene Gesetz der Wissenschaft bildet die Mitte dieser somit nur institutionell zu verstehenden akademischen Freiheit.“ Nicht das wissenschaftlich interessierte Individuum, sondern die „‚Sache’ der Wissenschaft“ bildet den Gegenstand besonderer verfassungsrechtlicher Garantierung. Das Grundrecht wendet sich gegen die Instrumentalisierung der Wissenschaft durch außerhalb ihres Gegenstandes liegende politische Belange und gesellschaftliche oder wirtschaftliche Interessen. Die Freiheit der Wissenschaft ist nicht eine „Frage sozialer efficiency, sondern der Bildung“. Die Lehrfreiheit im besonderen ist demzufolge nicht ein Unterfall der Meinungsfreiheit.19 Köttgen wendet sich gegen eine Umwandlung wissenschaftlicher Lehre in berufsorientierte Ausbildung und gegen ihre pragmatische Segmentierung in spezialisierte Fachdisziplinen und insgesamt gegen einen grundsätzlichen Verzicht auf den durch die Einheit von Forschung und Lehre gekennzeichneten Hochschultypus. Die institutionelle Garantie fordert „nicht mehr, aber auch nicht weniger“ als die Adäquatheit des institutionellen Rahmens für eigenständige Forschung und Lehre. Köttgen negiert nicht den Wandel der sozialpolitischen Gegebenheiten und das Mandat auch der Universität als „Ausbildungsstätte“ (siehe Art. 12 Abs. 1 GG). Er beharrt aber darauf, dass die Universität den an sie vielfältig herangetragenen Ausbildungsinteressen „nur über das Medium wissenschaftlicher Lehre“ dienen kann.20 Köttgen will nicht „ein Apologet des Hergebrachten“ sein; er ist bestrebt, den Sinn und die Wirkung der auf Wahrung einer von der
19 Die Freiheit der Wissenschaft, 1954, S. 295 ff.; Vom Recht des Studenten, 1954; Grundrecht der Universität, 1959, S. 18 ff., 45 f. 20 Freiheit der Wissenschaft, S. 322; Grundrecht der Universität, S. 29, 51, 63.
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Verfassung aufgenommenen und für schutzwürdig befundenen Institution im Fortgang der Zeit – und insofern zeitgemäß – durch eine geeignete Rezeption zu sichern. Unter Bezugnahme auf Hans Huber wird dem Zweifel Ausdruck gegeben, ob es auf die Dauer überhaupt noch gelingen wird, mit institutionellen Garantien tiefgreifende Wesensveränderungen aufzuhalten, auch wenn diese dem konservativen Zuge allen Rechts noch so adäquat sein mögen. Und im Hinblick auf die Universität wird der „immer fühlbarer werdende Kontrast zwischen einem rapide wachsenden Hochschulvolumen und sinkender Glaubwürdigkeit tradierter Leitbilder“ nicht verschwiegen.21 Die Gesetzgebung über die Hochschulverfassung und den Hochschulzugang22 und die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung23 haben einen Weg eingeschlagen, der sich deutlich von Köttgens „Grundrecht der deutschen Universität“24 entfernt. Die Abschaffung der Rahmengesetzgebung über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 a a.F. GG) durch die Föderalismusreform I von 2006 stellt angesichts der von Land zu Land divergierenden und politisch ehrgeizigen Hochschulpolitiken die geschichtliche Gestalt der deutschen Universität in Frage.
VII. Struktur und politische Funktion der Verwaltung „Ist allerdings auch der moderne Staat nicht lediglich ein zweckrationaler Betrieb im Sinne Max Webers, so darf auch die öffentliche Verwaltung als eine seiner heute wichtigsten Emanationen zumindest nicht durchgehend entpolitisiert, will sagen des institutionalisierten Kontakts mit einem Gemeinwohl beraubt werden, das weder persönliche noch sachliche ‚Einseitigkeiten‘ duldet“.25 Die auf das Ganze des Staates bezogene und in diesem Sinne politische Verantwortung der Regierung setzt sich – gesetzesakzessorisch und in rechtsstaatlicher Konkretisierung – in den spezielleren Zweigen und Aufgaben der öffentlichen Verwaltung
21 Grundrecht der Universität, Vorwort und S. 4. 22 M. Burgi/I.-D. Gräf, Das (Verwaltungsorganisationsrecht der Hochschulen im Spiegel der neueren Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung, DVBl. 2010, 1125. 23 BVerfG Beschl. vom 26.10.2004, BVerfGE 111, 333 (Brandenburg. Hochschulrat); BVerfG Beschl. vom 13.4.2010 (Fachhochschulen) JZ 2010, 948, mit Anm. K. F. Gärditz, ebd., S. 952; BayVerfGH Entsch. vom 7.5.2008 VGHE 61, 103 (Bayer. Hochschulrat). 24 Diese auf Fr. Paulsen zurückgehende Auslegungsformel fand den Beifall von Rudolf Smend (Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4, 1928, S. 60/73); siehe Art. 142 WRV. 25 Struktur und politische Funktion öffentlicher Verwaltung, 1966, S. 782.
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fort, darf sich aber nicht in eine der deutschen Verwaltung von Haus aus strukturfremden Spezialisierung und Zentralisierung verlieren. Köttgen betont mit besonderem Blickwinkel für die leistungsgewährende Verwaltung die Rolle des gesetzesfreien Verwaltungshandelns, z. B. bei Subventionen, und die fortbestehende Eigenständigkeit auch des administrativen Gesetzesvollzugs. Er sieht die öffentliche Verwaltung nicht nur als Instrument in einem „technischen Staat“, in dem politische Normen durch Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation verdrängt werden müssten (Schelsky).26 Die durch Regierung und Gesetz vermittelte und gewährleistete Gemeinwohlorientierung der gleichwohl mit einem eigenständigen Mandat ausgestatteten öffentlichen Verwaltung legt Köttgen eine gewisse Skepsis gegenüber methodischen Einseitigkeiten verwaltungswissenschaftlich ausgerichteter Dogmatik des Verwaltungsrechts nahe. Er sieht sich davon überzeugt, „dass sich die Fülle wissenschaftlicher Perspektiven der Verwaltung nicht auf eine einzige Disziplin reduzieren lässt“.27 Ungeachtet des die Arbeiten Arnold Köttgens durchziehenden Leitgedankens der „politischen Funktion“ öffentlicher Verwaltung und der daraus abzuleitenden Handlungs- und Entscheidungsvollmacht der Verwaltungsbehörden werden Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes als maßgebende demokratische und rechtsstaatliche Grundlage von Regierung und Verwaltung, auch und gerade im leistungsgewährenden und interventionistischen Sozialstaat streng bekräftigt. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass die von einer Subventionsmaßnahme intendierte Intervention in den Wettbewerb die Freiheit all derer beschneiden könnte, die schon deswegen im Hintergrund bleiben, weil sie nicht zu den potentiellen Subventionsempfängern gehören.28 Wiederum bestätigt sich die Schlüsselstellung des Gesetzes und damit die Verantwortung der gesetzgebenden Volksvertretung für den rechtsstaatlichen Schutz der grundrechtlichen Freiheit. Der Gesetzgeber agiert unter der Herrschaft des Sozialstaatsprinzips als der eigentliche Wegbereiter des sozialen und ökonomischen Fortschritts.29
26 Innenpolitik und allgemeine Verwaltung, 1964; Bundesverfassungsgericht und Organisation der öffentlichen Verwaltung, 1965, S. 210 ff., 222; Struktur und politische Funktion, S. 794. 27 Rezension von N. Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, 1966, in: ArchKommWiss. 5, 1966, S. 346. 28 Bundesverfassungsgericht, S. 214, 218 ff. 29 Fondsverwaltung in der Bundesrepublik, 1965, S. 74.
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Biographie Peter Badura, Nachruf Arnold Köttgen +, JZ 1967, 419; Fritz Werner, Arnold Köttgen +, AöR 92, 1967, S. 414; In Memoriam Arnold Köttgen, Göttinger Universitätsreden, 1968; Michael Stolleis, Verwaltungswissenschaft und Verwaltungslehre im Nationalsozialismus, in: Kurt G. A. Jerserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh, Hrsg., Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, 1985, S. 707/720–721; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 271 (Greifswald); Volkmar Götz, Verwaltungswissenschaft in Göttingen. Arnold Köttgen, in: Fritz Loos, Hrsg., Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, 1987, S. 336/346–353.
Bibliographie (Auswahl) Zu III. wDas deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, 1928; Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Berufsbeamtentums im Staat der Gegenwart, HStR, Bd. II, 1932, S. 1; Das Beamtenurteil des Bundesverfassungsgerichts, AöR 79, 1954, S. 350; Das anvertraute öffentliche Amt, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1962, S. 119. Zu IV. Der soziale Bundesstaat, in: Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 19; Innerstaatliche Gliederung und moderne Gesellschaftsordnung, in: Göttinger Festschrift für das Oberlandesgericht Celle, 1961, S. 79; Der Einfluss des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung, JöR 11, 1962, S. 173–311. Zu V. Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, 1931; Wesen und Rechtsformen der Gemeinden und Gemeindeverbände, in: Hans Peters, Hrsg., Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 1956, 1. Bd., S. 185–234; Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, 1957; Der heutige Spielraum kommunaler Wirtschaftsförderung. Raumordnung und Gesetzesfreie Verwaltung, 1963; Das Strukturwandel des flachen Landes als Verwaltungsproblem, ArchKommWiss. 3, 1964, S. 155; Kommunale Selbstverwaltung zwischen Krise und Reform. Ausgewählte Schriften, 1968. Zu VI. Deutsches Universitätsrecht, 1933; Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Franz L. Neumann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner, Hrsg., Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 291–329; Vom Recht des Studenten, Dt. Universitätszeitung IX, 1954, Heft 13, S. 3; Das Grundrecht der deutschen Universität. Gedanken über die institutionelle Garantie wissenschaftlicher Hochschulen, 1959. Zu VII. Deutsche Verwaltung, 1935; 2. Aufl., 1937; 3. Aufl., 1944; Subventionen als Mittel der Verwaltung, DVBl. 1953, 486; Der Einfluss des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung, JöR 3, 1954, S. 67–147, und 11, 1962, S. 173–311; Die Organisationsgewalt, VVDStRL 16, 1958, S. 154–190; Innenpolitik und allgemeine Verwaltung, DÖV 1964, 145; Das Bundesverfassungsgericht und die Organisation der öffentlichen Verwaltung, AöR 90, 1965, S. 205; Fondsverwaltung in der Bundesrepublik, 1965; Struktur und politische Funktion öffentlicher Verwaltung, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, 1966, 2. Bd., S. 771.
XL Ernst Rudolf Huber (1903–1990) – Vom neohegelianischen Staatsdenken zur etatistischen Verfassungsgeschichte Christoph Gusy1
I. Biografie Ernst Rudolf Huber (H.) wurde am 8.6.1903 im heutigen Idar-Oberstein geboren. Seine frühe Prägung erhielt er im bürgerlichen Elternhaus, im evangelischen Milieu des oldenburgischen Fürstentums Birkenfeld und durch Jugenderfahrungen im damals noch besetzten Rheinland. Das Studium der Philosophie, der Nationalökonomie und der Rechtswissenschaft führte ihn nach Tübingen, München und Bonn, wo er 1926 bei Carl Schmitt promovierte,2 in der Folgezeit im Umfeld von Johannes Heckel und Heinrich Göppert arbeitete. Schon 1931 hielt er als Privatdozent dort seine Antrittsrede.3 Er zählte zur Kriegsjugendgeneration, die in der Krisen- und Weltkriegszeit aufgewachsen war, aber selbst nicht mehr am Krieg teilnahm. Vielen dieser Generation erschienen Aufstieg und Fall Deutschlands, Kriegsniederlage und Versailler Vertrag, Revolution und Weimarer Verfassung, Gründungskrisen der Republik und Wirtschaftskrisen der zwanziger Jahre als Auflösungs- und Niedergangsgeschichte, welcher sie sich politisch und publizistisch entgegenstemmten. H. fand seine politische Heimat bei der Konservativen Revolution: In den Zeitschriften Die Standarte, Der Ring und Deutsches Volkstum veröffentlichte er über 50 Abhandlungen.4 Er positionierte sich in der zeitgenössischen Verfassungs(reform)diskussion mit Forderungen nach einem bündischberufsständisch geprägten Staat mit völkischer Ausrichtung und starker Exekutive. Praktisch arbeitete er damals mit Carl Schmitt an Plänen zur Durchbrechung der WRV durch eine kommissarische Diktatur5 und bei der Rechtfertigung des
1 Für intensive Vor- und Mitarbeit danke ich Frau A. Krüger, Bielefeld. 2 H., Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung, 1927; s. a. H., Verträge zwischen Staat und Kirche. 3 H., Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, 1931; s. a. H., Wirtschafsverwaltungsrecht. 4 Näher Walkenhaus, S. 44 ff., 100 ff. 5 H., in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio oppositorum, 1988, S. 33.
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Preußenschlages vor dem StGH zusammen. Nach der Machtübergabe an Hitler zählte H. zu der Schar derjenigen, welche in der neuen Regierung ein Instrument zur Verwirklichung ihrer eigenen konservativen, etatistischen oder autoritären Ziele erblickten. Am 1.5.1933 trat er der NSDAP bei. Schon im Alter von 30 Jahren wurde er im selben Jahr zum ordentlichen Professor an der „Stoßtrupp“-Fakultät der Universität Kiel ernannt. Sein Aufstieg zu einem der führenden Staatsrechtler des Dritten Reiches verlief über die Mitherausgeberschaft der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, seine Mitgliedschaft in der Akademie für Deutsches Recht und die Abfassung des wohl wichtigsten Staatsrechtslehrbuchs. Berufungen nach Leipzig (1937) und Straßburg (1941) folgten. Nach seiner Flucht aus Frankreich lebte er im Schwarzwald, sodann in Freiburg, wo seine Frau, die Tochter des ehemaligen Reichsaußenministers und Präsidenten des Reichsgerichts Walter Simons, Tula Huber Simons, als Rechtanwältin tätig war. Zunächst galt er als dermaßen exponiert, dass er als einer von ganz wenigen Wissenschaftlern – neben C. Schmitt und O. Koellreutter – weder auf einen Lehrstuhl berufen noch in die wieder gegründete Vereinigung der Staatsrechtslehrer aufgenommen wurde. H. erschien als eine Symbolfigur in der Auseinandersetzung um eine „Versöhnung von alt und neu“ (W. Jellinek, 1950). Für sich selbst erkannte er im Jahre 1947 die „Unvermeidlichkeit“ einer gewissen Karenzzeit, seit den fünfziger Jahren sah er sich eher in einer Opferposition.6 Fragen nach bzw. Kritik an seiner Vergangenheit nannte er nun „politische Quertreiberei“ oder „Giftgas“ von „Partisanen“.7 Im Entnazifizierungsverfahren 1948 in die Gruppe 4 (Mitläufer) eingestuft, erhielt er in Freiburg einen Lehrauftrag (1952) und eine Honorarprofessur (1956), seine Berufung auf einen Lehrstuhl scheiterte dort jedoch an seiner Tätigkeit vor 1945. Ähnlich erging es ihm bei den Staatsrechtslehrern,8 wo er erst nach kontroversen Debatten („Je mehr „durchschnittliche“ Nazis wir in unseren Reihen haben, umso wichtiger ist es, dass die Vereinigung den „überdurchschnittlichen“ verschlossen bleibt“ (H. Peters, 1950)) 1955 wieder beitreten konnte. Politisch äußerst umstritten war auch seine Berufung an die Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven (1957), die 1962 in die Universität Göttingen integriert wurde. Hier setzte er bis zu seiner Emeritierung (1968), danach wiederum in Freiburg sein wissenschaftliches Wirken fort. Dort ist er auch am 28.10.1990 verstorben. Einer seiner fünf Söhne ist der spätere Ratsvorsitzende der EKD, Prof. Dr. Wolfgang Huber.
6 Bericht bei Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, 2002, S. 124, 134. 7 Zitate bei Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 318, 325. 8 Näher Stolleis, KritV 1997, 339, 349–352.
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II. Das Werk 1. Grundlegung: Staat und Verfassung als politische Ideen Das Staatskonzept Hs. steht wesentlich in den Ideen Hegels und damit gegen den Neokantianismus des frühen 20. Jh. Er sieht den Staat als eine „zugleich materielle und geistige Wirklichkeit“, eine „politische Idee“.9 Diese Idee ist bei ihm weniger sittlich als vielmehr kulturell überformt. Er beschreibt sie als eine „höhere Ordnung“, ein „höheres verpflichtendes Ganzes“, welcher eine doppelte Bedeutung zukommen soll „nicht nur in der Idee, sondern auch in der Realität des Staates.“10 Erst in der Idee als Kulturstaat „kommt dem Staat Staatlichkeit zu, d. h. zu seiner Wirklichkeit, zu seinem reellen Dasein“.11 Im Zentrum der Staatsidee steht demnach nicht der Mensch und auch nicht der Bürger, sondern eine ihnen vor- oder übergeordnete höhere Idee. Sie stellt einen dauernden geistigen Wert und eine Ordnung dar, in welche sich der Mensch einfügt bzw. einzufügen hat, in welche er „hingehört“.12 Ganz in diesem Sinne beschreibt er Freiheit nicht als Freiheit vom Staat oder gegen den Staat, sondern als Freiheit zum Staat.13 Was den Inhalt jener politischen Idee betrifft, bleibt H. eher vage. Seine Entgegensetzungen von „Staat“ und „Staatsform“ lassen erkennen, dass ersterer nicht aus letzterer hergeleitet werden kann; der Sinn des Staates liegt seiner Form und deren Sinn voraus. Dies schließt zugleich aus, den Sinn des Staates aus seiner rechtlichen Verfassung herzuleiten; er trägt vielmehr seine „höhere Ordnung“ in sich. Zentrale Konstitutionsgrundlagen des Staates sind dessen Einheit, Eigenwertigkeit und „Stärke“. Konkreter wird H., der in seinem langen Leben mehrere Erscheinungsformen von Staatlichkeit erlebt und beschrieben hat, kaum. Damit stand er in der geisteswissenschaftlichen Richtung der Staatsrechtswissenschaft.14 Zugleich hat er sich so eine Grundlage gelegt, welche einerseits eine klar etatistische Positionierung erkennen lässt, andererseits aber auch hinreichende
9 H., Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, S. 3, 4 (Zitate). 10 H., Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt, in: ders., Bewahrung und Wandlung, S. 350 (Zitate) als Charakteristika der „metaphysischen Unwägbarkeiten“ der politischen Idee. 11 H., Bewahrung und Wandlung, S. 319, 328, 333 (Zitat); ganz ähnlich schon AöR 1933, 79, 93; s. a. ebd., S. 81, 82, 17 f. 12 H., Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt (Fn. 10), S. 350, spricht von der institutionellen Einfügung des Menschen und seiner autonomen Selbstbestimmung in „höhere Ordnungen“. S.a. Geis, S. 55. 13 H., AöR 1933, 79, 93; s. a. ebd., S. 81, 82, 17 f. 14 K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche“ Richtung in der Weimarer Republik, 1987.
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fluide erscheint, um auf zeitbedingte und -geprägte Wandlungen der „materiellen und geistigen Wirklichkeit“ reagieren zu können. Ganz ähnliches gilt für sein Verfassungskonzept. Schon in seinen frühen Veröffentlichungen sah er sie ambivalent als übergreifende Funktion von Sein und Sollen, welche sich in ihr gegenseitig bedingten und bewegten. Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit seien Funktionen einer gemeinsamen politischen Idee, die den Staat und seine Form konstituierten. In diesem Sinne sei die Verfassung nicht nur normative Grundlage dafür, wie das staatliche Leben gestaltet und entwickelt werden soll. Sie sei vielmehr daneben und gleichzeitig auch Ausdruck dessen, wie das staatliche Leben sich in der Realität vollziehe.15 Dieser doppelte normative und zugleich deskriptive Verfassungsbegriff findet seinen Bezugspunkt nicht in einer geschriebenen Konstitution. Im Gegenteil: Hs. Darstellung ist weit von einer Gleichsetzung von „Verfassung und Verfassungsrecht“ entfernt, er spart nicht mit Kritik am zeitgenössischen staatsrechtlichen Positivismus. Sein Denken war ganz überwiegend verfassungstheoretisch, selten verfassungsrechtlich. Maßgeblicher Bezugspunkt war ihm die Verfassung als „politische Idee“, eine Formel, mit welcher er schon den Staat charakterisiert hatte. Die Idee des Staates ist ihm die Idee der Verfassung, und die Idee der Verfassung liegt für ihn in der Idee des Staates. Damit wird die Verfassung – wie der Staat – zu einer geistigen Einheit, einer Erscheinungsform und zugleich normativen Grundlage der Staatlichkeit. Die Besinnung auf diese geistige Einheit kann im Einklang mit der geschriebenen rechtlichen Verfassung stehen, sich aber auch von ihr ab- oder gar gegen sie wenden. Verfassungsinterpretation ist jedenfalls immer zugleich Interpretation der voraus liegenden politischen Ordnung, welche im Interpretationsergebnis zum Ausdruck gebracht werden kann und muss. Und wenn sich diese politische Idee geändert hat, kann sich eine echte Verfassungswandlung vollziehen. Es ist auffällig: In den 60 Jahren seines wissenschaftlichen Wirkens ist H. jenen ebenso festen wie offenen, um nicht zu sagen vagen Grundpositionen erstaunlich treu geblieben. Zwar wurden an der einen oder anderen Stelle die Akzente unterschiedlich gesetzt. Aber die Grundbegriffe blieben konstant. Darin lagen – nicht nur bei ihm – Größe und Tragik von Kategorien, die (fast) alles in Staat und Politik erklären, aber auch (fast) alles legitimieren konnten. Auf ihrer Grundlage verfasste H. ein Werk von imponierendem Umfang, welches seinesgleichen sucht. Nicht nur die Zahl seiner Schriften (im Jahre 1973 waren es schon 369), sondern auch deren Vielfältigkeit und deren Umfang ist beeindruckend. Neben politischen Schriften finden sich solche zu Staatslehre und Staatstheorie,
15 H., Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, S. 3 f. (Zitate).
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Verwaltungsrecht, Wirtschaftsfragen, Ständewesen und Wehrgeschichte. Aus heutiger Sicht wird seine Wahrnehmung von der gewaltigen „Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789“ und den großen Quelleneditionen überlagert. Ein solches Werk kann hier nicht vollständig gewürdigt oder auch nur vollständig beschrieben werden. Hingewiesen werden soll immerhin auf den vielfach auftretenden Aspekt der Kultur, der bei H. seit seiner Dissertation immer wieder in Fragen des Staatskirchenrechts einmündet. Dieser Aspekt muss hier ausgeklammert bleiben.
2. Wirtschaftsstaat oder starker Staat? Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft zählte zu den Themen, mit denen H. sich in allen Phasen seines Wirkens beschäftigt hat. Frühzeitig hat er daran mitgewirkt, das seinerzeit neue Fach „Wirtschaftsverwaltungsrecht“ aus Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, öffentlichem Unternehmens- und Arbeitsrecht mitzubegründen.16 Dabei wurde weit ausgegriffen; die Darstellung umfasste auch die Rundfunkanstalten, das Konzern-, Kartell-, Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht. Deren Grundideen waren schon in seiner Antrittsvorlesung zusammengefasst.17 Sie wendet sich zeitkritisch gegen die These vom Wirtschaftsstaat, „in dem die Wirtschaft kein eigener und vom Staat getrennter Wert ist, in dem vielmehr Staat und Wirtschaft zu einer einheitlichen Ordnung zusammengewachsen seien.“ H. geht von der Diagnose aus, in der krisengeschüttelten Republik hätten Wirtschaftsgesetzgebung und insbesondere -verwaltung stark zugenommen. Demgegenüber habe die Weimarer Nationalversammlung sich noch „für die Aufrechterhaltung des status quo“ entschieden. Wirtschaftliche Freiheit habe eine doppelte Aufgabe: Einerseits Verwirklichung individueller Unternehmensziele, andererseits „aus persönlichem, freiem Schaffen Werte für die Gemeinschaft und ihren sichtbaren Ausdruck, den Staat“, zu erarbeiten. Wie individuelle Freiheit gleichsam von selbst gesellschaftliche Harmonie hervorbringen könne, blieb bei ihm offen. Sein harmonistisches, aber nicht pluralistisches Staats- und Gesellschaftsbild zählte zu den Konstanten seines Denkens. Doch war dies nur die eine Seite der Medaille. Die prinzipielle Trennung von Staat und Gesellschaft bezwecke nicht nur eine freie Wirtschaft, sondern zugleich einen handlungsfähigen Staat. Weitreichende Verflechtungen zwischen beiden Sektoren führten zu „Staatssozialismus“ und „Polykratie“ und schwächten die Gestaltungskraft
16 H., Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932; 2. A., 1953/54 (sie ist hier zugrunde gelegt). 17 H., Das deutsche Reich als Wirtschaftsstaat (Zitate S. 4 f., 19, 29, 27).
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der öffentlichen Hand. Sein Ideal ist der starke und neutrale Staat als „Einheit des ganzen Volkes“. Der starke Staat als Gegenmodell zum Wirtschaftsstaat, klar abgegrenzte Freiheits- und Entscheidungsräume und deren ideelle Überhöhung zu einem Ganzen sind seine Grundelemente, die konstitutionell und institutionell eingelöst werden müssten. Dabei zeigte sich der ihm attestierte „autoritäre Etatismus“18 hier doppelgesichtig: Einerseits in seiner Begrenztheit (gegen den „totalen Staat“), andererseits in dem Bemühen um die Erhaltung seiner Souveränität und seiner Entscheidungsmacht.
3. Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches Seit 1932/33 machte H. das Verfassungsrecht zum Schwerpunkt seiner Arbeit. Der zunächst untersuchte Bedeutungswandel der Grundrechte19 ging noch von der WRV als geltender Verfassung aus und wandte sich gegen die These seines Mentors, des von H. stets hoch geschätzten C. Schmitt von dem Zerfall der Verfassung in zwei Teile mit unterschiedlicher Zielsetzung und konträren Werten. Zugleich verstand er die – geisteswissenschaftlich ausgelegten – Grundrechte als Grundentscheidungen sowohl gegen den liberalen wie auch gegen den totalen (= bolschewistischen) Staat. Sie seien „zum großen Teil nicht mehr subjektive Rechte, sondern in erster Linie objektive Prinzipien“, genauer der „Versuch zu einer Bestimmung des Verhältnisses von Autorität und Freiheit auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Nation“. So sollte die formal weiter geltende Weimarer Verfassung als Legitimationsgrundlage mit neuen Inhalten gefüllt werden. Solche Syntheseversuche zwischen dem Gedanken des Verfassungsstaates und demjenigen des heraufziehenden Nationalsozialismus sollten eine der meist verbreiteten Positionen konservativer Autoren in der Umbruchzeit 1933/34 werden. H. ging über derartige Ansichten alsbald hinaus. Nach zahlreichen verfassungspolitischen und -rechtlichen Einzelabhandlungen verfasste er das führende Lehrbuch des neuen Staatsrechts mit dem Titel „Verfassung“, erheblich erweitert und umgearbeitet unter dem Titel „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“.20 Nach der „nationalsozialistischen Revolution“ war auch sein Credo: „Die Verfassung von Weimar ist tot, es lebt die Verfassung von Potsdam.“ Recht sei nunmehr „die Lebensordnung der völkischen Gemeinschaft; es richtet nicht soziale Schranken zwischen Individuen auf, sondern in ihm findet die Volksge-
18 Nachw. bei Walkenhaus, S. 41, 170. 19 H., Bedeutungswandel der Grundrechte (Zitate S. 89, 79, 93). 20 Diese Fassung wird hier zugrunde gelegt (Zitate S. 47, 240, 55, 40, 181, 421, 482, 486).
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meinschaft die Ordnung ihres überindividuellen Seins.“ Die von ihm früher nur angedeutete Frage nach den möglichen Inhalten und Mechanismen sozialer Harmonisierung durch Freiheitsbetätigung erschien nun in das Recht verlagert und von dort her beantwortbar. Dieses musste nicht notwendig positives Recht sein, formale und prozedurale Kriterien des Rechtsbegriffs wurden ausdrücklich verworfen. Verfassung ist die „ungeschriebene politische Grundordnung des Reiches“, Gesetz „Entfaltung der völkischen Lebensordnung gemäß dem Plan und durch den Entscheid des Führers“. Das Verfassungsrecht nahm – trotz des Titels – keinerlei eigenen Stellenwert mehr ein; für den Willen, den neuen Staat rechtlich zu binden, gab es keinen politischen Platz und kein öffentliches Forum mehr. So wurde das Werk zu einem Dokument der nationalsozialistischen Verfassungsvernichtung oder besser: Verfassungsrechtsvernichtung. Schon die Kapitelüberschriften („Volk“, „Führer“, „Bewegung“, „Gliederung des Reiches“, „Volksgenossen“) waren zeit- und ideologiegeprägt. Aber auch im Einzelnen orientierte sich die Darstellung getreulich an den neuen Realitäten. Dazu zählten die „Konzentrationslager, in denen die in Schutzhaft genommenen staatsfeindlichen Personen zusammengefasst wurden“; die detaillierte Darstellung der „Sonderstellung der Juden, die sich aus dem Ziel einer völligen Ausscheidung des Judentums erklärt“; ferner die Erläuterungen zur Gestapo, deren Maßnahmen nicht nur kraft Gesetzes einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung, sondern nach H. darüber hinaus auch einer Kontrolle durch die Zivilgerichte im Wege des Amtshaftungsprozesses entrückt seien. Begrüßt wurden das Ende der Freiheit des geistigen Lebens und das Ziel einer „wirklichen Volkskultur“, für die „das Postulat der Freiheit iS der liberalen Verfassungen nicht mehr gelten“ könne. An deren Stelle träten nun Filmprüfstelle und Reichskulturkammer, welche „sowohl positiv fördernd als auch kontrollierend und verbietend eingreifen“ dürfen. Die Lektüre hinterlässt im Konzert der nationalsozialistischen Literatur einen ambivalenten Eindruck. Einerseits fehlen Polemiken und rassistische Ausfälle, vor denen etablierte21 wie jüngere Autoren (R. Höhn, W. Best u. a.) zu dieser Zeit nicht zurückschreckten. Andererseits war nicht zu verkennen: Unter den von H. zutreffend geschilderten Bedingungen gab es für Rechtswissenschaftler nur zwei Alternativen: Zustimmen oder Schweigen. H. hat nicht geschwiegen, er hat die Normalität des bürokratischen Terrorstaates, wie er sich in den 30er Jahren entwickelt hatte, genau erfasst und dargestellt. Er war exponierter Teil der Juristen als „Funktionselite“ (M. Stolleis) des Dritten Reiches, „einer der führenden Verfassungstheoretiker der nationalsozialistischen Zeit“ (explizit: BVerfGE 3, 58, 92). Distanz wird eigentlich nirgends sichtbar, stattdessen das Bestreben, das von
21 C. Schmitt, Das Judentum in der Rechtswissenschaft, 1936.
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ihm Geschilderte mit einem höheren Sinn zu verknüpfen. Dafür konnte an die offenen Vokabeln seiner elastischen verfassungstheoretischen Grundannahmen angeknüpft werden, welche nun mit neuen Gehalten gefüllt wurden.
4. Deutsche Verfassungsgeschichte Seit der Mitte der 30er Jahre wandte sich H. der Verfassungsgeschichte zu, welche seit den 50er Jahren überwiegender und seit den sechziger Jahren ausschließlicher Gegenstand seiner Beschäftigung wurde. Damals wurde das Fach noch ganz überwiegend von Historikern betrieben. Nun erst begann die Dominanz der Juristen. Damit gingen auch inhaltliche Änderungen einher: verstärkte Anknüpfung an deutsche Philosophie und zeitgenössische Geisteswissenschaft, ein fast völliges Verschwinden der komparatistischen Perspektive und eine Heranführung historischer an aktuelle Verfassungsfragen. Die Disziplin entwickelte sich zur Legitimationswissenschaft (E. Grothe). In deren Zentrum überragt das Werk Hs. alle konkurrierenden Ansätze. Nach früheren Arbeiten zur Militär- und Ideengeschichte entstanden mehrere Quelleneditionen, Sammelbände und die monumentale (über 7500 Druckseiten) Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789.22 Auch wenn man es sich kaum vorzustellen vermag: Das Werk sollte ursprünglich größer ausfallen und von der „germanischen Frühzeit“ über den Absolutismus bis 1866 reichen. In dieser bereits in Straßburg begonnen und in der frühen Nachkriegszeit als Privatgelehrter fortgeführten Version umfasste das Manuskript im Jahre 1950 bereits 4.400 Seiten. Der Plan scheiterte jedoch an Publikationsschwierigkeiten und ablehnenden Stellungnahmen aus dem Kollegenkreis, welche die Fachkompetenz des Autors für das Mittelalter bestritten. Es waren überwiegend solche forschungs- und publikationsstrategischen Fragen, welche den Autor veranlassten, sich „zunächst auf die Teile (zu) beschränken, die die Verfassungsgeschichte seit 1789 behandeln.“23 So entfielen insbesondere die H. wichtigen Passagen über die Geschichte der Verfassungsideen im Absolutismus. Band 1 erschien im Jahre 1957, Band 4 1969. Die nachfolgenden Bände über den 1. Weltkrieg und die Weimarer Republik folgten in den Jahren 1978–1984, der abschließende Registerband 1990 kurz vor dem Tod des Autors. H. hat sein Vorgehen selbst beschrieben. Danach ist „Verfassungsgeschichte nicht Verfassungs-
22 H., Nationalstaat und Verfassungsstaat; Bewahrung und Wandlung; Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte; schon zuvor Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, 2 Bde., 1949 ff.; H./W. Huber, Staat und Kirche. 23 Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 370 (Nachw.).
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Rechtsgeschichte“.24 Vielmehr sei Verfassung ein „Gesamtgefüge geistiger Bewegungen, sozialer Auseinandersetzungen und politischer Ordnungselemente – ein Inbegriff von Ideen, Interessen und Institutionen …“. Die Umschreibung ist nicht weit von seinem frühen Verfassungsbegriff aus der Republik entfernt. Damals ging es um Idee und Realität des Staates, nunmehr um dessen „Ordnung in der konkreten Wirklichkeit“. Hs. offene geisteswissenschaftliche Kategorien hatten mehrere Staatsformen überdauert und sollten nun für die Darstellung der Verfassungsgeschichte insgesamt fruchtbar gemacht werden. Sein Verfassungskonzept nimmt eine eigenartige Doppelbedeutung ein. Einerseits zeigt es die „Entwicklung des Staats zum Verfassungsstaat und zum Rechtsstaat“; es ermöglicht also nicht bloß Verfassungsstaatsgeschichte, sondern liegt ihr gleichsam schon voraus bzw. zugrunde. Auf der anderen Seite beschreibt es „gültige Ordnungen“, nicht nur im Rahmen der „äußeren Legalität“, sondern zugleich als „Sinn und Ziel, durch welche die politische Aktion sich rechtfertigt“. H. will sowohl „Sinn und Ziel“ ergründen als auch die politische Entwicklung daraufhin untersuchen, ob sie sich aus jenem Sinn und Ziel rechtfertigen ließe. Es ging also nicht bloß um den Lauf der Geschichte, sondern auch um dessen Sinnhaftigkeit und Richtigkeit, wobei die dafür maßgeblichen Kriterien in diesem Lauf angelegt und aus ihm zu entwickeln seien. Der Autor beschreibt nicht nur, er beurteilt auch, wobei es auf die Vereinbarkeit mit konkreten Verfassungsnormen nicht ankommen konnte und sollte. Dies war ein viel diskutiertes Alleinstellungsmerkmal seines Zugriffs. Auch wenn H. sah, dass sein Vorgehen auch von subjektiven Momenten abhing, so überwog für ihn die Vorstellung, dass „in allem Wandel unserer staatlichen Verhältnisse doch ein starkes Moment des Dauernden geborgen ist“: Zwar erkannte auch er „viele Fehlschläge im Gang der Geschichte“ der Deutschen. Doch ist jedenfalls der heutige Leser geneigt, jenen „Fehlschlägen“ ein größeres Gewicht beizumessen als der Autor, der den weltgeschichtlich größten von ihnen aus der Nähe erlebt und unkritisch beschrieben hatte. Nicht zuletzt dieses Wissen erschwert es, die historischen Urteile Hs. zu übernehmen. Wer eine Deutsche Verfassungsgeschichte im Jahre 1789 einsetzen lässt und die Entwicklung zum Verfassungsstaat aufzuzeigen sucht, wird sich zentral mit dem Konstitutionalismus befassen. Dieser von H. als unbestimmt bezeichnete Begriff wurde von ihm gleichsam typologisch bestimmt, und zwar in eindeutiger Absetzung von der „bürgerlichen Verfassungsbewegung“ und westeuropäischen Modellen.25 Der „Kerngehalt der preußischen Verfassung von 1850“ sollte aufgrund eines Kompromisses zwischen Rechtsliberalen und Konservativen im
24 H., Bewahrung und Wandlung (Zitate S. 12. 11, 13, 15). 25 H., Deutsche Verfassungsgeschichte III, S. 7, 12, 20, 9, 11.
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„monarchischen Prinzip“ liegen. Dieses „Strukturelement in der konstitutionellen Monarchie deutscher Prägung“ wurde unter ausdrücklicher Berufung auf Metternich konkretisiert: In allen konstitutionellen Verfassungen sei die Staatsgewalt in der Person des Fürsten erhalten geblieben. Die deutschen Staaten waren und blieben danach Monarchien und als solche durch die Verfassungen nicht angetastet, sondern allenfalls begrenzt. Sinn der fast überall ergangenen Konstitutionen sei in der Hauptsache gewesen, einen „Abwehrriegel gegenüber dem weiteren Vorgehen der liberalen und demokratischen Machtfaktoren“ zu schaffen. Was hier für die oktroyierte Preußische Verfassung von 1850 und den österreichischen Staatskanzler der Reaktion postuliert worden war, wurde dann umstandslos auf die „ganze konstitutionelle Epoche“ verallgemeinert: der konstitutionelle Staat war ihm „wesentlich ein Militär- und Beamtenstaat, kein Parteienstaat“. Auch wenn der „Bismarcksche Reichskonstitutionalismus“ sich davon in manchen Einzelheiten, nicht hingegen in den Grundstrukturen unterschieden habe, so schätzte H. die Leistungsfähigkeit der Staatsform hoch: Sie sei nicht nur durch die Politik Bismarcks, sondern auch danach trotz der zahlreichen Krisen unter Wilhelm II. „im ganzen gleichwohl unerschüttert“ geblieben. Was früher als Werk des Kanzlers angesehen worden war, wurde nun zur Leistung der Reichsverfassung von 1871 stilisiert. Bekanntlich haben namentlich die preußischen Regierungen politisch vielfach Standpunkte der Konservativen übernommen und als „neutral-überparteilich“ ausgegeben. Ähnlich verfährt H., der solche Standpunkte als „objektiv-wissenschaftliche“ qualifiziert und ihnen Richtigkeit und Verallgemeinerbarkeit attestiert. So lag der Vorwurf einer engen, auf Preußen konzentrierten Geschichtsschreibung nahe. Für H. war erwiesen: Infolge ihrer inneren Stabilität, aber auch hinreichenden Flexibilität und Dauerhaftigkeit war die „konstitutionelle Monarchie deutscher Prägung“ ein „echter Kompromiss“, eine „stilgerechte Lösung der deutschen Verfassungsfrage“ und ein „systemgerechtes Modell verfassungspolitischer Selbstgestaltung“ gewesen. Dies haben vor ihm C. Schmitt und nach ihm E. W. Böckenförde mit gewichtigen Argumenten anders gesehen.26 Wer so dachte wie H., dem mussten Revolution und demokratische Republik als Problem erscheinen. Schließlich hatte erstere die alte Staatsform beseitigt und letztere diese durch eine andere ersetzt.27 Doch erschien diese Neuerung bei ihm eher relativiert. „Grundgehalt“ und „Kern“ der neuen Verfassung lägen
26 C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reichs, 1934; E. W. Böckenförde, Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 1981, S. 146. 27 Die Legitimität der Revolution wird von H. konsequent bestritten (S. 20), diejenige des „Gesamtakts der Verfassunggebung“ hingegen nicht.
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in dem Bemühen, „auch und gerade im neuen, demokratisch konstituierten Staat die Einheit, die Kraft und die Aktionsfähigkeit der die gesellschaftlichen Interessen und Konflikte in sich aufnehmenden und überhöhenden Nation zu erhalten.“28 Von daher erschien der staatsrechtliche Neuanfang eher als staatspolitischer Kompromiss, welcher integrierte, was zuvor als Wesenselemente des konstitutionellen, wenn nicht jeden Staates herausgestellt worden war: Einheit, Hoheit, Harmonie. Diese Kontinuität des Modells bei Diskontinuität der politischen Option war für Hs. Anschauung prägend. Dass es am Verfassungsrecht der Republik manches und an ihrer Verfassungswirklichkeit viel zu kritisieren gab, weiß der Leser bereits aus Hs. frühen Schriften. Nun fragte der Autor nach der Verantwortung für den Untergang des Verfassungsstaates und verteilte diese auf Weltkriegssieger, (alle) Parteien, führende Politiker (Hindenburg, Schleicher, Papen) und das „Deutsche Volk als Ganzes“, welches 1932 mehrheitlich die radikalen Parteien gewählt und dadurch verfassungstreue Regierungen unmöglich gemacht hätte. Heute wissen wir: Man muss die Ursachen früher und tiefer suchen, als es hier geschah. Doch wer wie H. antwortet, legt die Frage nach der Verantwortung der Bürger, und zwar jedes Bürgers, nahe; gerade auch derjenigen, die damals dabei waren. Es waren solche Fragen, welche Rezensenten vermuten ließen, hier handele es sich auch um das Bekenntnis des Angehörigen einer Generation, die sich nach 1945 fragen musste, was von all dem dennoch „Gültigkeit“ hatte, dass doch nicht alles falsch gewesen sein konnte.29
III. Rückblick Hs. Werk besticht durch Faktenfülle, gedankliche Durchdringung und Stringenz. Es war epochal, und es war an seine Epoche gebunden. Die Rezensionen, welche die ersten Bände noch gefeiert hatten, wurden distanzierter.30 Sie kritisierten einzelne Ergebnisse oder Beurteilungen, immer stärker aber auch methodische Grundannahmen und -anliegen. Einerseits findet sich viel Respekt: Auch Gegner schätzen die Materialfülle und deren Aufarbeitung und nutzen sie durch Verweisungen gleichsam als „Steinbruch“. Andererseits zeigte sich: Der methodische Sonderweg einer von Juristen dominierten Verfassungsgeschichtsschreibung, die sich als „Legitimationswissenschaft“ verstand, dabei zugleich den Kontakt
28 H., Deutsche Verfassungsgeschichte (Zitate Bd. VI, S. 7, 22; Bd. VII, S. 1280). 29 H. Boldt, GG 1985, 252, 270. 30 Boldt aaO.; H. Brandt, Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1987, 229.
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zur zeitgenössischen, stärker sozialgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft wie auch zur ausländischen und komparatistischen Verfassungsgeschichtsschreibung verloren hatte, war an sein Ende gelangt. Seine Epoche war vorüber, unmittelbare Schüler Hs. sind mir nicht bekannt, seine Ansätze wurden nicht weitergeführt.31 Seit den 60er Jahren machten sich jüngere Wissenschaftler, namentlich E. W. Böckenförde, M. Stolleis, D. Grimm und H. Boldt an eine inhaltliche und methodische Neuausrichtung der Disziplin.
Biografische Daten von E. R. Huber 8. Juni 1903 1921 WS 1922/23
1934–1944
Geburt im heutigen Idar-Oberstein. Studium der Geschichte und Literatur in Tübingen. Studium der Nationalökonomie in München, 1923 Wechsel zur Rechtswissenschaft. Fortsetzung und Abschluss des Rechtswissenschaftsstudiums an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, anschließend Eintritt in den juristischen Vorbereitungsdienst, zunächst am Landgericht Koblenz. Promotion bei Carl Schmitt zur Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der WRV. Assistent am Industrierechtlichen Seminar der Universität Bonn bei Heinrich Göppert, Habilitation 1931. Referendarexamen mit der Abschlussnote „gut“. Antrittsrede „Das deutsche Reich als Wirtschaftsstaat“ als Privatdozent an der Universität Bonn. Anfertigung juristisch-politischer Ausarbeitungen für/mit Carl Schmitt, u. a. als Berater am sogenannten „Preußenschlag-Prozess“ vor dem Staatsgerichtshof. Heirat mit Tula Huber-Simons, 5 Söhne. Beitritt zur NSDAP. Berufung zum ordentlichen Professor an der sogenannten „Stoßtrupp“-Fakultät der Universität Kiel (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht- und Arbeitsrecht) in Nachfolge des mit den „Beamtengesetzen“ entlassenen Walter Schücking. Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft.
1937 1941 November 1944
Berufung nach Leipzig. Berufung nach Straßburg an die neu gegründete „Reichsuniversität“. Flucht aus Straßburg nach Heidelberg.
1924 – Januar 1926
1926 Ab April 1928 März 1930 1931 1932/1933
1933 Mai 1933 WS 1933/34
31 Eine Ausnahme ist das Werk von T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969 (S. 5). Der Verfasser war kein Schüler Hubers, sondern seines Weggefährten H. Krüger.
Ab 1945 1948 Ab 1952 1955 1957 1962 1968 28.10.1980
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„Rückzug“ mit Frau und Söhnen im Schwarzwald, später in Freiburg, Berater-/Redaktionstätigkeiten, Arbeit an der Verfassungsgeschichte. Einstufung im Entnazifizierungsverfahren als „Mitläufer“ (Gruppe 4). Lehrauftrag in Freiburg, 1956 Honorarprofessur. Wiederbeitritt zur Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. Berufung an die Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven. Integration der Hochschule in die Universität Göttingen, dort Professor bis 1968. Emeritierung. Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit in Freiburg. Tod Hs. im Alter von 87 Jahren.
Literatur von E. R. Huber Verträge zwischen Staat und Kirche, 1930 Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932; 2. A., 1953/54 Bedeutungswandel der Grundrechte, AöR (62) 1933, S. 1 Verfassung, 1937; 2. A. u.d.T.: Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1939 Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965 Bewahrung und Wandlung, 1975 Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., 1957- 1991; 3. A., Bd. 2 und 3, 1988 Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 1. A., 3 Bde., 1961–1966; 3. A., 5 Bde., 1978–1997 (mit W. Huber) Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert – Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 5 Bde., 1973–1995 Vollständige Bibliografie in: Forsthoff/Weber/Wieacker, Festschrift für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 385; fortgeschrieben bei Walkenhaus (Lit.), S. 416 f.
Literatur über E. R. Huber M. E. Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, 1990 E. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, 2005 Ders., in: E. Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Bundesrepublik, 2008, S. 327 M. Jürgens, Staat und Reich bei E. R. Huber, 2005 E. Schumann, in: FS der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 2009, 633 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III, 1999 R. Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken, 1997 (alle mwN.)
XLI Ulrich Scheuner (1903–1981) Wolfgang Rüfner Inhaltsübersicht I. Leben und Persönlichkeit 655 II. Allgemeines zum wissenschaftlichen Werk Ulrich Scheuners 1. Übersicht 657 2. Grundlagen seines Denkens 657 3. Verbindung zur Praxis 658 III. Einzelbereiche des Wirkens 660 1. Staatslehre und Staatsrecht 660 2. Deutsche Einheit 664 3. Verwaltungsrecht 664 4. Kirchen- und Staatskirchenrecht 665 5. Völkerrecht 666
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Ulrich Scheuner (geb. 24.12.1903 in Düsseldorf, gest. 25.2.1981 in Bonn) war eine der prägenden Gestalten der deutschen Staatsrechtslehre in den drei ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Sein imponierendes Lebenswerk erstreckte sich auf alle Bereiche des öffentlichen Rechts vom Staat- und Verwaltungsrecht bis zum Völkerrecht, von der Rechtsgeschichte bis zum Kirchenrecht.
I. Leben und Persönlichkeit Ulrich Scheuner stammte aus einer konservativ-evangelisch geprägten preußischen Beamtenfamilie.1 Er studierte in München und Münster, wo er 1926 mit der Arbeit „Die Lehre vom echten Parlamentarismus – Ein Beitrag zur Systematisierung der Erscheinungsformen des parlamentarischen Regierungssystems“2 promoviert wurde. Danach war er Assistent in Berlin und Referent am damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Er
1 Der Vater war zuletzt Regierungsvizepräsident, der Großvater mütterlicherseits war der Kammergerichtspräsident von Staff, Klaus Schlaich, Von der Notwendigkeit des Staates – Das wissenschaftliche Werk Ulrich Scheuners, Der Staat 21 (1982), S. 1 (7). 2 Die Veröffentlichung in AöR 52 (1927, n.F. 13), S. 209–233 und 337–380 trägt den Titel: „Ueber die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems. Zugleich eine Kritik der Lehre vom echten Parlamentarismus“.
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habilitierte sich 1930 bei Heinrich Triepel (Thema der unveröffentlichten Habilitationsschrift: „Die Regierung – Untersuchungen zur Politik, Gewaltenteilung und Verfassungslehre“) und folgte 1933 einem Ruf an die Universität Jena. Dort wirkte er zugleich als Richter am Oberverwaltungsgericht. Weitere Stationen seiner Laufbahn waren Göttingen (1940) und Straßburg (1941). Während des Krieges zur Wehrmacht eingezogen, war Ulrich Scheuner bei der Prisengerichtsbarkeit und später in verschiedenen Kraftfahrkompanien beschäftigt.3 Nach dem Kriege fand er zunächst eine Anstellung beim Hilfswerk der Evangelischen Kirche.4 Die Tätigkeit dort hat sein Interesse mehr als früher auf das Kirchen- und Staatskirchenrecht gelenkt, das er bis dahin in seinen wissenschaftlichen Publikationen nicht berücksichtigt hatte.5 In seinem Beruf als Hochschullehrer arbeitete er zunächst auf Grund von Lehraufträgen an der TU Stuttgart und an der Universität Bonn. 1950 erhielt er Rufe nach Bonn und Hamburg und zog Bonn wahrscheinlich auch wegen der Nähe zur Bundesregierung6 vor. Spätere Rufe nach München (1951) und Freiburg (1959) lehnte er ab. Persönlich anspruchslos und bescheiden verzichtete der Junggeselle auf alle Statussymbole.7 In einer Pension in Bonn-Bad Godesberg wohnte er, bis er 1976 in ein Seniorenheim in Bonn umzog. Er hatte kein Auto, in Godesberg nicht einmal ein privates Telefon. Obwohl in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stets auch der Praxis zugewandt, fehlte ihm der Sinn für technische Erleichterungen des täglichen Lebens. Seine wissenschaftlichen Arbeiten verfasste er ausnahmslos selbst, nie ließ er sich Texte von Mitarbeitern vorfertigen. Der Gedanke, Assistenten würden ausgenutzt, konnte in seinem Umkreis nicht aufkommen.
3 Dazu Martin Otto, Vom „Evangelischen Hilfswerk“ zum „Institut für Staatskirchenrecht“: Ulrich Scheuner (1903–1981) und sein Weg zum Kirchenrecht. In: Holzner/Ludyga, Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts, S. 551 (558). 4 Dazu und zu weiteren Tätigkeiten in der Nachkriegszeit Otto (Fn. 3), S. 569 ff. 5 Otto (Fn. 3), S. 550 f., 561 f., zur Bedeutung der Tätigkeit beim Hilfswerk für die Berufung nach Bonn, S. 564. 6 So Ernst Friesenhahn in seiner Tischrede beim Essen der Fakultät zu Ehren Scheuners am 19.1.1979, in: Ulrich Scheuner 75 Jahre, hrsgg. von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn, 1979, S. 20 (21); ähnlich Christoph Sattler, Zum Tode von Ulrich Scheuner, VOP (Verwaltungsführung Organisation Personalwesen) 1981, S. 1. 7 Treffend die Charakteristik Sattlers (Fn. 6).
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II. Allgemeines zum wissenschaftlichen Werk Ulrich Scheuners 1. Übersicht Auf allen Gebieten des öffentlichen Rechts hat Scheuner wichtige Anstöße gegeben,8 allerdings kein abschließendes opus magnum hinterlassen. Seine Stärke waren Einzeluntersuchungen vor allem grundsätzlicher Fragen. In den Sammelbänden „Staatstheorie und Staatsrecht“ (1978, nachstehend StThStR), „Schriften zum Staatskirchenrecht“ (1973, nachstehend StKR) und „Schriften zum Völkerrecht“ (1984, nachstehend: VR) sind die meisten seiner wichtigsten Publikationen gut greifbar, soweit sie nicht später als die jeweiligen Sammlungen erschienen sind.
2. Grundlagen seines Denkens Die Aufgabe des Staatsrechts (mit Einschluss des Staatkirchenrechts) sah Scheuner nicht nur darin, Bestehendes zu erhalten, sondern auch darin, das Recht den Ansprüchen der Gegenwart entsprechend fortzuentwickeln, ohne mit der Tradition zu brechen. Diese Grundhaltung prägte auch sein völkerrechtliches Werk, in dem er sich zu allen grundlegenden Fragen geäußert hat. Stets war ihm die Geschichte der Probleme präsent, in allen Bereichen seines Fachgebiets hat er vielbeachtete historische Arbeiten vorgelegt. Seine umfassende Bildung gab seinen Vorlesungen und Vorträgen Glanz, obwohl er auf jede rhetorische Verzierung verzichtete und sich nur der Sache widmete, die er anschaulich und lebendig, in klarer und verständlicher Formulierung darzustellen verstand. Ihm wurde die seltene Auszeichnung zuteil, zwei Mal vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer referieren zu dürfen. Als Debattenredner in der Vereinigung genoss er legendären Ruf.9 Im persönlichen Gespräch im kleineren Kreis konnte er, ohne je die größeren Zusammenhänge zu vergessen, aus einem schier unerschöpflichen Vorrat an Detailkenntnissen in Geschichte, Literatur und Kunst schöpfen.
8 Schlaich (Fn. 1), S. 10, sagt, Scheuner habe in der Regel den für das jeweilige Fach repräsentativen Artikel geschrieben. 9 Peter Häberle, Staatsrechtslehre als universale Jurisprudenz. Zum Tode von Ulrich Scheuner am 25. Februar 1981, ZevKR 26 (1981), S. 105 (107, 124 ff.).
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In seinem Denken war Ulrich Scheuner Heinrich Triepel und Rudolf Smend verpflichtet. Einer „Schule“ kann man ihn nicht zurechnen, eine Schule (Habilitanden: Horst Ehmke, Joseph H. Kaiser, Wilhelm Kewenig, Karl Matthias Meessen, Wolfgang Rüfner) hat er nicht begründet und nicht begründen wollen, zumal er als ein Mann des Ausgleichs schroffe Festlegungen vermied.10 Seine Kenntnis der Geschichte bewahrte ihn vor Einseitigkeit und auch vor Überschätzung juristischer Theorien und Dogmatik. Überspitzten Thesen und juristischem Glasperlenspiel abgeneigt, versuchte er stets, praktikable und politisch durchsetzbare Lösungen zu erarbeiten, nicht zuletzt in seiner umfangreichen Tätigkeit als Gutachter, Berater und Prozessbevollmächtigter. „Der Jurist schreibt nicht für die Ewigkeit“, pflegte Scheuner seinen Schülern zu sagen und sie damit zur Eile bei Promotion und Habilitation anzutreiben. Er war sich der Vergänglichkeit juristischer Wissenschaft und der Vorläufigkeit aller juristischen Lösungen stets bewusst, weil der Wandel der Verhältnisse immer neue rechtliche Betrachtungen und Gestaltungen fordert. Die Beweglichkeit zu erhalten, ohne das Grundsätzliche aus den Augen zu verlieren, war sein wichtigstes Anliegen. Romantischen Rückblicken und Idealisierungen war er ebenso abgeneigt11 wie kurzfristigen Modeerscheinungen. Immer hatte er bei juristischer Betrachtung Rechtswirklichkeit und Geschichte im Blick, geschichtliche Betrachtungen zeigten andererseits regelmäßig Bezüge zur Gegenwart. Überlegungen der politischen Wissenschaft einzubeziehen, war ihm selbstverständlich. Er sah stets die Spannung der Verfassung zur politischen Realität.12
3. Verbindung zur Praxis Scheuners Lehrstuhl in der Bundeshauptstadt eröffnete ihm ideale Möglichkeiten zur Verbindung von Theorie und Praxis. Politisch stand er den frühen Bundesregierungen (Adenauer) nahe, ohne Kontakte zur Opposition zu meiden. Von extremen Außenseitern im linken oder rechten Spektrum hielt er sich sorgfältig fern. Man mag ihn als konservativ bezeichnen, seine Offenheit für Wandlungen in Staat und Gesellschaft erschwert aber eine Einordnung nach den üblichen Kategorien.13
10 Dazu eingehend Schlaich (Fn. 1), S. 10 ff. 11 Der Staat und die intermediären Kräfte, Zeitschrift für evangelische Ethik, 1. Jg. (1957), S. 30–39 (35 f.) = StKR S. 411–421 (417 f.). 12 Häberle (Fn. 9), S. 120. 13 In diesem Sinne Häberle (Fn. 9), S. 117, auch S. 119 zum Wirken Scheuners „in der Mitte“.
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An den großen Prozessen der Frühzeit der Bundesrepublik war er als Gutachter oder Prozessvertreter (zumeist für die Bundesregierung) beteiligt.14 Sein Rat war gesucht wegen seiner Kenntnisse, aber mehr noch wegen seines ausgewogenen Urteils, das ihm erlaubte, Aussichten und Risiken eines Verfassungsrechtsstreits abzuschätzen. Stets bezog er in seine Überlegungen die praktischen Auswirkungen einer möglichen Entscheidung ein. Nie hätte er geglaubt, allein mit dogmatischen Konstruktionen ein Verfassungsgericht überzeugen zu können. Realistisch sah er die richterliche Gewalt als Teil der Staatsmacht.15 Scheuner war geprägt vom Scheitern der Weimarer Republik, dem unseligen nationalsozialistischen Regime, von dem auch er sich zu Äußerungen verführen ließ, die er später bedauerte,16 und von der Tragödie des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Niederlage hat er als eine sehr schwere Hypothek angesehen. Für sein späteres Leben im Frieden empfand er, wie er bei der Feier seines 70. Geburtstags bekundete, tiefe Dankbarkeit. Mit all seiner Kraft setzte er sich für das Gelingen des zweiten Versuchs einer demokratischen Ordnung in Deutschland ein. Wer mit ihm näher umging, erkannte alsbald in diesem Bestreben den letzten Grund aller seiner wissenschaftlichen und praktischen Bemühungen. An der Festigung der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik wesentlich mitgewirkt zu haben, bleibt ein Hauptverdienst Ulrich Scheuners. Sein Wirken wurde 1979 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse gewürdigt. Scheuner war nicht nur Bundesregierungen, sondern auch beiden Kirchen ein gesuchter Ratgeber. Über viele Jahre war er als Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland und in der Kommission für internationale Angelegenheiten des Ökumenischen Rats tätig. Seit den Anfängen bis 1980 leitete er die vom Bistum Essen getragenen „Essener Gespräche“. Er war an der Gründung des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands wesentlich beteiligt und wirkte in dessen Wissenschaftlichem Beirat. Die Arbeit für die Kirchen gewann in seiner letzten Schaffensperiode immer größere Bedeutung. Gemein-
14 U. a. Verfahren: Süd-West-Staat, BVerfGE 1, 14; Konkordatsstreit, BVerfGE 6, 309; Preußischer Kulturbesitz, BVerfGE 10, 20; Volksbefragung, BVerfGE 8, 104 ff.; Fernsehstreit, BVerfGE 12, 205; Kirchensteuer, BVerfGE 19, 206 ff.; Caritas, BVerfGE 24, 236; Abgeordnetenentschädigung, BVerfGE 40, 296; Bremer Schulstreit, BremStGH v. 23.10.1965, NJW 1966, 36 = KirchE 7, 260. 15 Vgl. Die Fortbildung der Grundrechte in internationalen Konventionen durch die Rechtsprechung, in: FS Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 899–926 (903)= VR, S. 625–654 (629), wo die „staatlichen Gerichte als Organe des Staates, die dessen übergeordnete Autorität verkörpern“, bezeichnet werden. 16 Dazu Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60, S. 9 (17 ff., insbes. S. 29 ff. zum Antisemitismus, wo Scheuner in Fn. 102 mit Recht zu den Gemäßigten gerechnet wird).
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sam mit Ernst Friesenhahn gab er die erste Auflage des Handbuchs des Staatskirchenrechts heraus, eines Standardwerks des Staatskirchenrechts. In seinen vielen Schriften zum Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht zeigte er sich als Mann der Kirche, in seinen Äußerungen entschiedener als in anderen Bereichen, trotzdem nicht als Vertreter einseitiger Auffassungen, die keinen Bestand haben konnten. Papst Paul VI. verlieh Ulrich Scheuner das Komturkreuz mit Stern des Ordens vom Heiligen Gregor dem Großen, eine seltene Auszeichnung, besonders für einen evangelischen Christen.
III. Einzelbereiche des Wirkens 1. Staatslehre und Staatsrecht Staatslehre und Staatsrecht standen im Mittelpunkt von Scheuners Wirken. Großen Wert legt er auf die Kontinuität in diesen Bereichen, insbesondere darauf, dass die Literatur aus dem alten Reich auch in der nachnapoleonischen Zeit noch zitiert wurde und wirksam war.17 Die Verbindung mit der älteren Staatslehre und zur Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Zeit ließ er nicht abreißen.18 Sein Denken in Langzeitperspektiven bewahrte Scheuner vor der Überschätzung einzelner Ereignisse und Epochen, sein ausgeglichenes Urteil wurde wahrscheinlich dem alten Reich und dem Deutschen Bund besser gerecht als die Betrachtung der deutschen Geschichte allein unter den Aspekten der Bismarck’schen Reichsgründung und ihrer Folgen. Wie er Positives und Negatives ausgewogen beurteilte, zeigt seine Würdigung des preußischen Staatsgedankens19 ebenso wie seine Betrachtung des Beitrags der deutschen Romantik zur
17 Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung. Zur Theorie der Volksvertretung in Deutschland 1815–1848, in: Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, hrsg. von Karl Bosi, 1977. S, 298 (302 ff.); Die Staatszwecke und die Entwicklung der Verwaltung im deutschen Staat des 18. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte, GS für Hermann Conrad, hrsg. von Gerd Kleinheyer und Paul Mikat, 1979, S. 467.485 f. 18 Häberle (Fn. 9), S. 117 f. 19 Der Staatsgedanke Preußens, (Studien zum Deutschtum im Osten Heft 2),1965.
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politischen Theorie.20 Große Linien, Kontinuität und Brüche in der Entwicklung sind dort wie in vielen anderen Beiträgen21 hervorgehoben. Die positivistische Reduzierung des Staatsrechts lehnte Scheuner entschieden ab. Dafür war er bereit auf die letzte, vielleicht nur scheinbar mögliche begriffliche Klarheit zu verzichten. „Staatsrecht ist kein Hypothekenrecht“ pflegte er zu sagen. Verfassungsauslegung unterscheidet sich grundlegend von der Handhabung kodifizierter Teilordnungen im bürgerlichen Recht und im Strafrecht.22 Er sah in der positivistischen Schule des Staatsrechts mit dem Versuch der Trennung der Rechtswissenschaft von politischen und sozialen Erwägungen ein im Zivilrecht unter Hinnahme von Verzichten und Verhärtungen mögliches, im Staatsrecht dagegen vergebliches Bemühen, das eine prinzipielle Auseinandersetzung mit der gegebenen politischen Ordnung ausschloss und auf die (wahrscheinlich gewollte) Hinnahme des Bestehenden hinauslief.23 Hier wie anderwärts bewahrte Scheuner sein historisches Wissen davor, juristische Thesen zu verabsolutieren. Ihm war bewusst, dass es fast immer noch andere Lösungen geben kann. Deutlichen Ausdruck gibt diesem Denken der Artikel „Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts“, wo er im modernen Nationalstaat weder die einzige noch auch nur die ideale Form des Staates sehen konnte,24 wenngleich er den Nationalstaat „nach wie vor für die normale Erscheinungsform der politischen Unabhängigkeit eines Volkes“ hielt.25 Konsequent lehnte er eine positivistische Verengung des Staatsbegriffs auf die „Erscheinung des neuzeitlichen Machtgebildes“ ab26 und setzte sich für einen zeitübergreifenden Staatsbegriff ein.27 Er kam so zu seiner als allgemeingültig zu
20 Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 248), 1980. 21 Hervorzuheben die in vorst. Fn. 17 zitierten Schriften. 22 Verfassung, in: Staatslexikon, 6. Aufl. Bd. 8, 1963,Sp. 117–127 (126 f.) = StThStR, S. 171–184 (182). 23 Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, FG Rudolf Smend, 1962, S. 225 (227) = StThStR, S. 45 (47). 24 Dies wird deutlich in Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19, Jahrhunderts, in: Staatsgründungen und Nationalitätsprinzip, hrsg. von Theodor Schieder, 1974, S. 9–37 = StThStR, S. 101–133. 25 Der Gedanke der nationalen Einheit im Verhältnis der beiden deutschen Staaten, in: Politik und Kultur Colloquium Verlag Berlin), Heft 1, 7. Jahrgang 1980, S. 3–25 (25). 26 Wesen des Staates (Fn. 23), S. 225–260 = StThStR, S. 45–79; ausdrücklich Nationalstaatsprinzip (Fn. 24), S. 12 = StThStR, S. 104; Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Norbert Achterberg, Werner Krawietz (Hrsg.) Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 1 (6 f.) 27 Nationalstaatsprinzip (Fn. 24), S. 12 = StThStR, S. 104.
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verstehenden Definition: „Der Staat ist die menschliche Wirkungseinheit, der in einem Raume in höchster Instanz die Wahrung von Ordnung und Frieden aufgetragen ist.“28 Ähnliche Bedenken äußerte er gegen eine zu enge Festlegung des Gesetzesbegriffs.29 Ideen vom Absterben des Staates und des Politischen wegen vermeintlicher technischer Zwänge waren ihm fremd.30 Die Legitimation des Staates und seiner Ordnung sah er in ethischen Vorstellungen und in tieferen, in der Zeitepoche und damit in der Bevölkerung anerkannten Werten.31 Für den Verfassungspatriotismus, welcher die Verfassung dem Staat vorordnet und den Staat gewissermaßen aus der Verfassung definiert, hatte Scheuner kein Verständnis.32 In realistischer Betrachtung sah er den Staat als Grundlage und die Verfassung als seine auf Dauer angelegte rechtliche Ordnung an. Eine enge Verfassungsauslegung, die der politischen Entwicklung keinen Spielraum ließ, missbilligte er ebenso wie die zeitweise sehr verbreitete Neigung, möglichst viele Gesetze für verfassungswidrig zu erklären. Immer wandte er sich gegen „Selbstfesselungskünste“ (so seine tadelnde Bezeichnung) durch Verfassungsauslegung. Das staatsrechtliche Werk Scheuners enthält wichtige Beiträge zum Staatsorganisationsrecht. Ihm sind Dissertation und Habilitationsschrift gewidmet. Wesentliche Gedanken der Habilitationsschrift kehren in der ersten SmendFestschrift von 1952 wieder. Scheuner warnte davor, überholten Idealbildern der Demokratie aus der speziellen Gedankenwelt der französischen Revolution anzuhängen, und sah Vorbilder für die moderne Zeit eher im angelsächsischen Bereich.33 Realistisch betrachtete er das Parlament nicht nur und nicht in erster Linie als Ort der Willensbildung durch freie Entscheidung der einzelnen Mitglieder, sondern auch als Ort des Ausgleichs der Interessen durch Verhandlung und Kompromiss. Den Zwischenbereich intermediärer Kräfte hielt er für sinnvoll und
28 Wesen des Staates (Fn. 23), S. 258 = StThStR, S. 77. 29 Die Funktion des Gesetzes im Sozialstaat, in: Recht als Prozess und Gefüge, FS für Hans Huber 1981, S. 127 (128 ff.). 30 Wesen des Staates (Fn. 23), S. 251 = StThStR, S. 70; auch Legitimation (Fn. 26), S. 7; zu dieser Frage eingehend Schlaich (Fn. 1), S. 1 ff. 31 Legitimation (Fn. 26), S. 8 ff. 32 Probleme der staatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik, DÖV 1971, S. 1 (3) = StThStR, S. 385 (389); auch DÖV 1979, S. 916, in einer Besprechung von Peter Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978; dazu Schlaich (Fn. 1), S. 17. 33 Der Staat und die intermediären Kräfte (Fn. 11), S. 32 f. = StKR, S. 413 f.
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notwendig, wenn er auch betonte, dass die verbindliche Entscheidung bei den verfassten Staatsorganen bleiben müsse.34 Das Mehrheitsprinzip ist ein Formalprinzip zur Gewinnung von Entscheidungen. Es setzt in der Demokratie einen Grundkonsens und in dessen Rahmen Pluralismus, offene Meinungsbildung und Offenheit für Veränderungen voraus. Die Verfassung begrenzt ebenso wie Minderheitenschutz und Offenheit für andere Lösungen die Mehrheitsentscheidung, welche auch für die Unterlegenen hinnehmbar sein muss.35 Eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit wie in der Bundesrepublik trägt dazu bei, die Mehrheitsherrschaft zu begrenzen.36 Wesentliche Beiträge sind dem Föderalismus gewidmet, den Scheuner als Deutschland gemäße Form bejahte, ohne Übertreibungen zu billigen. Klar sprach er sich gegen die zeitweise vertretene Auffassung vom dreigliedrigen Bundesstaat aus und sah die Souveränitätsfrage im Bundesstaat für überholt an.37 Die Deutung und Rechtfertigung des Föderalismus als eine neue Form der Gewaltenteilung hielt er nicht für ausreichend, sondern beharrte darauf, dass regionale oder auch nationale, konfessionelle oder sonstige pluralistische Kräfte die bundesstaatliche Gestaltung legitimieren müssten.38 Dabei war ihm bewusst, dass in Deutschland Unterschiede auf den Gebieten der Wirtschaft und der Sozialvorsorge von der Bevölkerung nicht gewünscht werden. Rechtsstaat und Grundrechte waren weitere Schwerpunkte. Die Sicherung der Zukunft sah er weder in einer Übersteigerung der Grundrechte noch in einem Staat und Verwaltung lahmlegenden Rechtsschutz. Er warnte davor, das Grundgesetz so auszulegen, dass es nur für gute Zeiten taugte. Gegen die in den Anfangszeiten der Bundesrepublik vorherrschende sehr individualistische Grundrechtsdeutung39 hatte er ebenso Bedenken wie gegen spätere Tendenzen, die subjektiven Rechte durch eine zu weitgehende Institutionalisierung zu minimieren.
34 Der Staat und die intermediären Kräfte (Fn. 11), S. 34 = StKR, S. 416. 35 Hierzu: Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 191, 1973); Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Rechtsgeltung und Konsens, hrsg. von Günther Jakobs, 1978, S. 33–68 = StThStR, S. 135–170; Der Mehrheitsentscheid im Rahmen der demokratischen Grundordnung, in: Menschenrechte Föderalismus Demokratie, FS Werner Kägi, hrsg. von Ulrich Häfelin, Walter Haller und Dietrich Schindler, 1979, S. 301–325. 36 Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 473–480 (bes. S. 479 f.) 37 Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, DÖV 1962, S. 641–648 (642 ff.) = StThStR, S. 415–434 (419 ff.). 38 Ebda. (Fn. 37), S. 648 = StThStR, S. 433. 39 Die Grundrechte bedeuteten ihm nie nur Freiheit als Staatsferne, dazu Schlaich (Fn. 1), S. 18.
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Er verstand die Grundrechte nicht als ein System unbegrenzter Freiheit, sondern als gegenständlich abgegrenzte Verstärkungen des rechtlichen Schutzes für bestimmte Rechte und Freiheiten.40
2. Deutsche Einheit An der Idee der Einheit Deutschlands hielt Scheuner fest und publizierte bis in seine letzten Jahre immer wieder Beiträge zu diesem Problemkreis, freilich in der Auffassung, dass sich an der Teilung auf lange Zeit nichts ändern lasse.41 Er wollte die gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit bewahren, setzte sich aber für bewegliche und sinngemäße Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts ein und empfahl u. a. eine Anerkennung von Einbürgerungen in der DDR.42 Die Ostgebiete hielt er schon frühzeitig für endgültig verloren, denn er erkannte realistisch, dass sich für eine Änderung der Oder-Neiße-Grenze keine Unterstützung würde finden lassen.43
3. Verwaltungsrecht Scheuner hatte das Verwaltungsrecht stets im Blick, auch wenn er auf diesem Felde nur wenige, allerdings grundlegende Beiträge verfasst hat. Auch hier zeigte er sich als Mann des Maßes, der immer Rücksicht auf Praktikabilität nahm. Schon seine erste Veröffentlichung zur Nachprüfung des Ermessens fand große
40 Pressefreiheit, VVDStRL 22, 1–100 (45–50, 96) = StThStR (nur Auszug unter dem Titel: Zur Systematik und Auslegung der Grundrechte, S. 709–735 (721–724); ähnlich Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, DÖV 1967, S. 585–593 (586), = StKR, S. 33–54 (36). 41 Zuletzt noch in: Der Gedanke der nationalen Einheit (Fn. 25); desgl. Das Problem der Nation und des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland, in: Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Gert Leptin, Ulrich Scheuner, Eberhard Schulz, 1979, S. 85–108, wo S. 95 f. angesichts der unterschiedlichen Grundkonzeptionen von Bundesrepublik und DDR nur ein Modus vivendi für möglich gehalten und auf S. 100 eine weitere Beständigkeit der Teilung angenommen wird. 42 Die deutsche einheitliche Staatsangehörigkeit: ein fortdauerndes Problem der deutschen Teilung, Europa-Archiv 34 (1979), S. 345–356. 43 Deutlich in: Die Oder-Neiße-Grenze und die Normalisierung der Beziehungen zum Osten, Europa-Archiv 1970, S. 377–386 (insbes. S. 378 f., wo Scheuner von der Anerkennung der bitteren Konsequenzen der Niederlage und davon spricht, dass die Sowjetunion und die Ostblockstaaten in der Grenze ein Element ihrer Sicherheit sähen und man sich über die Haltung anderer Regierungen nicht täuschen solle).
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Aufmerksamkeit.44 Mit Verwaltungsorganisation beschäftigte er sich unter kommunalrechtlichen und anderen Aspekten.45 Der Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung, insbesondere den Aufgaben und dem Einfluss des Staates galt ein weiterer wichtiger Aufsatz.46 In seinem posthum erschienen Beitrag zum Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis nahm Scheuner das Thema nochmals auf und versuchte, die Substanz der kommunalen Selbstverwaltung unter veränderten Verhältnissen zu umschreiben.47 Er erkannte die Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung durch engmaschige Gesetzgebung und sah den Wohlfahrtsstaat zutreffend nicht als Verwaltungs- sondern als Gesetzgebungsstaat an. Gleichwohl warnte vor zu detaillierter Gesetzgebung und fand schon 1960 Formulierungen, welche die spätere Wesentlichkeitstheorie vorwegnahmen.48
4. Kirchen- und Staatskirchenrecht Scheuner war ein Verteidiger des geltenden Staatskirchenrechts und befürwortete eine behutsame Fortentwicklung, keine völlige Neuordnung.49 Er betrachtete zwar Auffassungen von der völligen Gleichordnung von Staat und Kirche skeptisch, sprach sich z. B. gegen den Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit bei Streitigkeiten zwischen Kirchen und Trägern kirchlicher Ämter aus.50 Immer aber
44 Zur Frage der Nachprüfung des Ermessens durch die Gerichte, VerwArch 33 (1928), S. 68–98. 45 Gemeindeverfassung und kommunale Aufgabestellung in der Gegenwart, AfK 1 (1962), S. 149–178; Voraussetzungen der kommunalen Gebietsreform, in: Georg von Unruh/Werner Thieme/Ulrich Scheuner, Die Grundlagen der kommunalen Gebietsreform, Baden-Baden 1981, S. 57–127; Voraussetzungen und Form der Errichtung öffentlicher Körperschaften (außerhalb des Kommunalrechts), in: Gedächtnisschrift für Hans Peters, 1967. S. 797–821. 46 Zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung, AfK 12 (1973), S. 1–44. 47 Grundbegriffe der Selbstverwaltung, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2. Aufl. Bd. 1, 1981, S. 7–23. 48 Die Aufgabe der Gesetzgebung in unserer Zeit, DÖV 1960, S. 601–611 = StThStR, S. 501–528; auch Die Funktion des Gesetzes im Sozialstaat (Fn. 29) S. 134. 49 Wandlungen im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, in: Stoodt (Dieter)/Scheuner (Ulrich), Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Schriften der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, hrsgg. von Hans Kallenbach und Willi Schemel, Heft 77 ), 1968, S. 27–59 (55) = StKR, S. 237–262 (261). Eine Verteidigung des Staatskirchenrechts, insbesondere gegenüber innerkirchlichen Zweifeln auch in: Die Kirche im säkularen Staat, in: Im Lichte der Reformation. Fragen und Antworten. Jahrbuch des Evangelischen Bundes. Bd.X. Hrsg. zum Luthertag 1967, 1967, S. 5–31 = StKR, S. 215–236. 50 Religionsfreiheit (Fn. 40), S. 591 = StKR, S. 48 f.
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setzte er sich für die Religionsfreiheit und die Freiheit kirchlichen Wirkens ein. Die institutionellen Bestandteile der staatskirchenrechtlichen Ordnung sollten nicht zurückgesetzt werden. Scheuner hielt es daher für bedenklich, sie Art. 4 Abs. 1 und 2 unterzuordnen.51 Die Lösung für Konflikte sah er nicht in einer Überbetonung der negativen Religionsfreiheit, sondern im Prinzip der Toleranz.52 In zahlreichen Publikationen hat sich Scheuner auch zu innerkirchlichen Problemen geäußert, z. B. zur kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit53 und zu grundsätzlichen Fragen der kirchlichen Organisation.54
5. Völkerrecht Das Völkerrecht nahm in Scheuners Arbeit einen wichtigen Platz ein, auch wenn die Zahl seiner völkerrechtlichen Publikationen hinter der seiner staatsrechtlichen zurücksteht. Vor allem grundsätzlichen Fragen hat er sich gewidmet und hohes Ansehen erworben. Das Völkerrecht als Friedensordnung zu gestalten, in dem Deutschland seinen Platz finden konnte, war sein Ziel, für das er nicht nur literarisch, sondern auch bei vielen Vorträgen, Kongressen und internationalen Begegnungen eintrat. Er war Mitglied des Völkerrechtswissenschaftlichen Beirats im Auswärtigen Amt, beteiligte sich am Unterricht für den diplomatischen Nachwuchs und war mehrfach Mitglied deutscher Delegationen vor dem Internationalen Gerichtshof. Die Grundlagen des Völkerrechts sah er in gemeinsamen Rechtsüberzeugungen und kritisierte die positivistische These, welche das Völkerrecht nur als ein Recht zwischen souveränen Staaten betrachtete, die als seine alleinigen Schöpfer zu gelten hätten. Nachdrücklich wandte er sich schon früh gegen die damals herrschende Auffassung, welche in Zuspitzung des Souveränitätsbegriffes im Staatswillen und in der Selbstbindung der Staaten die einzige Rechtsquelle sah.55 Er betonte auch für das Völkerrecht die Kontinuität in der Geschichte und zeigte Verbindungen vom mittelalterlichen jus gentium, das nicht nur als zwi-
51 Religionsfreiheit (Fn. 40) S. 587 = StKR, S. 39. 52 Religionsfreiheit (Fn. 40) S. 591 ff. = StKR, S. 50 ff. 53 Grundfragen einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, ZevKR 6 (1957/58), S. 337–364 = StKR, S. 441–467. 54 Wie soll eine Landeskirche geordnet werden? Überlegungen zur landeskirchlichen Situation, in: Zeitenwende. Die neue Furche 38. Jg. (1967), S. 366–390 = StKR, S. 469–495. 55 Staat und Staatengemeinschaft, in: Blätter für deutsche Philosophie, Bd. 5 (1931), S. 255–269 (262 ff.) = VR, S. 3–18 (11 ff.); Naturrechtliche Strömungen im heutigen Völkerrecht, ZaöRV 13 (1950/51), S. 556–614 = VR, S. 99–158.
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schenstaatliches Recht zu verstehen war, zum modernen Völkerrecht. Im Westfälischen Frieden erscheint zwar die alte Einheit der Christenheit aufgelöst, künftig fehlte die institutionelle Form, das änderte aber nichts an der Anerkennung eines höheren jus gentium.56 Das Völkerrecht setzt eine zivilisierte Rechtsgemeinschaft voraus und reicht hinab bis zu den Individuen. Seine Gebote richten sich an Menschen.57 Der Auslegung multilateraler Verträge, die nicht nur auf den Willen der Vertragschließenden abstellen kann, widmete er schon frühzeitig besondere Aufmerksamkeit.58 *** Ulrich Scheuner hat als einer „der letzten Universalisten seines Fachs“59 in interdisziplinärer Arbeit oft Grenzen überschritten. „Er konnte in unnachahmlicher Weise dem Spezialisten seinen wahren Standort im Universellen zuweisen“.60 Mit seinem Gespür für sich anbahnende Entwicklungen und seiner Abneigung gegen kurzfristige Modererscheinungen war er häufig nicht auf der Höhe seiner Zeit oder besser des jeweiligen Zeitgeistes, aber seiner Zeit voraus. Nur in den Kategorien des Augenblicks zu denken, hinderten ihn seine historische Bildung, aber auch die Lebenserfahrungen, die bis in die Zeit der Monarchie reichten. Wer in seinen Schriften im Abstand der Jahrzehnte liest, wird erkennen, dass seine Einsichten über den Tag hinaus Bestand haben. In Einzelheiten ist sein Werk überholt, die grundsätzlichen Fragestellungen sind geblieben. Sich bei Scheuner zu orientieren, bringt nach wie vor Gewinn. Er verdient, auf Dauer im Gedächtnis zu bleiben.
56 Besonders deutlich in dem großen Beitrag Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815, in: Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964, hrsg. von Konrad Repgen und Stephan Skalweit, 1964, S. 220–250 = VR, S. 349–378. 57 Staat und Staatengemeinschaft (Fn. 55), S. 266–269 = VR, S. 15–18. Scheuner betont ausdrücklich (S. 267 = VR, S. 15), dass er hier in entscheidender Weise von der üblichen Auffassung abweiche. 58 Naturrechtliche Strömungen im heutigen Völkerrecht (Fn. 55), S. 566 ff. = SzV 109 ff.; Fortbildung der Grundrechte (Fn. 15), S. 899 ff. = SzV, S. 625 ff. 59 Klaus Schlaich, Ulrich Scheuner +, NJW 1981, 142760 Karl Doehring, Ulrich Scheuner 1904–1981, ZaöRV 41 (1981), S. 265.
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Schriftenverzeichnis Schriften zum Staatskirchenrecht, hrsgg. von J. Listl, 1973 Staatstheorie und Staatsrecht, hrsgg von J. Listl und W. Rüfner, 1978 Schriften zum Völkerrecht, hrsgg von C. Tomuschat, 1984 Ein Schriftenverzeichnis findet sich in „Staatstheorie und Staatsrecht“; es wird ergänzt (u. a. durch 13 Publikationen, die erst nach dem Tode Scheuners erschienen sind) im Anhang zu Listls Beitrag in der Festschrift für Johannes Broermann (1982) und in den „Schriften zum Völkerrecht“, wo das gesamte völkerrechtliche Werk und die Schriften zur Deutschlandfrage dokumentiert sind. Rezensionen hat, soweit sie nicht völkerrechtlichen oder europarechtlichen Inhalts sind, Peter Häberle im Anschluss an seinen Gedenkaufsatz61 für Ulrich Scheuner aufgeführt. Besonders wichtige Schriften, die in den genannten Sammelwerken nicht enthalten sind: Ueber die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems. Zugleich eine Kritik der Lehre vom echten Parlamentarismus, AöR 52, 1927 N.F. 13), S. 209–233 und 337–380 (zugleich Diss. Münster, vgl. Fn. 2) Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, VVDStRL 11, S. 1–74, 1954 Gemeindeverfassung und kommunale Aufgabenstellung in der Gegenwart, AfK 1 (1962), S. 149–178 Der Staatsgedanke Preußens, (Studien zum Deutschtum im Osten Heft 2),1965, 2. unv. Aufl. 1983 Pressefreiheit, VVDStRL 22, 1–100, 1965 (Auszug in StThStR, S. 709–735 Voraussetzungen und Form der Errichtung öffentlicher Körperschaften (außerhalb des Kommunalrechts), in: Gedächtnisschrift für Hans Peters, 1967. S. 797–821 Zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung, AfK 12 (1973), S. 1–44 Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung. Zur Theorie der Volksvertretung in Deutschland 1815–1848, in: Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, hrsg. Von Karl Bosi, 1977, S. 298–340 Die Staatszwecke und die Entwicklung der Verwaltung im deutschen Staat des 18. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte, GS für Hermann Conrad, hrsg. von Gerd Kleinheyer und Paul Mikat, 1979, S. 467–489 Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 248), 1980 Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 473–480 Rechtsfolgen der konkordatsrechtlichen Beanstandung eines katholischen Theologen, 1980 Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Norbert Achterberg, Werner Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates 1981, S. 1–14 (ARSP, Beiheft 15)
61 Häberle (Fn. 9), ab S. 130 unter dem Titel Teilbibliographie Ulrich Scheuner – Rezensionen (ohne Völker- und Europarecht).
XLII Werner Weber (1904–1976) Eberhard Schmidt-Aßmann
I. Leben „Das Ethos des Staatsamts verträgt kein Abirren auf Günstlingswirtschaft und Willkür, am wenigsten dort, wo parteipolitische Bindungen Gunst und Ungunst bestimmen“.1 Der Satz entstammt der Arbeit über parlamentarische Inkompatibilitäten, mit der Werner Weber 1928 in Bonn promoviert wurde. Die Sorge um die Gemeinwohlfähigkeit des Staates – sie ist es, die sein Denken lebenslang bestimmt. Ihrer Sicherung durch das Recht und die notwendigen realen Kräfteverhältnisse hat er seine Aufmerksamkeit immer wieder zugewandt. „Über die Verläßlichkeit des Grundgesetzes“ handelt einer seiner letzten Beiträge, 1974 in der Festschrift für Arnold Gehlen publiziert.2 Dazwischen spannt sich ein wissenschaftliches Werk von beeindruckender Vielfalt der Fragestellungen und der behandelten Themen.3 Zentral aber bleibt die Sorge um den Staat, um den Erhalt seiner Handlungsfähigkeit. Webers Werk insgesamt muss daher von seinem Staatsverständnis her betrachtet werden.4 Das gilt nicht nur für die im engeren Sinne staats- und staatskirchenrechtlichen Beiträge, sondern auch für seine Veröffentlichungen zu konkreten verwaltungsrechtlichen Fragen, sie mögen sich mit dem Kommunalrecht, dem Naturschutzrecht, dem Beamtenrecht, dem Hochschulrecht, dem Wirtschaftsverwaltungsrecht oder der Raumplanung befassen. Nicht das Filigran, sondern die Grundlinien interessieren. Ihnen gilt es nach-
1 Werner Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), AöR NF 19 (1930), S. 161 (221). Die Schrift wird noch heute in größeren Grundgesetzkommentaren als grundlegende Referenz nachgewiesen. Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 55 (Stand 2009), Lit.; Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 55 Fn. 2 und Rn. 32; Fritz, in: Bonner Kommentar, Art. 55 (Stand 2001) Rn. 2. 2 Werner Weber, Über die Verläßlichkeit des Grundgesetzes, in: Festschrift für Arnold Gehlen, 1974, S. 303 ff. 3 Bis 1974 erfasst in der von Eckart Weber erarbeiteten Bibliographie, in: Festschrift für Werner Weber, 1974, S. 1005 ff. 4 Ähnlich und dabei ebenfalls auf die bereits in der Dissertation Webers formulierten Grundauffassungen zurückgreifend Wilhelm Henke, Werner Weber zum 70. Geburtstag, AöR 99 (1974), S. 481 ff.
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zuspüren: in sorgfältiger Analyse der politischen Situation und nüchterner Einschätzung der Leistungsfähigkeit und der Leistungsgrenzen des Rechts. Weber wusste, wie voraussetzungsvoll und wie verletzlich Staat und Recht sind. „Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem“ ist das Werk betitelt, in dem er in drei jeweils erweiterten Auflagen seine wichtigsten staatsrechtlichen Aufsätze zusammengefasst hat. Es ist dem Andenken seines 1942 gefallenen Bruders gewidmet. Der große Ernst, der über seinem Werk liegt und der in meiner Erinnerung auch die persönlichen Gespräche mit ihm bestimmte, dürfte in dieser Kenntnis der Gefährdungen von Staat und Recht seinen Grund haben. Es sind die Erfahrungen einer Generation, die die ersten vier Jahrzehnte ihres Lebens mit Umbrüchen und Unruhen, mit Krieg und Gewalt, mit Zerstörungen der inneren und äußeren Ordnung, mit verheerendem Unrecht konfrontiert war und sich diesem oft selbst nicht entziehen konnte.5 Werner Weber wurde am 31. August 1904 in Wülfrath im Bergischen Land geboren.6 Er wuchs in einem protestantischen Lehrerhaus auf, studierte in Marburg, Berlin und Bonn. Nach seiner von Carl Schmitt betreuten Promotion und dem Assessorexamen trat er 1930 in den Staatsdienst ein. Im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wirkte er als Referent für staatskirchenrechtliche Angelegenheiten, später für Fragen vor allem des Naturschutzes. 1935 an die Wirtschaftshochschule in Berlin berufen, führte er die Ministerialtätigkeit noch bis 1937 parallel fort. Er war Mitglied der Akademie für deutsches Recht, dort Sekretär der II. Klasse und besonders im Ausschuss für Religionsrecht tätig. 1942 folgte er einem Ruf an die Universität Leipzig. Wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP von der russischen Besatzungsmacht entlassen,7 war er dort zunächst weiter auf privatrechtlicher Grundlage tätig. 1949 nahm er einen Ruf an die Universität Göttingen an.8
5 Dazu Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999 und Bd. IV, 2012; Horst Dreier und Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: VVDStRL Bd. 60 (2001), S. 9 ff. und 73 ff. 6 Darstellungen von Leben und Werk bei Hans Schneider, In Memoriam Werner Weber, Göttinger Universitätsreden, 1977 (dort S. 28 f. auch die Bibliographie der Arbeiten aus den letzten Lebensjahren Webers); ders., Nachruf auf Werner Weber, AöR 102 (1977), S. 470 ff.; Volkmar Götz, Verwaltungsrechtswissenschaft in Göttingen, in: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 336 (353 ff.); Christian Starck, Erinnerungen an Werner Weber (geb. 1904), DÖV 2004, S. 996 ff.; Klaus Lange, Die Bedeutung Werner Webers für Niedersachsen, NdsVBl. 2004, S. 225 f. 7 Dazu Martin Otto, Werner Weber – ein Opfer der politischen Säuberung nach 1945, SächsVBl. 2004, S. 201 ff.; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. IV, S. 111. 8 Dazu auch Eva Schumann, Von Leipzig nach Göttingen. Eine Studie zu wissenschaftlichen Netzwerken und Freundschaften vor und nach 1945, in: Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 2009, S. 633 (bes. 674 ff.).
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Fast ein Vierteljahrhundert hat Weber in Göttingen in der Forschung und als akademischer Lehrer gewirkt. Spätere Rufe nach Berlin und Bonn lehnte er ab. Die Studenten schätzten seine Vorlesungen, denn sie boten eine klare Systematik, präzise Formulierungen und eine nüchterne Stoff- und Problemvermittlung. Gerade weil Weber die Kunst des Vortrags beherrschte, konnte er auf rhetorisches Beiwerk verzichten. Seine Seminare führten Studenten, Doktoranden und Verwaltungspraktiker zusammen.9 Sie waren darauf angelegt, über den Stand der eigenen und der unter seiner Betreuung durchgeführten Forschungsarbeiten zu informieren und diese zu diskutieren. Die große Zahl von Dissertationen deckt die Breite der staats- und verwaltungsrechtlichen Fächer unter Einschluss der Verfassungsgeschichte ab. Einen Schwerpunkt bilden Arbeiten zur aktuellen Verwaltungsordnung und ihrer Organisation. Förderung des akademischen Nachwuchses und Mitwirkung an der akademischen Selbstverwaltung waren für ihn selbstverständliche Pflichten.10 Von 1956 bis 1958 bekleidete er das Amt des Rektors. Von 1963 bis 1965 war er Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. „Für die niedersächsische Staatsverwaltung wurde er als Gutachter und Berater eine Institution“.11 „Wesentliche Teile des öffentlichen Dienstes des Landes Niedersachsen erhielten ihre juristische Ausbildung bei Werner Weber“.12 Die von ihm zusammengestellte und immer wieder aktualisierte Sammlung des niedersächsischen Landesrechts war für Generationen von Studenten ein unverzichtbares Arbeitsmittel. Weber war ein Repräsentant der oft sogenannten alten Ordinarienuniversität, von hohen Ansprüchen und vorbildlicher Pflichterfüllung. Er arbeitete selbst mit größtem Einsatz und ging davon aus, dass seine Mitarbeiter ebenso verfuhren. Sie auszunutzen wäre für ihn undenkbar gewesen. Der persönliche Umgang war gleichermaßen durch Wohlwollen und Distanz bestimmt. Zu Plaudereien war er selten aufgelegt. Aber wer Rat oder Unterstützung suchte, konnte auf ihn zählen. 1972 wurde Werner Weber emeritiert. Zu seinem 70. Geburtstag 1974 überreichten ihm Schüler, Kollegen und Freunde eine Festschrift, die die Spannbreite seiner wissenschaftlichen Interessen widerspiegelt.13 Am 29. November 1976 ist
9 Für die studentischen Teilnehmer war es gelegentlich nicht ganz einfach, in der Diskussion ihrer Referate den Einwänden der Verwaltungspraktiker stand zu halten. Sie konnten sich aber der Unterstützung Webers stets sicher sein. 10 Vier seiner Schüler hat Weber zur Habilitation geführt: Hans Schneider (Habilitation an der Wirtschaftshochschule Berlin 1940), Wilhelm Henke (Göttingen 1962), Eberhard Schmidt-Aßmann (Göttingen 1971), Klaus Lange (Göttingen 1972). 11 Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts (Fn. 5), Bd. IV, S. 53. 12 Lange, Die Bedeutung Werner Webers (Fn. 6), S. 225. 13 Hans Schneider/Volkmar Götz (Hrsg.), Im Dienste an Recht und Staat, 1974.
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Werner Weber verstorben. Seit 2004 erinnert, einem Göttinger Brauch folgend, eine Gedenktafel an seinem Wohnhaus im Wackenroder Weg an einen um Universität, Stadt und Land verdienten Gelehrten.
II. Grundüberzeugungen Webers Grundüberzeugungen zu Staat und Recht sind fest gefügt, aber nicht rigide. Der Staat stellt für ihn eine vorgegebene Herrschaftsordnung dar, deren Handlungsfähigkeit zum Nutzen des Einzelnen und der Gesellschaft dauerhaft gesichert werden muss. „In alledem ist der eigene Staat für das Volk weit mehr als eine bloße Zweckapparatur; er ist eine der großen und unvergänglichen Manifestationen menschlicher Wesenheit selbst“.14 In dieser zentralen Rolle ist er „nicht bloß als Organisation, Instrumentarium, Apparat u. ä.“ zu verstehen, sondern begegnet uns „als Aufgabe“.15 Der Zugang zu den großen Fragen des Öffentlichen Rechts wird aufgabenbezogen, nicht normbezogen definiert: Primär geht es um eine Staatlichkeit, die sich in verantwortlichem Handeln und in kraftvoller Aufgabenerfüllung zeigen soll. Die Funktion des Rechts wird nicht gering veranschlagt. In frühen Stellungnahmen zur Kontrasignatur und zur Veröffentlichungsbedürftigkeit von Rechtsvorschriften sind es gerade elementare Anforderungen der Rechtsform, die im Chaos des Unrechtsstaates zu wahren versucht werden.16 In den Publikationen, mit denen Weber über mehr als 25 Jahre die staatsrechtliche Entwicklung der Bundesrepublik begleitet hat, warnt er aber ebenso davor, die befriedende Rolle des Rechts zu überschätzen und betont die entscheidende Rolle, die dem Eintreten der Bürger für ihren Staat zukommt. „Staatsverdrossenheit“ ist für ihn eine der größten Gefahren für die Stabilität des Gemeinwesens.17 1962 ruft er zusammen
14 So Weber, Die Bundesrepublik Deutschland und die Wiedervereinigung, Rede beim Staatsakt am 17. Juni 1966 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, abgedr. in: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 314 (318). 15 Werner Weber, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, VVDStRL Bd. 11 (1954), S. 257 (Schlußwort). 16 Weber, Kontrasignatur und Gegenzeichnung bei Akten des Staatsoberhaupts, Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 1937, S. 184 ff.; ders., Führererlaß und Führerverordnung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 102 (1941), S. 101 ff.; ders., Die Verkündung von Rechtsvorschriften, 1942. 17 Weber, Der deutsche Bürger und sein Staat (1967), abgedr. in: Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 329 (329): „Das Verhältnis des deutschen Bürgers zu seinem Staat ist zwiespältig, gebrochen, mehr noch: es ist indifferent“.
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mit Gerhard Oestreich und Hans J. Wolff die Zeitschrift „Der Staat“ ins Leben. Sie soll eine „Stätte der Staatsbesinnung“ sein, an der der politischen Ordnungsform des Staates „als eine(r) der wichtigsten Sicherungen persönlicher und politischer Freiheit“ aus der Sicht unterschiedlicher Wissenschaften und unter Einbeziehung ausländischer Forschungen nachgegangen werden soll.18 Für Weber ist das bis in den Titel hinein wissenschaftliches Programm und persönliches Bekenntnis zugleich. Weber verstand es, mit Scharfsinn und großer Ausdruckskraft Rechtslagen und gesellschaftliche Situationen aufeinander zu beziehen und in ihrem Zusammenhang zu bewerten. Ein klarer, historisch geschulter Blick für die Bewegungsgesetze von Institutionen kennzeichnet seine Studien. Eine Begrenzung auf eine eng verstandene rechtsdogmatische Sichtweise lag ihm dagegen ebenso fern wie die Behandlung abstrakter Methodenfragen. Obwohl selbst ein guter Systematiker, hat er sich auch an systematischen Kommentierungen des Grundgesetzes nicht beteiligt. Was stattdessen geboten wird, sind präzise Analysen der Gegenwart und Prognosen zu erwartender Entwicklungen, oft warnend und besorgt, aber nicht resignativ formuliert. Zu den Beiträgen, die seinerzeit viel Aufmerksamkeit erregten und die man auch heute mit Gewinn liest, gehört die Göttinger Antrittsvorlesung vom Juni 1949 „Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz“.19 Weber unterzieht in ihr das gerade in Kraft getretene Grundgesetz einer ersten kritischen Würdigung: Er weist auf Schwächen seiner Legitimation. Er kritisiert das „unbefangene Vertrauen zu einem normativen Positivismus, mit dem die Schöpfer des Grundgesetzes die politische Zukunft Deutschlands in den Griff zu bekommen glaubten“,20 und beschwört „die doppelte Gefahr einer Juridifizierung der Politik und der Politisierung der Justiz“.21 Er beklagt die vollständige und ausnahmslose Mediatisierung des Volkes durch die politischen Parteien.22 Er befürchtet eine „Entmachtung der Exekutive“ in einer Zeit, in der der Staat, „ob man will oder nicht, Verwaltungsstaat ist“.23 „Webers Kritik des Grundgesetzes 1949/51 war nicht Ausdruck der Ablehnung, sondern im Gegenteil einer wachen Sorge um die Tragfähigkeit der
18 Der Staat Bd. 1 (1962), S. 1 f.: Geleitwort. 19 Abgedr. in: Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 9 ff. Zu ihr vgl. Jens Kersten, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 299 ff. Zu ähnlichen Überlegungen Forsthoffs vgl. Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2011, S. 347 ff. 20 AaO., S. 16. 21 AaO., S. 29. 22 AaO., S. 20. 23 AaO., S. 27 und 31.
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neuen Verfassungsordnung“.24 Der Staatsrechtswissenschaft waren damit zentrale Themen benannt, die in der Folgezeit die wissenschaftlichen Diskussionen mit bestimmen sollten. Die weiteren Entwicklungen haben wichtige Punkte dieser Kritik so nicht bestätigt. Die Bundesrepublik ist mit der klaren normativen Ausrichtung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, die ihr das Grundgesetz gegeben hat, und mit der herausragenden Stellung des Bundesverfassungsgerichts gut gefahren. Weber selbst – wissenschaftlich der Beobachtung und nicht dem Beharren verpflichtet – hat einige seiner Einschätzungen in den folgenden Jahren korrigiert oder abgemildert. Trotz aller Widersprüchlichkeiten, so schreibt er 1967,25 sei der Staat der Bundesrepublik „zu einem geordneten Gemeinwesen mit hoher gesellschaftlicher Selbstdisziplin“ herangewachsen, das „Freiheitlichkeit und sozialen Ausgleich in bemerkenswertem Grade miteinander zu verbinden gewußt hat“. Ebenso unbestritten sollte es allerdings sein, dass Weber mit der Analyse von 1949 einige Brennpunkte benannt hat, an denen nach Jahren und Jahrzehnten der Ruhe in Politik und Wissenschaft erneuter Streit sehr schnell und heftig wieder hervorbrechen kann. Dieses herauszustellen zielt nicht auf eine leichthändige Reaktualisierung der Weberschen Warnungen. Aber die Bezüge zwischen der Mediatisierung des Volkes durch die Parteien und neu aufgebrochenen Forderungen nach mehr direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren sind nicht zu übersehen. In noch stärkerem Maße gilt das für die derzeitigen Auseinandersetzungen um die Rolle des Rechts und der Gerichte bei der Bewältigung der europäischen Schuldenkrise. Auch der, der hier klar für einen normativen Zugang optiert, wird sich der Einsicht nicht verschließen: „Aber verantwortliches Handeln in Regierung und Verwaltung und nicht das Kontrollieren und richterliche Judizieren stehen im Zentrum der staatlichen Existenz“.26 Wenn so ein Konservativer spricht,27 dann dürften seine Worte gerade bei fortschrittlichen europäischen Juristen auf Zustimmung rechnen. Uns aber erinnern sie daran, den in Deutschland erreichten Stand an Verfassungsnormativität in der europäischen Diskussion nicht als Selbstverständlichkeit zu nehmen.28
24 Götz, Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 6), S. 359; deutlich verhaltener die Beurteilung der Antrittsvorlesung bei Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. IV, S. 132 f. 25 Weber, Der deutsche Bürger (Fn. 17), S. 343. 26 Weber, Weimarer Verfassung (Fn. 19), S. 32. 27 So Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. IV, S. 132. 28 Vgl. nur die Analysen in: Christoph Schönberger/Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011.
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III. Einige Schwerpunkte des wissenschaftlichen Werkes Für Weber selbst sind mit der Göttinger Antrittsvorlesung zugleich Schwerpunkte künftiger Forschungsarbeit festgelegt – durchaus nicht nur für das Staatsrecht, sondern übergreifend auf Verwaltung und Verwaltungsrecht. Sieht man sich die Themen der Beiträge näher an, so überwiegen solche zu Institutionen und Institutionszusammenhängen. Grundrechtsfragen werden vor allem im Kontext konkreter verwaltungsrechtlicher Probleme, z. B. des Naturschutzrechts, des Hochschulrechts, des Presserechts oder des Versicherungsaufsichtsrechts, behandelt. Eigenständige grundrechtssystematische Untersuchungen finden sich dagegen nur vereinzelt. Jahrzehnte zählte der umfangreiche Artikel „Eigentum und Enteignung“ im Grundrechtehandbuch von Neumann, Nipperdey und Scheuner zu den wichtigen Referenzen in der grundgesetzlichen Eigentumsdogmatik.29 Seine Interessen an Institutionen haben Weber immer wieder zur Behandlung des Staats- und Verwaltungsorganisationsrechts veranlasst. Gerade hier bündeln sich Strukturaussagen mit bereichsspezifischen Sacherwägungen. Vieles von dem, was in anderen Beiträgen etwa zur Rolle der Parteien, zur gebotenen Neutralisierung von Verbandseinflüssen, zur Sachwalterschaft des Berufsbeamtentums oder zur Dynamik sozialstaatlicher Forderungen genauer ausgeführt ist, bildet in den Veröffentlichungen zur Staatsorganisation eine Determinante in einem der Komplexität von Organisationen angemessen komplexen Argumentationsgefüge.30 In einer Zeit, in der das Organisationsrecht eher nur als ein Zurechnungsrecht verstanden wurde, hat er die viel weiterreichenden Steuerungsfunk-
29 Werner Weber, Eigentum und Enteignung, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, S. 331 ff. Die Darstellung beginnt mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu Art. 153 WRV, um sodann mit klaren begrifflichen Festlegungen der einzelnen staatlichen Eigentumszugriffe und der Unterscheidung von „klassischer Enteignung“ und „Aufopferungsenteignung“ dem Art. 14 GG Strukturen zu geben. Auf die Literatur zu den Eigentumsvorstellungen in der Zeit des Nationalsozialismus und die eigenen Veröffentlichungen dazu (s. nur Werner Weber/Franz Wieacker, Eigentum und Enteignung, 1935, S. 8 ff.; Werner Weber, Dienst- und Leistungspflichten der Deutschen, 1943, S. 99 ff.) wird hingewiesen. Eine Auseinandersetzung mit den seinerzeit entwickelten Vorstellungen eines Schutzes nur nach Maßgabe „der persönlichen und vermögensrechtlichen Gesamtlage innerhalb der engeren oder weiteren völkischen Ordnungsgebilde“ (1935, S. 24) fehlt. Sie wäre schon um des Kontrastes zur grundgesetzlichen Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2 GG) jedoch wünschenswert gewesen. 30 Eindrucksvoll etwa am Beispiel des Art. 9 Abs. 3 GG in: Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung (1962), abgedr. in: Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 152 ff.
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tionen desselben herausgearbeitet, nicht selten verbunden mit Vorschlägen zu deren Verbesserung.31 Weber konnte hierzu auf seine frühen Beiträge zur mittelbaren Staatsverwaltung zurückgreifen. Schon sie zeigen die methodische Stärke seines Arbeitens:32 An erster Stelle stehen die Sammlung des verstreuten Gesetzesmaterials und die Analyse der in ihm angelegten realen Kräfteverhältnisse. Auf dieser Basis werden sodann durch Vergleich verallgemeinerungsfähige Merkmale herauspräpariert, die schließlich in die dogmatische Begriffs- und Systembildung eingebracht werden. Die dabei wirksamen Ordnungsvorstellungen sind alles andere als formaler Natur. Sie sollen vielmehr einen Bereich organisierter Staatlichkeit funktionsfähig erhalten und gegen unkontrollierte Einflüsse von Parteien und Verbänden abschirmen.33 Aus der großen Zahl der Themen können hier nur drei aufgegriffen werden: der Föderalismus (1), die kommunale Selbstverwaltung (2) und das Staatskirchenrecht (3).
1. Deutscher und europäischer Föderalismus Die „Gegensätzlichkeit sich balancierender staatsrechtlicher Positionen“, von der schon in der Dissertation die Rede ist,34 sie muss die Staatsorganisation prägen. Wo es an realen Kräften fehlt, die diese Gegensätzlichkeiten repräsentieren könnten, laufen noch so gut ersonnene Rechtsregeln leer. Mit dieser Elle messend, beurteilt Weber den Föderalismus der Bundesrepublik zunächst skeptisch: Die Länder seien „trotz aller föderalistischen Vorkehrungen nicht mehr als Staaten sondern als Selbstverwaltungskörperschaften mit einer sehr ausgedehnten Autonomie“ zu begreifen; es sei zu erwarten, „daß auch im Bundesrat stärker parteipolitische als föderative Kräfte zum Tragen gelangen“.35 Nach 15 Jahren fällt
31 Lange, Die Bedeutung Werner Webers (Fn. 6), S. 225. 32 Werner Weber, Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, 1940, 2. Aufl. 1943. In der Methode ähnlich später Werner Weber, Die Öffentliche Sache, in: VVDStRL Bd. 21 (1964), S. 145 (150 ff.). 33 In der Schrift von 1940/1942, indem der NSDAP und ihren Nebenorganisationen der Körperschaftsstatus abgesprochen wurde; vgl. Körperschaften (Fn. 32), 2. Aufl., S. 75 ff. 34 AaO. (Fn. 1), S 179. 35 Weber, Weimarer Verfassung (Fn. 19), S. 17; ähnlich ders., Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus (1951), abgedruckt auch in: Weber, Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 57 ff.
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die Bewertung differenzierter und günstiger aus:36 Anerkannt werden gewaltenteilende und einen „parteipolitischen Spannungsausgleich“ fördernde Effekte des inzwischen eingespielten bundesrepublikanischen Föderalismus. Im Bundesrat und seinen Ausschüssen können zudem „die Erfahrungen und Sachkunde der Länderspitzenbürokratie für die Bundesaufgaben nutzbar gemacht werden“. Sorge bereitet es jedoch, dass sich die politischen Kräfte angesichts der Kleinräumigkeit der (alten) Bundesrepublik in einem föderalistischen Glasperlenspiel verzetteln könnten, während die weltpolitisch wichtigen Auseinandersetzungen in den Zentren in „Brüssel, Washington oder wo immer“ stattfinden.37 Weber denkt vom deutschen Staat her; aber sein Denken ist nicht binnenzentriert. 1969 schreibt er:38 „Eine wirkliche Strukturveränderung der Bundesrepublik, sozusagen die europäische Wendung im deutschen Staatsleben, ist durch die gliedschaftliche Beteiligung der Bundesrepublik an der ‚supranationalen‛ europäischen Sechsergemeinschaft eingetreten; damit hat sich die Statusveränderung der Bundesrepublik in den eines Gliedstaates eines föderalistischen Systems angebahnt und bis heute schon zu einem guten Stück vollzogen“. Einen wirklichen Föderalismus, in dem eigenständige politische Kräfte miteinander ringen, kann sich Weber künftig nur noch auf europäischer Ebene vorstellen. Als dessen Entwicklungsmöglichkeiten werden 1967 weitsichtig folgende Alternativen benannt:39 „Entweder gelangen wir zu dem föderalistischen Bundesstaat eines ‚Europa der Vaterländer‘ oder wir konstruieren das Europa eines einheitlichen Wirtschaftsgefüges unter dem Regiment von Managern und Technokraten, das politisch keine Konturen hat und sich in der Auseinandersetzung mit der unübersehbaren nationalen Selbständigkeit der Franzosen, Italiener, Niederländer usf. zerreiben muß“. Im Gesamtwerk Webers finden sich nur wenige Aussagen zur Europäisierung des Öffentlichen Rechts. Seine literarisch besonders fruchtbaren Jahre fallen in die Zeit der Ost-West-Spaltung, des Kalten Krieges und der ausstehenden Wiedervereinigung. Vorrangig sie bestimmen seine weltpolitischen Überlegungen.40 Die zitierten Aussagen belegen jedoch, wie sehr Weber die europäische Integration als Perspektive in sein Konzept von Staatlichkeit und
36 Werner Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus (1966), abgedruckt auch in: Weber, Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 288 ff. 37 AaO. (Fn. 36), S. 313. 38 Werner Weber, Die Bundesrepublik und ihre Verfassung im dritten Jahrzehnt (1969), abgedr. auch in: Weber, Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 345 (351). 39 Weber, Der deutsche Bürger (Fn. 17), S. 329 (336). 40 Sie war Weber ein großes persönliches Anliegen. 20 Jahre lang leitete er den Verfassungsausschuss des Königsteiner Kreises. 1973 gab er unter Mitwirkung von Werner Jahn eine breit angelegte „Synopse zur Deutschlandpolitik 1941 bis 1973“ heraus.
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Staatsorganisation einbezog und wie treffsicher er ihre Dynamik mit wenigen Strichen aufzuzeigen verstand. Wer eine deutlich europaskeptische Grundstimmung erwartet, wird enttäuscht. Weber geht es auch dort, wo er historisch argumentiert, nicht darum, überkommene Organisationsformen von Staatlichkeit zu konservieren, sondern darum, die in der Verantwortung stehenden Hoheitsträger auf Gemeinwohlfähigkeit festzulegen.
2. Kommunale Selbstverwaltung Von dem Ziel, ein leistungsfähiges Gemeinwesen mit klaren Verantwortungszuweisungen zu gewährleisten, sind auch die Untersuchungen zur Selbstverwaltung, insbesondere zur kommunalen Selbstverwaltung, bestimmt. Auch hier beginnt die Reihe der Beiträge mit einer klarsichtigen Bestandsaufnahme:41 Das alte Kräftespiel zwischen Staats- und Selbstverwaltung, das Gegenüber von monarchischer Exekutive und bürgerlicher Gesellschaft, ist schon mit „Weimar“ untergegangen. Zu ihm zurückkehren zu wollen, wäre eine „romantische Restauration“. Eine realitätsbezogene Kommunalverfassung muss sich den neuen Gegebenheiten zuwenden. Zum einen ist hier der veränderte Aufgabenbestand, die breite Betrauung der Gemeinden mit Auftragsangelegenheiten, zu nennen, der dazu geführt hat, dass die Bevölkerung die Gemeinde vor allem als Obrigkeit erfährt. Zum anderen ist die wichtige Rolle der professionellen kommunalen Verwaltung in Rechnung zu stellen. Die „Gegenüberstellung von Gemeindebürokratie und bürgerschaftlicher Gemeindevertretung“ muss als neue Kräftebalance organisiert werden. „Gerade der kommunale Verwaltungsapparat der modernen Stadt mit seinen Befugnissen über Menschen und Dinge bedarf eines starken Gegengewichts, damit er nicht erstarrt oder selbstgenügsam wird“.42 Dem Einfluss der großflächig organisierten politischen Parteien gegenüber bleibt Weber allerdings kritisch. Selbstverwaltung soll möglichst „Sachverwaltung“ sein. Dieser kommunalwissenschaftlichen Untersuchung folgt wenige Jahre später eine Studie zu den juristischen Sicherungen der kommunalen Selbstverwaltung, eine Sichtung dessen, was die Selbstverwaltungsgarantien des Grundgesetzes
41 Werner Weber, Wandlungen der Kommunalverwaltung (1948), in überarbeiteter Form abgedr. in: Werner Weber, Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. Aufl. 1967, S. 61 ff.; danach wird im Folgenden zitiert. 42 AaO., S. 71 ff.
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und der Landesverfassungen materiell hergeben.43 Alle wichtigen Themen, die die Kommentarliteratur zu Art. 28 Abs. 2 GG später beschäftigen werden, sind hier bereits angesprochen: die Schutzrichtung der Garantien, die Festlegung der „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“, die Bedeutung der Finanzautonomie und die Notwendigkeit einer Konnexitätsregelung bei der Zuweisung neuer kostenträchtiger Aufgaben, die Fragen der Kommunalaufsicht. Webers These von der Einheitlichkeit der bundes- und der landesverfassungsrechtlichen Garantiestandards ist die herrschende Interpretationslinie der folgenden Jahrzehnte geworden. Eine Fülle konkreter Fragen kommunaler Verwaltung wird in Aufsätzen, Vorträgen und Gutachten behandelt. Teilweise sind sie auf eine ganz spezielle Situation, etwa die Neugliederung eines bestimmten Raumes, bezogen. Teilweise sind sie als Strukturfragen gefasst, etwa Untersuchungen zur Verwaltung des ländlichen Raumes. Früh werden Rechtsprobleme der Raumordnung und Landesplanung einbezogen.44 Früh erkennt Weber die Bedeutung der Ausbildung des Umweltschutzes zu einem eigenen Rechtsgebiet und kann ihr aus seiner Kenntnis des Naturschutzrechts historische Zusammenhänge aufzeigen.45 Stets geht es ihm darum, die Fragen zunächst von ihren Realbezügen (unter Einbeziehung geschichtlicher Zusammenhänge) her aufzuhellen.46 Verwaltungswissenschaftlich informiertes Arbeiten ist für ihn selbstverständlich. Er macht es nicht zu einem eigenen Thema. Es bildet vielmehr einen integralen Teil seines aufgabenbezogenen Verwaltungsrechtsverständnisses. Über Kommunalwesen und Kommunalrecht kann wissenschaftlich sinnvoll nur arbeiten, wer die ganze Breite kommunaler Agenden im Blick hat. Die Ergebnisse dieses Arbeitens dokumentieren einen enormen Erfahrungsschatz. Weber ist daher ein gesuchter Gutachter, zumal dann, wenn es um grundlegende Reformen der Verwaltungsordnung geht. Für den 45. Deutschen Juristentag erstattet er 1964 das Gutachten „Entspricht die gegenwärtige kom-
43 Werner Weber, Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung, in: Weber, Staats- und Selbstverwaltung (Fn. 41), S. 31 ff. 44 Zu Webers Arbeiten auf diesem Gebiet vgl. Volkmar Götz, Staat und Kommunalkörperschaften in der Regionalplanung, in: Festschrift für Werner Weber (Fn. 3), S. 979 ff. 45 Werner Weber, Umweltschutz im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, DVBl. 1971, S. 806 ff. 46 Treffend spricht Götz, Verwaltungsrechtswissenschaft (Fn. 6), S. 360 im Blick auf dieses Arbeiten Webers vom „Gewicht der Realien“ und der „Vorliebe für treffsichere und kritische Beurteilungen der Wirklichkeit“.
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munale Struktur den Anforderungen der Raumordnung?“.47 Von Gutachten und Beschlüssen des 45. DJT „ging eine Welle von Aktivitäten zur Verwaltungsreform aus“, die in den Folgejahren die Politik in den Flächenländern der alten Bundesrepublik bestimmen sollte.48 Niedersachsen berief 1965 zu diesem Zweck eine Sachverständigenkommission, Werner Weber wird der Vorsitzende. Nach dreijähriger intensiver Arbeit legt die Kommission – landläufig „Weber-Kommission“ genannt – ihr Gutachten vor, das wegen seiner gründlichen Bestandsaufnahmen zu Aufgabenbestand und Organisationsstrukturen der gesamten Landesverwaltung und seiner ausgewogenen Empfehlungen als vorbildlich gilt.49 Es wird zur Grundlage eines über mehrere Jahre verlaufenden intensiven Diskussionsprozesses in Politik und Gesellschaft, in dem auch Weber sich mit Vorträgen und Veröffentlichungen engagiert. Wichtige Teile seiner Empfehlungen werden in der niedersächsischen Reformgesetzgebung der Folgejahre realisiert.50
3. Staat und Kirche Die Beschäftigung Webers mit staatskirchenrechtlichen Fragen reicht zurück in die Zeit seiner Tätigkeit in der Geistlichen Abteilung des Preußischen Kultusministeriums. Es mag mit dieser frühen Einbindung zu tun haben, dass seine ersten Veröffentlichungen, die mit dem Jahre 1935 beginnen, von einer staatlichen Perspektive geprägt sind. Selbstverständlich spricht Weber den Kirchen alles das zu, was ihnen nach Konkordat, Kirchenverträgen und Gesetz zusteht. Präzise und mit großer Detailkenntnis werden die Rechtsgrundlagen dazu aufgearbeitet. Aber wo Spielräume des Rechts verbleiben, liegt für ihn eine Option zugunsten staatlicher Interessen nahe.51
47 Werner Weber, Entspricht die gegenwärtige kommunale Struktur den Anforderungen der Raumordnung? Empfehlen sich gesetzgeberische Maßnahmen der Länder und des Bundes? Welchen Inhalt sollen sie haben?, Gutachten für den 45. DJT, 1964. 48 So Frido Wagener, Neubau der Verwaltung, 1969, S. 171. 49 Niedersächsischer Minister des Innern (Hrsg.), Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen. Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform, 1969. 50 Vgl. Volkmar Götz/Wilhelm Petri, Die Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen, in: Die Verwaltung Bd. 18 (1980), S. 37 ff.; Lange, Die Bedeutung Werner Webers (Fn. 6), S. 225. Zur aktuellen Situation vgl. Albert Janssen, Die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien, in: Die Verwaltung Bd. 43 (2010), S. 1 ff. 51 Ganz anders allerdings die Einschätzung in einem Schreiben des „Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes“ vom April 1942 (aus der Akte über die Affäre der Berufung Forsthoffs nach Wien, im Text mitgeteilt in: Dorothee Mußgnug/Reinhard Mußgnug/Angela Reinthal,
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Die wichtigsten Stellungnahmen gehen auf Ausarbeitungen für den „Ausschuss für Religionsrecht“ zurück, den die Akademie für Deutsches Recht zwischen 1938 und 1941 eingerichtet hatte.52 Weber referierte dort über das „Nihil obstat“53 und über „Die politische Klausel in den Konkordaten“.54 In der Nachkriegsliteratur wird der Arbeit des Ausschusses juristische Sorgfalt und das Fehlen weltanschaulicher Postulate des Nationalsozialismus sowie das Bemühen „um eine rationale Grundlegung des Staatskirchenrechts“ bescheinigt. Allerdings – so heißt es weiter – hätten sich die Ausschussmitglieder getreu ihrem Auftrag, der Politik des Reichskirchenministeriums zu dienen, stets als Gegenspieler vor allem der ‚Kurialjuristen‘ betrachtet“.55 Ein Vortrag, den Weber im April und Mai 1941 auf zwei Zusammenkünften vor evangelischen Kirchenbeamten gehalten hat, zeigt allerdings, dass ihm die seinerzeitige Situation der Kirchen durchaus Sorge bereitet.56 Er trennt hier zwischen einer zunehmend antikirchlichen und antichristlichen Politik der NSDAP und einer unentschiedenen Politik der staatlichen Instanzen, schildert die stattfindende „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“, die er als „gewaltsame Verdrängung der Kirchen von ihrem öffentlichen Platz im Volksleben“
Briefwechsel Ernst Forsthoff Carl Schmitt, 2007, Einleitung, S. 16), in dem Forsthoff „einer gewissen Cliquenbildung mit gleichgesinnten Rechtslehrern“, u. a. Weber, bezichtigt wird, „denen sämtlich konfessionelle Bindungen nachzuweisen sind“. Der Kreis – so heißt es weiter – verträte „immer wieder kirchliche Tendenzen“. 52 Die Beratungen des Ausschusses sind wiedergegeben in: Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. XV, 2003. Zu Entstehungsgeschichte und Zusammensetzung dort S. X ff. Von Seiten der Wissenschaft gehörten dem Ausschuss Barion, Forsthoff, J. Heckel und Weber an. Letzterer war als Sekretär der II. Klasse der Akademie für die Etablierung des Ausschusses zuständig. Vgl. Jörg Winter, Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht im Dritten Reich, 1979, S. 67 ff.; ferner Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, 2004, S. 292 ff. 53 Veröffentlichte Fassung ZgesStW Bd. 99 (1939), S. 193 ff. 54 Veröffentlichte Fassung in der selbständigen Schrift Werner Weber, Die politische Klausel in den Konkordaten. Staat und Bischofsamt. Nr. 3 der Schriftenreihe der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1939; unveränderter Neudruck 1966 im Scientia Verlag. 55 So Winter, Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht (Fn. 52), S. 172 ff.; speziell zu Weber dort auch S. 174 ff. 56 Der Vortragstext („Die staatskirchenrechtliche und kirchenrechtliche Entwicklung seit 1933“) ist 1952 unverändert publiziert: Werner Weber, Die staatskirchenrechtliche Entwicklung des nationalsozialistischen Regimes in zeitgenössischer Betrachtung, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1952, S. 365 ff.
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bezeichnet, und stellt die Gefahren dieser Tendenzen für beide Kirchen, vor allen Dingen aber für die protestantische Kirche nüchtern und mutig heraus.57 Zehn Jahre später im Herbst 1952 trägt Weber auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zur Stellung der Kirchen unter dem Grundgesetz vor:58 Die Bundesrepublik erkenne beiden großen Kirchen „einen öffentlichrechtlichen Status von außerordentlicher Dichte zu“; von diesem umfassenden Gesamtstatus drängen sie „auf breiter Front in weitere Territorien der öffentlichen Lebensordnung vor“; sie ständen so „in einem politischen Gemeinwesen, in dem nicht mehr eine Kraft, nämlich der ‚Staat‘, den Bereich der öffentlichen Ordnung“ beherrsche, sondern diese Ordnung mehrere oder viele Herren habe. Wenn man sich an historischen Vorbildern orientieren wolle – so schließt er an –, finde man am ehesten im Ständestaat verwandte Züge. In der folgenden wissenschaftlichen Aussprache findet die Analyse Webers viel Anerkennung, das Wort vom „Ständestaat“ aber auch deutlichen Widerspruch. Insbesondere Ulrich Scheuner sieht in ihm ein von Weber kritisch gezeichnetes Bild, das zu Webers eigener Vorstellung von einem souveränen, den sozialen Kräften gegenüber unabhängigen Staate in Kontrast gesetzt werde.59 Auch Gerhard Leibholz wendet sich gegen Begriffe wie „Stände“ oder „Pluralismus“, weil sie in der politischen Sphäre auflösend und destruktiv wirkten; zwischen Kirchen und machtvollen „pluralistischen“ Verbänden bestehe zudem ein grundsätzlicher Unterschied.60 In seinem Schlusswort verdeutlicht Weber sein Staatsverständnis: Er wendet sich dagegen, sein Referat habe den souveränen Staat zum Leitbild; die Demokratie sei eine Staatsform, in der gerade „im Wechsel der Herrschaftsstrukturen ein Element der Freiheit und des Ausgleichs“ liege.61 In diesem Prozess der Integration weist er den Kirchen und ihrem Wächteramt eine positive Aufgabe zu. Allerdings versagt er es sich bewusst, ein idealtypisches Leitbild für das Verhältnis des Staates zu den Kirchen unter dem Grundgesetz zu entfalten:62 „Die Möglichkeiten der Staatsrechtswissenschaft, mit ihren Mitteln ein Leitbild für die Zukunftsentwicklung zu gewinnen, sind begrenzt“.
57 AaO., bes. S. 372 ff. und 384 ff. Zu Repressionen, denen Weber ausgesetzt war, Winter, Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht (Fn. 52), S. 192 ff. 58 Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, in: VVDStRL Bd. 11 (1954), S. 153 ff. (bes. S. 169 ff.). 59 Scheuner, Diskussionsbeitrag, aaO., S. 225 f. 60 Leibholz, Diskussionsbeitrag, aaO., S. 249 f.; vgl. auch Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. IV, S. 339 ff. 61 Weber, Schlusswort, aaO., S. 253 (256 f.). 62 AaO., S. 258.
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Das weitere staatskirchenrechtliche Werk Webers geht dem Verhältnis von Staat und Kirchen in einzelnen Rechtsgebieten nach: im Hochschulrecht, im Schulrecht, im Personenstandswesen, im Recht der öffentlichen Sachen. Stets stehen die einschlägigen Rechtstexte im Mittelpunkt. Erst wo deren Interpretation nicht weiter führt, werden funktionale und teleologische Argumente hinzugezogen. Sie werden aus der konkreten Schutzbedürftigkeit entwickelt, ohne einer vorfixierten Rangordnung kirchlicher und staatlicher Interessen zu folgen. Dieselbe Linie bestimmt die eher theoretischen Beiträge zur Bedeutung der Begriffe „Allgemeines Gesetz“ und „für alle geltendes Gesetz“ und die historischen Reflexionen über die Kirchenrechtsartikel der Weimarer Reichsverfassung.63 Die wichtigsten dieser Beiträge einer 40 Jahre umfassenden Publikationstätigkeit hat Weber am Ende seines Lebens der Öffentlichkeit gesammelt noch einmal vorgelegt, darunter fünf aus den Jahren 1935 bis 1940.64 Im Vorwort sagt er dazu:65 „Manches davon hat nur noch historisches Interesse und vornehmlich als Dokument der Zeitgeschichte Aussagewert; anderes kann unvermindert aktuelle Bedeutung beanspruchen, auch wenn sich die Aspekte, nicht zuletzt beim Verfasser selbst verschoben haben“. Und er fährt fort: „Das Ganze will deshalb zunächst als Rechenschaftsbericht über den unmittelbar erlebten Gang einer wechselvollen Entwicklung, sodann aber auch als ein Beitrag zu den Gegenwartsproblemen des Verhältnisses von Staat und Kirche verstanden werden“. Wer Webers Art kennt, sich gerade über Persönliches nur sehr zurückhaltend zu äußern, wird die selbstkritische Reflexion auch über die Wandelbarkeit eigener Positionen wahrnehmen, die in diesen Worten ausgedrückt ist.
IV. Am Schluss: Webers Konservativismus Weber wird gern als ein Konservativer bezeichnet. Er hätte dieser Charakterisierung wahrscheinlich nicht widersprochen. Doch ist Vorsicht geboten. Soweit mit einem so plakativen Begriff nicht nur zum Lebensstil und Amtsverständnis, sondern auch zum Werk wissenschaftlich überhaupt etwas Förderliches ausgesagt werden kann, muss genauer hingesehen werden. Webers zentraler Bezugspunkt sind der Staat und die Wandlungen der ihn bestimmenden Kräfte. Kräfte-
63 Werner Weber, Das kirchenpolitische System der Weimarer Reichsverfassung im Rückblick, in: Festgabe für Wolfgang Abendroth, 1968, S. 381 ff. 64 Werner Weber, Staat und Kirche in der Gegenwart, 1978 posthum in der Reihe Jus Ecclesiasticum erschienen. 65 AaO., S. V.
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verschiebungen und die daraus resultierenden Gefahren hat er immer wieder klar benannt. Eine Konservierung überkommener verfassungsrechtlicher Modelle liegt ihm jedoch fern. Wer etwa die Göttinger Antrittsvorlesung als Ausdruck einer konservativen Grundeinstellung interpretiert, sollte auch das lesen, was Weber später zur Entwicklung der deutschen Verfassung sagt. Wer Webers Plädoyer für eine starke Exekutive beargwöhnt, beziehe auch das ein, was zur kommunalen Selbstverwaltung ausgeführt ist! Geschichte ist für Weber keine Verfallsgeschichte, sondern Hintergrund, um neue Aufgaben zu identifizieren und über neue Balancen nachzudenken. Hoheitsgewalt ist auch heute nicht in diffundierenden Governancestrukturen aufgegangen. Ihre gemeinwohlfähige Verfassung – sie mag im Nationalstaat, auf europäischer oder internationaler Ebene zu sehen sein66 – ist eine Daueraufgabe der Staatsrechtslehre, die an früheren Vorstellungen und Erfahrungen von Staatlichkeit nicht vorbeigehen kann. Ein „Denken vom Staat her“67 erscheint daher nicht notwendig als Ausdruck eines besonders konservativen Denkens. Anders als mancher seiner Weggefährten begegnete Weber den staatsrechtlichen Diskussionen in der Bundesrepublik nicht resignativ. Zur Resignation bestand für ihn angesichts seines Wirkens und seines Ansehens in der politischen Öffentlichkeit, das sich nicht zuletzt in seiner langjährigen Mitgliedschaft in den Staatsgerichtshöfen Niedersachsens und Bremens zeigte, kein Anlass. Seinem Doktorvater Carl Schmitt und den Teilnehmern des Bonner Seminarkreises Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber und Hans Barion bleibt er zeitlebens verbunden.68 Zusammen mit Barion und Forsthoff hat er 1958 die Festschrift zu Schmitts 70. Geburtstag herausgegeben.69 Sein eigener Beitrag dazu enthält eine kritische Bestandsaufnahme zur grundgesetzlichen Gewaltenteilung.70 Aber rückwärtsgewandt ist sie nicht: „Das innere Gesetz des Staates fordert auch unserer Zeit ab, die Autorität seines hoheitlichen Waltens überzeugend zu begründen und die
66 Vgl. nur Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005; Armin von Bogdandy et alii (eds.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, 2010. 67 So der Titel der Schrift von Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatslehre zwischen Dezision und Integration, 2004. 68 Vgl. Meinel, Ernst Forsthoff (Fn. 19), S. 36 ff. Zum Seminarkreis Schmitts in Bonn vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009, S. 177 ff. 69 Hans Barion/Ernst Forsthoff/Werner Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959. Zu empörten Reaktionen in Teilen der Staatsrechtslehre vgl. Meinel, Ernst Forsthoff (Fn. 19), S. 405 ff. An der zweiten Festschrift für Schmitt hat sich Weber als Mitherausgeber, nicht aber mit einem Beitrag beteiligt. Ob daraus allerdings auf eine Distanzierung gegenüber Schmitt zu schließen ist (so Günther oben Fn. 67, S. 138 f.), erscheint unsicher. 70 AaO., S. 253 ff.; abgedr. auch in: Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 152 ff.
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öffentlichen Verantwortungsbereiche in ihren spezifischen Aufgaben und Verpflichtungen sichtbar zu machen“.71 Das könnte heute ähnlich in einem Lehrbuch zum Europäischen Verfassungsrecht stehen. Weber hat sich diesen Gestaltungsaufgaben auch in seiner praktischen Gutachter- und Beratungstätigkeit gewidmet. Von seinem Wirken speziell für Niedersachsen war bereits die Rede. Seine Empfehlungen haben über Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung gefunden. Weber konnte sich die Praxis vorstellen und arbeitete stets dicht am normativen Material. Er interessierte sich – um es in zwei Worte seines gern benutzten Vokabulars zu fassen – für „Kräfteverhältnisse“ und nicht für „Glasperlenspiele“. Gefangen nehmen lassen hat er sich von der Praxis allerdings nicht, sondern ihr gegenüber stets die Distanz und Unbefangenheit des Wissenschaftlers gewahrt.72
71 Spannungen und Kräfte (Fn. 14), S. 174. 72 Ebenso Götz, Verwaltungsrechtwissenschaft (Fn. 6), S. 354: „Bei aller Neigung zum Ausgreifen in die gouvernementale und administrative Praxis war Webers eigentliche Heimat die Universität“.
XLIII Herbert Krüger (1905–1989) Thomas Oppermann Herbert Krüger gehört unter den Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts zu jener Gruppe, die kraft ihrer Lebensdaten die juristische Ausbildung unter der Weimarer Verfassung durchliefen, um anschließend in jungen Jahren 1933 mit der „nationalen Revolution“ Adolf Hitlers konfrontiert zu werden. In die Zeit der NSDiktatur verstrickt, betätigte sich Krüger nach 1945 ein Jahrzehnt in der juristischwirtschaftlichen Praxis, bis er in der Hamburger Rechtsfakultät seine endgültige akademische Heimat fand. Auf diese Weise prägten ihn drei sehr unterschiedliche politische Perioden.1 Krüger ist sich gleichwohl zeitlebens treu geblieben.
I. Leben Herbert Krüger wurde am 14. Dezember 1905 in Krefeld als Sohn eines in Russland tätigen Chemikers geboren. Auf diese Weise lebte er in jungen Jahren 1910 bis 1914 in Moskau. Nach Köln zurückgekehrt, studierte Krüger 1924–1928 Rechtswisssenschaft in Köln, Heidelberg und Berlin. Sein wissenschaftliches Interesse galt ursprünglich dem Strafrecht. Nach den juristischen Staatsexamina (1928/1932) promovierte er 1934 in Berlin bei Eduard Kohlrausch über „Rechtsgedanke und Rechtstechnik im liberalen Strafrecht“2 Gleichzeitig erfolgte unter dem Einfluß seines Lehrers Rudolf Smend 1936 die Habilitation Krügers zum Thema „Recht und Wirklichkeit. Das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der Rechts- und Staatslehre des 19. Jahrhunderts“.3 1936–1941 bekleidete Krüger öffentlichrechtliche Professuren in Heidelberg und anschließend bis 1944 in Straßburg. Mit
1 Oppermann, Ein deutscher Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert. Zum 100. Geburtstag von Herbert Krüger (1905–1989), AöR 2005, 494. – Die hier unternommene Würdigung ist eine erweiterte Fortführung dieses Textes. 2 Eine vollständige Bibliographie des Werkes von Krüger bis zum Ende der sechziger Jahre bei Koerner, Prof. Dr.iur. Herbert Krüger, Hamburg – Personalbiographie 1933–1968, 1969 (Manuskript). Die wesentlichen Schriften bis 1986 bei v.Münch/Oppermann/Stödter (Hrsg.) Finis Germaniae? Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Herbert Krüger 1975, 1977, 169 und bei Bryde/Kunig/Oppermann (Hrsg.), Neuordnung der Weltwirtschaft? Hamburger Herbert KrügerColloqium 1985, 1986, 75. 3 Die Arbeit blieb ungedruckt und ist verschollen.
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einem umfangreichen Schrifttum rückte er in jenen Jahren in die vordere Reihe der damaligen Staatsrechtslehre. Da Krüger vom August 1939 bis Kriegsende zur Wehrmacht eingezogen war, nahm er den Straßburger Lehrstuhl nicht wahr. Auch aus dem Felde – zuletzt an der Ostfront – wurde publiziert. Krüger war mit dem Wegfall der deutschen Reichsuniversität Straßburg 1944/45 aus akademischen Ämtern ausgeschieden. 1945–1951 arbeitete er als Rechtsanwalt und Repetitor in Frankfurt a. M. Anschließend wurde Krüger als Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder in Hamburg tätig, bis er 1955 als Nachfolger von Rudolf Laun auf einen Lehrstuhl für Staats- und Völkerrecht an der Universität Hamburg berufen wurde. Sie war mit der Leitung der Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht und des Instituts für Auswärtige Politik verbunden. Diese Professur hielt Krüger bis zu seiner Emeritierung 1971 inne. Er arbeitete als Emeritus bis zu seinem Tode am 25. April 1989 in Hamburg wissenschaftlich weiter und wirkte daneben in verschiedenen rechtspraktischen Funktionen. Herbert Krüger war von 1936 bis zu ihrem Tode 1973 nach jahrzehntelanger schwerer Krankheit mit Frau Ingeborg Krüger geb. Jahncke verheiratet. Aus der Ehe ging die Tochter Gabriele hervor.
II. Entwicklung 1930–1955 Das staatsrechtliche Schrifttum Herbert Krügers lässt sich gemäß dem Wandel der Zeitumstände ungefähr in drei Gruppen gliedern: die – wenigen – der Weimarer Zeit zurechenbaren Beiträge, anschließend seine Publikationen unter dem Nationalsozialismus und schließlich die Bücher und sonstigen Schriften nach 1945. Diese Gliederung erscheint sinnvoll, weil Krüger die Arbeit des Staats- und Verfassungstheoretikers stets in enger Beziehung zum jeweiligen politischen Umfeld gesehen und gerechtfertigt hat.4
4 Krüger, Versuch über Schwärmertum und Gegenwartsutopie als einen durchgehenden Zug unserer Zeit – ein Nachwort (1970), in: Krüger, Staat-Wirtschaft-Völkergemeinschaft, Ausgewählte Schriften aus vierzig Jahren, 1970, 235.
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1. Weimar Krüger wurde in der Endzeit der Weimarer Republik juristisch und politisch sozialisiert. Zu seinen Überzeugungen gehörte zusammen mit einem nationalen Grundgefühl von Anfang an die zentrale Rolle des Staates im gesamten gesellschaftlichen Leben, nicht zuletzt in der Wirtschaft. Schon in einer der ersten Schriften5 begegnen wir dem Misstrauen gegenüber einem allzu freien Spiel der ökonomischen Kräfte, wie es sich später unter dem Grundgesetz in der oftmals wiederholten Reserve gegenüber der durch Ludwig Erhard geprägten Wirtschaftsordnung der Bonner Republik ausdrückte. Die Weltwirtschaftskrise 1929 ff. dürfte ein Schlüsselerlebnis für Krügers politisch-staatsrechtliches Denken gewesen sein. Dies paarte sich mit einer Verbundenheit zur wenig älteren „Kriegsgemeinschaft“ des ersten Weltkrieges, die in der Krise des Weimarer Staates nach 1930 im Wirtschaftsleben und darüber hinaus auf der Suche nach einer „neuen Gesinnung und nach neuen Formen“ war.6 Krüger stieß auf diese Weise zunächst zu den Kreisen der sog. „konservativen Revolution“, welche die scheinbar nicht mehr funktionsfähige parlamentarisch-demokratische Reichsverfassung von 1919 durch undeutlich gebliebene präsidiale und autoritäre Formen zu ersetzen trachtete.7 Gleichzeitig blieb sein Denken ausweislich der strafrechtlichen Dissertation von Einsicht in die Gedankenwelt des Liberalismus geprägt.8
2. Nationalsozialismus Von der Hoffnung auf die „konservative Revolution“ war seit 1933 der Weg nicht weit, ihre Verwirklichung im „Dritten Reich“ Adolf Hitlers zu sehen. Herbert Krüger teilte diesen fundamentalen Irrtum über das Wesen der Hitler-Diktatur, der erst im Laufe der Jahre immer sichtbarer wurde, mit einer bemerkenswerten Zahl staatsrechtlicher Kollegen seiner Generation und nicht zuletzt der grossen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Horst Dreier und Walter Pauly haben in ihrer umfassenden Behandlung der deutschen Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus auf der Leipziger Tagung der Vereinigung der Deutschen
5 Nachkriegskapitalismus, Der Nahe Osten 1932,166 – Wiederabdruck 1970 in Staat-WirtschaftVölkergemeinschaft (Fn 4), 16 6 (Fn 5), 22. 7 So veröffentlichte er noch 1933/34 in der „Tat“ Hans Zehrers (703, 795) über den „modernen Reichsgedanken“ 8 Rechtsgedanke und Rechtstechnik im liberalen Strafrecht (Diss. 1934), Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1935,591; 1936, 77.
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Staatsrechtslehrer 2000 das Sündenregister der Altvorderen bis ins Detail ausgebreitet.9 Nach bester deutscher Professorenart blieb kein Buch und Aufsatz aus der Hitlerzeit ebenso wie die überbordende Kritik nach 1945 unbehandelt. So geriet auch Herbert Krüger neben aus seiner Generation etwa Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Theodor Maunz, Ulrich Scheuner und manch anderen weniger Erwähnenswerten ins Fadenkreuz der Nachgeborenen. Bei Krüger blieb die Ausbeute der bald nach 1933 einsetzenden und sich in abschwächender Form bis in die Kriegszeit nach 1939 fortsetzenden Verstrickungen in die NS-Ideologie begrenzt.10 Fraglos bleiben seine Bekenntnisse zugunsten der Auflösung des liberalen Rechtsstaates in den völkischen „Führerstaat“ mit einem irrationalen Primat des sich zuvörderst in Hitler verkörpernden Parteiwillens aus heutiger Distanz schwer begreiflich und befremdend. Allerdings geraten bei solchem Rückblick leicht die Zeitumstände in Deutschland nach der Niederlage im ersten Weltkrieg außer Sicht. Der – vom Wilhelminismus mitverschuldete – Sturz Deutschlands von der Weltgeltung des Kaiserreiches vor 1914 in die demütigenden Bedingungen des Versailler Friedensdiktates mit der Folge der Verarmung insbesondere der deutschen Mittelschicht durch die Hyperinflation 1923 und anschließend die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung in der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. brannten sich tiefer in die Gemüter ein, als es heute vorstellbar bleibt. Die meist in Nöten befindliche Weimarer Republik wurde nur allzu leicht zum Sündenbock. Für eine Fortsetzung des von Gustav Stresemann eingeschlagenen zivilisierten Weges aus der Staatskrise fehlte nach seinem frühen Tod 1929 eine Hitler gewachsene Führungsfigur. So wandte sich nicht nur der einfache „Mann auf der Strasse“, sondern auch wesentliche Teile der national gesonnenen Intelligentsia einschließlich der Staatsrechtslehre vom vermeintlich schwächlichen Parlamentarismus ab und autoritärer Governance zu, die sich bereits in Nachbarstaaten von Italien bis Polen ausgebreitet hatte.11 Wirtschaftlicher Aufschwung und die Durchsetzung alter nationaler Forderungen und Sehnsüchte stabilisierten bis 1938 die NS- Diktatur. Düstere Seiten wie die „Nacht der langen Messer“ 1934 und vor allem die Judenverfolgung seit 1933 wurden als unglückliche Begleitumstände eines großen Aufschwungs verdrängt.
9 Dreier/Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus VVDStRL 60 (2001), 9,73 mit den vielfältigen Nachweisen. – Die Staatsrechtslehre hat hier und anderwärts im Gegensatz zu manch anderen Wissenschaftsdisziplinen kein Scherbengericht veranstaltet, sondern war um Differenzierungen bemüht. 10 Neben einigen Aufsätzen vor allem: Führer und Führung 1935; Die geistigen Grundlagen des Staates, 1940; Einheit und Freiheit, 1944. 11 Zur „Begeisterung von 1933“, in welche „die Staatsrechtslehre mit hineingerissen wurde“ als Zeitzeuge Karl Doehring, Diskussionsbeitrag zu Dreier/Pauly (Fn 9), 110.
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Der Weg in den Holocaust lag jenseits aller Vorstellungskraft. Mit der Annexion Prags im Frühjahr 1939 wurde allerdings der Rubikon von der Wiederherstellung des Ranges des Reiches in Europa zur von allen Hemmungen befreiten Errichtung eines militärisch beherrschten Imperiums überschritten, um seit dem Angriff auf die Sowjetunion seit 1941 in schlimmsten Verbrechen zu enden. Gleichwohl bedurfte es nach anfänglichen militärischen Triumphen der Katharsis des Unterganges, bis sich die Augen allerorts öffneten. Herbert Krüge war wie manche staatsrechtliche Kollegen in diese Zusammenhänge hineingestellt und ließ sich wohl zu lange von Fassadenaspekten des NSRegimes verführen und auch über die Rassendiskriminierung fahrlässig hinwegsehen. Immerhin bleibt zu bemerken, dass neben den fragwürdigen „regimetreuen“ Schriften auch zur Zeit des „Dritten Reiches“ andere stehen, in welchen die professionellen Standards des deutschen Öffentlichen Rechts gewahrt blieben, wie sie sich nach 1871 und 1919 herausgebildet hatten. Leider ist die Berliner Habilitationsschrift von 1936 („Recht und Wirklichkeit. Das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der deutschen Reichs- und Staatstheorie des 19. Jahrhunderts“) ungedruckt geblieben und heute verschollen. Man geht aber kaum fehl in der Annahme, dass Krügers Lehrer Rudolf Smend ein im Geiste des Nationalsozialismus geschriebenes Pamphlet niemals akzeptiert hätte.12 Darin bestärken auch andere Schriften aus jenen Jahren, deren Themen sich Krüger abseits des „Führerstaates“ erwählte und lege artis des überkommenen Öffentlichen Rechts behandelte.13 Man kann heute nur spekulieren, wie sich diese beiden Arten von Schriften Krügers zwischen 1933–1945 zueinander verhalten. Es wäre sicherlich verfehlt, Herbert Krüger auf diese Weise zum heimlichen Widerständler zu stilisieren. Jedoch scheinen einem so stark geschichtlich denkenden Autor die Traditionen seines Faches auch in anderen Zeitläuften bewusst geblieben zu sein. Ihnen mochte er nicht abschwören. Die Rückbesinnung nach 1945 auf die Standards deutschen Staatsrechts von Laband und Georg Jellinek bis Anschütz und Heller hat dies offensichtlich erleichtert.
12 Im Gespräch erwähnte Krüger später mehr als einmal, wie sehr ihm die von Carl Schmitt betriebene Verbannung Smends von Berlin nach Göttingen nahe gegangen war. Vom „Kronjuristen des Dritten Reiches“ trennte ihn zeitlebens eine geradezu physische Abneigung. 13 u. a. Die Staatswissenschaft und das 19. Jahrhundert, DRWiss. Bd 2, 264; Das korporative Element im modernen Staatsgefüge, in: Deutsche Landesreferate zum II. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung im Haag 1937 (Hrsg. Ernst Heymann, Sonderheft Zschr. f. ausl. und int. Privatrecht, 1937, 427; Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Reich, Volksordnung, Lebensraum V (1943), 221; Abdruck in: Krüger (Fn. 4), 1970, 23.
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III. Praxis 1945–1955 und Rückkehr an die Universität Nach Kriegsende 1945 hatte Krüger seine Professur durch den Untergang der deutschen Reichsuniversität Straßburg verloren. Die Rückkehr auf einen Lehrstuhl war in den ersten Nachkriegsjahren so gut wie ausgeschlossen. Die grössere Zahl der vor 1945 im Amt gewesenen Öffentlichrechtler war wegen ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus als „belastet“ von den Alliierten entlassen worden. Die Straßburger Staatsrechtslehrer (neben Krüger insbesondere Ernst Rudolf Huber) gehörten in diese Kategorie. Krüger bewies, dass er auch jenseits akademischer Tätigkeit seinen Mann zu stehen wusste. Von 1945 bis 1950 ließ er sich als Rechtsanwalt und Repetitor in Frankfurt a. M. nieder. In diese Jahre fiel zugleich der Beginn der seit den vierziger Jahren diagnostizierten MS-Erkrankung seiner Frau, die Krüger über Jahrzehnte mehr und mehr ans Haus fesselte. 1951 holte Rolf Stödter, seit der gemeinsamen Habilitation 1936 in Kiel mit Krüger befreundet, ihn als Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder nach Hamburg, eine Tätigkeit, die er nach allgemeinen Urteil erfolgreich ausführte. Sie weitete den Blick für die Lebenswirklichkeit u. a. durch eine monatelange Reise nach Argentinien. Die überseeische Verfassungsvergleichung, ein wichtiger späterer Arbeitsschwerpunkt Krügers, hatte hier ihren Ursprung. Das Wirken für den Reederverband brachte Herbert Krüger auch nach der Rückkehr an die Universität in eine ständige Verbindung mit der wirtschaftlichen Praxis, u. a. als Schlichter bei Tarifverhandlungen oder im Schiedsgerichtswesen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Jahre der Praxis Krügers wissenschaftlichen Blick geschärft und sein Werk entscheidend bereichert haben. Eigentliches Berufsziel blieb auch in den Nachkriegsjahren jedoch die Rückkehr an die Universität, wie es stetige Publikationen im Staats- und Völkerrecht jener Jahre bezeugen.14 Gegenstände waren sowohl wichtige Ereignisse jener Jahre wie die Nürnberger Prozesse, das Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und Deutschem Reich oder das Ruhrstatut und seit 1949 natürlich das Verständnis des neu entstandenen Grundgesetzes, dem Krüger in einer Reihe von Aufsätzen nachging. Dieses ständige Bekenntnis zur demokratisch geprägten internationalen und verfassungsmäßigen Ordnung der Nachkriegszeit blieb in seiner Qualität nicht unbemerkt. Bereits 1951 stand Krüger auf Platz 1 einer Göttinger Berufungsliste. 1955 wurde er als Nachfolger von Rudolf Laun auf den
14 Auflistung in v.Münch-Oppermann-Stödter (Hrsg.), Finis Germaniae?, 1977, 169 ff.
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Hamburger Lehrstuhl für Staats- und Völkerrecht berufen, den er bis zu seiner Emeritierung 1971 innehatte. Krüger war auf diese Weise nur ein Fall der Beteiligung einer größeren Zahl in der NS-Zeit „verstrickter“ Staatsrechtslehrer an der Etablierung des neuen Öffentlichen Rechtes unter dem Grundgesetz (u. a. Forsthoff in Heidelberg, E. R. Huber in Wilhelmshaven und Göttingen, Maunz in Freiburg i. Br. und München oder Ulrich Scheuner in Bonn). Nur die „erklärten NS-Juristen“ (Horst Dreier) wie Reinhard Höhn oder der Sonderfall des „dangerous mind“ (Jan-Werner Müller) Carl Schmitt blieben auf Dauer ausgeschlossen. Heute brechen Nachgeborene gerne den Stab über die „Wiederkehr der alten Nazis“ nicht nur im Staatsrecht, sondern in allen Funktionseliten von Staat und Gesellschaft. Freilich hätte sich die Bundesrepublik damals frei nach Bertolt Brecht ein anderes Volk wählen müssen, um sofort eine lupenreiche Demokratie aufzubauen. Die Zahl „Unbelasteter“ oder gar wirklicher Widerständler war recht klein. Im Staats- und Völkerrecht wurden die 1933 zur Emigration gezwungenen oder in Distanz zum Nationalsozialismus verharrten Professoren wie etwa Otto Bachof, Ernst Friesenhahn, Wilhelm G. Grewe, Gerhard Leibholz Hermann Mosler oder Hans Peters oftmals neben oder anstelle der Lehrtätigkeit als „Vorzeigbare“ in Justiz, Regierung und Diplomatie für den praktischen Wiederaufbau des neuen Staates benötigt.
IV. Ordinarius in Hamburg 1955–1971 Herbert Krüger fügte sich rasch in die glanzvolle Hamburger Juristenfakultät der fünfziger und sechziger Jahre ein (u. a. im Öffentlichen Recht Hans Peter Ipsen, im Zivilrecht Leo Raape und Eduard Bötticher, im Strafrecht Rudolf Sieverts). Ohne bewusst in den Vordergrund zu streben, was nicht seine Art war, stand er kraft großer Vorlesungen und vielbeachteter Publikationen bald mit in der vorderen Reihe. Bis heute bezeugen Hörer gerne ihre Bereicherung vor allem durch Krügers weit gespannte Darbietung der Allgemeinen Staatslehre. Über Hamburg hinaus galt Krüger seit den mittfünfziger Jahren als einer der maßgeblichen Repräsentanten des deutschen Öffentlichen Rechts. Zu seinen runden Geburtstagen 1975 und 1985 gab sich ein wesentlicher Teil der deutschen Staatsrechtslehre die Ehre.15
15 Die Namen der Teilnehmer des Kasseler Herbert Krüger-Symposions 1975 und des Hamburger Herbert-Krüger-Colloquiums 1985 bei v.Münch/Oppermann/Stödter (Hrsg.), Finis Germaniae?
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1. Institutsleiter Krügers Lehrstuhl war mit der Leitung der von Laun gegründeten Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches Öffentliches Recht sowie des Instituts für Auswärtige Politik verbunden, das auf eine Weimarer Initiative von Mendelsohn-Bartholdy zurückging. In diesen Bereichen hat Krüger weniger eigene Spuren hinterlassen. In der Forschungsstelle beschränkte er sich im Wesentlichen auf die Fortführung der von Laun und seinem Vertreter Eberhard Menzel begründeten Publikationsreihen wie etwa die weltweit geltenden Staatsangehörigkeitsgesetze oder die „Hektographierten Veröffentlichungen“, in denen Gutachten der Forschungsstelle zur NS-Judenverfolgung im Ausland während des zweiten Weltkriegs einen wichtigen Platz einnahmen. Auf Krügers Initiative gingen die von der Forschungsstelle herausgegebenen „Hamburger Öffentlichrechtlichen Nebenstunden“ zurück, in denen er selbst mehrfach veröffentlichte. Das Institut für Auswärtige Politik ließ sich über die Pflege seiner großen Bibliothek hinaus mangels personeller Ausstattung kaum zu neuem Leben erwecken. Die von Krüger initiierten „Untersuchungen zur Auswärtigen Politik“ kamen über Band 1 nicht hinaus.16 Krügers Engagement in der Institutsleitung und deren Organisation war im Grunde begrenzt. Er blieb klassischer juristischer Ordinarius, dessen Interesse den eigenen Publikationen galt, die er mit der technischen Hilfe des Lehrstuhls auf den Weg brachte. Hinzu kam, dass er wegen der MS-Erkrankung seiner Frau soviel Zeit wie möglich zu Hause in der weißen Villa an der Elbchaussee und später in der Wohnung am Othmarscher Philosophenweg verbrachte, wo er Wand an Wand mit ihrem Krankenlager inmitten von Bücherstapeln im Wohnzimmer zu arbeiten pflegte. So waren die Mitarbeiter der beiden Institute – zu denen mit Dietrich Rauschning und Thomas Oppermann zwei spätere Kollegen Krügers gehörten – weitgehend auf sich selbst gestellt. Auch so konnte sich die Tätigkeit vor allem der Forschungsstelle im Vergleich mit ihren deutschen Schwesterinstituten sehen lassen.
Zur Lage Deutschlands nach den Ostverträgen und Helsinki, 1977, 9; Bryde/Kunig/Oppermann (Hrsg.), Neuordnung der Weltwirtschaft?, 1986, 73. 16 Oppermann, Die Algerische Frage, 1959 (französische Ausgabe 1961),
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2. Publizistische und forensische Schwerpunkte Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Darstellung der vielgestaltigen Publikationstätigkeit Herbert Krügers während der Hamburger Zeit über die Emeritierung 1971 hinaus bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre.17 Als Gesamteindruck bleibt ein Universalist des Öffentlichen Rechts, der seine – oftmals der politischen Aktualität entnommenen – Themen in Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht, Völker- und Europarecht sowie in der Außenpolitik (insbesondere Deutschlandpolitik) in immer neuen Variationen aufgriff und sie in zahllosen Artikeln und einer Reihe selbständiger Veröffentlichungen behandelte. In diesen Zusammenhang gehört auch Krügers mehrfaches Auftreten vor dem Bundesverfassungsgericht in wichtigen Verfahren als Gutachter und Vertreter in der mündlichen Verhandlung. Er stritt meist für das Land Hessen an der Seite des „Kronjuristen“ der SPD Adolf Arndt. Die mündliche Verhandlung war für den begnadeten Rhetor Herbert Krüger das wichtigste Forum. Im Fernsehstreit 1961 trug sein Plädoyer maßgeblich zum Erfolg der Bundesländer bei der Verhinderung des „Adenauer-Fernsehens“ bei. Ein Schwerpunkt der Publizistik im Staatsrecht blieb das Wirtschaftsrecht, in dem Krüger in Übereinstimmung mit seinen Weimarer Wurzeln unbeirrt gegen die „reine“ Marktwirtschaft Ludwigs Erhards und zugunsten der Notwendigkeit einer „freien und auf lange Sicht angelegten Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft“ zu Felde zog.18 Ähnlich fanden neben den klassischen Themen wie die Grundrechte Arbeits- und Beamtenrecht, aber auch am Rande der Elbe das öffentliche Wasserrecht immer wieder Krügers besondere Aufmerksamkeit. Im Völkerrecht verschränkte sich sein Interesse seit Kriegsende oftmals mit der Problematik des geteilten Deutschlands.19 Auch in den Zeiten der Resignation sagte Krüger mehr als einmal weitsichtig voraus: „Die Russen werden uns die Wiedervereinigung geben!“ Es war ihm nicht mehr vergönnt, 1989 den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Einheit zu erleben. Seit der Sozialisation in den zwanziger Jahren im eigenen Staat national verankert, fand Krüger andererseits keinen rechten Zugang zur europäischen Integration als großer Leitidee der Nachkriegszeit. Gewiß war ihm wie jedem
17 Auflistung in v. Münch/Oppermann/Stödter (Hrsg.), Finis Germaniae, 1977, 169 ff. und Bryde/ Kunig/Oppermann (Hrsg.), Neuordnung der Weltwirtschaft?, 1986, 75. Eine größere Zahl wichtiger Schriften von 1930 bis 1970 sind in Krüger, Staat-Wirtschaft-Völkergemeinschaft, 1970 veröffentlicht. 18 Veröffentlichung der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 1966. 19 Etwa Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik, 1956; Finis belli pax est, FS Laun, 1962, 200; Die deutsche Friedensnote, Moderne Welt 1966, 349.
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vernünftigen Menschen jener Jahre ein friedliches Europa in einem allgemeinen Sinne Zukunftsvision.20 Dagegen tat er sich schwer mit dem neuartigen Konzept einer besonderen supranationalen öffentlichen Gewalt mit Vorrang gegenüber den Staatlichkeiten. In seiner grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer überstaatlichen Ebene21 erscheint ihm die „Übertragung“ von Hoheitsrechten nach dem damaligen Art. 24 GG als „Missgriff“. Nur staatliche Gebilde wären mit ursprünglicher Gewalt ausgestattet, die durch Mitgliedschaft in einer supranationalen Organisation keine grundsätzliche Minderung erfahren könnten. Deren Gewalt sei nur eine „geistige und dem Recht zugehörige Hervorbringung“, die letztlich unter staatlicher Kontrolle verbleibe. Auch wenn Krüger mit dieser Sicht bis heute nicht alleine steht, fehlt eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Realitäten der seit den fünfziger Jahren geschaffenen Europäischen Gemeinschaften und ihres Rechts.
3. Allgemeine Staatslehre Mit dem Namen Herbert Krüger verbindet sich vor allem anderen seine Beschäftigung mit der Allgemeinen Staats- und Verfassungslehre. Sie kulminierte im Opus magnum, welches 1964/1966 in zwei Auflagen erschien.22 Eine geplante spanische Übersetzung kam nicht zustande. Diesem Hauptwerk Krügerschen Schaffens standen vor und nach seiner Erscheinen zahlreiche Einzelschriften zur Seite, beginnend 1930 mit „Abwegen der organischen Staatslehre“ 1950 folgte eine erste knappe Verfassungslehre und anschließend eine Reihe von Abhandlungen zu einzelnen Topoi. Die große Allgemeine Staatslehre Krügers hat in den sechziger Jahren unterschiedliche, teilweise kritische Aufnahme gefunden. Der Autor scheint diese Kritik mit einer Reihe unbedingter Positionen geradezu gesucht zu haben, die er öfters in einer mißverständlich altertümlichen Sprache vortrug. Der Staat als „großartige Schöpfung des menschlichen Geistes“ wird als modernes Gebilde der Neuzeit begriffen, welches mit der „Entstehung ganz neuartiger äußerer und innerer Lagen“ sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelt. Er ist „Frucht der Einsicht einer Gruppe von Menschen, dass nur die Staatlichkeit ihres Gemein-
20 Krügers erste Nachkriegspublikation war: Europa – Ende oder Anfang?, 1947. Später etwa: Die geistige Einheit der Völkerfamilie, Zeitwende 1949/1950, 535. 21 Über die Herkunft der Gewalt der Staaten und der sogenannten supranationalen Organisationen, DÖV 1959, 721. 22 Allgemeine Staatslehre, 1028 Seiten, 1964.
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lebens ihnen Existenz, Überleben und vor allem Freiheit bei der Bewältigung dieser Lagen zu gewährleisten vermag.“ Diese Staatlichkeit ist nicht vorgegeben, sondern muß durch die Anstrengungen der Bürgergesellschaft in ihrer führenden Schicht, in politischen Parteien, Verbänden, großen Unternehmen bis hin zur allgemeinen Öffentlichkeit „hervorgebracht“ werden. Ziel ist dabei der „repräsentierende Staat“, in dem sich das „bessere Ich“ eines Volkes mittels der Schaffung seiner Ämter und Gesetze herausbildet. Ein solcher Staat darf – wie Krüger unnötig pointiert, aber genüsslich ausführt – die Bereitschaft der Bürger zu Unterordnung und Gehorsam erwarten. Vor allem dieser letzte Teil der Staatslehre („Staatsgewalt und Untertanengehorsam“) gab, ohne dass er wirklich gelesen wurde, erwartungsgemäß Anlaß zu wohlfeiler Kritik, bei der gleichzeitig Krügers Verstrickung in die NS-Zeit noch einmal ausgeschlachtet wurde.23 Diese Fokussierung hat der Rezeption des reichhaltigen Werkes ziemlich geschadet. Auf die Dauer haben sich gleichwohl eine Reihe Krügerscher Vorstellungsbilder in der allgemeinen Diskussion eingeprägt. So die Berücksichtigung der „inneren und äußeren Lage“ als Vorgegebenheit moderner Staatsbildung, die „Nichtidentifikation“ des heutigen Staates mit den in ihm wirksamen Weltanschauungen und Religionen, die „bessernde“ Eigenschaft der Repräsentation, in der das „bessere Ich“ dem „natürlichen“ befiehlt, die „staatsmännische Aufgabe“ der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Justiz und Politik oder im Anschluß an Walter Bagehot die „Pflege des Staates“ durch die Gesellschaft um der Selbstverwirklichung des Gemeinwesens durch die Bürger willen. Bis heute liegt die „Allgemeine Staatslehre“ Herbert Krügers wie ein sperriger Klotz auf den Wegen des staatstheoretischen Diskurses. Mancher bedient sich daraus, Viele überlassen ihn mittlerweile dem üblichen Schicksal derartiger Bemühungen: Spuren im Sand, die langsam verwehen ….
4. Überseeische Verfassungsvergleichung Eine glückliche Fügung hat dazu geführt, dass Herbert Krüger jenseits seiner gedruckten Schriften als wichtiger Repräsentant deutschen Öffentlichen Rechts des 20. Jahrhunderts fortlebt. Wie schon erwähnt, hatten die Jahre als Geschäftsführer des Reederverbandes 1951–1955 Krügers Blick für die Lebenswirklichkeit geweitet, nicht zuletzt durch die grosse Reise nach Argentinien. Sein mit der Staatslehre verbundenes Interesse für Verfassungsvergleichung richtete sich nach Hamburger Sprachgebrauch mehr und mehr auf „Übersee“ d. h. auf die
23 z. B. Erwin Stein, Untertanenstaat oder freiheitliche Demokratie? NJW 1965, 2384.
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Länder der außereuropäischen Welt, insbesondere die Entwicklungsländer. Viel von diesen Erfahrungen ging bereits in das große Lehrbuch ein. Vielleicht noch wichtiger wurden zwei weitsichtige Initiativen. 1968 gründete Krüger die Zeitschrift „Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ)“, die er u. a. aus eigenem Vermögen alimentierte. Sie ist bis heute zum Sprachrohr einer weltweit angelegten Verfassungsbetrachtung geworden, die insbesondere die weniger entwickelten Regionen ins Visier nimmt. In den siebziger Jahren folgte der „Arbeitskreis für überseeische Verfassungsvergleichung“, spontan bei fröhlicher Geselligkeit in einer Münchener Gastwirtschaft gegründet. Er war eine Frucht der gewinnenden Eigenschaft Herbert Krügers, sich ständig der jungen Generation zuzuwenden, anstatt im gleichaltrigen Kollegenkreis zu verharren. Der Arbeitskreis, zu dem immer wieder neue Mitglieder stoßen, hat bis auf den heutigen Tag seinen charismatischen Gründer überdauert und leistet Jahr für Jahr auf seinen Tagungen Beiträge zum Verständnis von Staatlichkeit und Verfassungswesen vor allem in der Dritten Welt.24 Herbert Krügers Tochter Gabriele, Armin Albano-Müller, Brun-Otto Bryde und Philip Kunig tragen neben Anderen die regelmäßige Organisation, u. a. in Gestalt der Fortführung der Zeitschrift VRÜ als Publikationsorgan des Kreises.. Zum stabilisierenden Hintergrund gehört seit Beginn ein stilles Mäzenatentum Krügers, welches inzwischen seine Tochter fortführt. Der Arbeitskreis für Überseeische Verfassungsvergleichung bleibt vielleicht mehr noch als alle publizierten Schriften das schönste Zeichen für Fortleben und Weiterentwicklung wichtiger Aspekte Krügerschen Denkens.
V. Patriot Wie soll man Herbert Krüger als wichtigen deutschen Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts abschließend charakterisieren? Vielleicht bleibt am ehesten das Bild eines deutschen Patrioten in der Erinnerung, der gleichzeitig den Blick in die Welt richtete. Für die Hamburger Trauerfeier Anfang Mai 1989 hatte sich Herbert Krüger als Musik die Haydn-Variationen zum Lied der Deutschen gewünscht. Die Liebe zum eigenen Land hatte ihn zeitweilig in die Irrungen und Düsternisse jüngerer deutscher Geschichte geführt, ihm nach diesen Erfahrungen aber ebenso
24 Die Tagung in Erfurt 2011 widmete sich u. a. Formen indischer Demokratie, sozialer Grundrechte in China und den ersten verfassungsrechtlichen Aspekten der „Arabellion“ in Tunesien und Ägypten.
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den Blick für die nunmehrige Einordnung eines demokratischen Deutschlands in größere Zusammenhänge geöffnet. Herbert Krüger bezog hieraus Kraft und Phantasie zu einem vielgestaltigen Werk, das bis heute mancherlei Erkenntnisse abwirft. Sein Grundstock in Gestalt von Nachlass und Bibliothek befindet sich in Giessen.
XLIV Wolfgang Abendroth (1906–1985) Ulrich K. Preuß
I. Leben Wolfgang Abendroth wurde am 2. Mai 1906 in ein links-sozialdemokratisch geprägtes Elternhaus in Elberfeld geboren. Er wird schon als 12-Jähriger in Frankfurt, wohin die Familie im Frühjahr 1911 wegen der Versetzung seines Vaters umgezogen war, vom Großvater in die nach dem November 1918 politisch aufgewühlten Massenversammlungen von SPD und USPD mitgenommen, liest in dem politisierten Elternhaus neben der Frankfurter Zeitung die Blätter der linken Parteien von SPD über USPD bis zur Kommunistischen Partei, erhält erste Unterweisungen in marxistischer Literatur und tritt mit 14 Jahren mit Zustimmung seiner Eltern dem Kommunistischen Jugendverband bei.1 Vom Sommersemester 1924 an studierte er Rechtswissenshaft an den Universitäten Frankfurt/M., Tübingen und Münster und legte im Mai 1930 vor dem OLG Frankfurt/M. die erste juristische Staatsprüfung ab.2 Während der gesamten Studienzeit engagierte er sich in linken Studentengruppen. Seine 1930 begonnene Referendarausbildung am Oberlandesgericht Frankfurt endete am 27. Mai 1933 mit der Entlassung aus dem Justizdienst auf der Grundlage des NS-„Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Er stand kurz vor dem Assessorexamen und dem Abschluss seiner Dissertation bei Hugo Sinzheimer.3 Um den Plan der Promotion unter den neuen Umständen weiter zu verfolgen, schrieb er sich im Wintersemester 1933/34 an der Universität Bern zum juristischen Studium ein, arbeitete gleichzeitig an der Dissertation mit dem von ihm gewählten Thema „Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate“ und wurde damit am 28. Februar 1935 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern promoviert.
1 W. Abendroth Ein Leben in der Arbeiterbewegung: Gespräche, aufgezeichn. u. hrsg. von Barbara Dietrich u. Joachim Perels. Frankfurt/M. 1977, S. 19. 2 A. Diers Arbeiterbewegung, Demokratie, Staat: Wolfgang Abendroth, Leben und Werk 1906– 1948. Hamburg 2006, S. 177. 3 Abendroth Ein Leben in der Arbeiterbewegung (Fn. 1), S. 141 f.
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Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hielt er Kontakt zu verschiedenen illegalen Widerstandsgruppen im Umfeld von KPD und SPD. Im Februar 1937 wurde er von der Gestapo verhaftet, im November desselben Jahres wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe wurde er im Februar 1943 zu einer Strafdivision eingezogen,4 die in das besetzte Griechenland verlegt wurde. Hier gelang es ihm, Verbindung zum griechischen Widerstand aufzunehmen und zur ‚Griechischen Volksbefreiungsarmee‘ (E. L. A. S.) überzulaufen. Dort geriet er in britische Kriegsgefangenschaft,5 aus der er im November 1946 entlassen wurde. Noch während der Kriegsgefangenschaft war er im Herbst 1946 in London in die SPD eingetreten.6 Um sein Assessorexamen nachzuholen, siedelte er, frisch verheiratet, mit seiner Frau Ende 1946 in die Sowjetische Besatzungszone nach Potsdam um und legte im Mai 1947 vor dem Justizprüfungsamt in Berlin das Assessorexamen ab. Gleichzeitig betrieb er seine Habilitation an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Halle mit einer noch vor dem Krieg in der Schweiz angefertigten Fortsetzungsstudie zu seinem Dissertationsthema der Bund C-Mandate. Zum Sommersemester 1948 wurde er auf den Lehrstuhl für Völkerrecht an der Universität Leipzig berufen, wechselte aber bereits zum folgenden Semester an die Universität Jena. Unzufriedenheit mit der zunehmenden Stalinisierung der politischen Ordnung in der SBZ, der Druck, der SED beizutreten, die Gefährdung aufgrund seiner Mitgliedschaft in der verbotenen SPD und schließlich die drohende Verhaftung veranlassten ihn und seine Frau Anfang Dezember 1948 zur überstürzten Flucht in den Westen. Dort wurde er noch im selben Monat zum „Professor für öffentliches Recht und Politik“ an der neu gegründeten „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven ernannt.7 Im Jahre 1950 nahm er den Ruf auf die Professur für wissenschaftliche Politik an der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg an. Dort forschte und lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1972.
4 Abendroth Ein Leben in der Arbeiterbewegung (Fn. 1), S. 171 ff., 184; Diers (Fn. 2), S. 341 ff. 5 Diers (Fn. 2), S. 390 ff. 6 Abendroth Ein Leben in der Arbeiterbewegung (Fn. 1), S. 199; zu den Einzelheiten R. Löwenthal Erinnerungen an Wolfgang Abendroth., in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, S. 195–200 [196 f.]. 7 Hierzu Buckmiller/Perels/Schöler Einleitung der Herausgeber, in GS II, S. 12 f., 20 ff.
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Die ihm im Laufe der Jahre zuteil gewordenen Charakterisierungen als „Partisanenprofessor“,8 „marxistischer Intellektueller“,9 „unangepaßter Marxist“10 oder „Revolutionär und Verfassungsjurist der Arbeiterbewegung“11 spiegeln den Umstand, dass Abendroth als jahrelang einziger marxistischer Ordinarius in der frühen Bundesrepublik12 ein akademischer Außenseiter war. Das erwies sich als eine unübersteigbare Barriere für die Berufung auf einen juristischen Lehrstuhl. Seine Ankunft im Westen Anfang 1949 fiel in eine Zeit, in der der in den wieder eröffneten juristischen Fakultäten von 1945 bis 1949 noch bestehende erhebliche „Spielraum für abweichende Anschauungen und Außenseitertum“ schon wieder schwand und die Professoren, die dem NS-Regime gedient, z. T. erst durch das Regime Karriere gemacht hatten, mit einigen wenigen extremen Ausnahmen wieder in ihre alten Stellungen zurückgekehrt waren.13 Für einen NS-Verfolgten und linken Sozialdemokraten gab es da keinen Platz. Dabei verstand sich Abendroth durchaus als Jurist. Von 1949 bis 1963 war er Mitglied des Bremischen, von 1959 bis 1963 auch des Hessischen Staatsgerichtshofs. Von Anbeginn war er Mitglied der im Oktober 1949 wiedergegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, von 1951 bis 1953 Mitglied in deren Vorstand, und ergriff in den ersten Tagungen (in der Aussprache) auch jeweils das Wort, wobei er noch 1954 erwähnt, dass er „zur Zeit“ einen Lehrstuhl für Politik innehabe.14 Dabei blieb es dann, wie erwähnt, bis zu seiner Emeritierung. Die institutionelle Verankerung in der Politikwissenschaft führte dann aber dazu, dass er zu einer bedeutenden Figur in der intellektuellen wie auch organisatorischen Gründungsgeschichte dieser Wissenschaft und der politischen Soziologie
8 J. Habermas Der Partisanenprofessor in ders. Philosophisch-politische Profile. 3. Aufl. Frank furt/M. 1984, 249–252. 9 J. Moneta Ein marxistischer Intellektueller verwurzelt in der Arbeiterbewegung, in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, S. 201 ff. 10 M. Bock Ein unangepaßter Marxist im Kalten Krieg. Zur Stellung Wolfgang Abendroths in der Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik, in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, 216–267. 11 D. Sterzel Wolfgang Abendroth. Revolutionär und Verfassungsjurist der Arbeiterbewegung, in Kritische Justiz (Hrsg.) Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Baden-Baden 1988, S. 476– 486. 12 So J. Habermas Wolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag, in Urban et al. Aktualität Abendroths, S. 21–24 [22]. 13 M. Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990. Vierter Band 1945 -1990. München 2012, S. 37 ff., Zitat S. 38. 14 VVDStRL H. 13 (1955), S. 62.
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wurde,15 auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, ebenso übrigens wie auf Abendroths völkerrechtliche Schriften. Auch politisch wurde er aufgrund seiner „orthodox klassentheoretischen Grundannahmen“16 in der SPD bald zum Außenseiter und schließlich im Jahre 1961 aus der Partei ausgeschlossen.17 Doch wie Jürgen Habermas, der berühmteste seiner Habilitanden, bemerkte, war Abendroth selbst noch als Außenseiter „anders als andere Außenseiter“. Denn kaum ein anderer Intellektueller war in der Geschichte der von der marxistischen Gesellschaftstheorie inspirierten sozialen Bewegungen der Bundesrepublik geistig so präsent wie Abendroth. Möglich war das wohl nur, weil „auf eine andere Weise als bei Max Weber … auch bei ihm politische Leidenschaft und die Fähigkeit zur Objektivität des Urteils Hand in Hand (gingen)“.18 Seine zahlreichen Interventionen in die politischen Kämpfe der Frühzeit der Bundesrepublik hatten eine theoretische Klarheit und argumentative Schärfe, die ihnen ohne weiteres den Status wissenschaftlicher Abhandlungen verliehen; dieser konnte von der akademischen Welt leicht übersehen werden, weil seine Texte meist in linken Diskussionsorganen erschienen. Kurz, in den beiden ersten Dekaden der Bundesrepublik war Abendroth – nicht zuletzt dank der außerordentlichen Ausstrahlung seiner Person, seiner moralischen Autorität und einer selten anzutreffenden Verbindung von politischer Leidenschaft und Toleranz – wohl der bedeutendste politische Intellektuelle der sozialdemokratischen und der gewerkschaftlichen Opposition gegen die restaurative Entwicklung der Republik. Treffend ist Habermas‘ Feststellung: „Er hat die Geschichte der Bundesrepublik gewiß nicht geformt, aber er ist in sie eingegangen“.19
II. Werk 1. Abendroths Lebensthema war die Frage nach den Bedingungen von individueller und kollektiver Selbstbestimmung im „Staat der Klassengesellschaft“.20 So
15 Vgl. M. Buckmiller/J. Perels/U. Schöler Einleitung der Herausgeber, GS II, S. 24 ff.. 16 So J. Habermas Wolfgang Abendroth in der Bundesrepublik, in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, S. 165–171 [170]. 17 Hierzu vgl. auch G. Kritidis Möglichkeiten und Grenzen der Politik des Kleineren Übels. Aspekte der Biographie Wolfgang Abendroths, in Fischer- Lescano et al. Der Staat der Klassengesellschaft, S. 7–30 [18 ff.]. 18 Habermas (Fn. 16), S. 168. 19 Habermas a. a. O., S. 166. 20 So der Titel eines neuen Bandes über Abendroth, vgl. Fischer-Lescano et al. Der Staat der Klassengesellschaft.
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sind seine Analysen in den für kapitalistische Gesellschaften charakteristischen sozio-ökonomischen und politischen Konfliktlinien zwischen „antagonistischer Gesellschaft und politischer Demokratie“ verortet, wie der kennzeichnende Titel einer seiner Aufsatzsammlungen lautet. In der Weimarer Republik hatte bereits (der einzige sozialdemokratische Staatsrechtslehrer) Hermann Heller die Ursache ihrer schließlich tödlichen Krise in diesem Konflikt erkannt und für eine Erstreckung der Prinzipien der Demokratie auf die gesellschaftliche Sphäre plädiert.21 In dieser Heller’schen Tradition steht Abendroths Verfassungstheorie. Als marxistischer Sozialist war er überzeugt, dass erst eine Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und ohne darauf beruhende private Macht demokratisch sei. Als Verfassungsrechtler war ihm indessen klar, dass er dieses gesellschaftliche Ideal nur im Rahmen einer Verfassungsordnung verfolgen konnte, die, wie das Grundgesetz, zwar alle wesentlichen Elemente eines bürgerlichen Rechtsstaates einschließlich der Garantie des Privateigentums an Produktionsmitteln enthielt, jedoch wenige explizit sozialistische Gestaltungselemente. Aber er war davon überzeugt, dass das Grundgesetz, „aus einem Gleichgewicht der Klassenkräfte 1949 entstanden“,22 die Möglichkeit zu einer Fortentwicklung der politischen Verfassung „zur sozialen Verfassung“ im Medium parlamentarischer Legalität23 offen hält. Unter „sozialer Verfassung“ verstand er die „Unterwerfung der bisher … keiner gesellschaftlichen Kontrolle eingeordneten Kommandostellen des ökonomischen Lebens unter die Bedürfnisse und den Willen der Gesellschaft“.24 Im Kern bedeutete dies nichts anderes als eine sozialistische Umformung der Gesellschaft im Medium von demokratischer und rechtsstaatlicher Legalität. Aus dieser gesellschaftspolitischen Grundposition ergab sich der Schwerpunkt des Abendroth’schen Verfassungsrechtsdenkens: die Begründung der Offenheit des Grundgesetzes für die von ihm für notwendig erachtete sozialistische Transformation der Gesellschaft (a) und die Verteidigung des politischen Gestaltungsraumes jener gesellschaftlichen Kräfte, deren Handlungsfreiheit als
21 Vgl. H. Heller Rechtsstaat oder Diktatur? [1929], in Gesammelte Schriften, Bd. II, Leiden 1971, S. 443–462; C. Müller Hermann Heller (1891–1933). Vom liberalen zum sozialistischen Rechtsstaat, in Streitbare Juristen. Eine andere Tradition (Hrsg.. Kritische Justiz). Baden-Baden 1988, S. 268–281. 22 Abendroth Die Funktion des Politikwissenschaftlers und Staatsrechtslehrers Hermann Heller in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, in Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu ehren. Frankfurt/M. 1985, S. 43–63 [60]. 23 Abendroth Das Grundgesetz, S. 12 ff. 24 Abendroth Demokratie als Institution und Aufgabe, in ders. Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, S. 21–32 [24].
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Träger eines emanzipatorischen gesellschaftlichen Veränderungswillens stets in besonderem Maße durch die Verteidiger des status quo gefährdet ist (b). a) Eine ausführliche verfassungsrechtliche Begründung der Offenheit des Grundgesetzes für eine grundlegende gesellschaftliche Transformation enthält der 1954 veröffentlichte bahnbrechende Aufsatz „Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“,25 dessen Kernaussagen er erstmals auf der Bonner Staatsrechtslehrertagung 1953 in einem längeren Diskussionsbeitrag vortrug, nachdem ihm der Vorstand der Vereinigung, dem Abendroth selbst noch angehörte, die Übertragung des Korreferats zu Ernst Forsthoffs Erstbericht zu diesem Thema verweigert hatte.26 Die Bezeichnung des Beratungsgegenstandes als „sozialer Rechtsstaat“ enthielt bereits insofern eine Verkürzung, als sie die im Wortlaut der Artikel 20 und 28 GG enthaltene Verbindung des sozialstaatlichen und des rechtsstaatlichen Elements mit dem Prinzip der Demokratie ignorierte und damit jenes Strukturprinzip des Grundgesetzes unterschlug, das die drei Elemente der demokratischen Selbstbestimmung, der sozialen Verpflichtung und der rechtsstaatlichen Sicherheit zu einer Einheit verbindet.27 Im Anschluss an Herman Hellers Unterscheidung zwischen Rechtssatz und Rechtsgrundsatz28 bezeichnet Abendroth den demokratischen und sozialen Rechtsstaat als einen Rechtsgrundsatz, der als eine „aktuell wirksame Auslegungsregel des geltenden Verfassungs- und Gesetzesrechts … eine Gestaltungsmaxime für die Fortentwicklung der Rechtsordnung …“ darstelle.29 Was den Inhalt dieses Rechtsgrundsatzes des „demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ betrifft, so argumentiert er unter Verweis auf Heller, aber auch auf Forsthoff, dass der Sozialstaat als eine polemische Entgegensetzung zum liberalen Rechtsstaat dadurch charakterisiert sei, dass „der Glaube an die immanente
25 GS II, S. 338–357; hierzu J. Perels Zur Aktualität der Sozialstaatsintgerpretation von Wolfgang Abendroth, in Urban et al. Aktualität Abendroths, S. 101–110; erw. Fassung ders. Der soziale Rechtsstaat im Widerstreit. Zur Verfassungsinterpretation Wolfgang Abendroths aus Anlass seines 100. Geburtstags, Kritische Justiz 39 (2006), S. 295–302; Zur Einordnung in die damalige Debatte vgl. J. P. Thurn Wolfgang Abendroth in der öffentlich-rechtlichen Sozialstaatsdebatte der 1950er Jahre, in Fischer-Lescano et al. Staat der Klassengesellschaft, S. 113–128. 26 Vgl. J. Perels Zur Aktualität der Sozialstaatsintgerpretation von Wolfgang Abendroth (Fn. 25), S. 101–110 [110]. 27 Abendroth Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, GS II, S. 339. 28 H. Heller Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL H. 4 (1928), S. 98–135 [118 ff.] 29 Abendroth Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, [Fn. 25], S. 340.
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Gerechtigkeit der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufgehoben ist, und daß deshalb die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Gestaltung durch diejenigen Staatsorgane unterworfen wird, in denen sich die demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentiert“.30 Das impliziert u. a. die Notwendigkeit der Ergänzung der liberalen um soziale und demokratische Teilhaberechte.31 Wenn aber der demokratische und soziale Rechtsstaat der Gesellschaft die Möglichkeit zuweise, „ihre eigenen Grundlagen umzuplanen“, dann sei der Staat nicht länger als gegenüber den Kräften der Gesellschaft neutraler Dritter zu verstehen.32 Mit dieser Feststellung eröffnet Abendroth eine neue Dimension des verfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs, weil damit der Streit über die Grundlagen der Gesellschaft nicht als verfassungsrechtlich vorentschieden, sondern als zentrales Element der demokratischen Auseinandersetzung selbst konzipiert ist. Das hat zur Konsequenz, dass in einer reflexiven Wendung der Demokratietheorie die Bedingungen der Möglichkeit der demokratischen Gestaltung der gesellschaftlichen Grundlagen der Demokratie ihrerseits demokratischen Maßstäben unterworfen werden. So thematisiert Abendroth die strukturelle Asymmetrie der Chancen verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen im demokratischen Prozess, ihre Vorstellungen über die gerechte soziale Ordnung im Ringen miteinander zur Geltung zu bringen, und warnt vor der Gefahr, dass „die Inhaber nicht demokratisch legitimierbarer ökonomischer Machtpositionen“ versuchen könnten, die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten einzuengen oder gar abzuschaffen, sobald ihre Machtpositionen durch demokratische Willensbildung gefährdet erscheinen.33 So erschöpft sich für Abendroth Demokratie nicht in dem Wettbewerb formal gleicher Gruppen um politische Macht auf der Grundlage der gegebenen gesellschaftlichen Machtbeziehungen. Man verfehle die Probleme der Demokratie, wenn „soziale Gruppe gleich soziale Gruppe gesetzt wird und alle gleichmäßig die Etikette ‚Pressure Group‘ erhalten“.34 Demokratie erstrecke sich vielmehr auf die gesamten Lebensverhältnisse der Staatsbürger und „bezieht die soziale Ordnung und die Regelung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen ein“, so dass sie idealiter – hier zitiert Abendroth
30 A. a. O., S. 341. 31 Abendroth VVDStRL H. 12 (1954), S. 87, 91 (Diskussionsbeitrag); hierzu J. Seifert, Demokratische Republik und Arbeiterbewegung in der Verfassungstheorie von Wolfgang Abendroth, in Wissenschaftlicher Politiker (Fn 6), S. 73–84 [76 ff.]. 32 Abendroth Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, [Fn. 25], S. 346/7. 33 A. a. O., S. 347 f., Zitat S. 348. 34 Abendroth Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie (1952), in GS II, S. 221–230 [227].
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Marx‘ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – „zur Verfassung der gesamten Gesellschaft (wird), die im Staate als ihrer umfassenden Wirkungseinheit sich selbst bestimmt“.35 Praktisch bedeutet dies, dass Demokratie in dem gewaltlos ausgetragenen Kampf ungleicher antagonistischer Kräfte besteht, ihren Vorstellungen von einer gerechten Sozialordnung gesamtgesellschaftlich verbindliche Geltung zu verschaffen. Für Abendroth ist Demokratie in der „sozial gespaltenen Gesellschaft“,36 sprich: Klassengesellschaft mithin keine Lebensform des status quo, sondern Lebensform emanzipatorischer Veränderung. Freilich, als Verfassungsrechtler weiß er, dass der Parlamentarische Rat, in dem unterschiedliche gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen repräsentiert waren, über die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung keine Einigung erzielen konnte; keine der um Anerkennung ringenden Sozialphilosophien habe sich durchsetzen können. Der Rechtsgrundsatz des demokratischen und sozialen Rechtsstaates stelle daher einen Kompromiss dar, der das damals erreichbare verfassungsrechtliche Minimum festgelegt habe. Es sei daher unzulässig, angesichts dieser Offenheit des Grundgesetzes gegenüber den rivalisierenden und gleichberechtigten Sozialphilosophien der Verfassungsauslegung eine bestimmte Philosophie zugrunde zu legen. Die konkrete politische Ausfüllung des Verfassungskompromisses sei vielmehr Aufgabe des einfachen bzw. des verfassungsändernden Gesetzgebers. Daher sei die gleiche Chance jeder der im Parlamentarischen Rat repräsentierten und miteinander ringenden Sozialphilosophien, im Sinne des erwähnten reflexiven Demokratiekonzepts ihre jeweiligen Vorstellungen auf legalem Wege auf die Sozialordnung zu übertragen, auch einer verfassungsändernden Mehrheit entzogen und mithin durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt.37 b) Abendroths Aufmerksamkeit für die asymmetrische Verteilung gesellschaftlicher Macht und seine Parteinahme für die Kräfte, die für die Unterordnung der gesamten Sozialordnung unter demokratische Prinzipien kämpfen, machten ihn sensibel für die Gefährdung ihrer allein auf demokratischer Willensbildung beruhenden Gestaltungsmöglichkeiten. Seine Kritik an den Notstandsgesetzen,38 an den Radikalenerlassen („Berufsverbote“) oder an den Einschränkungen gewerkschaftlicher Betätigung sind zwar in der Regel tagespolitisch veranlaßt; ihre verfassungsrechtliche und -politische Bedeutung weist aber darüber hinaus. Sie sind Interventionen, die darauf gerichtet sind, den Möglichkeitsraum gesell-
35 Abendroth Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, (Fn. 25), S. 354. 36 A. a. O., S. 351. 37 A. a. O., S. 354 f., 357. 38 Vgl. die Beiträge in Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, S. 159 ff., 162 ff., 170 ff., 202 ff., 222 ff.
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schaftlicher Transformation durch die Verteidigung demokratischer Strukturen offen zu halten. Wichtigste Verkörperung des gesellschaftlichen Interesses an der Demokratie sind ihm in erster Linie die Gewerkschaften. Als Massenorganisationen der abhängig Beschäftigten vertreten sie zwar auch die Sonderinteressen ihrer Mitglieder, aber in diesen Sonderinteressen sei Gesamtinteresse „der Ausschaltung privilegierter Machtpositionen, die von der Gesellschaft her das demokratische Gefüge des Staates bedrohen können, notwendig enthalten“.39 Die Gewerkschaften seien die „natürlichen Hüter der Demokratie und der Zielsetzung, die in Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes enthalten ist“,40 und so hat seine Verteidigung der rechtlichen Zulässigkeit ihrer auf Öffentlichkeitswirkung zielenden Kampfmaßnahmen einschließlich politischer Demonstrationsstreiks vor allem eine demokratiepolitische Bedeutung,41 ebenso wie seine Unterstützung ihrer wirtschaftsdemokratischen Ziele.42 2. Abendroth’s Konzeption der grundgesetzlichen Ordnung als eine unvollendete, der Verwirklichung harrende Lebensform emanzipatorischer Veränderung führte ihn zu einer Methode der Verfassungsinterpretation, in die dieser kritische Impuls eingeschrieben ist und die ihn ebenfalls in Widerspruch zum mainstream der deutschen Staatsrechtslehre setzte. Man kann sie mit Joachim Perels als demokratischen Positivismus bezeichnen.43 Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich die Normativität einer Verfassung in einer Spannungslage zu jenen realen gesellschaftlichen Verhältnissen befindet, deren Ordnung sie bewirken soll.44 Für Abendroth war diese Beobachtung im Hinblick sowohl auf das als Gegenverfassung zum NS-Regime geschaffene Grundgesetz als auch auf die viel-
39 Abendroth Zur Funktion der Gewerkschaften (Fn. 34), S. 228. 40 A. a. O., S. 229; vgl. die krit. Einwände von A. Demirovic Theorie, Praxis und Demokratie. Zum Verhältnis von Wolfgang Abendroth und Kritischer Theorie, in Urban et al. Aktualität Abendroths, S. 27–46 [41 ff.]. 41 Abendroth Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, in GS II, S. 231–255, ders. Der politische Streik (1954), in Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, S. 54–63; J. Seifert, Demokratische Republik (Fn. 31), S. 78 ff. 42 H.-J. Urban Gewerkschaftspolitik als Demokratiepolitik. Der Beitrag der Abendroth’schen Gewerkschaftskonzeption zu einer – leider (!) – nicht stattfindenden Debatte in Urban et al. Aktualität Abendroths, S. 80–98; ders. Gewerkschaftspolitik in kapitalistischen Demokratien. Essentials und Anregungen aus der Abendroth’schen Gewerkschaftskonzeption, in FischerLescano et al. Staat der Klassengesellschaft, S. 165–188; O.Eberl/D. Salomon Zum Verhältnis von Wirtschaftsdemokratie und sozialer Demokratie., in Staat der Klassengesellschaft, S. 189–206. 43 J. Perels Die Funktion des demokratischen Positivismus bei Wolfgang Abendroth, in Staat der Klassengesellschaft, S. 129–142. 44 Abendroth Zusätzliche Notstandsermächtigungen? Das Problem der Grundgesetz-Änderung [1962], in Antagonistische Gesellschaft, S. 175–202 [201].
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fältigen faktischen Machtverhältnisse in einer Klassengesellschaft von größter Bedeutung. Solle dieser normative Überschuss der Verfassung bewahrt werden, so könnten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht ihrerseits in Gestalt der „Verfassungswirklichkeit“ zur Erkenntnisquelle für die Verfassungsauslegung werden. Es gebe keinen anderen möglichen Inhalt der Normen des Grundgesetzes als den, den „der Verfassungsgesetzgeber gewollt oder doch als in der Weiterentwicklung zulässig anerkannt hat. Der Wille des Gesetzgebers und der Wille des Gesetzes sind bei der Interpretation des Grundgesetzes grundsätzlich identisch … Eine ‚Verfassungswirklichkeit‘, die das Verfassungsrecht inhaltlich verschiebt, kann es … im System des Bonner Grundgesetzes nicht geben“. Würde man sie anerkennen, so würde man eine verfassungswidrige Wirklichkeit in die Normativität der Verfassung einschleusen und diese damit korrumpieren.45
III. Wirkung Der Sammelband zur Tagung „Arbeiterbewegung – Wissenschaft – Demokratie. Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth“ trägt den Untertitel „Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth“. In den Beiträgen der Teilnehmenden – unter ihnen führende Gewerkschaftsvertreter – wurde diese Aussage kritisch erörtert, aber von niemandem in Frage gestellt. Die Tatsache, dass die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik auch eine Geschichte des Kampfes um die Überwindung des Kapitalismus war, die von der westdeutschen Linken anders als der stalinistische Sozialismus-Octroi in der DDR im Medium des Konstitutionalismus angestrebt wurde, bleibt im Archiv dieser Geschichte nicht zuletzt dank der Interventionen von Abendroth aufbewahrt. Die nach Abendroths Tod über sein Werk veröffentlichten zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten legen davon Zeugnis ab unbeschadet der Tatsache, dass es eine unterlegenene gesellschaftspolitische Strömung war, deren führender Intellektueller er war. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass Abendroth nur noch Geschichte ist. Zwar erklärte Habermas auf dieser Tagung, dass Abendroths Perspektive, „die Republik des Grundgesetzes, innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens, zu einer sozialistischen Demokratie auszugestalten“, aus zwei Gründen „obsolet
45 Abendroth Das Grundgesetz, S. 13; hierzu auch H. Ridder Der Jurist Wolfgang Abendroth, in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, S. 85–94 [92]; P. Römer Demokratie als inhaltliches Prinzip der gesamten Gesellschaft. Wolfgang. Abendroths Beitrag zur Verteidigung demokratischer Positionen in der Bundesrepublik Deutschland, in Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker, S. 49–72 [67 ff.].
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geworden“ sei: an die Stelle der Konkurrenz der Gesellschaftssysteme sei ein globaler Kapitalismus getreten, und die dringend notwendigen Bemühungen der Zähmung des Kapitalismus seien nur noch im internationalen Rahmen möglich. Doch zugleich stellte er die Frage, ob „Werk und Wirken von Wolfgang Abendroth auch noch für diese Fragen Wegweiser sein können“.46 Eine begründete Antwort erfordert die Einbeziehung der völkerrechtlichen Arbeiten Abendroths in die Analyse, die hier nicht berücksichtigt wurden.47 Doch es lässt sich sagen, dass seine Frage, ob sich eine politische Ordnung den funktionalen Imperativen einer kapitalistischen Ökonomie unterordnet oder institutionelle Formen findet, deren Dynamik zu kontrollieren und zu regulieren, in der gegenwärtigen Epoche entfesselter Finanzmärkte aktueller und drängender kaum sein könnte. Die in der EU sich ausbreitende Tendenz, die Politik der Mitgliedsstaaten den Anforderungen der Finanzmärkte zu unterwerfen und die Dominanz der Exekutiven über parlamentarische und andere demokratische Verfahren zu etablieren, lassen die Möglichkeit eines politisch ausgehöhlten new constitutionalism befürchten, der die emanzipativen normativen Postulate des demokratischen Konstitutionalismus als lästige Hindernisse einer im doppelten Sinne grenzenlosen Marktfreiheit über Bord wirft.48 Abendroths Perspektive auf die konstitutionelle Demokratie könnte dazu beitragen, dass es dazu nicht kommt. Es spricht daher einiges dafür, dass sein verfassungsrechtliches Opus „über die zeitgebundenen politischen Analysen und Positionen hinaus Bedeutung behalten wird“.49
Werke von Wolfgang Abendroth Gesammelte Schriften Bd. I: 1926–1948 (hrsgg. und eingel. von Michael Buckmiller, Joachim Perels u. Uli Schöler). Hannover 2006 [GS I] Gesammelte Schriften Bd. II: 1949–1955 (hrsgg. und eingel. von Michael Buckmiller, Joachim Perels u. Uli Schöler). Hannover 2008 [GS II] Es sollen insgesamt acht Bände erscheinen
46 Habermas (Fn. 12), S. 24. 47 Vgl. das Vorwort der ihm gewidmeten völkerrechtlichen Festschrift R. Guitérrez Girardot, H. Ridder, et al. (Hrsg.) New Directions in International Law. Essays in Honor of Wolfgang Abendroth. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag. Frankfurt/M. – New York 1982; A. Fischer-Lescano,/G. Stuby Wolfgang Abendroth und das Völkerrecht, in Staat der Klassengesellschaft, S. 229–249. 48 Vgl. H.-J.Bieling Soziale Demokratie in Europa in Staat der Klassengesellschaft, S. 209–227 [220 ff.]. 49 Seifert (Fn. 31), S. 73.
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Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts
Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1965. [Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie] Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme. Pfullingen 1966. [Das Grundgesetz] Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politschen Soziologie. Neuwied-Berlin 1967. [Antagonistische Gesellschaft] Arbeiterklasse, Staat und Verfassung. Materialien zur Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie der Bundesrepublik (hrsgg. u. eingel. v. J. Perels). Frankfurt/M. – Köln 1975. [Arbeiterklasse, Staat und Verfassung] Ein Leben in der Arbeiterbewegung: Gespräche, aufgezeichn. u. hrsg. von Barbara Dietrich u. Joachim Perels. Frankfurt/M. 1976. [Ein Leben in der Arbeiterbewegung]
Monographien und Sammelwerke über Person und Werk Wolfgang Abendroths Balzer, F.-M., H. M. Bock, et al. (Hrsg.) Wolfgang Abendroth: Wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge. Opladen 2001. [Balzer et al. Wissenschaftlicher Politiker] Diers, A. Arbeiterbewegung, Demokratie, Staat: Wolfgang Abendroth, Leben und Werk 1906–1948. Hamburg 2006. [Diers Arbeiterbewegung] Fischer-Lescano, A., J. Perels, et al. (Hrsg.) Der Staat der Klassengesellschaft. Rechts- und Sozialstaatlichkeit bei Wolfgang Abendroth. Baden-Baden 2012. [Fischer-Lescano et al. Staat der Klassengesellschaft] Urban, H.-J., M. Buckmiller, et al. (Hrsg.) „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth. Hamburg 2006. [Urban et al. Aktualität Abendroths]
Festschriften für Wolfgang Abendroth Maus, H. (Hrsg.) Gesellschaft, Recht und Politik. Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag. Neuwied-Berlin 1968. Römer, P. (Hrsg.) Der Kampf um das Grundgesetz: Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation. Referate und Diskussionen eines Kolloquiums aus Anlaß des 70. Geburtstages von Wolfgang Abendroth. Frankfurt/M. 1977. Guitérrez Girardot, R., H. Ridder, et al., (Hrsg.) New Directions in International Law. Essays in Honor of Wolfgang Abendroth. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag. Frankfurt/M. – New York 1982.
XLV Hans Peter Ipsen (1907–1998) Klaus Stern
I. 1960 begegnete ich Hans Peter Ipsen zum ersten Mal persönlich. Die Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Köln, an der ich als Berichterstatter für die Bayerischen Verwaltungsblätter teilnehmen durfte, gab mir Gelegenheit, mich ihm vorzustellen. Mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit unterhielt er sich mit mir und sprach lobend über einen Aufsatz, den ich vor kurzem zum Allgemeinen Verwaltungsrecht in der Juristenzeitung veröffentlicht hatte. Wie es sich gehörte, redete ich ihn mit „Herr Professor“ an, was er, da er mich als Habilitanden einschätzte, sofort in „Herr Ipsen, bitte“ korrigierte. Die 1961 gegründete „kleine Staatsrechtslehrertagung“ der wissenschaftlichen Assistenten des öffentlichen Rechts in Hamburg und die „große Staatsrechtslehrertagung“ im September 1961 in Freiburg führten zu weiteren Begegnungen, die stets ermutigend für einen jungen Wissenschaftler waren. Rückschauend darf ich sagen, daß uns seither freundschaftlich-kollegiale Beziehungen verbanden, die bis zu seinem Tod im Jahre 1998 fortdauerten und sich in einem regen Austausch von Büchern und Sonderdrucken niederschlugen. Meinem Staatsrecht widmete er eingehende Rezensionen,1 was angesichts seiner Zurückhaltung in dieser Literaturgattung schon per se als Auszeichnung galt. Über ihn als Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts zu schreiben, ist mir eine Ehre und Freude, schätze ich ihn doch als Großen unserer Zunft hoch. Das gilt namentlich für die Zeit nach 1949, in der er herausragende wissenschaftliche Werke des Staats- und Verwaltungsrechts sowie vor allem des Europarechts geschaffen hat. Es ist mir daher ein nobile officium, Hans Peter Ipsen in diesem Werk über Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts zu würdigen.
1 AöR 103 (1978), S. 413–425; AöR 106 (1981), S. 284–292; AöR 110 (1985), S. 144–146
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Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts
II. Hans Peter Ipsen, am 11. Dezember 1907 in Hamburg geboren und am 2. Februar 1998 verstorben, erlebte fünf Perioden deutscher Staatlichkeit: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Regime, die Herrschaft der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die Bundesrepublik Deutschland, geteilt und wiedervereinigt. Nach dem Studium der Rechte an der Universität Hamburg, dem Ersten und Zweiten juristischen Staatsexamen und der Promotion 1932 mit dem Thema „Widerruf gültiger Verwaltungsakte“ bei Kurt Perels trat er 1934 in den Staatsdienst seiner Heimatstadt ein. Obwohl rasch zum Regierungsrat befördert, drängte es ihn doch zu einer wissenschaftlichen Karriere, die 1936 begann mit der Habilitation bei Rudolf von Laun (1882–1975), der, 1947 Rektor der Hamburger Universität, Ipsen Mentor auch in kritischer Zeit blieb. „Politik und Justiz – Das Problem der justizlosen Hoheitsakte“ lautete sein schon vor 1933 ins Auge gefaßtes Thema – in jener Zeit ein offenkundig vermintes Feld. Aber Ipsen wußte Distanz zu den Ansprüchen und Zielen der nationalsozialistischen Machthaber zu halten. Es war keine regimetreue Arbeit, die er schrieb, sondern eine juristisch saubere, dogmatisch und methodisch einwandfreie Arbeit von „undekorierter Nüchternheit“ (Hans Schneider). Dies galt auch für seine übrigen Schriften im „Dritten Reich“, in denen vor allem Hamburg im Vordergrund stand,2 auch wenn gelegentlich Kritik aus sicherer Warte der Gegenwart nicht ausblieb. 1937 erhielt er eine Dozentur für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht an der Universität Hamburg. Drei Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor und 1943 auch zum Oberlandesgerichtsrat am Hanseatischen Oberlandesgericht, später auch zum Richter am Oberverwaltungsgericht ernannt. Fest in Hamburg etabliert, auch wenn er um der Gesundheit seiner Frau willen im klimatisch angenehmeren Raven in der Nähe Lüneburgs wohnte, hielt er seiner Geburtsstadt, trotz ehrenvoller Rufe nach München und Bonn, beruflich die Treue. In seinem 1956 (Nachdruck 1988) erschienenen Buch „Hamburgs Verfassung und Verwaltung“ dokumentierte er im Vorwort das Bekenntnis zu dieser Stadt: „Schwerlich indes kann es (scil. das Buch) und will es verleugnen, daß sein Verfasser, Hamburger von Geburt und Zuneigung zu seinem Gegenstand, – jetzt mehr als 25 Jahre im Dienste seiner Verwaltung, seiner Gerichte, seiner Universität –, in ihm von seiner Vaterstadt spricht“. Natürlich wußte er die Weltoffenheit dieser Stadt auch zum Blick über sie hinaus zu nutzen, auch wenn es die Umstände verboten hatten, in der Jugend-
2 Nachweise in der Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, hrsgg. von R. Stödter und W. Thieme, 1977, S. 721 ff.
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oder Assistentenzeit über die Grenzen des Landes hinaus Eindrücke aus eigenem Erleben zu sammeln. Das kam erst später mit dem Faible für Europa. Treffend lautete dementsprechend der Titel der ihm 1977 gewidmeten Festschrift „Hamburg – Deutschland – Europa“, und sein Opus magnum war ohne Zweifel das „Europäische Gemeinschaftsrecht“, 1972 erschienen, dem sich 1984 eine Sammlung seiner europarechtlichen Abhandlungen hinzugesellte. Der Klappentext vermerkte: „Das Buch (Europäisches Gemeinschaftsrecht) ist die erste aus einer deutscher Feder stammende Gesamtdarstellung dieser neuen Rechtsordnung, die trotz aller Krisen und Rückfälle der Integration Realität geworden ist und sein wird“, und er hatte recht. Doch gemach! Ipsen war nicht nur Europarechtler der ersten Stunde, sondern bald auch „Europarechtspapst“, dem niemand ungestraft widersprechen durfte. Ungeachtet dessen war er auch ein eminenter Autor im Staats- und Verwaltungsrecht. Diese drei Bereiche – Staats-, Verwaltungs- und Europarecht – seines wissenschaftlichen Schaffens gilt es, in dem begrenzt zur Verfügung stehenden Raum hier nachzuzeichnen, um eine herausragende, liebenswürdige, seiner Familie zugewandte Persönlichkeit, einen akademischen Lehrer und Forscher zu würdigen, der zu den prägenden und dominanten Staatsrechtslehrern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Obschon ein Gelehrter allein des vergangenen Jahrhunderts, das er mit seiner Lebenszeit fast ganz ausfüllte, darf sein wissenschaftliches Werk auch für das 21. Jahrhundert als weiterwirkend gekennzeichnet werden. Ipsen hat immer auch in die Zukunft gedacht. Das gilt vor allem für seine Europa gewidmeten Forschungen, in denen er bahnbrechende, stets auch praktikable, eher nüchterne denn visionäre Ergebnisse zu präsentieren wußte. Die kräftige Impulsierung des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten der Union auf vielen Feldern durch Europäisches Recht hat er vorausgeahnt, den Vorrang des Unionsrechts 1964 eingehend begründet3 und so wissenschaftlich der jetzt herrschenden Meinung vorgearbeitet. Als Vortragender wußte er, wie der Verfasser dieser Zeilen erstmals auf dem 45. Deutschen Juristentag 1964 in Karlsruhe erlebte, seine Zuhörer zu fesseln, auch wenn er dem deutschen Juristenstand wegen seiner europarechtlichen Abstinenz manch’ kritisches Wort ins Stammbuch schrieb – wortgewaltig und bildreich wie stets, eben auch als großer Rhetor. Geist, Witz und Charme verbanden sich in seiner Person in glücklicher Weise.
3 „Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht“, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, Europarechtliches Kolloquium, Bensheim 1964, wiedergegeben auch in französischer, italienischer und englischer Sprache
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III. Ipsen begann wissenschaftlich mit dem Verwaltungsrecht (s. seine oben II erwähnte Dissertation), dem er auch in seiner späteren Forschungstätigkeit treu blieb. Wir finden viele Schriften aus seiner Feder zu zahlreichen Problembereichen des besonderen Verwaltungsrechts, meist mit wirtschaftsverwaltungsrechtlichem Zuschnitt. So erreichte sein „Hamburgisches (Staats-) und Verwaltungsrecht“ fünf Auflagen. „Hamburgs Verfassung und Verwaltung“ von 1956 umfaßt 518 Seiten, davon ist gut die Hälfte auf die Verwaltung und ihr Recht von Weimar bis zur Bundesrepublik bezogen. Sein Schriftenverzeichnis weist darüber hinaus mindestens 30 weitere verwaltungsrechtliche Beiträge auf. Aber sie waren doch eher zeitgebunden. Zwei von ihm behandelte Materien sind indessen heute noch von Bedeutung; zum einen: seine Untersuchungen zur öffentlichen Subventionierung Privater, in Fortsetzungen 1956 erschienen im Deutschen Verwaltungsblatt;4 das Thema ließ ihn nicht los, wie „Verwaltung durch Subventionen“5 zeigte; zum zweiten seine Beiträge zur Rundfunkgebühr;6 auch andere rundfunkrechtliche Fragen gehörten zu seinem Repertoire. Ipsen brachte in den Wildwuchs der staatlichen Subventionen begriffliche Klarheit, unterschied direkte und indirekte Subventionen und entwickelte eine Typologie der Subventionen. Von besonderer Bedeutung war, daß er den verfassungsrechtlichen Hintergrund ausleuchtete. Anknüpfend an U. Scheuners Überlegungen aus dem Staatsrechtslehrerreferat von 1952 zur „staatlichen Intervention im Bereich der Wirtschaft“7 und eigene Gedanken aus seinem Referat auf der Göttinger Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zum Thema „Enteignung und Sozialisierung“8 legitimierte er die staatliche Subventionierung der unternehmenden und nicht-unternehmenden „Teilhaber des Wirtschaftsprozesses“ aus der Sozialstaatlichkeit; denn sie „gestattet und gebietet, daß der Staat … auch um die sozial gerechte Wirtschaftsgestaltung für die Gesamtheit bemüht ist“.9 Allerdings wußte er auch Grenzen aus den Sachzuständigkeiten, den Gesetzesvorbehalten der Finanzverfassung und den Grundrechten sowie
4 S. 461 ff., 498 ff., 602 ff. 5 VVDStRL 25 (1967), S. 257 ff. und HStR, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 92 6 1. Aufl. 1953, 2. Aufl. 1958 sowie „Zur Rechtsnatur der Rundfunkgebühr nach dem FernsehUrteil des Bundesverfassungsgerichts“, Rechtsgutachten, 1961 7 VVDStRL 11 (1954), S. 1 ff. 8 VVDStRL 10 (1952), S. 74 ff. 9 DVBl. 1956, S. 463
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dem Montanunionvertrag zu ziehen. Manches wird heute strenger gesehen,10 aber grundlegend blieb Ipsens Pionierleistung für viele gegenwärtigen Probleme dieses heute mehr denn je umstrittenen Rechtsgebiets. Sie wurde von allen späteren Darstellungen anerkannt. Frühzeitig widmete Ipsen dem Rundfunkwesen seine Aufmerksamkeit. Galt die Rundfunkgebühr zunächst als eine fernmelderechtliche Gebühr für die Genehmigung, eine „Funkanlage zu betreiben“, die an die Reichspost gemäß §§ 2 und 9 Fernmeldeanlagengesetz von 1928 zu entrichten war, so begann in den 1950er Jahren ein erbitterter Streit über ihren Rechtscharakter. In ihn griff Ipsen 1953 mit seiner Schrift „Die Rundfunkgebühr“ ein. Für ihn war sie eine Anstaltsnutzungsgebühr mit Beitragscharakter, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zusteht. Darauf gestützt, sprach dann 1968 das Bundesverwaltungsgericht von „Benutzungsgebühr“, die zu regeln der Landesgesetzgeber für seine Rundfunkanstalten befugt sei.11 Diese Zuständigkeit bejahte später auch das Bundesverfassungsgericht,12 ohne jedoch in diesen und anderen Rundfunkurteilen klare Aussagen zur Rechtsqualität zu machen. Es betonte aber, daß die Rundfunkgebühr „Finanzierungsmittel für die Gesamtveranstaltung öffentlichrechtlicher Rundfunk (ist), dessen umfassende Ordnung dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen obliegt“.13 Dementsprechend hatten die Länder der Bundesrepublik Deutschland 1968 einen ersten Rundfunkgebührenstaatsvertrag geschlossen, der die Zahlungspflicht an das Bereithalten eines Geräts knüpfte.14 Daran hielt man lange fest. Erst in jüngster Zeit ist eine Systemumstellung auf einen Haushalts- oder Betriebsbeitrag zu erwarten. Der 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wird mit Wirkung zum 1. Januar 2013 das Finanzierungssystem dezidiert in Richtung auf einen Beitrag, der von jedem Haushalt oder Betrieb zu leisten ist, verändern. Der Vertrag wird dementsprechend auch die Bezeichnung „Rundfunkbeitragsstaatsvertrag“ erhalten. Ipsen darf sich posthum als Sieger fühlen.15 Ipsens Analysen im Recht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks waren nicht allein auf Rundfunkgebühren beschränkt.1972 beschäftigte ihn die Mitbestimmung im Rundfunk, und früher, in den 1960er Jahren, galt seine besondere Aufmerksamkeit dem Werbefernsehen. Zwei grundlegende Aufsätze in der NJW publizierte er zu diesem damals ebenfalls umstrittenen Thema. Auch hier befand sich
10 vgl. J. A. Kämmerer, Subventionen, in: HStR V, 3. Aufl. 2007, § 124 11 Bd. 29, 214 [217] 12 Bd. 31, 314; 73, 118; 95, 60; 119, 181 13 ZUM 1988, 532 14 § 4 Abs. 1 RGebStV 15 vgl. K. Stern, (Hrsg.), Neue Rechtsgrundlagen für die Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2011
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Ipsen auf der Seite der siegreichen Praxis. Er hielt Werbefernsehen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten für „legal“;16 grundrechtliche Bedenken stünden ebensowenig wie andere verfassungsrechtliche Einwände entgegen. Auch eine „Ausgliederung“ des Werbefernsehens auf Tochtergesellschaften sei zulässig; dem stünden weder verfassungs- noch verwaltungsrechtliche Bedenken entgegen.17 1964 befaßte er sich außerdem mit dem Fernsehvorschlag der Zeitungsverleger.18 Nicht ausbleiben konnte auch eine Untersuchung über den „Rundfunk im Europäischen Gemeinschaftsrecht“, die er 1983 vorlegte. Ipsen wußte diese auch heute noch aktuelle Problematik des Rundfunkrechts in allgemeine Überlegungen zur Wirtschaftstätigkeit des Staates oder der Intervention des Staates in die Wirtschaft einzuordnen – Themen, die ihn außerordentlich interessierten und denen er sich in mehreren Aufsätzen widmete. Genannt seien: Staatliche Wirtschafts-Intervention, Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung;19 Rechtsfragen der Investitionshilfe;20 mehrfach Fragen der Wirtschaftsplanung, so 1965 in den Universitätstagen der Freien Universität Berlin und in den von Joseph H. Kaiser herausgegebenen Planungsbänden 1966 und 1968, das meiste zusammengefaßt in: „Öffentliches Wirtschaftsrecht. Entwicklungsbeiträge unter dem Grundgesetz“, 1985. Auf vielen Gebieten betrat er dabei juristisches Neuland und wußte durch zupackende und hellsichtige Begriffe – „Schlüsselbegriffe“ – zu glänzen, wie Zwei-Stufen-Theorie, Plangewährleistung, Junktimklausel, (europäischer) Marktbürger und andere mehr.
IV. Stärker als dem Verwaltungsrecht galt sein Schaffen und Wirken – jedenfalls nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – dem Verfassungsrecht. Zahlreiche Publikationen, seien sie selbständige Schriften oder Beiträge in Zeitschriften, Festschriften und Sammelwerken, weist das Schriftenverzeichnis aus. Eingeläutet wurde sein Œuvre auf diesem Gebiet durch die anläßlich der Rektoratsfeier der Universität Hamburg gehaltene Rede vom 17. November 1949 „Über das Grundgesetz“, dessen Inkrafttreten nur ein knappes Halbjahr zurück-
16 NJW 1963, 2049 17 NJW 1963, 2102 18 DÖV 1964, 793 19 JZ 1952, 759 20 AöR 78 (1953), 284
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lag. „Sie gehörte – neben Beiträgen von Rudolf Laun und Werner Weber – zu den ersten rechtswissenschaftlichen Äußerungen, die der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zuteil wurden“, schrieb H. P. Ipsen im Vorwort seiner „Gesammelten Beiträge seit 1949“, 1988 mit dem Titel „Über das Grundgesetz“ erschienen, wo die Rede wiederabgedruckt ist.21 Aus seiner im ganzen positiven Bewertung der „vorläufigen“ Verfassung22 ragten zwei wichtige weiterwirkende Feststellungen heraus, zum einen: „Es gehört zu den festen Ergebnissen, auch der deutschen rechtswissenschaftlichen Arbeit, dargetan zu haben, daß das staats- und völkerrechtliche Rechtssubjekt Deutschland unter den Ereignissen des Jahres 1945 nicht aufgehört hat zu existieren“. Ein „Untergang der deutschen Staatlichkeit“ ist weder durch Gebietsverlust noch durch den Zusammenbruch seiner staatlichen Apparatur und die Sequestration seiner Hoheitsgewalt durch die Besatzungsmächte herbeigeführt worden. „Auch das Grundgesetz hat ihn nicht bewirkt …“.23 Zum zweiten war es Ipsens Erkenntnis, daß das Grundgesetz trotz seines Namens Verfassungsqualität beansprucht, was im einzelnen näher dargelegt wird.24 Das Schicksal des Grundgesetzes ließ Ipsen auch fürderhin nicht in Ruhe. 1974 schrieb er „Über das Grundgesetz – nach 25 Jahren“.25 Nach einer sorgfältigen Analyse seiner Bewährung, aber auch seiner Defizite sowie der Verfassungsänderungen und -ergänzungen räsonierte er unter Einbeziehung der damals von bestimmter Seite erwogenen „Totalrevision“ des vorgeblich „antiquierten“ Grundgesetzes über die „Zukunftseignung des Systems“. Er warf die auch heute unter dem Eindruck von „Gorleben“ und „Stuttgart 21“ wiederbelebte Frage auf, „ob ein nach Art des Grundgesetzes verfaßter Staat – die parlamentarische Demokratie mit allen ihren wesentlichen Elementen einer Parteienstaatlichkeit – den Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger Lagen unserer Lebensumstände noch gerecht werden kann“.26 Die bejahende Antwort gab 1976 der Schlußbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission Verfassungsreform (BT-Drucks. 7/5924). Diesen Bericht würdigte Ipsen 1977 eingehend.27 Ipsen bescheinigt dem Bericht „fundiertes Bemühen“, eine „nüchterne, realitätsbezo-
21 S. 1 ff. 22 dazu das „Grundgesetz in seiner Vorläufigkeit“, in: Recht – Staat – Wirtschaft, Bd. II (1949), S. 182 ff. 23 ebda. S. 34 24 ebda. S. 4 ff. 25 DVBl. 1974, S. 289 ff. = Gesammelte Beiträge, S. 38 ff. 26 ebda. S. 67 27 „Zum Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform“, DÖV 1977, S. 537 ff. = Gesammelte Beiträge, S. 69 ff.
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gene Gesamthaltung“ und akzeptiert den von ihr proklamierten „Grundsatz der kontinuierlichen Verfassungsentwicklung“, kritisiert aber auch, daß der Bericht „zu intensiv in Organen, Organisationen, Kompetenzen und Verfahren und zu wenig an den Menschen und den Bürger (denkt)“.28 Nicht allein das Grundgesetz als Ganzes war Gegenstand der Forschungen von Hans Peter Ipsen. Eine Vielzahl verfassungsrechtlicher Themen beschäftigte ihn seit der Geltung dieser Verfassung. Das begann mit zwei Referaten, die größte Aufmerksamkeit erregten: 1950 sprach er auf dem III. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in London über „die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen“29 und 1951 auf der dritten Tagung nach Wiederbelebung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Göttingen zum Thema „Enteignung und Sozialisierung“.30 Mit dem letztgenannten Referat begründete Ipsen seine enge Verbundenheit mit dieser Vereinigung, deren Erster Vorsitzender (1952/53 amtierte er bereits als Zweiter Vorsitzender) er in den Jahren 1974 und 1975 war und die ihn 1990 zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit berief – zu Recht; denn bei kaum einer Tagung fehlte er. Außerdem wußte er mit funkelnden Diskussionsbeiträgen zu glänzen(was er 1965 nicht unterließ zu glossieren.31 Er war eine herausragende Gestalt der Zunft, in der er Lob und Kritik verteilen konnte. Nicht nur 1951 referierte er, sondern auch – als besondere Auszeichnung – ein zweites Mal 1966 in Graz zum Subventionsthema.32 1972 und 1984 würdigte er in einer gründlichen Analyse die Verhandlungen dieser Gelehrtenvereinigung als „repräsentativ für die deutsche Staatsrechtswissenschaft“.33 Sein Credo für die Vereinigung formulierte er richtungweisend für alle Mitglieder auf der Bayreuther Tagung anläßlich des 70jährigen Jubiläums der Vereinigung 1992: Wir erfüllen unsere „Aufgabe in einer Organisation unseres Zusammenschlusses, die für benachbarte Disziplinen als Beispiel gewirkt hat. Unsere Vereinigung will weder eine Vertretung von Standesinteressen noch – wie Heinrich Triepel formuliert hat – ein politischer Verein sein. Ihm hat Rudolf Smend das Verdienst zugeschrieben, durch seine Initiative zur Gründung [13. Oktober 1922] den Kreis der Fachgenossen ‚vor einem ihre fachliche Glaubwürdigkeit und Autorität bedrohenden Zerfall in streitende politische
28 ebda. S. 82 29 abgedruckt in der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 1950, S. 791 30 VVDStRL 10 (1952) S. 74 ff. 31 AöR 90, S. 505 32 s. oben III 33 AöR 97 (1972), S. 375 ff. und AöR 109 (1984) S. 557 ff., auch abgedruckt in: Gesammelte Beiträge, S. 267 ff.
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Parteien gerettet‘ zu haben. Ich verkenne darüber nicht, daß unsere Vereinigung angesichts unterschiedlicher Grundhaltung, des jeweiligen Vor- und Selbstverständnisses ihrer Mitglieder ein Gebilde pluralistischer Strukturen und Gesinnungen ist“. Das Wesen der seit jeher auch österreichische und schweizerische Mitglieder sowie unter bestimmten Voraussetzungen neuerdings auch Inhaber von Professuren ausländischer Universitäten (§ 4 Satzung) umfassenden Vereinigung sah er, wie es die Satzung gebietet, in der Klärung „wissenschaftlicher und Gesetzgebungsfragen aus dem Gebiet des öffentlichen Rechts“.34 Seine Verbundenheit mit dem Staatsrecht und den Mitgliedern der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ließen Ipsen auch zu einem gewichtigen Rezensenten auf dem Gebiet des Staatsrechts werden. Ausführlich rezensierte er die beiden ersten Bände des „großen ‚Staatsrechts‘ von Klaus Stern“35 und den ersten Band der 3. Auflage des Grundgesetz-Kommentars von v. Mangoldt/Klein/ Starck36 sowie Günter Dürigs Kommentierung des Art. 3 GG im Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig.37 Diesen Einzelrezensionen zur Seite trat der mehr als 40 Seiten umfassende Besprechungsaufsatz „Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher“.38 Kaum jemand hat später eine ähnliche Sammelrezension gewagt, so dringend notwendig sie auch wäre, weil das Spektrum der Werke erheblich zugenommen hat. Das mag mit der enormen Vermehrung staatsrechtlicher Lehrbücher seither zusammenhängen.39 Besprach Ipsen 1985 gerade fünf klassische Lehrbücher – Maunz, Hesse, Stein, Doehring, Stern –, so müßten heute mühelos gegen zwanzig Bücher für eine Rezension geprüft werden.40 Aus der Vielzahl der staatsrechtlichen Untersuchungen von Hans Peter Ipsen können nur einige herausgegriffen werden, um Ipsens stets zupackendes und analytisches Denken aufzuzeigen. Mit seinem Referat auf der Göttinger Staatsrechtslehrertagung hat er 1951 eine erste grundlegende Analyse der Art. 14 und 15 GG geboten. Bis dahin gab es nur stark der Entstehungsgeschichte verhaftete Kommentierungen von Abraham im Bonner Kommentar und von Hermann von Mangoldt in seinem 1950 in erster Auflage erschienenen Kommentar. Ipsen
34 VVDStRL 52 (1993), S. 8 f. 35 AöR 103 (1978), S. 413, AöR 106 (1981), S. 284, AöR 110 (1985), S. 144 36 AöR 110 (1985), S. 457 37 Der Staat 13 (1974), S. 555 38 AöR 106 (1981), S. 161 ff. = Gesammelte Beiträge, S. 349 ff. 39 vgl. die Nachweise bei K. Stern, Allgemeines Literaturverzeichnis, in: Staatsrecht Bd. IV/2, 2011, S. C XXX IV 40 vgl. W. Pauly, Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht, in: D. Willoweit, Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 883 ff.; bes. S. 919 ff.; J. Isensee, Die Staatlichkeit der Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010, § 6
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mußte also Pionierarbeit leisten. Das galt vor allem für Art. 15 GG, den sog. Sozialisierungsartikel, der nur bedingt ein Vorbild in Art. 155/156 WRV hatte. Seine Auslegung dieser Vorschrift, die „sich nur mit Mühe überhaupt als harmonisch und homogen empfinden läßt“41 wurde richtunggebend für die späteren Erläuterungen in den Großkommentaren zum Grundgesetz, in denen sie langsam zu einem „Verfassungsfossil“ (O. Depenheuer) abstieg, das politisch durch „Nichtbenutzung obsolet“ werden könnte, wie schon Ipsens Korreferent auf der Staatsrechtslehrertagung, Helmut K. J. Ridder, andeutete.42 Ein Verfassungsauftrag zur Sozialisierung, so stellte er fest, läßt sich dem Art. 15 GG nicht entnehmen. Das ist heute die ganz herrschende Meinung. Selbst die aktuelle Bankenkrise hat nur auf der äußersten Linken die Aktivierung der Vorschrift ausgelöst, wobei es mehr als fraglich bleibt, ob Banken und andere Dienstleistungsunternehmen überhaupt „Produktionsmittel“ im Sinne dieser Vorschrift sind.43 Nach Vorarbeiten von K. Hesse, G. Leibholz, R. Thoma und W. Zeidler unterzog H. P. Ipsen 1953 den Gleichheitssatz des Art. 3 GG (ohne die Gleichheit von Mann und Frau) einer umfassenden und grundlegenden Analyse. Auch diese 1954 erschienene Untersuchung im „Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte“, herausgegeben von F. Neumann, H. C. Nipperdey und Ulrich Scheuner44 wies der nachfolgenden Interpretation dieses schwierigen Verfassungssatzes die Richtung. Seine einleitende Bemerkung, daß der Gleichheitssatz „in der ihm zugemessenen Bedeutung, Widersprüche zwischen Rechtsbewußtsein und Gesetzesinhalt zu lösen, einen notwendig variablen, keinen zeitlos-absoluten Gehalt besitze, und andererseits das Ziel seiner Deutung jeweils darin bestehen müsse, hinreichend meßbare, justiziable Maßstäbe und Merkmale seiner Anwendbarkeit zu entwickeln“,45 zeigt die Schwierigkeit des Problems auf. Die umfangreiche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz bestätigt diese Erkenntnis.46 Das gilt vor allem für die Feststellung, daß die Gleichheitsprüfung in hohem Maße Wertentscheidungen in sich trägt, die sich besonders im Rahmen der Willkürkontrolle auswirken. Für Ipsen war es daher wesentlich, in umsichtiger Weise eine „Methode zur Anwendung des Gleichheitssatzes“ herauszuarbeiten; denn „die Anwendung des Gleichheitssatzes setzt seinem Wesen gemäß ‚Vergleiche‘ voraus“; da „Vergleichung
41 VVDStRL 10 (1952), S. 108 42 ebda. S. 149 43 ausführlich dazu W. Durner, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 15 (2008) Rdn. 35 ff.; J. Dietlein, in: Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, § 113 X 5 c mit umfangreichen Nachweisen 44 Bd. 2, S. 111–198, abgedruckt auch in: Gesammelte Beiträge, S. 150 ff. 45 ebda. S. 113 – Hervorhebungen im Original 46 zu ihr zuletzt M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2 (2011) § 120
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aber hinreichend präzise Klarstellung der Vergleichssubjekte, – Objekte und der (rechtlich beachtlichen) – Merkmale und – Beziehungen bedingt, entzieht sich der Gleichheitssatz schon seiner Natur nach weitgehend abstrahierenden und verallgemeinernden Bestimmungen“.47 Unter Rückgriff auf frühere Untersuchungen („Aktionär und Sozialisierung in Verkehrs- und Energiewirtschaft, Gedrucktes Rechtsgutachten, 1949) behandelt Ipsen auch die in den 50er Jahren höchst aktuell gewordene Frage der „Drittwirkung“ der Grundrechte im allgemeinen und des Gleichheitssatzes im besonderen.48 Er benennt dabei Robert K. Carr49 als Entdecker dieses Problems, das bezüglich des Gleichheitssatzes seine praktische Bedeutung vor allem in der Lohngleichheit zwischen Mann und Frau gefunden hat, aber auch für die privatrechtliche Betätigung des Staates relevant geworden ist. Der damit ausgesprochene Bezug zur Wirtschaftsverfassung gehörte von Anbeginn an zu Ipsens bevorzugten Forschungsbereichen. Das zeigte sich bereits 1949 in dem soeben genannten Rechtsgutachten und setzte sich in vielen Beiträgen fort. Namentlich sind als wichtige Untersuchungen zu nennen: „Staatliche Wirtschafts-Intervention, Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung“,50 „Rechtsfragen der Investitionshilfe“.51 „Das Verbot des Massengütertransports im Straßenverkehr“,52 „Zum ‚Erdöl‘-Urteil des Bundesgerichtshofs“53 in: AöR 81 (1956), S. 241, „Gesetzliche Bevorratungspflicht Privater, erläutert am Modell des Gesetzes über Mindestvorräte an Erdölerzeugnissen vom 9.9.1965“,54 „Außenwirtschaft und Außenpolitik“,55 „Bundes-Ausgleichsabgaben zur Wirtschaftslenkung“,56 „Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage“ (1976). Gesammelt sind diese Untersuchungen in seinem „Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Entwicklungsbeiträge unter dem Grundgesetz“, 1985, das 683 Seiten umfaßt.
47 ebda. S. 177 ff. 48 ebda. S. 143 mit Fußnote 109 49 Federal protection of civil rights, 1947 50 JZ 1952, 759 51 AöR 78 (1953), S. 284 52 Gedrucktes Rechtsgutachten, 1954 53 BGHZ 19, 209 54 AöR 90 (1965), S. 393 55 Rechtsgutachten zum Rhodesien-Embargo, 1967 56 DVBl. 1976, 653
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V. Mehr und mehr kristallisierte sich jedoch in seinem späteren Lebensabschnitt das Europäische Gemeinschaftsrecht als Hauptarbeitsgebiet Ipsens heraus. Es begann wohl 1963, daß er sich erstmals mit zwei vertiefenden Aufsätzen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als Europarechtler vorstellte: „Das Aktionsprogramm für die Zweite Stufe und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts“57 und „Fusion der europäischen Exekutiven und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts“,58 womit zugleich seine periodische Berichterstattung über das Europäische Gemeinschaftsrecht einsetzte. Diese Aufsätze zeugten aufgrund des umfangreichen Anmerkungsapparats und ins Detail gehender Ausführungen davon, daß er sich bereits längere Zeit mit der Materie des seit dem Montan-Union-Vertrag und vor allem dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft heranwachsenden Europäischen Gemeinschaftsrechts beschäftigt hatte, was er dann 1964 mit dem schon erwähnten Vortrag vor dem Deutschen Juristentag nachdrücklich unter Beweis gestellt hat. Neben seiner Forschungstätigkeit war Ipsen u. a. als Beistand der Hohen Behörde der Montan-Union und der EWG-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof tätig sowie Verfasser wichtiger einschlägiger Gutachten zum Europäischen Gemeinschaftsrecht und gefragter Redner in Angelegenheiten Europas. Schon 1972 prognostizierte er, was heute Realität ist: „Daß die Integrationsschritte und -maßnahmen, die vertragsgemäß getan und getroffen worden sind und weiterhin anstehen, in steigender Intensität und in sektoraler Erweiterung und Verschränkung die Sache der Wirtschaftspolitik, die als solche ja auch bereits Politik ist, auf weitere Politik-Bereiche erstrecken und sich auswirken lassen, die immer mehr auch ‚große Politik‘ genannt werden müssen“.59 Die Integration Europas und ihr Recht ließ ihn nicht mehr los. Es faszinierte ihn. Ipsen wurde bald der führende Europarechtler Deutschlands. Sein schon erwähntes Bensheimer Referat zum „Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaft zum nationalen Recht“ von 1964 öffnete den Weg zur Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Rechtsgrundlage hierfür waren für ihn die Supranationalität der Europäischen Gemeinschaften (Art. 10 EGV a.F.) und der „Integrationshebel“ des Art. 24 Abs. 1 GG. Gleichzeitig und gleichgerichtet betonte den Vorrang die Leitentschei-
57 NJW 1963, 1713 58 NJW 1963, 2209 59 Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, S. 21
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dung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Costa-ENEL,60 die dann ihre Fortsetzung in späteren Entscheidungen fand und ständige Rechtsprechung wurde, die mittlerweile allgemein akzeptiert ist.61 Die nicht immer eindeutige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts62 ließ ihn wiederholt zur Feder greifen – besorgt, wenn er glaubte, die nationalen Vorbehalte würden zu stark betont. Das Bekenntnis zum Anwendungsvorrang war nicht die einzige Pionierleistung Ipsens im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Die Zahl seiner Abhandlungen auf diesem Rechtsgebiet ist Legion, gesammelt in dem 574 Seiten umfassenden, schon erwähnten 1985 erschienenen Band „Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien“. In der Festschrift für Walter Hallstein, 1966, schrieb er über die Probleme eines „Bundesstaats in der Gemeinschaft“ und über „Richtlinien – Ergebnisse“ in der Festschrift für Carl Friedrich Ophüls, 1965, beide Europäer der ersten Stunde, mit denen er eng verbunden war. „Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften“ und „Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften“ ließ er 1969 und 1970 als „kleine“ Schriften folgen. Weitere wichtige Beiträge sind abgedruckt in dem Sammelband „Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien. Europarechtliche Abhandlungen 1972–1984, 1984. Genannt seien etwa seine Untersuchungen zur „Supranationalität“63 oder zur „Haftung für normatives Unrecht nach Europäischem Gemeinschaftsrecht“.64 Viele Beiträge waren indes Vorboten seines opus magnum „Europäisches Gemeinschaftsrecht“, das über 1000 Seiten umfaßt. 1972 erschien es und war zu diesem Zeitpunkt ohne Vorbild im deutschsprachigen Raum. An Stelle eines Vorworts bekundet der Klappentext: „Das Buch ist eine Gesamtdarstellung des Rechts der drei Europäischen Gemeinschaften – von seinen nationalen Vertragsgrundlagen und seinen Quellen über die Strukturierung der Gemeinschaften und die Stellung ihrer Mitglieder, ihrer Organisation und Organe, deren Handlungsermächtigungen und Rechtshandlungen bis zur materiellen Substanz des Integrationsrechts: dem Recht des Gemeinsamen Marktes und seiner Ordnung, der Rechtsstellung seiner Marktbürger, den Rechtsgrundlagen und der bisherigen Entwicklung der gemeinschaftlichen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik“.
60 EuGHE 1964, 1251 61 vgl. die Nachweise bei Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 11 Rdn. 4 ff. 62 BVerfGE 37, 271 – Solange I; 52, 187 – Absatzfondsgesetz; 73, 339 – Solange II; 89, 155 – Maastricht; 102, 147 – Bananenmarkt; 118, 79 – Emissionshandelssystem; 123, 267 – Lissabon; 126, 286 – Honeywell; BVerfG, EuGRZ 2011, 525 – Griechenland-Hilfe und Euro-Rettungsschirm 63 ebda. S. 97 ff. 64 ebda. S. 249 ff.
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In der Tat: ein großer Wurf des Europäischen Gemeinschaftsrechts, der spätere Gesamtdarstellungen maßgeblich beeinflußte und für Theorie und Praxis der europäischen Integration wegweisend wurde! Das Europäische Gemeinschaftsrecht erhielt durch dieses Werk endgültig einen respektierten Platz auf der Landkarte der Wissenschaftsdisziplinen des öffentlichen Rechts neben Völkerrecht, Staats- und Verwaltungsrecht und (Staats-)Kirchenrecht, ohne daß verkannt werden sollte, daß es auch mit dem nationalen Privatrecht verknüpft war. Ulrich Everling, mit europäischen Angelegenheiten von Profession her vertraut, um wenigstens einen aus der Schar der vielen positiven Rezensenten zu zitieren, schrieb: „Ipsen hat damit eines der seltenen Bücher geschrieben, die schon bei ihrem Erscheinen zu den großen Klassikern gerechnet werden können“.65 So ist es! Ipsen begnügte sich in seinem Werk nicht mit einer Darstellung des Bestands der Vergemeinschaftung. Er wagte auch den Blick in die Zukunft. „Perspektiven“ nannte er den letzten Teil (S. 973 ff.). Die zukünftige „Gestaltform“ der Gemeinschaft, jetzt: Union, blieb für ihn in weiser Zurückhaltung offen. Den „Dreisprung Bündnis – Staatenbund – Bundesstaat“ hielt er nicht für zwingend. Der Begriff „Staatenverbund“ (BVerfGE 89, 155) tauchte bei ihm nicht auf. Er blieb bei der Qualifizierung als „Zweckverband“, weil er zurückhaltend war, wenn es darum ging, für die Gemeinschaft Anleihen an die Staatlichkeit zu machen. 20 Jahre später hielt er im Handbuch des Staatsrechts daran fest, „daß Gestalt, Entscheidungsstrukturen und Konsentierungsbedarf der Vergemeinschaftung sich nicht am Modell überlieferter Staatlichkeit messen lassen, sondern ihr adäquater, originärer Designierung bedürfen“.66 Es bleibt gültig, was Thomas Oppermann in seinem Nachruf 1998 schrieb: Hans Peter Ipsen vermochte – wie wenige andere – entscheidend dazu beizutragen, dem Europarecht mit seinen „hochgespannten Ansprüchen innerhalb der deutschen Jurisprudenz den Platz tatsächlich zu sichern, der ihm von Politik und Verfassung zugewiesen wurde“.67 Wenn heute die Europäisierung des Rechts der Mitgliedstaaten zur gängigen Formel in der deutschen Rechtswirklichkeit geworden ist, so gehört Ipsen zu den wichtigsten Wegbereitern dieser Entwicklung. Er war „Europäer“ der ersten Stunde und blieb Europa verbunden in seiner ganzen Schaffensperiode, ohne an der Richtigkeit dieses Weges zu zweifeln. Sein Rat, seine Kunst, griffig zu formulieren, Problemlösungen zu bieten, fehlten in der gegenwärtigen Krise, die die Union, vor allem die Währungsunion befallen hat. Wir wissen nicht, welche
65 Der Staat 13 (1974), S. 74 66 Bd. VII, 1992, § 181 Rdn. 98 67 JZ 1998, 452
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Wege aus der Krise er aufzeigen würde, wohl aber wissen wir, daß er uns mit klugem Rat nicht im Stich gelassen hätte. In einer seiner letzten wissenschaftlichen Abhandlungen, dem Beitrag zur Festschrift für Ulrich Everling,68 im Frühjahr 1994 zu Papier gebracht, geht es um die Zukunft der Union. Wie selten bei ihm, den ich stets als einen optimistischen Menschen empfand, schwingt Skepsis mit. Sie gipfelt in der Frage, ob die Europäische Union genügend „Bürgernähe“ besitzt und ob sie bei den Menschen, die jetzt Unionsbürger sind, hinreichend Legitimation gefunden hat. Wahrheit schon damals und erst recht heute!
VI. Im Reigen der bedeutenden deutschen Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts durfte der Name Hans Peter Ipsen nicht fehlen. Seine Lebenszeit umfaßt fast das ganze 20. Jahrhundert vom 11. Dezember 1907 bis zum 2. Februar 1998. Mit wissenschaftlichen Publikationen trat Ipsen erstmals 1932 hervor. Den Schwerpunkt erlebte sein wissenschaftliches Œuvre nach 1948, beginnend mit einem Beitrag über „Hamburg zwischen Krieg und Frieden“, der in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Leo Raape erschien. Dort bekannte der seiner Heimatstadt tief Verbundene – „Hamburger von Geburt und Neigung“ nannte er sich selbst – und ihr trotz ehrenvoller Berufungen treu Bleibende: „Der Verfasser dieses Beitrages, selbst Hamburger und Student ihrer Universität, erfüllt damit eine schöne Pflicht des Schülers, voll tiefen Dankes für den Mann, der ihm den Weg zur Rechtswissenschaft und zum Lehrberuf gewiesen hat“. So haben wir ihn in Erinnerung: eine Persönlichkeit von tiefer Menschlichkeit, von betontem Familiensinn, von großer Zuvorkommenheit, von herausragender Fachkenntnis, von Eloquenz, von wissenschaftlicher Geradlinigkeit, ohne je abgehoben zu sein, wie vor allem seine Verbundenheit mit dem Fußballsport, besonders seines Lieblingsvereins, des HSV, zeigte, mit dem er heute, 2011, leiden würde, was der Verfasser dieser Zeilen nachfühlen kann. Zunächst Verwaltungsbeamter und Richter, gehörte seine Liebe sehr bald der Wissenschaft, sowohl in der Forschung als auch in der akademischen Lehre, die ihm viele dankbare und hohe Ämter besetzende Schüler zuführte. Helmut Quaritsch, einer seiner Habilitanden neben Werner Thieme, Ernst-Wilhelm Fuß, Eberhard Grabitz, Wolfgang Martens, Gert Nicolaysen, Gisbert Uber, bemerkte anläßlich der Würdigung seines 85. Geburtstags 1992: „In der Vorlesung genossen
68 Bd. I, 1995, S. 551 ff.
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wir seine gepflegte, langen Perioden nicht ausweichende Sprache, unprätentiös, eher distanziert und kühl, die Aufmerksamkeit des Hörers fesselnd durch präzise Formeln, unvermutete Wendungen und treffende Sarkasmen“.69 In der Tat, seine Formulierungskunst dürften auch diejenigen schätzen, die nur blitzende Vorträge und funkelnde, gelegentlich auch ätzende Diskussionsbeiträge von ihm erlebten, und das waren die die Tagungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer besuchenden Mitglieder von 1949 bis 1992, wo er sich regelmäßig zu Wort meldete. In Erinnerung bleibt er vor allem als eine bedeutende Persönlichkeit, als liebenswürdiger Causeur, der nicht nur über Fachliches zu reden wußte, sondern auch über Sport, als ein den Menschen Zugewandter, ein allenthalben Hochgeehrter: Festschrift zum 70. Geburtstag, Symposion zum 80. Geburtstag, Ehrenpromotion in Saarbrücken, Ehrenvorsitz in der Staatsrechtslehrervereinigung, fremdsprachige Übersetzungen und vieles andere mehr, jedoch ohne Orden, die für einen Hamburger anzunehmen sich nicht schickte. Sein wissenschaftliches Wirken wird unvergessen bleiben. Die Wissenschaft vom öffentlichen Recht hat ihm viel zu verdanken. Für ihn gilt das Motto: Exegit monumentum aere perennius.
Wichtige Schriften von H. P. Ipsen Widerruf gültiger Verwaltungsakte, 1932 Politik und Justiz, 1937 Enteignung und Sozialisierung, in: VVDStRL 10 (1952), S. 74 ff. Die Rundfunkgebühr, 1953; 2. Auflage 1958 Gleichheit, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 111 ff. Öffentliche Subventionierung Privater, 1956 Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, Europarechtliches Kolloquium, Bensheim 1964 Der deutsche Jurist und das europäische Gemeinschaftsrecht, in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, 1964, Bd. II, Teil L, S. 3 ff. Verwaltung durch Subventionen, in: VVDStRL 25 (1967), S. 257 ff. Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972 Rundfunk im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1983 Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien. Europarechtliche Abhandlungen 1972–1984, 1984 Öffentliches Wirtschaftsrecht. Entwicklungsbeiträge unter dem Grundgesetz, 1985
69 NJW 1995, 3278
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Die wichtigsten staatsrechtlichen Schriften sind enthalten in: Über das Grundgesetz – Gesammelte Beiträge seit 1949, 1988 Würdigungen von H. P. Ipsen in: Hamburg – Deutschland – Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht. Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, 1977, hrsgg. von Rolf Stödter und Werner Thieme Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen zur Feier des 80. Geburtstags, 1988, hrsgg. von Gert Nicolaysen und Helmut Quaritsch Nachruf auf Hans Peter Ipsen von Thomas Oppermann, JZ 1998, 450
XLVI Walter Antoniolli (1907–2006) Karl Korinek Walter Antoniolli war eine der prägenden Persönlichkeiten der Lehre und Praxis des öffentlichen Rechts in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Er hatte sowohl als Lehrer des Staats- und Verwaltungsrechts als auch als Mitglied des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, dem er über 25 Jahre lang, fast 20 Jahre davon als Präsident, angehörte, für das öffentliche Leben in Österreich insgesamt und im Besonderen naturgemäß für das Rechtsleben eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Diese Bedeutung gründet auf den hervorragenden wissenschaftlichen und richterlichen Leistungen Antoniollis, darüber hinaus – und vielleicht vor allem – aber auch auf seiner großartigen Persönlichkeit, die geprägt war durch Redlichkeit und Rechtlichkeit, durch Ehrlichkeit und durch Klarheit des Denkens und des Wortes.
I. Walter Antoniolli wurde am 30. Dezember 1907 in Niederösterreich geboren, besuchte das humanistische Gymnasium und maturierte 1926 mit Auszeichnung in St. Pölten. Im Anschluss daran studierte er an der Wiener Universität Rechtswissenschaften, wo er 1932 promovierte. Zu seinen Lehrern zählten Adolf Merkl und Ludwig Adamovich (sen.), die ihn entscheidend prägen sollten. Nach seiner Gerichtspraxis und einer kurzen Tätigkeit in der Wirtschaft trat Antoniolli 1934 in den höheren Verwaltungsdienst beim Magistrat St. Pölten, wo er auf fast allen Gebieten der Gemeinde- und Bezirksverwaltung tätig war. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges musste er in der Deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leisten. Im wiedererstandenen Österreich zählte Walter Antoniolli zu den bedeutenden Männern der ersten Stunde. Mit den großen christlich-sozialen Persönlich-
1 Der Autor verwendete für diesen Beitrag die Studien von Günther Winkler, Walter Antoniolli – 80 Jahre (AöffR 1987, 485 ff); Walter Antoniolli – der Altmeister des Österreichischen Verwaltungsrechts – 80 Jahre (ZfV 1987, 605 ff) und Der Rechtslehrer Walter Antoniolli (JBl 1997, 754 ff) sowie Karl Korinek, Walter Antoniolli zum Gedenken (JBl 2006, 513 f).
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keiten dieser Zeit, Leopold Figl und Julius Raab verband ihn eine echte Freundschaft. Als der Verfassungsgerichtshof 1945 seine Arbeit wieder aufnehmen konnte, holte ihn dessen Präsident Ludwig Adamovich als Präsidialsekretär in den Gerichtshof und führte ihn auch zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem öffentlichen Recht. Wie für den Lehrer sollte auch für Walter Antoniolli die zweifache Aufgabe der Förderung der Wissenschaft und Lehre vom öffentlichen Recht und der Verfassungsgerichtsbarkeit Lebensaufgabe werden. 1947 habilitierte sich Antoniolli mit einer Arbeit über die Selbstverwaltung an der Wiener Rechtsfakultät; die Arbeit selbst ist nicht publiziert, doch wurden wichtige Teile der Schrift (zum Satzungsrecht, zu den Grundlagen der Selbstverwaltung und zur verfassungsrechtlichen Fundierung des Gemeinderechts) in den Juristischen Blättern, der (Österr.) Zeitschrift für öffentliches Recht und der Österr. Gemeindezeitung veröffentlicht.2 Schon 1948 wurde Antoniolli zum außerordentlichen und 1954 zum ordentlichen Professor an die Universität Innsbruck berufen. 1956 folgte er dann einem Ruf an seine Wiener Heimatfakultät, an der er Ludwig Adamovich als Ordinarius nachfolgte und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 wirkte. Schon 1951 wurde Walter Antoniolli zum Richter am Verfassungsgerichtshof ernannt, 1956 zum ständigen Referenten gewählt; 1957 wurde er Vizepräsident des Gerichtshofes. 1958 folgte er dem überraschend verstorbenen Ludwig Adamovich auch als Präsident des Verfassungsgerichtshofs. Diese Funktion übte er bis zu seinem im Herbst 1977 – wegen schwerwiegender Differenzen mit der Mehrheit des Gerichtshofs in wichtigen Fragen der Judikatur – erfolgten Rücktritt aus. Der Berufsweg Antoniollis führte also „aus der Praxis in die Wissenschaft und von dieser wieder in die Praxis“ (Günther Winkler), wobei es stets zu einer für sein Wirken wesentlichen glücklichen Verbindung von Theorie und Praxis kam, die er in „harmonischer Synthese miteinander“ zu verbinden verstand.
II. Walter Antoniolli ging den Weg „aus der Praxis in die Wissenschaft“ ohne Zwischenschritt an einem Universitätsinstitut. Er habilitierte sich neben seiner beruflichen Tätigkeit in der kommunalen Selbstverwaltung. Es war – wieder mit Günther Winkler formuliert – der „mühsame Weg eigenständiger Erarbeitung
2 Vgl die Hinweise in der diesen Beitrag abschließenden Auswahlbibliographie.
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des Allgemeinen und Grundsätzlichen seines Rechtsdenkens aus persönlicher Anschauung und Erfahrung“. Von diesem Weg profitierten die Studierenden durch 25 Jahre hindurch – auch der Verfasser dieser Zeilen zählt dazu. Denn Antoniollis Vortrag war dem Grundsätzlichen und Allgemeinen des Lehrstoffes gewidmet, aber was er lehrte, exemplifizierte er ständig durch zahlreiche Beispiele aus dem praktischen Rechtsleben und die von ihm entwickelten Aussagen über „allgemeine Lehren“ wurden immer wieder auf ihre Wirkung für die Rechtspraxis überprüft. Der Weg Antoniollis ins akademische Leben war nicht durch einen bestimmten akademischen Lehrer geführt; freilich gab es theoretische Wegbereiter und Wegbegleiter: Insbesondere die Lehren Adolf Merkls haben ihn – sowohl was die allgemeine theoretische Basis des Denkens als auch was die Sicht der Verwaltung und des Verwaltungsrechts anlangte – entscheidend geprägt und Ludwig Adamovich war für ihn, seine Art, an konkrete Probleme heranzugehen und aus ihrer Behandlung Schlüsse aufs Allgemeine zu ziehen, sichtlich wichtiges Vorbild. Er sollte der große Mentor Antoniollis werden: Sowohl der Weg in die akademische Welt wie auch der in die Verfassungsgerichtsbarkeit wäre ohne ihn sicher nicht so verlaufen wie er verlief. Das Schwergewicht der Forschungsinteressen Antoniollis lag beim Verwaltungsrecht – einschließlich dessen staatsrechtlicher Fundierung und Prägung. Sein „Allgemeines Verwaltungsrecht“ (1954), als Lehrbuch konzipiert, entstand in seiner Zeit an der Innsbrucker Universität. Durch acht Semester hindurch stellte er seine Konzepte zu diesem Werk in Seminaren zur Diskussion, an denen sich seine Schüler Felix Ermacora und Günther Winkler, aber auch fortgeschrittene Studierende, wie der spätere Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer und theoretisch interessierte Verwaltungsbeamte beteiligten. Dieses „Allgemeine Verwaltungsrecht“ wurde das wichtigste Werk Antoniollis; es war der Darstellung der allgemeinen Lehren des positiven österreichischen Verwaltungsrechts gewidmet, also sozusagen eine Konkretisierung des bahnbrechenden und wegbereitenden Allgemeinen Verwaltungsrechts Adolf Merkls für die positive österreichische Rechtsordnung. Sein Schüler Friedrich Koja führte es umfassend neu bearbeitet 1986 fort.3 Das wissenschaftliche Interesse Antoniollis galt aber auch den grundlegenden Prinzipien des österreichischen Staatsrechts, seiner freiheitlichen Ordnung und demokratischen Ausgestaltung, im Besonderen aber Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gewaltentrennung. Auch hierin
3 Walter Antoniolli/Friedrich Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. (vollständig neu bearbeitete) Auflage; 3. Auflage: 1996.
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zeigt sich in besonderer Weise das akademische Interesse Antoniollis am Allgemeinen und Grundsätzlichen und damit auch der prägende Einfluss des großen Adolf Merkl. Im Interesse der Umsetzung wichtiger Entscheidungen der Höchstgerichte und im Dienste sauberer rechtsstaatlicher Verwaltung nahm er auch die mühsame Aufarbeitung der höchstgerichtlichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes auf sich. Zentrales Anliegen war Antoniolli aber die akademische Lehre. Er war „mit Leib und Seele“ ein Lehrer des Rechts, wie das Günther Winkler so treffend formuliert hat. Die Klarheit der Gliederung seiner Vorlesungen, die Präzision seiner Gedanken und seiner Sprache, der systematische Aufbau, das Entwickeln eines Gedankens aus dem anderen waren vorbildhaft. Jeder der das Glück hatte, diese Lehrveranstaltungen zu erleben, wurde durch sie geprägt. Antoniolli ließ es sich nicht nehmen, auch als er schon als Präsident des Verfassungsgerichtshofes zu amtieren und zu judizieren hatte, die Hauptvorlesungen selbst zu halten – täglich von 8.00 bis 9.00 Uhr in der Früh. Trotz dieser „unchristlichen Zeit“ waren die Hörsäle überfüllt, da sich die Studierenden – zu Recht – von diesen Vorlesungen viel, und zwar mehr als nur Wissensvermittlung erwarteten. Ich hatte das Glück, sowohl die Vorlesung zur „Allgemeinen Staatslehre“ wie auch seine Vorlesung zum „Österreichischen Verfassungsrecht“ und jene zum „Allgemeinen Verwaltungsrecht“ zu hören; meine Mitschriften zu diesen Vorlesungen waren mir über lange Jahre eine große Hilfe, auch bei der Vorbereitung meiner eigenen Lehrtätigkeit. Seine didaktische Meisterschaft bewies Antoniolli auch in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Er führte nicht in eine bestimmte Richtung, sondern er führte dadurch, dass er in großer Toleranz zum eigenständigen Nachdenken und zur Diskussion animierte, den Widerspruch herausforderte und doch versuchte, den Widersprechenden mit seinen eigenen klaren Gedanken entgegenzutreten. „Sie werden nicht dafür bezahlt, dass sie mir zustimmen, sondern dafür dass sie kritisch mitdenken, fragen und widersprechen“, sagte er mitunter zu seinen Assistenten. Der Schulung des kritischen Denkens seiner Schüler diente vor allem sein Seminar, in dem er die Methodenlehre von Karl Engisch („Einführung in das juristische Denken“) abschnittsweise zur kritischen Diskussion stellte. Diese Diskussionsmöglichkeit öffnete er nicht nur seinem engsten Schülerkreis, sondern allen, die bereit waren, kritisch mitzudenken, dem wissenschaftlichen Nachwuchs aus anderen Denkschulen und Assistenten anderer juristischer Fächer, aber auch theoretisch interessierten Praktikern. Aus diesen Seminaren wurden manche zu Schülern Antoniollis, auch wenn sie – wie der Verfasser dieses Beitrags – nicht dem engsten Kreis seiner Mitarbeiter zuzurechnen waren. In gewissem Sinn prägte er uns alle – am stärksten natürlich die, die jahrelang – als seine Assistenten oder Mitarbeiter im Verfas-
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sungsgerichtshof – mit ihm zusammenarbeiteten. Hier sind insbesondere Felix Ermacora, Günther Winkler, Friedrich Koja, Heinz Peter Rill und Bernd-Christian Funk zu nennen.4 Methodisch stand Antoniolli auf dem Boden der Wiener Schule der Rechtstheorie, wie sie vor allem von Kelsen und Merkl entwickelt wurde, betonte aber stets die Notwendigkeit werterfüllter und praxisgerechter Auslegung und Rechtsanwendung. Ausgangspunkt und Grenze rechtlicher Analyse und der Anwendung von Rechtsvorschriften war für Antoniolli stets das positive Recht. Aber dessen Anwendung dürfe nicht ohne Bezug auf die Realität des Lebens und das Erfordernis vernünftiger Problemlösungen erfolgen. Er lehrte seinen Schülern – und mittelbar Generationen von Juristen – worauf es in der Praxis der Rechtsanwendung ankommt: die Wichtigkeit des konkreten Sachverhalts, das Postulat, Rechtsvorschriften aus den Lebenssachverhalten heraus zu verstehen, die sie regeln wollen und die Anwendung rechtlicher Regelungen mit Blick auf den je und je besonderen Sachverhalt. Aus dem Gleichheitsgrundsatz leitete er die Verpflichtung ab, generelle Normen im Sinne der die österreichische Rechtsordnung prägenden Werte zu verstehen. Diese Ansätze zur Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (so der Titel einer programmatischen Schrift Günther Winklers) wurde von einigen seiner Schülern, insbesondere von Günther Winkler und Heinz Peter Rill weitergeführt. Grundgelegt aber waren sie durch Walter Antoniolli.
III. Über 25 Jahre lang wirkte Antoniolli als Richter am österreichischen Verfassungsgerichtshof, rund 20 Jahre davon als sein Präsident. Dabei prägte er sowohl den Stil des Gerichtshofs als auch in vielem die Judikatur. Er sah sich – immer den Prinzipien der Gewaltenteilung verpflichtet – nie als gestaltenden Politiker sondern als den Regeln und Grundsätzen der Verfassung verpflichteten Richter im Dienst der Konkretisierung der Verfassung. Die von Adolf Merkl entwickelte Einsicht in den Stufenbau der Rechtsordnung, in das Recht als Ergebnis eines
4 Sie haben 1979 gemeinsam den Antoniolli als Festschrift gewidmeten Sammelband „Allgemeines Verwaltungsrecht“ herausgegeben, in dem in durchwegs wichtigen Einzelbeiträgen seiner Schüler (im weiteren Sinn des Wortes) die neuen Entwicklungen im Verwaltungsrecht wissenschaftlich aufgearbeitet wurden. Dass dieses Werk so geschlossen gelungen ist, ist insbesondere der intensiven Betreuung der Mitarbeiter durch Heinz Peter Rill zu danken.
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Konkretisierungsprozesses, war ihm selbstverständliche Grundlage seiner juristischen Arbeit. Auch dem Verfassungsrichter Antoniolli kam seine analytische und systematisierende Kraft zugute, insbesondere auch bei der Leitung der Beratungen des Gerichtshofs. Primäres Anliegen Antoniollis war eine methodisch saubere, wissenschaftlich fundierte, aber auch an den Erfordernissen der Praxis orientierte und allgemein anerkannte Judikatur. Er vertrat – wie viele berichteten, die ihn bei seiner Arbeit noch persönlich erlebt hatten – die ihm zutreffend erscheinende rechtliche Lösung mit knapp formulierten sachlichen Argumenten, er nahm so an der Diskussion teil, ohne die notwendige Toleranz gegenüber anderen Meinungen zu vernachlässigen. Er strukturierte die Diskussion, ohne sie zu beengen und er bemühte sich um Formulierungen, ohne die Verantwortung des Referenten für die Vorbereitung der Lösung der Fälle zu „überspielen“. Die souveräne Beherrschung der Sprache nutzte Antoniolli schließlich, um Formulierungen in Entscheidungen zu finden, die das Gemeinte möglichst klar und präzise zum Ausdruck bringen. Antoniolli, der als Richter die personifizierte Rechtlichkeit verkörperte, hat den Verfassungsgerichtshof in voller Unabhängigkeit geführt. Seine Amtsführung war von der Überzeugung getragen, dass der Richter ausschließlich an das Recht und an sein Gewissen gebunden sein soll. Und er hat sich Zeit seines Lebens bemüht, diesem Prinzip zu entsprechen und allen hohe Achtung entgegengebracht, die sich auch darum bemüht haben. Die Anerkennung die der Verfassungsgerichtshof als unabhängiger Hüter der Verfassung, der Demokratie und des Rechtsstaates gewonnen hat, ist zu einem großen Maß der Persönlichkeit Antoniollis zu verdanken.
IV. Walter Antoniolli hat durch seine wissenschaftliche Redlichkeit, die Präzision seiner Analyse und Argumentation und die Klarheit seines Denkens, Sprechens und Schreibens Generationen österreichischer Juristen geprägt und in Rechtswissenschaft und Judikatur bleibende Eindrücke hinterlassen. Er sah sich immer im Dienst des Rechts, im Dienst der Auflösung von Spannungen und Problemen der Gesellschaft durch gewissenhafte Anwendung rechtlicher Regelungen. Die Kraft, seine Aufgabe zu bewältigen und private Schicksalsschläge, die ihm nicht erspart blieben, zu ertragen, gewann Antoniolli aus seinem christlichen Glauben, seinem Gottvertrauen und aus seiner Überzeugung in die Ordnungskraft des Rechts. Ich kannte und kenne nicht viele Menschen, auf die das
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Bekenntnis der Leonore im Fidelio so zutrifft, wie es auf Walter Antoniolli zugetroffen hat: „Ich hab‘ auf Gott und Recht Vertrauen“.
Auswahlbibliographie Rechtssetzung durch die Gemeinden, ÖJZ 1946, 122. Zum Verordnungsrecht, JBl 1946, 479. Die Überprüfung von Satzungen, JBl 1949, 61. Nichtigkeit rechtswidriger Satzungen? JBl 1952, 171. Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954. Die Gleichheit vor dem Gesetz (Vortragsbericht), JBl 1956, 611. Begriff und Grundlagen der Selbstverwaltung in Österreich, ÖZÖffR 10 (1960), 334. Adolf Julius Merkl zum 70. Geburtstag, JBl 1960, 146. Finanzverwaltung und Rechtsstaat, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift für Hans Huber, 1961, 9. Das Gemeinderecht im Rahmen der Bundesverfassung, ÖGZ 1961, Heft 11–12, 53, und OÖGZ 1962, Heft 3, 1, Heft 4, 5. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes 1946–1959, Wien 1963 (gemeinsam mit Friedrich Koja). Herrschaft durch Gewaltentrennung, Festvortrag anläßlich der Eröffnung des 2. Österreichischen Juristentages 1964, in: 2. ÖJT, Bd. II/1, 21. Hans Kelsens Einfluß auf die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Law, State and International Legal Order, Essays in Honor of Hans Kelsen, 1964, 21. Probleme der Gesetzesprüfung, JBl 1967, 226. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes 1960–1964, Wien 1968 (gemeinsam mit Friedrich Koja und Gerhard Egger). Die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit 1945–1969, AöffR 1969, 576. Die rechtliche Tragweite der Baugesetze der Bundesverfassung, in: Festschrift für Adolf Merkl, 1970, 33. Die rechtliche Gestalt der Demokratie in Österreich, in: Gedenkschrift für Max Imboden, 1972, 7. Probleme um das Legalitätsprinzip, Schriftenreihe der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft, Heft 1, 1974. Freiheitliche Ordnung in der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, in: Festschrift für Willi Geiger, 1974, 613.
XLVII Den Staat denken – Werner von Simson (1908–1996) Wolfgang Graf Vitzthum „Mir ist zumute wie einem Dorfkaplan, der beauftragt worden ist, vor dem Vatikanischen Konzil einen einstündigen Vortrag zu halten über das Thema: Die Bibel.“ Diese Einleitung von Werner von Simson zu seinem Vortrag „Das demokratische Prinzip im Grundgesetz“ auf der Speyerer Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer im Jahr 19701 ist eines der Worte, mit denen dieser Gelehrte der unkonventionell-vielseitigen Art und Künstler der menschlichen Verbindungen nach wie vor zitiert wird. Die selbstironische Bemerkung spielt auch auf seinen eigenen ungewöhnlichen Weg in die Wissenschaft an. Erst im Alter von 57 Jahren hatte er sich für die Fächer Staatsrecht, Völkerrecht und Recht der Europäischen Gemeinschaften an der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät habilitiert. Drei Jahre später berief diese ihn zum Ordinarius.2 Simsons wichtigste und wohl bekannteste Argumentationskette bezieht sich auf das Verhältnis von europäischer Integration und mitgliedstaatlicher Souveränität.3 „Die Voraussetzungen des souveränen staatlichen Lebens (müssen heute), zum Teil wenigstens, außerhalb des (eigenen) Staates, also in seinem Verhältnis zu anderen Staaten, gefunden werden.“ Daraus folge: Das, was wir
1 VVDStRL 29 (1971), S. 3 ff. (4). 2 Vgl. von Simson, Der Rechtswissenschaftler, in: Erzählte Erfahrung I, Freiburger Universitätsblätter, Heft 114 (1991), S. 23–36; Wiederabdruck in: Peter Häberle, Jürgen Schwarze, Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Der Staat als Teil und als Ganzes. Seminar zum Gedenken an Professor Werner von Simson am 21. Februar 1998 in Freiburg, Baden-Baden 1998, S. 91–106. Auf dieses Selbstzeugnis wird nachfolgend durchgehend zurückgegriffen, ohne jedes Einzelzitat zu belegen. 3 Nachfolgende Zitate aus: von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 23, 34 ff., 40 ff., 76, 87, 94,185, 220 f., 256 f. und passim; ders., Europa – etwas juristisch, in: Thilo Koch (Hrsg.), Europa persönlich. Erlebnisse und Betrachtungen deutscher P. E. N.-Autoren, Tübingen und Basel 1973, S. 261 -278 (Simson war jahrelang Justitiar des deutschen P. E. N.); ders., Der Staat als Erlebnis, in: JöR NF 32 (1983), S. 31 ff. (S. 33: wegen der zwingenden „Notwendigkeit, politische Einheiten entstehen zu lassen und zusammenzuhalten, die in ihrer Reichweite den sich aufdrängenden Problemen entsprechen würden, (musste) ein neues Staatsverständnis gesucht werden“), S. 38, 42 ff., 49; resümierend S. 52: So ist der moderne Staat der „Bundesgenosse einer Lebensweise, die er mit anderen teilt und nur zusammen mit ihnen erhalten und vervollkommnen kann.“
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für unser „eigentliches Wesen halten, (ist) nur in diesen (überstaatlich-europäischen) Zusammenhängen zu bewahren“. Das zwinge zur „Hereinnahme fremder Lebensrechte in den eigenen Verantwortungsbereich“, zur „Mitverantwortung für das Fremde“. Voraussetzung einer solchen Ordnung sei – und darum geht es beim Projekt Europa – „die Selbstentäußerung der Souveränität zugunsten bestimmter, mit ihrer unbeschränkten Geltung nicht gleichzeitig denkbarer Freiheitswerte.“ Zugleich betont Simson die Bedingtheit und Begrenztheit allen Rechts: Angesichts der „Bewusstseinslage“ der Menschen habe die überstaatliche Einbindung des Einzelstaates – „seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe“ aus mehreren „bedingt souveränen Herrschaftsgebilden“ – mit Augenmaß zu erfolgen: Der Staat „(muss) nach wie vor als unentbehrliches Element dieser Ordnungen, und damit auch des zwischen ihnen bestehenden Zusammenhangs, gelten“.
I. Damit sind die beiden wechselbezüglichen Kernthemen des ungewöhnlichen Gelehrten benannt. So geht es Werner von Simson – erstens – um die freiheitliche Demokratie, um den demokratischen Staat, sein Wesen, seinen Schutz, die Bedingung seiner Funktionsfähigkeit. Simsons Ansatz schließt dabei „außerrechtliche Ordnungselemente“, etwa die geistig-sittliche und ökonomische „Ambiance“, ein, also – eine wirklichkeitswissenschaftliche und -nahe Vorgehensweise4 – faktische Gegebenheiten, darunter auch irrationale, als Voraussetzungen für Recht, Staat und überstaatliche Gemeinschaft. „Der Glaubensinhalt der Demokratie“ etwa stieße in Deutschland, im Unterschied etwa zu England, „auf kein wahres Verständnis. Denn hier ist er in keiner Tradition verwurzelt und appelliert nur an das Rationale“.5 Zu der staatsrelevanten außerrechtlichen Sphäre gehöre auch
4 Zitate aus: ders., Souveränität (FN 3), S. 34 ff., unter Bezugnahme auf die „Züricher Schule“, insbesondere Dietrich Schindler d.J., Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich 1932. 5 von Simson (FN 2), S. 94; ders., Erlebnis (FN 3), S. 37 spricht vom staatsnotwendigen „Identitätsbewusstsein einer geschichtlich vereinigten Gruppe von Menschen untereinander“, einem „Mythos, der das Persönlichkeitsgefühl der daran teilnehmenden Einzelnen bindet.“ S. 42: Nicht was der Staat „alles kann, sondern was in seinem Bereich nicht getan werden darf, ist das, was den Bürger auf seinen Staat stolz macht und ihn diesen Staat als einen verteidigungswerten Besitz ansehen lässt.“ S. 50 f. wird die EMRK gerühmt, zugleich aber hervorgehoben, dass der Staat einen höheren „Grad der Deutlichkeit“ als etwa die im Europarat verbundene Staatengruppe darstelle und benötige: Der Staat „wurzelt in persönlichen, individuellen Zügen, in dem Gefühl der vorgegeben, unentbehrlichen Zugehörigkeit zu gemeinsamer Vergangenheit und gemeinsam erwarteter Zukunft. Unbewusstes, Unerklärtes ist dabei im Spiel.“ Und so versteht Simson, ebd.,
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der die normative Ordnung effektiv tragende politische Wille, ein Schlüsselbegriff im Demokratie-Referat wie in anderen Veröffentlichungen Simsons.6 So versteht der Gelehrte in seiner Habilitationsschrift von 1965 Souveränität primär als prinzipiell ungebundenen „außerrechtlichen Willen“. Als „kompensatorischer Bestandteil“ sei dieser Wille eine „fortwirkende Voraussetzung für die Rechtsordnung“: In jedem effektiven Recht sei „ein Element des rechtsunabhängigen Willens, der Willkür, enthalten“, „dessen weiteres Tätigwerden (wir) Souveränität nennen.“ Diese qualifiziert Simson als den „eine Rechtsordnung erst ermöglichenden und in ihr wirkenden Willen“. Zu den „Artikulationen“ der Souveränität gehöre „die Dauerhaftigkeit des einmal Gewollten“: „ Bindung der Gewalt an das früher Gewollte“ als „Voraussetzung ihrer staatsbildenden Kraft“.7 Zweitens geht es Simson um den Zusammenschluss Europas, um dessen Leitidee und Legitimation, rechtliche Sicherung und Entwicklung, um reale und normative Grenzen der Integration, um Leistungs- und Lebensfähigkeit. Während vor allem das Recht auf freie Meinungsäußerung einen offenen demokratischen Staat charakterisiere, bestehe die Besonderheit des modernen Staates in seiner „überstaatlichen Bedingtheit“, im „Ende der Selbstgerechtigkeit des Staates“.8 Simson erkannte diese unter seinen Schülern sprichwörtlich gewordene „überstaatliche Bedingtheit“ als nicht mehr fortzudenkende Lebensbedingung und wesensprägende Eigenart des heutigen Staates, als „ein Teil seines Selbstverständnisses“. Ein Staat könne „ohne die anderen gar nicht mehr auskommen“. Gleichzeitig beharrt Simson, anders als wohl die meisten deutschen Staatsrechtslehrer, auf der „Unentbehrlichkeit der Einzelstaatlichkeit“. Der Staat sei zwar nicht identisch mit der Vernunft oder mit seinem Mythos, er besitze für den Bürger aber, denke man an Gebräuche, Traditionen, Religionen, Symbole und Rituale, eine wichtige integrative Qualität. Eine vergleichbare außerrechtlich haltgebende
S. 52, „den Staat der Jetztzeit als eine politische Einheit innerhalb einer Stufenfolge von Entscheidungs- und Handlungsebenen, von denen er die größte ist, die noch das Irrationale, Geliebte und nicht nur Gedachte in Gemeinsamkeit aufnehmen kann.“ 6 FN 1, S. 13 ff., besonders S. 30 ff. („Die Willensverschränkung“); ders., Der politische Wille als Gegenstand der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Bernhard Aubin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Riese, Karlsruhe, 1964, S. 83–98, resümierend S. 96 ff.: Ein wachsender Teil der Lebensmöglichkeiten der Staaten werde derart abhängig von der Gemeinsamkeit der Willens ausübung, dass die fehlende „Gesamtsouveränität dadurch entbehrlich wird.“ Dies biete im Faktischen die Sicherheit für die „Beachtung des von den Organen der Gemeinschaft gesetzten Rechtes, welche angesichts des fortbestehenden souveränen Willens der Mitgliedstaaten auf rechtliche Weise nicht zu gewinnen und dennoch für das Walten des Rechts in der Gemeinschaft unentbehrlich ist.“ 7 von Simson, Souveränität (FN 3), S. 44 ff., 52, 78, 199; ders., Erlebnis (FN 3), S. 41 f. 8 S.o. FN 3.
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Bedeutung fehle dem sich zusammenschließenden Europa, von einem Weltstaat ganz zu schweigen.9 Auf die gegenseitige Bedingtheit von Staat und überstaatlicher Gemeinschaft – beide seien aufeinander angewiesen – konzentriert sich Simson. Damit behandelt er Grundsatzfragen der allgemeinen Staatslehre, ja der aktuellen Staatlichkeit insgesamt, jeweils im Horizont der in starker Bewegung befindlichen Tatsachenlage. Insofern lässt sich Simson keinem speziellen Fachgebiet zuordnen. Einer breiten Rezeption ist solche Freiheit nicht förderlich. Wohl aber lässt sich ein Weitertragen und Weiterentwickeln seiner Erkenntnisse durch diejenigen beobachten, die sein penser l’État entweder persönlich miterlebten, oder die seine Schriften lesen. Aufgabe der Nachgeborenen ist es weiterhin, Formen zu entwickeln, die der überstaatlichen Bedingtheit des Staates gerecht werden. Nur ein Dutzend Jahre seines langen Lebens war Simson ausschließlich als Hochschullehrer tätig. Auf beiden Themenfeldern, dem des demokratischen Staates und dem des Staates als Mitglied einer europäischen Gemeinschaft, hat er die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts früh und treffend erfasst, seine Erkenntnisse in Bilder und Sprache umgesetzt und Gesetzmäßigkeiten und Grenzen formuliert. Seine wissenschaftlichen Entdeckungen und Begriffsbildungen – Erträge seines Gespürs, seiner Bildung, seiner Lebensklugheit – hängen eng mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zusammen, die dieser seltene Mann im Laufe seines farbigen, an Wechseln reichen Lebens gemacht hat. Simsons Leben umfasste fast das gesamte Jahrhundert: die Weimarer Republik, beide Weltkriege, den Kalten Krieg, die Bonner Republik, die Europa- und die Ostpolitik, die Nachrüstung und den Fall der Mauer. Seine geschichts-, staatsund europabezogenen Einsichten lähmten Simson nicht – sie belebten ihn. Er gab sie in Gespräch, Lehre und Forschung, oft anekdotisch pointiert oder ironisch camoufliert, weiter, überzeugt, dass die Gegenwart mit der Vergangenheit existentiell durchdrungen ist. Die Zukunft sah Simson offen, maßhaltender rationaler Gestaltung zugänglich. Sozialutopische, konstruierte Welterlösungslehren verwarf er, ohne Pardon. Er hatte schwierigere Zeitläufte erlebt und durchdacht als etwa die Achtundsechziger-Bewegung und die von ihren neomarxistischen Vordenkern und Nachbetern behaupteten objektiven Wahrheiten. Politische Heilslehren jeglicher Couleur waren Simson ein Graus, ebenso Ansprüche auf Auserwähltsein und universalistische Ordnungsvorstellungen, die von Fiktionen und Dogmen abhängen. Die Rebellion an den Hochschulen hat er als Dekan
9 Ebd.
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buchstäblich hautnah erlebt und souverän gemeistert. In jüngeren Jahren hatte ihn die rassenideologische NS-Despotie außer Landes getrieben. Ein Portrait dieses wachen, lebendigen Wissenschaftlers, seines Werkes und seiner Wirkung hat mit der Skizze dieses Lebens zu beginnen. Es war ein herausragendes Leben, generationstypisch bestimmt von wiederholten Neuanfängen in verschiedenen Ländern und Berufen – ein Schicksal, das andererseits mittelbar offensichtlich half, die Zeitbedingtheit und Wirkungsrichtung einzelner politischer Vorstellungen und Bewusstseinslagen früh und klar zu erkennen. Dank hoher Arbeits- und Konzentrationskraft, getragen von einem elementaren Weltund Gottvertrauen,10 meisterte Simson dieses Jahrhundertleben eindrucksvoll. Er war, wie Goethe verlangt, „der Welt nützlich“.
II. Werner von Simson wurde am 21. Februar 1908 in Kiel geboren, als zweitältester Sohn des Korvettenkapitäns a. D. (entspricht Major) und Kaufmanns Hermann Ed. von Simson (1880–1951) und seiner Frau Marianne, geb. Rauhaus (1884 –1932), einer Kaufmannstochter. Hermann und Marianne von Simson hinterließen eine fast unübersehbare Nachkommenschaft, die seit den frühen 1930er Jahren in Kanada, USA, England, Brasilien, Argentinien und Deutschland lebt. Werner, der zweite von vier Brüdern, studierte ab 1927 einer Familientradition folgend die Rechte, die ersten drei Semester im damals noch ländlichen Freiburg i. Br., die restlichen drei in Berlin.11 Das intellektuelle und kulturelle Lebensgefühl der Metropole in den 1920er Jahren, einschließlich der damals blühenden, dann von den Deutschen für immer zerstörten deutsch-jüdischen Geisteswelt, prägte ihn. An manche frühe Berliner Freundschaft – die meisten Freunde freilich waren gefallen, verschollen oder hingerichtet – konnte er Jahrzehnte später in Freiburg wieder anknüpfen. Seine Passion war die Musik. Zeitweise lebte Simson so stark mit und in ihr, dass er mit dem Gedanken spielte, Komponist zu werden. Er erkannte aber, dass ihm auf diesem Gebiet nur Epigonales gelingen würde. So konzentrierte er sich auf die Rechtswissenschaften. 1930 bestand er am Berliner Kammergericht das Erste juristische Staatsexamen, 1934 das Zweite.
10 Simson war Rechtsritter des Johanniterordens. Auf dem Rittertag der Rheinischen Genossenschaft, der er angehörte, referierte er am 27. März 1976 über „Glaube und Politik in heutiger Zeit“. 11 Hierzu und zum Folgenden von Simson, FN 2 (Erfahrung); FN 3 (Erlebnis).
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Seinen Dient als Referendar absolvierte Simson hauptsächlich im bekannten Berliner Anwaltsbüro „Simson – Wolff“. Dessen Senior war sein Onkel, Robert von Simson, ein Enkel Eduard von Simsons (1810 -1899), des berühmten, gemäßigtliberalen Präsidenten des Paulskirchenparlaments und später, bereits 69 Jahre alt, des Reichsgerichts in Leipzig. Dieser 1888 geadelte Jurist, in jungen Jahren Professor in Königsberg, war Werner von Simsons Urgroßvater. Das Berliner Büro war ein „Musterbeispiel gelungener Symbiose zwischen intelligenten, kultivierten Menschen mit jüdischen oder christlichen und jüdischen Vorfahren“.12 Weitere „Simson – Wolff“- Zöglinge waren Hans von der Groeben, der spätere EWG-Kommissar, Walter Hallstein, der 1958 der erste Präsident der EWG-Kommission wurde, und Walter Strauß, zunächst Staatssekretär im Bundesjustizministerium, dann Richter beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Diese Personen gehörten zu Simsons späterem Netzwerk in Luxemburg, Bonn und Brüssel. Sie repräsentierten ein neues europäisches Denken nach der geistigen und politischen Katastrophe der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges. 1935 wurde Simson bei Fritz Pringsheim (1882–1967) in Freiburg mit der Arbeit „Die materiellen Wirkungen des rechtskräftigen Urteils im internationalen Privatrecht“ zum „Doktor beider Rechte“ promoviert. Das Thema gehört nach wie vor zu den besonders schwierigen und reizvollen Fragen an der ewigen Schnittstelle zwischen materiellem und prozessualem Recht. Die Probleme der Einordnung der Rechtskraftwirkungen erledigen sich auch nicht so rasch.13 Simson geht es vor allem um die Wirkungen von ausländischen Urteilen. Neuartig ist etwa, dass er die damals noch junge Qualifikationstheorie von Rabel (1931 entwickelt) für die Lösung der Fragen der Rechtskraft heranzieht. 1938 heirateten Werner von Simson und die Engländerin Kathleen Turner (1913 –1996), die Tochter eines Reverend der anglikanischen Kirche. Bis 1939 war Simson als Rechtsanwalt am Kammergericht Berlin zugelassen. Kurze Zeit arbei-
12 Hans von der Groeben, Deutschland und Europa in einem unruhigen Jahrhundert. Erlebnisse und Betrachtungen, Baden-Baden 1995, S. 83. Vgl. auch S. 456: „(So möchte ich mich) den Wissenschaftlern (z. B. Werner von Simson) anschließen, die meinen, dass das vom Staat bewahrte Grundgefüge gemeinsamer Werte und Überzeugungen, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Sprache für die Geborgenheit des Einzelnen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft gefühlsmäßiig von großer Bedeutung ist. Dieses Gefühl hat die Europäische Gemeinschaft bisher nicht vermitteln können.“ 13 Aktuellen Auftrieb erhalten diese Probleme auch durch die in den vergangenen Jahren vor allem durch den Einfluss des primären Unionsrechts entbrannte Frage nach einer „Anerkennung“ von Rechtslagen (nicht: von Entscheidungen), die unter fremdem Recht entstanden sind, auf der Ebene des materiellen Kollisionsrechts als Alternative zu den klassischen Verweisungsregeln.
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tete er als Verbandsjurist, dann, immun gegen den Ungeist der Zeit, für ein Syndikat von bedeutenden Industrie-, Handels- und Bankfirmen. Hier ging es um die Probleme großer ausländischer Gläubiger, deren Kredite in Deutschland eingefroren waren. Ende Mai 1939 flog Simson, unter dem Vorwand einer der vielen Geschäftsreisen, nach London, wo er seine Frau schon antraf (Anfang Juni wurde Martin, der älteste Sohn, geboren). Otto von Simson, der Kunsthistoriker und spätere Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission, emigrierte im gleichen Jahr in die USA. Die beiden Vettern Simson vertraten das „andere“, das „anständige Deutschland“. In England blieb Werner von Simson 15 Jahre, ab 1947 als britischer Staatsbürger. Trotz zahlreicher dort bereits heimisch gewordener Verwandter und Freunde war er zunächst ein Neuankömmling, ja – das überschattete den erzwungenen Ausweg – der Angehörige eines Staates, mit dem das Vereinigte Königreich, ja fast die ganze Welt, alsbald im Krieg stand. Monatelang als enemy alien auf der Isle of Man interniert – zusammen u. a. mit seinem Doktorvater Pringsheim und anderen Juristen, Intellektuellen und Kaufleuten –, schlug sich Simson anschließend als Aushilfskraft in einem Oxforder Antiquariat durch. Dann wurde er Manager einer Metallfabrik in Birmingham. Schließlich gründete er eine britisch-südamerikanische Handelsfirma – in Brasilien wie in Argentinien hatte er je einen in der Wirtschaft tätigen Bruder. England, seiner freiheitlichen Tradition, seiner Rechtskultur, Sprache, Dichtung, seinem Pragmatismus und seiner Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie blieb Simson zeitlebens verbunden – mit bewunderndem, aber nicht blindem Respekt.14 Das Ehepaar Werner und Kathleen von Simson hatte vier Söhne und einen Adoptivsohn: Konrad Schiemann, ein durch den Krieg elternlos gewordener Neffe. Alle Kinder wuchsen vornehmlich in England auf. Dort blieb auch ihr Arbeits- und Lebensmittelpunkt. Sohn Martin wurde in London im Temple District ein geachteter „lawyer“. Die Söhne Piers und David, fähige Juristen auch sie, erklommen Spitzenpositionen in der City, Schiemann wurde einer der herausragenden Juristen Englands. Von 2004–2013 war Sir Konrad Richter am Europäischen Gerichtshof.
14 Vgl. von Simson, Das Common Law als Verfassungsrecht – Lord Justice Scarman’s „English Law – The New Dimension“, in: Der Staat 16 (1977), S. 75–90; ders., Towards a Bill of Rights in Great Britain, in: Jürgen Schwarze, Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht. Werner von Simson zum 75. Geburtstag, Baden-Baden 1983, S. 177–187; ders., Die Rolle des Absurden im englischen Denken, in: Der Staat (FN 2), S. 107–111.
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Von 1953 bis1967 arbeitete Werner von Simson, frühzeitig ein wissenschaftlicher Begleiter der Integration,15 als Rechtsanwalt am neu gegründeten Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (dann der Europäischen Gemeinschaften) in Luxemburg, wo er schließlich fast 15 Jahre lang blieb. Damit setzte er, was Beruf und Umfeld betraf, ein weiteres Mal ganz neu und bald schon besonders erfolgreich an. Zugleich erwies er dem institutionellen Aufbau Europas in dessen tastendem, gefährdetem Anfangsjahrzehnt große Dienste. In Entflechtungs- und Kartellverfahren der Montanindustrie etwa übernahm er, als Vertreter deutscher Unternehmen oder der Bundesrepublik Deutschland, wichtige Verhandlungs- und Prozessmandate. Die fundamentale Bedeutung einer europäischen Wettbewerbsordnung hatte er frühzeitig erkannt. In Luxemburg, Brüssel und Straßburg, wo das integrierte Europa geschmiedet wurde, machte sich Simson mit den dort erkennbar werdenden Perspektiven eines geänderten Staatsverständnisses vertraut. Die Bindungen und Erweiterungen der tatsächlichen und rechtlichen Kompetenz des Staates sind Ursache wie Folge des europäischen Einigungsbestrebens und der Entwicklung zumal des regionalen Menschenrechtsschutzes. Simson warnte vor den von Föderalisten und Unionisten heruntergespielten Problemen eines „Europäischen Bundesstaates“ i. S. v. Hallstein, vor einem too much too soon bei der Vertiefung oder Erweiterung. Ein „überzeugender Zusammenhang zwischen Gesamtvorstellung und konkreten Ordnungsmöglichkeiten“ bestehe noch längst nicht, ebenso wenig eine „unbewusste Identifizierung des einzelnen mit dem größeren, ihm nicht überschaubaren Komplex“. Gegen einen damaligen übertrieben integrationsfreundlichen Trend in Politik und Wissenschaft betonte er: die „Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung“ lägen keineswegs vor.16 Für einen „europä-
15 Vgl. von Simson, Der Gerichtshof und unbestimmte Rechtsbegriffe, in: Zehn Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Köln u. a. 1965, S. 396–417; ders., Zur Kritik am Rechtsschutz der europäischen Integration, in: DVBl 1966, S. 653–660; ders., Zur rechtlichen Gestalt der europäischen Integration, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 130 (1967), S. 63–81; ders., European Community Law, in: John Calman (Hrsg.) Western Europe. A Handbook, London 1967, S. 604–613. 16 Vgl. von Simson, Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung, in: Jürgen Schwarze, Roland Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, Baden-Baden 1984, S. 91–113. Ebd., S. 100 spricht er von dem Versuch von allen Seiten, außer von den Mitgliedsregierungen selbst, „eine Europäische Union mittels einer Verfassung ins Leben zu rufen.“ Jede Gemeinschaftsverfassung, heißt es anschließend (S. 102), müsse aber „aufbauen auf dem Stand der Übereinstimmung, mit dem gerechnet werden kann. Die der Gemeinschaft zugewiesenen Kompetenzen können diese grundsätzliche Übereinstimmung nicht schaffen, sondern können sie nur wiederspiegeln.“ „Der Traum einer Europäischen Union im Vorgriff auf dieses außervertragliche Geschehen“, lautet das kritische Zwischenergeb-
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ischen Verfassungsmoment“ fehle nicht nur der politische Wille, sondern auch die demokratische Legitimation. Ein „europäisches Volk“ gebe es nicht. Auch Simsons Sicht auf die Welt als Ganzes wahrte Bodenhaftung. Friede als Überlebensbedingung der Menschheit sei auch ohne Weltrepublik, ohne „Zusammenschmelzen“ (Kant) der Staaten möglich. Weltweit gesehen fehle ein sachliches Übereinstimmen in Grundfragen. Es existierten einander widersprechende Wahrheiten, die doch, soll Krieg vermieden werden, alle anerkannt werden müssten. Simson dachte dabei auch an das Verhältnis von freiheitlicher Demokratie einerseits und politischem Islam andererseits. Das Denken in politicis, das unsere Zeit verlange, versage sich allen Heilsentwürfen und Welterlösungsformeln. Darüber stritt Simson besonders mit dem Physiker-Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker. Dieser hielt einen Weltfrieden nur für möglich durch einen „umfassenden Bewusstseinswandel“, der „die ganze Person umfassen“ müsse, ja „alle gesellschaftlichen Gruppen“, letztlich „die ganzen Völker“.17 Das Unmögliche, den „neuen Menschen“, zu wollen, heißt aber doch, folgt man Simsons Ansatz, das Mögliche aus der Hand zu geben. Für Simson lag die Essenz der europäischen Integration im Einbringen von nationalen Befugnissen zur supranationalen Ausübung. Diese Verschränkung gewährleiste die Verfassungsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten, die ihrerseits das Fundament des europäischen Gefüges seien und bleiben müssten. Zugleich – und das ist das Entscheidende – verleihe die Integration der Gemeinschaft eine grenzübergreifende Kompetenz, welche dem übertragenden Mitgliedstaat nicht zu Gebote stehe. Dieser erhalte durch seine Einbindung in die Gemeinschaft also nicht nur einen quantitativen Ausgleich. Er gewinne vielmehr gemeinschaftlich wahrnehmbare Möglichkeiten der Einwirkung, ja qualitative Mitentscheidungsrechte auf sachlichen Feldern und in Regionen, die er als einzelstaatlicher Solitär nicht wirksam erreichen könnte. Aus dieser Sicht ist die europäische Integration kein Nullsummenspiel, sondern für beide, für den Mitgliedstaat wie für die Gemeinschaft, ein potentieller Gewinn, eine win-win-Situation.18
nis (S. 105), „bleibt ein Traum.“ Vgl. auch ders., Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, in: Europarecht 26 (1991), S. 1 -18. 17 Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, München 1976, S. 138. 18 Dieser Ansatz geht damit über ein bloßes Aufzählen von Fakten, Entwicklungen und Polaritäten, von Problemen, Positionen und Folgerungen hinaus. Indem Simson den sich integrierenden Europäischen Verbund dem nur noch als Geschichtsbeispiel oder Idealtyp vorhandenen autonomen Staat gegenüberstellt, und indem er bilanzierend letztlich einen Funktionsgewinn des Hoheitsrechte übertragend angeblich „verlierenden“ Mitgliedstaates identifiziert, präsentiert er eine letztlich beiden Seiten förderliche Synthese. Dies führt unser Denken vom Staat auf eine
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III. 1965 war Werner von Simson als Externer in Freiburg bei Josef H. Kaiser mit der Arbeit „Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart“ habilitiert worden, drei Jahrzehnte nach seiner dortigen Promotion. Pringsheim, der seinerzeitige Betreuer, war längst emeritiert. Die Freiburger Fakultät war mit Ernst von Caemmerer, Konrad Hesse, Hans-Heinrich Jescheck, Hans Thieme und Erik Wolf, um nur diese Großen zu nennen, eine der bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. In der NS-Zeit hatte sie hinreichende Distanz zur „neuen Rechtswissenschaft“ gewahrt. Der regimekritische Freimut Gustav Boehmers (1881–1969) war sprichwörtlich.19 Nun gab es Vorlesungen im amerikanischen Verfassungsrecht (Ehmke), Seminare mit schweizerischen oder österreichischen Professoren (Hesse, Kaiser) und eine auch von Simson praktizierte inhaltliche Kooperation mit den Volkswirten.20 1970 trennten sich freilich der rechts- und der wirtschaftswissenschaftliche Zweig der Fakultät. Noch im Jahr der Habilitation veröffentlichte Simson seine Monographie über die Souveränität. Diese ganz eigenständig aufgebaute, nicht leicht zu lesende Arbeit verbindet integrationspolitische und europarechtliche Praxiskenntnisse mit verfassungsgeschichtlichen und weit ausgreifenden rechts- und staatstheoretischen Forschungen – unverwechselbar die abstrakte Sprache, verblüffend die Quellenvielfalt: Werner Heisenberg und Hermann Heller werden genauso zitiert wie Carl Schmitt, Hugo Grotius und Leonard Nelson; die Bibel und Otto von Gierke nicht weniger als etwa Rudolf Smend, Blaise Pascal oder Hans Kelsen. Schmuckzitate oder Leerstellen fehlen gänzlich. Alles ist dicht gewebt und persönlich getönt – Ergebnis gelebter Erfahrung und durchdachter Lektüre. So überrascht nicht, dass sich viele spätere Veröffentlichungen Simsons, etwa zur „Willensverschränkung“ in der Demokratie, zu Carl Schmitts Rolle als „Heilsbringer und Mythagoge“, zur „Bedingtheit der überstaatlichen Menschenrechte“, auf Überle-
andere, eine den überstaatlichen Zusammenhängen angemessenere Erkenntnisstufe. Damit beschreibt Simson die Probleme des neuen Staatstypus, des sich regional integrierenden Staates, nicht nur – er trägt zu ihrer Qualifizierung und Lösung bei. 19 Vgl. Alexander Hollerbach, Jurisprudenz in Freiburg. Beiträge zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Tübingen 2007, S. 17 ff. Ebd., S. 119, 354 zu Ernst Rudolf Huber, der nach dem Krieg Honorarprofessor der Fakultät war. Vgl. Werner von Simsons noblen Nachruf auf den umstrittenen Huber, in: NJW 1991, S. 893 f. 20 Ein Beispiel: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften. Ringvorlesung der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br. Wintersemester 1966/67. Darin von Simson, Die Marktwirtschaft als Verfassungsprinzip in den europäischen Gemeinschaften, S. 55–68.
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gungen zurückführen lassen, die in diesem jahrelang im Selbstgespräch gereiften Hauptwerk bereits angelegt sind. Als Privatdozent verschrieb sich Simson nun ganz der Wissenschaft – wieder ein Neuanfang –, freilich mit der Distanz des Weltmannes zu manch verzopften oder kleinmütigen badischen Besonderheiten in academicis. Dass sich viele Ordinarien schrecklich ernst nahmen, registrierte er mit Ironie. Über einen positivistischen Kollegen spottete er: „Der weiß alles aber sonst nichts“. Tendenzen, die Universität wie ein Postamt zu verwalten, prangerte er an. 1967 folgte Simsons Ernennung zum Professor und 1968, mit sechzig Jahren, die Berufung auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl, als Nachfolger von Horst Ehmke. Dieser wechselte als Staatssekretär der ersten Großen Koalition ins Bundesministerium der Justiz, nicht ohne seinen zahlreichen Promovierenden die Weiterbetreuung durch ihn selbst und Simson zugesagt zu haben, ein Versprechen, das beide hielten (Ehmkes Familie blieb in Freiburg, er pendelte also jahrelang). Nach seiner Emeritierung mit 69 Jahren – sein Nachfolger wurde Ernst-Wolfgang Böckenförde – wohnte Simson weiter in Freiburg, in der universitätsnahen Luisenstraße 3. Daneben besaß er einen Wohnsitz in London (49 Duncan Terrace, London N. 1) und ein geräumiges Ferienhaus im schweizerischen Interlaken. Innerhalb und außerhalb der Universität vielseitig aktiv und wissenschaftlich bis ins hohe Alter von stupender Produktivität, drang Simsons Denken immer tiefer ein in Sein, Wesen, Befugnis und sachliche Grenzen des Staates. „Der Staat als Erlebnis“21 – fast zum geflügelten Wort aufgestiegen –, der Staat als Mythos, als geschichtlich vorgefundene, unverfügbare, auch gegenüber Europa zur Geltung zu bringende Größe war sein Thema. In der Rechtlichkeit sah der Gelehrte die entscheidende Leistung des Staates. Von daher hatte es nahegelegen, dass er sich frühzeitig in den Dienst einer über die nationalen Grenzen hinausreichenden Rechtspflege gestellt hatte. Immer wieder wandte sich Simson gegen Einseitigkeiten eines nur funktional bestimmten Rationalismus im Staats- und Europarecht. Auch der säkulare Staat sei weit mehr als ein Zweckverband. Die Frage nach Zeitpunkt, Modus und Umfang der Ablösung staatlicher Legitimationssysteme durch europäische Wirkungseinheiten blieb im Mittelpunkt seiner Studien. Darüberhinaus befasste er sich mit der „Theorie der Legitimität“ (1971) und entwarf, unter dem Titel „Die Verteidigung des Friedens“, „eine Theorie der Staatengemeinschaft“ (1975), eine Staatentypenlehre. Ihn interessierte der materiale Kern der nationalen wie europäischen Rechtsordnungen, das, was in keines Staates Verfügungsmacht steht.
21 S.o. FN 2.
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Simsons wichtigste Beiträge stellten seine Schüler im Jahr 1978 zusammen.22 1998 würdigten sie ihn mit dem Gedenkband „Der Staat als Teil und als Ganzes“. Der Gehalt an Unvernunft in den Weltverhältnissen hatte Simson zunehmend beschäftigt („Kritik der politischen Vernunft“, 1983). Diese eigenwillige Theorie der internationalen Beziehungen23 war wohl auch von seinem Willen motiviert, seiner Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen gerecht zu werden. „Der Staat als Teil und als Ganzes“ (1993) war dann Simsons letzte, mit 85 Jahren vorgelegte Monographie – kein mäanderndes, von Fussnotenpilz überwuchertes Alterswerk, sondern ein knappes, zupackendes Erfassen von nationalen, europäischen und globalen Problemlagen und Lösungsansätzen. Einerseits ist das Ganze, etwa ein Europäischer Bundesstaat, mehr als die Summe seiner Teile, mehr also als die bloße Addition von Staaten, die unverbunden nebeneinander stehen. Das gilt auch für das Erfassen, das Begreifen: „Jedes Verstehen des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen des Ganzen“ (Schleiermacher). Andererseits kann das Ganze ohne seine Teile nicht bestehen. Es hat die Teile in ihrer Existenz und Vielfalt zu respektieren, es bedarf ihrer Wirk- und Leuchtkraft. Geboten sei deshalb „das Haltmachen vor den die einzelnen Staaten charakterisierenden Verschiedenheiten“. „Eine alles beiseite lassende, allzu vieles zusammenfassende Ganzheit (klammert) Unterschiede zwischen den Teilen aus, auf die es maßgeblich ankommt. Ein derart weitgreifendes Ganzes reißt Wurzeln aus, die es selbst nicht schlagen kann.“ Gefährlich sei es aber auch, wenn ein bloßer Teil sich anmaße, „das maßgebende Ganze zu sein.“ Aber heißt es nicht bei Platon: „Das Halbe ist mehr als das Ganze“? Jenem Staatsdenken, einschließlich der Voraussetzungen heutiger Staatlichkeit, widmete Simson weitere Bücher, Essays und Rezensionsabhandlungen. Sie machen heute noch Staat. Hervorzuheben sind etwa seine eindringlichen Besprechungen von Fritz Scharpf, „Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung“ (1971), Helmut Quaritsch, „Staat und Souveränität“ (1974), Ernst Forsthoff, „Der Staat der Industriegesellschaft“ (1972), F. A. von Hayek, „Der Atavismus sozialer Gerechtigkeit“ (1979). Thesenstark ist auch sein Beitrag „Die Bedingtheit der Menschenrechte“ in der Festschrift Aubin (1979) sowie seine so respektvolle wie unmissverständliche Abrechnung mit Carl Schmitt (1989). Festgaben für Simson tragen die Titel „Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht“ (1983) und „Die überstaatliche Bedingtheit des Staates“
22 von Simson, Der Staat und die Staatengemeinschaft. Öffentlichrechtliche Abhandlungen, Baden-Baden 1978 (S. 205–207 Verzeichnis seiner Schriften). 23 Vgl. auch von Simson, Kriterien einer politischen Vernunft. Vortrag im Europa-Kolleg Hamburg am 19. Juli 1985.
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(1993). Sie wurden dargebracht von Schülern, die erlebten, wie sich Simsons Verständnis des Staates, der Staatengemeinschaft und der Menschenrechte als Bestandteil eines politischen Weltbildes ausformte, unerbittlich geprüft an den geschichtlichen Tatsachen. Vieles davon ist in ihr eigenes Denken eingegangen. In Simson waren sie einer bewusstseinsbildenden Persönlichkeit begegnet, in der sich Weltumsicht und Gelehrsamkeit, Augenmaß und Ritterlichkeit mit selten gewordenen Eigenschaften des Herzens vereinigten. Sein unter den Staatsrechtslehrern damals keineswegs übliches, erfolgsgewisses Orientieren hin zu Europa, einschließlich eines souveränen Ignorierens nationaler und disziplinärer Grenzen, hat Schule gemacht. In der Fakultät hielt Simson mit Konrad Hesse und Joseph H. Kaiser fachlich den wohl engsten Kontakt, außerhalb der Fakultät, nie um eine Pointe verlegen, etwa mit Wilhelm Hennis, Ulrich Everling und Hans Peter Ipsen. Hesse rühmte Simson als einen Lehrer, der seinen Schülern und Hörern „mehr als fachliche Kenntnisse“ vermittle: „geistige Offenheit und festen Grund“.24 Simsons dichtes außerfachliches, außeruniversitäres und familiäres Netzwerk trug ihn bis ins hohe Alter. Musik begleitete ihn ständig, ebenso Kunst und Dichtung. Seinen Schülern bot Simson allen Freiraum zu Forschung und Entfaltung: Kooperation und Austausch statt Abhängigkeit und Ausbeutung. Hart oder auch nur streng war Simson nicht. Orgelspielend in der nahen Jesuitenkirche oder vertieft in die Bestände eines Antiquariats konnte er auch mal einen Vorlesungs- oder Sitzungsbeginn vergessen. Seine Mitarbeiter versetzte das jedes Mal in helle Aufregung. Freilich, seine Pflichten als Dekan ausgangs der 1960er Jahre, eine eher undankbare Aufgabe in dieser Zeit, und die Termine von Staatsexamina, Doktorprüfungen und Habilitationsverfahren nahm er ernst – ein Erbe auch seiner Anwaltstätigkeit, die sich insgesamt ja über ein Vierteljahrhundert erstreckt hatte. Simsons Verbindung zu seinen Schülern, gepflegt auch durch mehrere ihn ehrende Symposien, blieb intensiv. Sein Humor, sein treffender, nie verletzender Witz, seine Befähigung, über den Dingen zu stehen und auch Milde walten zu lassen, setzten ihn in den Stand, Menschen an sich zu binden und ihr Vertrauen zu gewinnen. Seine innere Unabhängigkeit und natürliche Autorität waren so beeindruckend wie es seine Weltgewandtheit und Befähigung zur Freundschaft waren. Vielleicht war, alles zusammengenommen, der Lebenslehrer Werner von Simson noch größer als der Staatsdenker gleichen Namens. Peter Häberle und seine beiden habilitierten Schüler, Jürgen Schwarze und den Verfasser dieser Zeilen, beschenkte er mit seiner Freundschaft. Wem dieser erfahrene, weltoffene
24 Konrad Hesse, Werner von Simson zum 70. Geburtstag, in: AöR 103 (1978), S. 73 f.
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und gütige Mann je begegnet ist, dem steht er deutlich vor Augen – unvergleichbar durch Lebensweg und Persönlichkeit, Schicksal und Leistung.
Bibliographie Monographien Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin, 1965 Die Verteidigung des Friedens. Beiträge zu einer Theorie der Staatengemeinschaft, München, 1975 Der Staat und die Staatengemeinschaft. Öffentlichrechtliche Abhandlungen, Baden-Baden, 1978 (mit Bibliographie Werner von Simson) Kritik der politischen Vernunft, Baden-Baden, 1983 Europäische Integration und Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, Berlin, 1992 (gemeinsam mit Jürgen Schwarze) Der Staat als Teil und als Ganzes, Baden-Baden, 1993
Unselbständige Arbeiten Der politische Wille als Gegenstand der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Festschrift für Otto Riese, Karlsruhe, 1964, S. 83 ff. Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 29 (1971), S. 3 ff. Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: Festschrift für C.H. Aubin, Kehl a.R., Straßburg, 1979, S. 217 ff. Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung, in: Jürgen Schwarze, Roland Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden, 1984, S. 91 ff. Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, in: Europarecht 26 (1991), S. 1 ff.
Selbst- und Fremdzeugnisse Der Staat als Erlebnis, in: JöR NF 32 (1983), S. 31 ff. Erzählte Erfahrung I. Der Rechtswissenschaftler, in: Freiburger Univrsitätsblätter 30 (1991), 23 ff. Peter Häberle, Jürgen Schwarze, Wolfgang Graf Vitzthum, Die überstaatliche Bedingtheit des Staates. Zu Grundpositionen Werner von Simsons auf den Gebieten der Staats- und Verfassungslehre, des Völker- und des Europarechts, Baden-Baden, 1993
XLVIII Georg Schwarzenberger (1908–1991)* Heinhard Steiger
I. Biographisches 1. Beginn in Deutschland Die Aufnahme Georg Schwarzenbergers, der ab 1934 sein Leben in England verbrachte und dessen umfangreiches wissenschaftliches Werk dort entstand und fast ausschließlich in englischer Sprache erschienen ist, in diese Sammlung von Porträts deutscher Gelehrter des öffentlichen Rechts des 20. Jahrhunderts macht, wie die anderer, die tiefe Gebrochenheit der deutschen Rechtswissenschaft durch die Vertreibungen älterer arrivierter, wie jüngerer aufstrebender Wissenschaftler in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auch für das Völkerrecht deutlich. Georg Schwarzenberger wurde am 20. Mai 1908 in Heilbronn in die liberaljüdische Familie eines Baumwollfabrikanten geboren.1 Er studierte ab 1926 in Heidelberg, Frankfurt, Berlin und Tübingen. In Heidelberg wurden er und seine spätere Frau Suse vor allem von Gustav Radbruch beeinflußt.2 In Tübingen begeisterte Carlo Schmid Schwarzenberger für das Völkerrecht.3 Unter seiner Betreuung promovierte er über das Thema „Das Völkerbundsmandat für Palästina“.4 Mit
* Peter Haggenmacher zum Siebzigsten. 1 Im Folgenden folge ich der von Suse Schwarzenberger verfaßten „Autobiography“ in englischer Sprache, deren Typoskript im Kleist-Archiv in Heilbronn liegt und mir von dessen Leiter, Herrn Günter Emig freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Sie erzählt das Leben beider Schwarzenbergers von Anbeginn bis in die späten siebziger Jahre und verbindet diesen Lebensbericht eingehend mit den politischen und geistigen Strömungen der Zeit. Außerdem stütze ich mich auf Stephanie Steinle, Völkerrecht und Machpolitik Georg Schwarzenberger (1908–1991), Studien zur Geschichte des Völkerrechts 3, hrsg, v. Michael Stolleis, Baden- Baden 2000, S. 5 -86. Sie hat weiteres nicht veröffentlichtes Archivmaterial aus Großbritannien und Deutschland verarbeitet, Nachweise S. 242 –243. 2 Autobiography, S. 34ff, 41 ff., 98. Suse Schwarzenberger wurde 1930 Radbruchs wissenschaftliche Assistentin, und promovierte 1933 bei ihm über das Thema „Die Bedeutung der modernen Erziehungswissenschaft für das Juristische Strafproblem“, Heidelberg 1933. 3 Autobiography, S. 45, 69. 4 Stuttgart 1929 veröffentlicht, Abschluß der Promotion 1931.
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beiden dauerte die persönliche Bindung in der Emigration und über den Krieg hinaus.5 Bis zu seiner Emigration veröffentlichte Schwarzenberger Monographien u. a. zum internationalen Wirtschaftsrecht, eine damals noch relativ junge völkerrechtliche Materie, und zur neuen republikanischen Verfassung Spaniens.6 Schwarzenberger begann nach erfolgreichem ersten Staatsexamen 1929/30 den Referendardienst in Württemberg. Aber wenige Tage vor dem Zweiten Staatsexamen im Dezember 1933 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft, aber auch der politischen Tätigkeit für die SPD, vor allem in den Wahlkämpfen von 1932 und 1933 vom Zweiten Staatsexamen ausgeschlossen.7 Dasselbe widerfuhr seiner Frau Suse, obwohl diese Nichtjüdin war. Da somit für beide jede berufliche Zukunft in Deutschland unmöglich wurde, verließen sie 1934 Deutschland und emigrierten nach London. Der Doktorgrad wurde ihm aberkannt, die deutsche Staatsangehörigkeit wurde beiden 1938 entzogen.8
2. Jüdischsein Suse Schwarzenberger geht in ihrer Autobiographie mehrfach darauf ein, was es für Schwarzenberger bedeutete, jüdischer Herkunft zu sein.9 Seine Familie lebte ein liberales Judentum mit seltenem Besuch der Synagoge und ohne religiöse Riten zu Hause.10 Der einzige Sohn genoß eine allgemeine, offene religiöse Erziehung und feierte sein Bar-Mitzvah. Die Eltern gehörten selbstverständlich zur Gesellschaft in Heilbronn und pflegten intensive Begegnungen mit nichtjü-
5 Autobiography, S. 45. 6 Die Kreuger-Anleihen, München 1931; Die internationale Bank für Zahlungsausgleich und Agrarkredite, Berlin 1932; Die Verfassung der spanischen Republik, Königsberg 1933. 7 Bereits während seiner Gymnasialzeit hatte sich Georg Schwarzenberger der Jugendgruppe der SPD angeschlossen. In der Studienzeit gehörte er sozialistischen Studentengruppen der jeweiligen Studienorte an und war dort führend tätig, Autobiography, S. 33, 36, 43 f. Von der Überlegung, das Studium für eine Parteikarriere aufzugeben, riet ihm jedoch Kurt Schuhmacher, damaliger Vorsitzender der SPD Württembergs, dringend ab, ibd. S. 42 ff. Für die Einzelheiten Autobiography, S. 66 ff.; Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 22 ff. 8 Autobiography, S. 105. 9 Diese Frage wurde auf einer Tagung des Wissenschaftskollegs in Berlin für Hans Kelsen, Erich Kaufmann und andere deutsche Völkerrechtler erörtert, die 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft zur Emigration gezwungen wurden, „Lauterpacht and Beyond, Jewish/German Authorship and the History of International Law“, 12. September 2011, ausgerichtet von Yeut Y. Paz, Humboldtstipendiatin, im Rahmen des Programms „Rechtskulturen – Law in Kontext“ des Wissenschaftskollegs Berlin und der Humboldt-Universität Berlin. 10 Autobiography, S. 25 ff.
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dischen Freunden und Bekannten, u. a. mit Theodor Heuß.11 Sie hatten nichtjüdische christliche Mitarbeiter in der Fabrik und im Haushalt, selbst für die Erziehung Georgs. Jedoch erfuhr er immer wieder antisemistische Belästigungen und Diskriminierungen in der Schule wie später im Studium und im Referendariat, sobald bekannt wurde, daß er jüdischer Herkunft war. Schwarzenberger entfernte sich später immer weiter von der jüdischen Religion. Seine Frau, die sich ihrerseits von ihrem katholischen Glauben entfernt hatte, bemerkt zu ihrer Hochzeit 1931, daß beide sich eigentlich eine feierlichere Zeremonie als auf dem Standesamt gewünscht hätten, aber er nicht in einer Synagoge und sie nicht in einer katholischen Kirche. „In the state of uneasy agnosticism in which we found ourselves there was no institution that could accomodate us.“.12 1931 trat er aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. Vom Zionismus hatte er sich bereits früher nach einem kurzen Zwischenspiel in einer zionistischen Jugendgruppe distanziert.13 Als der antisemitische Druck 1932/33 wuchs, bat Schwarzenberger jedoch um Wiederaufnahme. „Georg went on arguing as a socialist who, racially, was a Jew, but the time had come when he found it necessary to ask the religious community to readmit him as a member. There could be no doubt about his allegiance. He was in every respect a jew and also a democratic socialist.“14 Er begriff dieses Bekenntnis zu seinem Judentum offenbar nicht religiös, sondern politisch, akzeptierte gewissermaßen die von außen auferlegte rassische Identität. Für England berichtet Suse Schwarzenberger nichts mehr über Schwarzenbergers persönliches Verhältnis zum Judentum.15 Sie besuchte in späteren Jahren mit dem Sohn Rolph den Gottesdienst in einer christlichen Gemeinde, wohin ihr Mann sie unregelmäßig begleitete. Eine Konversion Schwarzenbergers läßt sich jedoch nicht belegen.16
11 Autobiography, S. 54, 57, 153 f. Diese Verbindung blieb über 1933 erhalten und wurde nach 1945 wieder intensiviert. 12 Autobiography, S. 56. 13 So wurde wohl auch seine Dissertation von Zionisten kritisch gesehen, Autobiography, S. 46, u. a auch von Hersh Lauterpacht, der seine deutsche Dissertation bei Hans Kelsen ebenfalls über die Mandate geschrieben hatte und dem Zionismus wohl stärker zugeneigt war, Steinle Völkerrecht (Anm. 1), S. 216 ff. 14 Das führte i. ü. zu Spannungen mit Juden, als er in den Wahlkämpfen für die SPD Kapitalismus von Juden wie Nichtjuden attackierte, Autobiography, S. 46. 15 Autobiography, S. 141 f. 16 Brief an Lydia Radbruch v. 17. Dezember 1954, zitiert von Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 6 Anm. 10. Zu einer möglichen Konversion Steinle, ibd., wo sie eine zurückhaltende Bemerkung des Enkels Alan Schwarzenberger mitteilt, und S. 216. In der Autobiographie findet sich dazu nichts.
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Für die Wissenschaft hat Schwarzenbergers Zugehörigkeit zum Judentum nach dem Zeugnis seiner Frau keine Wirkung gehabt. Er war ein modern-säkularer Völkerrechtler wie seine nichtjüdischen wie jüdischen Kollegen. Die wissenschaftlichen Differenzen mit den einen wie mit den anderen lagen in den inhaltlichen Ansätzen, Methoden, Analysen und Folgerungen.17 So war einer seiner Hauptkontrahenten, Hersh Lauterpacht, selbst praktizierender Jude.18
3. Emigration nach England War in Deutschland keineswegs entschieden, ob Schwarzenberger in den Justizdienst des Landes Württemberg, und später in die Politik oder in eine wissenschaftliche Laufbahn eintreten wollte, so blieb in England nur der Weg in eine akademische Karriere mit all den Schwierigkeiten für einen Immigranten.19 Bevor Schwarzenberger richtig Fuß gefaßt hatte, begann er bereits mit einer Arbeit über den Völkerbund, um den Ph.D. an der London School of Economics (LSE) zu erwerben.20 Aber noch 1934 wurde er auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Deutschland bei dem „New Commonwealth Institute for Justice and Peace“ angestellt.21 Das Institut war eine private akademische Einrichtung der 1932 in England von Lord Davies gegründeten, aber mit Sektionen auch in anderen Ländern vertretenen „New Commonwealth Society for Justice and Peace“.22 Das Institut, das mehrfach umorganisiert und schließlich 1943 in „London Institute of World Affairs“ umbenannt wurde und zunächst unter der Leitung des früheren Leiters der Hochschule für Politik in Berlin Ernst Jäkh stand, später von George Keeton und ab 1962 von Schwarzenberger selbst als Direktor
17 Schon seine Dissertation war von zionistischer Seite kritisiert worden, weil er dem jüdischen Volk die völkerrechtliche Rechtssubjektivität absprach, Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 16 f. 18 Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 17. Das Verhältnis zu diesem wird von Suse Schwarzenberger als allgemein sehr gespannt dargestellt, Autobiography, S. 92 f. Dazu auch Steinle, ibd., S. 216 ff. Lauterpacht hat mehrfach gegen seine Berufung auf eine Professur an dem UCL oder der LSE interveniert, Steinle, ibd., S. 212 ff.. 19 Zwar versuchten bekannte und angesehene deutsche Gelehrte im Ausland, u. a. Gustav Radbruch und Walter Schücking, ihn auf Grund seiner ersten Veröffentlichungen zwischen 1929 und 1934 zu fördern. Aber die Lage war für Emigranten in Großbritannien offenbar schwieriger als vor allem in den USA. Das galt gerade auch für deutsche Juristen, da diese eine ganz andere Ausbildung zudem in einem strukturell anders angelegten Rechtssystem hatten. 20 Autobiography, S. 77 f., 100. Sie erschien unter dem Titel „League of Nations and World Order“, London 1936. 21 Zu diesem Steinle, Völkerrecht, (Anm1), S 67 ff. 22 Einzelheiten bei Steinle, Völkerrecht, (Anm. 1), S. 67 ff. Autobiography, S. 147, 160 ff.
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geleitet wurde, sollte seine Zielsetzung wissenschaftlich durch Vortrags- und Tagungsveranstaltungen, Herausgabe einer Zeitschrift das New Commonwealth Quarterly bzw. später London Quarterly of World Affairs, und einer Schriftenreihe sowie eigene Forschungen vorantreiben. Das Institut wurde eine feste institutionelle Grundlage für Schwarzenbergers wissenschaftliche Arbeit und Profilierung und vor allem durch seine Arbeit zu einer zentralen Forschungsstätte im Bereich des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen.23 Schwieriger war eine Etablierung an der Universität. Zwar hielt Schwarzenberger bereits in den dreißiger Jahren Vorlesungen zum Völkerrecht an der LSE und dem University College London (UCL), wurde dort 1945 auch zum Reader für Internationales Recht ernannt. Aber erst 1963 wurde er nach langen Schwierigkeiten aus der Zunft, u. a. wegen seiner deutschen Herkunft, zum „Professor of International Law in the University of London“ berufen.24 Er erlangte jedoch schon lange vorher wissenschaftliche Anerkennung als Völkerrechtler weit über England hinaus. So wurde er wiederholt zu Vorlesungen an die Haager Akademie des Völkerrechts eingeladen, hielt Vorlesungen und Vorträge in Frankreich, Kanada, Spanien und auch in Deutschland. Bereits 1946 nahm Schwarzenberger eine Einladung nach Deutschland an und hielt Vorlesungen in Wilhelmshaven und Köln.25 1948 erneuerte er in Tübingen seine Beziehung zu Carlo Schmid und in Heidelberg zu Gustav Radbruch und las in beiden Universitäten über „Power Politics and International Law“.26 Er blieb auch später durch Vorträge, Vorlesungen und zahlreiche Aufsätze in englischer und deutscher Sprache in Zeitschriften und in Festschriften für deutsche Völkerrechtler in ständiger Verbindung mit der deutschen Völkerrechtswissenschaft.27 Aber einen Ruf an die Universität Tübingen 1964 lehnte er ab.28 Bereits für 1945 notierte Suse Schwarzenberger „We could not return permanently to Germany as if History had stood still. It did not, nor did we ourselves. The postscript to our epilogue will allways be ‚There but for the grace of God we go‘. We were still young
23 Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 76 ff. Allerdings hielten sich, wie Steinle darlegt, britische Völkerrechtler gegenüber der Society und dem Institute wie deren Publikationsorganen, zu denen auch eine Monographie-Reihe und später ein Yearbook gehörten, wohl zurück. 24 Autobiography, S. 161 f., 163 ff. Ihm fehlte zudem bis 1955 die Zulassung zur englischen Anwaltschaft, ibd. S. 162. 25 Er legte Wert darauf, von Deutschen eingeladen zu werden „and not on the bajonetts of the occupation forces“ zu kommen, Autobiography, S. 151. 26 Autobiography, S. 152, 155. 27 So beteiligte er sich an den Festschriften für Rudolf Laun, Eberhard Menzel, Walter Schätzel, Hans-Jürgen Schlochauer Carlo Schmid, Alfred Verdross (2 mal), Wilhelm Wengler. 28 Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 220.
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enough to grow new roots.“29 Schwarzenberger war bewußt und selbstentschieden englischer Wissenschaftler des Völkerrechts, aber mit deutschen Wurzeln.30
II. Wissenschaftliches Œuvre 1. Überblick Schwarzenbergers in sechzig Jahren von 1929 bis 1990 entstandenes umfangreiches wissenschaftliches Werk ist thematisch auf das Völkerrecht und die Internationalen Beziehungen ausgerichtet. Für beide Gebiete steht neben Grundsatzarbeiten und umfangreicheren Gesamtdarstellungen eine kaum überschaubare Menge von Aufsätzen etc. zu allgemeinen Fragen wie zu konkreten Einzelfragen.31 Hauptwerke sind einerseits das drei Mal aufgelegte und immer wieder überarbeitete Hauptwerk zu den internationalen Beziehungen „Power Politics“, das auch in bearbeiteter Form auf Deutsch erschienen ist;32 andererseits das vierbändige grundlegende völkerrechtliche Hauptwerk „International Law as Applied by International Courts and Tribunals“;33 und das völkerrechtliche Lehrbuch „A Manual of International Law“, das sechs Auflagen erlebte.34 Eine deutsche Übersetzung der zweiten
29 Autobiography, S. 157 f. und Brief Schwarzenbergers an Ernst Steindorff v. 8. Februar 1964 zur Ablehnung des Rufes nach Tübingen, zit. bei Steinle ibd. Die Aberkennung des Doktorgrades war bereits 1947 von der Universität für ungültig erkannt worden. Zwar behielten er und seine Frau bewußt ihre deutschen Namen, und lehnten ihre Anglisierung ab, Autobiography S. 31 Andererseits beantragten sie nicht die Wiedereinbürgerung, ibd., S. 177 f.. 30 Brief von Suse Schwarzenberger an Günter Emig v. 28. Mai 1994: „Mein Mann war Heilbronner, ehe er Deutscher oder Engländer war.“ 31 Die von Steinle zusammengestellte Liste der Veröffentlichungen umfaßt mit den bereits genannten deutschsprachigen Veröffentlichungen und der Ph.D. These über 20 Monographien und einschließlich der Mehrfachveröffentlichungen über 200 Aufsätze und andere unselbständige Veröffentlichungen. 32 Power Politics – A Study of International Society, London 1941, 1951 und 1964 (?); Machtpolitik – Eine Studie über die Internationale Gesellschaft, übers. v. Anneliese Herbst, Tübingen 1955. Hier wird die zweite englischsprachige Auflage zugrunde gelegt. 33 Bd. 1, 1. Aufl., London 1945, 2. Aufl. 1949, 3. Aufl. 1957, weitere Nachdrucke; Bd. 2, The Law of Armed Conflict, London 1968; Bd. 3, International Constitutional Law, London 1976; Bd. 4, International Judicial Law, London 1986. 34 A Manual of International Law, 1. Auf. London 1947, weitere Auflagen 1950, 1952, 1960, 1967, 1978. Hier wird die 5. Auflage zugrunde gelegt.
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Auflage erschien in gekürzter und bearbeiteter Form unter dem Titel „Einführung in das Völkerrecht“.35 Weiter sind zu nennen „The Inductive Approach to International Law“;36 „The Legality of Nuclear Weapons“;37 „Civitas Maxima?“ in deutscher Sprache.38 Die völkerrechtlichen Aufsätze betreffen einerseits allgemeine Probleme zu den Grundlagen, zur Methode, zur Geschichte wie zur Zukunft des Völkerrechts, zu seinen Funktionen und Grenzen und zu seiner Verknüpfung mit soziologischen und internationalen Fragen, andererseits besondere konkrete Probleme u. a. zur Problematik der Kriegsverbrechen, der Neutralität im Zweiten Weltkrieg, der Rechtsstellung Deutschlands nach 1945, des internationalen Wirtschafts- und Finanzrechts, des internationalen Strafrechts, der Errichtung eines Kriegsverbrechertribunals und des Nürnberger Prozesses, zu der Völkerbund-Akte und später der Satzung der VN, der Menschenrechte und deren Schutz, zum Kriegsrecht und Eigentumsschutz, zur Legalität der Atomwaffen, zu den internationalen Organisationen, den Europäischen Gemeinschaften und ihrem Gerichtshof. Er hat durch seine Veröffentlichungen wie durch seine Gastvorlesungen und -vorträge umfassend an der völkerrechtswissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit teilgenommen. Dabei tritt die Grenze des Zweiten Weltkrieges deutlich hervor. Ab 1939 beschäftigt sich Schwarzenberger immer wieder mit dem Niedergang und dem Zerfall der völkerrechtlichen Ordnung.39 Die Aufsätze zur Internationalen Politik betreffen die allgemeine Konzeption der Internationalen Beziehungen, insbesondere der „Machtpolitik“ allgemein, wie zu ihrer Bedeutung in bestimmten Konflikten, zu den Beziehungen zum Völkerrecht, zu einer ökonomischen Weltordnung. Schwarzenberger kennzeichnet seine Völkerrechtslehre durch drei Elemente, „the inductive, inter-disciplinary, and relativist approach“.40 Das umfangreiche Werk kann hier nur in seinen wesentlichen Elementen dargestellt werden. Es sind deren drei: Die induktive Methode, die inhaltliche Ausrichtung auf eine rechts-
35 Übers. v. Hans-Jürgen Schlochauer, Tübingen 1951. 36 London 1965. 37 London 1958. 38 Tübingen 1973. 39 The rule of Law and the Desintegration of the International Society, AJIL 33 (1939), 56–77; International Law and Totalitarian Lawlessness, AJIL 37 (1943) 460 ff.; Three Types of Law, Ethics 53 (1943) 89 ff.; Jus Pacis Ac Belli, Current Legal Problems 2 (1949) 103 ff. 40 The Misery and Grandeur of International Law, An Inaugural Lecture Delivered at University College London, 24 October 1963, London 1963, wieder abgedruckt in Current Legal Problems 17 (1964) 184–210.
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soziologische Grundlegung und die Darstellung des positiven Völkerrechts nach seinen Grundlagen wie nach seinen Einzelheiten.
2. Induktive Methode Schwarzenberger weist der Völkerrechtslehre drei Aufgaben zu: Analyse des vorhandenen Rohstoffmaterials des Völkerrechtssystems, Feststellung der sozialen Zwecke des Völkerrechtssystems und Kritik und Fortentwicklung oder Rechtsplanung des bestehenden positiven Völkerrechtssystems. Jede folgt eigenen Methoden.41 Für die erste Aufgabe der Analyse sei der Jurist auf sich selbst verwiesen, während er für die zweite auf die soziologischen Methoden zurückgreifen könne und für die dritte einen offenen oder relativistischen Horizont der Methoden zur Verfügung habe. Für die Analyse sei die induktive Methode unabweisbar, um das geltende positive Recht aufzufinden. Die ältere deduktive Methode, die er auch die naturrechtliche Methode nennt, sei zwar für das 16. und 17. Jahrhundert notwendig gewesen, um überhaupt das Völkerrecht als eine selbständige Wissenschaft zu etablieren. Die seitdem stetig wachsende Masse des Materials habe aber eine neue Methode der Analyse erforderlich gemacht, um daraus das positive Völkerrecht zu erschließen. Maßgebend sind die Rechtsquellen gem. Art. 38 IGH Statut. Aber Schwarzenberger grenzt sich doch von den Positivisten dadurch ab, daß er ihnen Ekklektizismus vorhält, da sie aus dieser Masse „heraus picken, was ihnen in den Kram paßt“. Schwarzenberger will mit der induktiven, am Material, der Staatenpraxis42 und vor allem der Rechtsprechung orientierten Methode dem Subjektivismus der Wissenschaft einen objektiven Zugang entgegensetzen. Zwar lasse sich Subjektivität nicht völlig vermeiden. Aber durch eine größere Objektivität durch die induktive Methode sei die Wirksamkeit und allgemeine Akzeptanz der Aussagen zum Völkerrecht und letzten Endes dessen selbst höher. Dieser induktiven Methode folgt die Gewinnung des positiven Rechts in der vierbändigen Darstellung des Völkerrechts durch Analyse der internationalen
41 Die induktive Methode im Völkerrecht, Jahrbuch für Internationales und ausländisches öffentliches Recht, 2 (1949), 676–689; zuerst wohl The inductive Approach to International Law, Harvard Law Review 60 (1947) 159 ff.; auch International Law, Bd. 1 (Anm. 33), S. 4 ff.; später die in Anmerkung 36 genannte Monographie; dazu Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 182 ff. 42 Schwarzenberger beklagt allerdings die geringe Aufarbeitung der Staatspraxis und rühmt daher die Kompendien oder Digests von Moore, Hackworth, Hyde u. a. für die amerikanische und englische Praxis, zu denen auch die von Alexandre Kiss für die französische Praxis hinzuzufügen wäre.
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Rechtsprechung. Zwar gliedert er die Darstellung nach dem üblichen, systematischen Aufbau der allgemeinen Völkerrechtswissenschaft, erörtert die Elemente aber nicht abstrakt, sondern legt die Äußerungen der Rechtsprechung dazu dar. Dabei verdeutlicht die Aufteilung der vier Bände grundlegende Entwicklungen des Völkerrechts. Die beiden ersten Bände behandeln die klassischen Materien des Völkerrechts des Friedens und des Krieges unter dem Begriff „Armed Conflict“, die Bände drei und vier jedoch die „neuen“ Materien der Internationalen Institutionen unter dem Begriff „International Constitutional Law“ und der internationalen Rechtsprechung unter dem Begriff „International Judicial Law“. In dieser Darstellung bewährt sich angesichts der ungeheuren Fülle des Materials, das trotz der relativ kurzen Zeit von Rechtsprechung zu internationalen Rechtsfragen internationaler wie nationaler Gerichte, Schiedsgerichte, Schiedskommissionen etc. zur Mitte des vorigen Jahrhunderts bereits vorlag, eine von Schwarzenberger geübte ziselierende Methode der Darstellung in Teilen, Kapiteln, Abschnitten, die jeden Gesichtspunkt aufzunehmen suchen. Man mag es eine „deutsche“ Methode nennen.43 Schwarzenberger beschränkt sich jedoch nicht auf bloße Darstellung und Kommentierung, sondern setzt sich auch kritisch mit der Rechtsprechung auseinander.44 Als Maßstab dienen ihm die dem Völkerrecht zugrundeliegenden sieben eigenen allgemeinen Prinzipien: Souveränität, Anerkennung, Konsens, guter Glauben, Selbstverteidigung, internationale Verantwortlichkeit und die Freiheit der Hohen See. Bemerkenswert ist, was aus heutiger Sicht fehlt: das Gewaltverbot, der Schutz der Menschenrechte, die internationale Solidarität. Das ist aber weder Rückwärtsgewandtheit, noch Unverständnis für die moderne Entwicklung, noch Versehen. Sie beruhen anders als die genannten auf vertraglichen Regelungen, die damals noch in ihren Anfängen standen, also aus seiner Sicht noch nicht den Charakter allgemeiner Prinzipien angenommen hatten, der ihnen heute zukommen mag. Zudem greift Schwarzenberger, wenn auch mit Hilfscharakter, auf geschichtliche, soziologische und ethische Dimensionen zurück. Schwarzenbergers Methode der Darstellung der von ihm in seinen Büchern und Aufsätzen behandelten Gegenstände oder Materien ist von möglichst großer Konzentration auf Gegenstand und Argument, Genauigkeit, Vermeidung von Weitschweifigkeit geprägt. So zeigt bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis
43 Zu nennen sind u. a. der Lotus-Fall, der Las Palmas-Schiedsspruch von Max Huber, Vorbehalte zur Völkermord-Konvention, der Asyl-Fall zwischen Kolumbien und Peru, Minquiers and Ecrehos Fall, Rechte von US Bürgern in Marokko. 44 Im Vorwort zur dritten Auflage des ersten Bandes 1957 hebt er diese Absicht der critical evaluation ausdrücklich hervor, (Anm. 33), S. XV.
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seines Lehrbuch „A Manual of International Law“ eine strenge Untergliederung der Erörterung der völkerrechtlichen Teilmaterien, die im Text aber noch weiter verfeinert wird. Schwarzenberger versucht stetig, vom Allgemeinen bis zu den letzten Verästelungen Kategorien und Unterkategorien zu bilden, um so eine möglichst feingliedrige Darstellung zu erreichen. Insofern verfolgt er in diesem Lehrbuch zwar eine deduktive Technik, die er für die Lehre ausdrücklich zuläßt,45 inhaltlich bleibt es aber bei dem induktiven Zugriff auf die Rechtsprechung und Praxis.
3. Internationale Beziehungen – Power Politics Mitten im 2. Weltkrieg erscheint seine völkerrechtssoziologische Untersuchung „Power Politics“, in der Schwarzenberger einen tiefen Skeptizismus gegenüber der Wirksamkeit der rule of law im Verhältnis zur rule of force zum Ausdruck bringt. Sie bestimmt seine Einordnung in der Völkerrechtslehre als Realist oder Skeptizist neben Hans Morgenthau bis heute. Schwarzenberger geht aus von der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft, wofür er sich auf Ferdinand Tönnies, Max Weber aber auch Henry Summer Maine bezieht. Den Unterschied formuliert er knapp: „Society is a means to an end. Community is an end in itself. Society is based on interest and fear, whereas a community requires self-sacrifice and love.“46 Das Verhältnis der Staaten untereinander bestimmt er als „internationale Gesellschaft“, da jeder Staat kraft seiner Souveränität die eigenen Interessen verfolgt und durchzusetzen versucht. Zwar faßt Schwarzenberger die internationale Gesellschaft unter soziologischen Gesichtspunkten sehr weit unter Einschluß nicht nur der Staaten, sondern auch anderer Gruppen, wie Kirchen, Unternehmen etc., aber auch einzelner. Aber die letztlich bestimmenden „Gruppen“ sind doch die Staaten. Daher ist auch nur von ihnen die Rede.47 Wenn auch die internationale Gesellschaft in sich ein Minimum ethischer Standards realisieren muß, so ist doch das Selbstinteresse allein maßgeblich. Daher ist, was diese internationale Gesellschaft zusammenhält „not any vague community of spiritual interests. It is power“.48 Das Handeln der Staaten ist daher prinzipiell machtpolitisch ausgerichtet. Machtpolitik wird zuletzt 1986 definiert „as a system of international relations
45 International Law, Bd. 1 (Anm. 33), S. 5. 46 Power Politics, 2nd. ed., S. 12 ff. 47 Power Politics, (Anm. 46), S. 51 ff. 48 ibd. S. 251.
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in which groups consider themselves as ultimate ends, use – at least for vital purposes – the most effective means at their disposal and are graded according to their weight in case of conflict“.49 Zur Realisierung der Machtpolitik unterscheidet er Instrumente, Diplomatie, Propaganda, militärische Rüstung sowie sechs Strategien, Isolationismus, der im Krieg zwischen Dritten zur Neutralität wird; aber auch das Gegenteil, Bündnisse; Garantieverträge; Gleichgewichtspolitik; regionaler oder universaler Imperialismus; Universalismus.50 Der Einsatz von – bewaffneter – Gewalt oder Krieg gehört neben Verhandlungen, Vermittlung, Vergleich, Schiedsverfahren, gerichtlicher Entscheidung, aber auch ökonomischen oder politischen Druck, Maßnahmen short of war zu den Taktiken der Machtpolitik im konkreten Fall. Diese soziologische Analyse internationaler oder zwischenstaatlicher Machtpolitik betrifft zwar zunächst die „unorganisierte“ internationale Gesellschaft, wird aber, wie bereits bemerkt, auf die im Völkerbund und vor allem in der UNO quasi-organisierte internationale Gesellschaft ausgedehnt. Denn auch sie haben die internationale Gesellschaft nicht in eine internationale Gemeinschaft überführt, sondern dienen der Realisierung von Machtpolitik durch die vorbehaltenen Rechte der Mitglieder, das Vetorecht der Großmächte in der UNO, oder das „inherent right of self-defence and collective self-defence against armed attack“, dessen Vorliegen die Mächte selbst bestimmen. Er nennt das „power politics in disguise“.51 Sie führt ihn daher zu sehr kritischen Analysen und Schlußfolgerungen über die Fähigkeit des Völkerbundes und der Vereinten Nationen, Frieden und internationale Sicherheit zu gewährleisten. Welche Funktion fällt dem Recht in dieser machtpolitisch bestimmten internationalen Gesellschaft zu? Schwarzenbergers immer wiederkehrende Grundthese lautet, daß die rule of law in der internationalen Gesellschaft gegenüber der rule of force subsidiär sei. Denn Völkerrecht sei in der gegenwärtigen internationalen Gesellschaft ein „law of power“, wenn es auch Elemente eines „law of reciprocity“ und eines „law of co-ordination“ enthalte.52 Das gälte nicht nur für die unorganisierte internationale Gesellschaft von der Antike über das Mittelalter
49 Art. Power Politics, in: EPIL Bd. III, 1997, S. 1092, Fassung von 1986. Schwarzenberger hat seine Auffassungen, die er in den drei Auflagen seines Werkes ausführlich dargelegt und in der Analyse der geschichtlichen Entwicklungen der internationalen Beziehungen bis in seine Gegenwart begründet hat, in den Beiträgen Machtpolitik/Power Politics im Wörterbuch des Völkerrechts und der Encyclopedia of Public International Law 1. Aufl. noch einmal zusammengefaßt. 50 Ausführlicher Power Politics, (Anm. 46), Kapitel 9–11, S. 147 ff. 51 Art. Power Politics, EPIL (Anm. 49), S. 1096. Ausführlich Power Politics, (Anm. 46), Part Two, S. 251 ff. 52 Power Politics (Anm. 46), S. 202 ff.
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bis zur Neuzeit, sondern eben auch für die in Völkerbund und Vereinte Nationen quasi-organisierte internationale Gesellschaft.
4. Völkerrecht – Positivität Schwarzenberger zieht jedoch aus seiner soziologischen machtpolitischen Analyse der internationalen Gesellschaft nicht den Schluß, daß es Völkerrecht nicht gebe oder es kein Recht sei.53 Er bemüht sich im Gegenteil, das positive Recht mit seiner induktiven Methode aus den rechtlichen Gegebenheiten, der Geschichte wie der Gegenwart, insbesondere aus der Rechtsprechung internationaler Spruchkörper heraus zu erarbeiten. Schwarzenbergers Konzeption des Völkerrechts ist am besten seinem Manual of International Law zu entnehmen, das in den mehrfachen Auflagen die eingehenden Forschungen seines vierbändigen Hauptwerkes aufnimmt. Völkerrecht, so Schwarzenberger, ist das Recht zwischen souveränen Staaten und solchen Einheiten, denen Völkerrechtssubjektiviät verliehen worden ist. Zur Erfassung des Völkerrechts folgt er gemäß seiner induktiven Methode ganz konventionell der Struktur des Art. 38 des Statuts. Rechtsquellen sind somit Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und die von die Kulturnationen anerkannten Allgemeinen Prinzipien.54 Naturrecht und andere vorgegebene Quellen scheiden für ihn aus. Rechtsbildende Akteure sind die Staaten. Daneben stehen die Akteure, durch die Bestehen und Inhalt des positiven Völkerrechts zur Erscheinung gebracht oder erwiesen werden, insbesondere die internationalen Rechtsprechungseinrichtungen. Das Gewohnheitsrecht steht auf der Grundlage der bereits genannten, induktiv aus dem Recht selbst entwickelten sieben Prinzipien trotz der Reihenfolge in Art. 38 StIGH und der entsprechenden Auflistung für Schwarzenberger eindeutig im Vordergrund, weil es allgemeines Recht ist, wohingegen Vertragsrecht immer nur Recht für die Vertragspartner ist, mag die Teilnahme auch universell sein. So erörtert er in den einzelnen Kapiteln des Manual stets zunächst die gewohnheitsrechtliche Position, um dieser dann gegebenenfalls vertragsrechtliche Regelungen auch allgemeiner Form anzufügen. Der weitere Aufbau der Darstellung beginnt mit den Subjekten des Völkerrechts, insbesondere der staatlichen Souveränität und Hoheitsgewalt (jurisdic-
53 So betont er einerseits, daß die Staaten selbst sich stets auf Recht berufen und wendet sich andererseits gegen die Thesen John Austins, Power Politics (Anm. 46), S. 202 f. und 216. 54 Schema Manual (Anm. 34), S. 27.
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tion), geht zu den Objekten des Völkerrechts, Landgebiet und Meer, Individuen und Unternehmen etc., Schiffe und Flugzeuge. Es folgen das Vertragsrecht, das Recht des bewaffneten Konflikts, einschließlich der Neutralität, und das Recht der internationalen Organisationen und Institutionen. So entsteht ein geschichtetes Gefüge des Völkerrechts nach seinen Grundlagen in allgemeinen Normen und in den einzelnen Regelungen des positiven Rechts. Auf die von Schwarzenberger behandelten inhaltlichen Fragen wurde bereits verwiesen. Einen nicht unerheblichen Raum widmet er dem Recht des bewaffneten Konflikts.55 Das war in der ersten Phase nach dem Krieg nicht sehr üblich. Das Rechts der Friedensordnung stand im Vordergrund. Darin tritt die völkerrechtliche Bedeutung seiner Auffassung hervor, daß die UNO eine quasi-Ordnung der power-politics in disguise sei, durch die sich an der grundsätzlichen Struktur der internationalen Gesellschaft nichts ändere, zumal die Beschlußfassung im Sicherheitsrat wegen der Vetorechte stets ungewiß ist. Aber sie erlaubt doch, den Versuch zu unternehmen, die Grenzen eines rechtmäßigen Gebrauchs von Gewaltmaßnahmen zu bestimmen und zwischen den Folgen eines legalen oder illegalen Kriegen zu unterscheiden.56 Schwarzenberger vertritt dazu eindeutig die Auffassung, daß sowohl für den illegal wie für den legal Kriegführenden das gewohnheitsrechtliche wie das vertragsrechtliche Kriegsrecht gälte, auch wenn der illegale Krieg, in der Regel ein Angriffskrieg, selbst bereits ein Kriegsverbrechen darstellen sollte.57 Das entspricht der heute allgemein vertretenen Auffassung zum nunmehr sogenannten humanitären Völkerrecht. Schwarzenberger geht aus von dem Paradox, daß Krieg in der unorganisierten wie in der organisierten internationalen Gesellschaft der Machtpolitik oder verschleierten Machtpolitik, das letzte Mittel ist, um dem Feind seinen Willen aufzuzwingen und dieses Machtinstrument nun durch Rechtsregeln in seiner Wirkung begrenzt und kontrolliert werden soll. Diesen „bewildering nexus between the rule of law and the rule of force in a state of war“ versucht er durch die geschichtliche Entwicklung fortschreitender Zivilisation als einen Kompromiß zwischen dieser und den Notwendigkeiten des Krieges zu erklären.58 „Resort to force in any form is a step back in an ever contnuing civilizing process“59 Die Funktion des Kriegsrechts sei es, den völligen Rückfall in eine absolute Barbarei und Anarchie aufzuhalten oder zu
55 Band 2 des „International Law“, (Anm. 33), Manual Kapitel 7 uns 8, sowie zahlreiche Aufsätze. 56 Manual, (Anm. 34), S. 182 f. 57 Ibd. S. 190 ff., International Law II, (Anm. 33), S. 96 ff. 58 International Law, Bd. 2, (Anm. 33), S. 9 ff. 59 ibd. S. 10.
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vermeiden. Es war und ist dies ein ständiger Prozeß der Auseinandersetzung zwischen beiden Prinzipien, in dem nicht immer sicher ist, daß die Zivilisation sich als stärker erweist. Gerade diese Grundlegung des Rechts im Kriege zeigt, daß Schwarzenberger zwar Realist ist, aber diese realistische Analyse für eine Stärkung der Funktion des Rechts in der Ordnung der internationalen Gesellschaft einsetzt. Damit wird auch deutlich, daß er in dieser zumindest ein gemeinsames grundlegendes Interesse und damit einen Trend zur Gemeinschaft ausmacht, den Fortschritt der Zivilisation. Sie wird von ihm nicht behauptet oder vorausgesetzt, sondern als gegeben festgestellt. Aber die Probleme der organisierten internationalen Gesellschaft beschäftigen ihn auch darüber hinaus.60 Mit ihr entsteht eine neue Rechtsebene, das international constitutional law. Der Begriff bezog sich bei Schwarzenberger jedoch nur auf das Recht der zwischenstaatlichen Organisationen oder Institutionen. Das „internationale Verfassungsrecht“ bildete also noch kein allgemeines Völkerrecht einer organisierten internationalen Staatengemeinschaft, wie es heute häufig verstanden wird. Er unterscheidet für seine Darstellung verschiedene Typen internationaler Organisationen, wobei er allein den rechtsprechenden Einrichtungen den dritten Band seines „Internationale Law“ widmet und so deren neue Bedeutung hervorhebt. Durch diese „constitutions“ sei eine komplexe Superstruktur entstanden, die z. T. durch Konsens das Gewohnheitsrecht in wesentlichen Punkten abgeändert hat, u. a. die Regel der Einstimmigkeit und der Gleichheit bei Beschlußfassungen „in order to make possible the achievement of common objectives“. Wiederum wird deutlich, daß für Schwarzenberger solche Gemeinsamkeit der Ziele, die strukturell eigentlich der internationalen Gemeinschaft und nicht der internationalen Gesellschaft zugehört, auch in dieser zu finden ist und auch gemeinsam durch Koordination und Kooperation in den entsprechenden Institutionen verfolgt werden und dafür zu besonderen, herkömmliches Recht ändernden verfassungsrechtlichen Ordnungen führen. Schwarzenberger schließt sein „Manual“ ab mit Überlegungen zu Aussicht und Bedeutung des Völkerrechts im nuklearen Zeitalter. Für eine Entwicklung der quasi-Ordnung der UNO zu einer echten Welt-Ordnung sieht er keine Chance. Das hat nach seiner Auffassung Auswirkungen für die Sicherung der Menschenrechte durch den in den sechziger Jahren nur in Entwürfen vorliegenden universellen Menschenrechtsvertrag. Denn unabhängig von den Zweifeln, ob sich die gespaltene Weltgesellschaft auf gemeinsame Werte für einen solchen Vertrag einigen könne, könne er letztlich nur dann Wirksamkeit entfalten, wenn die institutionelle Weltordnung entsprechend ausgestaltet werde, so durch eine Einrichtung
60 Bände 3 und 4 des „International Law“ (Anm. 33); Kap. 9 bis 11 Manual, (Anm. 34).
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eines internationalen Gerichtshofes, vor dem Staaten verklagt werden könnten, die gegen die Menschenrechte verstoßen, sei es durch die Betroffenen, sei es durch andere Staaten oder die UNO. Eine Durchsetzung durch den Sicherheitsrat werde nur gegen Nicht-Vetomächte zum Zuge kommen. Schwarzenberger ist daher im höchsten Maße skeptisch, ob das erreicht werden kann. Denn eigentlich erfordere die Verwirklichung weltweiter Menschenrechte den Weltstaat. Nicht diesen, sondern eine universelle Konvention der Menschenrechte fordern, heiße, den Karren vor das Pferd zu spannen.61 Die Entwicklung hat zwar inzwischen gezeigt, daß es mit den neuen Gerichten auf regionaler und Weltebene Zwischenlösungen gibt, wenn sie auch Defizite haben. Die Versuche, diese im Extremfall durch Gewaltanwendung auszugleichen, stehen allerdings in dem Verdacht auch den power politics zuzugehören. Schwarzenberger ordnet dem Völkerrecht trotz seiner Bindung an die Machtpolitik eine maßgebende, auch entwicklungsfähige Funktion in der Ordnung der internationalen Gesellschaft ein. Es sind gerade seine induktive Methode und die Verbindung zur Rechtssoziologie, die ihm die Funktion des Völkerrechts in der internationalen Gesellschaft erschließen. Allerdings eignet diesen Ansätzen bei Schwarzenberger auch eine gewisse Einseitigkeit, wie sie umgekehrt auch einer deduktiven Methode und einer dogmatischen Fixierung allein auf die Normen eignet. Es scheint notwendig, beides miteinander zu verknüpfen. Auch Schwarzenberger setzt Frieden als das Ziel und seine Sicherung als den Zweck des Völkerrechts und damit als Kriterium seiner Entwicklung und Gegenpol zur Machtpolitik. Das positive Völkerrecht spannt sich zwischen beiden. Darum ging es Schwarzenberger seit seinem Eintritt in das Commonwealth Institute, das zwar nicht pazifistisch ausgerichtet war, aber, auch nach seiner Umwandlung in das Institute for World Affairs, der Forschung der Friedenssicherung diente.
III. Stellung in der Völkerrechtswissenschaft und Rezeption Schwarzenbergers Weg in der akademischen Welt Großbritanniens war, wie dargelegt, schwierig. Das hatte viele Gründe. Wissenschaftlich stand er mit seiner induktiven Methode einerseits und dem rechtssoziologischen Ansatz der power politics außerhalb des mainstream vor allem der Cambridger Schule um Arnold McNair und Hersh Lauterpacht. Er trat dieser in mancher Hinsicht sogar entge-
61 Manual (Anm. 34), S. 381 f.
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gen. Denn insbesondere Lauterpacht folgte einer deduktiven Methode und ihm fehlte jeder rechtssoziologische Ansatz.62 Diese beiden englischen Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts mit deutscher Herkunft stehen, so scheint es dem heutigen Betrachter, an den beiden Enden völkerrechtswissenschaftlicher Möglichkeiten, dort der juristische Systematiker, der das Recht mit Gründen einer logischen Vernunft als eine lückenlose, die Politik einschränkende wenn auch nicht perfekte normative Ordnung begreift, hier der rechtssoziologisch orientierte juristische Realist und Skeptiker, der versucht, von unten her das Recht aufzubauen, das er in Abhängigkeit von der Macht bestimmt. Schwarzenberger war in Deutschland nicht nur nicht schulbildend,63 auch eine Rezeption hat weder in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen und der Völkerrechtssoziologie und der Völkerrechtswissenschaft trotz der wissenschaftlichen wie persönlichen Präsenz in der Bundesrepublik stattgefunden.64 Die allgemeine Völkerrechtsliteratur begnügt sich mit kurzen Hinweisen und Erwähnungen, oft nur mit bloßer Nennung seiner Hauptwerke im Literaturverzeichnis.65 Zwar werden die größeren Werke Schwarzenbergers regelmäßig in den deutschen Völkerrechtszeitschriften besprochen oder doch vorgestellt, aber gründlichere Auseinandersetzungen fehlen. Sein machtpolitisch orientierter Ansatz wird, wenn er aufgegriffen wird, in der Regel pauschal zurückgewiesen.66
62 Zu Lauterpacht Martii Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001, S. 353ff; ders. Lauterpacht: The Victorian Tradition in International Law, 2 European Journal of International Law (1997) 215–263; ders. Introduction zu Hersh Lauterpacht, The Function of Law in the International Community, Oxford 1933, Neudruck Oxford 2011. S. XXIX–XLVI. 63 Steinle, Völkerrecht (Anm. 1), S. 225. 64 Ich beschränke mich auf diese und lasse mögliche Einflüsse auf die anglo-amerikanische Wissenschaft beiseite. 65 Wilhelm Sauer, System des Völkerrechts, Bonn 1952, S. 53 ff. Georg Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, Stuttgart 1958, S. IX. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, I. Band Allgemeines Friedensrecht, 2. Aufl., München 1975, S. 25, Anm. 121; Alfred Verdroß, Völkerrecht, 5. Aufl., Wien 1964; Ignaz Seidl-Hohenfeldern, Völkerrecht. 4. Aufl. Köln 1980, S. VII; Georg Dahm-Jost DelbrückRüdiger Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/1, 2. Aufl., Berlin/New York 1989, S. 2 ff., führen. Schwarzenbergers Hauptwerke International Law und Manual (oben Anm. 33 und 34), anders als die 1. Auflage, auch nicht mehr in ihrer Liste der „Gesamtdarstellungen und Werke allgemeinen Charakters“ auf, S. XIX.; Alfred Verdroß/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3./4. Aufl., Berlin 1984/2010, S. 48 f. 66 Aber in der ZaöRV werden weder die englischen Ausgaben noch die deutsche Fassung von Power Politics besprochen.
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In der Literatur der Völkerrechtssoziologie wird er zwar von einigen Autoren herangezogen, hat aber auch auf sie keinen nachhaltigen Einfluß ausgeübt.67 Die Gründe für die geringe Resonanz werden vielfältig sein. Um sie zu klären, wäre eine Geschichte der deutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945 insgesamt zu schreiben, über ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten, personell, inhaltlich und institutionell, in das Dritte Reich, aber auch weit darüber hinaus in das 19. Jahrhundert.68 Stephanie Steinles den persönlichen Lebensweg einfühlsame und die wissenschaftliche Arbeit sorgsam und umsichtige recherchierte Biographie ist die erste gründlichere Bemühung, seine Person und sein Werk zu erfassen. Wenn es auch gute Gründe aus dem Leben Schwarzenbergers gibt, ihn in diese Sammlung aufzunehmen, so darf er doch nicht für das öffentliche Recht Deutschlands „vereinnahmt“ werden. Denn er ist nach der erzwungenen Emigration persönlich weit weg und inhaltlich letztlich fremd geblieben.
Schwarzenberger – Literatur Eigene Werke – Auswahl Bücher Power Politics – A Study of International Society, London 1941, 1951 und 1964 (?); Machtpolitik – Eine Studie über die Internationale Gesellschaft, übers. v. Anneliese Herbst, Tübingen 1955. „International Law as Applied by International Courts and Tribunals“ Bd. 1, 1. Aufl., London 1945, 2. Aufl. 1949, 3. Aufl. 1957, weitere Nachdrucke; Bd. 2, The Law of Armed Conflict, London 1968; Bd. 3, International Constitutional Law, London 1976; Bd. 4, International Judicial Law, London 1986.
67 Edda Blenk-Knocke, Zu den soziologischen Bedingungen völkerrechtlicher Normenbefolgung – Die Kommunikation von Normen, Ebelsbach 1979, S. 77 ff., zu Schwarzenberger S. 82 ff. Es werden z. T. völlig andere soziologische Konzepte zugrunde gelegt, z. B. Wilhelm Wengler, Völkerrecht Bd. 1, Berlin etc. 1964, S. 3 ff. der aber Schwarzenbergers Konzept nicht einmal erwähnt. 68 Einiges ist in den Biographien deutscher Völkerrechtler im Rahmen des von Michael Stolleis geleiteten DFG Projektes „Ideengeschichte des Völkerrechts zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus“ vorgelegt worden, die seit 2001 in der ebenfalls von Michael Stolleis herausgegebenen Reihe „Studien zur Geschichte des Völkerrechts“ im Nomos-Verlag erschienen sind. Auch zum Völkerrecht im Nationalsozialismus liegen einige Untersuchungen vor, wenn auch noch keine umfassende Gesamtdarstellung. Aber zur Nachkriegszeit fehlen sie.
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A Manual of International Law, 1. Aufl. London 1947, weitere Auflagen 1950, 1952, 1960, 1967, 1978; dt. in gekürzter Fassung „Einführung in das Völkerrecht“, Übers. v. Hans-Jürgen Schlochauer, Tübingen 1951
Aufsätze The rule of Law and the Desintegration of the International Society, AJIL 33 (1939), 56–77; International Law and Totalitarian Lawlessness, AJIL 37 (1943). Three Types of Law, Ethics 53 (1943) 89 ff.; Jus Pacis Ac Belli, Current Legal Problems 2 (1949) 103 ff. The inductive Approach to International Law, Harvard Law Review 60 (1947) 159 ff. Die induktive Methode im Völkerrecht, Jahrbuch für Internationales und ausländisches öffentliches Recht, 2 (1949), 676–689 The Misery and Grandeur of International Law, An Inaugural Lecture Delivered at University College London, 24 October 1963, London 1963, wieder abgedruckt in: Current Legal Problems 17 (1964) 184–210.
Sekundärliteratur Stephanie Steinle, Völkerrecht und Machpolitik Georg Schwarzenberger (1908–1991), Studien zur Geschichte des Völkerrechts 3, hrsg, v. Michael Stolleis, Baden-Baden 2000
XLIX Werner Kägi (1909–2005) Walter Haller „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung“ heisst der Titel von Werner Kägis Habilitationsschrift, die inmitten der Kriegsjahre entstand, 1945 veröffentlicht wurde und beim Wiederaufbau der staatlichen Ordnung in Deutschland grosse Beachtung fand. Der Kampf um eine Verfassungsordnung, welche Gerechtigkeit verwirklicht und staatliche Macht bändigt, stand im Zentrum von Kägis Wirken. Dabei ging sein Einfluss weit über die Grenzen der juristischen Fachwelt und der Universität hinaus.
I. Curriculum Werner Kägi wurde am 26. August 1909 in Biel geboren. Seine Jugend verbrachte er in Davos. Die Mittelschulzeit schloss er mit der Handelsmaturität ab. Es folgten eine längere Tätigkeit bei einer Bank und ein Studienaufenthalt in London. Im Herbst 1930 immatrikulierte sich Kägi an der Universität Zürich für das Studium der Rechtswissenschaft. Was er später seinen Studenten mit auf den Weg gab, nämlich dass ein Nur-Jurist – mit den Worten Martin Luthers – ein „arm Ding“ sei, nahm er sich schon damals zu Herzen. Ausser mit juristischen Fächern befasste er sich intensiv mit theologischen und philosophischen Fragestellungen und mit der Geschichte. Dieses breite Interessenspektrum kennzeichnete auch sein späteres Wirken. Als Student und Doktorand sympathisierte Kägi mit nationalsozialistischem Gedankengut. Mit Carl Schmitt stand er in brieflichem Kontakt.1 Sein damals autoritär angehauchtes Staatsverständnis und sein ambivalentes Verhältnis zur individuellen Freiheit kamen noch in seiner Doktorarbeit über „Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes“, mit der er 1936 promovierte, zum Ausdruck. Dennoch ermunterte ihn sein sehr liberaler, anderen Auffassungen gegenüber äusserst toleranter Doktorvater Zaccaria Giacometti zur wissenschaftlichen Laufbahn. Offensichtlich machte Kägi relativ früh einen inneren Reifeprozess durch, distanzierte sich klar von reaktionären Staatstheo-
1 Nachweise bei Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich/St. Gallen 2011, S. 155.
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rien, die das Ende des Verfassungsstaates proklamierten, und rief schliesslich auch Hans Huber, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband, zur Besinnung auf.2 Seine Publikationen ab 1940 durchzieht wie ein roter Faden ein beharrliches Eintreten für rechtsstaatliche Werte, für die Demokratie und für eine föderalistische Grundordnung.3 Nach Abschluss seines Studiums machte sich Kägi an einem erstinstanzlichen Gericht und in einer führenden, international ausgerichteten Zürcher Anwaltskanzlei mit der praktischen Seite des juristischen Berufes vertraut. Während des Zweiten Weltkrieges war er zudem mit der Leitung der juristischen Abteilung der für polnische Internierte errichteten Felduniversität in Winterthur betraut. Im Jahr 1943 habilitierte sich Werner Kägi, und auf das Sommersemester 1946 wurde er zum ausserordentlichen Professor für Staatsrecht, Kirchenrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Zürich gewählt. Nach dem frühen Tod von Dietrich Schindler sen. sowie Studienaufenthalten in England und Den Haag, die dem vertieften Studium des Völkerrechts dienten, unterrichtete Kägi ab 1948 auch das Völkerrecht. 1952 wurde er, nach Ablehnung einer Berufung nach Basel und von Anfragen verschiedener deutscher Universitäten, zum Ordinarius befördert. Von 1956 bis 1958 war er Dekan der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät. Die Universität Bern ehrte ihn 1973 mit dem Ehrendoktor der Theologie, die Hebräische Universität Jerusalem 1977 mit dem juristischen Ehrendoktor. Auf Ende des Wintersemesters 1978/79 trat Kägi zurück. Nach seiner Emeritierung lebte er zurückgezogen und äusserte sich nur noch selten zu staatspolitischen Fragen. Sein schon immer vorhandener Hang zur Schwermut verstärkte sich. Im Ruhestand studierte er vor allem theologische und philosophische Werke, wobei ihn Søren Kirkegaard besonders faszinierte. Am 4. Oktober 2005 starb Kägi, von seiner Gattin Gertrud treu umsorgt.
2 Gegen einen im August 1940 erschienenen Artikel Hans Hubers in der Schweizerischen Hochschulzeitung, der den „sogenannten bürgerlichen Rechtsstaat“ als „morsch“ bezeichnet und Deutschland als Vorbild gelobt hatte, protestierte Kägi energisch in den Basler Nachrichten Nr. 290 (Beilage) vom 21. Oktober 1940. 3 Die Festschrift zum 70. Geburtstag von Werner Kägi, herausgegeben von Ulrich Häfelin, Walter Haller und Dietrich Schindler jun., Zürich 1979, trägt denn auch den die Hauptanliegen des Jubilars zusammenfassenden Titel „Menschenrechte – Föderalismus – Demokratie“. Vgl. dazu den Besprechungsaufsatz Peter Häberles in: AöR 105 (1980), S. 652 ff., auf S. 655–657.
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II. Kägi als Lehrer An der Universität profilierte sich Kägi vor allem in der Lehre. Seine in jedem Wintersemester stattfindende, fünf Wochenstunden umfassende Vorlesung über Allgemeines Staatsrecht entzündete in manchem angehenden Juristen die Begeisterung für das Recht. In dieser Lehrveranstaltung, die an der Universität Zürich eine lange Tradition hatte (als eigenständiges Grundlagenfach jedoch der mit der „Bologna Reform“ teilweise einhergehenden Banalisierung des Rechtsstudiums zum Opfer fiel), wurden im Sinne einer Allgemeinen Staatslehre der Staat, seine Funktionen und Organe, die Verfahren der staatlichen Willensbildung, die Grundrechte und ihr Schutz durch die Gerichte wie auch weitere für das Verständnis des demokratischen Verfassungsstaates zentrale Fragen, oft anknüpfend an aktuelle politische Ereignisse, in einem geistesgeschichtlichen und rechtsvergleichenden Kontext behandelt. Für die Rechtsvergleichung kam Kägi zugute, dass er während mehreren Aufenthalten in England mit dem Common Law vertraut geworden war; wer bei ihm studiert hatte, wusste um den hohen Stellenwert des britischen Rechtsdenkens für die rechtsstaatliche Entwicklung und erkannte die Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Verfassungsrecht.4 Kägi war es immer ein zentrales Anliegen, die Zusammenhänge zwischen der Jurisprudenz und anderen Wissenschaften aufzuzeigen und die ethische Fundierung des Rechts zu vermitteln; er pflegte intensive Kontakte mit Persönlichkeiten wie dem Theologen Emil Brunner oder der Philosophin Jeanne Hersch. Der Wissensstoff wurde in vielen, regelmässig interdisziplinär konzipierten Seminarveranstaltungen vertieft und lebhaft diskutiert; den Abschluss eines solchen Seminars bildete oft ein Kolloquium in Kägis Heim, bei Kuchen und Tee. Zahlreiche Studierende anderer Fakultäten, vor allem der philosophischen, sprachwissenschaftlichen und historischen Fachrichtungen, besuchten ebenfalls das Allgemeine Staatsrecht sowie daran anknüpfende Seminare und legten bei Kägi Prüfungen ab. All dies sicherte während Jahrzehnten einen fakultätsübergreifenden Diskurs über Grundfragen von Staat und Recht und zwang zur Besinnung auf rechtsstaatliche Grundwerte, was auch in zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten einfloss.
4 In einer Lehrveranstaltung Kägis erfuhr der Verfasser erstmals von der Ombudsmann-Institution; Kägi hatte kurz zuvor, im Januar 1959, an einem Kongress der Internationalen JuristenKommission in Neu Delhi einen Gedankenaustausch mit dem ersten dänischen Ombudsmann Stephan Hurwitz gehabt. Als der Verfasser 1969 in den USA war, motivierte ihn Kägi, Material über die Verbreitung direkt-demokratischer Institutionen in amerikanischen Gliedstaaten und Townships zu publizieren (um ein – allerdings äusserst schwaches – „Argument“ der damaligen Gegner des Frauenstimmrechts zu entkräften, nämlich dass nur in der Schweiz das Volk regelmässig über Sachfragen entscheide).
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Kägis Vorlesungen beeindruckten – mit den Worten Dietrich Schindlers – „nicht nur durch ihren Inhalt, sondern durch ihre einprägsamen, vollendeten Formulierungen und durch eine gewisse Feierlichkeit“.5 Für denjenigen, der sich nicht mit der Erörterung von Rechtserlassen, ihrem logischen Aufbau und ihrer höchstrichterlichen Interpretation zufrieden geben wollte, war Kägis stark von naturrechtlichem Gedankengut geprägtes Allgemeines Staatsrecht eine Quelle der Inspiration, die bis zum Ende des Studiums fortwirkte.6 Die zweite von Kägi regelmässig durchgeführte Hauptvorlesung, das Völkerrecht, vermittelte einen guten Einstieg in die Grundlagen des Faches, vermochte aber weniger als das Allgemeine Staatsrecht zu begeistern. Zwar stand der Fakultät in der Person von Dietrich Schindler jun., der sich 1956 habilitierte, ein ausgezeichneter Völkerrechtler zur Verfügung, doch kamen jüngere Dozenten damals kaum an die Hauptvorlesungen heran. So musste sich der sehr bescheidene Schindler während vielen Jahren mit völkerrechtlichen Spezialvorlesungen begnügen. Wenn Kägi mündliche Prüfungen abnahm, konnte der Kandidat leicht die Prüfungssituation vergessen. Er wurde behutsam in ein anregendes Gespräch hineingezogen, das regelmässig um grundsätzliche Fragen des Staats- oder Völkerrechts kreiste, und hatte nicht das Gefühl, einfach abgefragt zu werden. Es war daher ein glücklicher Umstand, dass Kägi während vielen Jahren auch als Mitglied der zürcherischen Anwaltsprüfungskommission sowie bei der Auswahl der Bewerber für den diplomatischen Dienst wirkte.
III. Kägi als Autor und Mahner Das Verzeichnis der Veröffentlichungen Werner Kägis, das seiner Festschrift beigegeben wurde, weist rund 200 Titel auf. Drei Themen, die Kägi in eine enge
5 Dietrich Schindler jun., in: Die Universität Zürich 1933–1983, S. 315. 6 Während vielen Jahren betreuten Werner Kägi und Hans Nef nebeneinander das Staatsrecht. Die Dualität ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung war für den Unterricht bereichernd. Vgl. dazu Dietrich Schindler jun., Das öffentliche Recht an der Universität Zürich seit 1833, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Nef, hrsg. von Ulrich Häfelin, Walter Haller, Georg Müller und Dietrich Schindler, Zürich 198l, S. 295: „Hans Nef folgte stärker der am positiven Recht und dessen logischem Aufbau orientierten Richtung Giacomettis, während Werner Kägi naturrechtlichen Gedankengängen mehr Gewicht beimass und vor allem die ethischen Grundlagen des Rechts in seine Betrachtung einbezog.“ Die Rivalität der beiden Kollegen (dazu treffend Kley [Anm. 1] S. 160) kam im Unterricht kaum zum Ausdruck, wurde aber den Doktoranden und Habilitanden zusehends bewusst.
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Wechselbeziehung zueinander setzte, stehen dabei im Zentrum: Rechtsstaat, Demokratie und Föderalismus. Schon in der Festschrift für seinen Lehrer Giacometti zeigte Kägi auf, dass der Rechtsstaat, in dessen Zentrum für ihn die Freiheit und Würde des Menschen steht, und die Demokratie untrennbar miteinander verbunden sind; die Überwindung der dezisionistisch-totalitären Auffassung der Demokratie bezeichnete er als „Schicksalsfrage des Abendlandes“.7 Unermüdlich insistierte er, dass demokratische Verfahren und Entscheide rechtsstaatlich eingebunden sein müssen und dass das „pouvoir constituant“ auch in der Schweiz, trotz des Fehlens einer Art. 79 Abs. 3 GG entsprechende Bestimmung in der BV und einer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts rege genutzten Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung, nicht alles tun dürfe.8 Allerdings beurteilte er die Institutionen der direkten Demokratie grundsätzlich positiv, im Gegensatz etwa zu seinem Freund Hans Huber.9 Sorgen bereiteten ihm jedoch die Überforderung der Stimmbürger bei Abstimmungen über komplexe Fragen und die bisweilen hohe Stimmabstinenz; für eine Verwesentlichung der Volksrechte hatte er sich schon früh eingesetzt.10 Den Föderalismus verstand Kägi als umfassende Ordnungsidee, welche das Zusammenleben in einer vielgestaltigen Gemeinschaft in Freiheit ermögliche, die Demokratie auch in einem grösseren Raum voll zur Entfaltung bringe und wirksamer vor staatlichem Unrecht schütze; insofern sei Föderalismus auch die „Staatsform des Widerstandes“.11 Als gegen Ende des Zweiten Weltkrieges der Föderalismus auf einem völlig verlorenen Posten zu sein schien, prägte der junge Kägi das später oft zitierte Wort: „Die Schweiz wird föderalistisch sein, oder sie wird nicht sein!“.12 Spezifische Fragen, die Kägi als Autor beschäftigten, waren u. a. die Stellung des Kleinstaates, die gerechte Ordnung der Völkergemeinschaft, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Souveränität und ihre Begrenzung, die Friedensaufgabe der Schweiz im Konflikt der Grossmächte, die europäische Einigung, das
7 Rechtsstaat und Demokratie (1953) S. 133. 8 Besonders eindrücklich sein Referat am Schweizerischen Juristentag 1956 über Rechtsfragen der Volksinitiative auf Partialrevision (vgl. Auswahlbibliographie), vor allem S. 829a ff. 9 Vgl. z. B. Hans Huber, Das Gesetzesreferendum, in: Rechtstheorie – Verfassungsrecht – Völkerrecht, Bern 1971, vor allem S. 553 ff. 10 An den Grenzen der direkten Demokratie? Zu einem Grundproblem unserer Verfassungspolitik. Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 22/1951, S. 53 ff.; vgl. auch Rechtliche Zuständigkeit, Sachkenntnis, Verantwortung – ein Grundproblem der Demokratie. Industrielle Organisation 1962, Heft 12. Vgl. zum Streitgespräch von 1977 zwischen Werner Kägi und Richard Bäumlin Kley (Anm. 1) S. 300 ff. 11 Warum noch Föderalismus? (1971) S. 12. 12 Vom Sinn des Föderalismus (1944), S. 44.
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Widerstandsrecht, der Minderheitenschutz, das Recht auf Leben, die Gleichberechtigung der Frauen, das Flüchtlings- und Asylrecht, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie die religiöse und ethische Fundierung des Rechts. Verschiedentlich befasste er sich in Artikeln mit dem ungarischen Oktober-Aufstand 1956 (in diesem Zusammenhang hatte er eine Kundgebung in Zürich organisiert)13 und mit dem am tibetanischen Volk begangenen Unrecht. In Würdigungen zu runden Geburtstagen wurde Kägi immer wieder als „Mahner“ charakterisiert.14 Wie in der Lehre, so setzte er sich auch in seinen Schriften für eine gerechte Ordnung des Gemeinwesens ein, förderte das Verständnis für staatliche Grundwerte, mahnte vor Entartungen, kritisierte Missstände, ja führte einen eigentlichen Kampf um Recht und Gerechtigkeit. Die meisten seiner Aufsätze zeichnen sich durch eine eindringliche, klare Sprache und einen auf das absolut notwendige beschränkten Anmerkungsapparat aus (Letzteres wäre heute bei einem Rating der „Forschungsqualität“ äusserst nachteilig!) Kägi wollte sein Wirken nicht auf die Universität beschränken, schrieb regelmässig in renommierten Tageszeitungen, meldete sich immer wieder im Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft und in der evangelischen Zeitschrift Reformatio zu Wort; dadurch vermochte er weite Kreise der Bevölkerung zu erreichen. Wissenschaft im Sinne eines „l’art pour l’art“ war ihm fremd.
IV. Kägis Beitrag zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates Ein früher Aufsatz Kägis war der rechtsstaatlichen Entwicklung in der Schweiz gewidmet.15 Später leistete Kägi einen wichtigen Beitrag zu Verfassungsrevisionen, welche zum Abbau rechtsstaatlicher Mängel führten. Die Schweiz ratifizierte erst im November 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950. Wesentliche Hindernisse für einen Beitritt zur EMRK waren lange Zeit vor allem das fehlende Frauenstimmrecht und die konfessionellen Ausnahmeartikel gewesen. Kägi trug mit Gutachten, Zeitungsartikeln und Vorträgen dazu bei, dass diese zu einer grossen Belastung für dem
13 Dazu Peter Stadler, in: Die Universität Zürich 1933–1983, S. 93. 14 Z. B. Dietrich Schindler in Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Nr. 196 vom 25./26.8.1979, S. 36 und NZZ Nr. 197 vom 26./27.8.1989, S. 24; Daniel Thürer in NZZ Nr. 197 vom 26.8.1999, S. 16; Hans Peter Moser in ZBl 80 (1979) 329. 15 Zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates seit 1848 (1952).
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demokratische Rechtsstaat gewordenen Bestimmungen aus der Verfassung entfernt werden konnten. Auf Bundesebene wurde das Stimm- und Wahlrecht der Frauen erst 1971 eingeführt.16 Kägi hatte sich schon fünfzehn Jahre zuvor in einem berühmt gewordenen Gutachten nachdrücklich für die politische Gleichberechtigung der Frauen ausgesprochen.17 Leider scheiterte 1959 die erste Volksabstimmung über das eidgenössische Frauenstimmrecht klar. In der Folge bekannten sich aber, angeführt von den im Allgemeinen fortschrittlicheren Kantonen der französischsprachigen Romandie, immer mehr Kantonsverfassungen zur politischen Gleichberechtigung der Geschlechter, und am denkwürdigen 7. Februar 1971 stimmte das letztmals ausschliesslich männlich zusammengesetzte Stimmvolk mit einem Ja-Anteil von zwei Dritteln dem vollen Erwachsenenstimmrecht zu. Kägis unermüdlicher und leidenschaftlicher Einsatz ex cathedra und vor allem in der politisch interessierten Öffentlichkeit hatte wohl zu diesem guten Ergebnis beigetragen. Die konfessionellen Ausnahmeartikel stellten eine schwere Altlast dar für eine Verfassung, die sich zu den Menschenrechten bekannte. Die Anfänge des schweizerischen Bundesstaates waren von religiösen Gegensätzen geprägt. Der Gründung des Bundesstaates 1848 war die Auflösung des Sonderbundes der katholisch-konservativen Kantone mit militärischer Gewalt („Sonderbundskrieg“) vorausgegangen. In Art. 58 der ersten Bundesverfassung wurde ein Verbot des Jesuitenordens aufgenommen. Als die Verfassung einer Gesamtänderung unterzogen wurde, stand der sog. Kulturkampf (die durch das erste Vatikanische Konzil wieder angeheizten religiösen Konflikte) auf einem Höhepunkt, mit der Folge, dass die Bundesverfassung von 1874 die antiklerikalen Bestimmungen verschärfte. Insbesondere wurde das Jesuitenverbot (neu Art. 51) durch den Klosterartikel (Art. 52) ergänzt, der die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden verbot. Diese schwer wiegenden Einschränkungen der Religionsfreiheit begründete man mit dem „Schutz der öffentlichen Ordnung“ und der „Erhaltung des konfessionellen Friedens“.
16 Revidierter Art. 74 aBV. Die Regelung des Stimmrechts in Kantonen und Gemeinden blieb den Kantonen vorbehalten (Art. 43 aBV). Einige Kantone hatten das Frauenstimmrecht schon vor dem Bund eingeführt. Der Kanton Appenzell Innerrhoden musste jedoch im Jahr 1990 (!) durch das Bundesgericht dazu gezwungen werden, gestützt auf eine Auslegung des 1981 revidierten Gleichheitssatzes, der neu ausdrücklich Mann und Frau als gleichberechtigt erklärte (Art. 4 Abs. 2 aBV): vgl. BGE 116 Ia 359. 17 Der Anspruch der Schweizerfrau auf politische Gleichberechtigung, mit einem Vorwort von Max Huber (1956). Vgl. S. 55: „Die folgerichtige Fortbildung unserer Verfassungsordnung fordert den Übergang zum Erwachsenenstimmrecht durch die Anerkennung der politischen Gleichberechtigung der Frau.“
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Kägi, ein tief religiöser Mensch mit fester Verankerung in der evangelischreformierten Landeskirche, äusserte wiederholt und dezidiert die Auffassung, dass die Vorwürfe gegen den Jesuitenorden und die Klöster im Geist der Objektivität neu zu überprüfen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen seien. Im Mai 1959 beauftragte ihn der Bundesrat mit der Vorbereitung eines eingehenden Berichts zur Aufhebung der Art. 51 und 52 aBV. Diese Aufgabe sollte Kägi während den folgenden zehn Jahren beschäftigen, und er zerbrach schier daran. Gestützt auf ein umfassendes Quellenstudium analysierte er die Ausnahmeartikel in einem ausserordentlich weit gezogenen historischen und staatsrechtlichen Kontext und leitete daraus verfassungspolitische Schlussfolgerungen ab, vor allem dass die Ausnahmeartikel in einem solchen Masse „unrichtiges Recht“ geworden seien, dass man sie aufheben müsse. Den die Schlussfolgerungen enthaltenden III. Teil gab Kägi auf wiederholtes Drängen der Regierung im Juni 1969 ab, die anderen beiden Teile lieferte er später nach.18 Noch stärker als bei seinem Kampf ums Frauenstimmrecht musste er gegen tief verwurzelte Vorurteile ringen und viele Anfeindungen ertragen. Im Wesentlichen gestützt auf Kägis Erwägungen beantragte der Bundesrat dem Parlament die Aufhebung der beiden konfessionellen Ausnahmeartikel.19 Die beiden Parlamentskammern stimmten diesem Vorschlag zu. Volk und Stände hiessen die überfällige Verfassungsänderung nach einem harten Abstimmungskampf im Mai 1973 gut.
V. Bewertung aus heutiger Sicht Werner Kägi hat während nahezu vier Jahrzehnten das kulturelle und politische Leben in der Schweiz in wesentlichem Masse mitgeprägt. Seine Ausstrahlung ging aber weit über die Landesgrenzen hinaus. Das Werk über die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates wurde nach dem Krieg in Deutschland stark beachtet und 1971 in Darmstadt neu aufgelegt. Spätere wissenschaftliche Arbeiten, vor allem über die Wechselbeziehungen von Demokratie und Rechts-
18 In einer 1973 erschienenen Sonderausgabe ist das gesamte Gutachten abgedruckt. In einem längeren Vorwort Kägis findet sich ein markanter Satz, der auf das im November 2009 auf Grund einer Volksinitiative in die Verfassung aufgenommene Verbot des Baus von Minaretten (Art. 72 Abs. 3 BV) gut passen würde: „Es gibt steinharte Vorurteile, an denen alle Gegenargumente abprallen und die für keinen Dialog und keine Beweisführung mit Vernunftgründen zugänglich sind.“ 19 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 23.12.1971, Bundesblatt 1972 I S. 105 ff.
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staat sowie über den Föderalismus, trugen ebenfalls dazu bei, Kägi einen festen Platz in der staatsrechtlichen Literatur zu sichern.20 Vor der Wende in Südafrika waren Schriften Kägis – wie der Verfasser dort in Gesprächen mit Kollegen feststellen konnte – in Juristenkreisen, die sich mit dem damaligen Unrechtsregime nicht abfinden wollten, eine Quelle der Inspiration. Kägi war unzähligen Juristinnen und Juristen ein Vorbild; vor allem vermittelte er eine ethische Grundhaltung, die ihnen nach dem Studium bei der Wahrnehmung verantwortungsvoller Aufgaben in Justiz, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zustatten kam. Viele spornte er zu eigener wissenschaftlicher Arbeit an. Daraus entstand eine beachtliche Dissertations-Literatur. Nicht selten erkennt man bei der Lektüre wissenschaftlicher Arbeiten die Handschrift des Meisters, auch wenn nur ein Schüler Kägis oder andere Sekundärliteratur als Quelle zitiert wird. Immerhin wird heute noch in bedeutenden Standardwerken zum Staatsrecht an zentraler Stelle ausdrücklich auf Kägis Lehren Bezug genommen.21 Heute fehlt Kägis mahnende Stimme, etwa dann, wenn im Zusammenhang mit menschenrechtswidrigen Volksinitiativen Befürworter einer dezisionistischtotalitären Demokratie publikumswirksam argumentieren, das Volk dürfe alles tun, und die Volkssouveränität habe Vorrang vor dem Minderheitenschutz und anderen rechtsstaatlichen Werten wie dem Verhältnismässigkeitsprinzip.22 Eindrücklich hatte Kägi gewarnt, dass die Behauptung des schrankenlosen Rechtes
20 So weist Klaus Stern darauf hin, dass die Synthese von Rechtsstaat und Demokratie von Kägi am stärksten herausgearbeitet worden sei; vgl. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. I: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl. München 1984, S. 623 Anm. 231. In diesem Werk wird vor allem in § 3 über die Verfassung wiederholt und eingehend auf Kägis Verfassungsbegriff als Grundordnung des Staates Bezug genommen. Vgl. zur Bedeutung von Kägis rechtsstaatlich-materialem Verfassungsverständnis für die schweizerische Staatsrechtslehre Felix Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. Und 20. Jahrhundert, Zürich 1968, S. 479 ff. 21 Vgl. aus Nachbarländern der Schweiz statt vieler Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. I, 3. Aufl. Heidelberg 2003, der in Rz. 121 (Anm. 174) Kägi als grundlegend für die Entwicklung der Kategorie der materiellen Verfassung bezeichnet; Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht, Wien 2004, S. 29; Giuseppe de Vergottini, Diritto costituzionale comparato Bd. 1, 9. Aufl. Bologna 2013, S. 343 (der Kägi als Verfechter der „costituzione come fondamento normativo dello stato“ anführt). 22 In den letzten Jahren wurden in Volksabstimmungen mehrere Initiativen angenommen, die zu Menschenrechten und völkerrechtlichen Verpflichtungen im Widerspruch stehen, z. B. 2009 das Verbot des Baus von Minaretten (ein neuer, diesmal gegen die Moslems gerichteter konfessioneller Ausnahmeartikel!; Art. 72 Abs. 3 BV), und 2010 die Volksinitiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ (Art. 121 Abs. 3–6 BV).
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der jeweiligen Mehrheit bis zur Hybris der Identifikation „Vox populi – vox Dei!“ zu „demokratischer Selbstzerstörung“ führe.23
Auswahlbibliographie Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre. Dissertation Zürich 1937. Vom Sinn des Föderalismus. Gedanken zur Verfassungspolitik. Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 15/1944, S. 44–59. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht. Habilitationsschrift Zürich 1945. Zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates seit 1848. Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) NF 71 (1952) I, S. 173–236. Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese). In: Demokratie und Rechtsstaat, Festschrift zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 107–142. Der Anspruch der Schweizerfrau auf politische Gleichberechtigung. Gutachten, hrsg. vom Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht, Zürich 1956. Rechtsfragen der Volksinitiative auf Partialrevision: Ein Beitrag zur Lehre von den inhaltlichen Schranken, ZSR NF 75 (1956) II, S. 739a–885a. Das Massenproblem in der direkten Demokratie. In: Masse und Demokratie, Erlenbach/ Stuttgart 1957, S. 85–114. Föderalismus und Freiheit. In: Erziehung zur Freiheit, Erlenbach/Stuttgart 1959, S. 171–193. Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung (erstarrte Formeln – bleibende Idee – neue Formen). In: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Huber, Bern 1961, S. 151–173. Die rechtliche Entwicklung vom Kolonialregime zur nationalen Unabhängigkeit. In: Europa und der Kolonialismus, Zürich/Stuttgart 1962, S. 123–164. Die Grundordnung unseres Kleinstaates und ihre Herausforderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Das schweizerische Recht, Besinnung und Ausblick, Festschrift des Schweizerischen Juristenvereins zur Schweizerischen Landesausstellung in Lausanne, Basel 1964, S. 1–30. Die Menschenrechte und ihre Verwirklichung. Unsere Aufgabe und Mitverantwortung, Aarau 1968. Vom Kampf um das Recht in der Gegenwart. In: Das Problem des Fortschrittes – Heute, Darmstadt 1969, S. 164–182. Warum noch Föderalismus? Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Solothurn 1971. Gutachten zuhanden des Bundesrates zum Jesuiten- und Klosterartikel der Bundesverfassung, 1973. Herausforderung und Chance für einen schöpferischen Föderalismus. In: Ja zum Kanton Jura. Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 49/1978, S. 242–252.
23 Der Kampf um das Recht in der Gegenwart, S. 177. Vgl. auch Anm. 8.
L Wilhelm G. Grewe (1911–2000) Jochen A. Frowein
I. Leben Wilhelm Grewe nimmt unter den in diesem Band behandelten Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts einen einmaligen Platz ein. Der ordentliche Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Freiburg wurde 1951 in den entstehenden Kreis derer berufen, die die deutsche Außenpolitik als Berater wesentlich beeinflussen sollten. Bis zu seiner Pensionierung als Botschafter im Jahre 1976 war er in hohen Stellungen der deutschen Diplomatie tätig, veröffentlichte aber weiterhin als Wissenschaftler im Bereich des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen. Nach seiner Pensionierung widmete er sich diesem Werk weiter. Grewe wurde am 16.10.1911 in Hamburg geboren und starb am 11.1.2000 in Bonn. Er studierte in Hamburg, Berlin, Freiburg und Frankfurt. 1936 promovierte er in Hamburg mit der Arbeit „Gnade und Recht“, die von E. Forsthoff betreut wurde. 1939 legte er die zweite juristische Staatsprüfung ab und wurde Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. 1941 habilitierte er sich in Königsberg in Preußen unter Verantwortung von Forsthoff mit der Schrift „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“. 1943 wurde er zum außerordentlichen Professor an der Universität Berlin ernannt. Von 1945 an lehrte Grewe in Göttingen, und 1947 wurde er ordentlicher Professor in Freiburg, wo er bald auch das Dekanat übernahm. Danach begann die Zeit, in der er für die deutsche Außenpolitik wesentliche Verantwortung trug. Von 1951 bis 1955 leitete er die deutsche Verhandlungsdelegation für die Ablösung des Besatzungsstatuts. Der zunächst unter dem Namen Generalvertrag bekannt gewordene spätere Deutschlandvertrag wurde wesentlich von ihm mitgestaltet. Grewe hat 20 Jahre später eindrucksvoll über die Verhandlungen berichtet.1 1953 übernahm er dann für kurze Zeit die Leitung der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, um von 1955 bis 1958 der politischen Abteilung vorzustehen. 1954 und 1955 war er Beobachter der Bundesregierung bei den Vier-Mächte-Konferenzen von Berlin und Genf. 1955/56 führte er den Vorsitz der Wahlrechtskommission beim Bundesminister des Innern.
1 W. Grewe, Der Deutschland-Vertrag nach zwanzig Jahren, in: Blumenwitz u. a. (Hsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit, 1976, 698–718.
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1958 wurde Grewe deutscher Botschafter in Washington. Seine Haltung nach dem Bau der Berliner Mauer im Herbst 1961, die eine harte Reaktion der Westmächte forderte, führte zu Differenzen mit dem amerikanischen Präsidenten Kennedy. Grewe wurde 1962 zum Botschafter und ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Nordatlantikpakt-Organisation ernannt und blieb dort bis 1971, wobei die Vertretung zunächst in Paris und dann in Brüssel war. Die letzte Station seiner diplomatischen Laufbahn führte ihn in den Fernen Osten, wo er die Bundesrepublik Deutschland von 1971 bis zum Eintritt in den Ruhestand als Botschafter in Tokio und später auch in Ulan Bator vertrat. Seit 1976 widmete er sich neben vielfältigen Vortragsverpflichtungen und der Auswertung seiner großen Erfahrung als Berater und Mitgestalter der Außenpolitik wieder der Wissenschaft, vor allem der Völkerrechtsgeschichte, die sein Leben begleitet hat.
II. Außenpolitiker und Diplomat Eine Würdigung des Werkes von Grewe kann seine Arbeit als wesentlicher Gestalter der grundlegenden Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland nach ihrer Gründung nicht übergehen. Er hat in den „Rückblenden 1951–1976“ (1979) eindrucksvoll über diese Phase berichtet. Die Grundgedanken des Systems der auf Deutschland bezogenen Verträge hat er auch in der Einleitung zu Hans Kutscher, Bonner Vertrag, 1952, dargelegt, freilich vor den aufgrund des Scheiterns des EVG-Vertrages notwendigen Änderungen. Art. 7 des Deutschlandvertrages, der die drei Westmächte auf das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands festlegte, war ein ganz ungewöhnlicher Erfolg der Verhandlungen, auf dem 1989/90 aufgebaut werden konnte, als die Sowjetunion überraschend bereit war, ihr europäisches Glacis freizugeben. Die besondere Bedeutung, die der fortbestehenden Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und Berlin als einer unbestreitbar bestehenden rechtlichen Klammer in der Phase der Teilung zukam, hat Grewe immer besonders hervorgehoben. Dass die Hallstein-Doktrin, die wohl auch Grewe-Doktrin hätte heißen können, keineswegs eine Maßnahme des Kalten Krieges, sondern eine bewusste Wahrung der Interessen des einzig legitimen, weil in freien Wahlen bestätigten deutschen Staates war, wird im Rückblick nach 1990 wieder sehr viel deutlicher. Die vielfältigen Erfahrungen in internationalen Beziehungen hat Grewe in dem großen Band „Spiel der Kräfte in der Weltpolitik“, 1970, verarbeitet, eine bewundernswürdige Leistung während der Wahrnehmung der Aufgaben als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO. Dass Grewe die Jahre 1989 und 1990 in besonderem Maße als Bestätigung seiner Tätigkeiten in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland erlebt
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hat, darf man gewiss vermuten. Der Verfasser wird den Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht vergessen, in dem Grewe uns daran erinnerte, dass nach der Wiedervereinigung eigentlich keine Frage über die deutsche Hauptstadt auftauchen könne, sondern, wenn Deutschland glaubwürdig bleiben wolle, nur Berlin als Hauptstadt in Frage komme.2 Die Analysen zur Außenpolitik und Diplomatie in dem Sammelband „Machtprojektionen und Rechtsschranken“, 1991, beeindrucken den Leser.
III. Das rechtswissenschaftliche Werk Die Dissertation über Gnade und Recht, bei Forsthoff entstanden und 1936 erschienen, erörtert die Problematik in eindrucksvoller Weise rechtshistorisch, rechtsphilosophisch und auch theologisch, ohne dem Zeitgeist Tribut zu zollen. Die Schrift von 1940 „Der Dritte Wirtschaftskrieg“ setzt sich völkerrechtlich gut begründet mit der britischen Theorie einer Fern- und Hungerblockade auseinander, der er „den ersten Schritt zu einer Verschärfung und Radikalisierung der Kriegsführung“ zuschreibt, „die zu einer unermesslichen Katastrophe führen kann“ (S. 80). Anders ist seine kurze Erörterung zum Überfall auf die Sowjetunion von 1941 einzuschätzen. Hier sieht Grewe in dem deutschen Angriff die Übernahme „der eindeutigen internationalen Ordnungsaufgabe der Beseitigung des Bolschewismus“.3 Das spätere rechtswissenschaftliche Werk von Grewe, von dem auch der eindrucksvolle Band gesammelter Aufsätze unter dem Titel „Machtprojektionen und Rechtsschranken“, 1991, Zeugnis ablegt, befasst sich neben wichtigen Beiträgen zu Verfassungsfragen in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland vor allem mit der auswärtigen Gewalt und der Völkerrechtsgeschichte. Der Vortrag vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer bei der Tagung in Bonn 1953, in der Zeit intensiver Mitwirkung von Grewe an der auswärtigen Gewalt entstanden, hat die Besonderheiten der staatlichen Zuständigkeit für die Beziehung mit anderen Staaten prägnant herausgestellt und den grundsätzlichen Vorrang der Regierung für diese staatliche Tätigkeit in einer Weise begründet, die auf das Bundesverfassungsgericht erheblichen Einfluss ausgeübt hat.4 Mit Befriedigung konnte Grewe in seinem Beitrag über dasselbe Thema in Band III des Handbuchs des Deutschen
2 FAZ 19.4.1991, S. 12. 3 Die neue Kriegsphase, Monatshefte für Auswärtige Politik 1941, 748, 751. Grewe war 1933 Parteimitglied geworden (Wikipedia). 4 W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VDStRL 12 (1954), 129–178.
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Staatsrechts 1988 an seine Ausführungen von 1953 anknüpfen.5 Auch in dieser Schilderung wird die Erfahrung einer langen Tätigkeit als wissenschaftlich denkender Diplomat an vielen Stellen erkennbar. In vielleicht noch eindrucksvollerer Weise konnte Grewe nach Beendigung seiner Diplomatenlaufbahn an seine wissenschaftliche Arbeit davor anknüpfen, indem er die Habilitationsschrift, „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“, die 1943 bis 1945 zweimal gedruckt, aber dann verbrannt war, überarbeitete und 1984 veröffentlichte. Das Buch ist vielfach als große Leistung gewürdigt worden. Es ist 2000 in englischer Sprache unter dem Titel „The Epochs of International Law“ in der Übersetzung und Revision des kanadischen Professors Michael Byers von der Duke University erschienen. Der Verfasser ist glücklich darüber, dass er Michael Byers, der mehrfach am Max-Planck-Institut in Heidelberg gearbeitet hatte, als „native speaker“ für diese Übersetzung vorschlagen konnte. Byers hat dem Buch einen eindrucksvollen Epilog nach dem Stand von 2000 hinzugefügt. Kennzeichnend für die Arbeit ist die auf einer profunden Quellenkenntnis beruhende Darstellung in systematischer Form, die anhand besonders wichtiger Institutionen des Völkerrechts die Veränderungen durch die Epochen verfolgt. Dabei wird die Ordnung der Epochen durch das Aufkommen und Abtreten von Großmächten, die die Völkerrechtsentwicklung besonders beeinflussen, hergestellt. Der erste Teil widmet sich den Grundzügen der mittelalterlichen Völkerrechtsordnung. Von der spanischen (1494–1648) über die französische (1648– 1815) zur englischen (1815–1919) und nach der Zwischenkriegszeit (1919–1944) schließlich zur amerikanisch-sowjetischen Epoche (nach 1945) wird der Leser sodann durch die Zeiten und die wechselnden Schwerpunkte völkerrechtlicher Fragestellungen geführt. Die Epochen werden jeweils in einer eindrucksvollen Gliederung untersucht, wobei zunächst die Vormachtstellung des betreffenden Staates erklärt wird, sodann die Grundlagen der Völkerrechtsgemeinschaft dargelegt werden. Weitere Abschnitte widmen sich den Subjekten der Völkerrechtsgemeinschaft, dem Eintritt in diese Gemeinschaft, der Rechtsbildung, der Rechtsprechung, dem Rechtszwang, den Rechtsformen der Raumordnung und der Rechtsordnung der Meere. So gelingt eine ungewöhnlich plastische Darstellung der wichtigen Entwicklungsphasen. Das Recht wird in seinem politischen Zusammenhang als ein Faktor der Beziehungen zwischen den Staaten erkennbar. Nach der Vollendung dieses Werkes widmete sich Grewe einem ebenfalls sehr bedeutsamen Vorhaben, nämlich dem was er die „Fontes Historiae Iuris Gentium“ nannte. Vier große Bände dieses Werkes haben eine empfindliche
5 W. Grewe, Auswärtige Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, 921–975; 2. Aufl. 1996.
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Lücke geschlossen, in dem sie die historischen Quellen des Völkerrechts erschließen. Das betrifft sowohl Verträge als auch Erklärungen von Staaten zum Völkerrecht, gerade auch in völkerrechtlichen Auseinandersetzungen. Dabei behandelt der erste Band die Zeit von 1380 v. Chr. bis 1493. Verträge und andere Dokumente werden jeweils in der Originalsprache sowie auf Deutsch und auf Englisch wiedergegeben, was dazu führt, dass die Quellen wirklich erschlossen werden. Der zweite Band behandelt die Zeit von 1493 bis 1815. Dabei ist die Gliederung durch die Arbeit über die Epochen der Völkerrechtsgeschichte deutlich beeinflusst. Die Fülle der Dokumente ist beeindruckend. Die letzten beiden Bände behandeln die Zeit von 1815 bis 1945. Die letzten Dokumente in dem zweiten Teilband sind die über die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und die bedingungslose Kapitulation der japanischen Streitkräfte. Das Werk ist für jeden an der Völkerrechtsgeschichte Interessierten unverzichtbar. Der letzte der vier großen Bände ist 1992 erschienen. In der von R. Bernhardt herausgegebenen Encyclopedia of Public International Law bearbeitete Grewe bis zu seinem Tode noch fünf Artikel.
IV. Die Wirkung Die Wirkung der Arbeiten von Grewe als Mitgestalter der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, vor allem in der frühen Phase, ist bereits betont worden. Die Wirkung seines wissenschaftlichen Werkes wird sich vor allem auf die Beiträge zur Völkerrechtsgeschichte konzentrieren müssen. Es kann wohl als einmalig gelten, dass eine Habilitationsschrift, die während des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, wobei Grewe wegen einer körperlichen Behinderung nicht zum Wehrdienst eingezogen wurde, mit relativ geringen Änderungen 1984 gedruckt wurde. Lediglich der Sechste Teil über die Vereinten Nationen von etwa 60 Seiten ist vor dem Druck neu entstanden. Dass dieser Neudruck so möglich war, liegt vor allem daran, dass Grewe sich in bewundernswürdiger Weise auf die Analyse der Völkerrechtsentwicklung konzentriert hat. Gewiss kann man an vielen Stellen erkennen, dass er den Versuchen einer Fortentwicklung des Völkerrechts im Sinne der Völkerbundsordnung eher skeptisch gegenüber stand, aber es bleibt bei dieser Haltung, ohne dass nationalsozialistische Töne angeschlagen würden. Grewe war insgesamt ein Skeptiker hinsichtlich der Entwicklungen nach 1945, insbesondere auch des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. In der Festschrift für Karl Doehring hat er einen Rückblick auf Nürnberg vorge-
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legt.6 Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, warum Nürnberg keine Folgen gehabt hat und kein internationaler Strafgerichtshof errichtet worden ist. Er schreibt:7 „Die gewichtigste Antwort muss man dort suchen, wo die Wurzel für das Versanden des Nürnberger Experiments liegt: Die Realität der heutigen Staatenwelt steht dem entgegen. Die Staaten sehen darin eine nicht annehmbare Beschneidung ihrer Souveränität, die Militärs befürchten die Demoralisierung ihrer Truppen und die Auflösung der militärischen Disziplin.“
Die Entwicklung seit der Errichtung der besonderen Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda durch Resolutionen des Sicherheitsrates, vor allem aber die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag durch Vertrag hat diese Prognose von Grewe widerlegt. Man wird nicht mehr sagen können, dass die Realität der heutigen Staatenwelt einer derartigen Entwicklung entgegensteht. Gewiss zeigt die amerikanische Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs, dass Grewe auch hier eine für die mächtigsten Staaten der Welt jedenfalls noch zutreffende Analyse geliefert hat. Man wird aber hoffen können, dass die Erfahrung mit der internationalen Strafgerichtsbarkeit letztlich dazu führt, dass auch diese Staaten sich dem System anschließen. Wilhelm Grewe war ein Völkerrechtshistoriker, ein skeptischer Betrachter der neuen Völkerrechtsentwicklungen und ein äußerst wirksamer Gestalter der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Er war ein im persönlichen Kontakt zurückhaltender und liebenswürdiger Kollege, der in ungewöhnlicher Weise Kenntnisse und Fähigkeiten auf vielen Gebieten vereinte. Grewe war zweimal verheiratet. Eine Tochter aus erster Ehe ist die bekannte französische Verfassungsrechtlerin Prof. Constance Grewe, die auch stark rechtsvergleichend arbeitet. Im Vortrag war Grewe sehr eindrucksvoll. Der Verfasser erinnert sich genau an sein Referat gegen die Ratifizierung des Nichtverbreitungsvertrages in der Bonner Redoute Anfang 1967 im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sein vehementes Eintreten gegen die Ratifizierung war für einen amtierenden deutschen Botschafter bei der NATO ungewöhnlich. Der Verfasser war damals anderer Ansicht, aber Grewe machte einen zweifellos nachdenklich.8 Seinen 80. Geburtstag feierte Grewe 1991 zu seinem Lebenslauf passend am alten Sitz der Alliierten Hohen
6 Rückblick auf Nürnberg, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung, 1989, 229–249. 7 S. 247. 8 Der Vortrag ist veröffentlicht in Die Welt vom 28.1.1967, S. 6.
Wilhelm G. Grewe
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Kommission auf dem Petersberg oberhalb von Bonn im Kreis von Diplomaten, Wissenschaftlern und anderen Gästen.
Auswahlbibliographie Selbständige Schriften Gnade und Recht, 1936 (Dissertation). Der dritte Wirtschaftskrieg, 1940. Spiel der Kräfte in der Weltpolitik. Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen, 1970 (Japanische Ausgabe 1973), neu bearbeitet 1981, 549 S. Rückblenden 1976–1951, 1979. Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, 897 S., englische Fassung 2000. Die deutsche Frage in der Ost-West-Spannung: zeitgeschichtliche Kontroversen der achtziger Jahre, 1986, 157 S. Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, 4 Bde. 1988–1995. Machtprojektionen und Rechtsschranken: Essays aus vier Jahrzehnten über Verfassungen, politische Systeme und internationale Strukturen, 1991, 682 S. The epochs of international law–Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2000, XXII, 780 S.
Beiträge Diplomatie als Beruf. Festgabe für Ernst Forsthoff, 1967. System und Grundgedanken des Bonner Vertragswerkes. Einleitung zu: H. Kutscher, Bonner Vertrag, 1952. Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik. Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 12, 1954. Außenpolitik und Völkerrecht in der Praxis. In: Archiv des Völkerrechts 36 (1998) 1, S. 1–18. The role of international law in diplomatic practice. In: Journal of the history of international law 1 (1999) 1, S. 22–37. W. Grewe, Auswärtige Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, 921–975; 2. Aufl. 1996.
LI Hans Schneider (1912–2010)1 Reinhard Mußgnug*
I. Das Leben des Heidelberger Staatsrechtslehrers Hans Schneider hat sich über sechs Epochen der deutschen Verfassungsgeschichte erstreckt: Das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, die vorkonstitutionellen Nachkriegsjahre, die Bonner Bundesrepublik und schließlich das 1990 wiedervereinigte Deutschland. Von Geburt war er Berliner, freilich nur der Erste seiner Familie, der in Berlin zur Welt gekommen ist. Seine Eltern kamen aus Görlitz; sie waren wie viele Berliner schlesischer Herkunft. Der Vater – Carl Schneider – stand zunächst im Dienst der Reichspost; 1922 trat er als Steueramtmann zum Finanzamt Berlin-Steglitz über.2 Hans Schneiders Mutter Maria geborene Lepper gehörte zu den ersten Telegrafistinnen im Dienst der Preußischen Eisenbahn.
* Die Herausgeber danken Herrn Dr. Franz-Peter Gillig vom Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, für die freundliche Überlassung des Abdruckrechts für diesen Beitrag, der 2012 im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR), Neue Folge 60, hgg. von Peter Häberle, erschienen ist. 1 Überarbeitete Fassung des Nachrufs, den der Verf. am 12. Juli 2011 bei der Gedenkfeier der Juristischen Fakultät Heidelberg für Hans Schneider vorgetragen und in JöR NF 60 (2012) S. 377 ff. veröffentlicht hat. Der Verf. stützt sich auf die im Universitätsarchiv Heidelberg verwahrte Personalakte Hans Schneiders sowie auf Gespräche, die er mit Hans Schneiders Frau Christine, geb. Freiin von Saurma-Jeltsch, mit seiner Tochter Dr. phil. Dorothee Schneider-Liebersohn, und seinem Sohn Carl Erik Schneider geführt hat, sowie auf das, was ihn Hans Schneider selbst in den Jahren seit 1957 hat wissen lassen, in denen er sein Schüler, sein Kollege und sein Freund sein durfte. Darauf sind der überwiegend biographische Inhalt dieses Beitrags und seine (möglicherweise im Übermaß) persönliche Prägung zurückzuführen. Das wissenschaftliche Werk Hans Schneiders Paul Kirchhof hat bei der Gedenkfeier vom 12. Juli 2012 und in JöR NF 60 (2012), S. 387 ff. eindrucksvoll gewürdigt. 2 Seinen Wechsel zur Finanzverwaltung erzwang das „Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung“ vom 10. September 1919 (RGBl. S. 1591), mit dem die Weimarer Nationalversammlung das Reich erstmals mit einer eigenen Steuerverwaltung ausgestattet hat. Deren Beamtenschaft mußte von den anderen Reichsbehörden, allen voran von der Reichspost, gestellt werden. Carl Schneider ist nicht gerade gerne zur Finanzverwaltung gegangen. Weil er im esprit de corps der Post feste Wurzeln geschlagen hatte, brauchte er seine Zeit, um sich mit seinem neuen Arbeitsfeld anzufreunden.
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1. Nach der Grundschule – damals noch Volksschule genannt – besuchte Hans Schneider das Friedenauer Rheingau-Realgymnasium. Ihm verdankte er unter anderem seine vorzüglichen Englisch- und Französisch-Kenntnisse sowie mehrere Austauschaufenthalte in Schweden, von denen die profunde Vertrautheit mit dem Schwedischen herrührte, mit der er hin und wieder zu überraschen wußte. Das Rheingau-Gymnasium hat Hans Schneider auch zur Jugendbewegung geführt. Unter ihren Schülern hatte sich ein Wanderring gebildet, der ihm die eigenständige, unverzagte, dem anderen gegenüber stets aufgeschlossene Lebenshaltung vermittelt hat, die alle kennzeichnet, die im Bannkreis der Jugendbewegung aufgewachsen sind. Hier ist wohl die Quelle seiner Fähigkeit zur festen, lebenslangen Freundschaft zu suchen, die nicht das schnelle „Du“ und die „breite Vernetzung“ sucht, sondern sich auf Verläßlichkeit und Uneigennützigkeit gründet. In Hans Schneiders Abiturzeugnis ist vermerkt, daß er Mathematik studieren wolle. Ein Verwandter hat ihm jedoch nahegebracht, daß sein Faible für die Mathematik das sichere Zeichen einer besonderen Begabung für die Rechtswissenschaft sei, die ihm breitere Möglichkeiten öffnen werde. Diesem Rat ist Hans Schneider gefolgt. Weil er sich als rundum richtig erwiesen hat, hat er ihn häufig weitergegeben. Aber er war auf die Mathematik nicht festgelegt. Bei schwachen Mathematikern ließ er auch ordentliche Lateinkenntnisse gelten. 2. Sein Studium begann Hans Schneider im Oktober 1931 an der FriedrichWilhelms-Universität Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, wo ihn vor allem die Vorlesungen Rudolf Smends und Heinrich Triepels beeindruckt haben. Im Oktober 1932 wechselte er für zwei Semester nach Freiburg. In dieses Freiburger Jahr fiel der Zusammenbruch der Weimarer Republik, der Hans Schneider aufgewühlt und erschüttert hat. Das belegt sein Bericht aus dem Jahre 1988, in dem er sein Erleben jener Schicksalsmonate aufgezeichnet hat.3 Seine Schilderung trägt die Züge eines politischen Vermächtnisses. Es war Hans Schneiders ausdrücklicher Wunsch, daß sie in den 2002 anläßlich seines 90. Geburtstags erschienen Sammelband seiner „Ausgewählten Schriften“ aufgenommen werde.4 Das Freiburger Jahr hat Hans Schneider den Durchbruch vom beflissenen zum begeisterten Jura-Studenten gebracht. Das studium generale hat er darüber keineswegs vernachlässigt, sondern mit reger Anteilnahme auch Martin Heideg gers Philosophie-Vorlesung besucht. Über die Irritationen des Jahres 1933 hat ihm
3 „Die staatsrechtlichen Ereignisse 1932/33 aus der Sicht eines Freiburger Studenten“ in: Freiburger Universitätsblätter 100 (1988), S. 71 ff. 4 Mußgnug/Kirchhof/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), „Ausgewählte Schriften – Hans Schneider“, 2002, S. 25 ff.
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Heidegger freilich nicht hinweggeholfen. „Es fehlte“, so schreibt er, „der konkrete Entschluß, oder wie Carl Schmitt gesagt hätte, die Dezision, auf die jeder Jurist lossteuern muß, während der Philosoph sich im ewigen Gespräch ergehen darf.“5 Auch Heideggers ebenso berühmte wie befremdende Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 hat Hans Schneider gehört. Die Suggestivkraft mit der sie „die Größe und Herrlichkeit des Aufbruchs“ in die Zeit jenseits Weimars gefeiert hat, schlug für ihn die Brücke zu Smends Integrationslehre. „Aha“, hielt er 1988 fest, „da befinden wir uns also im Frühjahr 1933 in einem lebensgesetzlichen Prozeß der Einswerdung von Volk und Staat, einem dialektischen Prozeß, weswegen These und Gegenthese … notwendig sind, um zur Synthese zu gelangen. Die Wirklichkeit war aber anders“, erkannte er freilich bald. Als Rektor hat Heidegger im Sommersemester 1933 die Freiburger Studentenschaft zu einem jener Gleichschaltungs-Appelle unter freiem Himmel einberufen, wie sie an so gut wie allen deutschen Universitäten stattgefunden haben. Auch daran hat Hans Schneider teilgenommen. Die Veranstaltung endete mit Heideggers Erklärung, daß alle Anwesenden mit ihrer Eintragung in die Teilnehmerliste Glied der nationalsozialistischen Bewegung geworden seien. Was das heißen sollte, erfuhr Hans Schneider ein paar Monate später in Berlin, wo man ihm eröffnete, daß er als Teilnehmer jenes rektoralen „teach in“ und aufgrund seines Eintrags in die Teilnehmerliste in die NSDAP aufgenommen worden sei.6 Zu mehr als einer Formal-Mitgliedschaft hat sich Hans Schneider allerdings nicht vereinnahmen lassen. Im Sinne der NSDAP betätigt oder auch nur geäußert hat er sich nie. Er entdeckte vielmehr rasch, was es mit der von Heidegger ausgerufenen „Größe und Herrlichkeit des Aufbruchs“ auf sich hatte: Im Sommersemester 1933 hatte der Romanist Fritz Pringsheim seine Vorlesung noch unbehindert halten können;7 Hans Schneider hatte sie gehört und aus ihr Gewinn gezogen. Zurückgekehrt nach Berlin erfuhr er, daß auch Pringsheim wegen seiner jüdischen Herkunft dem berüchtigten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“8 zum Opfer gefallen und mit der Vertreibung von seinem Lehrstuhl bedroht worden war. Das hat Hans Schneiders Gefühl für Gerechtigkeit gekränkt. Mit der ihm eigenen wohlüberlegten Spontaneität schrieb er Pringsheim einen Brief, in dem er ihn – damals Student im 5. Semester – seiner „bleibenden Verbundenheit
5 AaO (Fn. 4), S. 34 6 Der Verf. weiß von anderen, u. a. von dem Pathologen Wilhelm Doerr, Hans Schneiders langjährigem Nachbarn in Heidelberg, daß ihnen das Gleiche widerfahren ist. Wilhelm Doerr hat darüber in einem leider unveröffentlicht gebliebenen autobiographischen Vortrag vor Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung berichtet. 7 Darüber berichtet auch Tony Honorè, http://users.ox.ac.uk/~alls0079/fritz2.pdf, S. 6 8 Vom 7.4.1933 (RGBl. I, 175)
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und Anhänglichkeit“ versicherte. Pringsheim hat ihm gedankt mit den Worten: „Sie haben mir mit Ihrem Brief eine Freude gemacht. Auch in diesem Sommer habe ich wieder die Erfahrung gemacht, daß die deutschen Studenten vortrefflich und grundanständig sind.“9 „Vortrefflich und grundanständig“: Damit hat Pringsheim die Attribute genannt, die Hans Schneider lebenslang und vor allem auch in der schwierigen Zeit von 1933 bis 1945 ausgezeichnet haben. 3. Seinen Doktorvater hat Hans Schneider in Freiburg mit Erik Wolf gefunden. „Gerichtsherr und Spruchgericht“ lautete das Thema seiner Dissertation.10 Es ging um die Geschichte der Kriegsgerichte, insbesondere um ihren Weg zur richterlichen Unabhängigkeit vom „Gerichtsherrn“, dem militärischen Befehlshaber. Eigentlich wollte Hans Schneider die Arbeit in Freiburg zu Papier bringen, wo Erik Wolf ihm für die Zeit nach dem Referendarexamen eine Assistentenstelle in Aussicht gestellt hatte. Das zerschlug sich jedoch. Art. 33 Abs. 1 GG gab es noch nicht. Das nutzte das Land Baden dazu, Landesfremde aus seinem Referendardienst auszusperren, es sei denn, sie präsentierten einen Badener, der bereit war, mit ihnen den Platz zu tauschen. Aber einen Badener, der für ihn nach Berlin gegangen wäre, hat Hans Schneider trotz energischer Suche nicht gefunden. So mußte er selbst nach Berlin zurückkehren, dort das Referendarexamen ablegen11 und Kammergerichtsreferendar werden. Die Freiburger Promotion ist daran nicht gescheitert, wohl aber die Assistentenstelle bei Erik Wolf. In Erik Wolfs Schule wäre Hans Schneider Straf- und Kirchenrechtler, Rechtsphilosoph und Rechtshistoriker geworden. 4. Hans Schneiders Weg zum öffentlichen Recht, seiner eigentlichen Berufung, führte über Carl Schmitt, der ihn in seinen Vorlesungen an der WilhelmsUniversität kennengelernt – genauer entdeckt – hat. Er empfahl ihn seinem im gleichen Jahr an die Berliner Wirtschaftshochschule berufenen Schüler Werner Weber. Als dessen Assistent entfaltete Hans Schneider von 1935 an eine rege Publikations- und Rezensentenarbeit, letztere vor allem in der national-konservativen Zeitschrift „Der Wirtschaftsring“. Die Promotion erfolgte im Juni 1937, das Assesorenexamen im Dezember 1938 wieder in Berlin.12 Damit war der Weg frei zur Habilitation. Das Thema der Habilitationsschrift verdankte Hans Schneider einer Anregung von Johannes Popitz, mit dem Carl
9 Pringsheims Brief datiert vom 9.8.1933; er befindet sich in Hans Schneiders Nachlaß. 10 Im Druck erschienen 1937 im Verlag Franz Vahlen, Berlin; eine ausführlicher Rezension aus der Feder Hans Peter Ipsens findet sich in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 69 (1939), S. 569 ff. 11 Im März 1935 nach seinem 7. Semester mit der Spitzennote „lobenswert“. 12 Dieses Mal mit der Note „gut“.
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Schmitt ihn bekannt gemacht hatte. Sie galt dem „Preußischen Staatsrat“. Carl Schmitt hat diese Empfehlung lebhaft unterstützt. Sie bot die willkommene Gelegenheit, sich vom geltenden Staatsrecht des NS-Regimes fernzuhalten. Es war nur konsequent, daß Hans Schneider sein Thema mit dem Zusatz „1817–1848“13 eingrenzte. Das erlaubte ihm, sich auf die vordringlich interessante Zeit des preußischen Vormärz zu beschränken, in der der Staatsrat das Parlament ersetzt oder, wenn man so will, sein Fehlen notdürftig verhüllt, aber gleichwohl bedeutende Reformarbeit geleistet hat. So konnte Hans Schneider dem geltenden öffentlichen Recht des NS-Regimes ausweichen, das ihn zu Stellungnahmen und Lippenbekenntnissen genötigt hätte. Er hat mit anderen Worten die Flucht in den auch in den Diktaturen leidlich gesicherten Freiraum der Verfassungsgeschichte angetreten. Johannes Popitz, der ihm diesen Weg gewiesen hat, blieb Hans Schneider über dessen Ermordung durch das Blutgericht Roland Freislers in dankbarem Gedenken verbunden. Es war ihm wichtig, daß Johannes Popitz unter seinen Schülern nicht in Vergessenheit geriet. Viel Zeit für die Habilitationsschrift blieb Hans Schneider nicht. Ihm stand die Einberufung zum Wehrdienst ins Haus, den er 1939 antreten mußte. Die Beförderung zum Leutnant zum 1. Januar 1940 erreichte ihn noch vor der Habilitation am 7. Februar des gleichen Jahres. Mit knapp 27 Jahren war Hans Schneider ein für heutige Verhältnisse ungewöhnlich junger Privatdozent. Vor allem aber war er der wohl erste deutsche Habilitand, der seinen Probevortrag in der Uniform des Infanterie-Leutnants hielt. Sie hat ihm den 1940 für den Probevortrag noch üblichen Frack ersetzt, ohne ihn dem Vorwurf eines Verstoßes gegen akademische Kleiderordnung auszusetzen. Von seiner venia legendi konnte Hans Schneider allerdings keinen Gebrauch machen. Es war Krieg, und er stand von Anbeginn an – wie das damals hieß – „im Felde“, zunächst an der Westfront, dann nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion bis zum Ende an der Ostfront, zuletzt als Oberstleutnant der Reserve und Kommandeur eines Infanterieregiments. Seinen ersten Ruf an die Universität Greifswald erhielt Hans Schneider gleichwohl schon 1940. Er tat das damals wie heute Undenkbare: Entgegen der eisernen Regel, daß der Privatdozent seinen ersten Ruf auf Gedeih und Verderb anzunehmen hat, lehnte er den Greifswalder Ruf ab! Er hatte einen Heimaturlaub zu einer Inkognito-Reise nach Greifswald genutzt und dort alles für den Geschmack eines in dieser Hinsicht verwöhnten Berliners als zu kleinstädtisch
13 Der preußische Staatsrat 1817–1918, Ein Beitrag zur Verfassungs- und Rechtsgeschichte Preußens, 1952. Die Abschnitte über die Jahre von 1848 bis 1918 hat Hans Schneider erst nach dem Krieg hinzugefügt.
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empfunden.14 Trotz des Greifswalder Regelverstoßes erreichte Hans Schneider 1943 ein zweiter Ruf auf eine außerordentliche Professur in Breslau, dem er um so freudiger gefolgt ist. Zu mehr als zum gelegentlichen Vorbeischauen in Breslau während des einen oder anderen Fronturlaubs kam es allerdings nicht. Vorlesungen konnte Hans Schneider auch dort nicht halten. Das haben der Krieg und sein Ausgang verhindert. Immerhin fand Hans Schneider aber Zeit und Gelegenheit, die Bibliothek des Breslauer Instituts für Staats- und Völkerrecht auf Lastwagen verstauen und an einen sicheren Ort verbringen zu lassen, von dem sie nach dem Krieg wieder an ihren alten Standort zurückgekehrt ist; sie wird dort nach wie vor von der nunmehr polnischen Breslauer Juristen-Fakultät genutzt. Am 15. Januar 1945 endete für Hans Schneider sein bis dahin so gut wie ununterbrochener Fronteinsatz mit einer schweren Verwundung. Sie trug ihm den Rücktransport aus dem Baltikum über die Ostsee in ein Lazarett in Sachsen und von dort im April 1945 zurück nach Berlin ein, wo er das Kriegsende als langsam Genesender im St. Gertrauden-Krankenhaus in Wilmersdorf erlebt hat. Der russischen Gefangenschaft ist er entgangen. Die Nonnen des St. Gertrauden-Krankenhauses haben ihn in ihrem Garten vor den Russen versteckt. Als im Juni 1945 amerikanische Truppen in Westberlin einzogen, war die Gefahr der Gefangennahme gebannt. Hans Schneider konnte zu seinen Eltern nach Friedenau heimkehren. 5. Das war freilich eine Heimkehr ins Ungewisse. Arbeit und Einkommen waren nicht in Sicht. Hans Schneider mußte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, insbesondere als Fremdenführer für amerikanische Soldaten. Dieses Interim ohne rechten Beruf dauerte bis 1948. Es hat Hans Schneider sehr belastet, weil er im März 1947 seine spätere Frau kenngelernt hat, aber wegen des Fehlens eines gesicherten beruflichen Fundaments nicht an eine Familiengründung denken konnte. Daß er dieses Fundament hat legen können, verdankte Hans Schneider Rudolf Smend, der ihn im Frühjahr 1948 von Berlin nach Göttingen geholt und ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an seinem Institut für Evangelisches Kirchenrecht beschäftigt hat. Zu einer Professur konnte Smend ihm allerdings nicht verhelfen, immerhin aber zu einem besoldeten Lehrauftrag, dem alsbald ein weiterer an der Verwaltungsakademie Hannover folgte. Heute sehen wir in derartigen
14 In seiner Heidelberger Abschiedsvorlesung vom 11.2.1981 berichtete Hans Schneider darüber: „Als ich meinem Lehrer Werner Weber zu erkennen gab, ich beabsichtigte diesen Ruf abzulehnen, zeigte er sich bestürzt. Wenn ich ein solches Angebot ausschlüge, würde ich nie wieder von dem damaligen Reichsministerium ein Berufungsschreiben erhalten. Die Berufungsvorschläge aller öffentlich-rechtlichen Professuren im ganzen Reichsgebiet gingen damals durch die Hand eines Referenten. Ich schrieb deswegen ausweichend, meine Truppe stünde zur Zeit im Kampfeinsatz, und ich könne mich daher im Augenblick nicht mit den zivilen Fragen befassen.“
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Lehraufträgen eine bloße Nebentätigkeit. Für Hans Schneider, 1948 nur dem Titel nach Professor, ansonsten aber ohne Amt und Salär, waren sie deutlich mehr als nur ein Silberstreif am Horizont. Sie boten ihm die erste, noch bescheidene, aber weiterführende und für die Familiengründung ausreichende Lebensgrundlage, zumal 1950 ein dritter Lehrauftrag hinzutrat, mit dem es seine eigene Bewandtnis hatte. Er kam von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Bamberg, die sich in Konkurrenz mit einer ähnlichen Hochschule in Regensburg zu einer VollUniversität ausweiten wollte und dazu auf einige nach Bamberg verschlagene Breslauer Juristen zurückgegriffen hat. Das aus Prag vertriebene und in Bamberg als „Bamberger Symphoniker“ wiedererstandene Deutsche Philharmonische Orchester hatte das vorexerziert. So holten die nach Bamberg versprengten Breslauer, an ihrer Spitze Hans Helfritz, auch Hans Schneider nach Bamberg. Dort scheint ein hoffnungsfroher Geist des Neuanfangs gepaart mit einer erquickenden Formlosigkeit geherrscht zu haben. Hans Schneider erzählte gerne, daß die Bamberger Professoren am Monatsersten „wie in der Fabrik“ beim Rektor vorsprachen, um ihr Gehalt von ihm in bar aus einer Zigarrenkiste in Empfang zu nehmen. Im Juni 1950 fand auch das Provisorium des lehrbeauftragten Professors ohne Lehrstuhl und gesichertes Einkommen mit Rufen nach Erlangen und Tübingen sein Ende. Hans Schneider entschied sich für Tübingen, wo er im Juni 1951 zum ordentlichen Professor ernannt worden ist. Seine endgültige akademische Heimat in Heidelberg fand er 1955 als Nachfolger des zwei Jahre zuvor emeritierten und im Juni 1955 verstorbenen Walter Jellinek. Jellinek hatte Hans Schneider 1950 bei der ersten Nachkriegstagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Heidelberg kennengelernt, bei der er gemeinsam mit ihm über das Thema „Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand“ referiert hatte.15 Jellinek hatte der Fakultät signalisiert, daß er sich Hans Schneider als seinen Nachfolger wünsche, ein Wunsch, mit dem er bei der Fakultät offene Türen aufgestoßen hat. Es kam zu einer Einer-Liste. Ernst Forsthoff, damals Dekan, begrüßte Hans Schneider in Heidelberg per Brief mit der Hoffnung, daß dieser seine Entscheidung für Heidelberg niemals bereuen möge.
15 VVDStRL 8 (1950), S. 21 ff.
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II. Es deutet alles darauf hin, daß Forsthoffs Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Hans Schneider ist Heidelberg trotz eines Rufes nach Freiburg im Jahre 1964 treu geblieben. Was die unruhigen 68er Jahre angeht, so sind allerdings Zweifel angebracht. 1. Heidelberg gehörte neben Frankfurt, Berlin und Marburg zu den Zentren der Studentenrevolte. Auch Tübingen und Freiburg blieben nicht verschont. Aber dort trugen die Unruhen ein anderes Gepräge. Sie zielten auf Universitäts- und Studienreformen. In Heidelberg indessen griffen der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der Kommunistische Bund Westdeutschland, die Roten Zellen und eine Reihe weiterer linksradikaler Sekten unverhohlen nach der Macht über Staat und Gesellschaft. Das machte ihre Aktionen bedrohlicher als andernorts, feindseliger und brutaler. In Tübingen und Freiburg sahen die 68er in ihren Gegnern Widersacher, in Heidelberg betrachteten sie sie als Feinde; in Tübingen und Freiburg stritten sie mit ihnen, in Heidelberg verfolgten sie sie. Hans Schneider gehörte zu denen, die schnell erkannten, daß es dem SDS, dem KBW und wie sie sich alle nannten, keineswegs auf einen offenen Diskurs um die Zukunft der Universität ankam. Ihnen ging es um die Eroberung der Universität, ihrer Ressourcen und ihrer Infrastruktur als Brückenkopf für eine sozialistische Revolution. Mit seinem Widerstand gegen dieses Vorhaben hat sich Hans Schneider besonders exponiert. Deshalb haben die Vorbeter der 68er sich vor allem ihn zu ihrem Hauptfeind erkoren. Hans Schneider war für sie der „Konterrevolutionär“ schlechthin. Mit ihrem skandierten Kampfschrei „Schneider ist – ein Faschist“ machten sie sich allerdings beweispflichtig. Ihr Beweisantritt mißlang allerdings kläglich. Sie haben sich redlich an Hans Schneiders Literaturliste abgearbeitet. Aber gefunden haben sie nichts außer einem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz in der Dissertation und einem Übungsfall aus dem Jahr 1938, den sie nicht begriffen haben.16 Außerdem sahen sie ein untrüg-
16 Diesen Fall hat Hans Schneider 1938 in dem von ihm betreuten Band „Öffentliches Recht. Fälle und Lösungen aus dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrecht“ der damals unter den Studenten sehr beliebten Reihe „Schäffers Grundrisse“ publiziert. Er wollte mit ihm an die juristische Binsenweisheit erinnern, daß sich die Rechtsetzungsmacht der Körperschaften des öffentlichen Rechts ausschließlich auf ihre Mitglieder erstreckt. Zur Illustration dieser Regel und ihrer Konsequenzen hat er nicht etwa auf eine Rechtsanwalts- oder Architektenkammer zurückgegriffen, sondern sich an die am 1. Dezember 1933 zur Körperschaft des öffentlichen Rechts erhobene NSDAP und an eine von Hitler in deren Verordnungsblatt verkündete Verordnung gehalten. Diese Verordnung hat Hans Schneider als nur parteiintern gültig bezeichnet und eine auf sie gestützte Kündigung eines politisch unliebsamen Redakteurs einer von der NSDAP übernomme-
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liches Indiz für Hans Schneiders faschistoide Gesinnung darin, daß auch er in unlesbarer Handschrift geschriebene Klausuren zurückwies. Das haben sie ihm allen Ernstes in einem bei den Heidelberger Fakultätsakten befindlichen Flugblatt vorgeworfen. Wie man Klausuren benoten soll, die man nicht lesen kann, ließen sie freilich im Dunkeln. Die bösartige Hartnäckigkeit mit der die Linksradikalen Hans Schneider zur Aufgabe seines Widerstands gegen alle linksradikalen Rechtsbrüche zu zwingen versuchten, mutet heute, 40 Jahre danach, schier unfaßlich an. Unter dem Motto „Schneider liest nicht mehr!“ haben sie Hans Schneiders Vorlesungen über ganze Semester hinweg gesprengt. Sie haben ihn mit übler Nachrede in Flugblättern und Wandschmierereien verfolgt und es bis zu einem Buttersäure-Attentat getrieben, mit dem sie ihn am Betreten der Universität haben hindern wollen. Das alles wäre Hans Schneider erspart geblieben, wenn er nicht nach Heidelberg gekommen und 1964 nicht geblieben wäre. Um so bedeutsamer war für die Universität, daß er nach Heidelberg gekommen und seiner Fakultät treu geblieben ist. Er gehörte zu denen in den Reihen ihres Lehrkörpers, die den Sturm auf die Universität abgewehrt haben. Er war nicht der einzige, der Widerstand geleistet hat. Aber Hans Schneider ragte mit seinem Mut und seiner Unerschütterlichkeit aus der nicht allzu großen Schar der zu aktivem Standhalten Bereiten heraus. Sein Vorbild hat vor allem seine Schüler und manchen seiner Studenten geprägt. Er war einer der akademischen Lehrer, um die sich diejenigen sammelten, die den Parolen der Linken mißtraut haben und nicht zum Randalieren, sondern zum Studieren nach Heidelberg gekommen waren. Sie lernten von Hans Schneider zwischen dem Lebendigen Geist17 und dem Zeitgeist zu unterscheiden und diese Unterscheidung zur Richtschnur ihres Handelns zu machen. 2. Die Revolte von 1968 war heftig und sie währte lange, aber sie wurde gottlob nicht chronisch. An ihrem Ende war vieles anders geworden. Aber die Universität ist auch in Heidelberg Universität geblieben. Das hat Hans Schneider tatkräftig genutzt. Sein 1938 begonnenes, 1948 wiederaufgenommenes und in Heidelberg vollendetes wissenschaftliches Werk hat – wie bereits gesagt, Paul Kirchhof an
nen Zeitung für unwirksam erklärt. Dem SDS mißfiel die Begründung: „Bedient sich der Führer nicht der Gesetzform, so deutet das regelmäßig darauf hin, daß es nicht in der Absicht des Führers gelegen hat, gemeines (sc. allgemein gültiges) Recht zu setzen“. Genau das hatte 30 Jahre zuvor auch die NSDAP Hans Schneider übelgenommen und sowohl ihm als auch dem Herausgeber der Reihe wegen Leugnens der Führer-Allmacht eine scharfe Rüge erteilt. Immerhin die NSDAP hatte durchschaut, daß Hans Schneider die Omnipotenz des Führers gerade nicht propagiert, sondern ihr mit beachtlicher List und einiger Kühnheit die Spielregeln des Rechtsstaats entgegengehalten hat. Die Intelligenz der Elite von 1968 hat dafür nicht ausgereicht. 17 So das Motto über dem Hautportal der Heidelberger Universität.
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anderer Stelle gewürdigt.18 Das erlaubt, es an dieser Stelle mit einer Würdigung dessen bewenden zu lassen, was Hans Schneider als akademischen Lehrer, als Kollege und über die Universität hinaus ausgezeichnet hat. a) Die Zahl der Schüler die Hans Schneider in 66 Semestern in Göttingen, Tübingen und Heidelberg um sich geschart hat, ist Legion. Sein Erfolg als Lehrer rührt daher, daß er nie versucht hat, die Rechtswissenschaft einfacher zu machen, als sie es ist, wie das unkundige Universitätsreformer neuerdings als den Inbegriff moderner Wissenschaftsdidaktik ausgeben. Wem es darauf ankam, den Stoff ohne Abstriche in all seiner Kompliziertheit zu begreifen, der war dafür bei Hans Schneider um so besser aufgehoben. Eine „Schule“ im engeren, wissenschaftssoziologischen Sinne hat Hans Schneider bewußt nicht gebildet. Er wollte seinen Schülern Lehrer sein, nicht Meister. Streng war er nur, wo es um die Pünktlichkeit und die Sauberkeit des wissenschaftlichen Arbeitens ging. Im Übrigen indessen erwartete er nicht Gefolgschaftstreue, sondern Eigenständigkeit. Auf sie drängte er schon in seinen Übungen. Wer mit originellen Argumenten von der Musterlösung abwich, fuhr bei ihm stets besser als der, der die Musterlösung exakt traf, aber nichts Eigenes zu ihrer Begründung beisteuerte. Mit seinem Stil des juristischen Argumentierens hat Hans Schneider freilich unter der Hand doch Schule gemacht. Er legte Wert auf konkrete Anschaulichkeit, genaues Beobachten der Rechtswirklichkeit und vor allem auf eine klare Sprache, die bedenkt, daß die Sprache des Juristen eine zwar nicht vollkommen andere, aber eben doch eine andere ist als die des Dichters. Dem Verf. hat er das eingeschärft mit der Ermahnung „Sie schreiben wie Thomas Mann; aber sie vergessen, daß nur Thomas Mann so wie Thomas Mann hat schreiben können. Halten Sie sich lieber an Heinrich von Kleist.“ Sollte dem Verf. das einigermaßen gelungen sein, so wäre das Hans Schneiders Verdienst. Als auch der Verf. dem mittlerweile schier unausrottbar gewordenen Aberglauben aufsaß, an den Anfang einer jeden ordentlichen Dissertation und Habilitationsschrift gehöre ein ebenso umfangreiches wie ödes Kapitel „Stand der Forschung“, schrieb ihm Hans Schneider das Goethe-Wort an den Rand „Bilde Künstler! Rede nicht!“ b) Neben seinem Einsatz in der Lehre hat Hans Schneider in der akademischen Selbstverwaltung erheblich mehr als das Übliche und Pflichtgemäße getan. Seiner Fakultät hat er mehrfach als Dekan gedient. Dem Rektorat und den Nachbarfakultäten stand er unermüdlich mit Rat und Tat zur Verfügung. „Man muß Herrn Schneider fragen“ war in Tübingen und in Heidelberg erst recht ein geflügeltes Wort. Hans Schneider fragte keiner vergebens. Auch vor erheblichen
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Arbeitslasten scheute Hans Schneider nicht zurück. Das beweist die Hilfe, die er dem Chirurgen Karl Heinrich Bauer bei der Errichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums geleistet hat, die alles andere als ein „Selbstläufer“ gewesen ist. Neben viel Medizinerarbeit hat sie ein gerütteltes Maß an juristischer Kärrnerarbeit gefordert. Auch über Heidelberg hinaus waren Hans Schneiders Rat und Hilfe gesucht. Er hat Gebhard Müller, der ihn in Tübingen kennen und schätzen gelernt hat, im Bemühen um die Gründung und später um die Stabilisierung Baden-Württembergs unterstützt. Bei der Kommunalen Gebietsreform der frühen 70er Jahre hat er mitgeholfen. Die Neuordnung des Baden-Württembergischen Rundfunks und des Fernsehens in den 80er Jahren hat er als Leiter der für ihre Vorbereitung eingesetzten Kommission mitgestaltet. Dies alles hat mit der Verleihung des Landesverdienstordens und des Großen Bundesverdienstkreuzes die verdiente Anerkennung gefunden. Zu seinen 70. und zu seinem 80. Geburtstag standen seine Schüler bereit, ihm eine Festschrift zu widmen. Aber das hat er ihnen sehr zu ihrem Leidwesen kategorisch verboten. Er wollte ihnen die Arbeit ersparen, die mit dem Verfassen von Festschriftenbeiträgen einhergeht. Davon hat er sich nicht abbringen lassen. Auch darin zeigte sich Hans Schneiders Persönlichkeit. Er hat für andere viel getan, aber für sich wenig beansprucht. Ging es um Recht und Gerechtigkeit, so war er fähig zu großer Leidenschaft. Die Schattenseite der Leidenschaft, die Parteilichkeit, indessen kannte er nicht. Auch darin erwies er sich als das, was er seiner eigenen Bekundung zufolge immer hat sein wollen und auch war: Ein fröhlicher Christenmensch im Gefolge Martin Luthers.
III. Der Verf. ist Hans Schneider im Sommersemester 1956 zum ersten Mal begegnet, als er sich für sein Seminar über Gesetzgebungslehre einschrieb, aus dem nach langer, ungemein intensiver Vorbereitung 1982 Hans Schneiders rasch zum Standardwerk aufgestiegenes Kompendium „Gesetzgebung“ hervorgegangen ist.19 Von da an hat Hans Schneider über den Fortgang des Studiums des Verf. gewacht, keine Spur also von der vielkritisierten Unansprechbarkeit der Ordinarien alter Schule. Nach dem Referendar-Examen wurde der Verf. wissenschaftliche Hilfskraft bei Hans Schneider, nach dem Assessoren-Examen sein Assistent.
19 Gesetzgebung, Ein Lehr- und Handbuch, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1991, 3. Aufl. 2002.
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Er las im Spiegel, daß er sich damit unter ein Sklavenjoch begeben habe. Dieses Gefühl hatte er allerdings ganz und gar nicht. Wenn es schon eine Metapher aus der Rechtsgeschichte sein muß, dann nicht die des römischen Sklaven-, sondern die des deutschen Lehensrechts, das wechselseitig zu Rat und Hilfe verpflichtete. Darüber zu streiten, ob Hans Schneider damit für die alte Ordinarienuniversität repräsentativ war, ist müßig. Sicher ist jedenfalls: Hans Schneider hat die deutsche Universität und die deutsche Rechtswissenschaft auch damit vorbildlich vertreten.
Literaturhinweise Hans Schneider, Gesetzgebung, Ein Lehr- und Handbuch, 3. Aufl. 2002 Hans Schneider, Der preußische Staatsrat 1817 – 1918, Ein Beitrag zur Verfassungs- und Rechtsgeschichte Preußens, 1952 Mußgnug/Kirchhof/Schmidt-Aßmann, Ausgewählte Schriften Hans Schneider, 2002 Paul Kirchhof, Hans Schneider als Wissenschaftler und Homo politicus, in: JöR n. F. 60 (2012), S. 387 ff.
LII Hermann Mosler (1912–2001) Christian Tomuschat Hermann Mosler hat in seiner Person alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts erfahren. Geboren noch in der Kaiserzeit, am 26. Dezember 1912 in Hennef an der Sieg, aus einer dem katholischen Glauben eng verbundenen Juristenfamilie, war es ihm nach dem Ende der Schreckensherrschaft des Dritten Reiches vergönnt, an wesentlichen Schaltstellen der politischen Entwicklung die junge Bundesrepublik Deutschland in die internationale Rechtsgemeinschaft zurückzuführen. Man darf ihn als den bedeutendsten Völkerrechtler der Bundesrepublik Deutschland im 20. Jahrhundert bezeichnen. Seine staatsrechtlichen Arbeiten haben damit verbunden zum Hauptgegenstand die Einbettung des souveränen Staates in die internationale Friedensordnung. Bei Moslers Tode am 4. Dezember 2001 waren die Weichen für ein weltoffenes und europafreundliches Deutschland nicht zuletzt dank seiner Bemühungen sämtlich gestellt. Mosler absolvierte sein Jurastudium in den Jahren 1931 bis 1934 an der Universität Bonn. Mit seiner Promotion bei Richard Thoma über den Begriff der Intervention im Völkerrecht (1936) beschritt er ein schwieriges Terrain, da er von einem naturrechtlich begründeten Standpunkt aus eine imperialistische Politik der Unterjochung fremder Völker nicht gutzuheißen vermochte. So sprach er sich auch für die Zulässigkeit einer „Intervention aus Gründen der Menschlichkeit“ aus, freilich nur unter strengen Voraussetzungen als ultima ratio. Glücklicherweise konnte er im Zeitpunkt des Abschlusses seiner Arbeit an eine Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 17. Mai 1933 anknüpfen, wo noch die Lesart vertreten wurde, dass die Rechte, die dem eigenen Volke zustehen, für alle Völker gelten (Nr. 1, S. 61, 78). Es liegt aber auf der Hand, dass die von Mosler vertretenen Thesen jedenfalls im Jahre 1936 nicht mehr der herrschenden Staatsideologie entsprachen, ja möglicherweise sogar schon als regimefeindlich betrachtet wurden. Dennoch vermochte Mosler kurz danach, im Jahre 1937, als Referent in das damalige Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin einzutreten. Das Institut, wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (1924) als Einrichtung der Grundlagenforschung, bewusst aber auch in der politischen Absicht gegründet, der Reichsregierung in den zahlreichen rechtlichen Auseinandersetzungen beizustehen, die sich vor allem aus dem Versailler Vertrag ergaben, kam nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in ein schwieriges Fahrwasser. In ihrer großen Mehrheit fühlten sich die Mitglieder des Instituts nach wie vor der Idee des Rechts verpflichtet und waren bestrebt, die
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Grundwerte des Völkerrechts in ihrer Beratungstätigkeit zur Geltung zu bringen. Andererseits gab es auch Versuche der Regierung, das Institut auf die neue politische Linie zu bringen. Sichtbarster Ausdruck dieser Strömung war der Eintritt von Carl Schmitt in die Leitung des Instituts. Zu der Gruppe, die sich nicht aus dem internationalen Verbund der europäischen Friedensordnung herausdrängen lassen wollte, gehörte insbesondere Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, der mit seinem Kommentar zur Satzung des Völkerbundes gleichsam ein Bekenntnis zum Gedanken der Völkerverständigung abgelegt hatte. Auch Mosler gehörte dieser Gruppe an, die sich in ihrer Arbeit weiterhin um Recht und Gerechtigkeit bemühte; insbesondere setzte sich Mosler zusammen mit anderen gleichgesinnten Kollegen wie Günther Jaenicke und Wilhelm Wengler bei der Beratungstätigkeit des Instituts für das Oberkommando der Wehrmacht nachdrücklich für die Einhaltung des humanitären Rechts bei den Operationen der deutschen Streitkräfte ein. Fast zwangsläufig fanden Überlegungen über einen Sturz der Diktatur mit dem Fortschreiten der kriegerischen Barbarei innerhalb des Instituts breite, wenn auch meist nur im Geheimen manifestierte Resonanz. Bekanntlich wurde Berthold von Stauffenberg als Mitwisser nach dem 20. Juli 1944 ebenso wie sein Bruder, der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, hingerichtet. Von den Institutsmitarbeitern kam auch Wilhelm Wengler in Haft. Mosler blieb dieses Schicksal erspart; er war vor dem Attentat in die Pläne der Verschwörer eingeweiht worden und unterstützte die Absicht, das Institut sofort nach dem Umsturz der neuen Reichsregierung zur Verfügung zu stellen, und hatte bereits mit der Überprüfung der Verträge des Deutschen Reiches im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung begonnen. Diese Abrede wurde von den Sicherheitsbehörden nicht entdeckt (Nr. 11, S. 696; Nr. 16, S. 69). Nach dem Kriege habilitierte sich Mosler im Jahre 1946 an der Universität Bonn wiederum bei Richard Thoma mit einer Arbeit über „Wirtschaftskonzessionen bei Änderung der Staatshoheit“. Einen Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Frankfurt/Main nahm er im Jahre 1949 an und blieb fünf Jahre lang an dieser Universität. Gleichzeitig leitete er von 1951 bis 1953 die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes in ihrer Aufbauphase. In dieser Eigenschaft war er auch an den Verhandlungen über den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beteiligt, über die er später ausführlich berichtete (Nr. 12). Die dadurch erworbenen Erfahrungen prädestinierten ihn gleichsam als Nachfolger in der Leitung des nunmehr in die Max-Planck-Gesellschaft eingebetteten Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, das nach der Zerstörung des Berliner Schlosses, wo es seinen Sitz gehabt hatte, nach Heidelberg in der amerikanischen Besatzungszone verlegt worden war. Die Leitung des Instituts hatte von 1949 bis 1954 in den Händen des nicht unumstrittenen Carl Bilfinger gelegen, der lange Jahre ein Parteigänger des Nationalsozialismus
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gewesen war. Mit seiner untadeligen Vergangenheit verschaffte Mosler dem Institut neue Anerkennung. Geradezu folgerichtig wurde er 1959 von der Bundesregierung auch mit Unterstützung der irischen Regierung als Kandidat für das Amt des Richters am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof vorgeschlagen; nach der erfolgreichen Erstwahl wurde er in der Folgezeit mehrfach wiedergewählt. Im Jahre 1975 folgte dann die Wahl in den Internationalen Gerichtshof, wo Mosler sich als deutscher Ad-hoc-Richter in dem Streitverfahren gegen Dänemark und die Niederlande1 schon zuvor hohes Ansehen hatte erringen können. Trotz des seinerzeit noch eher geringen Arbeitsanfalls in Straßburg sah sich Mosler angesichts der Doppelbelastung im Jahre 1980 genötigt, seine europäische Richtertätigkeit aufzugeben. Sein Mandat in Den Haag hingegen nahm er bis zu dessen Ablauf im Jahre 1985 wahr. Der Hauptschwerpunkt von Moslers wissenschaftlicher Arbeit lag von Anfang an auf dem Gebiet des Völkerrechts, wo seine Hauptwerke entstanden sind. Aber er sah das Völkerrecht stets in seiner Verbindung mit den für den Völkerrechtsverkehr maßgebenden verfassungsrechtlichen Normierungen. Für ihn gab es insoweit keinen Graben, der die beiden Rechtsgebiete voneinander abgetrennt hätte. Er war sich überdies der Tatsache bewusst, dass eine internationale Friedensordnung nur aus dem Gleichklang der Verfassungssysteme in den Staaten als den Grundpfeilern jener Ordnung erwachsen kann. Obwohl er angesichts der Realitäten des internationalen Systems und seiner rechtlichen Strukturen die Unterscheidung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht als nach wie vor wesensbestimmend betrachtete, war er der Auffassung, dass sich jedenfalls materiell beide Rechtsgebiete aus denselben materiellen Quellen speisen müssten. „Völkerrecht und innerstaatliches Recht gehören daher zusammen“ (Nr. 16, S. 66). In diesem Sinne verstand er die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als eine notwendige Ergänzung und Abrundung der völkerrechtlichen Forschungen. Eine Anzahl prägender Schwerpunkte setzte Mosler im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, das er stets auch vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung in seiner historischen Verwurzelung betrachtete. Im Nachwort zu einer Textausgabe dieses ersten demokratischen Verfassungswerkes gelang es ihm, mit wenigen kräftigen Strichen die Stärken und Schwächen des Vorläufers des Grundgesetzes treffsicher zu umreißen (Nr. 18). Offensichtlich inspiriert durch seine Tätigkeit als Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes entstand als Kern seiner verfassungsrechtlichen Überlegungen eine Reihe großer Abhandlungen, welche auch heute noch die Grundlage für jede Überle-
1 S. Internationaler Gerichtshof, North Sea Continental Shelf, Urteil vom 20.2.1969, ICJ Reports 1969, S. 3.
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gung auf den jeweiligen Sachgebieten bilden. Es ist kein Geheimnis, dass die verfassungsrechtlichen Regelungen über die auswärtige Gewalt über den ganzen Text des Grundgesetzes „wie erratische Blöcke“ (Nr. 6, S. 256) verstreut sind und jedenfalls für den Leser auf den ersten Blick kein Gesamtbild ergeben. Ein solches Gesamtbild entstand erst aus der Feder von Mosler, der in der Festschrift für Bilfinger im Jahre 1954 die notwendigen Klärungen herbeiführte und die Aufgaben der beteiligten Verfassungsorgane präzise umriss (Nr. 6). Auswärtige Gewalt als „Entscheidung über die auswärtigen Angelegenheiten“ (S. 246) stellt insofern einen Fremdkörper im Gliederungssystem des Grundgesetzes dar, als sonst nach Funktionen und nicht nach bestimmten Aufgaben unterschieden wird. Insofern bedarf es einer sorgfältigen Bestimmung der einzelnen Funktionsträger für diese Aufgabe. Dass der Bundespräsident nur ein Repräsentativorgan ist und im System des Grundgesetzes keinen politischen Gestaltungsanspruch erheben kann, war eine der Folgerungen aus dieser Analyse und steht seitdem als Grundaxiom für die Verteilung der Macht in auswärtigen Angelegenheiten unangefochten fest. Im gleichen Zusammenhang war es eine andere der großen Aufgaben, die Stellung des Bundes beim Abschluss von Kulturabkommen zu präzisieren. Art. 32 Abs. 3 GG, der den Ländern eine Vertragsabschlusskompetenz für die in ihre Gesetzgebungszuständigkeit fallenden Gegenstände einräumt, hätte durchaus dahin interpretiert werden können, dass diese Kompetenz eine ausschließliche sei, die der allgemeinen Regel über die Zuständigkeit des Bundes nach Art. 32 Abs. 1 GG vorgehe. Mosler hat in einem mit deutlicher Betonung des unitarischen Standpunkts geschriebenen Aufsatz aus dem Jahre 1955 (Nr. 7) überzeugend dargelegt, dass eine solche Auslegung weder von der Verfassung gewollt sein könne noch zweckmäßig sei. Seine Lösung lautete, dass der Bund im Außenverhältnis die Verhandlungen führen dürfe und jedenfalls mit Zustimmung der Länder auch ermächtigt sei, eine formelle völkerrechtliche Bindung einzugehen, dass aber die innerstaatliche Durchführung im Einklang mit Geist und Buchstaben des Grundgesetzes prinzipiell Sache der Länder bleibe. Wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Moslers Aufsatz hat die von ihm hinsichtlich der Verfahrensmodalitäten vorgeschlagene Lösung im sog. Lindauer Abkommen vom 14. November 1957 eine auch formalisierte Lösung gefunden. An der Grenzlinie zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht bewegen sich auch Moslers Überlegungen zum Völkerrecht in der Praxis der nationalen Gerichte, eine davon speziell der deutschen Rechtsprechung gewidmet (Nr. 10), eine andere im Recueil des cours der Akademie für internationales Recht mit einem breiteren rechtsvergleichenden Ansatz (Nr. 9). Zu Recht stellte er fest, dass die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Rechtsraum ein „wichtiger Teilkomplex aus dem Problem der Einordnung des eigenen Staates in die internationale Rechtsgemeinschaft“ sei (S. 3). Insgesamt fehlte es in der Anfangszeit der
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Bundesrepublik noch an scharfen Begriffsbildungen, und Verwirrung stiftete insbesondere der auch vom Bundesverfassungsgericht eher unbedacht verwandte Begriff der Transformation.2 Überzeugend legte Mosler dar, dass ein Rechtssatz des Völkerrechts, handele es sich um eine Vertragsnorm oder eine allgemeine Regel, auch nach seiner Übernahme in das innerstaatliche Recht seine ursprüngliche Rechtsnatur behalte und deswegen in Entstehung, Auslegung und Beendigung nach völkerrechtlichen Maßstäben zu behandeln sei. Diese Auffassung hat sich allgemein durchgesetzt. So haben auch die deutschen Gerichte mittlerweile durchweg anerkannt, dass völkerrechtliche Verträge nach den spezifischen Regeln des Völkerrechts auszulegen sind, auch wenn gelegentlich noch die von Mosler beklagte Tendenz durchscheint, den Bestimmungen solcher Verträge die unmittelbare Anwendbarkeit abzusprechen. Betont hat Mosler mehrfach, dass das Grundgesetz mit seinen Artikeln 24 bis 26 eine neue Richtung in Abwendung von dem klassischen Prinzip souveräner Allmacht eingeschlagen habe. So heißt es in der Abhandlung über die Praxis der deutschen Gerichte zum Völkerrecht mit eindeutigen Worten, dass die „Förderung der internationalen Beziehungen auf der Basis des friedlichen Völkerrechtsverkehrs und die gemeinsame Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch internationale Institutionen den Rang von Staatszielen besitzen“. Demgemäß verwirkliche sich in der Verfolgung dieser Staatsziele auch „unsere Staatsidee“ (Nr. 10, S. 9). Hintergrund und Quelle für diese Aussage war für ihn abermals die Übersteigerung des deutschen Machtanspruchs durch die nationalsozialistischen Gewalthaber. Die Summe seiner Überlegungen zum Integrationsprozess und seinen Auswirkungen auf die deutsche Verfassungsordnung hat Mosler in seinem Beitrag zur Übertragung von Hoheitsgewalt im Handbuch des Staatsrechts gezogen, wo er nachdrücklich darauf hinweist, dass im Jahre 1949 die „Wiedererrichtung eines Nationalstaats, der auf seine Geschlossenheit nach außen und auf seine Allzuständigkeit im Innern bedacht“ gewesen wäre, kein Modell mehr für das Zusammenleben der Völker in Europa sein konnte (Nr. 19, S. 600). Gerade im Hinblick auf das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts3 zeigt sich an diesen Äußerungen, ein wie notwendiges Element in der Beurteilung verfassungsrechtlicher Grundfragen persönliche Lebenserfahrung und Vertrautheit mit den historischen Zeitumständen sind. Von den Ehrungen, die Mosler zuteil wurden, sei neben der Berufung in die höchsten internationalen Gerichte seine Aufnahme in das Institut de droit international (1957) genannt, die Vereinigung der führenden Völkerrechtslehrer aus
2 BVerfGE 1, 396, 410. 3 BVerfGE 123, 267, 30.6.2009.
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aller Welt. Zweimal wurde er zu Vorlesungen an die Akademie für internationales Recht in Den Haag gebeten, das erste Mal im Jahre 1957 zu einer Spezialvorlesung (Nr. 9), während ihm im Jahre 1974 der „General Course“ anvertraut wurde (in revidierter Form Nr. 17). Besonders berührt hat ihn die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors durch die Freie Universität Brüssel (1969) als symbolischer Ausdruck der Aussöhnung zwischen den beiden Völkern. Mosler hat der Bundesregierung mit seinem Institut wiederholt in wichtigen außenpolitischen Fragen und auch bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen durch Gutachten Rechtsrat erteilt. Mosler hat ferner am Heidelberger Institut ganze Generationen jüngerer Juristen herangezogen, von denen viele in hohe Stellungen aufgestiegen sind und das deutsche Rechtsleben prägend beeinflusst haben. Genannt seien als seine Schüler insbesondere Rudolf Bernhardt, von 1981 bis 1998 Mitglied des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (zusammen mit Mosler Direktor des Instituts von 1970–1976), Eckart Klein, von 1995 bis 2002 Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, und Helmut Steinberger, von 1975 bis 1987 Richter am Bundesverfassungsgericht. Auch der Verfasser dieses Beitrags zählt zu Moslers Schülern. Wie es dem Mandat des Heidelberger Instituts entspricht, setzte sich Mosler neben dem Völkerrecht auch sehr intensiv für die Rechtsvergleichung ein. Durch große Kolloquien mit Experten aus aller Welt wurden Anstöße auch für die Entwicklung des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts geliefert. Ein Kolloquium über Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahre 1961 stellte erstmals das Bundesverfassungsgericht in einen Vergleichsrahmen mit ähnlichen Gerichtsinstanzen in Europa und vor allem auch auf dem amerikanischen Kontinent. Ein Kolloquium über die Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe aus dem Jahre 1964 erlaubte es, das deutsche Staatshaftungsrecht in einer Außenperspektive kritisch zu würdigen, und das Kolloquium über Gerichtsschutz gegen die Exekutive (1967) erlaubte abermals einen Blick auf die Sachgerechtigkeit des deutschen Systems mit seinem von Art. 19 Abs. 4 GG gestützten umfassenden Schutzanspruch. Die Reihe der Kolloquien fand ihren Abschluss mit einer Veranstaltung über Grundrechtsschutz in Europa im Jahre 1976. Beleuchtet wurden bei diesen Kolloquien ganz offensichtlich die wichtigsten der institutionellen Mechanismen, die den Kernbestand der damals westlichen Rechtsstaatlichkeit ausmachten. Definiert wurde ein gemeineuropäischer Verfassungsrechtsstandard, der dann später, nach dem Fall der Mauer, auch in Mittel- und Osteuropa weite Anerkennung fand. Gleichzeitig entwickelte sich damit das Heidelberger Institut zu einem Dialogforum zu Grundsatzfragen des öffentlichen Rechts, wie es sonst nirgendwo anders in Europa vorhanden war. Von seinen Anfängen her ist Mosler stets der naturrechtlichen Methode treu geblieben, die er schon in seiner Dissertation als Stütze seiner Rechtsüberzeu-
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gung dargestellt hatte. So umschrieb er dort das Naturrecht als den „Inbegriff der auf das Gemeinschaftsleben der Menschen bezüglichen Normen, die sich aus der Naturordnung erschließen lassen und unmittelbar einleuchten“ (Nr. 1, S. 45). Diese Überzeugung hat sich offenbar bei ihm während der im Kaiser-Wilhelm-Institut verbrachten Zeit, also während der Unrechtsherrschaft des nationalsozialistischen Regimes, verfestigt und bekräftigt. Einen unmittelbaren Niederschlag seiner Grundkonzeption findet man vor allem in der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenen Abhandlung über den „Einfluss der Rechtsstellung Deutschlands auf die Kriegsverbrecherprozesse“ (Nr. 2). In dieser Abhandlung wird mit großer Nüchternheit untersucht, ob die strafrechtliche Verfolgung der deutschen Kriegsverbrecher durch die Alliierten Mächte in Nürnberg und später in den einzelnen Besatzungszonen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar sei. Mosler konstatiert ohne jede emotionale Note, dass die „Achillesferse“ jener Verfolgung „das politische Verbrechen gegen den Frieden“ sei. In der Tat hatte es in der bisherigen Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts noch keinen einzigen Fall gegeben, wo Mitglieder der Führungsgruppe eines besiegten Staates als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt worden wären. Mosler sieht davon ab, einen Rechtsverstoß zu formulieren, gibt aber zu bedenken, ob es nicht vielleicht richtig gewesen wäre, „den Akzent mehr auf die philosophisch und soziologisch zu stützende Argumentation zu verlegen, die Bestrafung der führenden Persönlichkeiten eines Angreiferstaates entspreche einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, der ohne Gefährdung der Existenz der Völkerrechtsgemeinschaft nicht entbehrt werden könne“ (Sp. 367). Er geht also davon aus, dass aus den Wertgrundlagen des Rechts zwingend bestimmte Folgerungen erwachsen können, selbst auf dem Gebiet des Strafrechts in Abweichung von dem Nullum Crimen-Grundsatz (so auch Nr. 3, S. 335). In den folgenden Jahren hat dieser Rechtstandpunkt, mit dem Mosler die Gerichtsbarkeit des Internationalen Militärstrafgerichtshof in Nürnberg gegen dessen zahlreiche deutsche Kritiker in Schutz nahm, seinen Niederschlag zunächst in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 7 Abs. 2) wie auch dann im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 15 Abs. 2) gefunden. Naturgemäß waren in den folgenden Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit durch positives Recht solche Gedankengänge im Wesentlichen entbehrlich. Auf Naturrecht braucht innerhalb eines Verfassungsrahmens, der sich durch die Anerkennung von Globalbegriffen wie Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit für eine moralische Dimension öffnet, allenfalls in Ausnahmesituationen zurückgegriffen zu werden. Aber immer wieder kommt Mosler auch in späteren Schriften auf die Notwendigkeit zurück, das Rechtsgebäude von festen normativen Grundlagen aus zu konstruieren, die sich aus der Notwendigkeit eines geregelten Zusammenlebens
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in der menschlichen Gesellschaft ergeben. „Immer dann, wenn eine Handlung geeignet ist, die Rechtsgemeinschaft als solche zu negieren, muss die Rechtsordnung eine Norm enthalten, die sie verbietet“ (Nr. 15, S. 44). Zu diesem Kern jeder Rechtsordnung zählt er insbesondere diejenigen Rechtssätze, die sich auf die menschliche Person beziehen; auch ein Verbot des Angriffs mit Massenvernichtungswaffen hält er unter demselben Gesichtspunkt für systemimmanent (Nr. 15, S. 44). Rechtswissenschaft ohne feste Wertgrundlagen hieße, „im handwerklichen Vorhof geistigen Schaffens“ stehen zu bleiben (Nr. 16, S. 66). So spricht er sich konsequent auch für die Rechtsfigur des jus cogens im Völkerrecht aus, wo er zu diesem insbesondere diejenigen Völkerrechtsnormen rechnet, „die nicht aus staatlichem Konsens, sondern aus rational erkennbaren Notwendigkeiten des Zusammenlebens“ entstehen (Nr. 13, S. 18). Die Europäische Menschenrechtskonvention verkörperte für ihn die positivrechtliche Gestalt jener grundlegenden Normen zum Schutz des Individuums. Außer seinem unerschütterlichen Glauben an die inhärente Kraft eines aus moralischen Wertgrundlagen erwachsenden Rechts hat Mosler bewusst keine umwerfenden neuartigen Theorien über Staat und Recht entwickelt. Hervorzuheben sind insbesondere seine Betrachtungen zum Wesen der Bundesstaatlichkeit unter den Bedingungen der Gegenwart in seinen Arbeiten über die auswärtige Gewalt nach dem Grundgesetz (Nr. 5, 6 und 7). Das große Ziel vor Augen, den deutschen Staat nach den Jahren der Barbarei wieder zu rehabilitieren, entschied sich Mosler für eine Rechtspolitik der kleinen Schritte. Vertrauen war zu erwerben durch Solidität und Verlässlichkeit des deutschen Handelns im Verhältnis zu den Nachbarn. Texttreue bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge war für ihn eine Selbstverständlichkeit ebenso wie eine genaue Beobachtung der Praxis. So ging die regelmäßige Sparte „Deutsche Praxis in völkerrechtlichen Fragen“ in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht auf seine Anregung zurück. Im Heidelberger Institut verkörperte sich demgemäß eine Tradition, die eher an einem klassischen Verständnis von Staat und Recht festhielt, dennoch aber die neuen Entwicklungen durch den Aufbau internationaler Organisationen und die dadurch hervorgerufenen Auswirkungen auf das Verfassungsverständnis sorgsam beobachtete und würdigte (Nr. 8, 12, 14). Von Anfang an war Mosler als einem der Architekten der juristischen Ausformung der europäischen Einigung bewusst, dass der Integrationsprozess zu einer tief greifenden Umgestaltung des Souveränitätsbegriffs führen würde. Diese Umwandlung hat er aus der Sicht der Friedenswahrung im Hinblick auf seine strenge rechtliche Einhegung ohne Vorbehalt begrüßt. Die Frage, ob nicht die zunehmende Internationalisierung zu einer Schwächung des demokratischen Prinzips führen könne, stand in jenen Jahren noch nicht im Mittelpunkt des Interesses. Aber Mosler nahm zu einem sehr frühen Zeitpunkt wahr, dass die zunehmende Internatio-
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nalisierung insbesondere im europäischen Integrationsprozess zu einem spürbaren Machtzuwachs zugunsten der Exekutive führt und stellte sich die Frage, in welcher Weise im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl kompensierende Abhilfe durch eine Repräsentation des „Gemeinschaftsvolkes“ (!) geschaffen werden könnte (Nr. 8, S. 299 f.). Bekanntlich wurde die damalige Parlamentarische Versammlung erst viele Jahre später in Fortentwicklung der Römischen Verträge durch das Europäische Parlament abgelöst. Mosler bleibt nicht nur einer juristischen Öffentlichkeit in Erinnerung als Vorbild eines Repräsentanten deutscher Rechtskultur, der in seinen Schriften und in seiner praktischen Arbeit in hohen internationalen Ämtern das Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten allzeit vorgelebt und sichtbar gemacht hat.
Auswahlbibliographie Die Intervention im Völkerrecht. Die Frage des Verhältnisses von Souveränität und Völkergemeinschaft, Berlin 1937 Der Einfluss der Rechtsstellung Deutschlands auf die Kriegsverbrecherprozesse, Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947), Sp. 362–370. Die Kriegshandlung im rechtswidrigen Kriege, Jahrbuch für internationales und ausländisches öffentliches Recht 1948, S. 335–357. Die Großmachtstellung im Völkerrecht, Heidelberg 1949. Die völkerrechtliche Wirkung bundesstaatlicher Verfassungen. Eine Untersuchung zum Völkerrecht und zum vergleichenden Verfassungsrecht, in: Festschrift Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 129–172. Die auswärtige Gewalt im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Völkerrechtliche und staatsrechtliche Abhandlungen, Carl Bilfinger zum 75. Geburtstag am 21. Januar 1954 gewidmet, Köln u. a. 1954, S. 243–299. Kulturabkommen des Bundesstaats. Zur Frage der Beschränkung der Bundesgewalt in auswärtigen Angelegenheiten, ZaöRV 16 (1955), S. 1–34. Internationale Organisation und Staatsverfassung, in: Rechtsfragen der internationalen Organisation. Festschrift für Hans Wehberg, Frankfurt/Main 1956, S. 273–300. L’application du droit international public par les tribunaux nationaux, Recueil des cours 91 (1957), S. 623–709. Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, Karlsruhe 1957. Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1961, Teil II, S. 687–703. Die Entstehung des Modells supranationaler und gewaltenteilender Staatenverbindungen in den Verhandlungen über den Schuman-Plan, in: Ernst von Caemmerer u. a. (Hrsg.), Probleme des europäischen Rechts. Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt/Main 1966, S. 355–386.
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Jus Cogens im Völkerrecht, Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht 25 (1968), S. 9–40. Begriff und Gegenstand des Europarechts, ZaöRV 28 (1968), S. 481–502. Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 36 (1976), S. 6–49. Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 53–78. The International Society as a Legal Community, Alphen aan den Rijn 1980. Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919, Stuttgart 1988 (1. Aufl. 1964), Nachwort, S. 65–78. Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, Heidelberg 1992, S. 599–646
Würdigungen von Mosler Christian Tomuschat, Rede zum 50. Doktorjubiläum von Hermann Mosler, gehalten am 12. November 1987, in: Bonner akademische Reden, Bd. 69, Bonn 1989, S. 9–29. Jochen Abr. Frowein, Nachruf Hermann Mosler, ZaöRV 61 (2001), S. 725–727. ders., Zum Tod von Hermann Mosler, AöR 127 (2002), S. 323–324. Rudolf Bernhardt, Die Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft: Hermann Moslers Beitrag als Wissenschaftler und internationaler Richter, Der Staat 42 (2003), S. 583–599.
LIII Karl August Bettermann (1913–2005) Detlef Merten
I. Vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“ Karl August Bettermann gehört zu den „juristischen Enzyklopädisten“ (Kon stantin Kerameus) oder „juristischen Universalgelehrten seiner Zeit“ (Michael Kloepfer)1. Da er als Staatsrechtslehrer auch im Zivilrecht und Zivilprozessrecht wirkte, konnte er Gemeinsames herausarbeiten und Verbindendes entdecken, was bei Konzentration auf ein Rechtsgebiet vielfach verborgen bleibt. Wegen dieser Dreispurigkeit haben Freunde und Schüler Bettermanns die anlässlich seines 75. Geburtstages gesammelten „Schriften aus vier Jahrzehnten“ unter die Überschrift „Staatsrecht – Verfahrensrecht – Zivilrecht“2 gestellt. Bettermann wird am 4. August 1913 in Barmen geboren, einer Landschaft, die – wie er einmal sagt – seit über dreihundert Jahren Teil Preußens ist, weswegen er sich „Preußen zugehörig“ fühle. Er entstammt einer, wie er schreibt,3 „nationalliberalen“ Kaufmannsfamilie in Hagen, die ihn geprägt hat. Den väterlichen Weinhandel erwähnte er zuweilen, wenn man bei inoffiziellen Treffen auf Wein zu sprechen kam. Nach dem Besuch eines von ihm als „vorzüglich“ bezeichneten humanistischen Gymnasiums in Hagen, der ihm später den Zugang zum Römischen Recht erleichtert, studiert er in Gießen und Münster die Rechte. In seinem dritten Semester an der Gießener Ludoviciana lähmen allerdings sein Corps (Starkenburgia), dessen Erstchargierter er für drei Semester ist, sowie das aufziehende „Dritte Reich“, das Auseinandersetzungen mit den „untereinander konkurrierenden NS-Studentenorganisationen“ mit sich bringt,4 den Studieneifer. 23 Jahre später tritt das Mitglied einer schlagenden Verbindung in die akademische Gemeinschaft der Freien Universität Berlin ein, die mensurenschlagende Studenten nicht immatrikuliert. Fast genüsslich weist das Bundesverwaltungs-
1 AöR 128 (2003), S. 339. 2 Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier/Karsten Schmidt/Albrecht Zeuner (Hg.), Karl August Bettermann, Staatsrecht – Verfahrensrecht – Zivilrecht, 1988. 3 Handschreiben vom 5.11.2003 an Willi Blümel, dem Verf. für die Überlassung einer Kopie dankt. 4 Handschreiben vom 28.9./1.10.1998 an Helmut Quaritsch, der Verf. eine Kopie überlassen hat.
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gericht dann bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieser Zulassungshürde auf die Paradoxie hin, dass dem Lehrkörper Mitglieder mensurenschlagender Verbindungen angehören, bei Studenten aber die hierin „zum Ausdruck kommende Gesamthaltung“ „als unvereinbar mit dem Geist“ der Freien Universität angesehen wird.5 Als Zeitzeuge des „Dritten Reichs“ sieht Bettermann dessen offenkundige Abkehr vom Rechtsstaat in der „Reichsmordwoche“,6 der „Niederschlagung“ des sogenannten (weil nicht existenten) Röhm-Putsches, in deren Verlauf es neben Erschießungen vieler SA-Führer zu zahlreichen Morden an Regimegegnern kommt.7 Das satirisch-distanzierende Schlagwort8 zeigt, dass sich in Teilen der Bevölkerung ein natürliches Gespür für Rechtsexzesse erhalten hatte. Dennoch bleibt ein „Aufschrei der Empörung über diese Führerjustiz“ aus, was Bettermann rückschauend damit erklärt, dass „unser rechtsstaatliches Gewissen … nicht geschärft genug“ war.9 In dieser Zeit wird für ihn Rechtsstaatlichkeit zu einem prägenden Leitideal, weshalb er später kritische Distanz zu Kollegen hält, die – vielfach nur für einen begrenzten Zeitraum – die nationalsozialistische Ideologie unterstützt oder Unrecht für „Recht“ erklärt hatten.10 Nach dem ersten Staatsexamen ist Bettermann als Referendar in Hagen tätig, wo „im Alltag der unteren Instanzen die Justiz in gewohnten – rechtsstaatlichen – Gleisen weiterlief“.11 Am Oberlandesgericht Düsseldorf wird er mit Ehesachen beschäftigt, bei denen NS-Ideologie insoweit einfließt, als für die Güter- und Schuldabwägung bei Widerspruch gegen die Ehescheidung wegen dreijähriger Heimtrennung „die Erwartung reichen Kindersegens in der neuen Ehe … ins Gewicht fiel“.12 1937 wird Bettermann in Gießen mit der Schrift „Vom stellvertretenden Handeln“ promoviert, die er seinem „Lehrer und Freund“ Eduard Bötticher widmet, wobei er sich – hinsichtlich des öffentlichen Rechts – auch als
5 BVerwGE 7, 287 (290). 6 So in seinem Handschreiben vom 19.7.1994 an Carl Hermann Ule, der Verf. eine Kopie überlassen hat, S. 1R. 7 Vgl. statt aller Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, 7. Aufl., 2009, S. 16 f. 8 Ihm folgen später u. a. „Reichskristallnacht“, „Reichswasserleiche“ [Kristina Söderbaum]. 9 Handschreiben aaO., S. 1R, 2. 10 Nachträglich werden die „vollzogenen Maßnahmen“ durch Gesetz der Reichsregierung „über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ vom 3.7.1934 (RGBl. I S. 529) in einem „einzigen Artikel“ für „rechtens“ erklärt. 11 Handschreiben vom 27.12.1987 an Carl Hermann Ule und Frau, von denen Verf. eine Kopie erhielt. 12 Handschreiben aaO., S. 2.
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Schüler Ottmar Bühlers betrachtet.13 Die Doktorarbeit wird – für eine Dissertation ungewöhnlich – 1964 nachgedruckt. In ihr geht es nicht nur um die Widerlegung des „Offenheitsprinzips“, sondern auch um das Wesen der Stellvertretung und deren Bedeutung als allgemeines Rechtsinstitut (S. 108). 1939 veröffentlicht der Doktor seinen ersten Aufsatz, der auch Rechtskraftprobleme behandelt, in der angesehenen „Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß“.14 Es waren wohl die Systematik und die Abstraktion der zivilrechtlichen Kodifikationen, die Bettermann anzogen und zeitlebens faszinierten, so dass seine Kritik, ein Autor habe einen „zu weitgehenden Verzicht auf Systematik“ geübt,15 schwer wog. Seine Vorliebe für das ius civile, nicht die äußeren politischen Umstände16 haben ihn zum Zivilisten gemacht. Eine „Flucht in das Privatrecht“ hätte seiner Courage widersprochen und wird auch durch seinen Lebensweg nach Kriegsende widerlegt. Nach zweitem Staatsexamen und Kriegsausbruch wird der junge Assessor zur Luftnachrichtentruppe der Wehrmacht eingezogen und in Frankreich, Norwegen und Finnland eingesetzt. In kriegsgerichtlichen Verfahren wirkt er als Verteidiger und hat – für manchen unerwartet – situationsbedingt Verständnis für Desertionen. „Als Angehöriger eines Strafbataillons in den Sumpfwäldern Lapplands hatte man nur die Wahl zu desertieren ins nahe Schweden oder zu krepieren“.17 Die Kapitulation, die er mit 31 Jahren „als Zugführer einer bis zuletzt Disziplin und Kameradschaft haltenden Einheit“18 erlebt, empfindet er als „absoluten Tiefpunkt in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts“. Ihn, wie von der „politischen Klasse“ vorgegeben, als „Tag der Befreiung“ anzusehen, stößt später auf seinen heftigen Widerspruch, weil die „Befreiungstheologie“ sowjetischen Ursprungs sei, während General Eisenhower sich „als Sieger, nicht als Befreier“ proklamiert habe.19
13 Handschreiben vom 14.11.1999, S. 1, an Helmuth Schulze-Fielitz, der Verf. dankenswerterweise eine Kopie überlassen hat. 14 Von der Zwangsvollstreckung gegen die Handelsfrau, ZZP 62 (1939), S. 210–231. 15 So die Rezension des Landesverwaltungsgerichtsrats und Privatdozenten Bettermann zu Justus Wilhelm Hedemann, Grundprobleme des Wohnungsrechts, 1951, in: AcP 151 (1951), S. 564 (565). 16 So aber Friedrich Karl Fromme, FAZ Nr. 178 vom 4.8.2003, S. 4. 17 Handschreiben an Verf. vom 15.8.2000, S. 1R. 18 Leserbrief, FAZ vom 27.4.1995, S. 11. 19 Leserbrief aaO.
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II. Richter und Dozent Bettermann, 1945 zum Gerichtsassessor und danach zum Landgerichtsrat in Hagen ernannt, geht es beim Neuaufbau Deutschlands vor allem um die „Wiederaufrichtung“ des Rechtsstaates,20 „eine der größten Ideen und Werte des Abendlandes“,21 der von den Besatzungsmächten keineswegs garantiert, sondern – nicht nur in der sowjetisch besetzten Zone – vielfach negiert wird. Deshalb fordern die Ministerpräsidenten der Länder im Juli 1948, „der deutschen Bevölkerung … die allgemeinen Menschenrechte sowie die bürgerlichen Rechte und Freiheiten“ auch den Besatzungsmächten gegenüber zu gewährleisten.22 Das Grundgesetz garantiert dann für einen Teil Deutschlands Rechtsstaatlichkeit, die – worauf Bettermann später Jüngere hinweist – „in Deutschland nicht erst nach 1945 rezipiert oder gar oktroyiert wurde, sondern … autochthon in hundert Jahren gewachsen ist“.23 Die „rechtsstaatlichen Elemente“ überwiegen in der neuen Verfassung nach seiner Meinung24 deutlich die demokratischen; das Grundgesetz „wagt eher weniger Demokratie, aber weit mehr Rechtsstaat als Weimar“ und scheue auch nicht vor dem Justizstaat (Richterstaat) zurück. Rechtsstaatlichkeit wird für ihn zum cantus firmus, der schon mit einem Aufsatz über „Rechtsstaat ohne unabhängige Richter“25 einsetzt. In ihm fordert er, „die Rechtsprechung von den übrigen Staatsfunktionen unter Ausschluß jeder Beeinflussungsmöglichkeit“ abzutrennen,26 und warnt angesichts drängender Zeitumstände vor politischen Institutionen zur Überprüfung des „demokratischen Geistes“ der Richter, wodurch die „Unabhängigkeit des gesamten Rich terstandes“ gefährdet und die Rechtspflege politisiert werden könne. Konkreter Anlass war die Behauptung des justizkritischen nordrhein-westfälischen Innenministers Menzel, politisch einwandfreie Richter zur Auffüllung der Verwaltungsgerichte seien in ausreichender Zahl nicht vorhanden, woraus jedoch die
20 Vgl. dens., Rechtsweg und richterliche Kontrolle von Verwaltungsakten, insbesondere in der Wohnungszwangswirtschaft, MDR 1947, S. 44 (vor I.). 21 Handschreiben an Verf. vom 18.8.2000, S. 2R.; ähnlich Bettermann, NJW 1947/48, S. 217. 22 Beschlüsse der Koblenzer Ministerpräsidentenkonferenz vom 8. bis 10.7.1948 („RittersturzKonferenz“), Stellungnahme der Ministerpräsidenten zu dem (Frankfurter) Dokument III, abgedr. in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. II: Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919–1951), 1951, S. 200 (205 sub II). 23 Bettermann, Aus 100 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 4 (1965), S. 482 (484 f.). 24 Bettermann, Wege zum Rechtsstaat – Ausgewählte Studien von Otto Bachof, AöR 109 (1984), S. 435 (436). 25 NJW 1947/48, S. 217 ff. 26 AaO., S. 219 l.Sp.
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Gefahr fehlender Gerichtskontrolle der „Allgewalt der Wohnungsämter“ resultierte. Gerade der umfassende Gerichtsschutz „vollendet“ aber nach Bettermann „den Rechtsstaat“.27 Immer wieder beschäftigt er sich mit der Generalklausel,28 der Unabhängigkeit der Richter29 und einer neutralen Rechtsprechung,30 die den Rechtsstaat konstituieren und bürgerliche Freiheit sichern. Als Konsequenz der Rechtsstaatlichkeit lehnt Bettermann gegen die noch später herrschende Meinung31 eine – terminologisch ohnehin verfehlte32 – „Vermutung“ der Richtigkeit und Gültigkeit von Verwaltungsakten33 im Gegensatz zur These Otto Mayers34 ab, wonach die Obrigkeit mit dem Erlass eines Verwaltungsakts zugleich dessen Gültigkeit bezeuge. Ebenso verneint er gegen das Bundesverfassungsgericht35 die Vermutung einer Verfassungskonformität des Gesetzes, weil es hierfür „weder eine reale noch eine legale Grundlage“ gebe36 und das Parlament wegen des „Vorrangs der Verfassung“ nicht über, sondern unter dem Verfassungsgesetz stehe.37 Allerdings ist Bettermann kein Rechtsstaats-Purist,
27 MDR 1949, S. 394 (398 sub III 3). 28 Zur Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze und zum Rechtsschutz des Bürgers gegen Rechtssetzungsakte der öffentlichen Gewalt, AöR 86 (1961), S. 129 ff.; Der totale Rechtsstaat, 1986; Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 96 (1971), S. 528 ff. 29 Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: ders./Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 523–642; ders., Vom Sinn und von den Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit, in: Die Unabhängigkeit des Richters, Cappenberger Gespräche der Freiherr-vom-Stein Gesellschaft e. V., Bd. 1, 1969, S. 45 ff. 30 Bettermann, Art. Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 1711 ff.; ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 73, S. 775–814; ders., Der Richter als Staatsdiener, 1967, S. 10. 31 Vgl. BVerwGE 1, 63 (69); Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., 1973, § 12, S. 224 f. mit Nachweisen in FN 3. 32 Bachof, JZ 1957, S. 431 (437 sub C II). 33 Bettermann, Verwaltungsgerichtliche Generalklausel, ordentlicher Rechtsweg und nichtiger Verwaltungsakt, MDR 1949, S. 394 (395 f.); ders., Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 25. 34 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., 1923, S. 95 f. 35 BVerfGE 2, 266 (282). 36 Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 24 ff.; kritisch auch Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000), S. 177 (182 f.); vgl. auch Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., 2012, RN 443. 37 Bettermann, Freiheit unter dem Gesetz, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft, Abendvorträge an der Freien Universität im Winter 1961/62, Berlin 1962, S. 63 (79).
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sondern macht „praktische Vernunft“ zum „Richtmaß“;38 auch wissenschaftliche Systematisierung und Differenzierung misst er zuvörderst an deren Praktikabilität.39 Deshalb formuliert er gegenständlich: „Man kann den Rechtsstaat auch zu Tode reiten“ und wirft dem Bundesgerichtshof vor, hierzu beigetragen zu haben.40 Bettermann habilitiert sich 1948 in Münster für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht mit „einer bis zum heutigen Tage grundlegend gebliebenen Studie“ (Albrecht Zeuner) über „Die Vollstreckung des Zivilurteils in den Grenzen seiner Rechtskraft“. Sein Betreuer ist neben Harry Westermann der Romanist Max Kaser, bei dem er schon in Gießen „Römisches Privatrecht“ gehört hat und dem er später in der Hamburger Universität wieder begegnen wird. Die Rechtskraft bleibt eines seiner prozessualen Hauptthemen. Schon vor seiner Habilitation hat er über „Rechtskraft und Unabänderlichkeit im Steuerrecht“41 geschrieben und publiziert nun weiter hierzu.42 Unter Heranziehung aller Prozessordnungen weist er nach, dass die Rechtskraft auf den Streitgegenstand sowie die Prozessbeteiligten beschränkt43 und auch das Vertrauen auf die Kontinuität höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht geschützt44 ist. Noch im vorgerückten Alter beklagt er „die endlose Diskussion um das Richterrecht … und dessen Hochstilisierung, vor allem im Arbeitsrecht und in der Auslegung des § 31 BVerfGG“.45 Kurz nach Kriegsende stehen Alltagsprobleme im Vordergrund. Die Flächenbombardements im Kriege sowie die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen haben zu Wohnraumknappheit, staatlicher Raumbewirtschaftung und Mietpreisregulierung, aber auch zur Überlastung der Gerichte in diesem Bereich geführt, in dem jetzt auch Bettermann judiziert und publiziert. Er kommentiert das Mieterschutzgesetz46 und proklamiert das Wohnungsrecht als „selbständi-
38 S. Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 36 f.; zustimmend Hans Schneider, Der Staat 26 (1987), S. 591 (592). 39 Vgl. seinen Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 19 (1961), S. 250 f. 40 Anmerkung zu BGH, Urt. vom 1.7.1976 (III ZR 187/73), in: VSSR V (1977), S. 79 (89); ebenso ders., Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 14. 41 Finanz-Rundschau 1947, S. 76 ff. 42 Über die materielle Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile, MDR 1954, S. 7 ff.; Verweisung, Kompetenz, Kompetenzkonflikt und Rechtskraft, JZ 1957, S. 321 ff.; Festschrift für Fritz Baur, 1981, S. 187 ff. 43 Bindung der Verwaltung an die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: Beiträge zum Zivil-, Steuer- und Unternehmensrecht, Festschrift für Meilicke, 1985, S. 11. 44 Hierzu Bettermann, in: AöR 106 (1981), S. 471 ff., Rezension von Joachim Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht, 1979. 45 Handschreiben an Verf. v. 1.8.1995, S. 1 R. 46 Bettermann, Kommentar zum Mieterschutzgesetz und seinen Nebengesetzen, 2 Bände, 1950.
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ges Rechtsgebiet“.47 Seine literarische Tätigkeit macht ihn auch in der unteren Gerichtsbarkeit bekannt, was Referendare noch Jahrzehnte später in ihrer Ausbildung erfahren. Das Bundesverfassungsgericht zitiert bereits im zweiten Band seiner Entscheidungen48 – allerdings ablehnend – Bettermanns Auffassung zu vorkonstitutionellen Ermächtigungsnormen; das Bundesverwaltungsgericht weist auf ihn – ebenfalls ablehnend – schon im ersten Band der Entscheidungen hin.49 „Anderer Ansicht Bettermann“ wird zu einer Formel, mit der der Angesprochene später kokettiert, wenn er sie bei brieflicher Kritik der Schlussformel beifügt. Ungeachtet dessen bleibt er Gegner einer anlassbetonten Rechtsprechung, weshalb er dem Bundesverfassungsgericht „Kasuistik und Fallentscheidung anstelle von Verfassungsinterpretation“ vorwirft50 und vom Revisionsrichter verlangt, dass dieser „in lebendiger Wechselwirkung mit der Rechtslehre“ tätig wird.51 Bettermann erkennt die Bedeutung des seit dem Ersten Weltkrieg „immer weiter vordringenden staatlichen Einflusses in die Privatsphäre und der dadurch bedingten immer enger werdenden wechselseitigen Durchdringung von privatem und öffentlichem Recht52 und das Problem, inwieweit Behörden an gerichtliche Entscheidungen und Gerichte an exekutive Erlasse gebunden sind.53 So wächst sein Interesse an der Publizistik, und er wechselt 1950 die Gerichtsbarkeit – vielleicht auch wegen Richtermangels bei den Verwaltungsgerichten – und wird 1950 Landesverwaltungsgerichtsrat (Oberverwaltungsgerichtsrat) in Münster unter Präsident Paulus van Husen, der für ihn „Vaterfigur“ ist. Bereits 1954 wird er mit 41 Jahren an das erst 1953 gegründete Bundesverwaltungsgericht in Berlin unter dessen „bärbeißigem“54 Präsidenten Ludwig Frege berufen und dem V. Senat zugeteilt, dem auch der ihm dann kollegial und freundschaftlich verbundene Martin Baring angehört. Bereits nach einundeinhalb Jahren gibt Bettermann sein Amt auf, was ihm einen leichten Tadel des seinerzeit zuständigen Bundesinnenministers Dr. Gerhard Schröder einträgt.
47 Bettermann, Das Wohnungsrecht als selbständiges Rechtsgebiet, 1949. 48 BVerfGE 2, 307 (327). 49 BVerwGE 1, 104 (107 ff., 116, 118, 120). 50 Die allgemeinen Gesetze als Schranke der Pressefreiheit, JZ 1964, S. 601 (602 sub I 2 a). 51 Gedenkrede, in: Fritz Werner zum Gedächtnis, 1970, S. 27 (30). 52 Bettermann, Rechtsweg und richterliche Kontrolle von Verwaltungsakten, insbesondere in der Wohnungszwangswirtschaft, MDR 1947, S. 44 (vor I). 53 Vgl. hierzu Bettermann, Über die Bindung der Verwaltung an zivilgerichtliche Urteile, in: Festschrift für Fritz Baur, 1981, S. 187 ff.; dens., Über die Bindung der Verwaltung an die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: Festschrift für Heinz Meilicke (FN 43), S. 1 ff. 54 Handschreiben an Carl Hermann Ule vom 27.12.1987.
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III. Als Staats- und Verwaltungsrechtler in Berlin Bettermann – 1955 zum außerplanmäßigen Professor in Münster und zum Honorarprofessor für Verwaltungsprozessrecht in Berlin ernannt – nimmt 1956 den Ruf auf einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin an und wird auch zum Geschäftsführenden Direktor des Staatsrechts-In stituts bestellt. Der neue Ordinarius prägt das öffentliche Recht und wird zu einem „wirklichen Kernstück der damaligen juristischen Fakultät“ (Rupert Scholz). In dieser Eigenschaft hat ihm der Dichter Martin Walser in seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Bettermann ist in der Lehre faszinierend, aber anspruchsvoll. In den Vorlesungen, für die das Semester mitunter knapp bemessen ist, formuliert er mit etwas hoher Stimme engagiert und pointiert, zugleich exakt und bedacht, so dass der Zuhörer mit ihm in die Rechtsmaterie eindringen und Probleme erfassen kann. Seine Stärke liegt in den Seminaren, zu denen ihm unbekannte Studenten erst nach einem Gespräch Zugang finden. Ohnehin eignet ihm, was er später Eduard Bötticher zuschreibt: „Er zog die Begabten an und hielt den Ballast fern“.55 Wer im Bettermann-Seminar standhält, hat ein in keiner Ausbildungsordnung vorgesehenes Vorexamen abgelegt. Hierfür reicht ein sorgfältig ausgearbeitetes Referat, wenn es überhaupt zur Gänze gehalten werden kann, nicht aus, sofern der Vortragende im Disput nicht reüssiert. Ziselierte Theorien überzeugen nur bei Praxistauglichkeit; widersprüchliche oder unschlüssige Thesen werden aufgespürt; Gemeinplätze rufen Stirnrunzeln hervor; „herrschende Meinungen“ oder Zelebritäten taugen nicht als Rettungsring. Hat doch Bettermann selbst eine Anmerkung schneidig mit den Worten eingeleitet: „Der Spruchkörper, der hier entschieden hat, der Große Zivilsenat des BGH, war anscheinend noch nicht groß genug. Man hätte auch die Strafrichter heranziehen sollen“.56 Rückschauend bemerkt er, dass er „in der Nachkriegszeit und in den Berliner Jahren respektlos zu den ‚Alten‘ und für ‚Reformen‘ auf vielen Gebieten, zumal des Rechtswesens“57 war, ohne allerdings „im Verdacht eines wütenden Neuerers“58 zu stehen. So empfiehlt er dem Notarsenat des Bundesgerichtshofs, „alte Zöpfe abzuschneiden, sich von Vorurteilen freizumachen, traditionelle Leerformeln aufzugeben und mehr Freiheit zu wagen“.59
55 Bettermann, Eduard Bötticher 1899 bis 1989, ZfA 1990, S. 1 (3). 56 NJW 1957, S. 906. 57 Handschreiben vom 20.7.2004 an Verf., S. 1 R. 58 Anmerkung zu BGH vom 2.10.1972, DVBl. 1973, S. 186 (188 sub V 3). 59 Urteilsanmerkung aaO.
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Akademische Diskussion ist für ihn nicht „welt- oder wirklichkeitsfremd“, sondern eine „im Geiste strenger Wissenschaft in wissenschaftlicher Redlichkeit“ geführte geistige Auseinandersetzung, die „allein dem Suchen, Finden und Verkünden der Wahrheit dient“ und „nicht auf politisches Handeln gerichtet ist“.60 Der „aristokratische Zug“ der „Gelehrten-Republik“ ist demokratiekonform, „weil der Zugang zu dieser Aristokratie jedermann offensteht, der in Leistung und Haltung ihren Anforderungen entspricht“.61 Die heutige Massenakademisierung mit ihrer Verflachung hätte er abgelehnt. Schon 1960 warnt er in einer Feierstunde zu „150 Jahre[n] Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin“ vor einem durch anschwellende Studentenzahlen verursachten „Qualitätsgefälle zwischen der Forschung, deren Niveau durch internationale Maßstäbe bestimmt wird, und der Lehre“, die „durch das Bleigewicht dumpfer Hörermassen herabgezogen“ werde. Bei der Suche nach der Wahrheit ist Bettermann unerbittlich und schnörkellos, weil es ihm um die Sache, nicht um die Person geht, weshalb auch für Charme, den er in Gesellschaft entfalten kann, kein Raum ist. Studenten begegnet er in wissenschaftlicher Kollegialität, die sich zuwendet und zugleich distanziert, aber nie herablassend wirkt. Bei der Durchsicht von Vorlagen macht er harsche Randbemerkungen oftmals als Augenblickseingebungen, was Kundige wissen. In einem Falle haben diese Marginalien zu einer „causa Bettermann“ geführt. Bei der gerichtlichen Kontrolle eines Prüfungsverfahrens, in dem er als Erstvotant der Hausarbeit beteiligt war, hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Reihe „nicht ganz unbedenklich[er]“ oder „unzulässig[er]“ Randbemerkungen eine mögliche Verletzung des Sachlichkeitsgebots gesehen.62 Der Prüfer fühlte sich zu Unrecht gescholten, weil – wie er sagte – das Gericht sich an seinen Bemerkungen gestoßen, aber nicht sein unbeanstandetes Votum respektiert habe. Nicht zuletzt wegen der insbesondere durch den Mauerbau 1961 isolierten Lage Berlins intensiviert Bettermann wissenschaftliche Kontakte zum Ausland. Er wirkt maßgeblich an den Wochen deutsch-griechischen Rechts mit, die von der Universität Thessaloniki und der Freien Universität Berlin in den jeweiligen Heimatstädten veranstaltet werden,63 und beteiligt sich an den Festschriften der
60 Bettermann, Die Universität in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, in: Universität und Universalität, Universitätstage 1963, S. 56 (66). 61 AaO. S. 71. 62 BVerwGE 70, 143 (153). 63 Vgl. Bettermann, Verwaltungsrechtsschutz und Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland sowie dens., Die richterliche Normenkontrolle, Woche des deutschen und griechischen Rechts, Thessaloniki 1958 (deutsch und griechisch), S. 101 ff., 122 ff.
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ihm bekannten griechischen Kollegen Kyriacopoulus64 und Fragistas,65 der auch in deutscher Sprache publiziert hatte. Infolge dieser Zusammenarbeit studiert dann eine Reihe griechischer Studenten in Berlin die Rechte. Von ihnen sind vor allem Konstantin Kerameus, später Ordinarius in Thessaloniki (1971) und Athen (1983), der 1962 promoviert wird, und Vassilios Skouris zu nennen, der in Berlin nicht nur sein Studium absolviert, sondern auch ein herausragendes Referendarexamen ablegt (1970), später in Hamburg promoviert wird (1973)66 und sich habilitiert.67 Für die Schweiz stehen Bettermanns freundschaftliche Beziehungen zu Hans Huber, den er außerordentlich schätzt, mit dem er gemeinsam Urlaube in Sils Maria verbringt und an dessen Festschrift er mitwirkt,68 im Vordergrund. Ihnen eignen übereinstimmende Forschungsgegenstände wie Rechtsstaatlichkeit69 und Freiheit, wobei Hans Huber auch in Deutschland vorträgt70 und publiziert.71 Daneben schätzt Bettermann Kurt Eichenberger, dessen Habilitationsschrift er bespricht72 und an dessen Festschrift er sich ebenso beteiligt73 wie an dessen Symposion anlässlich des 70. Geburtstages. Bettermann würdigt ihn vor allem wegen seiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Staatsrechtslehrer-Vereinigung, bei deren Tagungen Eichenberger vielfach den Schweizer Bericht vorstellt. Gute Kontakte pflegt Bettermann auch zu Max Imboden, der im Sommersemester 1959 als Gastprofessor in Berlin lehrt und an dessen Gedenkschrift er mitwirkt.74
64 Umrisse eines Systems des Verwaltungsrechtsschutzes (deutsch), in: Festschrift für Elias Kyriacopoulus, Thessaloniki, 1966, S. 785 ff. 65 Über Klage- und Urteilsarten (deutsch), in: Festschrift Fragistas, Thessaloniki, 1967, Bd. II der sechsbändigen Festschrift, S. 47 ff. 66 Mit einer Arbeit über „Teilnichtigkeit von Gesetzen“, Berlin 1973. 67 Mit einer Schrift über „Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß“, 1979. Skouris wird 1978 nach Bielefeld und 1982 nach Thessaloniki als Professor berufen. 68 Über die Rechtswidrigkeit von Staatsakten, in: Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag, 1981, S. 25 ff. 69 Vgl. Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaates, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, 1955, S. 59 ff. 70 Die Verfassungsbeschwerde – Vergleichende und kritische Betrachtungen. Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 16.2.1954, Schriftenreihe Heft 9. 71 Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grundrechte und die schweizerische Rechtsprechung, in: Hermann Wandersleb (Hg.), Recht – Staat – Wirtschaft, Band IV, 1953, S. 120 ff. 72 Kurt Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960, in: JZ 1962, S. 509 ff. 73 Richterliche Gesetzesbindung und Normenkontrolle, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 593 ff. 74 Bettermann, Über die Legitimation zur Anfechtung von Verwaltungsakten, in: Der Staat als Aufgabe, Gedenkschrift für Max Imboden, 1972, S. 37 ff.
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Zu Österreichs Doyen der Zivilprozessualisten, Hans Schima, bestehen wissenschaftliche und persönliche Beziehungen, so dass er später zu dessen Festschrift beiträgt.75 Einen Gedanken- und Schriftenaustausch pflegt er auch mit Hans Klecatsky, Felix Ermacora und Erwin Melichar, dem Korreferenten der Wiener Staatsrechtslehrertagung, dem er auch Schüler empfiehlt, und mit Herbert Schambeck. Das persönliche Verhältnis zu Werner Ogris, Rechtshistoriker in Berlin von 1960 bis 1962, übersteht auch dessen Weggang an die Wiener Universität. Bettermann hält viele Vorträge in Österreich, darunter vor der Wiener Juristischen Gesellschaft.76 In Berlin reduziert Bettermann seine richterliche Tätigkeit auf den ehrenamtlichen Vorsitz des Verwaltungsgerichtshofs der Evangelischen Kirche der Union unter dem populären Bischof Otto Dibelius, dem 1966 Bischof Kurt Scharf nachfolgt, zu dem kühler Abstand gewahrt wird. Er ist als Sachverständiger in Bonn, als Referent und als Gutachter viel gefragt. Später schreibt er,77 er habe „mit vollem, oft schonungslosem Einsatz, am Wiederaufbau des Gemeinwesens, insbesondere seines Rechtswesens“ mitgewirkt. Das „Wunder“ der heutzutage gern geschmähten Adenauer-Ära sieht er darin, dass „ein geschlagenes, mit schwerer Schuld beladenes Volk sich binnen kurzer Zeit aus Chaos, Not und Hunger herausarbeitet, dabei noch zehn Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufnimmt und integriert, eine funktionierende Demokratie und einen perfekten Rechtsstaat installiert, als nahezu gleichberechtigtes Mitglied in die Völkergemeinschaft zurückkehrt, mit einer neu aufgebauten Wehrmacht am 5. Mai 1955 – zehn Jahre nach der ‚unconditional surrender‘“! In Berlin bilden sich neue Schwerpunkte ohne Aufgabe bisheriger Leitthemen. Schon bald nach seinem Eintritt in die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wird ihm für die Wiener Tagung 1958 das verwaltungsrechtliche Erstreferat zum Thema „Das Verwaltungsverfahren“ übertragen; später wird er für die Jahre 1966 und 1967 in den Vorstand gewählt. Zuständig für die Veröffentlichungen, erscheinen diese prompt zügiger. Bereits 1957 wird er Mitherausgeber des Grundrechte-Handbuchs und treibt die Arbeiten als Redakteur und Autor
75 Bettermann, Die Legitimation zur verwaltungsgerichtlichen Anfechtung nach österreichischem und deutschem Recht, in: Festschrift für Hans Schima zum 75. Geburtstag, Wien 1969, S. 72 ff. 76 Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grundsätze des Prozesses, in: Juristische Blätter, 1972, S. 57 ff. 77 Handschreiben an Helmut Quaritsch vom 28.9./1.10.1998, S. 2 R.
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voran, so dass von 1958 bis 1962 vier Teilbände erscheinen, zu denen er Gewichtiges78 beiträgt. Grundsätzliches zur Freiheit findet sich in seinem Vortrag „Freiheit unter dem Gesetz“.79 Der Staat des Grundgesetzes – so Bettermann – habe sich „bis zur äußersten Grenze“ „unter das Gesetz der Freiheit gebeugt“,80 weshalb auch das Sozialstaatsprinzip „keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum über die Schrankenvorbehalte der Grundrechtsartikel hinaus“ legitimiere.81 Bettermann äußert sich zu zahlreichen Einzelgrundrechten,82 nimmt aber auch zu den Allgemeinen Lehren Stellung. In seinem Aufsatz über „Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Grundrechtsträger“83 setzt er der kasuistischen und widersprüchlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die problemlösende These entgegen: Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind grundrechtsberechtigt, wenn sie staatlicher Hoheitsgewalt „wie eine private Person unterworfen“ sind.84 Auf diese Weise lassen sich die allgemein konzedierten Ausnahmen für Religionsgesellschaften, Universitäten sowie Rundfunkanstalten85 ebenso zwanglos in die Regel einordnen wie die Prozessgrundrechte, die nicht ihres subjektiv-rechtlichen Charakters beraubt werden müssen,86 damit sie in das Karlsruher Prokrustesbett passen. Folgerichtig ist auch die Interpretation der „allgemeinen Gesetze“ als Schranken der Pressefreiheit.87 Zu Recht sieht er in ihnen das Verbot von Sonderrecht gegen Art. 5 Abs. 1 GG und bietet damit eine überzeugende und praxis taugliche, aber auch eine den differenzierenden Art. 5 Abs. 2 GG respektierende
78 „Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter“; „Schutz der Grundrechte in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“. 79 In: Freiheit als Problem der Wissenschaft, Abendvorträge der Freien Universität Berlin im Winter 1961/62, Berlin 1963, S. 63 ff. 80 AaO., S. 74. 81 AaO., S. 79. 82 Zulassung und Grundgesetz, in: Das gesamte Recht der Heilberufe, Berlin 1958, Bd. I, S. 958 f.; Mieterschutz und Vertragsfreiheit, JZ 1954, S. 461 ff.; vgl. seinen Diskussionsbeitrag in: Verhandlungen des 49. Deutschen Juristentages, München 1972, S. N 175 ff.; ders., Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, JZ 1964, S. 601 ff.; ders., Publikationsfreiheit für erschlichene Informationen?, NJW 1981, S. 1065 ff.; Rundfunkfreiheit und Rundfunkorganisation. Kritische Bemerkungen zum Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1963, S. 41 ff.; ders., Vom Rechtsschutz und Rechtsweg des Bürgers gegen Rundfunk-Rufmord. Bemerkungen zu BGHZ 66, 182, NJW 1977, S. 513 ff.; Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, Berlin 1968, S. 1 ff. 83 NJW 1969, S. 1321 ff. 84 Bettermann, NJW 1969, S. 1327 f.; ders., in: Hirsch-Festschrift (FN 82), S. 11. 85 Vgl. die Nachweise bei Jarass, in: ders/Pieroth, GG, 13. Aufl., 2014, Art. 19 RN 28 f. 86 Vgl. BVerfGE 61, 82 (104); 75, 192 (200 f.). 87 JZ 1964, S. 601 ff.; auch in: ders., Gesammelte Schriften (FN 2), S. 215 ff.
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Lösung, die der komplizierten und wegen des Wechselwirkungspostulats schwer berechenbaren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts88 überlegen ist. Gleichsam als Vorstudie der für das Grundrechte-Handbuch geplanten „Allgemeinen Lehren“89 hält Bettermann 1964 vor der Berliner Juristischen Gesellschaft, deren Vorsitzender er zu dieser Zeit ist, einen auch rhetorisch eindrucksvollen Vortrag über „Grenzen der Grundrechte“. Ausgehend vom „Schrankenwirrwarr“ des Grundgesetzes (S. 3) unterscheidet er ungeschriebene und geschriebene Grundrechtsschranken (S. 9), wobei er bei letzteren die verfassungsunmittelbaren von den verfassungsmittelbaren Schranken (Schrankenvorbehalten) trennt (S. 10). Zulässige Grundrechtsbeschränkungen werden durch „Schrankenschranken“ (S. 5), z. B. die Wesensgehaltsgarantie, limitiert, womit ein Begriff aufscheint, der Karriere machen wird. Gleichzeitig arbeitet er auch hier allgemeine Rechtsgrundsätze (z. B. Schikaneverbot, Rechtsmissbrauch) heraus, die sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht gelten (S. 11 f.). Bettermann bemüht sich, den Lehrkörper der Fakultät, insbesondere im Öffentlichen Recht attraktiv zu halten und geht dabei auch unübliche Wege. So wird der herausragende Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Fritz Werner, – schon einige Jahre als Lehrbeauftragter tätig – 1964 als Nichthabilitierter auf einen Lehrstuhl berufen. Noch in den Wirren des Jahres 1968 gelingt es ihm, Helmut Quaritsch für Berlin zu gewinnen.90 Als Resümee gilt: Wer in Berlin in den sechziger Jahren einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl innehat, gehört danach zu den Spitzen seines Fachs. Missverständlich ist allerdings der Hinweis von Stolleis,91 „erst nach Bettermann“ sei „dann die für die Juristische Fakultät der FU sehr prägende Sequenz von Münchner Privatdozenten, beginnend mit Peter Lerche, Klaus Stern und Roman Herzog“ gekommen, was suggeriert, dass erst der Weggang dieser nach Stolleis „kritischen Figur“92 Raum für den Nachwuchs schaffte. In Wirklichkeit sind diese Privatdozenten unter Bettermanns maßgebender Beteiligung nach Berlin berufen worden, wirkten mit ihm im Lehrkörper und hatten die Freie Universität bereits verlassen (Lerche 1965, Stern 1966, Herzog 1969),93 als Bettermann 1970 aus Berlin wegging. Fehlerhaft ist die
88 Vgl. nur BVerfGE 124, 300 (322). 89 Vgl. das Vorwort Bettermanns, in: Grenzen der Grundrechte, Berlin 1968, 2. Auflage, Berlin 1976. 90 Vgl. Handschreiben vom 20.7.2004 an Verf., S. 2: „Ich war es, der ihn nach Berlin ‚berufen‘ hat“. 91 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band IV: 1945 bis 1990, 2012, S. 45. S. zu diesem Band auch die Rezension von Hans-Christof Kraus, DÖV 2013, S. 563 ff. 92 Stolleis aaO. 93 Von diesen Jahreszahlen geht auch Stolleis aaO. S. 416 aus.
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weitere Behauptung, „Habilitationen gab es vor 1970 [an der Juristischen Fakultät der Freien Universität] nicht“.94 Diese an einer jungen, deshalb auf ihren wissenschaftlichen Ruf bedachten Fakultät schwierige Hürde hatte schon 1965 HorstEberhard Henke unter der Betreuung von Arwed Blomeyer95 und Bettermann genommen; 1968 hatte Manfred Rehbinder die venia legendi für Rechtssoziologie, Handelsrecht und Arbeitsrecht erhalten.96 Der von Stolleis zum „ersten Berliner Privatdozenten nach dem Krieg“97 hochstilisierte Dian Schefold ist übrigens als Bettermann-Schüler ausgewiesen.98 Dieser schätzte ihn ungeachtet divergierender Grundhaltungen und situationsbedingter Spannungen fachlich und hatte auch als Erstgutachter dessen Habilitation unterstützt. Die linksradikale Studentenrebellion der „Achtundsechziger“ mit teils anarchistischen, teils totalitären Zielen,99 in deren Verfolgung es zu Institutsbesetzungen, Vorlesungsstörungen, aber auch zu Terror kommt, richtet sich an der juristischen Fakultät – unter nur geringer Beteiligung ihrer Studenten – vor allem gegen Helmut Quaritsch und Karl August Bettermann, obwohl beide wissenschaftlich der Nachkriegsgeneration angehören. Bettermann sieht in dem „mangelnden Behauptungswillen unserer politischen Führungsschichten, die nachgeben, wo sie widerstehen müssten“, „das Grundübel unserer Tage“.100 Noch im hohen Alter schreibt er, dass der Geist jener Zeit „bis heute unsere ‚Kultur‘ und das ‚öffentliche Bewusstsein‘ beeinflusst und (in meiner Sicht) deformiert hat“.101 In jenen Tagen erschwerter wissenschaftlicher Forschung und Lehre erhält er Rufe sowohl an die Verwaltungshochschule Speyer als auch an die Universität Hamburg. Hatte Bettermann vordem den ehrenvollen Ruf auf den Lehrstuhl von Hans Julius Wolff in Münster abgelehnt, so nimmt er nun den Ruf auf den Lehrstuhl für Zivilprozessrecht und Allgemeines Prozessrecht seines Lehrers und Freundes Bötticher in Hamburg an. Was normalerweise ein adäquater Schritt in der akademischen Karriere gewesen wäre, empfindet Bettermann als „Vertreibung“.102 Die Berliner Fakultät folgt auf ihre Weise dem studentischen Kampfruf „Better no man than Bettermann“ bei der Nachfolgeregelung.
94 AaO. (FN 91), S. 45. 95 Zu ihm Bettermann, Arwed Blomeyer 70 Jahre, JZ 1976, S. 792 f. 96 Vgl. Wolfgang Larese (Hg.), Manfred Rehbinder zum 50. Geburtstag, 1985, S. 13. 97 Stolleis aaO. S. 416. 98 Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, Anhang, Tafel II. 99 Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland bis 1969, 5. Aufl., 2007, S. 107. 100 Gedenkrede, in: Fritz Werner zum Gedächtnis, 1970, S. 27 (34). 101 Handschreiben an Verf. vom 20.7.2004, S. 1 R. 102 Schreiben vom 28.7.1978 an Karl Korn mit Durchschrift an Verf.
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IV. Als Prozessualist in Hamburg Auch wegen der prozessualen Ausrichtung seines Lehrstuhls nimmt dessen Inhaber in Hamburg seine richterliche Tätigkeit wieder auf. Er wird Richter im Nebenamt am Hanseatischen Oberlandesgericht (1970–1976) sowie Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts (1971–1986) und verbindet wie andere große Staatsrechtslehrer (Carl Hermann Ule, Hans Peter Ipsen, Konrad Hesse, Otto Bachof, Hans Huber) wissenschaftliche Tätigkeit mit praktischer Erfahrung. Er widmet sich auch wieder stärker dem allgemeinen Prozessrecht, dem Zivilprozess,103 aber auch dem Finanzgerichtsprozess,104 ohne jedoch das öffentliche Recht zu vernachlässigen. Er äußert sich zur Rundfunk- und Pressefreiheit,105 wobei er gleichzeitig die Rechtsnatur des öffentlichen Rechts herausarbeitet und Grundsätze des „gemeinen Rechts“ präzisiert. In der Dichotomie von privatem und öffentlichem Recht sieht er letzteres nicht als Sonderrecht, sondern als die Summe von Normen an, die Hoheitsträger in dieser spezifischen Eigenschaft berechtigen oder verpflichten.106 Da sich ius civile und ius publicum wie zwei einander schneidende Kreise verhalten, bleibt als Schnittmenge das „gemeine“ Recht, somit die Normen, die beiden Rechtskreisen gemeinsam sind. Seine engsten Schüler lassen die wissenschaftliche und persönliche Verbundenheit mit ihrem Lehrer auch nach dessen Weggang nicht abreißen. Sie treffen sich mit ihm in fast regelmäßigen Abständen zu Vorträgen und Gedankenaustausch an verschiedenen Orten Deutschlands, wobei die Hamburger Assistenten hinzukommen. Die Karriere seiner Schüler verfolgt Bettermann gleichsam als wissenschaftlicher pater familias mit Aufmerksamkeit und Freude; literarische Veröffentlichungen liest er sorgfältig, was Kritik einschliesst. Die von ihm betreuten Habilitierten werden zügig berufen; auffällig viele Schüler aus dem engeren Kreis gelangen in hohe und höchste Richterämter, wobei vor allem Hans-Jürgen Papier als Vizepräsident und späterer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, an dessen Amtseinführung Bettermann teilnahm, und Vassilios Skouris als
103 Anfechtung und Kassation. Vom rechten Verständnis der Rechtsbehelfe unserer Zivilprozeßordnung, in: ZZP 88 (1975), S. 365 ff.; Hundert Jahre Zivilprozeßordnung. Das Schicksal einer liberalen Kodifikation, in: ZZP 91 (1978), S. 365 ff.; Die Interventionsklage als zivile Negatoria, in: Festschrift für Friedrich Weber, 1975, S. 88 ff. 104 Kassation, Reformation und Zurückweisung im Finanzgerichtsprozeß, in: StuW 1987, S. 139 ff. 105 Vom Rechtsschutz und Rechtsweg des Bürgers gegen Rundfunk-Rufmord, Bemerkungen zu BGHZ 66, 182, in: NJW 1977, S. 513 ff.; Diskussionsbeitrag zur inneren Pressefreiheit, 49. DJT (FN 82); Publikationsfreiheit für erschlichene Informationen?, NJW 1981, S. 1065 ff. 106 NJW 1977, S. 513 (515 f., insb. sub III 4).
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mehrfach gewählter Präsident des Europäischen Gerichtshofs zu nennen sind. Gerade der „weit über die Grenzen unseres Landes hinausreichende Kreis bedeutender akademischer Schüler, die im regen Austausch mit dem einstigen Lehrer stehen“, wird als „lebendiges Zeugnis“ für die Bemühungen Bettermanns angesehen, Jüngeren „die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Pflege von Recht und Rechtskultur nahezubringen“.107 Da Bettermann aus persönlichen, nicht aus institutionellen Gründen eine Festschrift strikt abgelehnt hatte, wurden als Ausgleich zu seinen Geburtstagsjubiläen die von vier seiner engsten Schüler auf dem „Berliner Seminar“ gehaltenen Referate publiziert.108 Das Treffen zum 80. Geburtstag wurde nach dem Säkularereignis der deutschen Wiedervereinigung, die Bettermann als „unverdientes Geschenk“ bezeichnete,109 unter das Thema „Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte“ gestellt.110 Zu seinem 85. Geburtstag lädt er im September 1998 (im wesentlichen) alle Teilnehmer des „Berliner Seminars“ zu einem zweitägigen „Epilog“ auf diese Institution nach Iphofen im Steigerwald ein. Bettermann wurde für sein wissenschaftliches Wirken vielfach geehrt, so durch Verleihung der Joachim Jungius-Medaille und der Friedrich Carl von Savigny-Medaille der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. Höhepunkt war jedoch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Thessaloniki im April 1979 mit der Begründung, dass „er sein Leben lang über die Bedingungen der Freiheit nachdenkt, … in Wort und Tat das rechtmäßige Denken lehrt, die Rechtspflege ausübt und für die Rechtsstaatlichkeit mutig kämpft“.
107 Albrecht Zeuner, Laudatio auf Prof. Dr. Dr. h.c. Karl August Bettermann, Hamburg, anlässlich der Verleihung der Joachim Jungius-Medaille. 108 Kloepfer/Merten/Papier/Skouris, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1984; dies., Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, Seminar zum 75. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1989. 109 Handschreiben vom 19.7.1994 an Carl Hermann Ule. 110 Kloepfer/Merten/Papier/Skouris, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte. Von der Reichsgründung zur Wiedervereinigung. Seminar zum 80. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1994.
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V. Ausklang 1988 schließt er seine – wie er formuliert – „Kanzlei“. Die Historie beschäftigt ihn jetzt mehr als die Dogmatik, die einst seine Stärke war. Die verdiente vita contemplativa unterbricht der Honnecker-Beschluss des Berliner Verfassungsgerichts vom Januar 1993, der ihn auch deshalb schmerzt, weil der Gerichtspräsident einer seiner ehemaligen Assistenten ist. In einem Leserbrief111 wirft er dem Gericht nicht nur „Kompetenzhunger“, sondern auch eine ebenso „emphatisch wie leichtfertig bejahte Verletzung“ der „in die Berliner Verfassung hineininterpretierte[n] Menschenwürde“ vor. Im Gespräch fügt er hinzu, er habe den Richtern die Demissionierung nahegelegt. Das Ausmaß der Urteilsschelte zeigt sich auch daran, dass die angesehene „Neue Juristische Wochenschrift“ auf mehr als zwei Druckseiten einen staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbeschluss wegen Verdachts der Rechtsbeugung gegen die Richter des Berliner Verfassungsgerichtshofs und andere abdruckt.112 1996 nimmt Bettermann noch einmal auf Anregung einer angesehenen Tageszeitung die Feder in die Hand, um dem Bundesverfassungsgericht die Funktion eines „Geheimen Staatsrat[s]“ abzusprechen und dessen Aufgabe als „Fachgericht für Verfassungsrecht“113 zu kennzeichnen, weshalb für „Besserwisserei“ „sowenig Raum wie für Korrekturen aus parteipolitischen oder ideologischen Präferenzen und Vorurteilen“ ist.114 Der Kritiker gibt mehrere Beispiele für Grenzverletzungen wie die Rundfunk-Rechtsprechung, das Brokdorf-Urteil, die Degradierung des Ehrenschutzes sowie das Kruzifix-Urteil, mit dem die Senatsmehrheit „die gemeinbürgerliche Toleranzgrenze“ überschritten habe. Die Vermischung von Recht und Politik – so der Autor – politisiere die Verfassungsrichterwahl, die zum Parteienabsolutismus entarten könnte. Hatte Bettermann zur Richterwahl schon früher geschrieben,115 so schlägt er nunmehr vor, das Bundesverfassungsgericht ausschließlich mit ausgelosten hauptberuflichen Richtern der Obersten Bundesgerichte zu besetzen, was die Entpolitisierung fördern und das Bundesverfassungsgericht in die Justiz zurückführen soll. Gerade die Geschlossenheit und Folgerichtigkeit dieses Modells ist Indiz gegen seine politische Realisierbarkeit, was Bettermann gewusst haben wird. Denn der Zeitungsartikel ist
111 FAZ vom 18.3.1993, Nr. 65, S. 8. 112 Beschluss vom 3.2.1993, in: NJW 1993, S. 903–905. 113 FAZ vom 20.12.1996, Nr. 297, S. 13. 114 FAZ aaO. 115 Opposition und Verfassungsrichterwahl, in: Festschrift für Konrad Zweigert zum 70. Geburtstag, 1981, S. 723 ff.
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ebenso Streitschrift eines homo politicus, wie es zuvor „Die Hypertrophie der Grundrechte“ und „Der totale Rechtsstaat“ waren. Nicht der Wissenschaftler, sondern der Bürger und Patriot Bettermann, der in dem „Gemeinwohl eine zentrale Wertmarke jedes politischen Gemeinwesens“ sieht, veröffentlicht zu seinem 85. Geburtstag für seine Familie, seine Schüler und Freunde in Erinnerung an seine verstorbene Frau Eleonore fünf Reden, die er im Laufe seiner vita activa gehalten hatte und von denen die „Rede auf die Gefallenen“ der Gymnasien in Hagen die eindrucksvollste und anrührendste ist. „Pro Patria“ als „spätes Selbstporträt des Staatsbürgers Bettermann“ soll wohl zugleich ein pro memoria sein. Bettermanns 90. Geburtstag wird festlich in Münster im Kreise der Familie, der Freunde und Schüler bei guter Gesundheit des Jubilars gefeiert. Besonders erfreut ihn die Überreichung des ihm zu seinem Ehrentag gewidmeten ersten Bandes des „Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa“, das von zwei seiner Schüler herausgegeben wird.116 Er begleitet dieses Projekt bis zuletzt mit guten Wünschen und entsinnt sich seiner eigenen Handbuch-Reihe und der ihn etliche Jahre seines wissenschaftlichen Lebens ausfüllenden strapazierenden Arbeit.117 Als Tribut an das Alter kann er in seinem Todesjahr zu seinem großen Bedauern nicht mehr an der akademischen Gedenkfeier für den von ihm hochgeschätzten „großen Staatsdenker“ Kurt Eichenberger teilnehmen. Procul negotiis hatte Bettermann schon längere Zeit den Auftrag seines Lebens als erfüllt und dessen Bahn als abgeschlossen angesehen. Als im Sommer 2005 eine (zweite) Herzoperation unausweichlich ist, fühlt sich der Patient danach „ruiniert“. Eine anfängliche Besserung ist nicht von Dauer. „Als Christ“, so hat er einmal formuliert, „habe ich abzuwarten, bis ich abberufen werde“, was nun in seinem 92. Lebensjahr am 11. Dezember 2005 geschieht. In einem feierlichen Trauergottesdienst, dessen Ablauf der Verstorbene festgelegt hatte, nehmen Familie, Freunde und der engere Kreis der Schüler – diese letztmals in Geschlossenheit – Abschied.
116 Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, bisher erschienen Bände I bis VII/2, 2003 ff. 117 Handschreiben vom 20.7.2004, S. 1, an Verf.
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VI. Nachklang Bettermanns Leben hat alle Formen deutscher Staatlichkeit vom Kaiserreich bis zum wiedervereinigten Deutschland umfasst, wobei er als besonders prägende Epochen die Gießener Studentenzeit, die Adenauer-Ära der „goldenen Fünfziger“, in denen es „eine Lust zu leben“ war, und die Kampfjahre an der Freien Universität empfand,118 in denen er „inmitten einer Umgebung von Wirrsal, Unordnung und Mutlosigkeit“ „Flagge zeigen“ wollte. Als Wissenschaftler hat Bettermann Fortwirkendes vermacht. So ist er Mitbegründer der modifizierten Subjekttheorie bei der Begriffsbestimmung des öffentlichen Rechts, arbeitete die gemeinsamen Rechtsgrundsätze als „Gemeines Recht“ sowie „Allgemeine Lehren“ der Grundrechte heraus. Grundlegendes hinterlässt er zur Rechtsstaatlichkeit, zur Gewährleistung des gesetzlichen Richters und zur Rechtsweggarantie, zur Systematisierung der Rechtsmittel im Zivilprozess, zur Staatshaftung, zum Folgenbeseitigungsanspruch und zu den (engen) Grenzen der Rechtskraft. In allen diesen Werken zeichnen in den Worten Paul Kirchhofs119 „die hohe Disziplin der juristischen Denk- und Darstellungsweise und die Unerbittlichkeit im Willen zum Recht und seiner Durchsetzung … den Charakter eines bedeutenden Gelehrten und Richters“. Eine Traueranzeige haben acht seiner engeren Schüler mit den Worten geschlossen „Er wird bleiben“.120
Bibliographie Die Vollstreckung des Zivilurteils in den Grenzen seiner Rechtskraft, 1949. Rechtsgrund und Rechtsnatur der Staatshaftung, in: DÖV 1954, S. 299 ff. Zur Lehre vom Folgenbeseitigungsanspruch, in: DÖV 1955, S. 528 ff. Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Die Grundrechte, hg. von Bettermann, Nipperdey, Scheuner, Bd. III/2, 1959, S. 523 ff. Der Schutz der Grundrechte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, ebda., S. 779 ff. Das Verwaltungsverfahren, in: VVDStRL Heft 17 (1959), S. 118 ff. Vom Sinn der Amtshaftung, in: JZ 1961, S. 482 ff. Freiheit unter dem Gesetz, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft, Freie Universität Berlin, 1962, S. 63 ff. Die Universität in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, in: Universität und Universalität, Freie Universität Berlin, Universitätstage, 1963, S. 56 ff.
118 Handschreiben an Helmut Quaritsch (FN 77), S. 2, 2 R. 119 Schreiben vom 21.11.1988 an die in FN 2 genannten Herausgeber. 120 FAZ vom 17.12.2005, S. 38; vgl. auch Skouris, AöR 131 (2006), S. 462 (465).
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Rundfunkfreiheit und Rundfunkorganisation, in: DVBl. 1963, S. 41 ff. Der Richter als Staatsdiener, 1967. Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 94 (1969), S. 263 ff. Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Grundrechtsträger, in: NJW 1969, S. 1321 ff. Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, in: JZ 1974, S. 601 ff. Grenzen der Grundrechte, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, Heft 33, 2. Aufl., 1976. Vom Rechtsschutz und Rechtsweg des Bürgers gegen Rundfunk-Rufmord, Bemerkungen zu BGHZ 66, 182, in: NJW 1977, S. 513 ff. Hypertrophie der Grundrechte. Eine Streitschrift, 1984. Bindung der Verwaltung an die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: Beiträge zum Zivil-, Steuer- und Unternehmensrecht, Festschrift für Heinz Meilicke, 1985, S. 1 ff. Die verfassungskonforme Auslegung. Grenzen und Gefahren, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe Heft 169, 1986. Der totale Rechtsstaat – zwei kritische Vorträge. Berichte aus den Sitzungen der JoachimJungius-Gesellschaft der Wissenschaften, 1986. Staatsrecht – Verfahrensrecht – Zivilrecht, Schriften aus vier Jahrzehnten, hg. von Merten, Papier, K. Schmidt, Zeuner, 1988.
LIV Otto Bachof (1914–2006) Dieter H. Scheuing Otto Bachof war ein führender Staatsrechtslehrer des rechtsstaatlichen Neubeginns nach 1945. Unter entschiedener Abkehr von der Perversion des Rechts durch den Nationalsozialismus setzte er sich nachdrücklich für die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats im öffentlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland ein. Die Wiederanknüpfung an Weimarer Traditionen war für ihn jeweils nur Ausgangspunkt für sein eindringliches Fragen nach dem notwendigen Wandel. Vor allem das Verwaltungsrecht und der Verwaltungsrechtsschutz verdanken ihm wesentliche Impulse zur Neuausrichtung. Seine wissenschaftlichen Stellungnahmen gewannen stets besonderes Gewicht dadurch, dass in ihnen zugleich seine langjährigen praktischen Erfahrungen in der Verwaltung sowie in der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit anregend und kontrollierend wirksam wurden. So wirkte er über Jahrzehnte hinweg mit Engagement, Überzeugungskraft und Augenmaß als vielbeachteter Mittler nicht nur zwischen Tradition und Fortschritt, sondern auch zwischen Theorie und Praxis im deutschen öffentlichen Recht.1
I. Weg 1. Geboren wurde Bachof am 6. März 1914 in Bremen. Sein Vater, der Rechtsanwalt war, fiel 1918 in Frankreich. So wuchs er – als einziges Kind – unter der Obhut seiner alleinerziehenden berufstätigen Mutter auf. Diese focht als Mitglied des Bremer Landesvorstands der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und als Abgeordnete im Landesparlament, der Bremer Bürgerschaft, gegen den erstarkenden Nationalsozialismus; deshalb wurde sie nach der nationalsozialis-
1 Die nachfolgenden Darlegungen stützen sich vor allem auf Selbstzeugnisse Otto Bachofs (wie Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren. Die evangelische Diakonie im Kirchenkampf, Freiburger Universitätsblätter Heft 108, Juni 1990, 111–120; ders., Beginn der DÖV, DÖV 1998, 793–795; ders., Danke, der nächste bitte!, Rechtshistorisches Journal 19, 2000, 542–548), ferner auf den Artikel „Otto Bachof“ von Hermann Weber (in: Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München, 1988, S. 109–125) sowie auf persönliche Erinnerungen des Verfassers, der Assistent und Habilitand bei Otto Bachof war.
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tischen Machtergreifung aus ihrem Beamtenverhältnis als Geschäftsführerin der halbstaatlichen Fortbildungsschule für Frauen ohne Pension fristlos entlassen. Im Anschluss an die Reifeprüfung am Bremer „Alten Gymnasium“ studierte Bachof ab dem Sommersemester 1932 Jura an insgesamt fünf Universitäten (zwei Semester in Freiburg im Breisgau und dann je ein Semester in Genf, Berlin, Königsberg und München). Drei Erlebnisse haben – nach seinem eigenen Bekunden – sein Jurastudium in besonderer Weise geprägt. An erster Stelle ist ein frühes fachliches Erfolgserlebnis zu nennen.2 So erzielte Bachof schon in seinem zweiten Semester, ohne vorher Römisches Recht gehört zu haben, in einer Digesten-Exegese bei Fritz Pringsheim die Note 1. Er hatte den Klausurfall, in dem es um den Untergang eines Frachtschiffs ging, schnell übersetzt, die Probleme erkannt und von sich aus Lösungen entwickelt, die, wie der staunende Pringsheim versicherte, ziemlich genau denen des römischen Juristen Paulus aus dem dritten Jahrhundert entsprachen. Hierdurch fand Bachof sich in seiner Studienwahl bestätigt und zog zudem für sich den Schluss, dass bei der Lösung von Rechtsstreitigkeiten dem Problemdenken Vorrang vor dem Systemdenken zukommen müsse. Das zweite Erlebnis war das einer Zwangsvereinnahmung durch das neue Regime.3 Nach seinem Genfer Auslandssemester wollte Bachof eigentlich in Freiburg weiterstudieren. Auf Anordnung des damaligen Freiburger Rektors Martin Heidegger musste er deshalb im Herbst 1933 an einem Wehrsportlager für Studenten teilnehmen und es sich gefallen lassen, dass er kurz vor dessen Beendigung zusammen mit den anderen Teilnehmern zum Eintritt in die SA gemeldet wurde; hätte er sich verweigert, so hätte er sein Studium nicht fortsetzen können. Damit sah sich Bachof zur SA-Mitgliedschaft gezwungen, obwohl er – auch angesichts des Unrechts, das seiner Mutter widerfahren war – dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand.4 Es gelang ihm aber offenbar, sich den Folgen der Mitgliedschaft durch anschließenden ständigen Ortswechsel zu entziehen; auf diese Weise erreichte er schließlich, dass er in den Listen „verloren ging“.
2 Vgl. dazu Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 544 f. 3 Vgl. dazu Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 113; ders., Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 542 f.; Weber (Fn. 1), S. 109 f. 4 Freilich hat Bachof später bemerkt, er könne, wie die meisten seiner Generation, nicht behaupten, dass er sich von den Anfechtungen jener Zeit stets freigehalten hätte, vgl. Bachof, Die „Entnazifizierung“, in: Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, Wunderlich, Tübingen, 1965, S. 195, 213; vgl. dazu ferner Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn 1), 112.
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Hinzu kam drittens die Erfahrung akademisch-politischer Karrieresucht und Unduldsamkeit.5 Während seines Berliner Semesters war es Bachof gelungen, zum Seminar von Carl Schmitt zugelassen zu werden. Dort wurde ihm vom Assistenten bedeutet, er dürfe – um Schmitts sofortigen Einwurf „Danke, der nächste bitte!“ zu vermeiden – bestimmte Namen nicht erwähnen, insbesondere nicht die Namen solcher Professoren wie Otto Koellreutter, die Schmitt als Konkurrenten um die Gunst der Nationalsozialisten fürchtete.6 Bachof war aber der Auffassung, er könne das ihm zugeteilte Referat vernünftigerweise nicht halten, ohne Koellreutter zu nennen; daher trat er nach zwei Sitzungen unter Protest aus dem Seminar aus. In München unterzog Bachof sich – nicht zuletzt aus finanziellen Gründen – bereits nach der kürzestmöglichen Studiendauer von sechs Semestern der Ersten Juristischen Staatsprüfung, die er im Mai 1935 als Examensbester bestand. Seine anschließende Referendarausbildung begann er als bremischer Gerichtsreferendar, abgeordnet an das kleine preußische Amtsgericht Lilienthal bei Bremen.7 Anfang 1936 wechselte er, seiner Neigung zur Verwaltung entsprechend, in den preußischen Staatsdienst über. Gemäß der dortigen Übung wurde ihm als jungem Regierungsreferendar ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Entschlusskraft abverlangt, indem ihm etwa die Leitung von Landratsämtern als Urlaubsvertreter und die Aufgabe eines Staatskommissars zur Sanierung einer überschuldeten Gemeinde übertragen wurden. 1937 trat er der NSDAP bei, da die Parteimitgliedschaft Voraussetzung für seine weitere Verwendung im Staatsdienst war. Die Große Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst legte er im November 1938 in Berlin mit Auszeichnung ab. Parallel zu seinem Referendardienst hatte Bachof seine Promotion vorangetrieben.8 Er hatte den Hinweis seines Freiburger Doktorvaters Wilhelm van Calker „Wie könnte man denn wohl heute mit Anstand eine staatsrechtliche Arbeit schreiben?“9 beherzigt und sich für eine Arbeit über evangelisches Kirchen-
5 Vgl. dazu Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 545; ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 60, 2001, S. 111 f. 6 Dazu, dass Koellreutter ein entschiedener Nationalsozialist und nach 1945 aus politischen Gründen untragbar war, vgl. Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994, S. 227, 229, 231 Fn. 17. 7 Vgl. dazu und zum Folgenden Bachof, Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis, DÖV 1982, 757, 763; Jörn Ipsen, In Memoriam Otto Bachof (1914–2006), DVBl 2014, 295. 8 Vgl. dazu näher Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 111 ff.; ferner Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 545; Weber (Fn. 1), S. 118 f. 9 Zitiert bei Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 113.
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recht entschieden. Als Thema hatte er die Parochialrechte kirchlicher Anstalten gewählt; entsprechenden Rat hatte er sich bei dem Bremer Pastor Constantin Frick geholt, welcher der Bekennenden Kirche nahestand und Leiter der Inneren Mission war. Da van Calker vor Fertigstellung der Arbeit verstarb, wurde die Erstbegutachtung von dessen Lehrstuhlnachfolger Theodor Maunz übernommen; dieser überließ jedoch die Beurteilung weitgehend dem im evangelischen Kirchenrecht kundigeren Zweitgutachter Erik Wolf. Die mündliche Prüfung fand im Juni 1938 statt, die Veröffentlichung der Dissertation erfolgte 1939.10 2. Als preußischer Regierungsassessor wurde Bachof zunächst dem Landrats amt Marburg zugeteilt. Unmittelbar vor Kriegsbeginn wurde er zur Wehrmacht eingezogen, nach seiner Teilnahme am Frankreichfeldzug aber wieder in der preußischen Verwaltung eingesetzt, und zwar für drei Monate als Landratsvertreter im pommerschen Stolp und von dann ab als Leiter der Preisüberwachungsstelle des Regierungspräsidenten in Koblenz. Trotz anfänglichen Einspruchs der Parteikanzlei wurde er 1942 zum Regierungsrat ernannt.11 Ein Aufstieg zum Landrat erschien jedoch aus politischen Gründen ausgeschlossen.12 Wegen der Beratung kirchlicher Stellen ins Visier der Gestapo geraten,13 meldete er sich nunmehr freiwillig zur Wehrmacht und diente daraufhin als Leutnant in Italien und Frankreich. Das Kriegsende erlebte er im Ruhrkessel, aus dem er indessen entkommen konnte, ohne gefangen genommen zu werden. 1939 hatte er Elisabeth Heidsieck geheiratet, die nach über fünfzigjähriger Ehe im Jahr 1996 starb; aus der Ehe stammen zwei Töchter. Alsbald nach der Kapitulation meldete sich Bachof in Koblenz zurück. Dort wurde er, nach kurzzeitiger Wiederbeschäftigung in der Verwaltung durch die amerikanische Besatzungsmacht, von der nachrückenden französischen Besatzungsmacht ohne Begründung für drei Monate interniert. Danach schlug er sich als Bauhilfsarbeiter durch. 3. Anfang 1946 wurde Bachof auf Empfehlung von Frick in einem Stuttgarter Wirtschaftstreuhandbüro angestellt und dort im Auftrag der württembergischbadischen Landesregierung mit Entnazifizierungsaufgaben betraut.14 Bei dieser Aufgabenstellung blieb es auch, als er im Mai 1947 zum Ministerialrat im Stuttgar-
10 Bachof, Die parochiale Rechtsstellung der großen Anstalten in den deutschen evangelischen Kirchen, Vahlen, Berlin, 1939. 11 Vgl. Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 113; Weber (Fn. 1), S. 111. 12 Vgl. Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 113; ders., Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 543. 13 Vgl. Weber (Fn. 1), S. 111. 14 Zur Entnazifizierungsaktion und ihren Unzulänglichkeiten näher Bachof, Die „Entnazifizierung“ (Fn 4), S. 195–216. Bachof selbst wurde 1947 im Spruchkammerverfahren – nicht zuletzt
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ter Staatsministerium ernannt wurde. Da er indessen Konflikte mit der amerikanischen Besatzungsmacht über Entnazifizierungsfragen nicht scheute, verlangte diese alsbald seine Entlassung. Das führte zu Bachofs Wechsel in die neu entstehende Verwaltungsgerichtsbarkeit. Auf Veranlassung des württembergisch-badischen Ministerpräsidenten Reinhold Maier wurde er im Herbst 1947 an das Verwaltungsgericht Stuttgart abgeordnet und dort 1948 zum Verwaltungsgerichtsdirektor ernannt. 1949 wurde er Oberverwaltungsgerichtsrat am Württembergisch-Badischen Verwaltungsgerichtshof in Stuttgart; an diesem Gerichtshof war er bis Ende Februar 1952 tätig, zuletzt als Präsident des 1. Senats.15 4. Gleichzeitig war damals der Heidelberger Ordinarius Walter Jellinek nebenamtlicher Richter am Stuttgarter Verwaltungsgerichtshof. Er ermutigte Bachof zur Abfassung einer Habilitationsschrift über Probleme des Verwaltungsrechtsschutzes. Die Habilitation fand 1950 in Heidelberg statt; die Habilitationsschrift erschien 1951.16 Im Jahr 1952 übernahm Bachof ein Ordinariat für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen. 1954/1955 erhielt er kurz nacheinander vier Rufe (an die Universitäten Kiel, Frankfurt am Main, Berlin und Tübingen). Er folgte 1955 dem Ruf an die Universität Tübingen, der er – trotz mehrfacher späterer Abwerbungsversuche – bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1979 treu geblieben ist; hier hat er von 1959 bis 1961 das Amt des Rektors und von 1969 bis 1970 das Amt des Dekans der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wahrgenommen. Auch nachdem Bachof Hochschullehrer geworden war, wirkte er weiterhin – fortan als nebenamtlicher Richter – in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit, und zwar von 1953 bis 1955 am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München sowie von 1956 bis 1979 zunächst am Württembergisch-Badischen Verwaltungsgerichtshof in Stuttgart und dann am Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshof
wegen seines Eintretens für kirchliche Belange – als „entlastet“ eingestuft, vgl. Jörn Ipsen (Fn 7), 295. 15 Konfrontiert sah er sich dabei auch mit Durchsetzungsschwierigkeiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit wegen mangelnden Rechtsstaatsbewusstseins bei der Legislative und Exekutive (Forderungen im Landtag nach Absetzung und Bestrafung von Verwaltungsrichtern wegen missliebiger Rechtsprechung, ministerielle Ankündigung der Nichtbefolgung eines rechtskräftigen VGH-Urteils, „Verwaltungsstandrecht“ der Stadt Stuttgart), vgl. dazu Bachof, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51, 1992, S. 126 f. 16 Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, zugleich eine Untersuchung über den öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch nach Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1951, 2. (unveränderte) Aufl. 1968.
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in Mannheim. Von 1958 bis 1985 war er außerdem Mitglied des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg. Otto Bachof starb – über neunzigjährig – am 21. Januar 2006 in Tübingen.17 Seine private Fachbibliothek übergaben seine beiden Töchter im Herbst 2006 dem Institut für Kommunalrecht der Universität Osnabrück, wo sie seither unter der Bezeichnung „Otto-Bachof-Bibliothek“ geführt wird.
II. Werk Bachofs wissenschaftliches Werk umfasst rund dreihundert Veröffentlichungen und ist inhaltlich weit gespannt.18 Hier können nur einige Schwerpunkte dieses – zum Teil auch in Fremdsprachen übersetzten – Werks angesprochen werden. 1. In seiner bereits erwähnten Freiburger Dissertation von 193819 behandelte Bachof die Frage, inwieweit evangelischen karitativen Anstalten gegenüber evangelischen Kirchengemeinden eigene Parochialrechte, d. h. Rechte auf eigene Anstaltsgeistliche, zustanden. Hintergrund dieser scheinbar rein organisatorischen Frage war, dass damals die meisten Anstaltsgeistlichen zur Bekennenden Kirche gehörten, während als Ortspfarrer oft Deutsche Christen amtierten, die im Sinne des Regimes Einfluss auf die Anstalten zu nehmen versuchten. In akribischen Untersuchungen konnte Bachof nachweisen, dass viele evangelische
17 Zu den Nachrufen vgl. DÖV (Verlag, Schriftleitung und Herausgeber), Universitätsprofessor Dr. Dr. h.c. mult. Otto Bachof, DÖV 2006, 385; Rupp, Otto Bachof †, JZ 2006, 245; ders., Zum Tod von Otto Bachof (1914 bis 2006), AöR 132, 2007, 114–116; Hermann Weber, Otto Bachof †, NJW 2006, 971. Vgl. ferner die zu weiteren Anlässen verfassten Würdigungen von Badura, Otto Bachof zum 70. Geburtstag, AöR 109, 1984,169–173; Dürig, Otto Bachof 65 Jahre, DÖV 1979, 128; ders., Das wär’s, lieber Otto. Professor Otto Bachof zum 60. Geburtstag. Eine unkonventionelle Laudatio, Südwest Presse – Schwäbisches Tagblatt v. 5.3.1974; Göldner, Von Otto Mayer zu Otto Bachof. Gedanken zur Emeritierung Otto Bachofs, BWVPr 1979, 163 f.; Emeritierung Otto Bachofs, BWVPr 1979, 163 f.; Jörn Ipsen, In Memoriam Otto Bachof (1914–2006), DVBl 2014, 295 f.; Ferdinand Kirchhof, Forscher und Ersatzgesetzgeber. Ermessen, Klagebefugnis, Folgenbeseitigungsanspruch, kurz: Verwaltungsrecht – 100 Jahre Otto Bachof, FAZ 3.4.2014, 8; Kisker, Otto Bachof zum 80. Geburtstag, NJW 1994, 639 f.; Nederkorn, Otto Bachof zum 60. Geburtstag, DÖV 1974, 127 f.; Nettesheim, Otto Bachof zum 90. Geburtstag, JZ 2004, 236 f.; Püttner, Otto Bachof zum 70. Geburtstag, JZ 1984, 275 f.; ders., Otto Bachof zum 85. Geburtstag, NJW 1999, 702; ders., Otto Bachof zum 90. Geburtstag, NJW 2004, 995; Rupp, Otto Bachof 70 Jahre, DÖV 1984, 204 f.; Hermann Weber, Otto Bachof zum 70. Geburtstag, NJW 1984, 472. 18 Eine – unvollständige – Auflistung findet sich in: Püttner u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1984, S. 381–390. 19 Vgl. oben Fn. 10.
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Anstalten eigene Parochialrechte besaßen. Damit bildete seine Dissertation der Sache nach einen Beitrag zur Verteidigung kirchlicher Arbeit gegen den Nationalsozialismus.20 In seinen wenigen zusätzlichen Veröffentlichungen aus der Zeit bis 1945 beschränkte Bachof sich auf rechtstechnische Detailfragen namentlich des damaligen Preisrechtssystems, mit dem er als Verwaltungsbeamter beim Regierungspräsidenten in Koblenz befasst war.21 2. Erst in der Nachkriegszeit kam es zur entscheidenden Öffnung: Bachof wandte sich jetzt dem neuen öffentlichen Recht in seiner ganzen Breite und Entwicklungsdynamik zu. Seine vielfältigen Untersuchungen sind durchweg gekennzeichnet durch klare und zupackende Sprache, Orientierung am Wesentlichen, praxisbezogene Argumentation, Beachtung der Wechselwirkungen zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Meinungsfreudigkeit und abgewogene Lösungsvorschläge. Bahnbrechend waren vor allem seine Beiträge aus den fünfziger Jahren und sechziger des vergangenen Jahrhunderts. So trug Bachof mit seiner 1951 erschienenen Habilitationsschrift22 entscheidend zur Entwicklung des im Aufbau befindlichen Verwaltungsrechtsschutzes bei, indem er insbesondere die rechtsstaatliche Notwendigkeit einer weit verstandenen Verpflichtungsklage und eines Folgenbeseitigungsanspruchs nach der Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte herausarbeitete. Er hatte seine innovative Arbeit „aus der Praxis heraus für die Praxis geschrieben“.23 Sein Anliegen war die Durchsetzung von Rechtsgrundsätzen, die ihm aus Gerechtigkeitsgründen wichtig erschienen; hierfür stützte er sich auch auf Urteile, an denen er selbst als Verwaltungsrichter maßgeblich beteiligt gewesen war.24 Zwar knüpfte er an zeitbedingte Konstellationen wie Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im Bereich der Wohnungszwangsbewirtschaftung an. Seine Erkenntnisse wiesen aber weit darüber hinaus, sodass seine Habilitationsschrift sogar 1968 eine (unveränderte) Zweitauflage erfuhr.
20 Vgl. Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 117, 120. 21 Vgl. vor allem Bachof, Der Kalkulationserlaß insbesondere in seinem Verhältnis zum Preisstoprecht und zu anderen Preisbestimmungen, Glückauf, Essen, 1941. 22 Vgl. oben Fn. 16. 23 So Bachof im Vorwort zu der 1968 erschienenen 2. Auflage der Schrift (Fn. 16), S. XI. 24 Insofern arbeiteten der Richter und der Autor Bachof Hand in Hand, vgl. dazu Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 543; vgl. ferner Bachofs Brief an Hermann Weber vom 17.9.1987, zitiert bei Weber (Fn. 1), S. 120.
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In seiner ebenfalls 1951 veröffentlichten Heidelberger Antrittsvorlesung über das Thema „Verfassungswidrige Verfassungsnormen?“25 erörterte Bachof das damals aktuelle und zugleich zeitlose Problem, ob eine Verfassungsnorm wegen Verletzung überpositiven Rechts ungültig sein könne. Er bejahte diese Frage – immerhin, aber auch nur – für den Extremfall, dass eine Verfassungsnorm elementaren Geboten einer Rechtsgemeinschaft zuwiderlaufe und damit gegen ein ethisches Minimum verstoße, bei dessen Missachtung eine Ordnung die Bezeichnung „Rechtsordnung“ nicht mehr verdiene. Die richterliche Prüfungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts müsse auf diesen Fall erstreckt werden, der jedoch immer nur die ultima ratio des Rechtsstaats sein könne.26 Diese vor allem für staatliche Umbruchssituationen relevanten Überlegungen finden bis heute Resonanz im In- und Ausland. Im Oktober 1953 hielt Bachof auf der Bonner Staatsrechtslehrertagung ein grundlegendes Referat über den sozialen Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes.27 Darin betonte er – im Unterschied zu seinem Koreferenten Ernst Forsthoff, welcher der Sozialstaatsbestimmung verfassungsrechtlich wenig abzugewinnen vermochte28 –, dass das Grundgesetz nicht einfach den bürgerlichen Rechtsstaat restauriert, sondern mit der Forderung nach dem sozialen Rechtsstaat dem Staat bewusst die Aufgabe zugewiesen habe, im Interesse sozialer Gerechtigkeit durch entsprechende Gestaltung der Arbeits- und Güterordnung den Schutz sozial Gefährdeter und Schwacher sicherzustellen. Daher sei auch die gesteigerte soziale Abhängigkeit des Einzelnen von der Verwaltung durch rechtliche Verfestigung dieser Beziehungen zu kompensieren und in gesicherte Teilhabe umzuformen. Welche Konsequenzen aus der letztgenannten Aufgabenstellung für die Umgestaltung des Verwaltungsrechts des Näheren zu ziehen waren, hat Bachof nicht nur in dem Staatsrechtslehrerreferat, sondern auch in zahlreichen früheren und späteren Festschriftbeiträgen, Zeitschriftenaufsätzen und Urteilsanmerkungen aufgezeigt. Viele der von ihm vertretenen Positionen haben sich durchgesetzt und sind uns heute selbstverständlich geworden. Das gilt etwa für die
25 Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1951. 26 Zu der anschließenden Kontroverse mit Willibalt Apelt vgl. einerseits Apelt, Erstreckt sich das richterliche Prüfungsrecht auf Verfassungsnormen?, NJW 1952, 1–3, und andererseits Bachof, Zum richterlichen Prüfungsrecht gegenüber Verfassungsnormen, NJW 1952, 242–244. 27 Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, de Gruyter, Berlin, VVDStRL 12, 1954, S. 37–84. 28 Vgl. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, de Gruyter, Berlin, VVDStRL 12, 1954, S. 8–36.
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Verrechtlichung von Innenräumen der Verwaltung,29 die Rechtsbindung der Fiskalverwaltung,30 die Schärfung der Ermessenskontrolle einschließlich der Anerkennung eines Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch,31 die Lehre vom Beurteilungsspielraum der Verwaltung32 und das erweiterte Verständnis subjektiver öffentlicher Rechte.33 Große Aufmerksamkeit fanden auch Bachofs tiefschürfende Einzelauseinandersetzungen mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die zunächst in Gestalt von Rechtsprechungsberichten in der Juristenzeitung und sodann als zwei selbstständige Bände in Buchform erschienen.34 Sie verbanden in einzigartiger Weise präzise Information, weiterführende Systematisierung, dogmatische Aufarbeitung und konstruktive Kritik.35 Hierzu erzählte Bachof amüsiert, Mitglieder des Bundesverwaltungsgerichts hätten diese Berichte als verkapptes Gemeinschaftswerk angesehen und ihm nicht geglaubt, dass er sie – wie es tatsächlich der Fall gewesen war – in Alleinarbeit erstellt hatte. Vielleicht gewann er aber dann doch die Einsicht, dass die Fortführung eines so anspruchsvollen Werks als Alleinautor seine weitere Arbeitskraft übersteigen könnte;
29 Vgl. Bachof, Verwaltungsakt und innerdienstliche Weisung, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. Festschrift für Wilhelm Laforet, Isar-Verlag, München, 1952, S. 285 ff.; ders., Begriff und Wesen (Fn. 27), S. 58 ff. 30 Vgl. Bachof, Begriff und Wesen (Fn. 27), S. 61 f. 31 Zum subjektiven Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch vgl. schon Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage (Fn. 16), S. 69 f.; ferner ders., Begriff und Wesen (Fn. 27), S. 76. 32 Vgl. Bachof, Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, 97–102. 33 Vgl. Bachof, Reflexwirkungen und subjektive Rechte im öffentlichen Recht, in: Bachof/Drath/ Gönnenwein/Walz (Hrsg.), Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, Isar Verlag, München, 1955, S. 287–307; 2. (unveränderte) Aufl., Olzog, München, o. J., S. 287–307. Vgl. auch schon Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage (Fn. 16), S. 84 f., und ders., Begriff und Wesen (Fn. 27), S. 72 ff. Vgl. ferner z. B. Bachof, Urteilsanmerkung, DVBl. 1960, 128 ff.; ders., Über einige Entwicklungstendenzen im gegenwärtigen Deutschen Verwaltungsrecht, in: Külz/Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt. Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit in Geschichte und Gegenwart, Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit und zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, Müller, Karlsruhe 1963, Bd. 2, S. 3, 11 ff. 34 Vgl. zu den beiden Bänden Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. I, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1. Aufl. 1963, 2. Aufl. 1964, 3. Aufl. 1966; Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. II, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1967. 35 Nach Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, de Gruyter, Berlin, 2006, S. 26 Fn. 53, hat Bachof damit „eine Literaturgattung begründet, die in dieser Weise leider keine Nachfolge gefunden hat.“
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erfasst und ausgewertet hat er jedenfalls nur Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aus den Jahren 1953–1965. 3. Eine besondere Ehrung erfuhr Bachof durch die Aufforderung, ein zweites Mal vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu referieren. In seinem 1971 in Regensburg erstatteten Bericht über die Dogmatik des Verwaltungsrechts36 unterstrich er, dass nicht alles Neue wirklich neu sei; so seien Wohlfahrtsstaatlichkeit und Zweckorientierung schon Otto Mayer nicht fremd gewesen. Statt eines Neubaus des verwaltungsrechtlichen Systems seien nur Umbau- und Ausbauarbeiten geboten. Demgemäß sei ein größeres Augenmerk auf Verwaltungsrechtsverhältnisse (statt auf bloße Verwaltungsakte als Momentaufnahmen) sowie auf das Organisationsrecht und auf sozialstaatsbezogene Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts als Referenzgebiete zu richten; ferner verdiene das (Verwaltungs-)Recht der Europäischen Gemeinschaften stärkere Beachtung. 4. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde Bachof schließlich zum Lehrbuchautor. Er war von Hans J. Wolff gebeten worden, einen Kollegen ausfindig zu machen, der bereit wäre, dessen dreibändiges Lehrbuch des Verwaltungsrechts sukzessive zu übernehmen. Nach erfolgloser Suche stellte Bachof sich 1972 selbst dieser Aufgabe, da er, wie er damals sagte, wohl nicht mehr die Kraft und Muße finden würde, noch ein eigenes Verwaltungsrechtslehrbuch zu verfassen. Bachof ging auch mit großem Eifer an die Arbeit. Die Übernahme erwies sich trotzdem als schwierig. Wolff hatte nämlich nicht nur sein „Kurz-Lehrbuch“ als ein begrifflich hoch differenziertes und detailbeladenes Nachschlagewerk angelegt,37 was eigentlich nicht zu Bachofs knappem und klarem Stil passte.38 Vielmehr blieb darüber hinaus Wolff zunächst als Mitautor beteiligt, womit besondere Rücksichtnahmen und Verständigungen erforderlich wurden. So sah sich Bachof gehalten, bei der – als Erstes in Angriff genommenen – gemeinsamen Neubearbeitung des ersten Bandes, der den Allgemeinen Teil des Verwaltungsrechts enthielt, in den dort von ihm übernommenen Abschnitten sich dem Gesamtcharakter des Werks anzupassen und auch Wolffsche Begrifflichkeiten fortzuführen, die er sonst schwerlich in einem Lehrbuch eingeführt oder beibe-
36 Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30, 1972, S. 193–244. 37 Vgl. dazu auch Voßkuhle, Allgemeines Verwaltungs- und Verwaltungsprozeßrecht, in: Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, Beck, München, 2007, S. 935, 957 mit Fn. 157. 38 Vgl. Hermann Weber, Otto Bachof † (Fn. 17), 971.
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halten hätte.39 Der gemeinsam verantwortete erste Band erschien 1974.40 Zu der zwei Jahre später erschienenen Neubearbeitung des zweiten Bandes (über die Verwaltungsorganisation und den öffentlichen Dienst) hat Bachof dann ohnehin nur die zwei Paragraphen über die wissenschaftlichen Hochschulen und die Schulen beigesteuert.41 Die Neubearbeitung des dritten Bandes (über Ordnungsund Leistungsverwaltung sowie über Verwaltungsverfahren und Verwaltungskontrollen) hatte Wolff noch allein vornehmen wollen; er starb jedoch im November 1976, woraufhin Bachof seine inzwischen begonnene Neubearbeitung des ersten Bandes abbrach und nunmehr seinerseits die Neubearbeitung des dritten Bandes in alleiniger Verantwortung fertigstellte; dabei nahm er Rücksicht auf die Vorarbeiten des Verstorbenen und die Notwendigkeit baldigen Erscheinens der Neuauflage.42 Seine Lehrbucharbeit setzte Bachof nach seiner Emeritierung im Jahre 1979 zuerst fort; nach und nach gab er aber die Fortführung des gesamten Werks an Rolf Stober ab, sodass er bereits an den nächstfolgenden Neuauflagen aller drei Bände43 nur noch mit seinem Namen beteiligt war.44 Folglich hat er zwar zeitweise das Lehrbuch wesentlich mitgestaltet; aus dem „Wolff-Bachof“ ist aber nie ein echter „Bachof“ geworden. Beiträge zur wissenschaftlichen Diskussion hat Bachof auch noch als Emeritus geleistet. Er musste allerdings mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, dass etwa sein Aufsatz von 1983 über das Gnadenrecht45 – möglicherweise wegen dessen Ansiedlung im Grenzbereich von Strafrecht und öffentlichem Recht – kaum Widerhall fand.46 Auch sein Aufruf von 1990, von Einschränkungen des Asylrechts abzusehen,47 blieb letztlich unbeachtet.
39 Vgl. z. B. die Unterscheidung zwischen imperfekten, minusquamperfekten, perfekten und plusquamperfekten verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen und Berechtigungen in: Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, Beck, München, 8. Aufl. 1971, S. 269 f., 287 f.; fortgeführt in: Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht I, Beck, München, 9. Aufl. 1974. S. 295, 317 f. 40 Vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, Beck, München, 9. Aufl. 1974. 41 Vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, Beck, München, 4. Aufl. 1976. 42 Vgl. Bachofs Vorwort zu Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht III, Beck, München, 4. Aufl. 1978. 43 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, Beck, München, 10. Aufl. 1994; dies., Verwaltungsrecht II, Beck, München, 5. Aufl. 1987; dies., Verwaltungsrecht III, Beck, München, 5. Aufl. 2004. 44 Zu weiteren Neuauflagen hat Stober inzwischen zusätzliche Autoren herangezogen. 45 Bachof, Über Fragwürdigkeiten der Gnadenpraxis und der Gnadenkompetenz, JZ 1983, 469– 475. 46 Vgl. dazu Weber (Fn. 1), S. 120. 47 Bachof, Hände weg vom Grundgesetz! Änderungen von Rechtsweggarantie und Asylrecht?, in: Maurer u. a. (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1990, S. 319–344.
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Im Übrigen hat Bachof sich über Jahrzehnte hinweg als Mitherausgeber juristischer Fachzeitschriften verdient gemacht.48
III. Wirken Bachofs Wirken reichte indessen weit über seine wissenschaftliche Veröffentlichungstätigkeit hinaus. Das gilt gleichermaßen für ihn als akademischen Lehrer, als Gutachter und Kommissionsmitglied, als Richter sowie als politisch interessierten und engagierten Bürger. 1. Als akademischer Lehrer übte Bachof große A usstrahlungskraft aus. Seine Vorlesungen waren stets gut besucht, da sie eine zwar nüchterne, aber auch klare und anschauungsgesättigte Stoffvermittlung und Problemaufarbeitung boten. Selbst nach seiner Emeritierung hielt er an der Universität Tübingen noch Vorlesungen über aktuelle Rechtsfragen, die regen Zuspruch fanden. Ferner ließ er es sich nach der Herstellung der deutschen Einheit nicht nehmen, den Neustart der Leipziger Juristenfakultät in den Jahren 1991/92 durch dortige Vorlesungen im öffentlichen Recht zu unterstützen.49 In seinen Seminaren pflegte er – bedächtig Zigarren rauchend – das intensive wissenschaftliche Gespräch, ergänzt und bereichert durch anschließende gemeinsame Gasthausbesuche sowie gesellige Abschlusseinladungen aller Seminarteilnehmer in sein Tübinger Haus „Auf dem Kreuz“. Als Doktor- und Habilitationsvater betreute und förderte er zahlreiche Promotionen sowie insgesamt acht Habilitationen (Winfried Brugger, Ludwig Fröhler, Detlef Göldner, Dietrich Jesch, Gunter Kisker, Jost Pietzcker, Hans Heinrich Rupp und Dieter H. Scheuing). Auch zog er viele ausländische Stipendiaten an (namentlich aus Italien, Portugal, Spanien, Lateinamerika, Japan und Korea), die Forschungsaufenthalte an seinem Tübinger Lehrstuhl verbrachten.50 Einer von ihnen, der spätere langjährige Präsident des portugiesischen Verfasssungsgerichts José Manuel Moreira Cardoso da Costa, wurde auf Bachofs Anregung hin 1994 mit der Ehrendoktorwürde der Tübinger Fakultät ausgezeichnet. Ferner hat Bachof seinerseits,
48 In besonderer Weise gilt dies für die Zeitschrift „Die öffentliche Verwaltung“; vgl. dazu Bachof, Beginn der DÖV (Fn. 1), 793–795. Bachof war aber auch lange Zeit Mitherausgeber der Zeitschriften „Archiv des öffentlichen Rechts“, „Juristenzeitung“, „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“ und „Zeitschrift für Rechtsphilosophie“. 49 Vgl. Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 544. 50 Vgl. Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 547.
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ohnehin sehr reisefreudig bis ins hohe Alter, immer wieder Einladungen zu Vorträgen an Universitäten im europäischen und außereuropäischen Ausland wahrgenommen. Im persönlichen Umgang schlug sich nieder, dass Bachof sich als „Bremer, Preuße, Schwabe“ verstand.51 Dementsprechend war sein Umgang stets geprägt von Offenheit, Sachlichkeit, Verlässlichkeit und Hilfsbereitschaft, gewürzt mit einem guten Schuss Humor.52 Das überschäumende Temperament seines Tübinger Fakultätskollegen Günter Dürig war ihm nicht zu eigen. Dennoch – oder gerade deshalb – war Bachof ihm in besonderer Weise freundschaftlich verbunden.53 Das war auch auswärts bekannt, sodass sich einmal die auf Abwerbung bedachte Kölner Fakultät sogar bemüßigt sah, gleich – erfolglos – einen Doppelruf anzubieten.54 Die Hochschätzung seiner Tübinger Kollegen trug Bachof nicht nur das Amt des Rektors (1959–1961) und des Dekans in schwieriger Zeit (1969/70) ein. Sie führte auch dazu, dass ihm 1984 damalige und frühere Tübinger Kollegen eine Festschrift zu seinem 70. Geburtstag widmeten.55 Allerdings hatte er sich 1967 als Vorsitzender der Staatsrechtslehrervereinigung für eine rigorose Einschränkung des Festschriftenwesens ausgesprochen.56 Die spezifische Lösung einer „Tübinger Festschrift“ hat Bachof aber für sich als Ehrung ebenso akzeptiert wie zuvor schon die Überreichung eines Sammelbandes mit seinen wichtigsten Aufsätzen durch seine Habilitanden zu seinem 65. Geburtstag.57
51 So – über sich selbst – Bachof, Beginn der DÖV (Fn. 1), 793. 52 Kostproben seines Humors bieten seine Schilderungen des von ihm als Gerichtsreferendar beim Amtsgericht Lilienthal vorgefundenen Bibliotheksbestands, des von ihm als Ministerialrat verübten Verwahrungsbruchs und des Kulturschocks, den die Unterschiede zwischen preußischer und schwäbischer Aktenführung bei ihm auslösten, vgl. Bachof, Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis (Fn. 7), 757 f., 760 Fn. 6 und 763 f. 53 Vgl. als Dokumente dieser Freundschaft einerseits Dürig, Otto Bachof 65 Jahre (Fn. 17), 128, und ders., Das wär’s, lieber Otto. Professor Otto Bachof zum 60. Geburtstag. Eine unkonventionelle Laudatio, Südwest Presse – Schwäbisches Tagblatt v. 5.3.1974; andererseits Bachof, Günter Dürig zum 65. Geburtstag, AöR 110, 1985, 93–95, ders., Professor Dr. Günter Dürig, DÖV 1997, 458 f., und ders., Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 546. 54 Vgl. Dürig, Das wär’s, lieber Otto (Fn. 53); Rupp, Otto Bachof † (Fn. 17), 245. 55 Püttner u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1984; vgl. dazu die Besprechungen von Hans Peter Ipsen, DVBl. 1984, 1025; Lerche, AöR 109, 1984, 444–447; Ossenbühl, DÖV 1984, 564; Hermann Weber, NVwZ 1988, 141 f. 56 Vgl. dazu Weber (Fn. 1), S. 123. 57 Bachof, Wege zum Rechtsstaat. Ausgewählte Studien zum öffentlichen Recht, Athenäum, Königstein/Ts., 1979; vgl. dazu die Besprechung von Bettermann, AöR 109, 1984, 435–443, mit der Schlusswürdigung: „Otto Bachof hat sich um den Rechtsstaat in Deutschland verdient gemacht.“
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Bachofs Arbeit als akademischer Lehrer und Forscher fand auch außerhalb der Universität Tübingen große Anerkennung. Mit vielen in- und ausländischen Kollegen stand er in lebhaftem Austausch. Von den deutschen Staatsrechtslehrern wurde er nicht nur 1958/59, sondern erneut 1966/67 in den Vorstand ihrer Vereinigung gewählt, als dessen Vorsitzender er auch 1966/67 amtierte. Die Freiburger Juristische Fakultät ehrte ihn 1989 anlässlich seines fünfzigjährigen Doktorjubiläums mit einer Feierstunde.58 Ferner erhielt er 1970 die juristische Ehrendoktorwürde der Universität Aix-en-Provence, deren Partnerschaft mit der Universität Tübingen er gefördert hatte,59 sowie 1989 zum vierzigjährigen Jubiläum des Grundgesetzes die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg. 2. Auch als Gutachter und Mitglied von Kommissionen war Bachof sehr gefragt. Er hat etliche Rechtsgutachten erstattet, von denen nur ein Teil veröffentlicht wurde. Genannt seien hier etwa Untersuchungen zur Rechtsnatur der Technischen Ausschüsse nach der Gewerbeordnung,60 zur Verfassungsmäßigkeit staatlicher Regelungen über die Krankenhausfinanzierung61 sowie zur Verfassungsmäßigkeit des ZDF-Vertrags62 und eines möglichen Verbots des Werbefernsehens.63 Ferner gehörte er wichtigen beratenden Kommissionen an, u. a. den Kommissionen zur Vorbereitung der Verwaltungsgerichtsordnung und des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes sowie von 1970 bis 1973 der Kommission zur – dann gescheiterten – Reform des Staatshaftungsrechts.64
58 Vgl. dazu den Festvortrag von Bachof, Eine Dissertation vor 50 Jahren (Fn. 1), 111 ff. 59 Vgl. dazu Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 546 f. 60 Bachof (unter Mitarbeit von Dietrich Jesch), Teilrechtsfähige Verbände des öffentlichen Rechts. Die Rechtsnatur der Technischen Ausschüsse des § 24 der Gewerbeordung, AöR 83 (1958), 208–279. 61 Bachof, Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit der Bundespflegesatzverordnung, Kohlhammer, Stuttgart/Köln, 1963; ders. (unter Mitarbeit von Dieter H. Scheuing), Krankenhausfinanzierung und Grundgesetz, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1971; Bachof/Scheuing, Verfassungsrechtliche Probleme der Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, Freiburg i. Brsg., 1979. 62 Bachof (unter Mitarbeit von Gunter Kisker), Rechtsgutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Staatsvertrages über die Errichtung der Anstalt „Zweites Deutsches Fernsehen“, Mainz, 1965. 63 Bachof (unter Mitarbeit von Walter Rudolf), Verbot des Werbefernsehens durch Bundesgesetz?, Metzner, Frankfurt am Main/Berlin, 1966. 64 Vgl. dazu Bachof, Danke, der nächste bitte! (Fn. 1), 544; Badura, Otto Bachof (Fn. 17), 170; Nederkorn, Otto Bachof (Fn. 17), 127; Scheuing, Haftung für Gesetze, in: Püttner u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1984, S. 343; Stolleis, Geschichte
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Über mehrere Jahre hinweg war Bachof Vorsitzender der Baden-Württembergischen Landesrektorenkonferenz, wobei Konflikte mit der Landesregierung nicht ausblieben.65 Er war auch Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des ersten Gründungsausschusses für eine Bremer Universität.66 Diesem Ausschuss blieb zwar zu Bachofs Enttäuschung der Erfolg versagt; gerne berichtete er aber davon, was für ein Erlebnis es für ihn als Bremer gewesen sei, dass er in diesem Zusammenhang als Gast an einer Bremer Schaffermahlzeit habe teilnehmen können. 3. Bachofs langjährige Tätigkeit als Richter67 hat ihn entscheidend mitgeprägt. Er hat diese Tätigkeit stets gerne und mit großem Ernst wahrgenommen. Sie war für ihn Inspirationsquelle und Bewährungsprobe seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dabei sah er sich als Richter nicht nur dem Gesetz, sondern zugleich – und im Konfliktsfall sogar vorrangig – der Gerechtigkeit verpflichtet.68 Auch hat er sich immer wieder neu mit der Rolle des Richters im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik auseinandergesetzt.69 Verwaltungsrichter war er viereinhalb Jahre im Hauptamt und über ein Vierteljahrhundert im Nebenamt. Ferner war er – ebenfalls über ein Vierteljahrhundert lang – Richter am Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg.70 An dem letzteren Gerichtshof, dem auch nichtjuristische Mitglieder angehör-
des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990, Beck, München, 2012, S. 258 f. 65 Vgl. Weber (Fn. 1), S. 121. 66 Vgl. Weber (Fn. 1), S. 121. 67 Näher dazu schon oben I 3 und 4. 68 Vgl. schon Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? (Fn. 25), S. 51; ferner ders., Zum richterlichen Prüfungsrecht (Fn. 26), 243; ders., Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: SUMMUM IUS SUMMA INIURIA. Individualgerechtigkeit und Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, Ringvorlesung, gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät, Mohr/ Siebeck, Tübingen, 1963, S. 41, 42. 69 Vgl. Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1959; ders., Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik (Fn. 68), S. 41–57.; ders., Der Richter als Gesetzgeber?, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen von ihren gegenwärtigen Mitgliedern, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1977, S. 177–192. 70 Zunächst hatte Bachof Landesverfassungsgerichte als eigentlich überflüssigen Luxus bezeichnet, vgl. seine Diskussionsbemerkung von 1961 auf dem Internationalen Kolloquium des Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, Beiträge zum ausländischen öfffentlichen Recht und Völkerrecht Band 36, 1962, S. 830, 833; seine Erfahrungen als baden-württembergischer Verfassungsrichter haben ihn dann aber dazu veranlasst, dieses Urteil ausdrücklich zu revidieren, vgl. Bachof, Der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, in: Tübinger Festschrift für
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ten, wuchsen ihm bald ein besonderes Gewicht und des Öfteren eine besondere Arbeitslast zu.71 Für seinen Einsatz wurde er mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg geehrt. Freilich wäre er zu noch Höherem berufen gewesen.72 So war bereits 1951 seine Wahl zum Richter des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen worden; der Vorschlag war jedoch von vornherein daran gescheitert, dass Bachof seinerzeit noch nicht das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter von 40 Jahren erreicht hatte. Als dann 1966/67 das Amt des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts zur Wiederbesetzung anstand, kam er wieder ins Gespräch, weil er keiner der politischen Parteien angehörte und weil mit seiner Wahl die „politische Besetzung“ der Präsidentenämter hätte beendet werden können. Zwar reagierte Bachof gegenüber den Politikern, die sich deshalb an ihn wandten, zunächst mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine frühere SA- und NSDAPMitgliedschaft. Letztlich erklärte er sich aber auf die dennoch vom Vorstand der SPD-Bundesfraktion an ihn gerichtete – und mit den anderen Bundestagsfraktionen abgestimmte – Bitte hin zur Kandidatur bereit und stellte sich schon auf die neue Aufgabe ein. Es muss ihn folglich hart getroffen haben, dass anschließend mit der Bildung der Großen Koalition sich nicht nur die Zusammensetzung des SPD-Fraktionsvorstands, sondern auch dessen Vorstellungen änderten, sodass schließlich an seiner Stelle der Münchener Rechtsanwalt und SPD-Bundestagsabgeordnete Walter Seuffert gewählt wurde. Erneut wurde sein Name genannt, als 1971 Wahlen zum Bundesverfassungsgericht anstanden; auch dieses Mal kam er nicht zum Zuge.73 So blieb ihm der Wechsel ans Bundesverfassungsgericht versagt, den er wohl als Krönung seiner Laufbahn empfunden hätte. Als 1969 der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Fritz Werner starb, wurde Bachof gefragt, ob er dessen Nachfolge antreten wolle; er entschied sich dagegen. Abgelehnt hat er es auch, Oberbundesanwalt zu werden.74 4. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich, dass Bachof ein politisch sehr interessierter und engagierter Bürger war.
Eduard Kern, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1968, S. 1, 19. Zu seinen diesbezüglichen Erfahrungen vgl. auch Bachof, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 46, 1988, S. 141 ff. 71 Vgl. dazu Bachof, Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis (Fn. 7), 760 f.; vgl. ferner Bachofs Brief an Hermann Weber vom 17.9.1987, zitiert bei Weber (Fn. 1), S. 117. 72 Vgl. Jörn Ipsen (Fn 7), 295; zum Folgenden Weber (Fn. 1), S. 118. 73 Vgl. Birkenmaier, Die Karlsruher Richter werden in Bonn gewählt, Stuttgarter Zeitung v. 25.2.1971, 3; Jörn Ipsen (Fn 7), 295. 74 Vgl. Dürig, Otto Bachof 65 Jahre (Fn. 53), 128; Göldner (Fn. 17), 164; Weber (Fn. 1), S. 118.
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Wo immer er Anlass dazu sah, scheute er sich nicht, allein oder im Verein mit anderen seine Stimme zu erheben, um vor Fehlentwicklungen zu warnen oder von ihm für geboten erachtete (rechts-)politische Schritte einzufordern. So war er u. a. Mitunterzeichner der Tübinger Erklärung von 1958 gegen die atomare Aufrüstung und 1965 Wortführer einer Petition für die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mordtaten. 1969 hat er im Namen von 65 Mitgliedern der Tübinger Fakultät beim griechischen Justizminister gegen rechtsstaatswidrige Maßnahmen des Diktaturregimes protestiert. Er trat für die Ostverträge der sozialliberalen Koalition ein. Lange Zeit war er Mitarbeiter von amnesty international.75 In späteren Jahren hat er auch einen aus seiner Sicht drohenden Rechtsverfall angeprangert.76 Bachof wurde im Übrigen 1974 gebeten, sich bei einem Tarifkonflikt in der Metallindustrie von Südwürttemberg-Hohenzollern als Schlichter zur Verfügung zu stellen. Er übernahm ohne Weiteres diese für ihn völlig neue Aufgabe und zeigte sich danach höchst beeindruckt von der Schnelligkeit und Effizienz dieses spezifischen Rechtsetzungsverfahrens.77 Zu einem Engagement besonderer Art hatte Bachof sich 1946/47 herausgefordert gesehen, als er in Stuttgart mit Entnazifizierungsaufgaben betraut worden war. Er hat damals der amerikanischen Besatzungsmacht gegenüber den Mut aufgebracht, sich trotz grundsätzlicher Billigung der Entnazifizierung gegen konkrete Maßnahmen zu ihrer Durchführung zu stellen, soweit diese ihm kritikwürdig erschienen.78 Dass sein politisches Engagement hierbei sogar kriminelle Züge angenommen hat, hat er allerdings erst in den achtziger Jahren offenbart und dazu verschmitzt bemerkt, mittlerweile sei die von ihm und seinem Mittäter, dem württembergisch-badischen Minister für politische Befreiung, verübte Straftat des Verwahrungsbruchs im Sinne des § 133 StGB längst verjährt.79 Es ging um Anordnungen der Besatzungsmacht zur Wiederaufrollung und Verschärfung von Spruchkammerentscheidungen in Entnazifizierungsverfahren. Die beiden Täter hielten diese Anordnungen für äußerst sach- und rechtswidrig und ließen deshalb über 2000 einschlägige Akten einfach verschwinden; der Minister hat sie dann nachts in der Heizung verbrannt. In seiner späten Beichte begründete Bachof dieses Vorgehen mit seinerzeitigen schwerwiegenden Unrechtszustän-
75 Vgl. Weber (Fn. 1), S. 121 f. 76 Vgl. Bachof, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 38, 1980, S. 157 ff.; ders., Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis (Fn. 7), 764 Fn. 19; Bachof, Hände weg vom Grundgesetz! (Fn. 47), 335. 77 Vgl. Bachof, Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis (Fn. 7), 761 f. 78 Vgl. Bachof, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 51, 1992, S. 126; Weber (Fn. 1), S. 112, 114 f. 79 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bachof, Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis (Fn. 7), 763 f.
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den; eine Nachahmung sei keineswegs angebracht, da Aktenvernichtung im heutigen Rechtsstaat ganz und gar indiskutabel sei. Am Schluss bleibt das Bild eines Mannes, der das nationalsozialistische Unrechtsregime bewusst miterlebt und daraus für sich den Schluss gezogen hatte, sich nach besten Kräften für die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats in der Bundesrepublik Deutschland einzusetzen. Rückschauend schrieb Bachof hierzu im April 1994 an die Gratulanten zu seinem achtzigsten Geburtstag: „Auf einige Erfolge darf ich wohl zurückblicken; anderes ist mir mißlungen. Aber welcher Jurist dürfte mehr für sich erhoffen?“
Auswahlbibliographie (Eine umfassendere Bibliographie findet sich in: Püttner u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1984, S. 381–390.) Die parochiale Rechtsstellung der großen Anstalten in den deutschen evangelischen Kirchen, Vahlen, Berlin, 1939. Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, zugleich eine Untersuchung über den öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch nach Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1951, 2. (unveränderte) Aufl. 1968. Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1951; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 1–48. Verwaltungsakt und innerdienstliche Weisung, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. Festschrift für Wilhelm Laforet, Isar-Verlag, München, 1952, S. 285–315; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 49–79. Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, de Gruyter, Berlin, VVDStRL 12, 1954, S. 37–84.; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 80–126. Reflexwirkungen und subjektive Rechte im öffentlichen Recht, in: Bachof/Drath/Gönnenwein/ Walz (Hrsg.), Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, Isar Verlag, München, 1955, S. 287–307; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 127–153. Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, 97–102; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 154–171. Freiheit des Berufs, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. III/1, Duncker und Humblot, Berlin, 1958, S. 155–265. Grundgesetz und Richtermacht, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1959; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 172–196. Die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Verwaltung gegenüber dem verfassungswidrigen und dem bundesrechtswidrigen Gesetz, AöR 87 (1962), 1–48; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 197–244.
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Über einige Entwicklungstendenzen im gegenwärtigen Deutschen Verwaltungsrecht, in: Külz/Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt. Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit in Geschichte und Gegenwart, Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit und zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, Müller, Karlsruhe 1963, Bd. 2, S. 3–18; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 245–262. Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: SUMMUM IUS SUMMA INIURIA. Individualgerechtigkeit und Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, Ringvorlesung, gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1963, S. 41–57; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 263–277. Die „Entnazifizierung“, in: Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, Wunderlich, Tübingen, 1965, S. 195–216; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 278–294. Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Mohr/Siebeck, Tübingen, Bd. I, 3. Aufl. 1966, und Bd. II, 1967. Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30, 1972, S. 193–244; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 295–343. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, Beck, München, Bd. I, 9. Aufl. 1974, Bd. II 4. Aufl. 1976, und Bd. III, 4. Aufl. 1978. Der Richter als Gesetzgeber?, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen von ihren gegenwärtigen Mitgliedern, Mohr/Siebeck, Tübingen, 1977, S. 177–192; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 344–358. Über öffentliches Recht, in: Bachof/Heigl/Redeker (Hrsg.), Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung. Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, Beck, München, 1978, S. 1–21; wiederabgedruckt in: Wege zum Rechtsstaat, S. 359–382. Wege zum Rechtsstaat. Ausgewählte Studien zum öffentlichen Recht, Athenäum, Königstein/ Ts., 1979. Verfahrensrecht, Verfahrenspraxis, DÖV 1982, 757–764. Über Fragwürdigkeiten der Gnadenpraxis und der Gnadenkompetenz, JZ 1983, 469–475. Hände weg vom Grundgesetz! Änderungen von Rechtsweggarantie und Asylrecht?, in: Maurer u. a. (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, Beck, München, 1990, S. 319–344.
LV Karl Josef Partsch (1914–1996) Rüdiger Wolfrum Zu seinem 70. Geburtstag hat Karl Josef Partsch formuliert: „Weder das scholastische Glasperlenspiel … noch wirklichkeitsferne Interessenjurisprudenz … haben mich gefangen. So floh ich in die alte Geschichte … Nahe war ich daran, ganz zur Altertumswissenschaft abzudriften.“ Diese Abneigung gegen eine reine Theorieorientierung der Rechtswissenschaften vielmehr eine Anerkennung von deren Praxisrelevanz waren ein Kennzeichen seines wissenschaftlichen Wirkens. Er hat es immer abgelehnt, sich einer Schule zuordnen zu lassen oder eine solche zu gründen. Es steht auf einem anderen Blatt, dass er seine Schüler geprägt hat. Karl Josef Partsch wurde 1914 in Freiburg/Breisgau in eine akademisch orientierte Familie geboren; sein Vater, Josef Partsch, war Professor für römisches Recht.1 Die Interessen von Karl Josef Partsch waren zunächst nicht auf die Rechtswissenschaften gerichtet, obwohl er mit diesem Studium in München begann und es in Freiburg und Frankfurt/Main fortsetzte. Er hörte bei Wenger, Mitteis, Pringsheim, Böhm, Eucken und Grossmann-Doerth. In Freiburg, die dortige ordoliberale Schule hat ihn fasziniert und auch später in seinem wissenschaftlichen Werk angeregt, erfolgte 1937 die Promotion zum Dr. jur. mit einer Arbeit über das ‚Zurückbehaltungsrecht, eine geschichtliche und rechtstatsächliche Studie’ bei Großmann-Doerth. Diese konnte allerdings nicht in der Fakultätsreihe publiziert werden, da Karl Josef Partsch unter die Rassengesetzgebung des nationalsozialistischen Regimes fiel; auch die Zulassung zum Ersten Juristischen Staatsexamen wurde ihm aus diesen Gründen verwehrt. Er hat es erst nach dem Zweiten Weltkrieg nachgeholt. Für wenige Jahre fand Karl Josef Partsch nach der Promotion Aufnahme in die Wirtschaft, zunächst in der Berliner Handelsgesellschaft und danach bei Klöckner-Humboldt-Deutz (Zweigstelle Ulm). 1941 wurde er wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen. Die dabei und später erlebten Diskriminierungen haben seine Sicht der Menschenrechte Zeit seines Lebens geschärft.
1 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: In Memoriam Karl Josef Partsch, Reden gehalten am 21. Juni 1997 anläßlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 1998, das Vorwort in der Festschrift zu seinem 75. Geburtstag, Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung, herausgegeben von Jürgen Jekewitz, Karl Heinz Klein, Jörg Detlef Kühne, Hans Petersmann und Rüdiger Wolfrum, 1989.
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1941 zur Kriegsmarine eingezogen, war er zunächst in Norddeutschland stationiert und ab Januar 1943 bis zum Kriegsende Dolmetscher für Italienisch und Englisch im operativen Stab des deutschen Marinekommandos in Italien. Da er nach der NS Rassegesetzgebung nicht Offizier werden konnte, die Dolmetscher Position von einem Offizier ausgeübt werden musste, versah er seinen Dienst in Zivil. Weniger bekannt ist, dass Karl Josef Partsch Mitglied des Stefan George Kreises war.2 Hier kam er in Berührung mit den Brüdern Berthold und Claus Graf Stauffenberg. In dem Kreis vertrat er eine gegenüber dem Nationalsozialismus kritische Haltung.3 Karl Josef Partsch gehörte zu dem engen Kreis derer, die von George bei seinem Ableben von ihm Abschied nahmen. Ob George das spätere wissenschaftliche Werk von Karl Josef Partsch beeinflusst hat, ist schwer zu sagen. Wolfgang Graf Vitzthum ist eher zurückhaltend in dieser Hinsicht.4 Nach kurzer englischer Kriegsgefangenschaft bereitete sich Partsch auf die Erste juristische Staatsprüfung in Bonn vor, die er in Mai 1946 ablegte. Im Mai 1948 erfolgte nach verkürzter Referendarzeit die Große juristische Staatsprüfung. Damals wandte er sich vom Zivilrecht ab und dem öffentlichen Recht zu. 1947 wurde er Übungsassistent bei Ernst Friesenhahn an der Bonner Juristischen Fakultät und dem damaligen Bonner Privatdozenten Hermann Mosler. Mit beiden stand er auch später in enger kollegialer Verbindung. Von Bonn wechselte er 1948 an dem Deutschen Städtetag als Referent für Rechts- und Verfassungsfragen. Dieser delegierte ihn nach Frankfurt an das damals neu gegründete Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten. 1949 wurde er kommissarischer Leiter des Städtetags bei den Dienststellen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets. Von Frankfurt wechselte er als Mitarbeiter zu Erich Kaufmann, dem damaligen Rechtsberater des Bundeskanzleramts für völkerrechtliche Angelegenheiten nach Bonn, von wo er in das Auswärtige Amt übernommen wird; 1955 folgt die Ernennung zum Konsul in Neapel. In der Zwischenzeit entstand seine Habilitationsschrift zu den europäischen Grundrechten. Erstgutachter war formal Ulrich Scheuner, der eigentliche Mentor dieser Arbeit war aber Erich Kaufmann, den er auch stets als seinen akademischen Lehrer gesehen hat. Die Tätigkeit als Konsul
2 Vgl. dazu Thomas Karlauf, Stefan George: Die Entdeckung des Charisma, 2007, S. 617; Ulrich Raulff Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben, 2009, S. 61 ff., Wolfgang Graft Vitzthum, Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges?, in: Wissenschaftler im George Kreis (B.Böschenstein, J.Egyptien, B.Schefold, W. Graf Vitzthum), 2005, S. 83 ff). 3 Vgl. dazu Ute Oelmann, Karl Josef Partsch, Politik und Kunstgeschichte im George-Kreis, in: George Jahrbuch 3/2000/2001, S. 176–191 (180–184). 4 S, Anm. 2 S. 105.
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in Neapel5 endete mit der Annahme eines Rufes an die Rechtswissenschaftliche Fakultät Kiel im Jahre 1957 auf eine Professur für öffentliches, insbesondere Kommunalrecht. 1960 wechselte er auf eine Professur für öffentliches Recht und Völkerrecht in Mainz und 1966 übernahm er eine Professur für Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät in Bonn. Dort wirkt er auch in schwieriger Zeit als Rektor. Das akademische Wirken von Karl Josef Partsch ist von der Parallelität des Hochschullehrers und des Völkerrechtsberaters in der diplomatischen Praxis geprägt. Er gehörte zu denjenigen Völkerrechtlern, die die Bundesrepublik Deutschland beraten haben (neben H. Mosler, U. Scheuner, E. Kaufmann, W. Grewe u. a.).6 Bereits 1967 ist Karl Josef Partsch deutscher Delegationsleiter bei einem Seminar der Vereinten Nationen über die Verwirklichung sozialer Menschenrechte in Warschau und 1968 Rechtsberater der internationalen Konferenz für Menschenrechte in Teheran. Insbesondere diese Konferenzen hatten eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Noch vor der deutschen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen (1970) wurde Partsch Mitglied im Internationalen Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung. Er wurde viermal wiedergewählt. Häufig hat er diese Arbeit, die sich auch in vielen seiner Publikationen niedergeschlagen hat, als wesentlichen Teil seines Lebenswerkes bezeichnet. Parallel dazu wurde er 1974 bis 1977 Rechtsberater und Sprecher der Ersten Kommission der diplomatischen Konferenz zur Bestätigung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten. Ab 1981 folgte dann die Tätigkeit im Ausschuss des Exekutivrates der UNESCO für Konventionen und Entschließungen im Menschenrechtsausschuss der UNESCO. Schließlich übte er das Amt des Rechtsberaters der Generalkonferenz der UNESCO von 1982 bis 1987 aus. Das wissenschaftliche Werk von Karl Josef Partsch umfasst die Gebiete des Staatsrechts, des Verwaltungsrechts, der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts. Im Verlauf seines wissenschaftlichen Lebens hat sich der Schwerpunkt seiner Arbeit stärker hin zum Völkerrecht verschoben. Das Staats- und Verwaltungsrecht hat er aber nie völlig aus den Augen verloren; der Rechtsvergleichung ist er bis zum Schluss – ebenso wie der Verfassungsgeschichte – treu geblieben. Allerdings hatte er es abgelehnt, eine strikte Trennung von nationalem öffentli-
5 Durch die Zeit in Neapel angeregt wurde die Studie, Die Zoologische Station in Neapel: Modell internationaler Wissenschaftszusammenarbeit, 1980. Er hat sich sehr für die Restaurierung der Fresken von Marées in der Station eingesetzt. 6 Vgl. dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland IV, 1945–1990, 2012, S. 209.
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chen Recht und Völkerrecht zu akzeptieren. Weniger bekannt sind seine Übersetzungen aus dem Italienischen und dem Französischen. Der Schutz der Menschenrechte auf nationaler sowie internationaler Ebene steht im Zentrum des wissenschaftlichen Werkes von Karl Josef Partsch. Eine der ersten Veröffentlichungen nach dem Krieg ist der Aufsatz „Grundfreiheiten und Besatzungsrecht“.7 Bereits dieser Aufsatz enthielt Aussagen, die auch in allen seinen späteren Veröffentlichungen zum Menschenrechtsschutz immer wieder anklingen: „Bei der rechtlichen Erfassung des Verhältnisses des Bürgers zum Staat, des Individuums zur Gesellschaft handelt es sich weder um eine von der konkreten Ordnung der Gesellschaft unabhängige Ideenfrage, auch um eine solche der Rechtstechnik, sondern die Lösung dieses Problems sind seine politischen Entscheidungen voraus, die nur unter Berücksichtigung aller für das Lebens des Einzelnen und der Gemeinschaft und für die Ordnung des Staatswesen maßgebenden Faktoren getroffen werden kann.“
Verlangt werden also ein bewusstes Bekenntnis zur Demokratie und eine permanente Mitwirkung der Bürger bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen demokratischen Ordnung. Hierin liegt eine sowohl an die Politik als auch an die Bürger gerichtete Forderung. Ebenso wichtig ist die Aussage, dass diese Entscheidung unter Berücksichtigung bestimmter wirtschaftlicher politischer Faktoren erfolgen und interpretierte werden muss. Damit werden die Ergebnisse der empirischen Wissenschaft in den juristischen Normgebungsprozess ebenso wie den Interpretationsprozess miteinbezogen und zwar zu einer Zeit, als das Stichwort „interdisziplinärer Ansatz“ noch nicht geläufig war. Es ist evident, dass diese Aussagen von Karl Josef Partsch stark von den persönlichen Erlebnissen und Verfolgungen unter der NS-Herrschaft geprägt waren. Sie haben ihn in die Überzeugung bestätigt, jegliche Form eines übersteigerten Staatlichkeitsanspruchs kritisch zu sehen. Diese kritisch ablehnende Haltung hat ihn nie verlassen. Sie war auch prägend in seiner Arbeit im Ausschuss zur Beseitigung der Rassendiskriminierung. Kennzeichnend für die Arbeit von Karl Josef Partsch ist ein weiterer Aufsatz aus der Frühphase seines wissenschaftlichen Werkes (1954) „Die verfassungsmäßige Sicherung von Wirtschaftsprinzipien“.8 Hierin legte er sich die doppelte Frage vor, nämlich ob es überhaupt die Aufgabe der politischen Verfassung sei, sich mit Fragen der Wirtschaftsordnung zu befassen, und welches die Vorgaben des Grundgesetzes für die Wirtschaftsverfassung sind. Die erste Frage wird von
7 Grundfreiheiten und Besatzungsrecht, in: Ordo 1 (1948), S. 214–273. 8 Die verfassungsmäßige Sicherung von Wirtschaftsprinzipien, in: Ordo 6 (1954), S. 19–38.
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Karl Josef Partsch eindeutig bejaht; er verweist darauf, dass für eine große Zahl von Menschen der Standort im Wirtschaftsprozess bedeutsamer und bestimmender ist als das Verhältnis zu den politischen Gemeinschaften. Auch hier klingt wieder das Postulat an, dass der Ausgangspunkt aller Überlegungen das Individuum ist: „Sowohl das Verfassungsrecht eines demokratischen Staates muss von den Menschen ausgehen, wie auch jede Beschäftigung mit dem ökonomischen Prozess von den hieran Beteiligten. Die politische wie auch die wirtschaftliche Staatswissenschaft sind Wissenschaften von Menschen und seine Ordnung und haben darin ihr gemeinsames Band.“
Hingewiesen wird auf die im Grundgesetz enthaltenen konstituierenden Prinzipien, auf denen die Wirtschaftsordnung beruhe. Entscheidend sind für Karl Josef Partsch dabei weniger die Einzelverbürgung als das Gesamtbild der Grundrechtsordnung, vor allem das dahinterstehende Menschenbild. Die Habilitationsschrift9 über die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention – sie erschien in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung 1966 und ist seinem Lehrer Erich Kaufmann gewidmet – stellt eine der ersten monographischen Auseinandersetzungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Sie analysiert die Entstehungsgeschichte der in dieser Konvention verbürgten Rechte und Freiheiten. Von besonderer Bedeutung ist, dass in ihr auch die nationale Gesetzgebung zu der Konvention eingearbeitet ist und sie die Europäische Menschenrechtskonvention in den Kontext der internationalen Menschenrechtsverbürgungen stellt. Seine Sicht der Menschenrechte hat Konsequenzen sowohl für das Staatsrecht als auch für das Völkerrecht. So formulierte Partsch zunächst, da der Einzelmensch gewisse Rechte auf Grund des Völkerrechts auch gegenüber dem Staat geltend machen könne, welchem er selbst angehört, dann müsse die Völkerrechtsordnung über der inneren Rechtsordnung des einzelnen Staates stehen. Hieraus schloss er in der Frühphase seines akademischen Wirkens auf eine Völkerrechtssubjektivität des einzelnen Menschen, eine Aussage, die er aber später deutlich relativiert hat. Es ist schwer zu sagen, was die Abkehr von diesem Ansatz ausgelöst hat, der eigentlich in der Konsequenz seiner Lehre lag. Wahrscheinlich waren dies überspritzte Erwartungen, die an die Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität des Individuums geknüpft wurden. Karl Josef Partsch hat stets darauf hingewiesen, dass trotz der gemeinsamen Wurzeln der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Menschenrechts-
9 Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1966.
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pakte der Vereinten Nationen und des Grundrechtskatalog nicht von einem universell existierenden Menschenrechtsbegriff ausgegangen werden kann. Deswegen hat er davor gewarnt, den Menschenrechtskatalog inhaltlich auszuweiten. Er sah darin nicht eine Verstärkung des Menschenrechtsschutzes, sondern die Gefahr einer Verwässerung des Gesamtsystems. Mit dieser Sicht wandte er sich – allerdings erfolglos – gegen einen dominanten Trend sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis. Man kann ohne Einschränkungen sagen, dass das Bemühen um den nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz deutlich im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Werkes von Karl Josef Partsch stand.10 Er war einer der Ersten, die sich diesem Thema intensiv gewidmet haben. Insofern war es folgerichtig, dass sich die Festschrift zu seinem 75. Geburtstag auf diesen Themenbereich konzentrierte. Sein letztes – 1994 erschienenes – Buch mit starken autobiographischen Zügen „Hoffen auf Menschenrechte“11 ist ausschließlich diesem Thema gewidmet. Es zeichnet die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes in kräftigen Pinselstrichen nach. Dabei wird die Basis des Menschenrechtsschutzes im Fremden- und später im Recht der Minderheiten gesehen.12 Besonders herausgearbeitet werden die Gemeinsamkeiten aber auch die Unterschiede zwischen der Universellen Erklärung der Menschenrechte und dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Das Buch schließt vorsichtig optimistisch. Es wird anerkannt, dass ein hoher Menschenrechtsstandard erreicht worden ist aber auch gleichzeitig betont, welche Defizite es in der Verwirklichung der Menschenrechtsstandards gibt. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt in der Arbeit von Karl Josef Partsch bilden die Veröffentlichungen zum humanitären Völkerrecht. An erster Stelle ist hier der Kommentar von ihm, Michael Bothe und Waldemar Solf zu den beiden Zusatzprotokollen des Genfer Abkommens zu nennen.13 Als Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation flossen seine Erfahrungen aus der Entstehungsgeschichte der beiden Zusatzprotokolle ein, wie auch seine gelebten Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. In dem Kommentar wird die Entstehungsgeschichte dieser Normen im Einzelnen nachgezeichnet und die Hintergründe für
10 Allein 54 seiner ca. 130 Publikationen sind dem Menschenrechtsschutz einschließlich des Verbotes der Rassendiskriminierung gewidmet. 11 Hoffen auf Menschenrechte: Rückbesinnung auf eine internationale Entwicklung, 1994. 12 Siehe S. 26, wo darauf verwiesen wird, dass der Völkermord an den Armeniern einen Wandel in der Haltung der Völkerrechtsgemeinschaft zum Schutz von Menschenrechten einleitete. Verwiesen wird in Zusammenhang auch auf die Initiative des Institut de Droit International. 13 New Rules for Victims of Armed Conflict – Commentary on the Two Protocols Additional to the Geneva Convention of 1949, The Hague 1982 (zus. mit M. Bothe und W. Solf).
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die einzelnen Regelungen werden aufgewiesen. Vor allem wird aber ihr Verhältnis zum traditionellen humanitären Völkerrecht analysiert. Der Kommentar ist an die Wissenschaft ebenso wie an die Praxis gerichtet. Seine Wirkung für die Fortentwicklung des Verständnisses des humanitären Völkerrechts ist ungebrochen. Im nationalen öffentlichen Recht konzentrierten sich die Arbeiten von Karl Josef Partsch häufig auf aktuelle Fragen aus dem Bereich des staatlichen Organisationsrechts und der parlamentarischen Demokratie. Auch insoweit ist immer die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis sichtbar, die bereits für seine Beschäftigung mit dem Völkerrecht bezeichnend ist. Ein erster Beitrag – 1949 erschienen – behandelt aus konkretem Anlass die Kompatibilität von Landesministeramt und Abgeordnetenmandat im Bundestag.14 Einen Schwerpunkt bildete dann in diesem Bereich, neben dem von Ernst Friesenheim, der von ihm erstellte Bericht zur Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Parlament und Regierung im modernen Staat“.15 Das Referat von Karl Josef Partsch war geprägt von Praxisnähe und der Einbeziehung rechtsvergleichender Elemente bei gleichzeitiger subtiler wissenschaftlicher Durchdringung der Materie. Partsch beschäftigte sich in seinen Part vor allem mit der tatsächlichen Organisationsgewalt und ihren Auswirkungen und benutzte dabei Ansätze, die die Politikwissenschaft für das Staatsrecht zurück gewann. Als typische, den Gesetzgeber bzw. den Verfassungsgeber herausfordernde Entwicklung identifizierte er die Vermehrung der Staatsaufgaben, den Zerfall der natürlichen Lebenseinheiten in Spezialgebieten, die zunehmende Internationalisierung und die Gewichtsverschiebung zu Lasten der Parlamente. Die zunehmende Internationalisierung verschiedener Lebensbereiche zwingt nach Meinung von Partsch dazu, die Form der parlamentarischen Beteiligung am Abschluss völkerrechtlichen Verträge weiter auszubauen. Er hat darin nicht einen Einbruch in die Prärogative der Exekutive, sondern eine folgenrichtige Konsequenz aus der zunehmenden Verlagerung von Staatsaufgaben an internationalen Foren gesehen. Mit diesem Ansatz stellte sich Partsch in Widerspruch zur damaligen herrschenden Lehre. Neuere verfassungsrechtliche Entwicklungen, wie vor allem die Neufassung von Art. 23 GG sowie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Somalia-Einsatz der Bundeswehr geben ihm nachträglich recht. Ein besonderes Gewicht in den staatsrechtlichen Veröffentlichungen von Karl Josef Partsch ist die Befassung mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Hier ist sein Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag mit dem
14 Inkompatibilität der Mitgliedschaft in Bundestag und Bundesrat (zus. mit W. E. Genzer, AöR 76 (1950), S. 186–204. 15 Regierung und Parlament im modernen Staat, VVdStRL 16 (1958), S. 74–112.
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Thema „Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern?“16 zu nennen, an das sich konkrete aktuelle Streitfragen anschlossen und an das er bei seiner Mitarbeit in der Enquête-Kommission zur Verfassungsreform des Deutschen Bundestages in der sechsten Wahlperiode anknüpfen konnte. Auch dieses Gutachten wird durch seinen rechtsempirischen Ansatz charakterisiert. In seinem darstellenden Teil behandelt es den Ist-Zustand für Untersuchungsausschüsse, Einsetzung, Organisation und Verfahren. Dabei werden die gesetzlichen Regelungen in Bund und allen Ländern ausgewertet. In seinem kritischen Teil untersucht Partsch inwieweit dafür ein Reformbedürfnis besteht. Entscheidend für ihn war die Ausgangsprämisse, dass das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, ein Recht der Minderheit ist. Konsequent wird hier hieraus der Schluss gezogen, dass diese Minderheit auch in der Lage sein muss, den ursprünglichen Auftrag des Ausschusses durchzusetzen. Eine Vorstellung von Karl Josef Partsch wäre unvollständig, wenn nicht auch die intensive Betreuung seiner Doktoranden und Doktorandinnen erwähnt würde. Sie trafen sich zu Vorstellung und Diskussion ihrer Arbeiten und anschließendem geselligen Abendessen jeden ersten Samstag im Monat (außer August) bei ihm zu Hause. Vier Wissenschaftler hat er zur Professur geführt, Claus Arndt, Dimitris Tsatsos, Jörg Detlev Kühne und den Autor dieses Beitrages. Auch wenn eingangs gesagt wurde, dass Karl Josef Partsch keine Schule gegründet habe – und sie auch nicht gründen wollte – ist festzuhalten, dass er derjenige der Völkerrechtler seiner Generation ist, der die Verwirklichung und Fortentwicklung der Menschenrechte zu seinem Lebenswerk gemacht hat.
Literaturauswahl Parlament und Regierung im modernen Staat, VVdStRL 16 (1958) Empfiehlt es sich Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern, Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag, München, 1964 Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin, 1966 zusammen mit Michael Bothe und Waldemar Solf, New Rules for Victims of Armed Conflicts: Commentary on the two 1977 protocols to the Geneva Conventions of 1949, The Hague, 1982 Hoffen auf Menschenrechte, Rückbesinnung auf eine internationale Entwicklung, Zürich, 1994
16 Empfiehlt es sich Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern? In: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, 1964, Band I (Gutachten), Teil III.
LVI Max Imboden (1915–1969) – Aufbruch in die Zukunft Andreas Kley
I. Herkunft und Ausbildung Bundesrat Hanspeter Tschudi würdigte an der Trauerfeier vom 11. April 1969 in Basel den am 7. April verstorbenen Max Imboden.1 Dabei hob Tschudi Imbodens Leistungen als Professor und Wissenschaftler, als Grossrat, Verwaltungsrichter, Verfassungsrat (des Kantons Basel), als Nationalrat und als Präsident des Wissenschaftsrates hervor. Imboden habe mehr vollbracht, als „den meisten Menschen in sieben oder acht Jahrzehnten zu leisten gegeben“ sei: „Die Lösung des Rätsels lag in einer erstaunlichen Arbeitskraft, in einem fast einmaligen Arbeitstempo, in einer schöpferischen Phantasie und einer beneidenswerten Formulierungsgabe. Noch entscheidender waren aber die Vorzüge seines Charakters, besonders die musterhafte Dienstbereitschaft und eine ansteckende Begeisterung für die Aufgaben der Allgemeinheit“.2
Max Imboden galt zu Recht als ungewöhnlich kreativer Staats- und Verwaltungsrechtslehrer; der Ausbau der Verwaltungsrechtspflege und eine neue Fundierung des Verwaltungsrechts waren ihm ebenso wichtige Anliegen wie die Universitätsund Wissenschaftspolitik und die Totalrevision der Bundesverfassung. Imboden beschäftigte sich auch mit grundlegenden staatsphilosophischen Fragen, so etwa mit dem Verhältnis von Staatsrecht und Tiefenpsychologie. Der 1915 geborene Imboden wuchs in St. Gallen auf. Sein Vater war der Psychiater Dr. Karl Imboden (1880–1941) und seine Mutter, Dr. Frida Imboden-Kaiser
1 Frühere Fassungen dieses Beitrags veröffentlichte der Verfasser in: Festschrift für Paul Richli, Zürich 2011, S. 117 ff., und in: Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 2011, S. 398 ff. Siehe zur Biographie Imbodens auch: Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 34 ff. 2 Ansprache von Herrn Bundesrat Prof. Dr. H. P. Tschudi, in: Prof. Dr. Max Imboden, 19. Juni 1915–7. April 1969. Texte der Trauerfeier vom 11. April 1969 in der Martinskirche zu Basel, Basel, o. J. (1969), S. 9 ff., S. 12.
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(1877–1962), war Kinderärztin und eine eigentliche Pionierin auf dem Gebiet der Sozialmedizin zugunsten von Mutter und Kind.3 Max Imboden betätigte sich politisch im Rahmen der jungliberalen Bewegung. Im Alter von 22 Jahren verfasste er für das freisinnige St. Galler Tagblatt den Leitartikel zum 1. August 1937, in dem er den eigenständigen Weg der Schweiz hervorhob und den Unterschied zum zeitgenössischen Europa so umschrieb:4 „Wie (die) Herrschaft bis zur Besessenheit gehen kann, zeigt uns das heutige zerrissene Europa. Der Bund hingegen verträgt sich nicht mit einem von aussen aufgedrängten Ziel; er lebt nur in sich selbst und durch sich selbst; er ist die Form einer menschlichen Gemeinschaft, wo jeder das mit sich bringt, was er selbst ist und wo das Ganze in beständigem lebendigen Zusammenwirken aus seinen Teilen hervorgeht. So ist der Staat bei uns niemals etwas Fremdes, das den Einzelnen in Beschlag nimmt und nach seinem Willen zwingt; er lebt von den gleichen Kräften, die wir alle in uns tragen“.
Max Imboden studierte in Genf, Bern und Zürich und dissertierte 1939 bei Zaccaria Giacometti über den Vorrang des Bundesrechts.5 1939–1943 war er Substitut am Bezirksgericht Horgen und konnte 1941 einen eigenen Hausstand gründen. Nach der Stelle in Horgen arbeitete er für seinen Schwiegervater. 1944 habilitierte er sich an der Universität Zürich mit einer Arbeit über den nichtigen Staatsakt. Er eröffnete sie mit einem Zitat von Edmund Bernatzky, wonach das Thema ein „interessanter wissenschaftlicher Urwald“ sei.6 In seiner Habilitationsschrift kommt etwas Charakteristisches seines Denkens zum Zug. Kurt Eichenberger umschrieb es in seiner Traueransprache so: „Oft unternahm er es, vom – wie er es nannte – ‚Irregulären‘ her: nämlich vom nichtigen Staatsakt, vom verwaltungsrechtlichen Vertrag, vom Plan, vom Ermessen, das Eigentliche der Verwaltung auszuleuchten, mit ihren Überflutungen der Norm, mit ihren Grenzen und Unfassbarkeiten. Dabei kehrte er immer wieder zum einen Ursprung zurück, von dem er ausgegangen war, zum Gesetz. Eine gereinigte Legalität war für ihn Angelpunkt“.7 Imboden arbeitete von 1946–1953 als Rechtskonsulent der Stadt Zürich; daneben unterrichtete er an der Universität Zürich, die ihn 1949 zum ausserordentlichen Professor ernannte. Jedoch wurde Imboden 1946 bei der Besetzung von zwei neuen Stellen übergangen; die Zürcher Fakultät zog Werner Kägi und
3 Frida Imboden-Kaiser, Aus Lebenserfahrung und Erinnerung, St. Gallen 1958, S. 3 ff. 4 St. Galler Tagblatt vom 31.7.1937, Nr. 354, Abendblatt S. 1. 5 Imboden, Bundesrecht bricht kantonales Recht. 6 Imboden, Der nichtige Staatsakt, S. 1; vgl. Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 399 Anm. 2495. 7 Ansprache von Prof. Dr. K. Eichenberger, Rektor der Universität Basel, in: Prof. Dr. Max Imboden (Anm. 2), S. 14 ff., S. 15.
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Hans Nef vor. 1953 erhielt er den Ruf für ein Ordinariat an der Universität Basel, den er annahm. Später erhielt er mehrere Rufe an ausländische Universitäten, die er alle ablehnte.
II. Experte für den Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit 1947 hielt der 32-jährige Max Imboden das Referat Erfahrungen auf dem Gebiet der Verwaltungsrechtsprechung in den Kantonen und im Bund8 am schweizerischen Juristentag. Er nahm sich damit eines Themas an, das Fritz Fleiner glanzvoll begonnen und fundiert hatte, das aber in der politischen Umsetzung scheiterte, als der Bund 1928 keine allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit errichtete.9 Der schweizerische Juristentag von 1950 befasste sich mit den Referaten von Hans Nef und André Panchaud erneut mit dem Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit und verabschiedete eine Resolution,10 die auch im Parlament und in verschiedenen Verbänden Widerhall fand.11 Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement beauftragte Max Imboden und Marcel Bridel mit Gutachten. Imboden regte an, das streitige und nicht streitige Verwaltungsverfahren in einem neuen Verwaltungsverfahrensgesetz zu regeln. Er erhielt den Folgeauftrag, „Vorentwürfe im Sinne seines Gutachtens auszuarbeiten; und zwar einerseits einen Vorentwurf für die Revision von Art. 97 ff. des Organisationsgesetzes der Bundesrechtspflege von 1943 (OG) über die Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts, anderseits einen Vorentwurf für ein Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, welches das Recht des streitigen (…) und nicht streitigen Verwaltungsverfahrens (…) erster Instanz kodifizieren sollte“.12 Die beiden Gesetze entstanden gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Verfahren. Max Imboden konnte zwar nicht alle seine Vorstellungen durchsetzen, dennoch ist er der
8 Zeitschrift für Schweizerisches Recht 66 (1947), S. 1a ff. bzw. 95a ff. 9 Vgl. im Einzelnen Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 382 f. 10 Zeitschrift für Schweizerisches Recht 69 (1950), S. 442a f. 11 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Verwaltungsverfahren (Bundesverwaltungsverfahren) vom 24. September 1965, BBl 1965 II 1348, zur Vorgeschichte S. 1357 f. 12 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bunde vom 24. September 1965, BBl 1965 II 1265, S. 1296.
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„Architekt“ des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundes geworden.13 Der Entwurf zum Verwaltungsverfahren lag schon 1951/52 vor. Die Departemente der Bundesverwaltung nahmen dazu Stellung. Von 1954–1961 gingen nach Konferenzen und Beratungen diverse Vorentwürfe hervor. Schliesslich kam der letzte Entwurf von 1960/61 zustande, der sich mit dem bundesrätlichen Entwurf der Botschaft zum Verwaltungsverfahrensgesetz weitgehend deckte. Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erwies sich als komplizierter. 1956 lag Imbodens Vorentwurf zur Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor. Das Vorhaben sollte jedoch immer wieder durch neue Kommissionen und Konsultationen verzögert werden. In der Zwischenzeit kam Imboden die MirageAffäre (vgl. hinten Abschnitt 5) zu Hilfe, denn die erheblich erklärte Motion der Untersuchungskommission verpflichtete den Bundesrat, innert Jahresfrist einen Gesetzesentwurf zur Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit einzuführen. Imboden hatte das langwierige Unternehmen der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit während zwei Jahrzehnten begleitet und massgeblich bestimmt. Das Verfahren illustrierte das von Friedrich Dürrenmatt verfasste politische Hörspiel und spätere Theaterstück „Herkules und der Stall des Augias“.14 Im Unterschied zum Theaterstück von Dürrenmatt war Imboden sozusagen ein erfolgreicher Herkules: Der Vorschlag der von Imboden präsidierten Kommission konnte zusammen mit dem Entwurf für ein Verfahrensgesetz die parlamentarische Beratung erfolgreich durchlaufen. Als Nationalrat in den Jahren 1965–1967 erlebte er die Debatte in den vorberatenden Kommissionen und im Plenum teilweise selbst.15 Nach der Schlussabstimmung in den Räten im Dezember 1968 traten beide Gesetze am 1. Oktober 1969 in Kraft.16 Imboden hatte also das „rechtspolitische Erbe Fritz Fleiners“17 angetreten und zu einem erfolgreichen Ende geführt. Er konnte nicht zuletzt dank seiner Hartnäckigkeit erleben, dass
13 Vgl. Benjamin Schindler, Einleitung Rz. 6 ff., in: Christoph Auer/Markus Müller/Benjamin Schindler (Hrsg.), Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren (VwVG), Zürich/St. Gallen 2008, S. 1 ff. 14 Friedrich Dürrenmatt, Werkausgabe in 37 Bänden, Band 8, Zürich 1998: „Bilden wir eine Kommission“ (S. 209); „Bilden wir eine Gegenkommission“ (S. 210); „Bilden wir eine Unterkommission“ (S. 211); „Bilden wir eine Oberkommission“ (S. 211); „Bilden wir eine Oberüberkommission“ (S. 212). 15 Vgl. Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 42 ff. zu Imbodens Tätigkeit im Nationalrat. 16 Amtliche Sammlung der eidgenössischen Gesetze (AS) 1969 737 ff. (Verwaltungsverfahrensgesetz) und AS 1969 767 (Organisation der Bundesrechtspflege, Art. 97 ff.) 17 Eichenberger, Ansprache (Anm. 7), S. 15.
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der Bund und etliche Kantone die umfassende Verwaltungsgerichtsbarkeit einführten.
III. Erneuerung des Verwaltungsrechts 1944 „rezensierte“ Max Imboden, soeben von der Universität Zürich zum Privatdozenten ernannt, die Verwaltungskurse der damaligen Handels-Hochschule St. Gallen, die unter der „rührigen Leitung von Prof. Hans Nawiasky“ sich mit „unbestreitbarem Erfolg um eine Fortbildung der Beamtenschaft“ bemühten.18 Es sei nicht daran zu zweifeln, „dass auf diesem Wege für die Fortbildung der Beamtenschaft ausserordentlich Wertvolles geleistet werden“19 könne. Freilich sei „diese Institution für den schöpferischen Weiterbau des Verwaltungsrechtes und die Fortentwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft doch nur eine Vorstufe“. Imboden entwickelte sodann ein Konzept für die Entwicklung einer schweizerischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Dabei wollte er den schon von Eugen Huber umschriebenen Gefahren einer unwissenschaftlichen Praxis und einer unpraktischen Wissenschaft entgehen: „Als erstes wird eine umfassende Bestandesaufnahme erforderlich sein. Das grosse und bisher noch wenig bearbeitete Material aus der Verwaltungspraxis von Bund und Kantonen ist zu ordnen und zu sichten. Sodann sind aus ihm – ähnlich dem wissenschaftlichen Werk Eugen Hubers und ähnlich den auf anderen Rechtsgebieten (z. B. dem schweizerischen Steuerrecht) geleisteten Arbeiten – die von Gesetzgebung und Praxis befolgten Grundsätze herauszulösen. Das führt hin zu den entscheidenden Wertgedanken, die in der schweizerischen Verwaltungsordnung verwirklicht sind. Was der Praktiker ohne genügende Kenntnis aller Zusammenhänge und Gründe aus der Anschauung des konkreten Falles als richtig erkennt, hat die Wissenschaft auf die grossen leitenden Grundgedanken der Rechtsordnung zurückzuführen und an ihnen zu messen. Mit der Herausarbeitung dieser tragenden Rechtsprinzipien werden die Grundsteine für eine praktische schweizerische Verwaltungsrechtswissenschaft und für eine wissenschaftlich orientierte Verwaltungspraxis gelegt sein“.
Imboden spielte mit dem Hinweis auf das Steuerrecht auf Ernst Blumenstein an, der erfolgreich das System des Steuerrechts entwickelt hatte. Diese Arbeit war auch im Verwaltungsrecht zu leisten; Imboden skizzierte damit eine seiner
18 Max Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtslehre, in: Schweizer Annalen 1 (1944), S. 524. f., S. 524. 19 Imboden, Verwaltungsrechtslehre (Anm. 18), S. 525 (auch die folgenden zwei Zitate).
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wissenschaftlichen Lebensaufgaben. Max Imboden begleitete aber nicht nur als Experte die Einführung einer grundsätzlich umfassenden Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bund; er reflektierte das Verfahren auch wissenschaftlich und verfasste Aufsätze.20 Er befand sich auch als Autor in Fleiners Nachfolge. 1960 gelang ihm ein wissenschaftlicher und praktischer Wurf, der seit Fleiners Institutionen des Verwaltungsrechts seinesgleichen suchte. Imboden veröffentlichte seine Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung. Er beschritt darin völlig neue Wege, indem er die Materie nicht in einer Monographie abhandelte, sondern wichtige Urteile und Entscheide der Bundesbehörden (vor allem des Bundesgerichtes) sowie der kantonalen Behörden gliederte und zu den Urteilen und Entscheiden wiederum systematisch gegliederte Bemerkungen hinzufügte. Imbodens Bemerkungen bezogen sich auf die verwaltungsrechtliche Doktrin und bildeten „in sich geschlossene kleine Monographien“,21 wie er im Vorwort schrieb. Fleiner hatte die einzelnen Institutionen des Verwaltungsrechts herausgearbeitet; Imboden ging daran, die Institutionen, etwa die Verfügung, das rechtliche Gehör, den verwaltungsrechtlichen Vertrag oder die Konzession, fein auszumodellieren und die Rechtsprechung mit Leitlinien zu begleiten. Ihm lag daran, „das schweizerische Verwaltungsrecht aus den von der Praxis geprägten Rechtsgrundsätzen zu erschliessen“,22 ihm „Struktur und normative Kraft zu geben“.23 Dabei kam Imboden seine ausgesprochene Begabung als Autor zugute; seine Bemerkungen sind kristallklar und knapp, sie „stellen überall den Einzelfall in den abstrakten Zusammenhang der allgemeinen Rechtsgedanken“.24 Die Kritik an den Behörden war rein auf die Sache bezogen und erschien nicht negativ; deshalb auch die gewählten Formulierungen: „kaum angängig ist es (…)“,25 „dürfte (…) eine kaum haltbare These sein“26 oder „fragwürdig daher (…)“.27 Der Band eroberte sich sofort einen festen Platz in der Rechtspraxis. Die Rezensen-
20 Max Imboden, Entwicklung und Ausbau des schweizerischen Rechtsstaates, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 56 (1955), S. 313 ff.; vgl. weitere Hinweise bei Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 406 Anm. 2537. 21 Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Band I S. V. 22 Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 1. Aufl. S. 9. 23 Eichenberger, Ansprache (Anm. 7), S. 15. 24 O. K. Kaufmann, Rezension, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 61 (1960), S. 496. 25 Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Band I S. 37. 26 Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Band I S. 57. 27 Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Band I S. 88.
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ten empfahlen das Werk begeistert;28 der „Imboden“ erfuhr in den vielen Zitaten eine unmissverständliche Ehrung. Richard Bäumlin hob seine „systematische Unabgeschlossenheit“ hervor, weshalb das Werk „vom Leser selbständiges Weiterdenken“ erheische und „dadurch einen (speziell auch pädagogischen) Wert“ gewinne.29 Der Autor ging rasch daran, die weiteren Entwicklungen nachzutragen, 1962 erschienen ein Ergänzungsband, die 2. Auflage 1964 und dazu ein Ergänzungsheft 1966; die 3. Auflage, erstmals auf zwei Bände verteilt, erschien 1968/1969 kurz vor seinem Tod. Hier druckte Imboden auch das Verwaltungsverfahrensgesetz ab und verwies bei den einzelnen Artikeln auf seine Bemerkungen. Die 4. Auflage kam als unveränderter Nachdruck heraus. 1976 erschien eine von René Rhinow betreute Überarbeitung der 3. Auflage (Nachdruck 1986 und Ergänzungsband 1990). Imboden hatte mit seiner Verwaltungsrechtsprechung eine ungewöhnliche Dynamik entwickelt. Diese Dynamik befand sich in einem gewissen Gegensatz zum übrigen verwaltungsrechtlichen Schrifttum der Schweiz. Nach dem Ende des Vollmachtenregimes 1952 schien die Lage stabil zu sein, so dass eigentlich gar keine monographische Darstellung nötig war und deshalb auch nichts erschien. Wer rechtsstaatlich sensibilisiert war, musste freilich feststellen, dass die Schweiz mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt halten konnte. Imboden pochte immer wieder darauf, das Verfahrensrecht, den Rechtsschutz und die Geltung des Gesetzmässigkeitsprinzips auszubauen. Er hatte diese Haltung wohl von seinem akademischen Lehrer, Zaccaria Giacometti, übernommen. Der Zufall und vielleicht auch das Bedürfnis der Zeit wollten es, dass Giacometti zur gleichen Zeit ein umfassendes Werk zum Verwaltungsrecht herausbrachte, nämlich den ersten und einzigen Band seiner Allgemeinen Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts.30 Imboden rezensierte das Werk begeistert in der Neuen Zürcher Zeitung,31 aber Giacometti hatte ihm die monographische Bearbeitung dieses Stoffs versperrt. Giacometti hatte Imboden gebeten, im Hinblick auf sein Werk eine andere Publikationsform zu wählen.32 Imboden verfasste deshalb nicht eine
28 Kaufmann, Rezension (Anm. 24); P. Liver, in: Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 98 (1962) S. 242 ff. und 101 (1965) S. 297 ff.; M. Kuhn, in: Schweizerische Juristen-Zeitung 56 (1960) S. 319. 29 Richard Bäumlin, Zu neuen Lehrbüchern des schweizerischen Bundesstaatsrechts, Zeitschrift für schweizerisches Recht 86 (1967) S. 375 ff., S. 379 f. Anm. 1. 30 Vgl. Zaccaria Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, Zürich 1960. 31 NZZ 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7. 32 Vgl. Benjamin Schindler, 100 Jahre Verwaltungsrecht, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 2011 II S. 331 ff., S. 354 Anm. 130 mit Nachweis in dessen Tagebüchern.
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gewöhnliche Monographie, sondern wählte mit seinem Buch einen Weg, der seinen Lehrer nicht direkt konkurrierte: die amerikanische „case method“.33 Giacomettis Buch erhielt im Vergleich zu Imbodens Verwaltungsrechtsprechung eine wesentlich geringere Aufmerksamkeit. Die Ansätze des Lehrers und seines Schülers waren grundverschieden. Giacometti deduzierte das Verwaltungsrecht aus seiner „aufklärerisch-rousseauischen“34 Staatsauffassung her, wie Max Imboden in seiner Besprechung deutlich machte: „Man muss die von Giacometti befolgte Methode vor allem als strengste Deduktion kennzeichnen. Am Anfang der weitausholenden Darstellung stehen Idee und Begriff des Rechtsstaates. Der Rechtsstaat, verstanden als die juristische Seite der freiheitlichen Staatsauffassung, ist die Substanz, aus der der Autor die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechtes erschliesst. (…) Die konkreten Forderungen, die der Autor aus dem materiellen Gehalt der den modernen Menschen verpflichtenden Staatsidee gewinnt, bezeugen aufs schönste die Fruchtbarkeit seiner Methode“.35 Letztere führte dazu, dass Giacometti das Verwaltungsrecht ohne Rücksicht auf die Praxis mit Grundprinzipien überzog. Genau umgekehrt dagegen Imboden: Er ging von der Praxis aus, die er systematisch auf allgemeine Prinzipien zurückzuführen suchte. Es konnte nicht erstaunen, dass Imboden für die Praxis eine viele grössere Bedeutung erhalten musste. Neben Fritz Fleiner prägte Max Imboden das schweizerische Verwaltungsrecht am stärksten. Fleiner hatte zusammen mit deutschen Autoren, namentlich Otto Mayer, die Grundlagen geschaffen. Imboden verfeinerte nach dem Zweiten Weltkrieg die geschaffenen Institutionen und bildete sie rechtsstaatlich aus. Imbodens Verwaltungsrechtsprechung ist in der schweizerischen Rechtspraxis „bleibend wirksam“ und von überragender Bedeutung geblieben.36 1965 schrieb Imboden zum Entwicklungsstand: „Gerichte und Verwaltungsbehörden arbeiten in eindrücklicher Weise an der Vertiefung des schweizerischen Verwaltungsrechts. Das Fundament des Rechtsstaates wird mit jedem Jahr fester“.37 Imboden selbst hatte einen wesentlichen Anteil an dieser besseren Fundierung. Freilich unterlag auch diese herausragende Leistung den Bedingungen, denen jede Zeit die Forscher unterwirft: Das Vergessen wird umso stärker, je dynamischer sich
33 Kaufmann, Rezension (Anm. 24). Liver (Anm. 28) hob in seiner ersten Rezension das Vorbild der französischen Literatur hervor. 34 Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern 2004, S. 816. 35 NZZ 23.12.1960, Nr. 4596, Mittagsausgabe, Blatt 7. 36 Eichenberger, Ansprache (Anm. 7), S. 15 37 Max Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungs-Heft 1 zur 2. Aufl. S. 13.
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die Forschung entwickelt.38 Die Leistung Imbodens ist heute in den Hintergrund gerückt. Er selbst wusste in seiner bescheidenen Art um diesen Vorgang, wie ein Brief zeigt. 1960 schickte ihm Irene Blumenstein, die erste Ordinaria an einer rechtswissenschaftlichen Fakultät der Schweiz, einen Aufsatz. Er nahm sich Zeit, las ihren Aufsatz und schrieb ihr persönlich zurück:39 „Wir ringen vielfach um die Probleme, als ob wir uns zum ersten Male um sie bemühten. Das ist nicht nur eine gewisse Geringschätzung derer, die den Boden vorbereitet haben, auf dem wir stehen. Ich glaube auch, dass diese allzugrosse Befangenheit mit der eigenen momentanen Fragestellung letztlich der Jurisprudenz als Wissenschaft nicht adäquat ist. Die Rechtswissenschaft lebt in der Kontinuität, in der Weitergabe eines gefestigten Besitzes von einer Generation an die andere und im Bewusstsein eines uns alle verpflichtenden Ursprunges“.
IV. Publius und die Bundesverfassung – wie sie sein könnte An einem zweisemestrigen Seminar 1957/58 erarbeitete Imboden zusammen mit seinen Studenten einen Verfassungsentwurf: Die Bundesverfassung – wie sie sein könnte. Imboden wollte den „Verfassungstext vom immer mehr überrankendem Beiwerk“ säubern „und die grossen Linien des staatlichen Gefüges wiederum bildhaft werden lassen“. „Als juristische Utopie will er der Wirklichkeit ein lebendiger Spiegel sein“.40 Der Verfassungsentwurf sah den Bundesstaat als gegeben an (Art. 1–6). Der Grundrechtskatalog enthielt sozusagen als Überschrift eine allgemeine Freiheitsgarantie (Ingress Art. 8), weshalb die aufgezählten Freiheitsrechte lediglich Beispiele dieser allgemeinen Freiheit darstellen. Imboden erwies sich hier als Schüler von Giacometti, der die allgemeine Freiheitsgarantie immer wieder postuliert hatte.41 Die Kantone nahmen Imbodens Wiederaufnahme dieser Idee zur Kenntnis; die Verfassungsgeber von beiden Unterwalden (Nidwalden hatte
38 Vgl. Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 375 ff. 39 Irene Blumenstein, Prof. Max Imboden und das Archiv für schweizerisches Abgaberecht, in: ASA 37 (1968/69), S. 433–445, S. 445. 40 Enthalten in: Imboden, Staat und Recht, S. 219 ff., S. 219 f. (beide Zitate). Die nachfolgend zitierten Artikel stammen aus diesem Verfassungsentwurf. Daran nahmen u. a. teil: Theodor Bühler, Dian Schefold, Peter Saladin, Luzius Wildhaber, Marianne von Grüningen u. a., Mitteilung von Prof. Th. Bühler vom 26.7.2011. 41 Vgl. zuletzt Zaccaria Giacometti, Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 74 (1955), S. 149 ff.
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Imboden als Experte beigezogen) und des Vereinigten Kantons Basel (Imboden war Basler Verfassungsrat) übernahmen die ausdrückliche Garantie einer allgemeinen Freiheit.42 Letztlich kam es aber nicht zur Umsetzung dieser Idee, weil das Bundesgericht ab 1959 bloss sektorielle neue Freiheitsrechte anerkannte.43 Die Rechtsweggarantie des Entwurfs bezog sich nur auf das Zivil- und Strafrecht (Art. 9 Abs. 1); im Verwaltungsrecht wurde aber immerhin das rechtliche Gehör stipuliert (Art. 9 Abs. 2). Schliesslich verbot der Entwurf auch „rückwirkende Gesetze, die den einzelnen belasten“ (Art. 9 Abs. 3). Der Grundrechtskatalog wies auch die politischen Pflichten (Militär- und Zivildienst, Stimmpflicht und Nebenämterpflicht) aus; Jahrzehnte später haben die kantonalen Verfassungsgeber und die neue Bundesverfassung (Art. 6 BV) diese Pflichten ebenfalls hervorgehoben.44 Imboden übernahm die Behördenorganisation des Bundes, die beiden Räte, den Bundesrat sowie das Bundesgericht. Diese waren ähnlich geordnet wie in der geltenden Verfassung von 1874. Imboden brachte aber Korrekturen an: Zur Hebung der Rechtsstaatlichkeit bestand zusätzlich eine gemeinsame Kommission beider Räte, der Rechtsausschuss (Art. 41 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1), und dem Bundesrat wurde ein Justizkanzler beigegeben (Art. 47 Abs. 3). Imboden schlug als Anhänger einer umfassenden Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem System der Generalklausel vor (Art. 51 Ziff. 5). Sodann waltete ein Ausschuss des Bundesgerichts als Verfassungsgericht. Dieses war nicht nur für die herkömmlichen Materien zuständig, sondern auch für eidgenössische Staatsverträge und Bundesgesetze sowie für alle Streitsachen bei der Ausübung der politischen Rechte, inklusive die Volksinitiativen und Referendumsbegehren (Art. 52 Abs. 2). Bei den Revisionsbestimmungen war in Bezug auf die „freiheitliche, die demokratische und die bundesstaatliche Form der Eidgenossenschaft“ eine Ewigkeitsgarantie vorgesehen. Ferner mussten neue Verfassungsbestimmungen wesentlich sein, sie durften sich nur „auf die Grundordnung der Eidgenossenschaft beziehen“ (Art. 57 Abs. 2 und 3). Der Verfassungsentwurf war ausgesprochen realitätsnah; Neuerungen sah er nur soweit vor, als sie für die Aufrechterhaltung der klaren Verfassungsstruktur notwendig waren. So beschnitten Imboden und seine Studenten etwa die direktdemokratischen Rechte, kompensierten dies aber damit, dass die Bundesversammlung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit unterworfen wurde.
42 Siehe im Einzelnen Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 411 Anm. 2572. 43 Vgl. Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 228 Anm. 1459. 44 Andreas Kley, Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht (Diss.), St. Gallen 1989, S. 14.
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Max Imboden wandte sich aber auch an ein breiteres Publikum: Er schrieb zwischen dem 15. Mai 1960 und dem 16. Juni 1961 unter dem Pseudonym „Publius“ in der National-Zeitung eine Kolumne, die aktuelle politische und staatsrechtliche Fragen erörterte. Damit nahm er ein Genre wieder auf, das er schon als junger Student ab 1935 gepflegt hatte.45 Im ersten Beitrag („Splitter“, wie er schrieb) begründete(n) „der oder die Verfasser“ die Wahl des Pseudonyms:46 „Aus Sorge um das köstliche Gut der Verfassung werden jene ‚Splitter‘ geschrieben (…). Wenn sich der oder die Verfasser hinter dem Namen ‚Publius‘ stellen, dann soll damit eine geschichtliche Erinnerung heraufbeschworen sein. Als die älteste der heute noch geltenden Verfassungen – das 1787 im Konvent von Philadelphia ausgearbeitete Grundgesetz der Nordamerikanischen Union – im Kampf um seine Ratifikation gefährdet schien, sind drei grosse amerikanische Staatsmänner unter diesem Namen erfolgreich für das grosse Werk eingetreten. Diesem hohen Vorbild fühlt sich der Schreiber an seinem bescheidenen Orte zutiefst verpflichtet“.
Imbodens Anliegen war die normative Stärkung der Verfassung; dieses Bestreben sollte nach ihm nicht nur die Aufgabe der Juristen, sondern des ganzen Volkes sein. Schon der erste Beitrag kündigte an, dass es ihm darum ging, der Verfassung wieder ihren hohen Wert zurückzugeben, den sie in der Zwischenkriegszeit verloren hatte. Imboden setzte der Sache nach zu einem Kommentar seines und seiner Studenten Verfassungsentwurfs an. Dabei lieferte ihm der politische Alltag die entsprechenden Stichwörter. Der letzte „Splitter“ etwa kritisierte die vorgesehene Entschädigung von Rebbauern, deren rechtswidrig gepflanzte Reben die Behörden beseitigt hatten. Er stellte die Frage, ob es Schadensersatz bei rechtmässigem Staatshandeln geben könne. Sein Verfassungsentwurf verneinte die Frage klar (Art. 31) und Imboden blieb in der letzten Kolumne bei dieser Meinung. Nach 25 Beiträgen verstummte Publius. Vielleicht drängten andere Aufgaben vor oder der Verfasser resignierte, weil sich damit nichts bewegen liess. Hatten doch beispielsweise Bundesrat und Bundesversammlung kurz zuvor (1959) die Standesinitiative des Kantons Basel zur Durchführung einer Totalrevision der Bundesverfassung abgelehnt, „weil der Zeitpunkt für die Durchführung der Totalrevision der Bundesverfassung noch nicht gekommen ist“.47 Der Zeitpunkt
45 Vgl. Kley, Geschichte (Anm. 1), Anm. 1000–1004. 46 National-Zeitung vom 15.5.1960 (Nr. 1). 47 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Initiativbegehren des Kantons Basel-Stadt betreffend die Totalrevision der Bundesverfassung vom 27. November 1959, Bundesblatt (BBl) 1959 II 1294, S. 1324.
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sollte indessen rascher kommen, als Bundesrat und Bundesversammlung lieb sein konnte.
V. Helvetisches Malaise und die Totalrevision der Bundesverfassung Am 24. April 1964 ersuchte der Bundesrat das Parlament um einen Nachtragskredit für eine Kampfflugzeugbeschaffung in der Höhe von 576 Millionen Franken,48 was in der Öffentlichkeit Aufsehen und Empörung erregte. Der Untersuchungsbericht der Bundesversammlung vom 1. September 1964 zu dieser sogenannten Mirage-Affäre belegte erhebliche Verfehlungen des Bundesrates.49 Im gleichen Jahr veröffentlichte Max Imboden das Buch Helvetisches Malaise sozusagen als „Zuruf“.50 Der Titel sollte den folgenden Jahren den Epochennamen geben. Die Schrift löste zusammen mit der Mirage-Affäre die 35-jährigen Bemühungen betreffend die 1999 erfolgreiche Totalrevision der Bundesverfassung aus.51 Imboden stellte eine Entfremdung zwischen Verfassung und Volk fest:52 „Das Wort ‚Malaise‘ drückt eine immer weiter um sich greifende schweizerische Grundstimmung aus. Es bezeichnet eine seltsame Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel. Der Wille ist noch immer auf Bejahung gerichtet, aber es stellen sich ihm aus einem schwer durchdringbaren Halbdunkel entscheidende Hindernisse entgegen. Noch bleibt die Haltung der Bürger weit von der offenen Ablehnung entfernt; aber das selbstverständliche Einvernehmen mit der politischen Umwelt und ihrer Form, der Demokratie, ist zerbrochen“.
Die Öffentlichkeit nahm den Begriff sofort auf; die Bekämpfung des „Malaise“ versprach Heilung. Imboden schlug zu diesem Zweck eine Totalrevision der Bundesverfassung vor:53
48 BBl 1964 II 901. 49 Bericht vom 1. September 1964 der vom Nationalrat und vom Ständerat eingesetzten Kommissionen an die Eidgenössischen Räte über die Abklärung der Mirage-Angelegenheit, BBl 1964 II 273. 50 Georg Kreis (Hrsg.), Das „Helvetische Malaise“. Max Imbodens historischer Zuruf und seine überzeitliche Bedeutung. Neue Ausgabe mit einer Einleitung und einem Kommentar von Georg Kreis, Zürich 2011, S. 3 und S. 59 f.; vgl. S. 21 ff. zur Mirage-Affäre. 51 Vgl. Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 56 f. 52 Imboden, Helvetisches Malaise, S. 5. 53 Imboden, Helvetisches Malaise, S. 34.
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„Das Bewährte kann nur dann lebendiger Besitz unserer Generation werden, wenn die Grundlagen neu erlebt werden, wenn sie in die Sprache unserer Zeit umgesetzt sind, wenn die Verzerrungen unseres staatlichen Aufrisses behoben und die klaffenden Lücken geschlossen sind. Durch nichts mehr als durch den bewussten Neuvollzug unseres staatsrechtlichen Fundamentes kann die Schweiz ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen“.
Imboden beschrieb später die Aufnahme seiner Schrift und seines Vorschlages in der Öffentlichkeit, nachdem die Bundesversammlung 1959 die Totalrevision noch abgelehnt hatte:54 „Die Akzente in der öffentlichen Reaktion waren in erstaunlicher Weise verschoben. Das mit Vorbehalten verklausulierte Ja überwog, das Nein war nur noch unterdrückt vernehmbar. Und nun ist aus dem Unwahrscheinlichen nicht nur das Wahrscheinliche geworden, ja ich möchte die Formulierung wagen: Aus dem Unmöglichen ist das Selbstverständliche geworden“.
Der Autor nahm in gewisser Weise die 1968er Bewegung vorweg; Georg Kreis berichtet von einem Tagebucheintrag Imbodens vom Juni 1964: „Man kann nichts bewegen – das Gewordene, das zufällig einmal Entstandene hemmt jeden Versuch, zum Neuen zu kommen“.55 Imbodens Schrift veranlasste 1965 unabhängig voneinander Nationalrat Peter Dürrenmatt und Ständerat Karl Obrecht, Motionen für eine Totalrevision der Bundesverfassung einzureichen. Die Räte überwiesen beide und damit begannen die Revisionsarbeiten. Viele Postulate Imbodens sind in der neuen Bundesverfassung von 1999 Realität geworden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Europafrage, die Reform der direktdemokratischen Rechte sowie die Reform der Regierung harren indes der Verwirklichung. Imbodens Verfassungsentwurf ist in diesen Hinsichten eine noch zu realisierende Utopie.
VI. Würdigung Max Imboden hat in seiner kurzen Lebenszeit von 54 Jahren Immenses geleistet; er war voller Tatendrang und reich an Ideen. Das zeigte sich auch darin, dass er die Grenzen seines Fachgebietes gerne überschritt. Die in den 1950er Jahren stark beachtete Psychologie von Carl Gustav Jung, den er persönlich kannte, veran-
54 Max Imboden, Die Totalrevision der Bundesverfassung, in: ders., Staat und Recht, S. 323 ff., S. 323. Imboden sah das wohl zu optimistisch, vgl. Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 14 f. 55 Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 16.
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lasste ihn, staatsrechtliche Dogmen psychologisch zu deuten.56 Imbodens Buch erhielt, den Zeitströmungen entsprechend, eine starke Beachtung.57 Max Imboden war ein weit denkender Geist, der seiner Zeit gedanklich voraus eilte. In der Sache wollte er die „Modernisierung des Staatswesens“, damit dieses seine Lebensfähigkeit unter den geänderten Umständen erhalten konnte.58 Die von ihm erbrachten Leistungen im Bereich des öffentlichen Verfahrensrechts und des Verwaltungsrechts sind noch immer eine Grundlage für die heutige Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Schweiz.
Verzeichnis ausgewählter Werke von Max Imboden Bundesrecht bricht kantonales Recht. Ein Beitrag zur Lehre vom Bundesstaat unter Verarbeitung der schweizerischen Staatsrechtspraxis (Diss. Zürich), Aarau 1940. Der nichtige Staatsakt. Eine verwaltungsrechtliche Studie (Habil.), Zürich 1944. Helvetisches Malaise, Zürich 1964. Politische Systeme – Staatsformen. Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen, Neudruck in einem Band, Basel/Stuttgart 1964. Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 1. Aufl. Basel/Stuttgart 1960, Ergänzungs-Band zur 1. Aufl. 1962, 2. Aufl. 1964, Ergänzungs-Heft zur 2. Aufl. 1966, 3. Aufl. in zwei Bänden 1968/1969. Staat und Recht. Ausgewählte Schriften und Vorträge, Basel/Stuttgart 1971.
56 Max Imboden, Politische Systeme, S. 133 ff. 57 Vgl. Kley, Geschichte (Anm. 1), S. 400 ff. 58 Kreis, Einführung, in: Kreis (Anm. 50), S. 13 ff., S. 14 m.w.H.
LVII Konrad Hesse (1919–2005) Peter Häberle
I. Persönlichkeit und Leben1 Am 29. Januar 1919 in Königsberg geboren, im Professorenhaus seines geliebten Vaters, eines bekannten Ökonomen, in Breslau aufgewachsen, wurde K. Hesse unmittelbar nach dem Abitur zum Arbeits- und Kriegsdienst gerufen; verwundet überstand er diese Katastrophe (oft von ihm geäußert: „Wir sind noch einmal davongekommen … Ich habe sieben wichtige Jahre verloren.“). Sein juristisches Studium absolvierte er danach in kürzester Zeit in Göttingen, er promovierte (1950) bei R. Smend über den Gleichheitssatz (AöR 77 (1951/52), S. 167 ff.), war als Assistent in dessen Kirchenrechtlichem Institut tätig und habilitierte sich mit seinem bekannten Buch „Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich“ (1955). Schon 1956 nach Freiburg berufen, dem er (trotz Rufen nach München und Bonn) treu blieb, entfaltete sich sein Werk in konsequent strukturierten Stufen, die sich fast alle durch zu geflügelten Worten gereifte Stichworte kennzeichnen lassen: „Die normative Kraft der Verfassung“ (1959), „Der unitarische Bundesstaat“ (1962), „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“ (1964). Den wissenschaftlichen Gipfel erreichte K. Hesse mit, in und seit seinen „Grundzügen“ (R. Smend gewidmet: 1. Aufl. 1969, 20. Aufl. 1995, Neudruck 1999). Sie sind längst ein moderner Klassiker, was sich auch an zahlreichen Übersetzungen zeigt. „Die Zeit“ vom 14. Oktober 2004 titelte (S. 72): „Lesen!“. An der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes2 lässt sich zeigen, wie sehr dieses Buch zur politischen Kultur unserer Republik gehört. Kein Wort zu viel, stets ins Grundsätzliche zielend und in einzigartiger Strukturierungskunst wird hier das geltende Verfassungsrecht dargestellt und zugleich schöpferisch mitgeprägt. K.
1 Folgende Beiträge des Verf. über K. Hesse dienen diesem Lebensbild als Materialien: Laudatio, in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 107 ff.; K. Hesse zum 70. Geburtstag, AöR 114 (1989), S. 1 ff. – Zum 70. Geburtstag von K. Hesse sind noch folgende Würdigungen erschienen: F. K. Fromme, FAZ vom 28.1.1989, S. 4; P. Lerche, NJW 1989, S. 281; E. Benda, DÖV 1989, S. 119. 2 Dazu P. Häberle, in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 107 (113 ff.); A. Rinken, R. Geitmann, G. Herbert, P. Häberle, in: JöR 57 (2009), S. 527 ff.
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Hesses einzige Koketterie lag vielleicht darin, dass er stolz war, dass das Buch von Auflage zu Auflage schlank blieb – ein eindrucksvoller Kontrapunkt zur abundanten anschwellenden Handbuch- und Kommentarliteratur heute (das schmale Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1983 (2. Aufl. 1994) hat er mit betreut). Begriffsprägungen wie „praktische Konkordanz“3 bilden heute ein gelebtes Verfassungselement, die „Offenheit der Verfassung“ ist ein Prädikat des GG geworden. In Freiburg war es auch, wo Hesse sein berühmtes ständiges Seminar von 1956 an aufbaute. Er führte es zuletzt mit E. Benda gemeinsam bis 1992 weiter. Viele ausländische Gastwissenschaftler aus Japan, Korea, Spanien und Portugal gingen hier „zur Schule“. Das freundschaftliche Verhältnis zu H. Ehmke (vgl. die Würdigung in: AöR 117 (1992), S. 1 ff.) und später zu W. von Simson (dazu das Geburtstagsblatt in AöR 103 (1978), S. 73 f.) ist für jene Jahre charakteristisch (zuletzt gewann er in dem Zivilrechtler W. Müller-Freienfels einen Freund vor Ort). Konrad Hesse als Mensch zeichnete sich durch Bescheidenheit, Edelmut, Lauterkeit und Wahrhaftigkeit aus, wie dies selten ist. Laute Polemiken und stille Komplotte waren ihm ebenso wie jeder Opportunismus zutiefst zuwider. Kritik äußerte er schon. Doch waren auch hier die Töne moderat. U. Scheuner sprach einmal von „sanfter Unnachgiebigkeit“ (es ging um das Eintreiben von überfälligen AöR-Manuskripten bei säumigen Autoren). Ausdruck seiner Bescheidenheit war auch die Ablehnung jeder Festschrift für sich selbst, E. Friesenhahn ähnlich (Orden lehnte er ab, indes war er über seine Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2003, glücklich). Immerhin durften die Schüler mehrere Bibliographien (1979, 1999) und viele Kolloquien (zum 60., 65., 70. und 75. Geburtstag) ausrichten. Hier setzte sich der klassische Seminarstil fort. Zu ihnen gehörten des Meisters dichte „Zusammenfassungen“ am Ende: Dabei konnte man mitunter auch eine gewisse Strenge spüren. Von den „Weimarer Riesen“ verehrte er seinen Lehrer R. Smend, respektierte er H. Kelsen, schätzte er besonders H. Heller (lange vor dessen „Renaissance“). Die derzeitige glorifizierende Restaurierung eines C. Schmitt war ihm stets unverständlich geblieben; er teilte seine Haltung mit Schweizer Kollegen, die unverblümt von der Faszination bzw. „Brillanz“ des Bösen sprechen. Die Schweiz bedeutete ihm überhaupt sehr viel; er war buchstäblich ein „Freund der Schweiz“. Der Ehrendoktor von Zürich (1983) erfreute ihn sehr (ebenso der von Würzburg, 1989). Die deutsche Wiedervereinigung erschien auch ihm als Glücksfall in unserer Verfassungsgeschichte, die fortschreitende Europäische Einigung integrierte er sogar noch in die späten Auflagen seiner „Grundzüge“. Freilich schrieb er dem Verfas-
3 Zur Vorgeschichte dieses Begriffs bei R. Bäumlin in der Schweiz: A. Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, 2011, S. 214 f.
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ser am 11. Mai 1992: „Nicht nur insoweit bin ich in einiger Sorge. Was ist das für ein klägliches Bild auf einem Höhepunkt deutscher Geschichte. Wenn man den Medien glauben soll, so ist das deutsche Volk zu einem Volk von Jammerlappen geworden, überall Kleinmut und nackter Egoismus.“ Man darf wohl sagen: „K. Hesse war ein Gerechter“. Person und Sache sind eins. Er lebte nach der Maxime des älteren Cato: „Rem tene – verba sequntur“. An den Iden des März 2005 starb K. Hesse4 in seinem Privathaus in Freiburg nach langer schwerer Krankheit, von seiner Frau Ilse mit besten, fast übermenschlichen Kräften umsorgt; die Familie war sein ganzes Leben lang seine menschliche Basis. Damit endet ein einzigartig authentisches Staatsrechtslehrerund Bundesverfassungsrichterleben, das Wissenschaft und Praxis über Deutschland und Europa hinaus viel Ehre geschenkt hat.
II. Werk und Wirken Werk und Wirken K. Hesses lassen sich in drei Dimensionen erschließen: K. Hesse als wissenschaftlicher Autor (1), als akademischer Lehrer (2), als Bundesverfassungsrichter (3). Was in dieser Trias seine zeitliche, biographische Reihenfolge hat—Forscher, Lehrer, Richter – wächst im Rückblick zu einer einzigartigen Ganzheit zusammen: Der Verfassungsrichter scheint bereits in der 1. Aufl. der „Grundzüge“ angelegt zu sein (etwa in der Kunst der Selbstbeschränkung), der optimistische Lehrer bleibt auch in gewissen Passagen des Mitbestimmungsurteils (BVerfGE 50, 290 (329 f.)) lebendig, der Autor musste im BVerfG wohl keine „faulen“ Kompromisse eingehen, er beförderte als Richter „praktische Konkordanz“.
1. Konrad Hesse als wissenschaftlicher Autor Im Zentrum von Werk und Wirken K. Hesses stehen gewiss die „Grundzüge“, so sehr sich auch die „Ausgewählten Schriften“ (1984) zu einem Ganzen zu fügen scheinen. Sie bilden seine „Summe“, wenngleich man nicht vergessen sollte,
4 Nachrufe aus der Feder des Verf.: AöR 130 (2005), S. 289 ff.; ZÖR 60 (2005), S. 279 f.; weitere Nachrufe in ZevKR 50 (2005), S. 569 ff. und im Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (2005), S. 339 ff. – Nachrufe anderer Autoren: E. Benda, Nachruf K. Hesse, †15. März 2005, JZ 2005, S. 454 f.; R. Steinberg, NJW 2005, S. 1556; H. Goerlich, Sächs.VBl. 2005, S. 223 ff.; A. Lopez Pina, El País vom 20. April 2005, S. 51.
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dass zwei andere Schaffensbereiche von Rang hinzukommen: neben der Wissenschaftsgeschichte5 das Staatskirchenrecht,6 dem ja die Göttinger Habilitationsschrift galt. Der Heidelberger Vortrag „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“ (ZevKR 11 (1964/65, S. 337 ff.)) hat sogar eine Art Umschwung in der sog. „herrschenden Meinung“ gebracht. Ein Grund für die Ausstrahlungswirkung der „Grundzüge“ liegt darin, dass sie für Theorie und Praxis ergiebig sind. Man mag allenfalls kritisieren, dass sie pädagogisch erst für höhere Jura-Semester „ansprechend“, ja faszinierend werden. Wenn je ein wissenschaftliches Werk mit innerer und äußerer Konsequenz in vielen „Jahresringen“ entwickelt wurde, so dasjenige von Konrad Hesse. Denn nicht nur im Rückblick erweisen sich die früheren Publikationen, insbesondere Monographien und Aufsätze als „Vorstudien“ zu den „Grundzügen“. Hesse erarbeitete sich systematisch einzelne Kapitel seines späteren Lehrbuchs. Das gilt für die Veröffentlichungen zum Rechtsstaatsprinzip (in FS Smend, 1962), zum Bundesstaat („Der unitarische Bundesstaat“, 1962), vor allem für die programmatische Freiburger Antrittsvorlesung („Die normative Kraft der Verfassung“, 1959). An weiteren grundlegend gewordenen Arbeiten seien erwähnt: das Parteienrechtsreferat (VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff.) und die Aufsätze zum Ausnahmezustand (DÖV 1955, S. 741 ff.; JZ 1960, S. 105 ff.). Die Essenz dieser Studien, die mitunter durch weitere Konkretisierungen ergänzt wurden, gedieh zum integrierenden Bestandteil der „Grundzüge“, mehr noch: sie wurde zu ihrem Fundament. Hesses Denken richtet sich zentral auf das „positive“ Verfassungsrecht, nicht etwa auf eine Allgemeine Staatslehre. So sehr es Grundlagendenken ist, so sehr ringt es um das „positive Grundgesetz“. Und rückblickend darf man sagen, dass die „Grundzüge“ die „Geltungsbedingungen“ des GG seit 1967 wesentlich verstärkt haben, sofern dies einem wissenschaftlichen Werk überhaupt möglich ist. K. Hesse betont immer wieder, dass es ihm nicht um irgendeinen Staat und seine Verfassung geht, sondern konkret um das GG: so etwa bei der Behandlung des Gewaltenteilungsprinzips (20. Aufl., 1995, S. 208 ff.). Hätte Hesse „allgemeiner“ werden wollen, wäre sein Buch zu einer Verfassungslehre (nicht: Staatslehre!) geworden. Diese Überlegungen bedürften der Ergänzung um materielle Aspekte: für den methodischen Ansatz (etwa bei der Verfassungsinterpretation), das Ver-
5 Wissenschaftsgeschichte ist neben dem Staatskirchenrecht der andere „Neben“-Bereich des Schaffens von Konrad Hesse. Man denke an den AöR-Aufsatz zum 50jährigen Bestehen der VDStRL (AöR 97 (1972), S. 345 ff.) und an manche andere Äußerung (z. B. zum 100. Band des AöR, in AöR 100 (1975), S. 1 ff., zusammen mit P. Badura und P. Lerche). 6 Dazu H. Wißmann, K. Hesse in: T. Holzner (Hrsg.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchenund Religionsverfassungsrechts 2013, S. 521 ff.
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fassungs- und Grundrechtsverständnis, die Ausführungen Hesses zu „Staat und Gesellschaft“, zum Sozialstaatsprinzip und zu Verfassungsgerichtsbarkeit sowie zum „Sonderstatus“. Drei Fragen in Sachen „Grundzüge“ seien vertieft: (1) Die Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte „unter“, besser zusammen mit dem GG. Sie wäre auf den verschiedenen Ebenen zu verfolgen, zunächst im ersten Zugriff auf der der Rezensionen, sodann auf den Ebenen und in den Medien der übrigen „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Das Echo in der Wissenschaft könnte differenziert nach Literaturgattungen untersucht werden (vom „konkurrierenden“ Lehrbuch über den Aufsatz bis in die übrigen Literaturformen hinein), auch in der „Praxis“, vor allem im Blick auf das BVerfG. (2) Die etappenweise Fortschreibung und Entwicklung durch den Autor selbst – in Gestalt der drei Neubearbeitungen (1970, 1975, 1980) und der „Ergänzung“ (zuletzt 1988 und 1995). (3) Die Entwicklungsformen und Hintergründe der Rezeption. Im Einzelnen: (1) Einen frühen Akzent in der Rezensionskultur setzt der Berner Staatsrechtslehrer H. Huber, der die Besprechung der 1. Auflage der „Grundzüge“ von 1967 mit der Fanfare begrüßt (AöR 92 (1967), S. 550 ff.): „Der Titel dieses Werkes ist eigentlich bescheiden und zu eng“. Huber rühmte den Abschnitt über die (Verfassungs-) Interpretation und er nennt als Verdienst, dass Staat und Recht trotz belastender methodischer und materieller Unsicherheiten nicht vom Leben isoliert werden. U. Scheuner, von dem selbst einmal ein Lehrbuch zu erwarten war, begrüßte die „Grundzüge“ sofort und besonders nobel (DÖV 1967, S. 283 f.) in den Worten: Buch „aus einem Guss“, das eine „Fülle eingehender neuer Gedanken und Einsichten“ vermittelt; er spricht von „einer der bedeutendsten Erscheinungen der letzten Jahre“. Im Chor der Rezensenten ist schließlich das Wort von Hesses Buch als „Klassiker der Verfassungslehre“ zu hören (J. Jekewitz, in Goltdammer’s Archiv 1979, S. 38).7 (2) Die „Wachstumsstufen“ oder „Jahresringe“ der „Grundzüge“ in einzelnen nachzuzeichnen ist hier nicht möglich. Auch ihre „Ursachen“ können nur stichwortartig bezeichnet werden: GG-Änderungen, Wandlungen der „Verfassungswirklichkeit“, Entwicklungen in Wissenschaft (in Gestalt der verschiedenen Literaturgattungen) sowie Verfassungsrechtsprechung, (bei Hesse) begrenzt), wohl auch und all dies vermittelnd die Rezensionsliteratur (der „Grundzüge“).
7 Nachweise zu weiteren Rezensionen in: P. Häberle, Laudatio (FN 1), S. 107 (115 ff.).
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Doch sei die stärkere Öffnung der 4. Aufl. von 1970 gegenüber Fragestellungen der „68 Bewegung“ etwa in Sachen Demokratie vermerkt (S. 55 f.), auch die Veränderung des Verfassungsbegriffs (4. Aufl. 1970, S. 14 ff.), die Einfügung eines Abschnitts über die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften (4. Aufl. 1970, S. 188 ff.), die ausdrückliche Ablehnung originärer TeilhabeGrundrechte (8. Aufl. 1975, S. 123 f.) oder die Behandlung des Themas „Grundrechtsverwirklichung und -sicherung durch Organisation und Verfahren“, das damit „kanonisiert“ wurde (so neu in der 12. Aufl. 1980, S. 151 ff.). Nicht unterschlagen sei die ständige „Fortschreibung“ der Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG (z. B. im Blick auf BVerfGE 58, 300, vgl. Hesse, 14. Aufl. 1984, S. 175 f.) sowie die Berücksichtigung neuer, pluralistisch ausgewählter Literatur. Schon im Vorwort der letzten (20.) Auflage von 1995 (S. V) wurden die durch das Fortschreiten der europäischen Einigung bedingten Änderungen thematisiert (s. auch S. 45 ff., 49 ff.). Technisches sei nicht vergessen (etwa die Einfügung von Randziffern: seit 13. Aufl. 1982). Im Übrigen wird mit der „Offenheit der Verfassung“ auch thematisch ernst gemacht. Hesse geht auf tiefere Problemveränderungen sensibel, wenn auch oft nur kurz ein, etwa im Rahmen der Fragen zur Parlamentsreform (4. Aufl. 1970, S. 229 f.) und der Regierungsreform („Reformerwägungen“: 8. Aufl. 1975, S. 257) oder zur Reform des öffentlichen Dienstrechts (8. Aufl. 1975, S. 219 f.) sowie auf die Lehre von den Schutzpflichten des Staates in Sachen Grundrechte (12. Aufl. 1980, S. 147; s. auch 16. Aufl. 1988, S. 139 f.). Dass die „Fortentwicklung“ oder neue „Akzentuierungen“ auch in bloß „ergänzten“ Auflagen von anderen nicht immer beachtet worden sind, macht K. Hesse selbst in seiner 16. Auflage, 1988 (Vorwort S. V) mit Recht „aktenkundig“! (3) Ein Wort zu Erscheinungsformen, Ursachen, Hintergründen der Rezeption der „Grundzüge“. Die Rezeptionsgeschichte des Lehrbuchs (in 1. Aufl. von 1967, in 16. von 1988, 20. Aufl. 1995) besitzt einen formalen und einen materialen Aspekt. Zum formalen gehört die Frage, welche Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft das Werk Hesses diskutierten, rezipierten oder verwarfen – die Staatsrechtswissenschaft, die Praxis, insbesondere das Bundesverfassungsgericht sowie das Bundesverwaltungsgericht, aber auch andere Wissenschaften wie die Zivilrechtslehre, die Politikwissenschaft oder die Sozialwissenschaften. Innerhalb des Bereichs der Staatsrechtswissenschaft müsste unterschieden werden zwischen den einzelnen Literaturgattungen: Stilbildend wirkten die „Grundzüge“ vor allem in systematischer Hinsicht. Spätere Lehrbücher berufen sich in ihren Klassifizierungen oft ausdrücklich oder der Sache nach auf „den Hesse“. Das gilt darüber hinaus für Monographien, d. h. hauptsächlich Habilitationsschriften und Dissertationen. In der Aufsatzliteratur dürften Hesses „Grundzüge“ ebenfalls zu den meist zitierten Werken des Verfassungsrechts gehören.
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Inhaltlich hat die Tatsache, dass K. Hesse meist ausgewogene und mittlere Lösungen entwickelte, die Rezeption seines Buches erleichtert. „Praktische Konkordanz“ hat er sich zu allererst selbst zum Ziel gesetzt, lange bevor die Formel vom BVerfG übernommen wurde. Dass diese „magische Formel“ so viel Erfolg hatte, ist ein guter Ausweis für die Integrationskraft des politischen Gemeinwesens des GG: die Juristen jedenfalls bemühen sich um „praktische Konkordanz“, es bleibt nicht bloß Lippenbekenntnis. Nur gelegentlich hat K. Hesse durch Zuspitzung (wohl bewusst?) eine Kontroverse provoziert. Das dürfte etwa für das Heidelberger Referat „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“ gelten (1965). Im Übrigen bewährte sich sein wohl auch durch das persönliche „Temperament“ bedingtes Prinzip „praktischer Konkordanz“ besonders und nicht zuletzt im Staatskirchenrecht.8 Fragt man nach den Ursachen des großen Erfolges der „Grundzüge, so ist zwischen den formellen und materiellen Gründen zu unterscheiden. In formeller Hinsicht besticht die Prägnanz, Sachlichkeit und Sparsamkeit der Ausführungen, aber auch die systematische Kraft der Gestaltung. Der Abstraktionsgrad ist hoch, was mitunter auf Kosten der pädagogischen Eignung für Jurastudenten in den frühen Semestern gehen kann. Das Buch führt stets zum Grundsätzlichen hin und es verliert sich nie in Einzelheiten. Gewiss, man mag manches vermissen, etwa die wirtschafts- oder die kulturverfassungsrechtliche Seite, die Entstehungsgeschichte des GG, auch Aspekte des Landesverfassungsrechts. Rezensenten haben dies z. T. moniert. Die enge Verbindung von verfassungstheoretischer Grundsatzarbeit und Orientierung an der Praxis des BVerfG ist ein Grund für die inhaltliche Rezeption des Buches. Es ist im besten Sinn „dogmatisch“ gearbeitet, ohne irgendwann „doktrinär“ zu werden. Vor allem hat K. Hesse wohl als erster ein systematisches Gesamtkonzept der GG-Wissenschaft vorgelegt. Dank des Fehlens extremer Positionen ist das Buch in besonderem Maße für einen breiteren wissenschaftlichen Konsens prädestiniert. Es baut weder Freund/Feindpositionen9 auf, noch bleibt es ohne sachliches Engagement. Das dürfte seiner ebenso breiten wie tiefen Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls gedient haben. Seine
8 Vgl. etwa den Aufsatz „Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ in: HdbStKirchR, Bd. I (1974), S. 409 (430 ff.) zu den Schranken der für alle geltenden Gesetze: „Die Schrankenformel als Zuordnungsregelung“. 9 Charakteristisch für K. Hesses integrierendes Denken ist sein Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (DÖV 1975, S. 437 ff.).
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integrierende Wirkung ist Folge seines integrierenden Denkstils. Dieser ist freilich auch kritisiert worden.10 Nicht nur Kodifikationen „altern“, auch Lehrbücher können „altern“ – so wie das GG seine „Interpretationsgeschichte“ hat. K. Hesse tat viel, um ein vorzeitiges Altern seiner „Grundzüge“ zu vermeiden. Zunächst dienten diesem Ziel (neben den „Ergänzungen“) die Neubearbeitungen, die regelmäßig erfolgten: in der 4., 8. und 12. sowie 20. Auflage. Ganz wird ein „Altern“ indes nicht zu vermeiden sein: Z. B. kann neue Literatur in Lehrbüchern nur mehr oder weniger summarisch nachgetragen werden, soll keine grundsätzliche Umarbeitung erfolgen. Sodann: So groß die Offenheit und Aufnahmebereitschaft eines einzelnen Staatsrechtslehrers für neue Entwicklungen ist, die Literaturgattung des Lehrbuchs und das Generationenproblem ziehen hier „natürliche“ Grenzen.11 Der Autor eines juristischen Lehrbuchs vermag sich nicht auf gänzlich neue Paradigmen seiner Wissenschaft einzulassen – soweit es zu solchen kommen sollte. Das kann eher in begleitenden Aufsätzen geschehen. So hat sich Hesse verstärkt mit der verfahrensrechtlichen Seite der Grundrechte (seit der 12. Aufl., S. 151 ff.) befasst, nachdem er den Aufsatz in der EuGRZ vorausgeschickt hatte (1978, S. 427 ff.). K. Hesses „Grundzüge“ sind fast so etwas wie Bestandteil der „Verfassungskultur“ der Bundesrepublik Deutschland geworden. So haben die „Grundzüge“ im politischen Prozess der Form oder der Sache nach große Wirkungen gezeitigt: die sog. „Verfassungsdebatte“ des Deutschen Bundestages von 197412 hat auf For-
10 Vgl. etwa D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 1977. 11 K. Hesse hat Themen seines Lehrbuches später auch weiterhin in Aufsätzen ausgebaut: etwa den „kooperativen Föderalismus“ (in der FS Gebhard Müller, 1970, S. 141 ff.), die „Verfassungswandlung“ (in FS U. Scheuner, 1973, S. 123 ff.), die Grundrechtsdogmatik (EuGRZ 1978, S. 427 ff.). 12 In der sog. „Verfassungsdebatte“ des Deutschen Bundestages vom 14.2.1974 (7. Wahlperiode, 79. Sitzung, Verh. Bd. 86, S. 5001 ff.) wird K. Hesse wörtlich zitiert durch den Abg. Dürr (SPD) mit dem Satz (aaO., S. 5068 (A)): „Der Staat des Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat, und dies ist ihm durch die Formel vom sozialen Rechtsstaat von Verfassungs wegen als Aufgabe gestellt.“ Dürr fügt ebd. hinzu: „Das stammt gar nicht von einem Sozialdemokraten, sondern von dem Staatsrechtslehrer Konrad Hesse“. (Man hätte als Fundstelle zu ergänzen: Grundzüge, 6. AufI., 1973, S. 86).- Im übrigen verwandten mehrere Redner Begriffe, die der „Freiburger Schule“ nahestehen: vgl. etwa Abg. Hirsch (FDP), ebd. S. 5028 (A): „Wer das Grundgesetz als ein statisches Korsett begreifen will, wird es der Zerstörung preisgeben“. – Abg. Genscher (FDP), ebd. S. 5053 (C und D): „Sie (sc. die Dynamik unserer Verfassung liegt darin begründet, daß sie das Freiheitsproblem von zwei Seiten angeht. Sie bietet ein wohlsortiertes Instrument für die Bewahrung und Verteidigung der Freiheit; sie setzt aber zugleich weitausholende Ziele für die materielle und das heißt wohl auch für die soziale Ausfüllung der Freiheit … In zahlreichen Urteilen hat das Verfassungsgericht auf den Charakter des Grundgesetzes als einer Verfassung der offenen Wege hingewiesen.“ – Abg. Vogel Ennepetal (CDU/CSU), ebd. S. 5072 (A): „Insofern ist dieses Grundgesetz sicherlich nicht
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mulierungen zurückgegriffen, die direkt oder indirekt Konrad Hesse zu verdanken sind. Ein Feld des Wirkens von K. Hesse bedarf besonderer Betrachtung: die deutsche Staatsrechtslehrervereinigung. Gemeint ist nicht die Präsenz in den Fußnoten der Berichte – die „Grundzüge“ dürften hier der Form und der Sache nach zu den am meisten zitierten Büchern gehören, und hier harrt ein weites Feld der wissenschaftlichen Nachbereitung. Gedacht sei an das persönliche bzw. mündliche Wirken des Jubilars. K. Hesse amtierte von 1971–1973 (zusammen mit P. Lerche und H. H. Rupp) als Vorstand der Vereinigung und er war für einen großen Zeitabschnitt neben U. Scheuner und H. P. Ipsen ihr Chronist (AöR 97 (1972), S. 345 ff.; 99 (1974), S. 312 f.). In den Diskussionen hielt er sich gerne eher zurück. Wenn er aber sprach, dann kurz und bündig, gezielt und präzise – abschließend. Beispiele sind das Schlusswort auf der Wiener Tagung über die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien (VVDStRL 17 (1959), S. 115–117) oder das Votum zu „Die Kirchen unter dem GG“ (VVDStRL 26 (1968), S. 137), gewiss nicht zuletzt dem Zweitberichterstatter A. Hollerbach zuliebe geäußert. Diese Wortmeldung ist vom Selbstverständnis her insofern ein „echter Hesse“, als er „eigene frühere Arbeiten“ von der Kritik nicht ausnimmt. In Bern (VVDStRL 28 (1970), S. 132) hält K. Hesse dem Mit-Berichterstatter die Frage entgegen, wie dieser denn die staatstheoretischen Grenzen der Gewissensfreiheit begründe, wenn nicht von der Verfassung her. Manche Adressaten dieser Kritik haben diese wohl bis heute nicht verstanden! Dankbar war nicht nur der Verfasser für die Intervention in Regensburg (1971). K. Hesse (VVDStRL 30 (1972), S. 145) stellt hier manche Übereinstimmung zwischen den beiden Referenten fest (einer war der so früh verstorbene W. Martens) und er sprach von „beweglicher Vorwärtsverteidigung“ in favorem des Zweitreferenten. Ein letztes Votum – präzise vor den Schlussworten der Referenten – findet sich in VVDStRL 39 (1981), S. 208. Hesse warnt vor einer Überschätzung abstrakter Methodendiskussionen, er verweist sachlich auf den „guten Juristen“. Der Verf. erinnert sich noch, wie man damals in Innsbruck das Fallen einer Stecknadel hätte hören können: so gespannt war die Aufmerksamkeit im Blick auf das Votum des Meisters und Bundesverfassungsrichters!
nur staatliches Organisationsstatut. Es ist ebensowenig eine säkularisierte Heilsordnung, sondern prinzipiell offen für alternative politische Programme“. – Abg. Gross (FDP), S. 5077 (A): „Ein seiner selbstsicheres offenes System … diese offene Ordnung … “. – Staatsminister Prof. Dr. Hans Maier (CSU), ebd., S. 5090 f.: „Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung eines Staates … Jeder weiß, daß Verfassungen sich entwickeln … Aber in aller Entwicklung, die stets offen ist und die offengehalten werden muß, müssen Grundmaße unverrückt bleiben … Ich räume ein: es gibt sicher Politiker, die zu lernen haben, daß eine Verfassung ein offenes System ist und daß man sie weiterentwickeln muß.“
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Freilich: Was macht den „guten Juristen“ aus? Sicher der gute Jurist als Vorbild, also als Lehrer!
2. Konrad Hesse als akademischer Lehrer Zum Kernbereich des Wirkens und Selbstverständnisses K. Hesses gehört sein für manche schon legendäres Freiburger „Hesse-Seminar“. Es begann im Sommersemester 1956. Was war das Unnachahmliche dieses sich in großer Kontinuität entwickelnden Seminars, das allenfalls im „Göttinger Smend-Seminar“ ein gewisses Vorbild besaß? An erster Stelle gewiss die straffe Planung und Leitung durch Konrad Hesse, sodann die stets ins Grundsätzliche gehende Themenwahl, die Offenlegung der Denkvoraussetzungen und Methoden. Von den Teilnehmern her: eine Vielzahl eigenwilliger Köpfe, die auch politisch sehr unterschiedlich dachten und sich gegenseitig fast nichts „schenkten“. Kurz: „das Seminar“ war eine Institution – eigentlich ohne Konkurrenz, Basis der von R. Herzog zum Ärger weniger so genannten „Freiburger Schule“ (Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 222). Es behielt seine unverwechselbaren Konturen auch in der Zeit, da H. Ehmke (seit 1962) ebenfalls ein erstklassiges Seminar aufbaute – K. Hesse war ihm freundschaftlich verbunden wie später auch Werner von Simson, zuvor dem so früh verstorbenen Karl Zeidler (vgl. dazu den Nachruf in: JZ 1962, S. 779 f.), später Ernst Benda (zu ihm der Festschriftenbeitrag: Skepsis und Zuversicht“, 1995, S. 1 ff.). Um von den Schülern her zu fragen: Was beeindruckt an K. Hesse besonders? Sein Wirken ist persönlich wie fachlich von schlichter Sachlichkeit geprägt; sie hat ihre eigene Würde (und Sittlichkeit) – was selten genug ist in unserer so extrovertierten und ökonomisierten Zeit. Diese Sachlichkeit ist eine „Vokabel der Freiheit“ (H. Domin), von der wir alle leben. Maß und Selbstbescheidung sind weitere Elemente von Hesses Persönlichkeit, wie sie auf alle Schüler als Vorbild ausstrahlt. Vor allem aber ist es Hesses Unbestechlichkeit in jeder Hinsicht, die die Schüler leitete, gelegentlich disziplinierte und überforderte. Es gibt viele offene und verdeckte, bewusste und unbewusste Formen von Korruption der Wissenschaft, auch und gerade der Staatsrechtslehre: von der Vielzahl wechselnder (unveröffentlichter) Auftragsgutachten über die nicht pluralistische Berufungspolitik bis zum „Fernseh-“, „Parteitags-“ und „Feuilleton-Professor“. (Man denke an die konstruktive Mitwirkung Hesses bei der Berufung des Forsthoff-Schülers K. Zeidler aus Heidelberg und anderer aus derselben „Himmels-Richtung“.) Was haben die Schüler von Hesse im Seminar gelernt? Vor allem die Fairness in der Auseinandersetzung mit Gegenmeinungen, die rigorose Frage nach den Denkvoraussetzungen bei sich selbst und anderen, die Beherrschung der Emotionen, die Bereitschaft, sich auf neue Entwicklungen einzustellen. Die Unabge-
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schlossenheit des eigenen Standpunktes vor Augen zu haben, gehört ebenfalls dazu! In der Tiefe aber der „spezifisch verfassungsrechtliche“ Ansatz, der sorgsame Umgang mit dem Verfassungstext, die Interpretation und das Gewissen als Instanz, beides ein protestantisches Element, wissenschaftstheoretisch wie -praktisch, so gefiltert, sublimiert, vielleicht auch „gebrochen“ es sein mag …
3. Konrad Hesse als Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe Dem heutigen Betrachter dieser großen Zeit von 1975 bis 1987 stellen sich folgende Fragen: (1) Wie wirkte Konrad Hesse in „seinem“, dem Ersten Senat, sei es als Berichterstatter, sei es als „einfaches“ Mitglied des Gremiums? Ein Karlsruher Mitarbeiter, Harald Klein, hat zum 65. Geburtstag (1984) in einem schon damals dicken Band die Entscheidungen zusammengestellt, die Konrad Hesse als Berichterstatter zu verantworten hatte13. Bereits die Zahl der Grundsatzjudikate ist groß und eindrucksvoll. Bekannt und in jeder Hinsicht ins Auge springend sind etwa das Mitbestimmungsurteil (E 50, 297 ff.), Entscheidungen zur Meinungs- und Pressefreiheit (E 54, 148 (Eppler/CDU); 54, 208 (Böll/Walden) sowie
13 BVerfGE 42,42 (Privatrundfunk Saarland); 42, 143 (DGB); 42, 163 (Echternach); 43, 27 (§ 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB (I)); 43, 126 (Selbstablehnung) (Zwischenentscheidung)); 43, 130 (Politisches Flugblatt); 44, 37 (pr. Kirchenaustrittsgesetz); 44, 59 (hess. Kirchensteuergesetz); 46, 120 (Direkt rufverordnung); 46, 246 (Halbfettmargarine); 46, 315 (Rechtl. Gehör (Öltank)); E vom 7.12.1977, unveröffentlicht (Mitrecht (§ 93 a Abs. 4 BVerfGG)); E 47, 109 (§ 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB (II)); 48, 394 (Rechtl. Gehör (Schriftsatzfrist)); 49, 217 (Mitbestimmung (Zwischenentscheidung)); 50, 290 „Mitbestimmung); E vom 3.4.1979, unveröffentlicht (Erdölbevorratung (Prozeßentscheidung)); E 51, 146 (Wiedereinsetzung); 51, 166 (Benzinqualitätsangabenverordnung); 51, 188 (Art. 103 Abs. 1 GG); 51, 295 (Zweitschuldnerhaftung); 52, 283 Tendenzschutz); 53, 115 (Wiedergutmachung); 53, 135 (Kakao-Puffreis (UWG)); 54, 129 (Kunstkritik); 54, 148 (Eppler ./. CDU); 54, 208 (Böll ./. Walden); 55, 32 (Kirchenaustritt (Übergangsfrist)); 57, 295 (Privatrundfunk im Saarland); E v. 14.7.1981 (unveröffentlicht) (Mieterhöhungsverlangen); E 59, 231 (Freie Rundfunkmitarbeiter); 60, 234 (Kredithaie); 61, 1 („CSU ist NPD von Europa“); 61, 126 (Erzwingungshaft); 62, 230 (Boykottaufforderung); 63, 131 (Gegendarstellung); 64, 108 (Zeugnisverweigerung); 64, 203 (Rechtliches Gehör); 64, 256 (Freie Rundfunkmitarbeiter II); 65, 248 (Preisangabenverordnung); 65, 297 (HOA I); 66, 116 (Springer ./. Wallraff); 68, 193 (Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (Zahntechniker)); 68, 334 (Preisangabenverordnung (Nichtannahme durch Senat)); 70, 1 (Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz II); 70, 93 (Grenzabstand bei Pflanzungen); 70, 115 (Vertragsdauer von Versicherungsverträgen); 70, 126 (Zahlungspflicht trotz Kündigung des Versicherungsvertrags); 71, 108 (Politische Plakette); 71, 206 (§ 353 d StGB) 71, 350 (Frühmagazin in „Radio Stuttgart“ (e. A.)); unveröffentlichte E vom 25.2.1986 (Rechtl. Gehör (Nichtannahme durch Senat)); E 73, 330 (Richterablehnung Dr. Simon); 73, 118 (Nds. Landesrundfunkgesetz); 74, 69 (Rechnungshofkontrolle beim SDR); 74, 297 (Landesmediengesetz Baden-Württemberg).
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die sog. „Fernsehurteile“ (E 57, 295; 73, 118; 74, 297)). Aber auch viele weniger spektakuläre, indes für den Alltag wichtige sonstige Entscheidungen finden sich: z. B. E 55, 32 (Kirchenaustritt); E 59, 231 und 64, 256 (Freie Rundfunkmitarbeiter); E 68, 193 und 70, 1 (Kostendämpfung). Allesamt wirken sie knapp, präzise, sachlich, nüchtern, ohne großes Dekor. Ein Problem steckt in der Frage, warum K. Hesse selbst kein Sondervotum verfasst hat. Konnte er sich dank seiner sachlichen Argumentation im Senat im Prinzipiellen meist „durchsetzen“? War er kompromissbereit? Widersprach es seinem Verständnis vom richterlichen Amt, durch Sondervoten aus dem Kreis der Mitrichter herauszutreten? Die Schüler bzw. Freunde hätten sich aus „kollektiver Eitelkeit“ – vielleicht über eine gelegentliche „Abweichende Meinung“ gefreut, zumal es ja gute Gründe für diese Einrichtung gibt – jedenfalls wenn man Verfassung als öffentlichen Prozess begreift, in dem das Sondervotum ganz spezifische Funktionen erfüllt14 –, man denke nur an die großen Sondervoten von Frau Rupp von Brünneck und H. Simon, mit beiden verband K. Hesse mehr als bloße Kollegialität! Es ist freilich auch denkbar, dass das individuelle Bedürfnis eines Verfassungsrichters, der als Wissenschaftler die „Grundzüge“ (und nicht nur sie) geschrieben hat, Sondervoten abzusetzen, ganz schlicht geringer wird. (2) Welche direkte, in Zitaten belegbare Ausstrahlungswirkung lässt sich in den Entscheidungen (vor allem auch des Zweiten Senats) nachweisen? Da das BVerfG zum Ärger nicht weniger Kollegen15 in seiner Zitierweise eigenwillig, punktuell, mitunter fast zufällig(?) vorgeht und vieles ohne Zitat übernimmt, was die Wissenschaftlergemeinschaft erarbeitet hat (m. E. darf es dies, und man sollte nicht gekränkt sein, wenn der eigene Name „unter den Tisch“ fällt), seien nur die Entscheidungen genannt, in denen das BVerfG selbst und früh ausdrücklich auf K. Hesse verweist. Das ist häufig geschehen.16
14 Dazu P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff. Aus der weiteren Literatur K.-G. Zierlein, Erfahrungen mit dem Sondervotum beim BVerfG, DÖV 1981, S. 83 ff. – Eher kritisch: T. Ritterspach, Gedanken zum Sondervotum, FS W. Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 1979 ff. Weitere Lit. bei K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, S. 38 ff. – Soweit ersichtlich gibt es nur ein Sondervotum zu einer von K. Hesse als Berichterstatter verantworteten Entscheidung: SV. Heußner, E 59, 273 f. 15 Vgl. H. H. Rupp, Zum „Mephisto-Beschluß“ des BVerfG, DVBl. 1972, S. 66 (67). – Allgemein aus der jüngsten Lit. zur Zitierpraxis des BVerfG: M. Jestaedt, Autorität und Zitat, FS Bethge, 2009, S. 513 ff.; H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht …, FS Wahl, 2011, S. 405 (423 ff.). 16 Vgl. E 20, 56 (101 f.); 37, 363 (381, 383); 42, 312 (322); E 52, 223 (242); 53, 366 (401); SV Simon/ Heußner E 53, 69 (71); SV Rottmann E 53, 408 (410).
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(3) Welche Entscheidungen des BVerfG zitieren K. Hesse seit Ende der 70er Jahre bis heute? Hier ist die Ausbeute groß. Neben G. Dürig ist K. Hesse der am meisten zitierte Klassiker der jüngeren und mittlerweile über 60 Jahre alten Grundgesetzgeschichte.17 Im Rückblick darf die in Personalunion bei K. Hesse geglückte Synthese von Staatsrechtslehre und Verfassungsrichterschaft als Glücksfall gewertet werden (wie bei E. Friesenhahn und G. Leibholz). Es konnte der Wirkung und dem Ansehen der deutschen Staatsrechtslehre nur zugute kommen, wenn einer ihrer maßvollen und selbstdisziplinierten Repräsentanten Mitglied des Bundesverfassungsgerichts wurde. Umgekehrt dürfte das BVerfG seinerseits von der Mitgliedschaft des Staatsrechtslehrers K. Hesse viel Nutzen gezogen haben: das zeigt sich in den von ihm als Berichterstatter betreuten „großen“ Entscheidungen, aber auch in der täglichen Kleinarbeit bis hin in die „Dreier-Ausschüsse“ hinein. Implizite ist so manche Entscheidung des BVerfG ein „Kommentar“ zur Staatsrechtslehre – so wie umgekehrt die Verfassungsgerichtsbarkeit von der Kommentierung durch die Wissenschaft lebt. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten lebt von (und in) vielen Arten von „Kommentierungen“ und von vielen Personen als Interpreten. Verbindet sich in einer einzigen Juristenpersönlichkeit das wissenschaftliche Lehrbuch (und Lebenswerk) mit dem Amt des Verfassungsrichters, so ist dies eine Chance für die ganze Interpreten-Gemeinschaft: K. Hesse hat sie optimal wahrgenommen.
Auswahlbibliographie Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956 Die normative Kraft der Verfassung. Freiburger Antrittsvorlesung 1959 (Portugiesische Übersetzung, Porto Alegre, 1991) Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11–52 Der unitarische Bundesstaat, 1962 Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, ZeVKR 11 (1964/65), S. 337–362 Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1967, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999); Russische Übersetzung 1981; Japanische Übersetzung 1982/1999; Koreanische Übersetzung 1985/87; Portugiesische Übersetzung 1998; Chinesische Übersetzung 2005
17 Dazu die Belege bei P. Häberle, Einleitung zur Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Neuausgabe des JöR Bd. 1, 2010, S. VI (IX, FN 15).
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Zum 50. Jahrestag der Gründung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 97 (1972), S. 345–349 Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437–443 Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427–438 Escritos de Derecho Constitucional, Selección, Madrid 1983, 2. Aufl. 1992, 3. Aufl. 2011 Ausgewählte Schriften, hrsgg. von P. Häberle und A. Hollerbach, 1984 (mit Bibliographie, S. 585–594) Der Gleichheitssatz in der neueren Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174–198 Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988 (spanische Übersetzung, Madrid 1995) Art. Smend, Staatslexikon, 7. Aufl. 1988, Sp. 1183–1185 Die neue Ordnung des Rundfunks in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, FS U. Häfelin, 1989, S. 149–165 Der Beitrag der Verfassungen in den neuen Bundesländern zur Verfassungsentwicklung in Deutschland, KritV 1993, S. 7–13 Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdBStKiR, 2. Aufl., 1. Band 1994, S. 521–559 Verfassung und Verfassungsrecht, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschlands, 2. Aufl. 1994, S. 3–17 Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, S. 265–273 Stufen der Entwicklung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 46 (1998), S. 1–23 Elemente einer Verfassungstheorie, Ausgewählte Schriften(in koreanischer Sprache, Seoul 2001) Temas Fundamentais do Direito Constitucional, Ausgewählte Schriften (in portugiesischer Sprache, Sao Paulo 2009) L’unità della Costituzione, Sentti Scelt di Konrad Hesse (a cura di A. Di Martino/G. Repetto, Prefazione di P. Häberle)
LVIII Karl Doehring (1919–2011) Torsten Stein
I. Leben Vielleicht noch etwas mehr als andere seiner Generation war Karl Doehring geprägt durch die Zeitumstände, in die er hineingeboren wurde. Das wird sehr deutlich aus seinen Erinnerungen, die er – in der ihm eigenen unprätentiösen Art geschrieben – im Jahre 2008 veröffentlich hat,1 um jenen später Geborenen, die sich gern und dezidiert zu Epochen äußern, die sie nicht selbst miterlebt haben, die Sicht und Erfahrungen des Zeitzeugen zur Verfügung zu stellen. Karl Doehring wurde am 17. März 1919 in Berlin geboren. Er entstammte einer durch und durch preußischen Familie, und preußisches Pflichtbewusstsein in allen Situationen bestimmte auch seine Haltung sein Leben lang. Sein Großvater war Landrat auf der Marienburg in Ostpreußen, sein Vater Rechtsanwalt in Berlin. Von 1929 bis 1936 besuchte Doehring das französische Gymnasium in Berlin. In jener Zeit hat er, wie er berichtete, seine erste und letzte Dienstaufsichtsbeschwerde geschrieben, als sein als Regimegegner bekannter Vater eines Tages von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager gebracht wurde, und die Familie lange im Ungewissen blieb, wo er inhaftiert war. Er kam dann frei und Karl Doehring erwähnte gerne als Beispiel dafür, dass es auch in dunkelsten Zeiten einige Anständige gab, dass der Hausmeister hin und wieder in SS-Uniform kam und mitteilte, die Akten über „Herrn Rechtsanwalt“ kämen nach oben; Doehrings Vater verreiste dann ohne Angabe einer Adresse, bis der Hausmeister vermeldete, die Akten seien wieder unten. Er wurde noch öfter verhaftet, zuletzt von der sowjetischen Besatzungsmacht in Thüringen, kam aber immer wieder frei. Karl Doehrings immer unbedingtes Festhalten an den Prinzipien des Rechtsstaates war fraglos die Konsequenz der Erfahrungen, die er unter totalitären Regimen gemacht hatte. Wie bei so vielen seiner Generation führte sein Lebensweg ihn nach dem Abitur nicht an die Universität, sondern in Arbeitsdienst, Wehrdienst, Kriegsdienst und Gefangenschaft. Die Unerschrockenheit, mit der er in den Jahren ab 1968 sich der sogenannten Studentenrevolte entgegenstellte und den Rechtsstaat
1 K. Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union (Berlin 2008).
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und die Freiheit der Wissenschaft verteidigte, haben sich viele, die ihn damals begleiteten, auch damit erklärt, dass er schon ganz anderes erlebt und durchgestanden hatte. Anlässlich der Übergabe der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag2 erwähnte er – ohne Namensnennung – jene, die noch im Sturm neben ihm standen, während andere schon im Wind weggelaufen waren. Nach kurzem Arbeitsdienst trat Karl Doehring 1937 in ein Panzerregiment der Wehrmacht ein, nahm nach Kriegsbeginn 1939 zunächst am Polenfeldzug teil und war ab 1941 als junger Offizier im Afrika-Korps im Einsatz. 1943 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft in Ägypten. In seiner wohl letzten Veröffentlichung, in der er über das Buch schrieb, das ihn am Beginn seiner Beschäftigung mit dem Völkerrecht am meisten beeindruckt hatte (das „Völkerrecht“ von Georg Dahm),3 findet sich der Satz „In the battle against the British army in Africa, humanitarian law was observed very well, apart from the fact that we were repatriated only three years after the cessation of hostilities“. Es dauerte in der Tat bis 1948, ehe Karl Doehring aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Er hatte aber die Möglichkeit, unter der Leitung von Hans Ulrich Scupin im Lager Rechtswissenschaften zu studieren, wobei Zwischenprüfungen genauest dokumentiert wurden, so dass für das anschließend in Heidelberg aufgenommene Jurastudium Doehring zwei Semester anerkannt wurden und er bereits nach fünf Semestern das erste Staatsexamen ablegen konnte. Schon parallel zur Referendarausbildung arbeitete Doehring am Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, das – zuvor im Berliner Schloss beheimatet – nach dem Kriege in Heidelberg neu gegründet worden war. Diesem Institut sollte er über 60 Jahre lang die Treue halten und es wesentlich prägen. 1958 wurde Doehring mit einer Arbeit über den diplomatischen Schutz promoviert und 1962 mit einer Schrift über die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht habilitiert, in beiden Fällen betreut durch Ernst Forsthoff. Im Jahr seiner Habilitation berief ihn die Max-Planck-Gesellschaft zum wissenschaftlichen Mitglied am Heidelberger Völkerrechtsinstitut und nahezu gleichzeitig erhielt er einen Ruf an die Universität Göttingen. Die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg bot an, ihn zu
2 K. Hailbronner/G. Ress/T. Stein, Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, Springer-Verlag (Heidelberg 1989). 3 Karl Doehring, Impressions, EJIL 22 (2011), S. 617 ff. Doehrings Beitrag eröffnete die Reihe „Impressions“. Bemerkenswert ist auch der Nachruf von Joseph Weiler im selben Heft des EJIL (S. 310f).
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berufen, wenn er Göttingen ablehnte. Doehring entschied sich, beide Angebote nicht anzunehmen und zunächst noch weiter am Max-Planck-Institut zu forschen, er lehrte aber daneben als Honorarprofessor an der Heidelberger Juristischen Fakultät. 1968 übernahm er dann dort ein Ordinariat als Nachfolger von Ernst Forsthoff. Fortan und bis zu seiner Emeritierung 1987 wirkte er mit großer Energie und einem unglaublichen Arbeitspensum an beiden Institutionen, in der Regel morgens in der Fakultät und nachmittags am Max-Planck-Institut. Oft hatte er auf seinen beiden Schreibtischen ganz unterschiedliche Publikationsvorhaben liegen und konnte binnen kürzester Zeit auf das jeweils andere Thema umschalten. Auch für die Heidelberger Juristische Fakultät war Doehring ein sie prägendes Mitglied, insbesondere in den unruhigen Jahren der sog. „Studentenrevolte“ ab 1968. Mutig und in seiner rechtsstaatlichen Haltung unbeirrbar stellte er sich allen Störversuchen und auch einer Universitätsleitung entgegen, die zurückwich und klare Rechtsbrüche nicht nur tolerierte, sondern teilweise mittrug. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ und wurde dadurch das Ziel nicht nur wüster Drohungen, sondern einmal auch eines gewaltsamen Anschlages. Sollten seine Vorlesungen gestört werden, zog er eine Trillerpfeife heraus und in der erstaunt folgenden Stille fragte er die Studenten, ob sie diskutieren oder seine Vorlesung hören wollten; die große Mehrheit wollte immer die Vorlesung. Aber Doehring war kein Gegner von Diskussionen, sondern kündigte eine Vortragsreihe an über den „politischen Kampf im Rechtsstaat“, um damit den Studenten ein Diskussionsforum zu bieten. Zweimal wurde er zum Dekan gewählt, das zweite Mal ganz bewußt mit Blick auf das 600jährige Jubiläum der Heidelberger Universität im Jahre 1986. 1980 wurde Doehring zunächst neben Rudolf Bernhardt zum Direktor des Heidelberger Max-Planck-Institutes für Völkerrecht bestellt, ein Jahr später trat auch Jochen Abr. Frowein in das Direktorium ein. Doehrings Präsenz am und sein Einsatz für das Institut war dadurch kaum noch zu steigern. 1987 auch in dieser Funktion emeritiert, war er bis kurz vor seinem Tode am 24. März 2011 jeden Tag im Institut und nahm aktiv an den wöchentlichen Referentenbesprechungen teil, unterbrochen nur durch eine Gastprofessur an der Emory University in Atlanta (USA) im Jahre 1988. Bis zu seinem 80. Geburtstag hielt er Seminare zur internationalen Gerichtsbarkeit am Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Er legte großen Wert darauf, an den wissenschaftlichen Symposien, die seine Schüler alle fünf Jahre zu seinen Ehren veranstalteten, beginnend zu seinem 65. Geburtstag und zuletzt zu seinem 90., selbst aktiv teilzunehmen mit einem Referat. Doehring war Mitglied in den einschlägigen wissenschaftlichen Vereinigungen. Die Staatsrechtslehrertagungen hat er regelmäßig besucht und 1973 dort über „Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik
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Deutschland“ referiert. In der Deutschen Vereinigung für Internationales Recht, der deutschen Landesgruppe der International Law Association, gehörte er bis ins hohe Alter dem Beirat an und arbeitete in internationalen Ausschüssen mit. Von 1981 bis 1985 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. 1971 wurde er zunächst Associé und alsbald danach Membre und später Ehrenmitglied des Institut de Droit International, wo er unter anderem den Ausschuss für Fragen des Auslieferungsrechts zu einer Zeit leitete, als der nationale und internationale Terrorismus ein besonders aktuelles und brisantes Thema war. Doehring hat vielfache Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. Ehrendoktorwürden wurden ihm von den Universitäten Johannesburg, Bukarest und Saarbrücken verliehen. Er war Ehrenmitglied der Academia Mexicana de Derecho Internacional und Träger des Eisernen Kreuzes und des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.
II. Werk Karl Doehrings Publikationsliste verzeichnet über 200 Einträge, die Leserbriefe, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung in unüblicher Häufigkeit abdruckte und in denen Doehring pointiert zu aktuellen Rechtsfragen Stellung nahm, nicht mitgerechnet. In seinem wissenschaftlichen Werk bildeten, wie bei kaum einem anderen Staatsrechtslehrer, Staatsrecht und Völkerrecht – und verbindend die Rechtsvergleichung – immer eine Einheit. Er hat mit Vorrang Themen bearbeitet, bei denen sich Staatsrecht und Völkerrecht berührten und beeinflussten. Seine Lehrbücher mit Gesamtdarstellungen des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, des Völkerrechts und der Allgemeinen Staatslehre sind Ausweis einer vernetzten Sicht des Staates; auf sie ist zurückzukommen. Seine Hauptthemen waren der Staat und seine Gefährdungen, die Autorität des Staates in einer sich wandelnden internationalen Ordnung, die Rechtslage Deutschlands, das Staatsangehörigkeitsrecht, der Schutz des Bürgers im In- und Ausland, die Stellung des Fremden und das Selbstbestimmungsrecht. Dabei hat Doehring Doktrin und Theorie immer auch auf den Prüfstand der praktischen Relevanz gestellt und an der Realität gemessen. Das galt auch für das aufkommende und immer weitere Bereiche erfassende Europarecht. Schon aus seiner eigenen Lebensgeschichte heraus ein überzeugter Befürworter der europäischen Integration, hat er aber auch immer auf Klarheit und Wahrheit bestanden, solange dieses Europa aus Nationalstaaten gebaut ist, die die Letztverantwortung gegenüber ihren Bürgern tragen. Mit dem „sui generis“-Charakter des europäischen Gemeinschaftsrechts
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konnte er vermutlich nicht so furchtbar viel anfangen. Die noch miterlebte Staatsschuldenkrise im Euro-Raum hat ihm große Sorge bereitet. Dass für Doehring die Stellung des Einzelnen im Recht ein immer wieder behandeltes Thema war, wurde schon in seiner Dissertation deutlich, die sich mit der Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes beschäftigte.4 Darin weist er anhand des deutschen Rechts und der Rechtsvergleichung nach, dass diplomatischer Schutz nach Völkerrecht ein Recht der Staaten ist, ein subjektives Recht des Einzelnen sich aber auf einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung beschränkt. Der Regierung sei so die notwendige Freiheit zur Erhaltung des Staatsganzen gewährt, und doch stehe der Staatsbürger der Regierung nicht rechtlos gegenüber. Die Justiziabilität sei nicht übersteigert, und doch seien die Grundsätze des Individualschutzes im Sinne der geltenden Rechtsordnung beachtet. Dieser Rechtsauffassung ist später das Bundesverfassungsgericht gefolgt. Auch in seiner Habilitationsschrift,5 die neben einer sehr klaren Charakterisierung des Völkergewohnheitsrechts – auch hinsichtlich seiner steten Offenheit für Veränderungen – eine ebenso überzeugende Analyse der Bedeutung und Wirkung von Art. 25 GG enthält, findet Doehring einen Ausgleich zwischen den Tendenzen der extremen Völkerrechtsfreundlichkeit einerseits und der strengen Wahrung staatlicher Autonomie im Fremdenrecht andererseits. Er hat das Thema noch einmal aufgegriffen in seinem schon erwähnten Vortrag vor der Staatsrechtslehrervereinigung;6 dabei fällt aus heutiger Sicht auf, dass (auch im Referat von Isensee) die europarechtlichen Freizügigkeitsregelungen damals offenbar allenfalls eine Fußnote wert waren. Er hat es immer wieder behandelt unter verschiedenen Aspekten (z. B. Asylrecht und Staatsschutz, Massenausweisung, Teilung Deutschlands als Problem des völker- und staatsrechtlichen Fremdenrechts). In zahlreichen Einzelbeiträgen hat sich Doehring mit der Rechtslage des geteilten Deutschlands befasst, unter völkerrechtlichen wie staatsrechtlichen Aspekten; mit der Ostpolitik der damaligen Bundesregierung, mit der BerlinRegelung, mit den Verpflichtungen der DDR aus den UN-Menschenrechtspakten und mit Problemen der Strafrechtsanwendung. Immer hat er dabei an die Wie-
4 K. Doehring, Die Pflicht des ‚Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Heft 33, Köln 1959. 5 K. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Band 39, Köln 1963. 6 VVDStRL 32 (1974), S. 7 ff.
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dervereinigung der beiden Teile Deutschlands geglaubt und an dem entsprechenden Auftrag des Grundgesetzes festgehalten, auch unter dem Aspekt der europäischen Integration.7 Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass sich Doehring intensiv mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beschäftigt hat. Das Selbstbestimmungsrecht hat er nicht nur umfangreich in seinen Lehrbüchern, sondern auch in bedeutenden Einzelveröffentlichungen behandelt.8 Es war ein zentrales Thema seiner wissenschaftlichen Arbeit. Früh und gegen die damals noch herrschende Meinung hat er den Standpunkt vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht ein Recht und nicht lediglich politische Maxime sei, und dass es auch nicht auf den Dekolonisierungsprozess beschränkt sei und mit dessen Abschluss obsolet würde. Doehring ließ offen, ob das Selbstbestimmungsrecht durch die UN-Charta und nachfolgende Konventionen und Deklarationen erzeugt oder bereits vorher als Völkergewohnheitsrecht entstanden sei, neigte aber wohl der zweiten Alternative zu; in einer Diskussion zog er einmal eine Parallele zwischen dem Selbstverteidigungsrecht der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. So sehr er in seinem zweiten Arbeitsschwerpunkt, der Rolle des Staates im Völkerrecht und im nationalen Recht, das Recht der Staaten zur Existenzsicherung und Selbsterhaltung betonte, erkannte er doch an, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht immer nur das Recht eines gesamten, wie auch immer zusammengewürfelten Staatsvolkes sei, sondern auch von einer Gruppe des Staatsvolkes wahrgenommen werden könne, die relativ geschlossen zusammenlebe und sich durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten vom überwiegenden Teil des Volkes unterscheide. In Fällen, in denen die Unzumutbarkeit des Verbleibs im bisherigen Staatsverband unbestreitbar evident sein, rechtfertige dies auch die – notfalls gewaltsame – Sezession. In seinen Arbeiten über den Staat hat Doehring immer differenziert zwischen dem Staatsbegriff des Völkerrechts und jenem des Verfassungsrechts, gleichzeitig aber auch die Einbettung des Staates in die internationale Gemeinschaft betont. Verfassungsrechtlich wie völkerrechtlich ist der Staat Verpflichtungsadressat und Garant der Menschenrechte, und im Staats- wie im Völkerrecht sieht Doehring eine sehr ähnliche Wechselwirkung zwischen Rechtsunterworfenheit
7 K. Doehring, Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration als Inhalte der Präambel des Grundgesetzes, DVBl 1979, S. 633 ff. 8 K. Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 14, 1974; ders., Das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus der Sicht der herrschenden Völkerrechtslehre der DDR, in: Der Staat 6 (1967), S. 355 ff.; ders., Das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation, in: Festschrift für Hans Ulrich Scupin (1983), S. 555. ders., in: B. Simma (Ed.), The Charter of the United Nations, A Commentary, Art. 1, Annex Self-Determination (1994 und 2002).
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und Rechtsgehorsam auf der einen, und Schutzgewährung auf der anderen (Subjectio und Protectio). Versagt die Protectio im Staatsinnern oder verletzt der Staat selbst die Grund- und Menschenrechte, mag Widerstand oder Sezession gerechtfertigt sein. Versagt die Protectio unter dem System der Vereinten Nationen, hindert das Gewaltverbot den Staat nicht mehr an der Erhaltung seiner Existenz durch Maßnahmen der Selbstverteidigung, die Doehring auch gegen schwere Terrorangriffe zulassen will. Ein in seinen Veröffentlichungen zum Staats- und Völkerrecht immer wiederkehrendes Thema ist die Souveränität. Weit entfernt davon, einem überkommenen und überholten Begriff der absoluten Souveränität das Wort zu reden, bedeutet für Doehring Souveränität heute nach wie vor „Befehlsunabhängigkeit“ (von anderen Staaten), gleichzeitig aber „Ordnungsabhängigkeit“ von den für alle Staaten geltenden Völkerrechtsregeln, bzw. von den für manche im Rahmen einer Integration und freiwilligen Souveränitätsübertragung geltenden Regeln. Ungeachtet seiner Überzeugung von der „Letztverantwortung“ der Staaten auch in einer Integration war er nie der Meinung, übertragene Souveränitätsrechte könnten so einfach einseitig zurückgeholt werden. Im Rahmen der sein gesamtes Werk durchziehenden Verbindung von Staatsrecht und Völkerrecht galt Doehrings besonderes Forschungsinteresse der Beteiligung der Staaten an der Entstehung, Bestätigung oder Bekräftigung von Völkerrechtsregelungen, insbesondere durch die nationalen Gerichte. Über viele Jahre hat er mit einer Arbeitsgruppe im Heidelberger Max-Planck-Institut die einschlägigen Entscheidungen deutscher Gerichte gesichtet, systematisiert und in (dreisprachigen) Leitsätzen und entsprechenden Urteilsauszügen in den FONTES IURIS GENTIUM9 veröffentlicht. Leider hat das Institut nach seiner Emeritierung diese Reihe nicht weiter fortgeführt. Besonderer Erwähnung bedürfen noch die schon kurz genannten drei Lehrbücher, die Doehring in jeweils mehreren Auflagen in angemessenen Abständen veröffentlicht hat; die heute offenbar durch die Verlage, insbesondere bei der Studienliteratur, diktierte jährliche Neuauflage eines angeblich „komplett überarbeiteten“ Buches gab es damals noch nicht, oder er hat sich dem nicht gebeugt. Sein erstes Lehrbuch war das „Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, das in drei Auflagen (1976, 1980 und 1984) erschien.10 Es unterschied sich von anderen Lehrbüchern des Staatsrechts zum einen dadurch, dass es den Unter-
9 FONTES IURIS GENTIUM, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen, series A, Sectio II, 1945–1985. 10 K. Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Alfred Metzner Verlag, Frankfurt am Main 1984.
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titel trug und auch erfüllte „unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts“. Zum anderen behandelt dieses Lehrbuch nicht alle Einzelprobleme und Institutionen gesondert und rubriziert, sondern will das Verfassungsrecht systematisch und in den Zusammenhängen beschreiben, die eine Gesamtbetrachtung der Staatsfunktionen ermöglichen. Doehring „diskutiert“ gleichsam mit dem Leser und lässt ihn an der Erörterung von Problemen teilhaben, indem er die Argumente für oder gegen eine These aufzeigt und abwägt. Er folgt dabei nicht immer der herrschenden Lehre und auch nicht immer der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, obwohl er dessen Kompetenz zur authentischen Interpretation der Verfassung akzeptiert. Besonders deutlich wird die „Problemorientiertheit“ im Gegensatz zu enzyklopädischer Gesamtdarstellung im letzten Abschnitt über die Grundrechte. Besonders lesenswert ist auch heute noch der Abschnitt über „Entstehung des Grundgesetzes und Deutschlandfrage“ und dabei der Teil über „Souveränität der Bundesrepublik und europäische Integration“, der vieles thematisiert und voraussieht, was heute in Zeiten der Euro-Krise diskutiert wird. Es ist schade, dass der Verlag, der dann wohl auch in anderen Verlagen aufging, dieses Lehrbuch nicht fortführen wollte. Doehring wäre sicherlich bereit gewesen, eine Neuauflage zu bearbeiten, die dann auch die deutsche Wiedervereinigung einbezogen hätte. Doehring veröffentlichte stattdessen 1991 die erste Auflage seines Lehrbuches „Allgemeine Staatslehre“, auch dies eine „systematische Darstellung“; weitere Auflagen folgten 1999 und 2004.11 Das Buch wurde in die portugiesische (für Brasilien) und türkische Sprache übersetzt und erfreut sich bei den Studierenden großer Beliebtheit, daher druckt der Verlag es immer wieder nach. In seiner „Allgemeinen Staatslehre“ stellt Doehring nicht politikwissenschaftliche, sozialpolitische, rechtsphilosophische oder historische Aspekte in den Vordergrund (obwohl die auch hier ergänzend immer genannt werden), sondern normative, d. h. die Regeln des Völkerrechts und das, was eine konkrete Staatsverfassung daraus macht. In allen Abschnitten dieses Lehrbuches bietet er die (völkerrechtliche) „Außensicht“ und die (staatsrechtliche) „Innenansicht“ des Staates, wobei es ihm nicht darum geht, den „besten“ Staatstyp zu entdecken oder die „beste“ Staatsform ausfindig zu machen. Er beschreibt die möglichen Staatsziele und die erst nach deren Festlegung sinnvolle Frage danach, welche Staats- oder Regierungsform dem gewählten Staatsziel am ehesten förderlich ist. Während im „Allgemeinen Teil“ des Buches – von der „Entstehung von Staaten“ über die „Staatszwecke“ bis zur „Revolution“ und dem „Selbsterhaltungsrecht“ – verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Aspekte gegenübergestellt und verbunden
11 K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., C. F. Müller, Heidelberg 2004.
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werden, tritt im „Besonderen Teil“ die Rechtsvergleichung hinzu. Doehring zeigt eindrucksvoll, wie unterschiedlich die verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Ausgestaltung der Grundentscheidungen für Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit und ein Staatsnotrecht aussehen kann. Wer dieses Buch aufmerksam gelesen hat, versteht etwas vom Staat. Sein beeindruckendstes Lehrbuch verfasste Doehring erst nach seiner Emeritierung: das „Große Lehrbuch“ zum Völkerrecht, dessen erste Auflage 1999 kurz vor seinem 80. Geburtstag erschien und die zweite 200412 rechtzeitig zu seinem 85. Geburtstag. Nunmehr ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf Mitarbeiter hat er es allein geschrieben, nur mit der technischen Hilfe durch seine Frau EvaMaria, einer promovierten Medizinerin. Das Ergebnis ist eine widerspruchsfreie Gesamtdarstellung des Völkerrechts aus einer Feder, aus einem Guss, anders als andere Lehrbücher, die – von Kurzlehrbüchern abgesehen – von Autorenkollektiven bearbeitet sind und dann oft, beabsichtigt oder lediglich unausgeräumt, divergierende Ansichten zu denselben völkerrechtlichen Problemstellungen enthalten. Doehrings Absicht war es, das Völkerrecht als eine normative Gesamtordnung zu präsentieren, ungeachtet der von ihm durchaus gesehenen Herausbildung völkerrechtlicher Spezialgebiete. Seine Gesamtdarstellung soll das rechtliche Fundament klären, das alle partiellen völkerrechtlichen Ordnungen verbindet und dem übergeordneten Ziel dient, der Wohlfahrt der Menschen zu dienen. Man muss nicht alle einzelnen Aussagen und Ansichten teilen, die Doehring in diesem Völkerrechtslehrbuch vertritt, aber man wird dieses Buch auch dann noch immer wieder zu Rate ziehen, wenn es mangels Neubearbeitung nicht mehr in allen Bereichen die Tagesaktualität wiedergibt. Ähnlich, wie sich das für das „Allgemeine Verwaltungsrecht“ seines Lehrers Forsthoff erwiesen hat, „sperrt“ sich ob seiner Geschlossenheit Doehrings „Völkerrecht“ wohl gegen die Fortführung aus anderer Feder.
III. Wirkung Seit den Zeiten eines Hugo Grotius oder Samuel von Pufendorf wird man nicht mehr davon sprechen können, dass ein Gelehrter seine Disziplin in seiner Epoche geprägt oder gar beherrscht hat; dafür sind es mittlerweile auch zu viele. Aber man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Stimme von Karl Doehring in seiner Zeit sowohl für das Völkerrecht als auch für das Staatsrecht gehört, beachtet und
12 K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl., C. F. Müller, Heidelberg 2004.
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respektiert wurde. Manche haben ihn für konservativ gehalten, aber wenn er es war, dann im besten Sinne des Wortes. Die Bedeutung des Normativen war sein Ausgangspunkt, und er unterschied immer klar zwischen der lex lata und der lex ferenda, aber er war genauso offen für Neues und hat manche Entwicklung vorausgesehen, die dann so auch eintrat. So, wie er auch in seinen Schriften die Argumente für und gegen eine bestimmte Auffassung entwickelte und abwägte, war er auch sonst für den Diskurs immer offen. Er hatte seine Überzeugungen und festen Standpunkte, sie haben ihn aber nie gehindert, andere Ansichten gelten zu lassen. „Zeitgeist“ und „political correctness“ waren seine Sache nicht, aber es gab für ihn eigentlich nie nur eine richtige Lösung; es gab schlüssige und nicht so schlüssige Argumente. Examensstudenten haben ihn dafür geschätzt, dass er in den Klausuren nicht seine Meinung lesen wollte, sondern gut begründete und in sich schlüssige Antworten, auch wenn sie seiner Meinung nicht entsprachen. Doehring pflegte eine klare, schnörkellose Sprache und hat nie verkomplizierte Schwerverständlichkeit und Spracharabesken mit Wissenschaftlichkeit verwechselt. Er brachte die Probleme auf den Punkt; wenn es sein musste, mit einer gewissen Schärfe oder eher holzschnittartigen Formulierungen, um Wertungswidersprüche aufzudecken, die andere mit wolkigen Formulierungen eher vernebelten. Doehring wurde nicht „altersmilde“, mit den Jahren wirkten seine Einwürfe in Diskussionen zunehmend knorriger, aber das änderte nichts an seiner Offenheit für andere Ansichten; und meistens behielt er am Ende Recht. Doehring war nicht nur ein begnadeter und von den Studenten geschätzter Lehrer (kaum eine andere Vorlesung war um acht Uhr morgens so voll), auch die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses lag ihm am Herzen. Er hat nicht nur eine ungewöhnlich große Zahl von Promotionen betreut, auch seine sechs Habilitanden (Georg Ress, Kay Hailbronner, Torsten Stein, Rudolf Dolzer, Matthias Herdegen und Juliane Kokott) haben bemerkenswerte Karrieren gemacht, zum Teil auch herausragende im internationalen Bereich. Die Arbeit im Team war für Doehring besonders wichtig. Im Heidelberger Max-Planck-Institut leitete er nicht nur diverse Arbeitsgruppen, sondern hielt regelmäßig den Kontakt zu den dort arbeitenden jüngeren Wissenschaftlern. Er ging (auch schon vor seiner Zeit als Direktor) in Abständen mit einer Frage, die sich aus einem seiner Publikationsvorhaben ergab oder auch nur gut erfunden war, zu dem zuständigen Referenten oder Assistenten, bat um Rat und Einschätzung und verwickelte den jeweiligen Mitarbeiter dann auch in ein Gespräch über dessen eigene Forschungsvorhaben und deren Fortschritt, wusste so auf eine liebenswürdige, nie als Kontrolle empfundene Art immer, wie es um die Einzelnen stand und gab, wo nötig, selbst Rat und Ermunterung. Man nannte ihn nicht umsonst „die Seele des Instituts“.
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Karl Doehring war nicht nur ein herausragender Völkerrechtler und Staatsrechtslehrer, er war auch als Mensch immer ein Vorbild: gradlinig, mutig, verlässlich, unbeirrbar in seiner rechtsstaatlichen Haltung, immer humorvoll und stets offen gegenüber anderen. Er war ein Herr im besten Sinne des Wortes, der ungeachtet seiner Liebenswürdigkeit, ja fast Bescheidenheit im Umgang mit anderen eine natürliche Autorität ausstrahlte. Seine Stimme ist verstummt, die jene, die sie bei größter geistiger Lebendigkeit und Flexibilität auch im hohen Alter noch hören durften, sehr vermissen. Aber sein wissenschaftliches Werk wird weit über seine Zeit hinaus nachwirken.
Auswahlbibliographie (soweit nicht schon in den Fußnoten genannt) Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, Der Staat 3 (1964), S. 201 Internationale Organisationen und staatliche Souveränität, in: „Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag (1967), S. 105 Der Autoritätsverlust des Rechts, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag (1972), S. 103 Gewohnheitsrecht aus Verträgen, ZaöRV 36 (1976), S. 77 Intervention im Bürgerkrieg, in: Festschrift für Wilhelm G. Grewe zum 70. Geburtstag (1981), S. 445 Zum „Recht auf Leben“ aus nationaler und internationaler Sicht, in: Festschrift für Hermann Mosler (1983), S. 145 Staatsräson, Legalität und Widerstandsrecht, in: Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag (1984), S. 527 Zum Rechtsinstitut der Verwirkung, in: Festschrift für Ignaz Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 Die undifferenzierte Berufung auf Menschenrechte, in: Festschrift für Rudolf Bernhardt zum 70. Geburtstag (1995), S. 355 Die nationale „Identität“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Festschrift für Ulrich Everling (1995), S. 263 Unlawful resolutions of the Security Council and their legal consequences, Max-PlanckYearbook of United Nations Law 1998, S. 91 Mehrfache Staatsangehörigkeit im Völkerrecht, Europarecht und Verfassungsrecht, in: Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag (2000), S. 255 Zur Rechtsstellung internationaler Richter, in: Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag (2001), S. 35 Demokratie und Völkerrecht, in: Festschrift für Helmut Steinberger (2002), S. 127 Die Menschenwürde – Norm oder Phantom, in: Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag (2005), S. 1145 Der Schutz der kommunistischen Bodenreform durch „rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit“, in: Gedächtnisschrift für Albert Beckmann (2007), S. 103
LIX Helmut K. J. Ridder (1919–2007) Karl-Heinz Ladeur Helmut Ridder – unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, am 18.7.1919, geboren – gehörte schon während des NS-Regimes zu den jungen Deutschen, die dessen Inhumanität selbst erkannt hatten und dazu nicht erst der Erfahrung des „Zusammenbruchs“ im Jahre 1945 bedurften. Durch ein katholisches Elternhaus geprägt, war er während des Nationalsozialismus alt genug, um die zerstörerisch formlose Gewalt zu erkennen, doch zu jung, um handelnd dagegen auftreten zu können. Die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit dem NS-Staat ist eines der intellektuellen Gravitationszentren seines Denkens geworden. Hier ist vor allem sein Aufsatz „Zur Verfassungsdoktrin des NS-Staates“ zu nennen.1 Die Einsicht, dass auch die deutschen Traditionen des Denkens von einem substanzhaft der Gesellschaft enthobenen Staat her Politik zu denken und politisch zu handeln, hat das Gravitationszentrum eines an theoretischer Anziehung und Abstoßung reichen Lebens als Forscher und politischer Bürger gebildet. Ihm war noch die Selbstkonstruktion des „deutschen Kaiserreichs“ gegen die Gesellschaft präsent: In der symbolhaft außerhalb der Grenzen Deutschlands in Versailles vollzogenen – modern gesprochen: geradezu selbstreferenziellen – Gründung des deutschen Nationalstaats waren in seinen Augen alle Bedingungen für die Selbstüberhöhung des Staates in den späteren Krisen angelegt. Helmut Ridder war ein später Antipode Carl Schmitts, des Staatsrechtslehrers, dessen Denken in der „verschärfende“ Unterscheidung von „Freund und Feind“ die sich über die Form erhebende „Wahrheit“ des Staates in Anschlag bringen wollte. Dies hat sich unter anderem in Aufsätzen gegen dessen Beschönigung seiner Rolle im Nationalsozialismus niedergeschlagen, so in dem programmatischen Aufsatz: „Ex oblivione malum“.2 Unmittelbar nach dem Krieg hatte er das Glück an den Universitäten Harvard und Oxford internationale Erfahrungen zu sammeln. Aus den USA brachte er das von ihm übersetzte Buch H. A. Simons „Das Verwaltungshandeln“ (erschienen 1955) mit nach Deutschland. Auch dies ist eine der vielen – weniger bekannten – Facetten einer viele Anregungen aufnehmenden Forschertätigkeit. Welcher Staatsrechtler hätte sich damals für eine Verwaltungswissenschaft interessiert,
1 KritJ 1969, S. 221–243. 2 In: FS Abendroth, 1968, S. 305–332; vgl. auch Schmittiana I und II, NPL 1967, S. 1–12; 137–145.
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der das Recht abhanden gekommen ist? In Deutschland hat er nach der Promotion 1947 (mit einer völkerrechtlichen Arbeit über den Waffenstillstand und nach der Habilitation 1950 in Münster bei Friedrich Klein mit einer Arbeit über „Die verfassungsrechtliche Stellung der englischen Verwaltung“) an den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Bonn und bis zu seiner Emeritierung 1988 Gießen gelehrt. Seine Forscher- und Lehrtätigkeit war um die Neukonstruktion eines Verfassungsdenkens zentriert, das von der Gesellschaft und eben nicht vom Staat ausgeht. Das erscheint uns heute nicht so aufregend, aber in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts war dies angesichts der immer noch starken Dominanz des Staates im allgemeinen und der Exekutive im besonderen ein neuer Akzent. Er steht in einem Entsprechungsverhältnis zu Entwicklung der rechtsstaatlichen Kontrolle des verwaltungsstaatlichen Handelns, die sich in den Schriften Hans-Heinrich Rupps und eines (viel zu früh verstorbenen) Autors wie Dietrich Jesch niedergeschlagen haben. Der Staat war für Ridder kein höherrangiges, von der Gesellschaft getrenntes souveränes Subjekt mehr. Er war von der Gesellschaft zu unterscheiden, aber nur noch als Zurechnungseinheit für Entscheidungen im Prozess der Bildung der öffentlichen Meinung zu bestimmen. Eine Theorie der politischen Meinungs- und Pressefreiheit war deshalb zunächst sein wichtigstes Forschungsprojekt. Sein Artikel „Meinungsfreiheit“ im Handbuch „Die Grundrechte“ (Band II) war 1954 seine erste große Arbeit.3 Sie ist in ihrem Formalismus bei der Bestimmung der „Allgemeinheit“ der Schranken des Grundrechts nach Art. 5 Abs. 2 GG amerikanischen Quellen verpflichtet. Das Plädoyer für eine starke Formalisierung des Begriffs des „allgemeinen Gesetzes“, die sich am Gedanken des Schutzes der „rein geistigen Freiheit“ orientiert und darin Ansätze F. Häntzschels4 aus der Weimarer Zeit wieder aufnimmt, kann durchaus nicht ohne begriffliche Probleme konzipiert werden. Dies war Ridder bewußt, aber die Formalisierung erlaubt sowohl normativ eine dogmatische Konturierung von Vorrangregeln für Konflikte wie historisch eine Reflexion ihres Wandels in der Verfassungsgeschichte. Dies läßt sich am Beispiel der Entwicklung des Grundrechts der Meinungsfreiheit in den USA verfolgen: Trotz der Polarisierung von „Meinung“ und „Handeln“, das Beschränkungen unterworfen werden kann, hat sich die Auffassung davon, wann das eine und wann und wann das andere dominiert, im Laufe des letzten Jahrhunderts stark verändert. Doch erlaubt die Bemühung um begriffliche und dogmatische Schärfung der „Grenzbegriffe“
3 Hg. von F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner, (unveränderte Neuauflage 1968), S. 243– 290. 4 AöR N. F. 10 (1926), S. 228, 232 f..; ders., in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S. 651, 659 f.
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eine genauere Beobachtung der Veränderungen des „Kontrollregimes“ mit dem Wandel der Öffentlichkeit und dem Wandel der Kommunikationsformen selbst (ist das Verbrennen einer Nationalfahne oder eines Einberufungsbescheides eine „Handlung“?).5 In dieser Hinsicht war Ridder durchaus bei aller Öffnung für die Sozialwissenschaften ein dogmatisch denkender Staatsrechtler. Er hat die Selbstbindung des Verfassungsrechts durch Dogmatik sehr hoch bewertet. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dagegen später der „Abwägung“ der Meinungsfreiheit mit konkurrierenden „Werten“ (persönliche Ehre, Staatssicherheit etc.) zugewandt und damit die von Ridder ironisch sogenannte „Schaukeltheorie“ produziert.6 Die Brisanz dieser Arbeit, die viele junge Juristen in den 50er und 60er Jahren mit „freiem“ Denken bekannt gemacht hat, das er von dem für ihn auch schon sprachlich mißlungenen Bindestrichfreiheit der (entgegen dem Text apostrophierten) „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“7 unterschieden wissen wollte, erschließt sich dem heutigen Leser sicher nicht mehr in gleicher Weise, weil der freie Zugriff auf die internationale Literatur heute selbstverständlich geworden ist. Ein „Gemeinwohlgold“ (Ridder) produzierender Staat entsprach damals noch der Vorstellungswelt vieler Juristen. Auch heute ist sein Kommentar zum „Lüth-Urteil“, das längst in einige Formeln eingedampft und kanonisiert worden ist, noch lesenswert.8 Ridder hat die „Drittwirkung der Grundrechte“ vor allem im Bereich der öffentlichen Kommunikation sehr unterstützt, aber den mit der stark auf den Einzelfall abstellenden Abwägung einhergehenden Verlust an dogmatischer Klarheit beklagt. Er hat hier ein Problem der „formalen“ Konzeption des „allgemeinen Gesetzes“ eher durch Beobachtung der Wirkungen des jeweiligen Gesetzes auf die „rein geistige Freiheit“, hier z. B. des § 826 BGB, konkretisieren wollen. In einer späteren Veröffentlichung zur Pressefreiheit, in seinem damals berühmten, weil schwer zugänglichen „Wiener Vortrag“,9 sogar die Position entwickelt, die Freiheit der „öffentlichen Kommunikation“ (im Gegensatz zur individuellen) falle überhaupt nicht in den Schutzbereich von Art. 5 GG, sondern sei dem Schutzbereich von
5 M. A. Graber, Transforming Free Speech, 1991. 6 Für seine kritische Beobachtung des BVerfG sei auf die Arbeit „In Sachen Opposition: Adolf Arndt und das Bundesverfassungsgericht“, in: FS A. Arndt, 1969, S. 323–348, verwiesen. 7 Vgl. nur ZRP 1974, S. 175–176; DÖV 1963, S. 321–327 (zur Bedeutung des „Sühnegedankens“ in der Verfassung – aus Anlaß einer „unorthodoxen Entscheidung des BVerwG gegen das Verbot einer „antifaschistischen“ Organisation). 8 Die Soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 75 ff. 9 Die öffentliche Aufgabe der Presse im System des modernen Verfassungsrechts, 1962 (als Vortrag gedruckt).
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Art. 21 zuzuordnen. Die Presse wirkt danach ebenfalls an der Willensbildung des Volkes mit – und zwar ohne Beschränkung auf eine „Vorformung“, der erst im Staat die eigentliche Formgebung folgt.10 Diese auf den ersten Blick – und vor allem in der Rückschau – überraschende Position, die er später nicht mehr verfolgt hat, erklärt sich aus dem Versuch, vor allem der Presse- und der Rundfunkfreiheit (neben dem Schutz der Parteien) als Freiheiten der „öffentlichen Kommunikation“ nicht nur einen besonderen Status in der Gesellschaft der Bürger zu eröffnen, sondern auch das Dilemma zu bewältigen, das sich aus der einfachen Polarisierung von individueller Freiheit einerseits und staatlicher Schrankenetzung auf der anderen Seite ergeben kann, wenn es um die – wie wir heute sagen würden – „Ausgestaltung“ der Pressefreiheit geht, also die Organisation der Presse und nicht die Beschränkung ihrer Inhalte geht. Ist Pressekartellrecht oder die Einführung von redaktioneller Mitbestimmung ein verfassungswidriger „Eingriff“ in die Pressefreiheit,11 weil sich solche Gesetze gerade gegen die Presse richten würden? Dies war eine in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Ansicht. Ridder hatte schon 1954 eine „institutionelle Dimension“ aus der Garantie der einzelnen Kommunikationsfreiheiten selbst entwickelt, wohl wissend, dass der Begriff missverständlich war, wenn er nämlich mit den klassischen Vorstellungen der „institutionellen Garantien“ zB des Berufsbeamtentums und anderer öffentlich-rechtlicher Einrichtungen assoziiert wird und daraus gar eine auf die staatliche Willensbildung bezogene „öffentliche Aufgabe“ der Presse abgeleitet wird – für Ridder ging es demgegenüber um die Paradoxie einer „öffentlichen Aufgabe“ der Pressefreiheit. Damit verband sich die Vorstellung, dass die Bildung der öffentlichen Meinung als „Prozeß“ zu verfassen sei und der Presse keine Privilegierung durch die Anerkennung einer öffentlichen Aufgabe eingeräumt werden könne, die sie dann auch auf eine quasi-staatliche Bindung an ein gesamthaft verstandenes öffentliche Interesse verpflichtet hätte. Kommunikationsfreiheit gehört zur Verfassung einer freien Gesellschaft zwischen der Freiheit des Individuums und der organisierten Staatlichkeit. Später hat er die Konzeption von der Prozesshaftigkeit der Öffentlichkeit in der Vorstellung von „inpersonalen“ (sic!), d. h. nicht vom Individuum her zu verstehenden Grundrechten zum Ausdruck gebracht.12 In der heutigen gewandelten Begrifflichkeit läßt sich dies als eine Vorform der Theorie der Selbstorganisation
10 Vgl. den Artikel „Meinungsfreiheit“, aaO, S. 256 f. 11 Dazu H. Ridder, Beilage „Der Journalist“, Mai 1962. 12 Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 85 ff.; zu seiner Grundrechtskonzeption – wiederum nicht ohne polemische Zuspitzung – vgl. auch „Vom Wendekreis der Grundrechte“, Leviathan 1977, S. 467–521.
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der Öffentlichkeit verstehen, die ständig auch selbstreflexiv Grund und Grenzen des Öffentlichen reflektiert und in sozialen Regeln artikuliert, an die die Gerichte anschließen können: Was öffentlich oder privat ist, ist selbst Gegenstand der öffentlichen Debatte und muß primär von den und in den Medien diskutiert werden. Der Verfasser hat – im Anschluß an Ridder – hier von einer Art „Renvoi“ des staatlichen Rechts an die gesellschaftlich (selbst-)organisierten Regeln gesprochen.13 Auf dieser Grundlage hat Ridder sich besonders kritisch in den 60er Jahren mit dem „politischen Strafrecht neuer Art“ auseinandergesetzt, das „verfassungsfeindliche Bestrebungen“14 auch dann zum Gegenstand strafrechtlicher Sanktionen gemacht hat, wenn es etwa um die „Verbreitung“ solcher Meinungen ging, und sei es das Mitbringen mehrerer Exemplare einer Ausgabe des „Neuen Deutschland“ (die deshalb nur zur Verbreitung bestimmt sein konnten).15 Die Betreuung der Dissertation seines (ebenfalls viel zu früh verstorbenen) hochbegabten Doktoranden H. Čopić über „Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art“16 war ihm deshalb ein besonderes Anliegen. In diesem neuen politischen Strafrecht sah er einen Versuch, die Selbstreflexion der Gesellschaft durch die strafrechtliche Sanktion von Meinungen staatlich zu präformieren. Auch hier bewährte sich die formale Konzeption des „allgemeinen Gesetzes“, während in die konturlose Abwägung der Schutz der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ als „Wert“ umstandslos, d. h. ohne Rücksicht auf den Vorrang des Prozesses der Selbstorganisation der politischen Öffentlichkeit jenseits des Staates, eingestellt werden konnte. Die Entwicklung einer liberalen Dogmatik aller Kommunikationsgrundrechte, insbesondere der Pressefreiheit, der Rundfunkfreiheit,17 der Zensurfreiheit,18 aber auch der Kunstfreiheit19 und der prozesshaften Organisation der Wissenschaftsfreiheit20 brachte die juristische Form als Garant der auf Vielfalt ange-
13 Vgl. dazu meinen Versuch der Weiterentwicklung in: KritJ 1999, S. 281 ff. 14 Dazu schon früh in: NPL 1957, S. 351–368. 15 Vgl. den Überblick von G. Wilms, NJW 1965, S. 2177 ff.; sowie allg. A. v. Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, 1978. 16 Erschienen 1967. 17 Gutachten zum Streit um die „Deutschland Fernsehen GmbH“, abgedruckt in G. Zehner (Hrsg.), Der Fernsehstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 1964, S. 292–312. 18 AfP 1969, S. 882–885, ein auch heute noch beherzigenswerter Versuch, dem Zensurverbot Konturen als Gebot des besonderen Schutzes der Vor-Publikationsphase der medialen Kommunikation zu geben. 19 Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, 1963. 20 Hessische Hochschulwochen Bd. 77 (1974), S. 81–93.
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legten gesellschaftlichen Freiheit gegen die neue Formlosigkeit des Judizierens von Fall zu Fall in Anschlag.21 Ein Aufsatz zum gerichtlichen Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und dem sich erst herausbildenden strukturlosen „Persönlichkeitsrecht“ trägt deshalb den Titel „Alles fließt“.22 Selbstverständlich war ihm die Notwendigkeit von Schranken der Meinungsfreiheit bewußt, auch hier ging es ihm aber um eine schärfere Fassung der Grenzbegriffe diesseits einer begriffslosen Abwägung. Mancher Kommentar zu einzelnen Entscheidungen ist auch zeitgeschichtlich von Interesse, so sein von feiner Ironie geprägter Kommentar zu einer Entscheidung des OVG Münster23 zur Frage, ob Hirtenbriefe katholischer Bischöfe zur Bundestagwahl die Wahlfreiheit beeinträchtigen. Aus diesen Worten sprach nicht nur der Staatsrechtler sondern auch der politische Katholik, der in den 50er Jahren z. B. zu Fragen des Kirchbaurechts ein Gutachten für das Bistum Limburg abgegeben hatte,24 und in dieser Frage einerseits eine sarkastische Kritik an Ambivalenz des „Gewissensappells“ der Bischöfe formuliert hat, andererseits aber keinen Zweifel daran gelassen hat, dass verfassungsrechtlich gegen die Verknüpfung von Politik und Religion nichts zu erinnern war. Vieles davon ist auch heute noch lesenswert – insbesondere der erwähnte Aufsatz zur Zensurfreiheit aus dem Jahre 1969. Ridders Lob der formalen Rationalität des Rechts, die er in einer neuen Variante, eben der situativen „Abwägung“ gefährdet sah, fand ihren Ausdruck in der Form einer Sprache, deren Schärfe und Brillanz aus einer stupenden historischen, literarischen und staatstheoretischen Bildung schöpfen konnten25 und die im Zeitalter der Spezialisierung und Fragmentierung von seinen Schülern als Erscheinungsform eines verschwindenden Bildungsbürgertums bewundert wurde. Die Verteidigung der Pressefreiheit war das Motiv für die erste Wendung von der „wissenschaftlichen Politik“ (so der zweite Teil seiner Lehrstuhlbeschreibung in Gießen) zur „politischen Wissenschaft“:26 In der „Spiegel“-Affäre kritisierte er das Überborden Staatsschutzes über die Grenzen der Pressefreiheit: Hier sah
21 Vgl. dazu auch H. Ridder/F. Hase/K. H. Ladeur: Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat? (Erwiderung zu Grimm, JuS 1980, 704 ff.), JuS 1981, S. 794–798. 22 AfP 1973, S. 453–457. 23 JZ 1962, S. 771–775. 24 AöR 80 (1955), S. 127–157. 25 Dies hat sich auch in Beiträgen zum „Staatslexikon“ (Görresgesellschaft, Auflagen 1960 und 1962/3) niedergeschlagen; vgl. etwa die Bearbeitung des Stichworts „Staat“; vgl. auch „von Gneist“, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. A. Erler/E. Kaufmann, Band 1, 1971, und „Jellinek, Georg“, ebd., Bd. 2, 1978. 26 Auf diesem Hintergrund ist auch die Vielzahl seiner Interventionen als „homo politicus“ in aktuelle Kontroversen in den Medien der politischen Willensbildung jenseits der Fachpresse zu
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er ein Problem darin, dass die sog. Mosaiktheorie zur Konstruktion von „Staatsgeheimnissen“ benutzt wurde, die nur in dem Mehrwert einer journalistischen Zusammenfassung von in der Öffentlichkeit allgemein bekannten einzelnen Tatsachen bestand.27 Dem folgte der Kampf gegen die „Notstandsgesetze“ in den 60er Jahren:28 hier sah er die Gefahr einer Beseitigung der freien Selbstverfassung der Gesellschaft einerseits und die Möglichkeit einer Steigerung der Kriegsgefahr durch Schaffung der Voraussetzung einer Kriegführung andererseits. Eine ähnliche Furcht vor der Einschränkung der öffentlichen Willensbildung liegt der Kritik des KPD-Verbots29 und der Auseinandersetzung mit der Praxis des sog. Radikalenerlasses in den 70er Jahren zugrunde.30 Die erstere kombiniert auf eine charakteristische Weise die Beobachtung der Prozesshaftigkeit und Offenheit der politischen Meinungs- und Willensbildung mit einer subtilen Analyse des Verfassungsprozessrechts im allgemeinen und der Frage nach der Gestaltungs- oder auch Rechtskraftwirkung von Urteilen in Parteiverbotsverfahren im besonderen. Hier stellte sich (nicht nur) die Frage danach, wann eine kommunistische Partei noch die verbotene KPD oder trotz Namensgleichheit oder -ähnlichkeit eine andere geworden ist. Hier hat er in subtilen Untersuchungen auch den Konflikt zwischen der Prozesshaftigkeit des Politischen und der Stabilität von „Sachverhalten“, die die Operationen des Rechts unterstellen müssen. Hier hat er sich mit Fragen befasst, die auch für die Diskussion um ein NPD-Verbot von aktueller Bedeutung sind: Die Perspektive darf – wie früher beim KPD-Verbot – nicht auf das „ob“ des Verbots beschränkt werden, es müssen auch die Probleme seiner Implementation bedacht werden. (Wann wird eine verbotene Partei „fortgesetzt“? Was ist eine „Ersatzorganisation“?). Bei der Auseinandersetzung um die letztere Problematik kam es ihm darauf an, aus der – aus seiner Sicht bedenklichen – Möglichkeit eines Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG im Vorfeld des klassischen, am politischen Umsturz und der Gewalt orientierten politischen Strafrechts als Kehrseite eine Schutzwirkung nicht nur für die Partei sondern auch für ihre Mitglieder abzuleiten: Das nur durch das BVerfG auszusprechende Verbot der Organisation dürfe nicht durch Vorverlagerung des politischen Strafrechts oder des Beamtenrechts über die Sanktionierung von Parteiarbeit der individuellen Mitglieder antizipiert werden.
sehen; erwähnt sei nur die Kontroverse mit Ernst Forsthoff über die Frage „Wieviel Sozialismus steckt im deutschen Grundgesetz?“, Wirtschaftswoche 1974, S. 52–53. 27 Vgl. E. Heinitz/H. Ridder, Staatsgeheimnis und Pressefreiheit, 1964. 28 Blätter f. Deutsche und Internationale Politik 1968, S. 344–348. 29 Aktuelle Rechtsfragen des KPD-Verbots, 1966. 30 Vgl. Das Argument 92 (1975), S. 576–584; Anm. zu ArbG Solingen (Kündigung wegen DKPMitgliedschaft im kirchlichen Dienst), DuR 1983, S. 228–229.
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Ridder hat sich nicht nur mit der rechtlichen Verfassung der politischen Meinungsbildung befaßt, sondern konsequenterweise – dies entsprach seinem Verständnis der „Gesellschaft“ zwischen Privatheit und staatlich konstituierter Entscheidungsöffentlichkeit – auch mit der Freiheit der Organisationen, die eine gesellschaftliche Öffentlichkeit gegenüber den „privaten“ Wirtschaftsunternehmen begründen, insbesondere den Gewerkschaften. Sein Gutachten über die Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat31 interpretiert das Sozialstaatsgebot als das Gebot der Ermöglichung und Erhaltung eines „gesellschaftlichen Staates“, der nicht nur Leistungen erbringt, sondern auch seine Angewiesenheit auf gesellschaftliche Selbstorganisation reflektiert. In diesem Prozeß der Vermittlung zwischen Privatheit und unterschiedlichen Stufen der Konstitution des Öffentlichen hat er auch den Gewerkschaften eine wichtige Rolle eingeräumt. Diese Konzeption liegt auch einem Gutachten zur Stellung der GEMA im Prozeß des Schutzes der Kunst zugrunde.32 Seine Vielseitigkeit schlägt sich auch in der regelmäßigen Kommentierung von Urteilen des BVerfG zum Urheberrecht in der von Erich Schulze herausgegebenen „Rechtsprechung zum Urheberrecht“ nieder: Hier entwickelt er die Idee, dass das Urheberrecht nicht dem Schutzbereich von Art. 14 sondern Art. 5 Abs. 3 zuzuordnen sei.33 Helmut Ridder war ein Meister der kleinen Form. Er hat keine großen Monografien vorgelegt. Auch die Dissertation und die Habilitationsschrift (betreut von Friedrich Klein an der Universität Münster) waren – damals durchaus üblich – eher kürzere Arbeiten. Die „summa“ seines Verfassungsrechts ist ebenfalls ein eher knapper Leitfaden, der aber in Titel und Anlage programmatisch ist. Er heißt eben „Die soziale Ordnung des Grundgesetzes“ (1975) und verweist damit bereits auf die Fundierung der Verfassung in der Gesellschaft. Es ist kein verfassungsrechtliches Lehrbuch, es ist für die politische Bildung bestimmt und bleibt konzentriert auf die politischen Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip. Es ist – dies gilt durchaus nicht durchweg für frühere Schriften – von einem durchaus polemischen Ton geprägt, der Peter Häberle34 in einer sehr fairen Besprechung dazu veranlaßt hat, ihn als den „Heinrich Heine der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft“ zu bezeichnen.
31 Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960; auch zur paritätischen Mitbestimmung: DuR 1976, S. 59–64. 32 Verfassungsrechtliche Probleme der gesetzlichen Regelung von Verwertungsgesellschaften auf dem Gebiet des Urheberrechts, 1963. 33 Anmerkung zu fünf Entscheidungen des BVerfG zum Urheberrecht (BVerGE 31, 229 ff.), in: E. Schulze (Hrsg.), RzU, 10. Band, BVfG 8–12, S. 16–42. 34 DÖV 1977, S. 90–92.
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Er ist in der Zunft der Staatsrechtslehrer vor allem nach seinem Wechsel von Bonn nach Gießen, wo er sich am Aufbau eines Reformfachbereichs beteiligt wollte, eher ein Außenseiter geworden und hat dies partiell durch Selbstausgrenzung verstärkt. Im „Arbeitskreis Pressefreiheit“ hat er jedoch lange Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Im Rückblick muß man seine Originalität bewundern. Er hat vieles als erster formuliert, was heute weit verbreitete Meinung ist. Seine „institutionelle“ Konzeption der Pressefreiheit entspricht seit langem der Rechtsprechung des BVerfG. Das Gericht hat sogar den Begriff benutzt, ihn aber später durch die neuere Terminologie der unterschiedlichen „Grundrechtsdimensionen“ jenseits der traditionellen Bedeutung der Grundrechte als Abwehrrechte. Hier hat Helmut Ridder sein Verständnis einer „politischen Wissenschaft“ realisiert, die als Wissenschaft andere Foren des Öffentlichen wählt, aber deshalb ihre Rationalitätsansprüche nicht aufgibt. Daraus speiste sich auch sein Engagement als langjähriger Herausgeber bzw. Redakteur dreier Zeitschriften, der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, „Demokratie und Recht“ und „Neue Politische Literatur“, eine wichtige Rezensionszeitschrift, in der er selbst auch einige Besprechungen veröffentlicht hat. Die beiden erstgenannten Zeitschriften waren „links“, aber Helmut Ridder hat immer darauf geachtet, dass sich keine „Linien“ durchsetzten – die politische „Linie“ war ihm ein Greuel. Sie widersprach seinem Verständnis von politisch engagierter, aber nicht parteiischer Wissenschaft. Wissenschaftspolitisch war sein Engagement für den „Bund demokratischer Wissenschaft“, der sich insbesondere mit Gefahren der Einschränkung der Freiheit der Wissenschaft und der Wissenschaftler durch das neue Hochschulrecht gewidmet hat. Diesem Thema hat er auch einen wichtigen – gemeinsam mit seinem Schüler Ekkehart Stein verfaßten Aufsatz über „Die Freiheit der Wissenschaft und der Schutz von Staatsgeheimnissen“ gewidmet.35 Jenseits dieser wissenschaftlichen Rationalität lag sein Interesse an den deutsch-polnischen Beziehungen; er war langjähriger Vorsitzender der „DeutschPolnischen Gesellschaft“. Nicht zuletzt deshalb ist er mit der Ehrendoktorwürde der Universität Lodz ausgezeichnet worden. Auch sein Engagement in der Friedensbewegung der 80er Jahre war letztlich in seinem Verständnis eines Staates begründet, der sich – ebenso wie im „Notstand“ nach innen – durch die Verfügung über die Unmittelbarkeit und „Plötzlichkeit“ des Waffeneinsatzes nach außen von der Öffentlichkeit der Bürger emanzipiert. Hier konnte er auch an frühe völkerrechtliche Arbeiten anknüpfen.36 Die letzten Jahre seines Lebens
35 DÖV 1962, S. 361–367. 36 Sein Interesse am Kriegsvölkerrecht war auch durch das Erlebnis des entgrenzten Krieges des nationalsozialistischen Staates geprägt; vgl. etwa (neben der oben erwähnten Dissertation)
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waren von schweren Krankheiten verdüstert, die möglicherweise seinen Pessimismus im Blick auf die „deutschen Verhältnisse“ verstärkt haben. Am 15. April 2007 ist Helmut Ridder gestorben. Dass in der Todesanzeige seiner Schüler der Staat durch zwei Bundesminister repräsentiert war, entbehrt nicht der Ironie. Ein früherer Außenminister ist auch der Mitherausgeber einer endlich im Jahre 2009 erschienen Ausgabe von „Gesammelten Schriften“.37 Es ist wohl ein Indiz dafür, dass sich in Deutschland doch einiges geändert hat und dass Helmut Ridder dazu mehr beigetragen hat, als er selbst geglaubt hat. … e pur si muove …
Auswahlbibliographie Meinungsfreiheit, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hg. von F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner, Berlin 1954 (unveränderte Neuauflage 1968), S. 243–290 Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960 Die Freiheit der Wissenschaft und der Schutz von Staatsgeheimnissen, DÖV 1962, S. 361–367 (zus. mit E. Stein) Die öffentliche Aufgabe der Presse im System des modernen Verfassungsrechts, Wien 1962 (als Vortrag gedruckt) Probleme der inneren Pressefreiheit – Festvortrag zum Journalistentag 1962, Beilage „Der Journalist“, Mai 1962 „Sühnegedanke“, Grundgesetz, „verfassungsmäßige Ordnung“ und Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland – Erwägungen anläßlich einer unorthodoxen höchstrichterlichen Entscheidung, DÖV 1963, S. 321–327 Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, Frankfurt a. M. 1963 Verfassungsrechtliche Probleme der gesetzlichen Regelung von Verwertungsgesellschaften auf dem Gebiet des Urheberrechts, Frankfurt a. M. 1963 Staatsgeheimnis und Pressefreiheit, Bonn 1964 (zus. mit E. Heinitz) Aktuelle Rechtsfragen des KPD-Verbots, Neuwied 1966 Schmittiana I (Festschrift für Carl Schmitt) und II (Die Freund-Feind-Doktrin, Der Begriff des Politischen, Theorie des Partisanen – Buchbesprechungen), NPL 1967, S. 1–12; 137–145 Ex oblivione malum – Randnoten zum deutschen Partisanenprozeß, in: FS Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied 1968, S. 305–332
einen Vortrag über „Krieg und Kriegsrecht im Völkerrecht und in der Völkerrechtslehre“, Hessische Hochschulwochen 12 (1956), S. 32–44, oder im Staatslexikon, aaO, die Stichworte „Kriegsverbrechen“, „Nürnberger Prozesse“, „Waffenruhe“, „Waffenstillstand“ in: Wörterbuch des Völkerrechts, hg. v. Strupp/Schlochauer, 2. Aufll., 1962, Band III. 37 Hg. von D. Deiseroth/P. Derleder/C. Koch und F. W. Steinmeier.
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In Sachen Opposition: Adolf Arndt und das Bundesverfassungsgericht, in: FS A. Arndt, 1969, S. 323–348 Zur Verfassungsdoktrin des NS-Staates, KritJ 1969, S. 221–243 (wieder abgedruckt in: Der Unrechtsstaat, Baden-Baden 1979, S. 24–64) Das Zensurverbot, AfP 1969, S. 882–885 Stichwort „Bundesverfassungsgericht“, in: Staatslexikon (Görresgesellschaft), 6. Aufl., 1969 (zus. mit W. Perschel) Alles fließt – Bemerkungen zum Soraya-Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, AfP 1973, S. 453–457 „Wieviel Sozialismus steckt im deutschen Grundgesetz?“, Wirtschaftswoche 1974, S. 52–53 (pro und contra, zus. mit E. Forsthoff) Öffentlicher Dienst, „Verfassungsfeinde“ und Parteienprivileg, ZRP 1974, S. 175–176 „Berufsverbot?“ Nein, Demokratieverbot!, Das Argument 92 (1975), S. 576–584 Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975 Vom Wendekreis der Grundrechte, Leviathan 1977, S. 467–521 Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat? (Erwiderung zu Grimm, JuS 1980, 704 ff.), JuS 1981, S. 794–798 (zus. mit F. Hase und K. H. Ladeur Stichwort „Notstand“ II (staatsrechtlich), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. A. Erler/E. Kaufmann, Berlin 1984, Band III Ach ja, wir Deutschen! In: W. Filmer/H. Schwan (Hrsg.), Mensch der Krieg ist aus – Zeitzeugen erinnern sich, 1985, S. 289–292 Kommentierung von Art. 21 Abs. 2, 18, 9 Abs. 2, 79, 20 Abs. 4 in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, hg. v. R. Wassermann, wiss. Redaktion: E. Denninger, H. Ridder, H. Simon, E. Stein, 2. Auflage 1989, Neuwied; Art. 20 Abs. 1–3 (zus. mit R. Bäumlin) Gesammelte Schriften, hg. v. D. Deiseroth/P. Derleder/C. Koch/F. W. Steinmeier, Baden-Baden 2009
LX Günter Dürig (1920–1996) Walter Schmitt Glaeser
I. Auf den ersten Blick mag es fragwürdig erscheinen, wenn ich diesen Bericht mit mir, genauer: mit dem ersten Kontakt zu Günter Dürig, beginne. Aber es dürfte der beste Weg sein, um die ungewöhnliche Ausstrahlungskraft dieses Gelehrten zu vermitteln. Ich war schon in einem praktischen Beruf tätig, als ich Dürigs Kommentierung der Art. 1 und 2 GG in die Hand bekam.1 Schon nach den ersten Zeile hatte ich alles um mich herum vergessen und konnte nicht mehr aufhören mit dem Lesen. Es war, als säße Dürig, den ich bis dahin noch nie gesehen hatte, leibhaftig vor mir und würde nur für mich und mit mir sprechen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich habilitieren wollte, und zwar bei ihm, nur bei ihm. Ich schrieb nach Tübingen, äußerte meinen Wunsch, legte die Zeugnisse bei und bat um ein Gespräch. Ich bekam einen Termin. Dürig wirkte zerstreut, aber seine Fragen waren sehr gezielt und ich merkte bald, dass er mich scharf beobachtete. Den Schluss des Gesprächs kann ich noch wörtlich wiedergeben: „Sie sind nicht verheiratet.“ „Nein.“ „Haben Sie in absehbarer Zeit vor zu heiraten?“ „Nein.“ „Gut, dann können wir’s versuchen.“ Ich kündigte meine Beamtenstelle in München und zog 1963 nach Tübingen. Die kommenden Jahre waren nicht leicht, aber sie waren erfüllend. Ich wurde nach Hartmut Maurer Dürigs zweiter und letzter Habilitand und Schüler. Allerdings konnte dieser mit „Schüler“ oder gar mit einer eigenen „Schule“ wenig anfangen. Er war „Einzelkämpfer“. Die wissenschaftliche Idee entsprang für ihn allein aus dem „einsamen Gehirn“. Er hielt nichts von einem „Anhang“. Aber er war ein Lehrer mit Herz und Seele, und solche Lehrer haben eben nun ‘mal Schüler. Übrigens: Nach meiner Habilitation fragte ich ihn, ob eine Heirat nunmehr sinnvoll sei. Seine Antwort war knapp und bündig: „Unbedingt.“
1 In: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz. Kommentar.
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II. Die Fotografie am Ende dieses Artikels zeigt Günter Dürig in einer seiner Grundrechtsvorlesungen am Katheder; sie lässt erkennen, was mit Worten nur sehr dürftig beschrieben werden kann: Volle Konzentration, Leidenschaft, packende Argumentation, eine geradezu beschwörende Hinneigung zum Auditorium, verbunden mit der Hoffnung, dass verstanden wird, was er vermitteln will. Dazu Dürig2 selbst: „Ich habe tatsächlich die meiste Zeit, die mir zur Verfügung stand, auf die Lehre verwendet und habe auch die meiste Kraft physisch und geistig in die Lehre investiert.“ Aber es „war kein Opfergang, sondern die Tätigkeit hat mir auch am meisten Spaß gemacht … Conclusio, es hat sich rundum gelohnt für mich.“ Rundum gelohnt hat es sich auch für seine Studenten. Inwieweit die pädagogischen Bemühungen angekommen sind, ist auch für den Lehrer schwer zu beurteilen. Dürig spricht von einem sehr buntscheckigen und mehr impressionistischen Bild. Was aber sicher gesagt werden kann: Die Studenten waren fasziniert von ihrem Lehrer, sie bewunderten und verehrten ihn. Das hatte seinen Grund sicher auch in Dürigs Sprachgewalt, seinen illustrativen, treffend-saloppen, geistreich-witzigen Formulierungen; mehr noch war es die Gradlinigkeit seiner Argumentation, sein unbeirrbarer Sinn für Gerechtigkeit und sein Gespür für die Kultur des Rechts. Die Studenten fühlten: Dieser Lehrer meint, was er sagt, und er sagt, was er meint. In der substantiellen Verknüpfung von Person, genauer noch: von Charakter und Werk, von Denken und Handeln lag das Geheimnis seines pädagogischen Charismas.3 Und darin liegt ebenso die nach wie vor ungebrochene Ausstrahlungskraft seines wissenschaftlichen Werkes. Dürig war eine durch und durch in sich konsequente Persönlichkeit, mit klar konturiertem und fest verankertem Weltbild, zugleich offen für andere Weltanschauungen und notwendige Fortbildungen in der Zeit.
2 Dankesrede zum 65. Geburtstag, JÖR Bd. 36 (1987), S. 91/101 3 Ganz in diesen Kontext passt seine Offenheit gegenüber studentischen Wünschen und Anregungen, wie sie in dem von ihm ausgegebenen Formular „Vorlesungskritik allgemeine Staatslehre (Dürig)“ deutlich wird. Dabei stellte er selbst die zentralen Fragen, etwa „Ist die Stoffauswahl brauchbar?, Kennzeichne ich deutlich genug, wenn es sich um meine subjektive Meinung handelt?, Fühlen Sie sich durch solche stark persönlichen Meditationen und Reflektionen überfahren?, Wird deutlich genug, wenn ich ‚passen muss‘ und ratlos bin?“ Gefunden von und zitiert nach Peter Häberle, Staatsrechtslehre im Verfassungsleben – am Beispiel Günter Dürigs, in: Walter Schmitt Glaeser/ders. (Hg.), Günter Dürig, Gesammelte Schriften (1984), S. 13, Fn. 13.
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Hartmut Maurer4 hebt eindrucksvoll auch den Lehrer „in kleinerem Kreis“ hervor, im Seminar, im Gespräch mit Doktoranden, Habilitanden und Assistenten; er charakterisiert ihn als einen verständnisvollen Menschen, der auch für persönliche Anliegen und Probleme ansprechbar war. 1963, als ich nach Tübingen kam, waren diese Eigenschaften nur noch in Rudimenten vorhanden. Die durch einen noch im März 1945 an der Ostfront erlittenen Kopfschuss verursachten Dauerkopfschmerzen waren inzwischen so übermächtig geworden, dass er mit der stark verminderten Lebenskraft sparsam umgehen musste und nicht mehr für alle da sein konnte. Auch für seine Familie mit drei Töchtern war das nicht leicht. In der Universität durfte ich ihn im Wesentlichen nur noch als Meister der „großen Vorlesung“ erleben. Hier wirkte nach wie vor seine außergewöhnliche Persönlichkeit, sein unbedingter Einsatz für Gerechtigkeit als Ziel des Rechts, die Redlichkeit seiner Argumentation und die Unbestechlichkeit seiner wissenschaftlichen Haltung. Hinzu trat eine lupenreine Systematik, fast mit Händen zu greifende Anschaulichkeit und rhetorische Brillanz, die nicht zuletzt gerade darin bestand, schwierigste Probleme einfach und plausibel darzustellen und auch semantisch auf den Punkt zu bringen.5 Eine Vorlesung von Dürig konnte man nicht mehr vergessen, was auch daran lag, dass er es verstand, dem Hörer das Gefühl zu vermitteln, an der Erarbeitung und Lösung der Probleme unmittelbar selbst beteiligt zu sein.6 Nicht weniger kam diese Gabe Podiumsdiskussionen, Zeitschriftenartikeln, Vorträgen, seinen Plädoyers vor Gerichten, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht, und natürlich den Debatten auf den Tagungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer zugute. Ein Musterbeispiel für seine Vermittlungskunst ist die „Einführung zum Grundgesetz“ in Beck-Texte im dtv, „äußerlich nonkonformistisch“, aber „inhaltlich natürlich solide“, wie Dürig selbst einmal bemerkte, vor allem aber geeignet, unsere Verfassung auch dem Nicht-Juristen verständlich zu machen und nahe zu bringen. Er war ein großer Werber für unsere freiheitliche Ordnung und maßgeblich daran beteiligt, dass sie bei den Menschen „angekommen“ ist. Die ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmete, von Maurer (i. V. m. Schmitt Glaeser, Häberle und Graf Vitzthum) herausgegebene Festschrift (1990), trägt den Titel „Das akzeptierte Grundgesetz“, als Ausdruck eines erfüllten Auftrags. Es ist nicht verwunderlich, dass die 68er Studentenunruhen ihn besonders bewegt und erschüttert haben. Sie bedeuteten für ihn eine scharfe Zäsur. Zum
4 Günter Dürig als Lehrer und Forscher, JZ 1985, S. 223. 5 Etwa: Eigentum als „geronnene Freiheit“; „Keine Gleichheit im Unrecht“; „ethische Unruhe“, die Art. 1 GG in das System der Grundrechte bringe; Art. 1 I ist keine „kleine Münze“. 6 Vgl. auch Maurer, Nachruf, JZ 1997, S. 193/194.
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einen hinsichtlich seines bis dahin – bei allem Respekt vor dem großen Lehrer – geradezu kameradschaftlichen Verhältnisses zu den Studenten. Nun kam plötzlich so etwas wie Misstrauen und Ablehnung auf; auch wenn es nur wenige im Auditorium waren, sie machten die Stimmung und die Mehrheit machte nichts. Zum andern, und für Günter Dürig noch schmerzhafter, war die eindeutig totalitäre Einstellung nicht aller, aber doch der meisten „progressiven“ Studenten, die (wieder einmal) das einzig „richtige“ Bewusstsein zu besitzen glaubten und auch vor Gewalt nicht zurück schreckten. Bei einer „Wanderung“ auf jenem legendären Gang vor seinem Dienstzimmer, auf dem er sich – ebenso im Hin- und Herlaufen – etwas versonnen und in sich gekehrt auf seine Vorlesungen vorbereitete, fragte er mich, in Wahrheit sich selbst, ob denn alle seine großen Anstrengungen, den jungen Menschen die Vorteile einer freiheitlichen Ordnung, den hohen Wert von Humanität und Toleranz beizubringen, ganz umsonst gewesen wären.
III. Eine juristische oder gar (rechts)wissenschaftliche Laufbahn war für den am 25. Januar 1920 in Breslau Geborenen nicht vorgesehen. Nach dem Abitur 1937 am humanistischen Gymnasium seiner Heimatstadt und einem halbjährigen Arbeitsdienst entschied er sich für den Soldatenberuf und trat 1938 als Fahnenjunker in ein Kavallerieregiment in Oels (Schlesien) ein. Am zweiten Weltkrieg hat er vom ersten bis zum letzten Tag teilgenommen. Er wurde häufig, zum Teil schwer, verwundet und war zuletzt, hochdekoriert, Rittmeister (Hauptmann) in einer Panzeraufklärungsabteilung der Wehrmachtselitedivision „Großdeutschland“. Das Kriegsende erlebte er in einem Krankenhaus am Tegernsee (Oberbayern), was ihm wenigsten die Gefangenschaft ersparte. 1946 begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaft an der Universität München, die gerade ihren Studienbetrieb wieder aufgenommen hatte. Die Wahl dieses Studiums mag seinen Grund mit den Erfahrungen unter einem Unrechtssystem und seinen Erlebnissen im Krieg zu tun haben; seine späteren wissenschaftlichen Arbeiten legen jedenfalls diesen Schluss nahe, denn in der Rechtswissenschaft sah er von Anfang an eine „Gerechtigkeitswissenschaft“ und handelte als Jurist stets danach. In nur fünf Jahren absolvierte er mit besten Ergebnissen die Erste und Zweite juristische Staatsprüfung, promovierte 1949 bei seinem Lehrer Willibalt Apelt summa cum laude mit einer Arbeit über das Thema „Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs ‚Öffentliches Interesse‘“, und schon 1952 erfolgte die Habilitation, wiederum bei Apelt, mit einer Schrift über „Freiheitsrecht und Sozialpflicht im Grundgesetz, dargestellt am Eigentum“.
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Noch im gleichen Jahr ging er nach Tübingen als Vertreter von Carlo Schmid, dessen Lehrstuhl er schließlich als ordentlicher Professor übernahm. Auch noch so verlockende und ehrenvolle Rufe (u. a. nach Kiel, Bonn, Köln, München) konnten ihn nicht bewegen, „sein“ Tübingen zu verlassen. Er fühlte sich wohl in dieser Stadt und an ihrer Universität, die ihm ein tiefes wissenschaftliches Gemeinschaftsgefühl vermitteln konnte.7
IV. Günter Dürigs wissenschaftliches Gesamtwerk ist breit angelegt: Verfassungsrecht (insbesondere Grundrechte), Staatsorganisation, Staatslehre, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht sind wichtige Betätigungsfelder. Es detailliert zu beschreiben, insbesondere seine Stellung in der Staatsrechtswissenschaft heraus zu arbeiten, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Das muss „Aufgabe einer Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte des Grundgesetzes sein“, wie Peter Häberle8 in seiner eingehenden Würdigung des Gelehrten zu Recht feststellt. Aufschlussreiche Darlegungen über Dürigs wissenschaftlichen Werk verdanken wir neben Häberle vor allem Maurer,9 Wolfgang Graf Vitzthum10 sowie Peter Lerche.11 Angesichts dieser ebenso gründlichen wie einfühlsamen Ausführungen und auch um Wiederholungen möglichst zu vermeiden, werde ich versuchen, die Akzente ein wenig anders zu setzen, ohne die schon verschiedentlich geschilderten zentrale Erkenntnisse zu vernachlässigen. Günter Dürig wusste von Anfang an, was er wollte. Er hat „seine“ Themen gleichsam im ersten Zugriff gefunden.12 In aller Schärfe erkannte er,13 worum es nach einer Zeit völliger Rechtlosigkeit zu gehen hatte: „Es kam darauf an, tatsächlich erst einmal Faden zu schlagen, ein paar Schneisen anzulegen, ein paar Rollbahnen zu ziehen … Man kam sich in der Tat manchmal so vor, wie SaintExupery es im ‚Nachtflug‘ sagt: Soundsoviele Feuerchen gesehen, die sich als Irr-
7 Dafür gibt es viele Nachweise, auch im Maunz/Dürig (Fn. 1), so z. B. bei Art. 3 Abs. I, Rn. 427, Fn. 1: „Wir Tübinger fragen uns …“. 8 In: Dürig (Fn. 3), S. 9/22. 9 Fn. 4 und 6. 10 Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, S. 201 ff. 11 Günter Dürig als Architekt, in: Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig (1920–1996), Tübinger Universitätsreden N. F. Bd. 27, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 13 (1999), S. 13 ff. sowie Graf Vitzthum, Die Spuren zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm, in: ebenda S. 37 ff. 12 So schon Häberle (Fn. 3), S. 21 f. 13 Dürig (Fn. 2), S. 95.
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lichter erwiesen, und, so schließt er, dann nahm ich Kurs, dann steuerte ich den Merkur an. Wenn man manchmal vom „Pilotcharakter“ dieser Kommentierung der ersten drei Grundgesetzartikel14 spricht, dann ist daran semantisch etwas richtig. Man muss freilich auch an einen Blindflug denken, ein Peilstrich war kaum vorhanden. Funkfeuer sehr, sehr weit. Bis zu Kant musste man zum Teil schauen können, und der Kompass, den man bei sich hatte, den hat man sich selber gebastelt.“ Natürlich war es ein besonderer Vorzug, manche mögen von „Glück“ sprechen, in den Gründerjahren der Bundesrepublik wirken zu können, Weichen zu stellen und Ziele vorzugeben. Aber ebenso richtig ist, dass er dies auf einmalige Weise getan hat, Günter Dürig also auch für unsere Republik ein „Glücksfall“ war. Dass das Grundgesetz und die neue Verfasstheit so schnell von den Menschen angenommen wurden, ist auch sein Verdienst. Er verstand es, Wissenschafts- und Laiensprache miteinander in Einklang zu bringen, juristisch durch und durch seriös und zugleich verständlich zu sein. Nicht nur für die „hohe“ Wissenschaft waren seine Argumente nachvollziehbar. Dürig15 selbst nennt für die Überzeugungskraft seiner Konzeption „zwei ganz einfache Gründe: Zwei Instanzen haben mitgezogen. Erstens das deutsche Bundesverfassungsgericht und zweitens der deutsche Repetitor. Dann hilft gar nichts, dann werden Sie zum Klassiker.“16 Eines allerdings kam den Staatsrechtslehrern der ersten Stunde allen, auch Günter Dürig, zugute: Der breite gesellschaftliche Konsens im Nachkriegsdeutschland (bis 1968!), der besonders eindrucksvoll im Vorspruch der Bayerischen Verfassung von 1946 zum Ausdruck kommt.17 Dies freilich war kein Glück, sondern doch eher Fügung; denn ohne diesen Konsens wäre auch die zweite deutsche Demokratie bald gescheitert.
14 Fn. 1. 15 Fn. 2, S. 95. 16 Neben Konrad Hesse gehört Dürig bis heute zu den vom Bundesverfassungsgericht meist zitierten Wissenschaftler: Häberle, Einleitung zur Neuausgabe des JÖR, Bd. 1 (2010), S. IX, Fn. 15. 17 „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen … geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk … nachstehende demokratische Verfassung.“
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V. Günter Dürig hat nicht nur früh „seine“ Themen gefunden, er hat auch mit viel Spürsinn erkannt, in welcher Reihenfolge und auf welche Weise die Akzente zu setzen sind, um am Ende zu einem in sich schlüssigen Gesamtkonzept zu gelangen.18 Die ersten Akzente werden bereits am Anfang der 50er Jahre gesetzt, wobei vornehmlich zwei Aufsätze weichenstellende Natur besitzen: „Die Menschenauffassung des Grundgesetzes“ aus dem Jahr 1952 ist der eine, „Der Grundsatz von der Menschenwürde“ aus dem Jahre 1956 der andere.19 Der zweite Aufsatz hat den programmatischen Untertitel: „Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes“. Schon hier wird das Fundament deutlich, das wenig später in der Kommentierung der Art. 1 und 2 (1958) und schließlich des Art. 3 (erst 1973)20 seine nähere Ausgestaltung erfahren sollte. Es sind drei Säulen, unlösbar miteinander verbunden und sich gegenseitig stützend: Menschliche Würde, freie Persönlichkeitsentfaltung und Gleichheit. Ausgehend von der in Art. 1 I postulierten Menschenwürde und der in Art. 2 I garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit will er „dem davongekommenen Menschen des zweiten Weltkrieges mit den Waffen des Rechts … zum ‚Wiedergewinnen der Mitte‘ … verhelfen.“21 Damit ist ein „Wertsystem“ (kein logisches System!) vorgezeichnet, das seine Basis in positivrechtlichen Normen des Grundgesetzes hat, ein ebenso mutiger wie genialer, vielleicht auch etwas abenteuerlicher Wurf.22 Die wieder zu gewinnende „Mitte“ wird zwischen dem autonomen und in sich geschlossenen Individuum im klassisch liberalistischen Sinne der 19. Jahrhunderts und dem Menschen als entsubjektivierten Teil eines Kollektivs verortet. Es geht danach um einen Menschen, der sich nach Art. 2 I zu dem entfalten können soll, was nach Art. 1 I seine Würde und damit sein Wesen ausmacht.23 Konsequenterweise sieht er daher in Art. 2 I ein Hauptfreiheitsrecht und „mütterliches“ Auffangrecht aller praktisch werdenden Gefähr-
18 Lerches (Fn. 11) illustratives Bild von dem Architekten Dürig trifft die besondere Art seiner Arbeitsstruktur wohl am Besten. 19 Dürig (Fn. 3), S. 27 ff. und 127 ff. 20 Fn. 1.- Art. 1 und 2 sind inzwischen durch andere Autoren neu kommentiert; die Kommentierung Dürigs ist nur noch in einem Sonderdruck des C. H. Beck Verlags zu erhalten. 21 Dürig (Fn. 3), S. 27. 22 Häberle (Fn. 3), S. 22: „Der Versuch, sich aus der Alternative ‚Naturrecht oder Rechtspositivismus‘ dadurch zu lösen, dass zunächst einmal das positive ‚Wertsystem‘ der Verfassung als solcher … zugrunde gelegt wurde, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden.“ 23 Dürig (Fn. 3), S. 28.
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dungen der Freiheit, wenn die ausdrücklich geregelten speziellen Freiheitsrechte nicht greifen.24 Die Schlussklammer gleichsam setzt Art. 19 IV: Während sich das Grundgesetz in Art. 2 I „für einen materiell- rechtlich lückenlosen Individualrechtsschutz“ erklärt, fällt mit Art. 19 IV die „ebenso wichtige Entscheidung für einen verfahrensrechtlich lückenlosen Individualrechtsschutz.“ Art. 19 IV setzt den materiellen Rechten „die Zähne“ ein.25 In diesen Kontext zur „Wiedergewinnung der Mitte“ gehört schließlich der 1953 erschienene Aufsatz „Das Eigentum als Menschenrecht“,26 in dem Dürig ebenso akribisch wie überzeugend nachweist, dass es sich auch beim Eigentumsrecht trotz Art. 14 I S. 2 GG um ein vorstaatliches, vom Staat nur anerkanntes subjektives öffentliches Recht handelt, dessen Wesensgehalt (Art. 19 II GG) gesetzlich nicht disponibel, „inviolable et sacre’“ ist. Erst jenseits dieses Kerngehalts unterliege es Pflichten und Bindungen. Dabei kommt es ihm besonders auf die Erkenntnis an, dass der Menschenrechtscharakter einerseits rechtslogisch jede Materialisierung und Entpersonalisierung des Eigentums zugunsten der Sache und zwar sowohl hinsichtlich des Subjekts als auch des Objekts des Rechts verbietet, und andererseits die Grundlage dafür bildet, eine Pflichtenimmanenz konstruktiv zu erfassen. Zugleich spricht Dürig zentrale Fragen der Grundrechtslehre an und skizziert Lösungen, die maßstabsbildend wurden, so etwa die (nur mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte, die Verortung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 I GG oder die mögliche Grundrechtsbindung des Staates auch im Fiskalbereich.27 Von Anfang an ist deutlich erkennbar, aus welcher Quelle Günter Dürig die Kraft und die Orientierungssicherheit seines Denkens schöpft. Es ist die „christlich-philosophische Anthropologie“, die „christliche Gesellschaftslehre“ und die „Moraltheologie“.28 So entschieden er sich als Staatsrechtslehrer fern hielt von politischen Parteien oder säkularen Ideologien, so sehr bekannte er sich zum christlichen Glauben, der für ihn nicht nur Glauben, sondern auch Quelle der Vernunft war. Es könnte sein, dass für ihn die Wahrheit in einer Synthese aus Religion und Wissenschaft lag. Auf der Basis eines „vernünftigen Glauben“
24 Dürig (Fn. 1), Art. 2 Abs. I, Rn. 6 ff. 25 Auch Art. 19 Abs. 4 wird inzwischen von einem anderen Autor kommentiert. Die Dürig’sche Fassung aus dem Jahr 1958 ist in Auszügen in Dürig (Fn. 3), S. 197 ff. nachzulesen. 26 In: Dürig (Fn. 3), S. 47 ff. sowie Dürig, Zurück zum klassischen Eigentumsbegriff! ebenda, S. 103 ff. Vgl. auch Maurer, Enteignungsbegriff und Eigentumsgarantie, in: Festschrift für Dürig, 1990, S. 293 ff. 27 Vgl. auch Dürig, Die Geltung der Grundrechte für den Staatsfiskus und sonstige Fiskalakte, BayVBl. 1959, S. 201 ff. 28 Dürig (Fn. 3), S. 31.
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jedenfalls gewinnt Dürig seinen Persönlichkeitsbegriff, der – wie er lehrt – vom Christentum bereit gehalten wurde, „als der seit der Aufklärung bedingungslos gewordene Mensch sich bald maßlos als Übermensch fühlte, bald angstvoll in das Kollektiv flüchtete,“ und der für ihn seit jeher ein Zweifaches beinhaltet: „1. Der Mensch ‚ist‘ Person (Individuum) kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, sich selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu gestalten. Aber: 2. Bereits in dieser Seinsordnung ‚ist‘ die Person nicht nur und erkennt sich nur, wie ein theoretisches Subjekt Objekte erkennt, sondern steht sie wesensmäßig bereits in Beziehung zu Werten. Im Dialog mit dem ewigen ‚Du‘ Gottes, dem ‚Du‘ des Mitmenschen und dem ‚Wir‘ der Gemeinschaft, in deren ‚Koexistenz‘ die Person nur ‚existiert‘, erkennt sie erst, dass sie Person ist. Bejaht die Person aus innerer Freiheit diese Werte und dient sie ihnen, dann reift die Person zur ‚Persönlichkeit‘.“29 Wie „vernünftig“ diese Konzeption der Persönlichkeit ist, zeigt Dürig u. a. an Hand des Grundgesetzes selbst, das den Menschen als Glied zwischenstaatlicher Ordnungen begreift, so insbesondere in Ehe und Familie (Art. 6), in der Kommune (Art. 28), in der Kirche (Art. 140 GG in Verb. m. Art 137 ff. WRV).30 Und er weist darauf hin, dass mit Theodor Litt „gerade in der kulturphilosophischen Richtung, die von der Seins- Wissenschaft Soziologie herkommt, erkannt wird, dass das ‚Ich‘ zu dem, was sein wahres Wesen ausmacht, nur in der ‚Wechselwirkung‘ mit den ‚Du‘ und in der ‚sozialen Verschränkung‘ mit der Gemeinschaft gelangen kann … Persönlichkeitsein und Verantwortlichsein, Persönlichkeitsein und dem Gemeinwohl dienen, sind ein und dasselbe.“31 Die christlich-anthropologische Sicht des Menschen als Träger einer unantastbaren Würde ist für Günter Dürig Fundament und Inspiration des Denkens, nicht „Beweis“ für die Richtigkeit seiner Konzeption. Die Absicherung findet sich im positiven Recht des Grundgesetzes und der Rechtsdogmatik; sie ist daher – wie Graf Vitzthum32 zutreffend bemerkt – „auch ohne ihre christlichen Wurzeln“ lebensfähig. Die Fundierung des Grundgesetzes von Art. 1 I (in Verb. mit Art. 19 II) her führt zu einem lückenlosen Wert- und Anspruchssystem,33 das über die ersten 20 Jahre die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts34 beherrschte und daher
29 Dürig (Fn. 3), S. 31 f., 135. 30 Dürig (Fn. 3), S. 28 f. 31 Dürig (Fn. 3), S. 33. Sehr ausführlich zur Gemeinschaftsbezogenheit auch ders. (Fn. 1), Art. 1 Abs. I, Rn. 46 ff. 32 Fn. 11, S. 39. 33 Dürig (Fn. 3), S. 129 ff. 34 Von E 5, 85/139, 204 f.; E 6, 32/41; E 7, 198/205 bis BVerfGE 39, 1/41 f. std. Rspr.
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entsprechend große Bedeutung hatte. Im Laufe der Zeit erfuhr das System zwar zunehmend Kritik, in besonders aufschlussreicher Weise von Konrad Hesse,35 der freilich zugleich deutlich macht, dass für die Interpretation der Grundrechte der Gedanke der Wertordnung „ein Ansatz und eine Hilfe angesichts einer Lage (war), in der es noch weitgehend an einer Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung fehlte.“36 Besser lässt sich die besondere Pionierleistung Dürigs nicht beschreiben. Unverzichtbar ist nach wie vor die durch ihn angestoßene Erkenntnis, dass die Grundrechte unsere Verfassung nicht nur von der Gliederung her anführen, sondern ein unverzichtbarer Kern jeder freiheitlichen Ordnung sind und bleiben müssen.37 Wichtige Grunderkenntnisse Dürigs sind noch heute im Wesentlichen unbestritten, so in erster Linie die Erkenntnis, dass Art. 1 I als oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts das Gesamtverständnis der Grundrechte leitet sowie die Legitimation von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik bestimmt und beschränkt. Daraus folgert dann auch, dass Art. 1 I den Staat dazu zwingt, seine Gesamtrechtsordnung (also auch das Privatrecht) so auszugestalten, dass auch von außerstaatlichen Kräften eine Verletzung der Menschenwürde unzulässig ist.38 Hier findet sich ebenso die „direkte Quelle der heute noch triumphierenden Lehre von den staatlichen Schutzpflichten“39 und der nur mittelbaren „Drittwirkung“ der Grundrechte.40 Durchgesetzt hat sich auch – jedenfalls mit Hilfe Günter Dürigs41 – die Qualifizierung des Art. 2 I als Hauptfreiheitsrecht und „mütterliches“ Auffangrecht aller praktisch werdenden Gefährdungen der Freiheit. Gleiches gilt für die vor allem auf die Philosophie Immanuel Kants42
35 Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rn. 299 ff., 427 f. m. N. 36 Fn. 35, Rn. 299. Vgl. auch Graf Vitzthum (Fn. 11), S. 41: Dürigs wertphilosophischer Ansatz „war ein Beitrag zum auch geistigen Wiederaufbau.“ Dürig selbst hat immer wieder hervorgehoben, dass es um ein Wert-, nicht um ein logisches System gehe; besonders pointiert (Fn. 3), S. 76 f., Fn. 10. 37 Vgl. auch Hesse (Fn. 35), Rn. 299. 38 Dürig (Fn. 1), Art. 1 Abs. I, Rn. 4, 15 f.; Josef Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, in: Heft 71 der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrein-Westfalen, 1957. 39 Lerche (Fn. 11), S. 14. 40 Dürig (Fn. 3), S. 128, 133 f. sowie ders., Grundrechte und Zivilrechtsprechung, ebenda S. 215 ff. Vgl. auch Jost Pietzcker, Drittwirkung – Schutzpflicht – Eingriff, in: Festschrift für Günter Dürig, S. 345 ff.- Unter Einfluss vor allem des Europarechts setzt sich allerdings die Direktwirkung der Grundrechte im Privatrecht immer stärker durch; dazu noch Ziffer VI. 41 Fn. 1, Art. 2 Abs. I, Rn. 6 ff. 42 Grundlegung einer Metaphysik der Sitten. Dazu eingehend Graf Vitzthum (Fn. 11), S. 47 ff.
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zurückgehende Objektthese, die den Wert der Menschenwürde erst „justiziabel“ gemacht hat (Peter Häberle).43 In diesem Zusammenhang weist Dürig schon sehr früh darauf hin, dass die Menschenwürde als solche auch getroffen ist, „wenn der Mensch gezwungen ist, ökonomisch unter Lebensbedingungen zu existieren, die ihn zum Objekt erniedrigen“.44 Auf diesem Gedanken entwickelte sich eine Rechtsprechung zur Sicherung des Existenzminimums,45 die heute unbestritten, wenn auch vor allem im Blick auf den Leistungsumfang überzogen ist.46
VI. Zu wenig Beachtung erfuhr bei den zahlreichen Würdigungen, die Günter Dürig im Laufe der Jahre und Geburtstage zuteil wurde, sein Verständnis des Gleichheitsprinzips, das in der Kommentierung des Art. 3 GG47 seine tiefgreifende und nahezu monographische Behandlung erhielt. Ich werde daher dieser Konzeption hier besondere Aufmerksamkeit zuwenden, zumal inzwischen der Kampf über den Vorrang von Freiheit oder Gleichheit wieder einmal voll im Gange ist. Die erste grundsätzliche Weichenstellung erfolgt schon in Dürigs Aufsatz des Jahres 1952.48 Aus dem Persönlichkeitsbegriff des Grundgesetzes (Art. 1 I in Verb. mit Art. 2 I) wird die wichtige Erkenntnis hergeleitet, „dass in diesem Begriff die Verschiedenartigkeit und die Einzigartigkeit der Einzelnen mitgedacht ist“ und daher der Persönlichkeitsbegriff wesensnotwendig die Ungleichheit behandelt. 1952 konnte Dürig noch feststellen, dass die Rechtswissenschaft unter Gleichheit die aristotelische, relative Gerechtigkeitsgleichheit versteht, die jedem das Seine gibt, und die erste Hypertrophie abgewehrt sei, die den Sinn des Gleichheitssatzes im Nivellieren und „Gleichmachen“ sieht.49 Sehr konkret machte er aber auch schon Gefahren aus: Nach dem Siegeszug, „den die formale Gleichheit auf politischen Gebiet (vor allem im Wahlrecht) genommen hat, wird man sehr wachsam
43 Näher dazu Walter Schmitt Glaeser, Dauer und Wandel des freiheitlichen Menschenbildes, in: Festschrift für Maurer, 2001, S. 1213 ff. 44 Fn. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 43 sowie bereits Fn. 3, S. 35 f., 141. 45 Grundlegend BVerwGE 1, 159/161; a. A. zunächst noch BVerfGE 1, 97/104. 46 Dazu etwa Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. IV/1, 2006, S. 51 ff. 47 Fn. 1.- Dazu die Rezension von Hans Peter Ipsen, Der Staat, Bd. 13 (1974), S. 555 ff. Vgl. auch Klaus Stern, Das Gebot der Ungleichbehandlung, in: Festschrift für Günter Dürig, S. 207 ff. sowie Martin Heckel, Art. 3 III GG. Aspekte des Besonderen Gleichheitssatz, ebenda, S. 242. 48 Fn. 3, S. 27/36 ff. 49 Fn. 3, S. 36.
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sein müssen, dass ein Funktionierensprinzip nicht zum Inhalt eines materiellen Gerechtigkeitsprinzip gemacht wird.“ Eine solche Erweiterung wäre vom Persönlichkeitsprinzip des Grundgesetzes nicht mehr gedeckt.50 Günter Dürig war wachsam, aber den Konsens, den er noch in der Nachkriegszeit mit dem auf der Menschenwürde basierenden Wertsystem erleben durfte (oben Ziffer IV. a. E.), konnte nach dem 68er Kulturbruch immer weniger erwartet werden. Wie sehr er geschwunden ist, wird exemplarisch deutlich bei der Einschätzung einer Direktwirkung des Art. 3 III GG zwischen Privaten. Dürig zeigt hier „Nerven“, weil seine eigenen und sehr einleuchtenden Argumente gegen eine solche Wirkung immer wieder in Frage gestellt werden. So formuliert er51 kurz und bündig: „Der Verf. ist nach wie vor der Meinung, dass ganz speziell gerade Art. 3 Abs. 3 die These der Drittwirkung auf das Privatrecht in jedem Fall, den man durchdenkt, widerlegt. Aber er möchte nicht erneut dartun, warum es Widersinn ist, wenn sich jemand seiner Kirche gegenüber auf Art. 3 Abs. 3 seiner ‚religiösen Anschauung‘ wegen beruft; warum Tendenzbetriebe allein wegen (und nichts anderem als) der ‚politischen Anschauung‘ einstellen und entlassen dürfen; warum Testamente allein wegen der Geschlechtszugehörigkeit usw. benachteiligen und bevorzugen dürfen. Aber der Verf. muss gestehen, zu diesem Thema – zu dem ja auch Schwabe in seiner flotten Attacke zur ‚sogenannten Drittwirkung‘, 1971, rein gar nichts bietet – fällt ihm nichts mehr ein, was er nicht schon mehrmals geschrieben hätte.“ Heute geht es nicht mehr nur um „flotte Attacken“ des einen oder anderen Kollegen, sondern um Frontalangriffe der Politik und des Gesetzgebers. So hat „Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ vom 18.08.2006, auf europäischen Richtlinien beruhend, das eindeutig gegen den Staat gerichtete Diskriminierungsverbot in breiter Front in das Privatrecht eingeschleust und die Menschen dazu verpflichtet, „anständig“ miteinander umzugehen, so wie der Staat „Anstand“ versteht. Es gab kaum ernsthaften Protest. Die meisten Menschen haben sich inzwischen offenbar daran gewöhnt, dass der Staat die Distanz zur Individualität des Privaten verkürzt, immer mehr seiner Kontrolle unterwirft, das Individuum als lenkungsbedürftig behandelt und die Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft austrocknet. Überdies: Sollte das Gesetz wirklich zum Ziel haben, dass die Menschen „anständiger“ und „fairer“ miteinander umgehen, so ist ein solches Ziel auf diese Weise nicht zu erreichen. Wie sich schon sehr bald deutlich abzeichnete, wird es nur die Bürokratie und die Anwälte füttern, auf Kosten vor allem der Wirtschaft und der Steuerzahler. Ob die Menschen wohl einmal lernen, dass
50 Fn. 3, S. 37 f. 51 Fn. 1, Art. 3 Abs. III, Rn. 172.
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dem Gesetzgeber natürliche Grenzen gesetzt sind, vor allem dass er sich nicht anmaßen darf, Mentalitäten (und gesellschaftliche Umgangsformen) zu reglementieren? Den eigentlichen Schaden hat die aus der Menschenwürde fließende gleiche Freiheit und damit der freiheitliche Staat insgesamt. Es ist wohl Dürigs größte wissenschaftliche Tat, immer wieder deutlich gemacht zu haben, dass es in einem Wertsystem bei aller Bedeutung des Gleichheitssatzes kein Ausweichen vor der Entfaltungsfreiheit gibt. Die Grundrechte seien – so Dürig – nicht jedes für sich eine „spezielle“ Reaktion auf „konkret – politische – historische Gefährdungslagen“. Nur ein solches „Katalogschrankendenken“ könne im Blick auf die Gleichheit dazu führen, dass man sich an der Entfaltungsfreiheit der Menschen vorbei schleicht. „Eben dies kann man sich in einem ‚Wertsystem‘ nicht leisten. Man muss Akzente setzen und insoweit Farbe bekennen; und zwar nicht nach irgendeinem politisch-soziologischen ‚Vorverständnis‘ und Wunschbild, sondern so, wie es die Verfassung befiehlt.“52 Wenn sich diese Ausführungen wie eine Kritik zum „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“ lesen, so ist das nicht weiter verwunderlich. Denn es sind durch die Verfassungsgeschichte hindurch immer die gleichen soziologischen Schablonenargumente, die von den Gleichheitsfanatikern gegen die Freiheit, gegen das Recht auf ein Anderssein der Menschen geführt werden. Diesem extremen Gleichheitsverständnis liegt regelmäßig die wirklichkeitsfremde Annahme einer tatsächlichen Gleichheit aller Menschen zugrunde53 oder doch der dringende Wunsch, alle Menschen gleich zu machen. Aus der Gleichberechtigung der Menschen wird ihre Gleichstellung. Der Weg dorthin beginnt in der Praxis häufig mit der ökonomischen Frage, ob und inwieweit unterschiedliche Erträge der Leistungsträger für die Gemeinschaft auch erträglich sind, insbesondere das „Zuviel“ nicht abgeschöpft werden muss und jenen zu geben ist, die geringere Erträge aus ihren Leistungen erwirtschaften oder gar nichts leisten. Die Frage wird zu einer eminenten Gerechtigkeitsfrage hochgespielt und sie läuft notwendiger Weise auf die grundfalsche Alternative hinaus, ob es mehr Freiheit oder mehr Gleichheit geben soll. Gleiche Freiheit ist nicht mehr gefragt, nur noch ein Entweder – Oder. Gerade gegen ein solches Ausschließlichkeitsdenken hat sich Dürig immer gewandt, weil es eindeutig nicht der Konzeption des Grundgesetzes entspricht, das beide Werte gleichermaßen auf der Grundrechtsebene verankert, so dass es nur darum gehen kann, Akzente zu setzen, also einerseits jeden Wert optimal zu steigern und andererseits Prioritä-
52 Dürig (Fn. 1), Art. 3 Abs. III, Rn. 120. 53 Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1991, S. 106.
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ten anzuerkennen.54 Und wie diese Priorität zwischen Freiheit und Gleichheit zu setzen ist, klärt Dürig55 mit einer einfachen Frage, die jeder verstehen kann und jeder gleich beantworten dürfte. „Die Frage lautet etwa: Möchten Sie unter einer Verfassung leben, deren Willen es ist, auch mit einer ‚Gleichheit in der Unfreiheit‘ richtig verfasst zu sein?… Die Antwort ist klar: Man räumt der Freiheit Vorrang vor der Gleichheit ein; man will ‚Gleichheit der Freiheit‘ (‚Freiheits- Gleichheit‘) und hat damit die Verfassung richtig verstanden.“ Die weiteren Folgerungen sind nun ebenso klar: Die Gleichheit ist nach dem Grundgesetz „kein Wert an sich“, sondern hat „der Freiheit gegenüber dienende Funktion, als Basis und als Bedingung der freien Entfaltung menschlicher Anders- und Einzigartigkeit.“56 Soll es keine Freiheit in der Ungleichheit geben, dann muss man der freien Entfaltung zugestehen, dass sie zu Ungleichheiten führt, die sich notwendig aus dem Persönlichkeitsbegriff der Verfassung (Art. 1 I in Verb. mit Art. 2 I GG) ergeben. Die Zusammenfassung seiner Konzeption vom Verhältnis Freiheit – Gleichheit zeichnet Dürig in einem Bild, das er einmal mit Ralf Dahrendorf in alten Tübinger Tagen „erfunden“ hat. Es ist ein Bild mit „Fußboden“ (Sockel), „Stützpfeile“ und „Decke“. Ich will das Bild wenigstens in „Grundstrichen“57 wiedergeben: In horizontaler Richtung als „Fußboden“ stellt die Verfassung einen Canon egalitärer Rechtsgleichheit und Rechtsanwendungsgleichheit auf, bei dem ein Widerstreit von Gleichheit und Freiheit gar nicht aufkommen kann, weil Kongruenz von Freiheit und Gleichheit besteht. Dazu gehören etwa die gleiche Rechtsfähigkeit oder die gleiche Rechtsschutzfreiheit oder gleiche Startchancen, in deren Interesse die Sockelhöhe konstant anzuheben ist, was aber nie zur Zielgleichheit führen darf. Auf der horizontalen Basis bauen sich als vertikale „Stützpfeiler“ die Entfaltungsfreiheiten, also Konkurrenz, Wettbewerb, Eigeninitiative, Kreativität, Risiko usw. auf, um dann wiederum durch egalitäre Berechtigungen von Verfassung wegen aufgefangen zu werden, wenn der Mensch z. B. infolge Alter, Krankheit, Invalidität in diesem Konkurrenzkampf nach oben nicht mehr mithalten kann. Das ist die „Decke“, wiederum eine Horizontale, nunmehr der sozialen Auffangrechte durch Sozialhilfe, Versorgung, Versicherung oder Entschädigung. Es gibt viele Gefahren, die dieses kunstvolle Gebilde zum Einsturz bringen können; derzeit ist es vor allem der Irrglaube, man könnte der „Decke“ im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ beliebig viel „aufladen“, im Endergebnis mehr, als die „Stützpfei-
54 Dürig (Fn. 1), Art. 3 Abs. I, Rn. 128 ff. 55 Fn. 1, Art. 3 Abs. I, Rn. 134. 56 Dürig (Fn. 1), Art. 3 Abs. I, Rn. 135. 57 Ausführlich Fn. 1, Art. 3 Abs. I, Rn. 140 ff.; vgl. auch Dürig, VVDStRL, Bd. 30, S. 154 ff. (Diskussionsbeitrag).
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ler“ zu tragen in der Lage sind. Werden die Pfeiler überladen, brechen sie und die „Decke“ fällt auf den „Fußboden“. Die Lichter gehen aus. Diese Freiheits- und Gleichheitslehre ist ein besonders wichtiges Vermächtnis Günter Dürigs. Es wird Zeit, dass wir seine grundlegende Bedeutung erkennen und daraus die notwendigen Folgerungen ziehen. Die Politik muss wieder eine Politik der Freiheit werden. Andernfalls wird die Gleichheit nicht nur eine Gleichheit in Armut, sondern auch in Unfreiheit werden.
VII. Günter Dürigs Überlegungen zu dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und die derzeitige Sicht dieses Verhältnisses durch die Politik und zunehmend auch durch Literatur und Rechsprechung58 zeigen in aller Deutlichkeit, wie sehr uns dieser große Gelehrte mit seiner Sprachgewalt, seiner Glaubwürdigkeit und seinem pädagogischen Eros fehlt. Wir bräuchten ihn heute mehr denn je, denn der Nachkriegskonsens über die aus der Menschenwürde erwachsende Präponderanz der Freiheit über die Gleichheit erodiert. Das mag auch daran liegen, dass das große Ideal der Freiheit zwar nicht von allen, aber doch von immer mehr zunehmend als materielle Forderungsfreiheit verstanden und hauptsächlich als Chance gesehen wird, gut zu essen und zu trinken, sich schön zu kleiden, Haus und Auto zu besitzen, Urlaubsreisen in ferne Länder zu unternehmen, gut bezahlte Arbeit zu haben und möglichst viel Freizeit genießen zu können. Es geht in der Formulierung Francois Babeufs darum, einen Zustand anzustreben, „in dem jedes Individuum mit der geringsten Mühe das bequemste Leben genießen kann“. Arnold Gehlen59 spricht in diesem Zusammenhang von „Weltfremdheit, Urteilsdünkel und Daseinsgefräßigkeit“. Damit wird auch die Einstellung zur Gleichheit anders. Wenn Menschen glauben, Wohlleben sei naturgegeben und nicht auf Können und Fleiß zurück zu führen, dann wird auch Leistung und Erfolg nicht mehr angemessen honoriert, geschweige denn bewundert, sondern eher als „unverdientes Glück“ angesehen werden, womit dann auch der eigentlich selbstverständliche Respekt vor Leistungsträgern nicht mehr erbracht wird. Chancengleichheit verschiebt sich tendenziell immer mehr zu Ergebnisgleichheit
58 Vgl. etwa nur Walter Schmitt Glaeser, Über Tendenzen zur Unterwanderung unserer Verfassung. 60 Jahre Grundgesetz, JÖR Bd. 57 (2009), S. 39/48 ff. 59 Moral und Hypermoral, 5. Aufl.(1986), S. 143.
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und das führt allgemein zur Nivellierung, zum Lob des Durchschnittlichen und damit zum Erlahmen der Freiheit. Walter Schmitt Glaeser
Auswahlbiographie Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs „öffentliches Interesse“ (1949) Freiheitsrecht und Sozialpflicht im Grundgesetz, dargestellt am Eigentum (1952) Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, S. 259–263 Das Eigentum als Menschenrecht, ZgesStW 109 (1953), S. 326–350 Verfassung und Verwaltung im Wohlfahrtsstaat, JZ 1953, S. 193–199 „Bedürfnis“ und „öffentliches Interesse“ als Rechtsbegriffe, JZ 1953, S. 535–537 Art. 2 des Grundgesetzes und die Generalermächtigung zu allgemeinpolizeilichen Maßnahmen, AÖR (1953/54), S. 57–86 Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL. Bd. 13 (1955), S. 27–58 Der Grundsatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktischen WertSystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes, AÖR 81 (1956), S. 117–157 Stichwort „Staatsformen“, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Bd. IX (1956), S. 742–752 Kommentierung zu Art. 1 und 2 (1958), in: Maunz/Dürig. Grundgesetz. Kommentar. Nunmehr in: Sonderdruck des C. H. Beck-Verlags Kommentierung zu Art. 104 (1958), in: Maunz/Dürig. Grundgesetz, Kommentar Besprechung zum Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 1.1958 (1BvR 400/51), DÖV 1958, S. 194–197 Der Staat und die vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: Festschrift für Willibalt Apelt (1958), S. 13–56 Kommentierung zu Art. 20 (Republik, Rechtsstaatlichkeit, 1960), in: Maunz/Dürig. Grundgesetz. Kommentar Grundrechtsverwirklichung auf Kosten der Grundrechte, in: Summum ius summa iniuria. Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben (1963), S. 80–96 Die Übereinstimmung der Wahlsysteme in Bund und Länder, in: Festschrift für Eduard Kern (1968), S. 65–67 Ein Orwellsches Experiment, ZRP 1968, S. 11 Dürig/Ebers, Zur verfassungsverändernden Beschränkung des Post-, Telefon- und Fernmeldegeheimnisses (1969), S. 5–27 Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III des Grundgesetzes (ein Plädoyer), in: Festgabe für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag (1971), S. 41–53 Kommentierung zu Art. 3 (1973), in: Maunz/Dürig. Grundgesetz. Kommentar Zeit und Rechtsgleichheit, in: Gernhuber (Hg.), Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen (1977), S. 21 –46
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Weitere Publikationen finden sich in: Günter Dürig, Gesammelte Schriften 1952–1983, herausgegeben von Walter Schmitt Glaeser und Peter Häberle in Verb. mit Hartmut Maurer (1984).
LXI Der Elefant – Ein Gespräch mit Peter Schneider (1920–2002) über das Recht. Erhard Denninger
I. In einem Brief vom 8. Dezember 1994 setzte sich Peter Schneider kritisch mit meinem Vorschlag auseinander, die ‚alteuropäische‘ Menschenrechtsbasis von Freiheit/Gleichheit/und Brüderlichkeit durch eine neue Triade von Vielfalt/Sicherheit/und Solidarität zwar nicht einfach zu ersetzen, wohl aber zu ergänzen. „Ich selber“, schrieb er, „habe immer die ‚Dialektik‘ von Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat und diejenige liberaler und demokratischer Freiheit im Rahmen der Solidarität … als Lehrer ‚behauptet‘ und ‚bewiesen‘.“ Und dann folgt sein Ausruf, auf den es mir heute hier ankommt: „Wunderbar: Wir haben nicht ausdiskutiert!“ Dieser Satz ist nicht nur für den Menschen Peter Schneider und seine Grundeinstellung zu anderen Menschen charakteristisch; vielmehr möchte ich ihn auch als Schlüssel zum Verständnis des wissenschaftlichen Werks Peter Schneiders gebrauchen. Das erste, was jener Satz: „Wunderbar: Wir haben nicht ausdiskutiert!“ zum Ausdruck bringt, ist der dialogisch-dialektische Charakter, der nicht nur Schneiders persönlichen Umgang mit Kollegen und Freunden, Assistenten und Studierenden geprägt, sondern der auch vom Anfang bis zum Ende die Methode seines wissenschaftlichen Arbeitens bestimmt hat. Schneider braucht das antwortende, den produktiven Zweifel thetisch-antithetisch vorantreibende personale Gegenüber; und da wird es fast zufällig, ob das Buch oder die Abhandlung den Namen des Dialogpartners im Titel oder nur im Untertitel führt oder überhaupt erst im Text offenbart. Das beginnt weitausgreifend mit der Dissertation des 28-jährigen über „Ignaz Paul Vital Troxler und das Recht“, setzt sich mit differenzierenden, die jeweilige Problematik dialektisch zuschärfenden Titeln fort wie „Pascals Plaisante Justice“ (1950), oder „Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt“ (mit seiner Kritik 1957 in Deutschland übrigens ein außerordentlich mutiges Buch) oder „Maß und Gerechtigkeit. Zu Albert Camus‘ Rechts- und Staatsauffassung“ (1962). Eine neue, höhere Stufe der Werkbezeichnung jenseits der Spannung von personbezogener oder sachbezogener Prob-
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lemfassung erreicht Peter Schneider noch vierzig Jahre später mit seiner letzten Arbeit, deren Titel er eigenhändig illustriert hat. Er lautet: „Der Elefant. Goethe über Recht, Staat und Gesellschaft in Faust II“. Der „Elefant“, dem der Dichter im ersten Akt im Maskenzug in der Kaiserlichen Pfalz einen nur kurzen, wenngleich wichtigen Auftritt gewährt und ihn auch nur als „den lebendigen Kolossen“, als einen „Berg“, „ein Haupt mit langen Zähnen, Schlangenrüssel“ apostrophiert, (Verszeilen 5445, 5397), dieser Elefant wird in Schneiders Interpretation zu einem „reinen“, situationsunabhängigen Symbol für den Kerngedanken nicht nur von Goethes, sondern vor allem auch seiner eigenen Rechts- und Soziallehre. Darauf ist zurückzukommen. Wer den äußerlichen Publikations-, Zitations- und überhaupt Wissenschaftsbetrieb in Deutschland miterlebt, wer insbesondere die Fachborniertheit mancher Kollegen kennt, die sich zwar Staatsrechtslehrer nennen, sich aber doch nur im Baugesetzbuch, im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz oder im Länderfinanzausgleich wirklich auskennen, die zwar die Interdisziplinarität als Lippenbekenntnis parat halten, aber über „Studium generale“ und – nach ihrer Meinung – ähnlichen Schnickschnack immer schon inwendig und nachhaltig die Nase gerümpft haben, der wird, zumal im Zeitalter der elektronischen Leitvokabeln, die Frage der Titelgebung bei Fachveröffentlichungen nicht für ganz zweitrangig erachten. Peter Schneider hat solche Erwägungen stets souverän ignoriert; die bewusste Hinwendung zu Schriftstellern der schönen Literatur, die Explikation seiner Ideen über Recht und Macht, Gerechtigkeit, Bürgerfreiheit und Staatsgewalt im Rahmen liebevoll ausgemalter Textinterpretationen war für ihn nie Gegenstand bloßer „Freizeitbeschäftigung“, vielmehr stand sie nicht zuletzt unter dem rechtspädagogischen Postulat, „das, was alle angeht, durch Literatur allgemein zugänglich zu machen.“ Mehr noch: „Ein literarisch unerfahrener, ein unbelesener Jurist“, sagt Schneider, „ist ein Sicherheitsrisiko, da ihm eine Hauptquelle der menschlichen Erfahrung verschlossen ist.“1 Unsere heutige Erinnerung möge dazu beitragen, dass jüngere Juristen beizeiten auf den Schatz an rechts- und staatstheoretischen Erkenntnissen aufmerksam werden, der in den Literatur-Studien ja gar nicht verborgen ist, vielmehr glänzend zu Tage liegt. Ein Zweites und ein Drittes möchte ich an jenen schlichten Eingangssatz anknüpfen, der hier als Interpretationsschlüssel dient. Das Zweite ist die Feststellung, dass der Dialog, das Rechts-Gespräch mit seinem Für und Wider noch nicht an sein Ende gekommen ist, dass es offen ist und sein Ausgang im Ungewissen bleibt. Die Sache ist noch nicht „ausdiskutiert“, noch nicht „erledigt“. Und mit dem Dritten, das seinen Ausdruck in dem Prädikat „wunderbar“ findet,
1 P. Schneider, „… ein einzig Volk von Brüdern“, Vorwort, S. 10.
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wird dieser Sachverhalt ins Normative gewendet: Es ist wichtig und gut, dass der Dialog, der den Spannungsbogen zwischen einander widerstreitenden Prinzipien aufbaut, nicht vorschnell zu dem einen oder dem anderen Pol hin abgebrochen wird, dass etwa das Recht nicht mit der Macht identifiziert wird, weder im Zeichen des als überlegen behaupteten Geschichtsbewusstseins einer Klasse oder einer Rasse noch irgendeines sich absolut setzenden Offenbarungswissens. Der Spannungsbogen stürzt aber ebenso ein, wenn Recht und Macht, um der Identifikation zu entgehen, im Verhältnis einer wechselseitig „unbegreiflichen“ Antinomie zueinander gesehen werden. Wenn der Staat etwa in der Theorie Hans Kelsens, – Schneider nennt ihn einen „verschämten Altliberalen“2 – mit der Normenordnung identifiziert wird, dann kann der Staatsbegriff die jeweiligen Gehalte der Macht nicht mehr begreifen oder, mit Schneiders Worten, „die reine Rechtslehre nimmt die unreine Macht überhaupt nicht wahr.“3 Dem Recht kommt dann im Verhältnis zur Macht keine Eigenwirkung zu, vor allem nicht im Sinne der Machtbegrenzung. „Kelsens Theorie erlaubt der Jurisprudenz einerseits die Sphäre der Macht zu ignorieren und andererseits eben vor ihr zu kapitulieren.“4 Die Aufrechterhaltung des Dialogs über Recht und Macht, Recht und Unrecht, Bürgerfreiheit und Staatssicherheit darf nicht mit einem wohlfeil relativistischen Sowohl-als-auch und erst recht nicht mit dem „ewigen Gespräch“ im Sinne eines postmodernen „anything goes“ verwechselt werden. Denn nur wenn die Macht durch das Recht begrenzt, in diesem Sinne also „ent-mächtigt“ wird und wenn andererseits das ideale, der Sphäre des Geistigen zugehörige, an sich ohnmächtige Recht durch seine Verbindung mit Macht „er-mächtigt“ wird, nur dann kann die Freiheit des Einzelnen als rechtliche gesichert werden, kann er selbst wie seine Mitmenschen davor bewahrt werden, machtbesessen seinen Wunsch- und Machtträumen oder aber seinen Angstträumen anheimzufallen. Dass es gerade die condition humaine ausmacht, den Spannungsbogen zwischen Recht und Macht auszuhalten, stets in der Versuchung und Gefahr, das freiheitseröffnende Maß zu verfehlen, hat der kaum dreissigjährige Peter Schneider am Beispiel von Blaise Pascals „plaisante justice“ erläutert. Kein zweiter neuzeitlicher Denker wurde so tief wie Pascal von der Erkenntnis erschüttert, dass die Gesetze fehlsames, zeit- und ortsgebundenes Menschenwerk und nicht göttliche Offenbarung oder Ausfluss einer überzeitlichen Gerechtigkeitsidee sind. Eine Erschütterung, vergleichbar mit der Kopernikanischen Wende, die wir heute in ihrer Intensität
2 Über das Verhältnis von Recht und Macht. In Festschrift für G. Leibholz, hrsg. von Bracher, Dawson u. a. 1966, Band 1, S. 573 ff., 588. 3 Ebenda, S. 589. 4 Ebenda S. 590.
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gar nicht mehr nachvollziehen können. Der ursprünglich von Montaigne (III,13) stammende, von Pascal kritisch rezipierte Satz über den „mystischen Grund der Autorität“ (le fondement mystique de son autoritè) der Gesetze, der Jacques Derrida zu einer tiefschürfenden Dekonstruktion der Begriffe ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Gewalt‘ angeregt hat, dieser Satz führt Schneider zur Bestimmung des Rechts aus der doppelten Bestimmtheit des Menschen, seiner „misère“ und zugleich seiner „grandeur“ („l’ homme connaît qu‘ il est misérable: il est donc misérable, puisqu’il l‘ est; mais il est bien grand, puisqu‘ il le connaît.“)5 Der sich dieser seiner „duplicité“ bewusste Mensch muss akzeptieren, „dass die sich gerecht wähnende Macht immer schrankenlos, d. h. ungerecht sei, und dass nur die sich als Macht erkennende Macht Baugrund der gerechten Friedensordnung zu sein“ vermag. „Erkennt der Mensch allein seine Größe und verkennt er sein Elend, so verfällt er der Hybris; erkennt er allein sein Elend und verkennt er seine Größe, verfällt er der Verzweiflung.“.6 Was Peter Schneider – und ich darf hier vielleicht anfügen: auch mich – an der Pascal’schen Position der „plaisante justice“ so fasziniert, ist gerade das Aushalten der Spannung, trotz oder wegen klarer Einsicht in das Radikal-Böse des Menschen, die Nichtauflösung der Polarität zugunsten des einen Poles, das Nichtverschwindenlassen der Gerechtigkeit im strudelnden Sog der Macht. „Plaisante“, sei sie, la justice, lächerlich (ridicule), vielleicht sogar mit einer leichten Konnotation des scherzhaft-lachhaft-Amüsanten, aber sie bleibt immerhin Gerechtigkeit und geht – anders als bei Thomas Hobbes – nicht einfach auf im „Auctoritas non veritas facit legem.“ Für Pascal ist entscheidend, dass „justice“ und „force“ dauerhaft zusammenkommen, denn nur daraus kann, Frieden, ‚le souverain bien‘, erwachsen. „Da man es nicht dahin hat bringen können, dass es (für den Menschen) ein Zwang (ein Muss) ist, der Gerechtigkeit zu gehorchen, hat man es so gemacht, dass es gerecht sei, der Gewalt zu gehorchen; da man die Gerechtigkeit nicht stark machen kann, hat man die Gewalt (die Stärke) gerechtfertigt, auf dass Gerechtigkeit und Gewalt vereinigt würden, und damit Friede werde, der das höchste Gut ist.“7 Heute, etwa 350 Jahre später ist dieses „die Gerechtigkeit starkmachen“ – fortifier la justice – eine ebenso aktuelle, ungelöste Aufgabe wie damals. An dieser Stelle möchte ich einen großen Sprung wagen, der ein Gelehrtenleben umgreift: den Sprung von der frühen Interpretation der Pascal’schen Pensées zu der letzten Beschäftigung mit Goethes Faust. Der Sprung kann nur gelingen,
5 Blaise Pascal, Pensées, Nr. 314. 6 Schneider, Pascals Plaisante Justice, ARSP Bd. XXXIX (1950), S. 79 ff., 89. 7 Pascal, Pensées, Nr. 238. Übersetzung von E. D.
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wenn und weil die sich abzeichnenden Grundkonstanten des Schneider’schen Rechtsdenkens ihre Tragfähigkeit unter Beweis stellen. In dem schon erwähnten Masken- oder Fastnachtszug treten neben dem von der KLUGHEIT „mit feinem Stäbchen“ genau gelenkten Elefanten zwei in Ketten gefangene Frauenfiguren auf. „Ach wie gern in jeder Richtung/Flöh‘ ich zu der Welt hinaus;“ klagt die eine, während die andere „bald gesellig, bald alleine/Frei durch schöne Fluren wandeln,/Nach Belieben ruhn und handeln/und in sorgenfreiem Leben/Nie entbehren, stets erstreben;“ möchte. Die Klugheit stellt die beiden vor als die FURCHT und die HOFFNUNG und zwar mit den Worten: „Zwei der größten Menschenfeinde, Furcht und Hoffnung, angekettet, Halt ich ab von der Gemeinde; Platz gemacht! ihr seid gerettet.“ Furcht und Hoffnung – Schneider nennt sie „Todfeinde des Menschengeschlechts“ – müssen den Elefanten in Ketten begleiten, weil sie sonst VIKTORIE, die hoch oben auf dem Koloss thronende „Göttin aller Tätigkeiten“, in ihrer Ausstrahlung, in ihrer segensreichen Wirksamkeit beeinträchtigen könnten. Beide, Furcht und Hoffnung, werden hier als negative, die kluge Tätigkeit hemmende Befindlichkeiten des Menschen vorgestellt, so, wie es in den Zahmen Xenien heißt: „Was ist ein Philister? Ein hohler Darm,/Mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt. Dass Gott erbarm!“ Die Katastrophenmentalität der einen, der Schlaraffenlandleichtsinn der anderen bezeichnen gleichermaßen Defizienzformen des Menschlichen. Schneider hebt eine negative Gemeinsamkeit besonders hervor: „Für die eine wendet sich alles zur Vernichtung; für die andere alles zur Erfüllung. Beide aber stehen in der Gewissheit. Und so geht von beiden eine Kraft aus, welche die ‚Gemeinde‘ in Wirrwahn führt und zerstört.“8 Wieder ist es die falsche, trügerische Gewissheit, hier die einer hoffnungslos pessimistischen, dort die einer leichtfertig optimistischen Grundhaltung, welche den Einzelnen ebenso wie die ‚Gemeinde‘, also das Gemeinwesen, beschädigt. Und mit „dem ganzen Ernst einer Abschlussfrage“ müsse gefragt werden, ob nicht letztlich auch Faust selbst im Bann der Zerstörung wider Vernunft und Klugheit stehe. „Das wäre dann der Fall, wenn er die Zukunft mit letzter Gewissheit ins Zeichen der menschlichen Glückserwartung und Glückserfüllung stellte.“
8 Schneider, Der Elefant, S. 29 f. Auch zum Folgenden.
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II. Bevor wir uns, sofern dies überhaupt möglich ist, über die Antworten von Faust, von Goethe und von Peter Schneider auf die „Abschlussfrage“ Gewissheit verschaffen, wollen wir noch einige Blicke in die Werkstatt des Staatsrechtlers Schneider tun. Vielleicht steigert dies nicht nur die Spannung, sondern auch die Plausibilität der Schlussantwort. Dabei verzichte ich auf jede werkbiographische Chronologie, sondern folge dem, was mir „gegenwärtig“ ist – ich könnte auch sagen: dem, was ich von Schneider gelernt habe. Denn nur, was in irgend einer Gestalt gegenwärtig, mithin lebendig ist, hat man wirklich gelernt. Im Jahr 1970 hat Schneider unter dem Titel „Recht und Macht. Gedanken zum modernen Verfassungsstaat“ eine Sammlung von Aufsätzen veröffentlicht, die er, wohl mit Recht, zu seinen wichtigsten Arbeiten zählte. Thematisch bewegen „sich alle um die Frage der Möglichkeit des Rechtsstaates in der Gegenwart und in der Geschichte überhaupt.“9 (1) Verstehen wir „Rechtsstaat“ in der heute gebräuchlichen Terminologie als ‚freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaat‘, so trifft man wohl den Kern seiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Feststellung, dass sie zentral um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates kreist. Damit wird zunächst das Verhältnis von rechtsdogmatischer und rechtsphilosophischer Arbeit klargestellt. Beide Weisen der Beschäftigung mit dem Recht sind durch ihren Gegenstand aufeinander verwiesen, wobei ein gemeinsames Strukturmerkmal den Brückenschlag von der Theorie des Rechts zu seiner Praxis, nämlich seiner angewandten Dogmatik, besonders erleichtert. Dieses Merkmal erkennt Schneider in dem Unfehlbarkeitsverbot, welches die von Hans Albert entwickelte, am Prinzip der kritischen Prüfung orientierte Methode eines konsequenten Fallibilismus ebenso kennzeichnet wie – auf den Gegenstand bezogen und institutionell begriffen – die „Struktur eines freiheitlich verfassten Gemeinwesens, in welcher die unfehlbare Instanz keinen Raum hat.“10 Also auch hier, schon hier: Gewissheiten ja, es mag sie geben, aber doch nur als vorläufige, als ein- und überholbare, revidierbare, durch die Anerkennung der Irrtumsmöglichkeit als human ausgewiesene Gewissheiten. Hier deutet sich an, was sich später zu der lebenslang durchgehaltenen Formel verdichtet: Der Rechtsstaat ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass er Unrecht nicht nur verfolgt, sondern auch selbst begehen kann. In einem Vortrag im Mainzer Studium generale im Sommer 1995 zum Thema „Rechtsstaat und Unrechtsstaat“ und mit
9 Schneider, Recht und Macht. Gedanken zum modernen Verfassungsstaat, Mainz 1970, S. 11. 10 Derselbe, ebenda, Vorwort, S. 15.
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Blick auf Schwarzweißmalereien in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung heißt es: Der Rechtsstaat darf nicht als der „‚Wir-sind-im-Recht-Staat‘ interpretiert werden … Mit einer solchen Interpretation werden sämtliche Möglichkeiten der Selbstrechtfertigung, der Unfehlbarkeits- und Unantastbarkeitsstrategien freigesetzt und in hohem Maße die Bereitschaft zu aggressiver Diskrimination entbunden. Der Rechtsstaatsbegriff setzt genau andersherum an: Rechtsstaaten sind Staaten, die mit der Gefahr des eigenen Unrechts rechnen und deshalb die Ausübung der Staatsmacht in ein System von Machtkontrolle einbinden.“ (17 f.) Das Eigentümliche des freiheitlichen Rechtsstaats begreift man nur, „wenn der Staat prinzipiell als mögliche Quelle des Unrechts gedacht wird.“11 (2) Die Entsprechung von Methode und Gegenstand im Zeichen des kritischen Fallibilismus hat Schneider schon 1961 in seinem Vortrag vor der Staatsrechtslehrer-Vereinigung über „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ praktiziert – und damit zahlreiche der zuhörenden Kollegen in hilfloses Erstaunen versetzt. Wer nämlich erwartet hatte, etwas über die Brauchbarkeit der zivilistischen Auslegungs-Canones in der sich gerade erst so richtig stabilisierenden westdeutschen Verfassungsjudikatur zu erfahren, sah sich mit zwei unmittelbar aus der „Struktur der freiheitlich-demokratischen Verfassung“ gewonnenen „Leitgesichtspunkten“ der Interpretation konfrontiert.12 Der eine betraf das Gebot, Kompetenz- und überhaupt organisatorische Vorschriften nicht nur im Hinblick auf „funktionelle Richtigkeit“ hin auszulegen – ein Gedanke, den das Bundesverfassungsgericht erst in seinem Pershing-Stationierungs-Urteil 198413 mit seinem vollen Gewicht rezipiert hat- sondern, wichtiger noch, die Auslegung solcher Normen „im Hinblick auf die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger“, also ihrer Grundrechte, vorzunehmen. Mit dieser Forderung, die er 1961 nicht im einzelnen entfalten konnte, war Schneider der Entwicklung des deutschen Verfassungsrechts um Jahre voraus. Ich darf daran erinnern, dass das Thema der „Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren“ erst 1978 durch den Bericht Konrad Hesse’s zur IV. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte voll in das Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gedrungen ist und dass es 1979 des berühmt gewordenen Sondervotums der Verfassungsrichter Simon und Heußner im Mülheim-Kärlich-Beschluss14 bedurfte, um die Grundrechtsrelevanz
11 Ebenda, S. 220. 12 Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 20, Berlin 1963, S. 1 ff., 31. 13 BVerfGE 68, 1, 86. 14 BVerfGE 53, 30, 71 ff..
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des Organisations- und des Verfahrensrechts endgültig in der deutschen Verfassungsrechtsprechung zu etablieren. – Mit dem zweiten Leitgesichtspunkt zur Verfassungsinterpretation hat Schneider eine bis heute nicht abgeschlossene Grundsatzdiskussion angestoßen, die allerdings zum Teil weniger von Entscheidungszwängen in konkreten Situationen als von unsorgfältiger Lektüre oder sogar von nicht unwillkommenen Missverständnissen genährt wurde. Die Rede ist hier von der Ausgangsvermutung zugunsten der Freiheit, von der Maxime: In dubio pro libertate (1960). Ausgehend von der Kantischen Position, dass über die Freiheit des menschlichen Willens keine theoretische Gewissheit zu erlangen ist, wohl aber in praktischer Absicht das Freiheitspostulat als Sollenssatz zur Basis der Vereinigung einer Menge von Menschen, von Freien und Gleichen, unter Rechtsgesetzen werden kann, ist das Grundverhältnis zwischen libertas und auctoritas, zwischen Freiheitssphäre und staatlicher Zuständigkeit in einer freiheitlichen Verfassungsordnung im Sinne einer Grundvermutung zugunsten der Freiheit zu bestimmen. Dies bedeutet nicht, dass im Konfliktsfall immer zugunsten der Freiheit entschieden werden muss – in dieser Übertreibung wird die Maxime von ihren Kritikern oft missverstanden – wohl aber, dass im Grundrechtsbereich das Freiheitsprinzip Vorrang hat, sofern der Gesetzgeber nicht ausreichende Gemeinwohlgründe vorweisen kann, welche eine Beschränkung der Freiheit zu rechtfertigen vermögen.15 Hinsichtlich der Anerkennung dieser Ausgangslage gibt es keinen Kompromiss, die „Frage nach dem Primat der Zuständigkeit des Staates oder der Freiheit kann nicht in einem dialektischen et/et offenbleiben.“16 Namhafte Kritiker der Maxime haben ihr, in teilweise schwer nachvollziehbarer Weise, einen Sinn beigelegt, der sie (1) entweder als Ausdruck eines überholten altliberal-individualistischen Menschenbildes oder (2) als Geringschätzung und Gefährdung des Sozialstaatsgedankens oder (3) gar als Gefährdung der „Einheit der Verfassung“17 erscheinen lassen musste. Nur wenn man, etwa mit Kriele18 bei „in dubio pro libertate“ auf das „dubium“, auf die Ungewissheitslage vollkommen verzichtet und statt dessen die Maxime im Sinne einer Minimierung staatlicher Gestaltungsmöglichkeit bei gleichzeitiger Maximierung individueller Spielräume missversteht, nur dann kann man bei der Behauptung enden, die Maxime könne auch „Verbrechen begünstigen oder freiheitsbeeinträchtigende Wirtschaftsmacht fördern.“ Demgegenüber wird man
15 E. Denninger, in Alternativ-Kommentar zum GG, 3. Aufl. Neuwied 2001, Vor Art. 1, Rdn. 13. 16 Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, a. a. O., S. 34. 17 So: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rdn. 72. 18 M. Kriele, in HbStR V, 2. Aufl. Heidelberg 2000, § 110, Rdn. 2.
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mit Befriedigung feststellen, dass der mit der Freiheits-Maxime eng verwandte Gedanke der „Grundrechtsoptimierung“ aufgrund einer „wertenden Rechtsvergleichung“ sich bei der schwierigen Auslegung des Art. 6 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union, nämlich bei der Konkretisierung des gemeinsamen europäischen Grundrechte-Standards immer stärker zur Geltung bringt.19 Lassen Sie mich diese Bemerkungen über Verfassungsinterpretation und in dubio pro libertate mit einer Beobachtung abschließen, für die ich mir als Student in Peter Schneiders Seminar sicherlich ein aufmunterndes Lob verdient hätte. Als die beiden entscheidenden Leitgesichtspunkte der Interpretation einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Verfassung nennt Schneider, wie wir gesehen haben, die Bedeutung organisatorischer Vorschriften, in erster Linie der Gewaltenteilung, auf der einen Seite und die Rolle der Freiheitsrechte auf der anderen. Genau diese beiden Elemente: Gewaltenteilung und Freiheitsrechte, sind es aber, welche die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, dieses Ur-Dokument moderner Rechtsstaatlichkeit, als die absolut unverzichtbaren Essentiale einer freiheitlichen Verfassung bezeichnet. „Art. 16. Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht bestimmt ist, hat keine Verfassung.“ Schneider zitiert diese Vorschrift nicht. Aber die Konvergenz der Gedanken ist ein wichtiges Indiz für ihre Richtigkeit. (3) Es ist kaum vorstellbar, dass jemand, dessen ganzes Bemühen immer wieder den Grundfragen nach dem Verhältnis von Recht und Macht, Recht und Unrecht, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, von Freiheitsermöglichung und Rechtssicherheit gilt, nicht auch die Außenbeziehungen der Staaten untereinander, kurz: das Völkerrecht, in den Blick genommen hätte. Unsere Erwartung wird nicht enttäuscht und ich darf hinzufügen: Peter Schneider macht es sich gerade auf diesem Felde nicht leicht, weil er sich nicht mit der immer noch gängigen (freilich zunehmend brüchig werdenden) Dichotomie von Innen und Außen, von Bürger als Rechtssubjekt oder Staat als Rechtssubjekt begnügt, die es den Juristen bisher ermöglicht hat, sich sonntags als Völkerrechtler und montags als Staats- und Verwaltungsrechtler zu gerieren. Nein, Schneider quält sich sozusagen mit der Bemühung ab, die Grundgedanken seiner Rechtsstaatstheorie für ein modernes Völkerrechtsverständnis fruchtbar zu machen. Nur so kommt man überhaupt dazu, nach der Relevanz des Begriffspaares Rechtsstaat/Unrechtsstaat für den Staatsbegriff der allgemeinen Staatslehre einerseits und des Völkerrechts ande-
19 Vgl. A. Bleckmann, Europarecht, 1989, S. 88
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rerseits zu fragen.20 Mit einer scheinbar so abstrakten Fragestellung werden aber die Weichen für die Beantwortung sehr konkreter, ja bedrückend aktueller Fragen gestellt: Wie ist eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu rechtfertigen? Kann, und unter welchen Umständen, der Einsatz von „Massenvernichtungswaffen“ zur Verteidigung, oder gar angriffsweise, oder doch im Wege des „preemptive strike“ gerechtfertigt sein?21 Wodurch unterscheidet sich, so fragte schon der hl. Augustinus, eine Räuberbande von einem Staat? Und kann ein „Verbrecherstaat“ – Schneider übernimmt diesen Begriff von Karl Jaspers – anerkanntes Mitglied der universellen Völkerrechtsgemeinschaft sein? Der Terminus „Schurkenstaat“ war damals noch nicht gebräuchlich. Aber mit außerordentlicher Klarheit und Konsequenz sucht Schneider in diesem buchstäblich wie im übertragenen Sinne „verminten“ Gelände seinen Weg zwischen zwei unheilvollen Polarisierungen, zwischen dem Risiko der Juridifizierung des Freund-Feind-Denkens auf der einen Seite und der Gefahr des „resignativen Positivismus“ auf der anderen. Im ersten Falle hält man zwar an der Bewertung des Staates an überpositiven Maßstäben fest, doch bringt man mit der Diskriminierung und Kriminalisierung innen- wie außenpolitischer Gegner die eigene Position in die Gefahr der Selbstgerechtigkeit. Man riskiert, dass „in der juristischen Entgegensetzung zwischen Rechts- und Unrechtsstaat der Rechtsstaat selbst Substanzverluste erleidet.“22 Heute, angesichts neuer Kriegsgefahren im Nahen Osten gewinnen diese Überlegungen Peter Schneider’s, die er schon 1957 in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt’s Kritik an der so genannten Wendung zum „diskriminierenden Kriegsbegriff“ entwickelt hat, eine geradezu beklemmende Aktualität. Es geht im Kern um den schon von Kant (1795) in einer kühnen Vision auf den Begriff gebrachten Menschheitstraum vom „Ewigen Frieden“, um die Frage der Wünschbarkeit und nach den Bedingungen der Möglichkeit einer universellen Ächtung des Krieges, jedenfalls des Angriffskrieges. Erst das Verbot des Krieges und damit seine Kriminalisierung, so aber die verführerische These von Carl Schmitt, reißt die schützenden Zäune des ius publicum Europaeum gegen Kriegsgewalt ein, setzt die Ursachen für den totalen, den Vernichtungskrieg des 20. Jahrhunderts. An die Stelle des gehegten klassischen Duellkriegs – Schmitt nennt die Zeit von 1815 bis 1914 und bezeichnet ihn als „die höchste Form der Ordnung, deren
20 P. Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Ihre Relevanz für den Staatsbegriff der allgemeinen Staatslehre und des Völkerrechts. Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, Kiel 1984. 21 Wie aktuell die Problematik heute (2012) ist, zeigt der Iran-Israel-Konflikt. 22 S. Note 20, S. 11.
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menschliche Kraft fähig“ sei23 – trete die Möglichkeit zu „nihilistischen Haßund Racheaktionen“.24 Wenn der Feind nicht mehr der justus hostis ist, sondern zum Verbrecher wird, scheint der Einsatz der furchtbarsten Vernichtungsmittel gerechtfertigt. Und:.„Die Steigerung der technischen Vernichtungsmittel reißt den Abgrund einer ebenso vernichtenden, rechtlichen und moralischen Diskriminierung auf … Indem man heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede, Verbrecher und Schädlinge verwandelt, muss man auch die Rechtfertigung der Methoden dieses ‚police bombing‘ steigern. So ist man gezwungen, die Diskriminierung des Gegners ins Abgründige zu steigern.“ Soweit Carl Schmitt im Jahr 1950. Peter Schneider sieht die hier angesprochenen Gefahren in aller Schärfe, auch die Gefahr, dass die gerechte Sache, die Verteidigung des Rechtsstaates, aber auch der Schutz der Menschenrechte über die eigenen Territorialgrenzen hinaus, leicht zur selbstgerechten Sache, zum selbstgerechten Krieg denaturieren kann.25 Doch weder in der Ursachenanalyse noch in den Konsequenzen teilt er die Schmitt’sche Konstruktion. So wenig wie das Kriegsverbot des Völkerbundspazifismus und des Kellogpaktes (1928) die Ursache für die Totalisierung des Zweiten Weltkrieges war, so sehr lassen es heute die modernen Vernichtungsmittel als ein Verbrechen erscheinen, einen Angriffskrieg auszulösen. Diese Vernichtungsmöglichkeiten unterscheiden das „klassische Kriegsrecht“ mit seinem jus belli vom heutigen Kriegsrecht grundsätzlich.26
III. Die Versuchung ist groß, Schneiders Gedanken zur Bewahrung der Universalität einer völkerrechtlichen Ordnung im Hinblick auf die gegenwärtige Situation zu extrapolieren. Der Versuchung muss hier widerstanden werden, damit wir unsere Aufmerksamkeit noch einmal seinem letzten großen Thema zuwenden können, dem „Elefanten“, diesem komplexen Symbol für das immer gefährdete Voranschreiten der praktischen Vernunft. Aus der Fülle der Bilder und Gedanken, die Peter Schneiders Interpretation des Faust II aufleuchten lässt, seien zwei hier besonders festgehalten. Der alte Faust agiert und stirbt, mit Blindheit geschla-
23 C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius publicum Europaeum, 1950, S. 159. Vgl. auch dens.,Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, (1937/38), jetzt in: Ders., Frieden oder Pazifismus?, hrsg. v. G. Maschke, Berlin 2005, S. 518 ff. 24 Ders., Der Nomos der Erde, s. 298 f. 25 P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 293. 26 Ders., ebenda, S. 292.
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gen, als planender und rücksichtslos unternehmender Technokrat. Das Landgewinnungs- und Siedlungsprojekt, durch Dammbau und Sumpftrockenlegung den Lebensraum für „viele Millionen“ (Versz. 11563) zu schaffen, muss durchgezogen werden, auch wenn Philemon und Baucis als Opfer einer Zwangsumsiedlung dabei zugrunde gehen. Das Verhältnis des Unternehmers Faust zu seinen Arbeitern ist, ganz hierarchisch, das von Herr und Knecht. „Dass sich das größte Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände.“ sagt Faust. Aber, so betont Schneider, „Goethe ist nicht Faust“. Goethe sieht die Lücke, die zwischen „fremdbestimmter Arbeiterschaft und selbstbestimmter Bürgerschaft“ klafft. „Er, der Geheimrat und Bildungsbürger, setzt überraschend alles auf den Aufschwung, auf den Schwung von unten, der besonnen und kraftvoll eingesetzt, im Sinn der Überwindung innerer und äußerer Gefahr konkretisiert werden muss. So bildet das Prinzip Demokratie das Fundament seines Denkens“.27 Ich kann mir vorstellen, dass die Kühnheit dieser These der Faust- und überhaupt der Goethe-Forschung Anlass zu lebhafter Auseinandersetzung bieten wird. Mit dem zweiten Bild kehre ich abschließend zu meinem Eingangszitat zurück. Es ist das Bild der Wette, die ja nicht nur vom Prolog im Himmel an, also unter Einsatz Gottes, die ganze Faust-Tragödie konstituiert, sondern die auch die geschichtlichen Entscheidungssituationen, etwa die Lager der Heere Cäsars und des Pompejus in der Nacht vor der Schlacht auf den Pharsalischen Feldern auszeichnet. Das Wesentliche an der Wette ist nicht ihr Ausgang, sondern das von der Hoffnung auf den Sieg getragene Aushalten der Ungewissheit. Entscheidend ist, sagt Schneider, „die hoffnungsbestimmte Vermutung, die nie in Gewissheit gerinnt, dass derjenige gewinnt, der auf den Sieg der sich selbstbestimmenden Mitmenschlichkeit und Mitbürgerlichkeit setzt.“ Darauf setzt Goethe, und ich darf hinzufügen: Darauf setzt auch Peter Schneider, „dass in hoffender Ungewissheit der Schritt-vor-Schritt-Gang, der gelassene Gehrhythmus des Elefanten, den steilen Wegpfad des Lebens weiterführt.“28
Lebensdaten Peter Schneider wurde am 10. Juli 1920 als Sproß einer altangesehenen Zürcher Familie dort geboren. Er starb in seiner Vaterstadt am 23. Juli 2002. Nach dem
27 Schneider, Der Elefant, Freiburg u. a. 2009, S. 37. 28 Ders., ebenda, S. 32.
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Studium und der Promotion bei Dietrich Schindler sen. mit einer Arbeit über die Rechts- und Staatsphilosophie des Mediziners und Philosophen Ignaz Paul Vital Troxler zog Schneider 1949 nach Tübingen, wo er zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft bei Carlo Schmid und später als Oberassistent am Leibniz-Kolleg tätig war. 1955 wurde er an der Bonner Juristenfakultät mit einer kritischen Arbeit zur Rechtslehre von Carl Schmitt habilitiert; Erstgutachter war Ernst Friesenhahn. Ein Jahr darauf nahm er den Ruf auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Mainz an. Trotz weiterer Rufe blieb er dieser Universität treu; 1969 wurde er zu ihrem Rektor und 1974, in schwieriger Zeit, zu ihrem ersten Präsidenten gewählt, ein Amt, das er bis 1980 innehatte. Lebenslang blieb er dem studium generale verbunden, erst in Tübingen im Leibniz-Kolleg, dann in Mainz als Leiter des Studium generale. Lebenslang beschäftigte ihn auch das Thema ‚Recht in der Literatur‘, dem er in zahlreichen Einzelstudien zu Schriftstellern von Dürrenmatt bis Camus, von Schiller und Goethe bis zu Balzac, Anna Seghers, Franz Kafka und vielen anderen nachging. Das Middlebury-College in Vermont/ USA ehrte ihn dafür mit der Würde eines Litt. Dr. h. c. Peter Schneider war von Herkunft und Bildung, Ausstrahlung und Temperament her der ‚geborene Präsident‘. Nur einige der Ehrenämter seien genannt, in denen seine ‚präsidialen Fähigkeiten‘ zum Tragen kamen: Präsident der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Vorstand der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission, Vorsitzender der Deutsch-Französischen Juristenvereinigung, Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Krebshilfe e. V., Vorsitzender der Deutschen Lesegesellschaft e. V., Mitglied des Rundfunkrates des Südwestfunks. Zahlreiche Ehrungen wurden ihm für seine Aktivitäten zuteil: Er war Ehrendoktor seiner Universität, erhielt den Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz, das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland; Frankreich ehrte ihn als Chevalier de l’ Ordre national de la Légion d’ Honneur. Mit seiner ersten Frau, Vera Ryschikoff Schneider, hatte er drei Kinder. Nach ihrem Tode 1996 heiratete er Gabriela Wettberg.
Auswahlbibliographie, chronologisch geordnet Ignaz Paul Vital Troxler und das Recht, Studien zur Staatslehre und Rechtsphilosophie, hrsg. von Z. Giacometti/D. Schindler, Heft 4, Zürich 1948. Pascales Plaisante Justice, ARSP Bd.XXXIX (1950), S. 79 ff. Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957. (AuN) Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart, AöR 82 (1957) S. 1 ff.
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In dubio pro libertate, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, hrsg. von E. v. Caemmerer u. a., Band II, Karlsruhe 1960, S. 263 ff. Maß und Gerechtigkeit. Zu Albert Camus‘ Rechts- und Staatsauffassung, Festgabe für Carlo Schmid, Tübingen 1962, S. 171 ff. Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL, Heft 20, Berlin 1963, S. 1 ff. (P.d.V.) Widerstandsrecht und Rechtsstaat, AöR 89 (1964), S. 1 ff. Das Recht auf die Heimat. Drei Vorträge. Prag, München 1965. Über das Verhältnis von Recht und Macht. In: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für G. Leibholz, hrsg. von Bracher, Dawson u. a., Band 1,Tübingen 1966, S. 573 ff. Pressefreiheit und Staatssicherheit, Mainz 1968. Recht und Macht, Gedanken zum modernen Verfassungsstaat. Mainz 1970. Mainz – Peking ‘73. Zeichnungen-Aufzeichnungen-Überlegungen, Mainz 1973. Staat im Recht – Recht im Staat. Staat. Rechtsstaat. Bürgerstaat. Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 83 (1982), S. 377 ff. Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Ihre Relevanz für den Staatsbegriff der allgemeinen Staatslehre und des Völkerrechts, Walther-Schücking-Kolleg, Kiel 1984. „… ein einzig Volk von Brüdern“, Recht und Staat in der Literatur, Frankfurt/M. 1987. Mainzer Republik und Französische Revolution, Mainz 1990. Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Studium generale, 75. Folge der Mainzer Universitätsgespräche, Vortrag am 21. Juni 1995. Dantons Tod und der Hessische Landbote, in: Festschrift für G. Roellecke, hrsg. von R. Stober, Stuttgart u. a. 1997, S. 317 ff. Der Elefant. Anmerkungen zu Goethes Sozial- und Rechtslehre in Faust II. Die erste Gesamtfassung. Unveröff. Ms. 2002. Der Elefant. Goethe über Recht, Staat und Gesellschaft in Faust II, Freiburg u. a. 2009
LXII Felix Ermacora (1923–1995) Christoph Schlintner/Gerhard Strejcek „Talent ist etwas, das uns Gott insgeheim gegeben hat und das wir offenbaren ohne es zu wissen“ Montesquieu, Gedanken [Mes penseés] No. 1428
I. Biographisches 1. Herkunft und Ausbildung Felix Ermacora wurde am 13. Oktober 1923 in Klagenfurt geboren,1 er war also gebürtiger Kärntner und verbrachte auch seine Kindheit vor Ort. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Ermacora stets als Tiroler wahrgenommen wurde, vielleicht wegen seines italienisch klingenden Namens. Doch finden sich auch im Süden Österreichs viele romanische Namen, da vom romanisch/italienisch dominierten Südwesten her eine Einwanderungswelle ab 1848 stattfand, wenn diese auch bedeutend schwächer war als der Zuzug aus Galizien, aus dem preußischen Norden und dem polnischen Nordosten.2 Ermacora war ein Enkel und seine Erben sind letztlich Urenkel der k.u.k. Monarchie. Die Familie stammt aus dem Trento, leidenschaftlich engagierte sich der gemäßigt national eingestellte und stets Versöhnung anstrebende Ermacora für die Autonomie Südtirols. Die Schullaufbahn absolvierte er in Villach, Graz und Regensburg, wo er 1942 maturierte.3 Darauf folgte ab 1945 ein Studium der Rechtswissenschaften in Innsbruck sowie 1948/49 ein zwei Semester umfassendes Doktoratsstudium an der Sorbonner juridischen Fakultät in Paris.4
1 Vgl. M. Nowak/D. Steurer/H. Tretter (Hrsg.), Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte. Progress in the Spirit of Human Rights. Festschrift für Felix Ermacora, 1988, S. 677. 2 Allgemein ist festzuhalten, dass viele Einwanderer aus dem Süden (Venetien, Trento) sich im 19. Jahrhundert in Kärnten niedergelassen haben, so auch die Vorfahren von Ermacora. Vgl. die Nachweise für die oberkärntner Region bei M. Maierbrugger, Die Geschichte von Millstatt, 1964/1996, S. 234. 3 Vgl. H. L. Stadler-Richter (Hrsg.), Die Evolution des öffentlichen Rechts. Felix Ermacora zum fünfzigsten Geburtstag, 1974, S. 295 bzw. M. Nowak u. a. (FN 1), S. 677. 4 Vgl. H. L. Stadler-Richter (FN 3), S. 295.
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2. Militärdienst Felix Ermacora diente im 2. Weltkrieg in der Deutschen Wehrmacht5 und zwar nach eigenen Worten in einer bayerisch-österreichischen Gebirgsjägereinheit, die auch am Balkan operierte. Als subalterner Offizier wurde er Zeuge von Vorgängen, die als Kriegsverbrechen einzustufen waren, was ihn tief emotional berührte. In diesem Zusammenhang darf auch Ermacoras Freundschaft mit dem umstrittenen Ernst Jünger nicht unerwähnt bleiben: Dieser schrieb ihm freundliche Widmungen und bewunderte Ermacoras Mut, wenn er auch attestierte, dass die Bemühungen des Menschenrechtsschutzes zum Teil vergeblich wären. Ebenso waren beide Referenten beim so genannten „Ennstaler Kreis“, Jünger im Herbst 1967, Ermacora elf Jahre später.6 Diese zweimal jährlich tagende – und bis heute noch als „Verein zur Förderung des Dialogs in Demokratie, Bildung, Wissenschaft und Kultur“ tätige – Institution konnte damals laut Alfred Ableitinger als „lose Versammlung von National-Konservativen aus den höheren Sozialschichten“7 angesehen werden. Stefan Karner bezeichnet den „Ennstaler Kreis“ – in seiner damaligen Gestalt – als „steirisches Begegnungsforum zwischen ehemaligen Christlichsozialen, Landbündlern, Vaterländischen, der ÖVP, ehemaligen Nationalen und Nationalsozialisten“. In weiterer Folge habe der Verein „über Jahrzehnte eine beachtliche intellektuelle Auseinandersetzung über Fragen der Gesellschaft, Politik“ hervorgebracht und sei zu einer „Plattform der Begegnung ehemals verfeindeter Lager“ geworden.8
3. Internationales politisches Wirken Ermacoras politisches Wirken ist, was seine immer noch sichtbaren und viel zu wenig gewürdigten Leistungen als Vermittler, Diplomat und Factfinder betrifft, sehr hoch einzuschätzen. Betrachtet man das kollektive Scheitern der westlichen Politik in Afghanistan, so ist sein UN-Mandat rückblickend betrachtet eine Sternstunde der UN-Diplomatie gewesen, es war dies nach Abzug der Sowjetunion
5 Vgl. H. L. Stadler-Richter (FN 3), S. 295 6 Vgl. http://www.ennstalerkreis.at/referenten-von-1967–1988/ (12.09. 2011). 7 A. Ableitinger, Politik in der Steiermark, in: ders./D. A. Binder (Hrsg.), Steiermark. Die Überwindung der Peripherie (= Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945 Bd. 6), 2002, S. 87. 8 Siehe zu diesen Zitaten S. Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik-Wirtschaft-Gesellschaft-Kultur, 2000, S. 400.
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1989,9 der dem Friedensvertrag von Genf 1988 folgte, die einzige Phase, in der dieses geschundene Land für kurze Zeit zur Ruhe kam und sogar einige zarte Hoffnungsschimmer am Horizont erschienen, ehe die Taliban seit 1994 nach einem verheerenden Bürgerkrieg über den Vielvölkerstaat herfielen, um ihn zu terrorisieren und für einen neuen, noch verheerenderen Invasionskrieg sozusagen aufzubereiten.10
II. Internationale Justiz und Menschenrechtsexperte Herausragend war seine Tätigkeit als Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission – Österreich hatte die EMRK 1958 ratifiziert – deren Agenden schon längere Zeit auf den EGMR übergegangen sind. Ebenfalls ist es in diesem Kontext wichtig zu erwähnen, dass Ermacora ab 1959 als österreichischer Vertreter in die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen entsandt wurde. Er galt spätestens nach der Herausgabe des „Handbuchs der Grundfreiheiten und der Menschenrechte“ (1964) als international anerkannter Menschenrechtsexperte und als solcher erhielt er mehrere Mandate der UNO, die ihn zum Sonderberichterstatter berief. Er führte „fact finding missions“ in Chile und in anderen südamerikanischen Staaten, die von rechtsgerichteten Diktaturen regiert wurden, in den Siebzigerjahren durch. Anfang der Achtzigerjahre wurde er vom UN-Wirtschaftsund Sozialausschuss beauftragt, nach einer ausführlichen Recherche vor Ort der Generalversammlung über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan zu berichten. Der ausführlichste von insgesamt fünf Berichten stammt aus dem Jahr 1985 und wurde ein Jahr später auch auf Deutsch publiziert.11 Dieser Bericht lag auch der UN-Generalversammlung im selben Jahr vor, wurde von ihr unter gleichzeitiger Verlängerung des Mandates genehmigt und führte zu einer eigenen UNResolution betreffend Afghanistan.12 Ermacoras Ausführungen geben Aufschluss darüber, dass er sich nicht nur mit der aktuellen politischen Lage, sondern auch
9 Vgl. dazu H. Berehns, Die Afghanistan-Intervention der UdSSR. Unabhängigkeit und Blockfreiheit oder Mongolisierung Afghanistans: Eine Herausforderung für das internationale Krisenmanagement, 1982. 10 Zur jüngeren Geschichte Afghanistans siehe etwa B. Chiari, Wegweiser zur Geschichte: Afghanistan, 2006, S. 50 ff. 11 Sonderberichterstatter F. Ermacora, Bericht über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, 1986. 12 UN-Resolution 1985/33.
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mit der Geschichte und der Mentalität des von ihm mehrfach bereisten Landes intensiv auseinander gesetzt hatte. Besondere Faszination übte die „Loya Jirgah“ auf ihn aus,13 eine Versammlung aller maßgeblichen Vertreter der afghanischen Pashtunen-Stämme. Sie hatte im zwanzigsten Jahrhundert nur in sehr großen Zeitspannen getagt, etwa 1964 anläßlich der Annahme der afghanischen Verfassung (noch zu Zeiten der konstitutionellen Monarchie) und dann zwei Jahrzehnte später in der postsowjetischen Ära, als die früheren Besatzer eine Satellitenregierung errichtet hatten, welche einen „Modernisierungsschub“ über das archaisch erzogene, muslimische Vielvölkergemisch bringen sollte. Die Methoden, zu denen das Regime griff, um konservative Stämme und Dörfer zu den Segnungen des Westens zu bekehren, erinnern frappierend an die heutige Situation nach Abzug der westlichen Alliierten. Ebenso war er Mitglied zahlreicher anderer Untersuchungskommissionen, etwa im Jahre 1965 in derjenigen bzgl. der Fälle Griechenland, Irland und Zypern sowie der Rassendiskriminierung im öffentlichen Dienst Guyanas. Des Weiteren war der hier Porträtierte etwa Mitglied einer Untersuchungskommission, die von der Menschenrechtskommission und dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO bestellt wurde und sich mit der Behandlung von politischen Gefangenen in Südafrika, Südwestafrika (wie Namibia während der südafrikanischen Fremdverwaltung von 1918 bis 1990 bezeichnet wurde), Rhodesien (das heutige Simbabawe) und den portugiesischen Kolonien in Afrika befasste. 1961 wurde er von der Internationalen Juristenkommission zum Mitglied der Untersuchungskommission für den „Bizerta-Fall“ bestellt. 1968 fungierte er als Mitglied der österreichischen Delegation bei der Menschenrechtskonferenz in Teheran, ein Jahr später gehörte er der Expertengruppe für die Anwendung der Vierten Genfer Konvention in den besetzten Gebieten an. In seine Fußstapfen trat hier vor allem sein früherer Assistent Manfred Nowak, der Ermacoras Lebenswerk fortsetzte. Einige Male war Ermacora bei Generalversammlungen der Vereinten Nationen Mitglied der österreichischen Delegation. 1970 wurde seine Arbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte mit dem großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich entsprechend anerkannt.14
13 Bericht 16. 14 Vgl. H. L. Stadler-Richter (FN 3), S. 296 bzw. M. Nowak u. a. (FN 1), S. 677 f.
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III. Innenpolitische Tätigkeit Obwohl politisch-weltanschaulich ein liberal-nationaler Denkender mit katholischer Vergangenheit und „Tiroler Prägung“ wurde Ermacora, der lange als Parlamentarier wirkte, der christlich-demokratischen bzw bürgerlich-konservativen ÖVP zugerechnet, der er nach einigen Jahren als deren Mandatar im Nationalrat auch beitrat; als er in den 70ern erstmals auf einer Tiroler Volksparteiliste als unabhängiger Kandidat aufschien, waren zuvor Diskussionen über eine Karriere in der Freiheitlichen Partei nicht zu überhören gewesen. Ermacora traf aber die richtige Entscheidung, indem er die in ihrer Abgrenzung zum Deutschnationalismus nicht stets klare Freiheitliche Partei mied und für die ÖVP kandidierte. Mehrere Jahre amtierte er als Wehrsprecher, dennoch fand er nicht volle Anerkennung als Parlamentarier.
IV. Wissenschaft und Methode In diesem Zusammenhang muss ein anderer berühmter österreichischer Staatsrechtslehrer, Günter Winkler, Erwähnung finden. Zwischen diesem und dem hier Porträtierten herrschte stets ein Konkurrenzdenken und sie lagen auch weltanschaulich sowie methodologisch weiter auseinander als es für Außenstehende den Eindruck hatte, die sie beide für Parteigänger der Konservativen hielten. Günther Winkler ist bis zum heutigen Tag „gemäßigter“ Rechtspositivist, der aber Kelsen und seine „Reine Rechtslehre“ heftig, ja emotional ablehnt.15 Hingegen stand Felix Ermacora stets auf anderen methodischen Fundamenten. Diese lassen sich nicht so einfach in Kategorien pressen, wie es manche wünschten. Am ehesten wird man Ermacoras Methode gerecht, wenn man die beiden US-amerikanischen Strömungen des Originalismus und des Transjudizialismus ins Spiel bringt. Während der Originalismus in etwa davon ausgeht, dass eine Norm (genauer: die Verfassung) nach Maßgabe des Zwecks zu interpretieren ist,
15 Vgl. etwa G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmwerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen aus geistesgeschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, 1990. Dieser wurde wiederum für seinen Angriff auf die Reine Rechtslehre stark kritisiert; vgl. etwa R. Walter, Rechtstheorie und Erkenntnislehre gegen Reine Rechtslehre? Eine Buchbesprechung und eine Erwiderung, 1990.
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den ihre Schöpfer mit ihr verfolgten,16 wird mit dem Transjudizialismus dafür plädiert, bei der Lösung innerstaatlicher Rechtsfragen auch ausländisches Recht respektive dahinter stehende Argumentationen und Motive heranzuziehen.17 Interessant und bemerkenswert an Ermacoras methodologischer Theorie ist die Tatsache, dass er in ihr beide genannten rechtstheoretischen Strömungen zu verbinden versuchte.
V. Werke 1. Österreichische Bundesverfassungsgesetze Die Verfassungsedition Ermacoras scheint auf den ersten Blick kaum der Rede wert. Es ist das kleinste Format, in dem die österreichische Bundesverfassung je erschienen ist. Aber der Verlag – Philipp Reclam – sorgte für die größtmögliche Verbreitung, nicht nur im Inland. Leider wurde aus Absatzgründen die Edition in den Achtzigerjahren eingestellt. Zwei Nachfolgeauflagen in einem anderen österreichischen Verlag konnten schon aus Urheberrechtsgründen, wohl aber auch mangels des technischen Knowhows im Kleinstformat nicht an die gelbe Ausgabe (Reclam Nr. 8763) heranreichen, welche bequem in jede Hemd- oder Sakkotasche passte. Trotz identen Inhalts war die Ausgabe damit zum Sterben verurteilt, nicht zuletzt weil auch die Bindequalität nicht an die Langlebigkeit der in Stuttgart und seit der Wiedervereinigung auch wieder in Leipzig erscheinenden Universalbibliothek heranreichte. Ermacora hatte diese Ausgabe seinem Lehrer Walter Antoniolli gewidmet. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Antoniolli, der mittlerweile auch verstorben ist, im Jahr 1995 an Ermacoras Begräbnis in Innsbruck, dessen und Antoniollis eigenem Alterswohnsitz, teilnahm. Antoniolli machte damals einen sehr rüstigen Eindruck. Er hatte sich nach seinem Rücktritt als Präsident des VfGH18 und seiner Emeritierung völlig aus dem Kreis der Verfassungsrechtswissenschaft zurückgezogen. Ein dermaßen radikaler Rückzug ins
16 „… claims that the Constitution should be interpreted in light of the ‚original‘ meaning it held for those who drafted and ratified it.“ E. A. Purcell Jr., Originalism, Federalism, and the american constitutional enterprise. A historical inquiry, 2007, S. 3. 17 Vgl. J. Resnik, Law’s Migration: American Exceptionalism, Silent Dialogues, and Federalism’s Multiple Ports of Entry, In: The Yale Law Journal 2006, siehe http://www.yalelawjournal.org/ pdf/115–7/Resnik.pdf (15.10.2012). 18 Antoniollis Rücktritt erfolgte in einer Sitzung über das UOG 1975, er wollte die politisch brisante Entscheidung nicht mehr mittragen, weil sie seiner Auffassung widersprach.
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Private ist eher rar, aber er war der Gesundheit des legendären Professors offenkundig zuträglich. Die recht ausführliche Einleitung zu den „Österreichischen Bundesverfassungsgesetzen“ erscheint für Ermacoras Stil und Methode geradezu paradigmatisch. Er begnügt sich weder mit einem Überblick über den Normenbestand oder die Genese des republikanischen Verfassungsrechts seit 1918, noch mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen über den Inhalt des B-VG und der Grundrechtskataloge. Vielmehr legt er in komprimierter Weise dar, welche Rechtsnormen im weitesten Sinn zur Verfassung zählen und weshalb der Bestand des österreichischen Bundesverfassungsrechts dermaßen unübersichtlich und vielschichtig ist. Anders als Deutschland kennt die österreichische Verfassung kein Inkorporierungsgebot – demzufolge Verfassungsrecht zwingend Bestandteil der Verfassungsurkunde zu sein hat – daher sind die Quellen auf mehrere Urkunden verstreut. Das ist nichts Neues. Aber es erscheint doch ungewöhnlich, wenn z. B. drei wichtige Quellen als „politische Akte, deren Rechtsnatur nicht ganz eindeutig ist“ qualifiziert und in einer Verfassungsedition angeführt werden. Dabei handelt es sich um die Unabhängigkeitserklärung 1945, das Pariser Abkommen 1946 und das Moskauer Memorandum vom April 1955.19 Die Befassung mit diesen Quellen sowie eine sehr konzise Darstellung der „Anschluss“-Problematik belegen das historische und politologische Interesse Ermacoras, der in dieser Hinsicht methodisch weit über das sonst übliche, auf den Norminhalt bezogene Verständnis hinaus geht und wertvolle analytische Bemerkungen daran anschließt.
2. Entstehung der Bundesverfassung sowie der Beitrag Hans Kelsens Ermacoras Kenntnisse der Verfassungsentwicklung, die in der oben erwähnten Edition sowie – ausführlicher – in der Verfassungslehre ausgebreitet wurden, kamen nicht von ungefähr. Wie kaum ein zweiter Verfassungsdogmatiker hatte er sich in archivarische Studien der Entwürfe vertieft.20
19 F. Ermacora (Hrsg.), Österreichische Bundesverfassungsgesetze, hier zit. nach der 8. Aufl., 1979, 11. 20 Abgesehen von älteren Forschern wie Kelsen, Merkl und Antoniolli war es unter den Zeitgenossen (gemeint: Verfassungsdogmatiker, nicht die Verfassungshistoriker, zu deren Fach dies ja genuin zählt) vor allem Robert Walter, der sich mit Quellen zum Verfassungsrecht befasste. Dabei verlief die wechselseitige Zitierung durchaus amikal, auch wenn in manchen Aspekten methodologische Abweichungen sowie unterschiedliche Interpretationen historischer Abläufe und Vorgänge vorkamen, wogegen die Rezeption der methodenkritischen Werke Winklers zu
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Besonderes Augenmerk Ermacoras galt den Materialien zum B-VG 1920, die merkwürdigerweise – wiewohl in den staatlichen Archiven vorhanden – bis in die Achtzigerjahre wissenschaftlich nicht erschlossen worden waren. Allerdings bestand archivarische Unklarheit über die Urheberschaft der einzelnen Entwürfe, weshalb es bis heute nicht als gesichert gelten kann, welche davon die Handschrift Kelsens tragen. Neben einer dokumentarischen Quellen-Editionen in mehreren Bänden zur „Entstehung“21 gab Ermacora daher anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstags von Hans Kelsen – 11.10. 1881 – gemeinsam mit Christiane Wirth, die ihn tatkräftig unterstützte, einen Forschungsband heraus, der die einzelnen Textstufen und Entwürfe vergleichend darstellte.22 Tatsächlich trägt das Werk aber das Erscheinungsjahr 1982, was nicht bedeuten muss, dass es sozusagen zu spät fertig wurde. Da Bücher, die im Spätherbst eines Jahres erscheinen, oftmals bereits das nachfolgende (nächste) Jahr als Erscheinungstermin angeben, erscheint es als nicht unwahrscheinlich, dass das Werk rechtzeitig abgeschlossen werden konnte, für eine Gedenkschrift oder Ähnliches aber jedenfalls war es allerdings viel zu spät; die eigentliche Kelsen-Festschrift erschien noch zu Lebzeiten des „Verfassungs-Architekten“, 10 Jahre davor, und dort befasste sich Ermacora bereits mit demselben Thema. Er dürfte aber Kelsen nie persönlich nach den einzelnen Punkten gefragt oder ihn mit seinen Forschungsergebnissen konfrontiert haben, angeblich äußerte sich dieser auch, unter Verweis auf sein bereits hohes Alter und die lange, seit den Beratungen verstrichene Zeit meist ablehnend gegenüber Detailfragen, die die Entstehung oder Auslegung des B-VG betrafen.23
regelrechten Gelehrtenkonflikten mit Walter führte. Dies erscheint insofern bemerkenswert, als die rechtsdogmatischen Arbeiten Winklers (ebenfalls ein Schüler Antoniollis wie Ermacora und auch dessen Wegbegleiter in Innsbruck und in Wien) einer deutlich stärker positivistisch ausgerichteten Methode huldigten als es Ermacora pflegte; aus Sicht der Reinen Rechtslehre wäre daher dieser stärker das Angriffsobjekt „synkretistischer“ Methode gewesen, welchem Vorwurf er aber durch die Akribie seiner historischen Quellenforschung und die Erkennbarkeit seiner rechtspolitischen Anmerkungen als solche glücklich entgangen ist. 21 Ermacora (Hrsg.), Die Entstehung der Bundesverfassung, 4 Bde., 1974 ff. 22 F. Ermacora/Ch. Wirth (Hrsg), Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen. Analysen und Materialien. Zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen. (= Österreichische Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft Bd. 4, hrsg. von Felix Ermacora, 1982). 23 Für diesen in den Biographien nicht dokumentierten Hinweis danke ich Michael Potacs; siehe im übrigen R. A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, 1969; Neuerdings Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen Werke, 2006 ff; Ogris/Olechowski, Hans Kelsen, 2010 (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 25).
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In nicht ganz einwandfreiem Deutsch gibt Ermacora im Vorwort zu dieser (ein Jahr nach der Wiederkehr von Kelsens Ehrentag) erschienen Studie die Motive für diese neuerliche Editionsarbeit bekannt: „Seit dem Erscheinen meines Quellenwerkes hat mich die Entwicklung der Verfassungsurkunde nicht ruhen lassen. Vor allem das Gerücht, es gebe außer den Protokollen des VUA24 keine Materialien …“ Die Erläuterungen im einleitenden Teil machen es dem heutigen Leser nicht gerade einfach, Felix Ermacoras Methode zu erkennen und seine Vorgangsweise nachzuvollziehen. Aber die Textgegenüberstellung von mehreren Vorentwürfen ist äußerst übersichtlich und gehaltvoll. Es lohnt sich immer wieder, diesen Band zur Hand zu nehmen, dessen Aktualität erstaunlich ist. Das soll an Hand der heute wieder hoch aktuellen Instrumente der direkten Demokratie gezeigt werden. So liegen etwa zur Zeit der Abfassung dieses Manuskripts im August 2012 die Entwürfe der großen Parteien bereits in den Schubladen, welche ein „Demokratiepaket“ zwecks Effektuierung und Erweiterung plebiszitärer Elemente enthalten. In Österreich ist im Unterschied zur semi-direkten Demokratie der Schweiz (und auch zur rein repräsentativen Deutschlands) eine verpflichtende (obligatorische) Volksabstimmung nur bei einer Gesamtänderung der Verfassung25 vorgesehen; ansonsten kann das Stimmvolk Derartiges nicht erzwingen, sondern lediglich Volksbegehren (Initiativen) starten, deren Schicksal in den Händen des Parlaments liegt. Um gegen diese Machtlosigkeit des Volkes anzusteuern, soll es künftig möglich sein, dass rund 600.000 Stimmbürger eine Volksabstimmung erzwingen können. Ein Vergleich der Entwürfe bei Ermacora/Wirth zeigt hierzu Erstaunliches:26 Laut Kelsens Entwurf sollten 400.000 Stimmen erforderlich sein, um eine Volksabstimmung über einen (beliebigen) Gesetzbeschluss zu erzwingen, der Minsterialentwurf senkte die Zahl auf 100.000; dann fand sich im Mayr-Entwurf eine Anhebung auf 300.000 Stimmen, die für das Veto-Referendum erforderlich sein sollten, ehe dieses (im Linzer Entwurf) aus den Materialien verschwand. Tatsache ist, dass das B-VG 1920 nur mehr die Möglichkeit vorsah, dass der Nationalrat selbst eine fakultative Volksabstimmung beschließen könnte, was er ein einziges Mal in der gesamten Geschichte Österreichs bis heute tat.
24 Verfassungs-Unterausschuss; dieser wurde in der am 16.2. 1919 gewählten konstituierenden Nationalversammlung im Sommer 1920 zur Beratung des konsensfähigen B-VG-Entwurfs nach den Länderkonferenzen eingesetzt und diesem Ausschuss wohnte Kelsen als Experte bei. 25 Eine solche liegt dann vor, wenn eines der grundlegenden Verfassungsprinzipien aufgegeben oder das Verhältnis dieser Prinzipien zueinander erheblich umgestaltet wird. 26 F. Ermacora/Ch. Wirth, 281 f.
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3. Weitere wichtige Werke Felix Ermacoras (wissenschaftliches) Interesse war so breit gestreut, dass eine beschreibende Darstellung seines gesamten Œuvres den hier vorgegebenen Rahmen erheblich sprengen würde. Wesentlich und erwähnenswert erscheinen den Autoren die historisch-politischen Werke Ermacoras,27 sein zweibändiges Werk zur allgemeinen Staatslehre,28 die Arbeiten zum innerstaatlichen sowie internationalen Menschenrechtsschutz,29 zum Universitätsrecht respektive zur Südtirolfrage. Ein sehr interessantes und auch methodologisch fast einmaliges Projekt Ermacoras war es, die Ausgestaltung und Durchsetzung der Menschenrechte – unter Heranziehung von politologischen und rechtssoziologischen Methoden – global zu erfassen. Aufgrund seines verfrühten Todes blieb es hierbei bei drei Bänden: „Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“30, „Theorie und Praxis. Die Verwirklichung der Menschenrechte in Afrika und im Nahen Osten“31 und „Amerika“32.
VI. Persönliche Anmerkungen Ermacora hatte meines Erachtens mehrere Seiten, natürlich auch Schwächen, aber auffallend viele Stärken; wissenschaftlich war er vielseitig und von offenem Geist, nie blind einer „Schule“ folgend, historisch und politisch gebildet sowie stets interessiert an Neuem. Dennoch arbeitete er wissenschaftlich – was ihm manche wegen seines Interesses an Staatslehre und politischen Wissenschaften zu Unrecht absprachen – stets methodenrein, was die Trennung von Rechtsdogmatik und -politik betraf. Nur eben nicht mit dem Dogmatismus, den seine damaligen Kollegen Robert Walter und Günther Winkler in unterschiedlicher Weise betrieben. Als Mensch war Ermacora ein charmanter, umgänglicher „Sir“ der alten Schule, ohne jede Anbiederung, Überheblich-, oder Schmierigkeit und – was bei
27 Wie etwa 20 Jahre österreichische Neutralität, 1976. 28 1970. 29 Z. B. Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, 1963; Grundrechte der europäischen Volksgruppen, 1993 oder International human rights, 1993. 30 Bd. 1 1974. 31 Bd. 2 1983. 32 Bd. 3 1994.
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etablierten Wissenschaftern, Politikern und international angesehenen Experten sehr selten ist – nur sehr wenig eitel. Im Erscheinungsbild erwies er sich als ein Freund des Understatements, in jeder Hinsicht bescheiden, sportlich und ausdauernd. So viel ich weiß, fuhr er so gut wie nie mit dem Auto, hatte auch keinen Chauffeur in Wien. Er wohnte in der Hietzinger Cottage und ging zu Fuß den nicht kurzen Weg zur U-Bahn nach Unter Sankt Veit, wo er Richtung Innenstadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr. Unterwegs traf er viele Bekannte, da auf dem Weg etwa Karl Korinek und Theo Öhlinger wohnten und auch andere Rechtswissenschafter aus dem 13. Bezirk Richtung Zentrum fuhren. Ein wenig erinnert das an Zeiten der k.u.k. Monarchie, wo sich auch viele Beamte nahe Schönbrunn ansiedelten, ihre Berufe aber im Nahebereich der Hofburg und (später) auch der Ringstraße ausübten. Vom Wesen her war er eher leise, selten aufbrausend. Ein Familienmensch, der stolz auf seine Kinder und der gerne unter Freunden war, stets ein interessanter Gesprächspartner. Katholisch, aber gesellschaftspolitisch liberal und aufgeschlossen eingestellt. Auch hier keine Dogmen, wenn auch eine wertkonservative und ländlich geprägte Einstellung zum Klerus. Politisch stand Ermacora zwar „rechts“, aber ohne Dogmatismus, lange Zeit war er auch bei keiner Partei Mitglied, er schwankte zwischen ÖVP und FPÖ bzw davor „Verband der Unabhängigen“, die sich um ihn bemühten; schließlich kandidierte er für die ÖVP und wurde Nationalratsmitglied. Aber auch als Abgeordneter war er nicht ohne Sympathien für sozialdemokratische Politiker und andere Sozialdemokraten, vor allem jene, mit denen er als Wehrsprecher der ÖVP fachlich zu tun hatte (zB Anton Gaal), oder die er als ehemalige Mitarbeiter fachlich schätzte (zB Wolf Frühauf). Hingegen stand er gewissen „rechten“ ÖVPPolitikern skeptisch bis ablehnend gegenüber, darunter auch den Befürwortern von Schwarz-Blau (Rechtskoalition), die sich dann nach seinem Tod durchsetzen sollten. Kritisch ist anzumerken, dass er gegenüber rechtsextremen Strömungen zum Teil „blind“, zum Teil zu tolerant respektive nahezu „naiv“ war und agierte; ohne Bedenken trat er auf Buden rechter Burschenschaften auf und hielt dort Vorträge, er schrieb in einer Fachzeitschrift einen Geburtstagsartikel zum 79er des Altnazis Pfeifer, dem er attestierte, trotz gewissen Übertreibungen doch stets zur deutschen Heimat gestanden zu haben, insofern ein Fauxpas, als sich Pfeifer nie vom NS-System distanziert und Österreich publizistisch extrem (vor allem um 1938, aber auch nach 1945) staatsrechtlich und politisch angegriffen hatte. Das hinderte aber im Übrigen die Republik nicht, ihn nach Suspendierung wieder als Professor einzusetzen, er las „deutsches und österreichisches Staatsrecht“, außerdem wurde er Abgeordneter zum Nationalrat und erhielt das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich (die er stets als Mißgeburt betrachtet hatte).
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Wie jeder Mensch hatte Ermacora auch Fehler, er war mitunter verwirrt, durch die vielen Reisetermine mitunter auch etwas hektisch und durch die (zu) vielen Aufgaben und Jobs überfordert; in seiner extremsten Zeit in den 80er-Jahren war er Abgeordneter zum Nationalrat, Mitglied der Europäischen Kommission für Menschenrechte, UN-Sonderberichterstatter, Professor an der Universität und dennoch intensiv publizierender und medial auftretender Wissenschafter, er hatte also mehr oder weniger einen Sechsfach-Job in allen Staatsgewalten inne (Abgeordneter: Gesetzgebung; Richter der EKOM: Justiz; Professor, diverse Kommissionen nach dem UOG 1975, Disziplinarbehörden nach dem WehrG, Reserveoffizier, also Major: Verwaltung); man kann kaum von „angewandter Gewaltenteilung“ sprechen, das gilt aber auch für andere Staatsrechtslehrer. Der hier Porträtierte war auch sehr belesen, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch was politische, philosophische und belletristische Literatur betraf. Dem Verfasser dieser Zeilen schenkte er etwa ein Werk von Octavio Paz, den er sehr schätzte. Besonders eng war er mit Ernst Jünger befreundet, der ihm auch freundliche Widmungen schrieb und Ermacoras Mut bewunderte, wenn er auch attestierte, dass die Bemühungen des Menschenrechtsschutzes zum Teil vergeblich wären.
Auswahlbibliographie Der Verfassungsgerichtshof, 1956. Österreichisches Hochschulrecht, 1956. Österreichs Staatsvertrag und Neutralität, 1957. Das österreichische Wehrrecht, 1958. Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, 1963. Der Minderheitenschutz in der Arbeit der Vereinten Nationen, 1964. Österreichische Bundesverfassungsgesetze, 1967. Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, 1968. Allgemeine Staatslehre, 2 Bde., 1970. Föderalismus in Österreich, 1970. Österreichische Verfassungslehre, 2 Bde., 1970 ff. Psychologische Landesverteidigung, 1970. Diskriminierungsschutz und Diskriminierungsverbot in der Arbeit der Vereinten Nationen, 1971. Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz, 1971. Die Selbstbestimmungsidee, 1974. Menschenrechte in der sich wandelnden Welt 1 Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1974. 20 Jahre österreichische Neutralität, 1975. Universitäts-Organisationsgesetz, 1977.
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Grundriß einer allgemeinen Staatslehre, 1979. Namibia, 1981. Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, 1982. Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, 1983. Menschenrechte in der sich wandelnden Welt 2. Theorie und Praxis. Die Verwirklichung der Menschenrechte in Afrika und im Nahen Osten, 1983. Südtirol und das Vaterland Österreich, 1984. Die Entstehung der Bundesverfassung 1920, 1986 ff. UNO-Berichte über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, 1986. Der Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen, 1988. Grundriß der Menschenrechte in Österreich, 1988. Minderheitenrechte der deutschen Bevölkerung in den Ländern Ungarn, Jugoslawien und Rumänien, 1991. Südtirol, 1991. Grundrechte der europäischen Volksgruppen, 1993. International human rights, 1993. Menschenrechte in Österreich, 1993. Menschenrechte ohne Wenn und Aber, 1993. Volksgruppen im Spannungsfeld von Recht und Souveränität in Mittel- und Osteuropa, 1993. Menschenrechte in der sich wandelnden Welt 3 Amerika, 1994. Volksgruppenschutz in Europa, 1995.
LXIII Helmut Quaritsch (1930–2011) Bernd Grzeszick Helmut Quaritsch wurde am 20. April 1930 in Hamburg geboren. Dort besuchte er auch die Schule, legte 1949 das Abitur ab und studierte Theologie und Philosophie, nach einem Jahr dann Rechtswissenschaft. Die Staatsexamina absolvierte er 1954 und 1958. Im Winter 1955/56 verbrachte er ein Semester an der Deutschen Verwaltungshochschule in Speyer. 1957 wurde er mit der von Hans-Peter Ipsen betreuten Dissertation zum Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsprozeß, insbesondere des Verfahrens zur Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten von der Juristischen Fakultät Hamburg promoviert.1 1960 erhielt er dann als erster deutscher Absolvent die Zulassung zur École nationale d’administration. Während seiner Assistentenzeit in Hamburg initiierte er gemeinsam mit anderen angehenden Staatsrechtlern, unter anderen Roman Herzog und Klaus Vogel, das Projekt einer Jahrestagung der Nachwuchswissenschaftler des Öffentlichen Rechts im deutschsprachigen Raum, das zur 1961 erstmals stattfindenden Assistententagung Öffentliches Recht führte. Gemeinsam mit Ernst-Wolfgang Böckenförde und anderen begründete er zudem die seit 1962 erscheinende Zeitschrift „Der Staat“, die bewusst als interdisziplinäre Fachzeitschrift für Staatslehre, Verfassungsgeschichte und Öffentliches Recht angelegt wurde und deren Titel nach Auskunft von Quaritsch zur Zeit der Begründung der Zeitschrift als provozierend empfunden wurde.2 1965 erfolgte die Habilitation – gleichfalls bei Hans-Peter Ipsen – auf der Grundlage einer Arbeit zu Staat und Souveränität,3 die 1970 veröffentlicht wurde und rasch den Rang eines Standardwerkes erlangte. Unmittelbar nach der Habilitation erhielt er einen Lehrauftrag in Hamburg, und bereits 1966 übernahm er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bochum. Sein Staatsrechtslehrervortrag von 1967 war dem Thema der Führung und Organisation der Streitkräfte im parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat gewidmet; 1968 und 1969 war er Vorstand der Vereinigung. 1968 wurde er Ordinarius an der Freien Universität Berlin. Dort erhielt er unter
1 Der Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsprozeß, insbesondere des Verfahrens zur Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten, 1957. 2 Standort und Aufgaben der Staatslehre heute, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung, Festschrift für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, 1994, S. 355, 363. 3 Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, 1970.
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anderem deshalb einige Aufmerksamkeit, weil er trotz des studentischen Boykotts der Lehrveranstaltungen seine Vorlesungen hielt und dabei in Kauf nahm, mit Tomaten und Eiern beworfen zu werden. Ab dem Frühjahr 1970 übernahm Helmut Quaritsch zudem die Leitung der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages.4 Unter seiner Führung bis 1973 wurde sowohl der umfängliche Ausbau als auch die systematische Strukturierung der Dienste erheblich vorangetrieben. Zudem wurden maßgebliche Vorarbeiten geleistet, um in der Bundestagsverwaltung die Erfassung und Verarbeitung von Akten durch elektronische Datenverarbeitungs- und -informationssysteme zu ermöglichen. Das ihm zum Ende seiner Ministerialzeit angetragene Bundesverdienstkreuz lehnte er allerdings ab – wohl getragen von der Auffassung, schlicht als Beamter seine Dienstpflichten erfüllt zu haben. 1972 nahm er einen Ruf als Professor für Staatsrecht und Staatslehre an die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaft in Speyer an, der er bis zur Emeritierung 1998 verbunden blieb. Von 1981 bis 1983 war er auch Rektor in Speyer. Er war Gründungsmitglied der Vereinigung für Verfassungsgeschichte und 1977 deren Gründungsvorsitzender. Ab 1990 ging er mehrfach als Gastdozent nach Jena. Zudem wurde er 1990 zum Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt gewählt. Am 19. August 2011 starb Helmut Quaritsch im Alter von 81 Jahren in Speyer. Die Schwerpunkte seiner Forschungen lagen auf Staats- und Souveränitätstheorien, dem Ausländer-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht sowie dem Recht des Öffentlichen Dienstes. Hinzu kamen zahlreiche verwaltungsrechtliche, verfassungsrechtliche und zeitgeschichtliche Untersuchungen zu einer Vielfalt von Themen. Helmut Quaritsch beherrschte dabei die juristisch-dogmatische Methode5 in Vollendung. Er bearbeitete die entsprechenden Fragestellungen aus der Perspektive der umfassend normpositiv geleiteten Argumentation und er wandte diese Methode gerne und mit Freude an der Sache an. Seine Fähigkeiten und Leistungen gingen aber weiter und umfassten auch den Bereich der Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Dementsprechend war sein Streben nach Erkenntnis regelmäßig darauf ausgerichtet, durch die und in den Regeln des positiven Rechts die grundlegenderen Funktionsbedingungen moderner Staatlichkeit zu berücksichtigen und damit zu einem gelingenden Gemeinwesen beizutragen. Allerdings führte diese Ausrichtung Quaritsch nicht in einen Gegensatz zur juristischen Methode; vielmehr erkannte er, dass die juristische Methode
4 Dazu seine Darstellung in: FS für Ernst Forsthoff, 1972, S. 303 ff. 5 Seine Position zu „dogmatischen Spitzfindigkeiten“: VVDStRL 26 (1968), S. 308.
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konsequenter Ausdruck moderner Staatlichkeit und modernen Rechts ist.6 Seine Wertschätzung methodischer Korrektheit7 war deshalb nicht allein Respekt vor handwerklicher Präzision, sondern von der Einsicht getragen, dass das positive Recht den legitimen Regelungs- und Machtanspruch des Staates verkörpert. Seine Vorgehensweise lief damit dem Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre vorherrschenden Trend in Wissenschaft und Politik entgegen. Insbesondere in der Politikwissenschaft wurde das Konzept eines politischen Systems mit konkreten sozialen Gruppen als maßgebliche Akteure favorisiert. In dieser Betrachtung wurde der Staat tendenziell entweder als – positiv gewendet – Dienstleister der jeweiligen Gruppen oder – negativ gewendet – als deren Instrument und später dann deren „Beute“ gesehen. Zu dieser Ausrichtung lagen die Überlegungen Quaritschs in doppelter Hinsicht konträr: In ihrer prinzipiellen inhaltlichen Anlage waren sie überwiegend von einer etatistischen Orientierung geprägt, und methodisch wurden sie von einer Historisierung, Theoretisierung und Abstrahierung des Staatsbegriffes geleitet. Diese sein gesamtes Werk und Schaffen prägenden Grundzüge werden vor allem in seiner Habilitationsschrift8 deutlich, in der er die Entstehung des modernen Staats- und Souveränitätsgedankens bei Jean Bodin analysiert. Gegenstand der Untersuchung ist die historische Nachzeichnung der Entstehung der staatlichen Souveränität als Begriff. Quaritsch unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen dem spätmittelalterlichen Begriff der Souveränität und dem der frühen Neuzeit: Während der Begriff der Souveränität im Mittelalter stets auf funktional klar beschränkte und konkretisierte Zuständigkeiten beschränkt war, erlangte er in der frühen Neuzeit die Bedeutung einer Befugnis zur Bestimmung von Zuständigkeiten und Befugnissen im Sinne einer Kompetenzen-Kompetenz; er erhielt insoweit eine – normativ gewendete – Exklusivität. Die Rekonstruktion der entsprechenden neuzeitlichen Staatsidee erfolgte dann in intensiver Auseinandersetzung mit dem Werk Bodins. Quaritsch untersucht den Souveränitätsbegriff in der Theorie Bodins auf seine juristische Tragweite für den Staatsbegriff. Die einzelnen gedanklichen Schritte erfolgen dabei stets in Rückkoppelung an die realen, historischen Bedingungen. Dabei werden Differenzen zwischen dem zeitgenössischen französischen Staat und seinem Recht einerseits sowie der Souveränitätsvorstellung Bodins andererseits konstatiert. Quaritsch versucht, diese
6 Vgl. dazu seinen Beitrag: Zurück zur juristischen Methode im Staatskirchenrecht, NJW 1967, 764 ff. 7 Dazu Ulrich Storost, in: Dietrich Murswiek (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. FS für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 3, 5. 8 Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, 1970.
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Differenz mit der Unterscheidung der Ebenen des Staatsrechts und der Staatlehre zu bewältigen.9 Eine andere, ergänzende oder alternative Vorgehensweise hätte darin bestanden, die Eigenschaft des Souveränitätsbegriffes als ein normatives Legitimationskonzept, das es zu erreichen gilt, auch wenn es in der jeweiligen Realität nicht – oder noch nicht – vollständig besteht bzw. eingehalten wird, stärker herauszuarbeiten und damit für Relativierungen zu öffnen. Als zentrale Erkenntnis – für Bodin wie für Quaritsch – wurde die Idee des Staates als Mittel zum Schutz vor Anarchie und Egoismen festgehalten. Aus diesem Grundanliegen folge, dass jede politische Gemeinschaft nach einer Organisationseinheit verlange, die frei von Zwang und Befehlen anderer die Regeln des jeweiligen Gemeinwesens festsetzt. Vor diesem Hintergrund sei die Souveränität und Legitimität der regelstiftenden Einheit – des Staates – zu schützen. Allerdings betonte Quartisch, dass die Monopolisierung legitimer öffentlicher Gewalt beim Staat nicht notwendigerweise einen zentralisierten Staat bedeuten müsse, sondern auch in dezentralisierten Gefügen erreicht und gesichert werden könne.10 Weiter stellte er heraus, dass die Souveränität des Staates für die den Kontext des Schaffens Bodins prägenden konfessionellen Bürgerkriege auf eine Unabhängigkeit und Vorrangstellung des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften hinausliefe, die eine Neutralisierung des Konfliktpotentials ermöglichen, genauer: Die Möglichkeit zur effektiven Bekämpfung der Gefahr einer umfassenden und dauerhaften Eskalation des Konflikts gewähren solle. Auch dass die souveräne staatliche Herrschaft nach Bodin nicht von allen Regeln befreit, sondern an Regeln rückgebunden ist, erkannte und betonte Quaritsch.11 Die weitere Entfaltung dieses Gedankens trat allerdings in Folge der Fokussierung auf die Bedeutung des – normativen – Souveränitätsbegriffes etwas zurück; insoweit behielt die Frage nach den Schranken der Souveränität12 ihre Bedeutung. An seine Habilitationsschrift anknüpfend, deren Themenkreis aber zugleich maßgeblich um die Rezeption des Souveränitätsbegriffs in Deutschland erweiternd, erschien 1986 die Studie über Entstehung und Entwicklung des Begriffs der Souveränität in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806.13
9 Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, 1970, S. 360. 10 Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, 1970, S. 270. 11 Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, 1970, S. 357. 12 Roman Schnur, Der Staat 13 (1974), S. 111, 118 ff. 13 Souveränität. Entstehung und Entwicklung eines Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986.
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Auch die weiteren zentralen Werke seines Schaffens sind den Fragen nach Staatlichkeit, Schutz und Erhalt der staatlichen Institutionen sowie Beachtung der entsprechenden rechtlichen Regeln gewidmet. In der frühen Schrift von 1961 zum hamburgischen Planungsrecht14 erblickte er in dem Versuch, dem Inhalt nach ausschließlich von der Exekutive getroffene Entscheidungen mit Rang, Autorität und Legitimation parlamentarischer Gesetzgebung zu verkleiden, eine deutliche und kritikwürdige Tendenz zur Aushöhlung des Demokratieprinzips und damit letztlich der Volkssouveränität. Die Abhandlung thematisiert die städtebauliche Planung in Hamburg. Diese erfolgte durch ein von der Bürgerschaft als Gesetz verabschiedetes Aufbaugesetz. Nun sollten neben dem – als Gesetz beschlossenen und verkündeten – Aufbauplan auch die Durchführungspläne durch Gesetzesbeschluss von der Bürgerschaft festgestellt werden. Zudem erhielt die Bürgerschaft weder die Erläuterungen des jeweiligen Plans noch die zeichnerische Darstellung. Quaritsch erkannte in dem Vorgehen der Hamburgischen Bürgerschaft, sich als parlamentarischer Gesetzgeber im Planungsrecht auf den Gesetzesbeschluss zu beschränken, ohne sich mit dem zugrundeliegenden Gesetzesinhalt zu beschäftigen, eine unzulässige Verlagerung der inhaltlichen Willensbildung des Gesetzgebers auf die Exekutive. Vor diesem Hintergrund sah Quaritsch die entsprechenden Beschlüsse mangels Kenntnisnahme des Inhalts als unzureichend an. In der Sache leistete Quaritsch damit einen frühen Beitrag zur Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, und damit zugleich zur Frage nach einer organadäquaten und funktionsgerechten Zuordnung von Aufgaben und Kompetenzen an die staatlichen Einrichtungen und Organe, die diese Aufgaben und Kompetenzen wahrnehmen sollen. 1967 wurde er zum Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung eingeladen. Thema des Referats war die Führung und Organisation der Streitkräfte im demokratisch-parlamentarischen Staat. Auch dieses Thema entfaltete er auf der Folie seines rechtsstaatlich-souveränitätsorientierten Verständnisses von Staat und Verfassung – mit der Folge politisch durchaus ambivalent zu sehender Ergebnisse. Einerseits leitete er den Verteidigungsauftrag der Streitkräfte grundlegend aus der „Eigenart des Staates als einer Schutz- und Selbstbehauptungsgemeinschaft“15 ab. Andererseits enttarnte er die Eigenständigkeit des Soldatenberufes aus staats-
14 Das parlamentslose Parlamentsgesetz. Rang und Geltung der Rechtssätze im parlamentarischen Staat untersucht am hamburgischen Planungsrecht, 1961. 15 VVDStRL 26 (1968), S. 207, 210.
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rechtlicher und staatstheoretischer Sicht als Leerformel, mit seinen Worten: Als „rhetorischen Baldrian aus der parlamentarischen Hausapotheke“.16 Die prägende Orientierung an den Institutionen des modernen Staates wurde auch im Recht des Öffentlichen Dienstes deutlich. Als zentraler und wirkmächtiger Beitrag ist hier sein Referat auf dem Deutschen Juristentag 1970 in Mainz zur Neuordnung des Beamtenrechts zu nennen. In seinem Vortrag wendete er sich ausdrücklich gegen eine auch und insbesondere gegen den Staat gerichtete Institutionenfeindschaft, „die Dienst- und Treuepflicht als Verstoß gegen die Menschenwürde verdächtigt“.17 Demgegenüber betonte er, dass das Berufsbeamtentum eine spezifische und essentielle Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und der ihr entsprechenden politischen Kultur sei. Die Ausbildung dieser Institution habe deshalb tragende Bedeutung, weil durch die rechtliche Ausgestaltung des Dienstverhältnisses der Beamte in den Stand gesetzt werde, gesellschaftlichen und politischen Versuchen der Einflussnahme zu widerstehen und seiner Tätigkeit ausschließlich das staatliche Handlungsprogramm zugrunde zu legen.18 Dieser Zusammenhang wirkt freilich nach Ansicht von Quaritsch in beide Richtungen: Eine Rechtfertigung der spezifischen Besonderheiten und Privilegien des Öffentlichen Dienstes bestehe nur so lange und so weit, als es diese spezifische Bauform des modernen Staates erfordere.19 Die Vorstellung, dass der Staat Garant des Gemeinwohls sei, insoweit über der Gesellschaft stehe, und dass er als Institution mehr sei als die Summe der Verwaltungseinrichtungen oder ein Mittler konkreter Interessengruppen, wird auch im 1977 erschienenen Werk zur Selbstdarstellung des modernen Staates20 deutlich. Aus der dem Staat zugedachten Rolle folgerte Quaritsch die Notwendigkeit, den Staat als eigenständige und übergeordnete Institution durch Symbole und Sinnvermittlung öffentlich erfahrbar zu machen. Auf dieser Grundlage widmete er sich zunächst den Mitteln staatlicher Selbstdarstellung, dann den Objekten, zu denen er vor allem die staatlichen Organisationseinheiten, Funktionen und Institutionen, sowie die Strukturprinzipien und Handlungsmaximen von Staat und Verfassung zählte.
16 VVDStRL 26 (1968), S. 207, 216. 17 Empfiehlt es sich, das Beamtenrecht unter Berücksichtigung der Wandlungen von Staat und Gesellschaft neu zu ordnen?, in: Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages, 2, Sitzungsberichte, 1970, S. 34, 54. 18 Empfiehlt es sich, das Beamtenrecht unter Berücksichtigung der Wandlungen von Staat und Gesellschaft neu zu ordnen?, in: Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages, 2, Sitzungsberichte, 1970, S. 34 ff. 19 VVDStRL 37 (1979), S. 285 f. 20 Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977.
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Nach Ansicht von Quaritsch sollte die Selbstdarstellsung des Staates das Vertrauen der Bürger in den Staat gewinnen und erhalten. Die vom Demokratieprinzip geförderte Transparenz habe die Selbstdarstellung erschwert. Entsprechend gehörten zu den Schwierigkeiten der Selbstdarstellung eines demokratischen Staates die Unsicherheiten im Selbstverständnis, die Notwendigkeit eines Grundkonsenses zwischen Regierung und Opposition sowie die hohen Anforderungen an das Differenzierungsvermögen und die Selbstdisziplin der Beteiligten. Dass Quaritsch aufgrund seiner Arbeits- und Herangehensweise von durchaus unterschiedlichen Seiten Kritik bezog, lässt sich an der Rezeption dieser Schrift gut erkennen: Während einerseits Peter Häberle monierte, dass die Frage, ob Transparenz und die entsprechende Offenlegung von Differenzierungen nicht auch Mittel sein könnten, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen,21 nicht aufgeworfen wird, kritisierte andererseits Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass Quaritsch die Selbstdarstellung dessen, was man den Geist eines bzw. den geistigen Gehalt eines konkreten Staates nennen kann, nicht behandelt und damit das eigentliche Problem verfehlt habe.22 Wiederholt widmete Quaritsch sich dem Bereich des Staatskirchenrechts. Dort plädierte er entschieden für eine stärkere Trennung von Staat und Kirche und für den juristischen Primat des Staates. Er wendete sich gegen die rechtliche Gleichordnung von Kirche und Staat, mit der vierhundert Jahre europäischer Staatstheorie und Staatswirklichkeit abgeräumt würden.23 Den Auffassungen eines partnerschaftlichen und gleichgeordneten Verhältnisses der beiden Institutionen hielt er entgegen, dass das für alle verbindliche Recht in einem demokratischen Staat der Verfassungsgeber und auf dieser Grundlage das Parlament als Gesetzgeber setze und sonst niemand.24 Die Souveränität des Staates erweise sich deshalb insbesondere darin, dass der zu regelnde Gegenstand auch gegen den Willen der Religionsgemeinschaften bestimmt und gestaltet werden kann.25 Die Entstehung des modernen Staates in der frühen Neuzeit sei mit der Monopolisierung der Hoheitsgewalt untrennbar verknüpft, und die Aufrechterhaltung dieses Zustandes sei Bedingung seiner Existenz.26 Es sei eine Eigenschaft des modernen Staates, über Art und Inhalt seiner Rechtsordnung allein und unabhängig entscheiden zu können; ginge diese Fähigkeit verloren, hörte der Staat auf, Staat zu
21 Peter Häberle, DVBl. 1978, S. 512 f. 22 Ernst-Wolfgang Böckenförde, DÖV 1979, S. 725. 23 Neues und Altes über das Verhältnis von Kirchen und Staat, Der Staat 5 (1966), S. 451, 452. 24 Kirchen und Staat. Verfassungs- und staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart, Der Staat 1 (1962), S. 175, 188. 25 Der Staat 1 (1962), S. 175, 189. 26 Staat und Kirche, in: Studium Generale 21 (1968), S. 734, 741.
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sein.27 Erneut scheint auch die inhaltliche Verbindung zwischen seiner Grundposition zur modernen Staatlichkeit und seiner Orientierung an der juristischen Methode auf; sie gipfelt in der programmatischen Forderung nach einem Zurück zur juristischen Methode im Staatskirchenrecht.28 Im Bereich des Ausländer- und Asylrechts trat Quaritsch vehement für das Steuerungsrecht des Staates und den Vorrang der entsprechenden politischen Entscheidungen ein. Aus der Souveränität des Staates folgerte er, dass die Staaten grundsätzlich festlegen dürften, ob und wieweit Zuwanderungen und Asylaufenthalte erwünscht seien. In der Arbeit „Recht auf Asyl: Studien zu einem missdeuteten Grundrecht“ vertrat er 1985 prägnant die Ansicht, dass das im Grundgesetz geregelte Grundrecht auf Asyl in der Interpretation durch die Bundesgerichte und insbesondere durch die These vom erheblichen Menschenwürdegehalt sowie die Inklusion von Menschenrechtsverletzungen in den Verfolgungstatbestand über seinen Kerngehalt weit hinausgewachsen sei und seinen durch die entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge zu konkretisierenden Wirkungskreis deutlich überschreite.29 Als Konsequenz fordert er eine Korrektur der Auslegung und damit in der Sache eine Rücknahme des Asylrechts auf ein vernünftiges und beherrschbares Maß. Diese Forderung sei auch deshalb berechtigt, weil es sonst zu einer nach seiner Ansicht weniger wünschenswerten Verfassungsänderung kommen könnte.30 Quaritsch hatte insoweit dem Lauf der Dinge vorgegriffen: 1993 wurde der restriktive Art. 16a GG verabschiedet. Helmut Quaritsch suchte auch in anderen Dingen stets die klare Aussage, mochte sie auch konfrontativ oder gar provokativ wirken. So formulierte er 1979 auf der Staatsrechtslehrertagung, die deutsche Zweistaatlichkeit sei Resultat der Fremdbestimmung, die verschwände, wenn die Deutschen dies selbst bestimmen könnten.31 Im Rahmen der Debatte über die Folgen der Wiedervereinigung wandte er sich dann vor allem der Vergangenheitsbewältigung, der Aufarbeitung des DDR-Erbes sowie den Fragen einer Amnestie zu. In den entsprechenden Arbeiten zeigte sich, dass er hinsichtlich dieser Fragen aufgrund seiner historischen Studien sowohl über eine geschärfte und differenzierte Analysefähigkeit verfügte als auch in ungewöhnlichem Maße zu Abstraktionen fähig war. Für die Diskussion, die sich sowohl politisch als auch rechtlich zwischen den Polen von Amnestie und Siegerjustiz bewegte, entwickelte er eine spezifische und erhel-
27 Staat und Kirche, in: Studium Generale 21 (1968), S. 734, 746. 28 Zurück zur juristischen Methode im Staatskirchenrecht, NJW 1967, 764 ff. 29 Kritik beispielhaft bei Manfred Zuleeg, DÖV 1986, S. 215 f. 30 Recht auf Asyl. Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht, 1985, S. 198. 31 VVDStRL 38 (1980), S. 130.
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lende Position: Er konstatierte die Gleichzeitigkeit der realen Ereignisse, ohne die notwendige inhaltliche Verschiedenheit von Außenperspektive und Binnensicht in Abrede zu stellen. Auf dieser Grundlage betonte er – unter bestimmten Bedingungen – die Notwendigkeit des Einnehmens einer Perspektive und deren konsequenter Befolgung, sowie die Beachtung der entsprechenden Vorgaben des Gesetzgebers.32 Seit den 80er Jahren beschäftige Quaritsch sich wiederholt und intensiv mit dem Werk von Carl Schmitt. Er stellte die politischen Aktivtäten und Positionen Schmitts nicht in Abrede, sondern versuchte zwischen persönlichem Verhalten, politisch beeinflussten Artikeln und grundlegenderen wissenschaftlichen Schriften zu differenzieren.33 Im Sinne des zuletzt genannten Erkenntnisinteresses konzentrierte er sich auf eine differenzierte, theoretisierte und aus der historischen Distanz abstrahierte Betrachtung der Arbeiten von Schmitt; ein Vorgehen, das methodisch in Teilen der kritischen Historisierung des Nationalsozialisums im Sinne Martin Broszats entsprach. Die diese Betrachtung prägende Unterscheidung zwischen Schmitts staatsrechtlichem und politischem Werk vermochte entsprechende Zugänge zum Werk von Schmitt zu öffnen, dessen inhaltliche und durchaus gegenläufigen Grundprägungen Quaritsch mit den Begriffen Katholik, Etatist und Nationalist charakterisierte. Schließlich näherte er sich der europäischen Integration konsequent aus der Perspektive der Souveränitätsfrage. In einem Beitrag, der aus Anlass der Währungsunion erschien und der den für das Werk Quaritschs kennzeichnenden Titel „Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats“34 trug, betonte er, dass die eigene Währung in Europa seit mehr als 400 Jahren die eigene souveräne Staatlichkeit kennzeichnete35 und äußerte erhebliche Zweifel am dauerhaften Erfolg einer Integration Europas durch eine gemeinsame Währung. Seine Bereitschaft zu konkretisierenden und zugespitzten Einschätzungen wird auch in diesem Themenkreis deutlich: „Die politische Klasse Frankreichs empfindet
32 DDR-Verbrechen vor dem Bundesverfassungsgericht: Außenperspektive und Binnensicht, in: Rolf Stober (Hrsg.), Recht und Recht. FS für Gerd Roellecke, 1997, 221 ff. 33 Dagegen gerichtete Kritik vor allem hinsichtlich seiner Haltung zur parlamentarischen Demokratie beispielhaft bei Stefan Breuer, KJ 22 (1989), 500, 502 f. und Dieter Grimm, NJW 1988, 2870 f. 34 Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83 ff. 35 Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83, 94.
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die Überlegenheit der Deutschen Mark und die monetäre Führungsrolle der Deutschen Bundesbank als permanente Demütigung Frankreichs“.36 Für den Stand der europäischen Integration zog er das Fazit, dass ein europäischer Bundesstaat vorerst Vision bleiben müsse, weshalb die europäischen Nationalstaaten noch nicht am Ende seien, auch wenn eine Veränderung ihrer Handlungsfähigkeit offensichtlich sei.37 Auch hierin wird wieder das Grundanliegen von Werk und Wirken Helmut Quaritschs deutlich, das dem Anliegen entsprach, wie es im Geleitwort der Herausgeber38 zur ersten Ausgabe der von Helmut Quaritsch mitinitiierten Zeitschrift „Der Staat“ charakterisiert wurde: Die politische Ordnungsform des Staates, wie sie in Europa historisch erwachsen ist, als eine der wichtigsten Sicherungen persönlicher und politischer Freiheit zu erkennen und gegenüber Gefährdungen zu behaupten.39
Auswahlbibliographie Der Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsprozeß, insbesondere des Verfahrens zur Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten, Hamburg 1957. Das parlamentslose Parlamentsgesetz. Rang und Geltung der Rechtssätze im parlamentarischen Staat untersucht am hamburgischen Planungsrecht, Hamburg 1961. Kirchen und Staat. Verfassungs- und staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart, in: Der Staat 1 (1962), S. 175–197, 289–320. Führung und Organisation der Streitkräfte im demokratisch-parlamentarischen Staat, in: VVDStRL 26 (1968), S. 207–259. Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen, Frankfurt 1970. Empfiehlt es sich, das Beamtenrecht unter Berücksichtigung der Wandlungen von Staat und Gesellschaft neu zu ordnen?, in: Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages, 2, Sitzungsberichte, München 1970, S. 34–57. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, München 1972, S. 303–324. Demokratisierung. Möglichkeiten und Grenzen, in: Cappenberger Gespräche der Freiherr-vomStein-Gesellschaft, 11, Köln 1976, S. 11–44.
36 Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83, 94. 37 Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83, 100. 38 Gründungsherausgeber waren Gerhard Oestreich, Werner Weber und Hans J. Wolff. 39 Der Staat 1 (1962), S. 1.
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Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977. Bodins Souveränität und das Völkerrecht, in: Archiv des Völkerrechts 17 (1977/78), S. 257–273. Zur Entstehung der Theorie des Pluralismus, in: Der Staat 19 (1980), S. 29–56. Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, München 1981. Recht auf Asyl. Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht, Berlin 1985. Souveränität. Entstehung und Entwicklung eines Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986. Über dem Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts, in: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, hrsg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1988, S. 11–16. Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 1989. Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83–105.
LXIV Dimitris Th. Tsatsos (1930–2010) – Ein Mann der Vielfalt Martin Morlok
I. Einführung Alle, die das Glück hatten, Dimitris Tsatsos kennenlernen zu dürfen, heben hervor, dass er ein Mann war, der in Vielem zu Hause war: Er war ein Mann der Vielfalt, der seine griechische Heimat mit seiner deutschen Wirkungsstätte und seinem Engagement für die europäische Einigung zu verbinden wusste und auf allen Feldern Beachtliches leistete und demgemäß auch eine europaweite Ausstrahlung1 hatte. Tsatsos war „in einer Pluralität von Welten verwurzelt“.2 Er war in diesen verschiedenen Welten selbst nicht nur zu Hause, vor allen Dingen gelang es ihm, diese einander näher zu bringen, Peter Häberle bezeichnete ihn deswegen zu Recht als Brückenbauer.3 Diese bemerkenswerte Kombination von Tätigkeitsfeldern hat ihre Spuren in seinem Lebenslauf hinterlassen (II.), ist konzentriert auf politisches Wirken (III.) und Aktivitäten als Verfassungsrechtswissenschaftler (IV.) und soll abschließend einer kurzen Gesamtwürdigung (V.) unterzogen werden.
II. Lebenslauf Dimitris Themistokles Tsatsos wurde am 05. Mai 1930 in Athen geboren. Sein Lebensweg und seine Lebensleistung waren durch seinen Vater Themistokles Tsatsos präformiert, der in vielem seinem Sohn vorausging; so war dieser stark in der griechischen Politik involviert, hatte in Heidelberg studiert und wurde bei
1 Ausweislich etwa der Herkunft der Autoren in der ihm dargebrachten Festschrift, P. Häberle/ M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für Dimitris Tsatsos, 2003. 2 So P. Schiffauer, Verfassung und Politik in der europäischen Union im Werk von Dimitris Tsatsos, in: EuGRZ 2008, S. 452 (452). 3 „Deutsch-Griechischer Pontifex“, in: P. Häberle, D. Th. Tsatsos als europäischer Wissenschaftler und Politiker, Laudatio auf dem Geburtstagskolloquium zum 75. Geburtstag von D. Th. Tsatsos 2008 in Hagen, Institut für europäische Verfassungswissenschaften IEV-online Nr. 4/2009.
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Thoma promoviert, war griechischer Botschafter in Bonn und Honorarprofessor der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg und Professor für Staatsrecht in Athen. Dimitris Tsatsos studierte ebenfalls Rechtswissenschaft in Athen und Heidelberg. In seiner Heimatstadt wurde er 1960 promoviert (seine Dissertation ging über „Die Bedeutung der im allgemeinen Interesse erlassenen Norm nach Art. 105 des Einführungsgesetzes des griechischen Zivilgesetzbuches“. 1968 wurde er in Athen habilitiert (zum Thema „Wirtschaftliche Inkompatibilitäten im Parlamentsrecht“). Im selben Jahr habilitierte er sich auch an der Universität Bonn über „Die parlamentarische Betätigung von öffentlichen Bediensteten“, 1970. Neben der familiär angelegten intensiven Beziehung zu Deutschland war dafür auch ein Motiv, dass die damalige griechische Militärjunta ihm die Vorlesungserlaubnis verweigert hatte. In Bonn hatte er von 1969 bis 1974 eine Professur an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität inne. In diesen Jahren hatte in Griechenland eine Militärjunta die Macht ergriffen. Als mutiger Demokrat wirkte er in der Opposition und kehrte auch in sein Heimatland zurück, wo er im März 1973 verhaftet und in ein Folterlager der Militärdiktatur gebracht wurde. Auf massiven öffentlichen Druck, unter anderem von deutschen Politikern namentlich Johannes Rau, Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Willy Brandt, wurde er aus der Haft entlassen. In Griechenland kam er erst nach dem Ende der Diktatur in akademische Ämter, von 1974 bis 1980 war er Professor für Verfassungsrecht in Thessaloniki. Nach dem Ende der Militärdiktatur trat er als stellvertretender Kultusminister in die „Regierung der nationalen Einheit“ unter Premierminister Konstantin Karamanlis ein und entwarf das erste griechische Hochschulgesetz. Bemühungen mit einer eigenen Partei führten nicht zum Erfolg. Von 1974 bis 1977 war er Mitglied des ersten Parlaments nach der Diktatur und dort Generalreferent aller Oppositionsparteien für die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung, von 1980–1989 Inhaber des Lehrstuhls für Verfassungsrecht an der Athener Panteion-Universität. Im Jahre 1980 erhielt er zugleich einen Lehrstuhl für Deutsches und Ausländisches Staatsrecht und Staatslehre an der FernUniversität in Hagen. 1994 wurde er für die griechische PASOK in das europäische Parlament gewählt, wo er als Mitglied der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas sich insbesondere institutionellen Aspekten widmete. Im Europaparlament blieb er bis 2004. Auch nach seiner Emeritierung 1997 blieb er der FernUniversität in Hagen verbunden, ebenso der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, an der er seit 2003 eine Honorarprofessur innehatte. Sein politisches wie wissenschaftliches Engagement war ungebrochen, in seinen letzten Jahren galt es insbesondere der europäischen Einigung. Am 24. April 2010 ist er in Athen verstorben.
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III. Das politische Wirken von Dimitris Tsatsos 1. Griechische Politik Schriftliche Darstellungen sind an die Linearität gebunden und erzwingen die Entscheidung für eine bestimmte Reihenfolge. Im tatsächlichen Leben hängt aber vieles vielseitig mit anderem zusammen und findet simultan statt. Dimitris Tsatsos war Politiker und Wissenschaftler – und zwar aus denselben Beweggründen. Hier wie dort ging es ihm um die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für eine demokratische Ordnung, um die Legitimität dieser Ordnung und damit Transparenz und – europapolitisch – um die geeigneten Institutionen für ein vereintes Europa in seiner Vielfalt. Wenn in dieser Darstellung zwischen dem Politiker und dem Wissenschaftler Tsatsos unterschieden wird, so ist dies nur Zwängen der Darstellung geschuldet, bei ihm selbst waren Wissenschaft und Politik nur zwei Seiten derselben Medaille: Mit seinen rechtswissenschaftlichen Anstrengungen wollte er das politische Ziel der Demokratie und der europäischen Einigung befördern, in seinem Wirken als Politiker dominierten die Fragen der angemessenen rechtlichen Ordnung des politischen Prozesses. In Griechenland ging es ihm, wie im Lebenslauf schon angeklungen, nach der Überwindung der Militärdiktatur um den (Wieder)Aufbau einer gesicherten Demokratie. Hier war er zunächst bei der Verfassunggebung beteiligt, 1986 dann an der Revision der Verfassung, in welcher der ursprünglich (nach französischem Vorbild) stark präsidentielle Charakter der Verfassung stark abgeschwächt wurde und wesentliche Kompetenzen der Regierung und insbesondere dem Premierminister in die Hand gegeben wurden. Sein wiederholtes Eintreten für die innerparteiliche Demokratie4 ist durchaus auch vor dem Hintergrund der griechischen Innenpolitik zu sehen. Die Vorsitzenden der griechischen Parteien konnten – jedenfalls bislang – faktisch uneingeschränkt in ihren Parteien Sachund Personalentscheidungen treffen. Für die Regierungspartei bedeutete dies angesichts der starken Stellung des Regierungschefs nach der Verfassung einen weitgehenden Ausfall innerparteilicher Kontrollmechanismen. Forderungen Tsatsos‘ nach mehr innerparteilicher Teilhabe hatten insofern durchaus aktuelle
4 Dazu etwa: Die innerparteiliche Demokratie, ihre Abenteuer in einem Umfeld privatisierter Politik, griechisch, Athen 2009, eine Schrift, in der er – hellsichtig – den Verlust staatlicher Autonomie und Steuerungsgewalt beklagt.
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politische Gründe.5 Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa wurde Tsatsos in diesen jungen Demokratien als Berater in politisch-wissenschaftlicher Doppelrolle tätig, insbesondere auch bei der Verfassungsdiskussion in Polen.
2. Europäische Integration Die von Dimitris Tsatsos verkörperte Verbindung von juristischem Sachverstand, politischem Gespür und überzeugtem Europäertum führte ihn in den institutionellen Ausschuss des europäischen Parlamentes und brachte ihm dort hohes Ansehen ein. Dementsprechend wurde er auch mit wichtigen Aufgaben betraut, so erstellt er zusammen mit dem Abgeordneten E. Mendez de Vigo den Bericht für den institutionellen Ausschuss zum Vertrag von Amsterdam.6 Zusammen mit E. Brock fungierte er bei der Regierungskonferenz von Nizza als Vertreter des europäischen Parlaments. Die Tatsache, dass Art. 10 Abs. 4 EUV eine Bestimmung über die politischen Parteien enthält, geht auf einen Vorschlag von Tsatsos zurück, zunächst verwirklicht in Gestalt des früheren Art. 138a EGV.7 Eine wesentliche politische Errungenschaft, an der Tsatsos zusammen mit Mendez de Vigo mitwirkte, war der Übergang zur so genannten Konventsmethode.8 Danach sind bei der Ausarbeitung von Vertragsänderungen auch Parlamentarier, sowohl des Europaparlamentes wie der nationalen Volksvertretungen, zu beteiligen. Auch diese Anregung hat es mittlerweile zur Ehre des Vertrages gebracht in Gestalt des ordentlichen Änderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 2 ff. EUV. Der Unionsvertag sieht in Art. 10 Abs. 2 die Legitimation der Europäischen Union auf zwei Säulen gestellt, auf die Repräsentation der Unionsbürger im europäischen Parla-
5 Zum Zusammenhang zwischen der Krise Griechenlands und den Strukturen des politischen Systems siehe K. Chryssogonos/S.-I. G. Koutnatzis, Die finanzielle Tragödie Griechenlands aus verfassungsrechtlicher und institutioneller Sicht, JöR 60 (2012), S. 401 ff. 6 Der Bericht ist abgedruckt in EuGRZ 1998, S. 72 ff. 7 Siehe dazu auch D. Th. Tsatsos, Europäische Politische Parteien? Erste Überlegungen zur Auslegung des Parteienartikels des Maastricht-Vertrages – Art. 138a EGV, in: EuGRZ 1994, S. 45 ff. 8 Dazu D. Th. Tsatsos, Der europäische Konvent – Einige rechtspolitische Bemerkungen, in: P. Hänni (Hrsg.), Festschrift für Th. Fleiner, 2006, S. 947 ff.; derselbe/H.-R. Schmidt, Die Konventsmethode, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung, 2010, S. 43 ff.; Zur Rolle des Parlamentes und damit indirekt auch zur Bedeutung der Anregung durch Tsatsos siehe P. Schiffauer, Die Gestaltungskraft des Europäischen Parlaments im Prozess der Entstehung einer Verfassung der europäischen Union, in: Institut für europäische Verfassungswissenschaften (Hrsg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, 2004, S. 93 ff.
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ment und auf die Vertretung der Mitgliedsstaaten im europäischen Rat durch die Regierungschefs oder die Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten. Auch hinter diesem Modell kann man einen Anstoß durch Tsatsos sehen, nämlich seine Kennzeichnung der Europäischen Union als eine solche der Völker und der Staaten im de Vigo/Tsatsos Bericht. Dieser doppelte Charakter der Union ergebe sich aus den geschichtlichen, kulturellen und geopolitischen Gegebenheiten Europas. Die Aufgabe des europäischen Rechtes sieht Tsatsos darin, dieser Gegebenheit gerecht zu werden, Europa sei eine Einheit, zugleich aber auch eine Vielheit. Dies erfordere zwingend die doppelte Legitimation.9
IV. Das wissenschaftliche Wirken von D. Th. Tsatsos 1. Das griechische wissenschaftliche Schaffen von Dimitris Tsatsos Das wissenschaftliche Œuvre von Dimitris Tsatsos umfasst eine griechische und eine deutsche Seite. Aus sprachlichen Gründen ist sein wissenschaftliches griechisches Schaffen nur schwer zugänglich. Die vorliegende Darstellung des griechischen wissenschaftlichen Schaffens und Wirkens von Dimitris Tsatsos greift deswegen maßgeblich auf eine Quelle aus griechischer Feder10 zurück. Ein Aspekt der Wirkung des Öffentlichrechtlers Tsatsos in Griechenland war seine Überwindung der strikten positivistischen Separierung von Recht und Politik. In Ausführungen zu den Besonderheiten der Verfassungsinterpretation wandte er sich gegen das Dogma einer einzigen möglichen richtigen Auslegung und betonte den Zusammenhang von Verfassungsauslegung und Verfassungstheorie. Auf dieser Grundlage bearbeitete er ein thematisches Feld erheblicher Breite, das durchaus durch einen Hang zur Auseinandersetzung mit Grundlagenfragen gekennzeichnet ist und sich fast durchweg im Spannungsfeld von Recht und Politik bewegt. Dementsprechend heißt sein spätes griechisches Hauptwerk auch „Politeia“,11 ein Begriff, in dem wie etwa im Deutschen „Gemeinwesen“
9 Siehe dazu auch D. Th. Tsatsos, Europäische Politische Parteien? Erste Überlegungen zur Auslegung des Parteienartikels des Maastricht-Vertrages – Art. 138a EGV, EuGRZ 1994, S. 45 (48). 10 K. Chryssogonos/S.-I. G. Koutnatzis, D. Th. Tsatsos als griechischer Staatslehrer, in: Verfassung – Parteien – Unionsgrundordnung, i.E. 11 Griechisch, Athen 2012.
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Staat und Gesellschaft nicht in strikter Trennung gesehen werden. In diesem Werk werden die Grundbegriffe von Staat und Verfassung untersucht. Konkretere Themen waren etwa die parlamentarische Inkompatibilität, Grundrechtsfragen, die Verfassungsinterpretation,12 Verfassunggebung und Verfassungsrevision. Die verfassungsrechtliche Literatur wird dominiert von seinem dreibändigen Werk zum griechischen Verfassungsrecht, das in seinen unterschiedlichen Bänden in verschiedenen Auflagen erschienen ist. Ein durchgehaltenes Interesse gilt auch in seinem griechischen Schaffen den politischen Parteien und hier insbesondere der innerparteilichen Demokratie (dazu bereits oben III.). Angesichts der griechischen Klientelpolitik und der Praxis privater undurchsichtiger Finanzierung von Parteien und Kandidaten wird auch hier wieder der Zusammenhang von wissenschaftlichem und politischem Impetus bei Tsatsos deutlich. Seit seiner Mitgliedschaft im europäischen Parlament entfaltet er auch eine lebhafte europarechtliche Aktivität in seiner Muttersprache. Für die Kennzeichnung der Europäischen Union schuf er den Begriff der „Sympoliteia“.13 Mit diesem Begriff soll das Zusammenstimmen unterschiedlicher staatlicher Ordnungen in einem gemeinsamen institutionellen Rahmen zum Ausdruck gebracht werden, es geht um beides zugleich, eine Union von Bürgern wie eine Union von Staaten. Die überkommenen Zentralbegriffe des öffentlichen Rechts, etwa Demokratie, Souveränität oder Bundesstaat, müssen für diesen neuen Anwendungskontext neu bestimmt werden. Im deutschen Schrifttum von Tsatsos dürfte anstelle der „Sympoliteia“ der Begriff der „Unionsgrundordnung“ stehen. Tsatsos als wirkmächtigen langjährigen Nestor der griechischen Staatsrechtslehre zu bezeichnen, dürfte jedenfalls eine kaum bestreitbare Beschreibung seiner Bedeutung sein.
2. Das deutsche wissenschaftliche Schaffen von Dimitris Tsatsos Wie in seinen griechisch-sprachigen Veröffentlichungen so konzentrierte sich Tsatsos auch in seinem deutschen wissenschaftlichen Wirken auf die rechtliche Einbettung und Disziplinierung der Politik mit dem Ziel, die demokratische Legi-
12 Ausführlich bei Ph. C. Spyropoulos, Die griechischen Schriften zur Verfassungsinterpretation von Dimitris Th. Tsatsos, in: Verfassung – Parteien – Unionsgrundordnung, i.E. 13 Europäische Sympoliteia: Für eine Union von Staaten, Völkern, Bürgern und europäischer Verfassungskultur, griechisch, Athen 2007.
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timation der Herrschaft zu sichern und zugleich die Offenheit für politische Entscheidungen sicherzustellen. Man könnte sein Schaffen wohl zusammenfassen unter dem Titel Bemühungen zur „Verfassung der Demokratie“. Diese Anstrengungen kannten drei Schwerpunkte, die der Titel eines Sammelbandes von Aufsätzen benennt: Verfassung – Parteien – Europa.14 Ihm selbst war die Schrift „Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik“ aus dem Jahr 1987 sehr wichtig. Darin formulierte er eine Verabschiedung des Obrigkeitsstaates mit Selbstzweckcharakter, der ihm noch deutlich vor Augen stand, und formulierte die Alternative einer demokratischen Politik, die ihre Rechtfertigung in den Akten der konkreten Politik finden muss. Dies geht nur unter den Bedingungen der „Freiheit, Offenheit und Lernfähigkeit“. Nur äußerlich dem Verwaltungsrecht zuzuordnen ist seine kleine Schrift „Der verwaltungsrechtliche Organstreit“, 1969. Er gehörte damit zu den ersten, die diese Rechtsschutzform anerkannten. In der Sache geht es dort um das typische Problem, unterschiedliche Interessen rechtlich zu verfassen und den Entscheidungsprozess in einer Weise zu strukturieren, dass diese sämtlich hinreichend zur Geltung kommen können. Ein Hauptarbeitsgebiet über die Jahre hin betraf das Recht der politischen Parteien. Er setzte sich kritisch mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung aus dem Jahr 1966 auseinander.15 Eine knappe Gesamtdarstellung des Parteienrechts (zus. mit M. Morlok) erschien 1982. Sein Interesse an innerparteilicher Demokratie drückte sich auch im deutschen Schrifttum aus, in dem Beitrag: „Ein Recht auf innerparteiliche Opposition?“.16 Seine parteirechtlichen Interessen mündeten auch in verschiedenen größeren Forschungsprojekten vergleichenden Charakters. Besonders hervorzuheben ist die große Hagener vergleichende Studie über das Parteienrecht in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft.17 Eine weitere vergleichende Studie galt der Parteienfinanzierung.18 Sein zunehmendes Interesse an den Rechtsfragen der europäischen Integration schlug sich auch in seinem parteirechtlichen Schaffen nieder: in seinen
14 D. Th. Tsatsos, Verfassung – Parteien – Europa, 1999. 15 D. Th. Tsatsos, Die Finanzierung politischer Parteien, in: ZaÖRV 26 (1966), S. 371 ff. 16 Erschienen in der Festschrift für H. Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung – Internationale Gerichtsbarkeit – Menschenrechte, herausgegeben von Rudolf Bernhardt et al., 1983, S. 997 ff. 17 Die Ergebnisse sind veröffentlicht in D. Schefold/H.-P. Schneider/D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990. 18 D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Parteienfinanzierung im europäischen Vergleich, 1992.
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Überlegungen zu europäischen politischen Parteien, die wie oben gezeigt, ja auch den Weg in die Verträge gefunden haben.19 Seine Beschäftigung mit der rechtlichen Ausgestaltung des Projektes der europäischen Einigung lässt sich auf den Titel bringen: „Die institutionelle Entwicklung (in) der EU“. Wie sollte die Union verfasst sein? Sein Denken kreiste hier um die Vereinbarkeit von Einheit und Vielfalt. Seine eigenen Beiträge galten etwa der verstärkten Zusammenarbeit20 und er erwarb sich Verdienste um die sogenannte Konventsmethode.21 Sein eigener konzeptioneller Vorschlag für das Verständnis der rechtlichen Grundlage der Europäischen Union nannte er „Europäische Unionsgrundordnung“.22
3. Der Institutsgründer Charismatische Personen, die Kraft ihrer Persönlichkeit vieles bewirken, hinterlassen ein Problem: Wie geht es weiter? Wie kann das, was sie angestoßen haben, fortgeführt werden? Die klassische Antwort hierauf ist: durch Institutionalisierung. Dimitris Tsatsos war sicher ein großer Beweger und Anreger, zugleich hat er aber dafür gesorgt, dass seine Impulse auch in der Zeit jenseits seiner Lebensspanne fortwirken. So hat er drei wissenschaftliche Institute gegründet: In Athen die Themistokles und Dimitris Tsatsos-Stiftung, die verfassungsrechtliche und andere Projekte insbesondere in Mittel- und Osteuropa betreibt und das Engagement ihres Gründers auf diesem Feld fortführt. An der FernUniversität Hagen gründete er – aus einer von ihm geschaffenen Forschungsstelle – 1991 das Institut für Deutsches und Europäisches Parteienrecht. Dieses wurde im Jahre 2001 an die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf verlagert, wo es ergänzt wurde um eine politikwissenschaftliche Seite. Es firmiert jetzt als Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung und verbindet die sozial-
19 Als jüngere Arbeit ist hinzuweisen auf D. Th. Tsatsos, Ist die europäische Unionsgrundordnung für die Tätigkeit politischer Parteien ungeeignet?, in: F. Hufen (Hrsg.), Festschrift für H.-P. Schneider, 2008, S. 236 ff. 20 D. Th. Tsatsos, Verstärkte Zusammenarbeit, flexible Institution oder Gefährdung der Integration?, 1999. 21 D. Th. Tsatsos, Der Europäische Konvent, in: P. Hänni (Hrsg.), Mensch und Staat, Festschrift für Th. Fleiner, 2003, S. 749 ff. 22 Dieses Konzept hat er mehrfach vorgestellt und sukzessive ausgearbeitet, siehe etwa EuGHZ 1995, S. 287 ff.; monographisch: Die Europäische Unionsgrundordnung, 2002, und schließlich das große Handbuch, das noch kurz vor seinem Tod erscheinen konnte: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung: Handbuch der Europäischen Verfassung, 2010.
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wissenschaftliche mit der rechtswissenschaftlichen Parteienforschung. Sein Engagement für Europa stellte er auf Dauer durch die Gründung des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der Fernuniversität Hagen, eine interdisziplinäre Einrichtung der europabezogenen Wissenschaften. Dieses trägt jetzt seinen Namen. Durch diese Institutsgründungen hat er jedenfalls erreicht, dass seine wissenschaftlichen Interessenschwerpunkte weiterhin intensiv bearbeitet werden, und zwar auch in Kooperation dieser Einrichtungen.
V. Gesamtwürdigung Die fruchtbare Tätigkeit von Dimitris Tsatsos auf verschiedenen Gebieten hat die ihm gebührende Anerkennung gefunden. So war er Träger des Kulturpreises Europa im Jahre 1995 und 2002 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschlands verliehen. Er trug die Ehrendoktorwürde der Universitäten Thessaloniki und Kreta und war Ehrenbürger in drei griechischen Städten. Darin spiegelt sich, dass er ein beispielloser Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Griechenland und Deutschland war. Er war ein renommierter europäischer Jurist, ein überzeugter Europäer und ein mutiger Demokrat. Er lebte zugleich in Griechenland und Deutschland und beförderte durch seine unzähligen persönlichen Kontakte den politischen, den wissenschaftlichen, aber auch den kulturellen Austausch zwischen den beiden Ländern. Er verkörperte die vergleichende Verfassungslehre. Beeindruckend war seine Gabe, die Menschen für eine Sache zu begeistern. Wissenschaftliche Fragestellungen verändern sich, Durchbrüche werden selbstverständlich. Angesichts dessen ist die Frage, was vom wissenschaftlichen Wirken Dimitris Tsatsos‘ bleibt, angemessen nur auf abstrakter Ebene zu beantworten. Bleibend dürfte seine Erkenntnis sein, dass die politische Legitimation nicht in abstrakten Konzepten ruhen kann, sondern sich aus der konkreten Praktizierung der Politik ergeben muss. Sein zentrales Interesse an der rechtlichen Verfassung des politischen Prozesses stellt auch in der Zukunft ein Dauerproblem dar, das wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Bearbeitung verlangt. Das gilt auch für die organisatorischen Hauptakteure in der Politik, die politischen Parteien. Die Herausbildung einer funktionierenden europäischen Parteienlandschaft, die dann auch von einem europäischen Parteienrecht begleitet werden muss, stellt eine der Hauptaufgaben für eine erfolgreiche Zukunft der europäischen Union dar. Seine beiden großen Interessengebiete verschmelzen in dieser Aufgabe.
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Wichtig bleibt auch sein Denkstil. Er war nie der aktuellen Rechtslage allein verhaftet, sondern dachte genuin historisch – und dies bedeutete, das „Gewordensein“ und damit die Relativität der aktuellen Bestände zu erkennen und zugleich die Möglichkeit einer anderen Zukunft in den Blick zu nehmen. Demgemäß betonte er den Prozesscharakter der europäischen Einigung, hinein in eine aus heutiger Sicht offene Zukunft. Auch seine Kennzeichnung des geeinten Europa als Vielfalt und Einheit zugleich, institutionell als Union von Staaten und Völkern, dürfte noch auf lange Zeit angemessen sein. Auch seine Erkenntnis, dass Demokratie für die europäische Union anders auszugestalten ist als in Nationalstaaten, wird bleiben. Hinter dem Werk darf aber der Mensch Dimitris Tsatsos nicht vergessen werden, im Gegenteil: Die Originalität wie die Wirksamkeit seines Schaffens sind nur aus seiner Person heraus zu verstehen. Die Vielfalt seiner Aktivitäten war der Ausdruck seines persönlichen Façettenreichtums. Vielfalt war ihm Lebensprinzip und Lebenselixier, was sich auch darin ausdrückt, dass er fast permanent unterwegs war, von einem Ort seines Wirkens zum nächsten. Was andere ermüdet hätte, beflügelte ihn. Ein markanter Zug seiner Person war seine große Begabung zur Freundschaft. Er verstand es, sich die verschiedensten Menschen zu Freunden zu machen, und zwar zu solchen, die dem Wort auch gerecht werden. Solche belastbaren Freundschaften halfen dann auch dabei, vieles von dem zu ermöglichen, was er anpackte. Nicht vergessen werden darf die Faszination, die er als akademischer Lehrer ausübte. Das hat einerseits damit zu tun, dass er lebte, was er lehrte; seine Qualität als Lehrer erklärt sich aber auch aus seiner großen Offenheit und dem Ernst, seine Schüler so zu nehmen, wie sie waren und immer offen für andere Ansichten zu sein. Demgemäß hat er auch einen großen Schülerkreis in der Staatsrechtslehre, zumal in Griechenland, gefunden. Auch der Autor dieser Zeilen darf sich als sein ehemaliger Habilitand bekennen. Insgesamt war Dimitris Tsatsos ein Mann der Synthese, kein Denker der scharfen Gegensätze. Seine Kunst und sein persönliches Bedürfnis war es, Menschen und Dinge zusammen zu bringen, zur wissenschaftlichen Synthese oder zum politischen Kompromiss.
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Ausgewählte deutschsprachige Publikationen Die Unzulässigkeit der Kumulation von Bundestags- und Bundesratsmandaten, 1965. „Die Finanzierung politischer Parteien“, Die Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juli 1966 zur Frage der Zulässigkeit staatlicher Parteienfinanzierung, in: ZaÖRV 1966, S. 371 ff. Der verwaltungsrechtliche Organstreit, 1969. Die parlamentarische Betätigung von öffentlichen Bediensteten, 1970. Parteienrecht (zusammen mit M. Morlok), 1982. Ein Recht auf innerparteiliche Opposition?, in R. Bernhardt u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 997 ff. Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik, 1987. Unvereinbarkeiten zwischen Bundestagsmandat und anderen Funktionen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 23, S. 701 ff. Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, zusammen hrsgg. mit U. Battis und E. G. Mahrenholz, 1990. Parteienrecht im europäischen Vergleich, zusammen hrsgg. mit D. Schefold und H.-P. Schneider, 1990. Parteienfinanzierung im Europäischen Vergleich (Hrsg.), 1992. Europäische politische Parteien?, in: EuGRZ 1994, S. 45 ff. Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, in: U. Battis/D. Th. Tsatso/D. Stefanou (Hrsg.) Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 469 ff. Dimitris Tsatsos. Verfassung – Parteien – Europa. Abhandlungen aus den Jahren 1962 bis 1998, hrsgg. von M. Morlok/R. Schmidt/D. Stefanou, 1999. Verstärkte Zusammenarbeit. Flexible Institution oder Gefährdung der Integration, 1999. Die Europäische Unionsgrundordnung, 2002. Der europäische Konvent, in: Peter Hänni (Hrsg.), Mensch und Staat, Festschrift für Thomas Fleiner zum 65. Geburtstag, 2003, S. 749 ff. Ist die Europäische Unionsgrundordnung für die Tätigkeit politischer Parteien ungeeignet?, in: Friedhelm Hufen (Hrsg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, 2008, S. 236 ff. Die Unionsgrundordnung, D. Tsatsos (Hrsg.), 2010.
LXV Klaus Vogel (1930–2007) Paul Kirchhof Klaus Vogel ist ein Staatsrechtslehrer, der für die Freiheit des Bürgers kämpft, dabei aber stets die Voraussetzungen der Freiheit bewusst macht. Er fordert ein nachhaltig wirkendes Recht als Garant inneren und äußeren Friedens, als Bedingung von Freiheit und Gleichheit. Er sucht die Staatsgewalt strikt rechtstaatlich zu verfassen und für eine internationale Zusammenarbeit, insbesondere eine vertragliche Verständigung, zu öffnen. Folgerichtig widmet er sich schon sehr früh dem Polizeirecht und dem Steuerrecht, also vielfach vorrangig abwehrend als staatliches Eingriffsrecht gedeutetem Recht, das aber die Grundlagen freiheitlichen Zusammenlebens in gegenseitiger Arbeitsteilung, ideeller Ergänzung und sozialer Unterstützung von Staat und Gesellschaft bildet. Je mehr sich Klaus Vogel aber dem Höhepunkt seines Schaffens näherte, desto mehr tritt das Steuerrecht, anfangs die Grundfragen der Besteuerung, später das Internationale Steuerrecht, in den Mittelpunkt seines Wirkens. 1975 hat er vorausgesagt, das Steuerrecht werde „zu dem Rechtsgebiet werden, das die interessantesten und anspruchvollsten Rechtsfragen stellt“.1 Klaus Vogel hat dann wesentlich dazu beigetragen, dass diese Voraussage sich tatsächlich erfüllt hat. Sein Meisterwerk, der immer wieder neu aufgelegte und ins Englische übersetzte Kommentar zum OECD-Musterabkommen,2 ist zum bedeutendsten Standardkommentar im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen geworden. 1. Klaus Vogel lehrt und erläutert ein Recht, das in seiner Positivität Rechtssicherheit, Rechtsfrieden, einen demokratischen Zusammenhalt der Rechtsgemeinschaft ermöglicht, das im Polizeirecht und im Steuerrecht einen Ausgleich zwischen Bürgerrechten und Bürgerpflichten sucht, das stets aus Prinzipien erwächst und in Prinzipen fortgebildet wird, seine Belastungswirkungen in diesen Grundsätzen rechtfertigt und begrenzt. Dieses Recht ist in der Wirklichkeit weltumspannenden Begegnens, Wirtschaftens, kulturellen Austausches auf Internationalität, auf Zwischenstaatlichkeit, auf völkervertragliche Verständigung angelegt. In seiner Antrittsvorlesung
1 Klaus Vogel, Die Besonderheit des Steuerrechts, DStZ/A 1977, S. 5. 2 Klaus Vogel/Moris Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Steuern von Einkommen und Vermögen. Kommentar auf der Grundlage der Musterabkommen, 5. Aufl. 2008; Klaus Vogel, Klaus Vogel on double taxation conventions, 3. Aufl., 1997; 4. Auflage vorgesehen für August 2013.
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„Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“, 1964, entwickelt Klaus Vogel die Vorstellung von einer offenen Staatlichkeit, die nach Völkerrecht und deutschem Verfassungsrecht zur internationalen Zusammenarbeit verpflichtet ist. Nicht der nach außen hin abgeschirmte Herrschaftsverband, sondern der in die internationale Gemeinschaft als einem abgestuften Ordnungsgefüge eingeordnete Staat bestimme das kooperationsoffene Staatsrecht und das moderne, durch einen „solidarischen“ Zug geprägte Völkerrecht. Das Grundgesetz habe in den Art. 24, 25 und 26 sowie in der Präambel eine umfassende Verfassungsentscheidung für eine „offene“ Staatlichkeit getroffen. Diese inhaltliche Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland auf eine internationale Gemeinschaft verpflichte als dirigierender Verfassungsrechtssatz die Organe des Bundes zu einer aktiven Politik und Gesetzgebung in Richtung auf eine solche „offene“ Staatlichkeit. Die These, das Grundgesetz habe sich für die internationale Zusammenarbeit entschieden, liegt auch der Habilitationsschrift „Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm“, 1965, zugrunde. Die Frage, wann Verwaltungsrechtsnormen auf „internationale“, die Staatsgrenzen überschreitende Sachverhalte zu erstrecken sind, geht von der Auflösung des Territorialprinzips aus, das die Vorschriften des staatlichen Verwaltungsrechts nahezu ausschließlich auf Personen und Sachverhalte innerhalb des eigenen Staatsgebietes anwenden will. Vogels Auseinandersetzung mit dem Territorialprinzip enthält eine monographische allgemeine Staatslehre, die vom Territorialprinzip abrückt und eine dementsprechende Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert nachzeichnet. Heute sei dieses Prinzip weder nach geltendem Völkerrecht noch nach deutschem Staats- und Verwaltungsrecht maßgeblich. Zu Begriff und Theorie des internationalen Verwaltungsrechts legt Vogel die geistesgeschichtlichen und politischen Grundlagen des „klassischen“ internationalen Privatrechts in der Prägung durch Savigny dar und betont, die Auffassung, das Privatrecht sei dem Staat vorgegeben und der vom Staat geschiedenen gesellschaftlichen Sphäre zuzurechnen, könne auf das genuin staatliche Verwaltungsrecht nicht übertragen werden. Im Ergebnis vertieft Vogel die Lehre von der Einseitigkeit des internationalen Verwaltungsrechts; das internationale Verwaltungsrecht sei ein unselbstständiges Teilgebiet des allgemeinen und besonderen materiellen Verwaltungsrechts. Deshalb gebe es ein internationales Verwaltungsrecht als wissenschaftliche Einheit nicht; man könne allenfalls gewisse allgemeine Regeln abstrahieren und für die Fälle bereithalten, in denen die einzelnen Zweige des Verwaltungsrechts keine eigenständigen Vorschriften enthielten. In Abgrenzung zu den Lehren des von ihm
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hochgeschätzten Karl Neumeyer3 entwickelt Vogel für das Verwaltungsrecht die These, dort müssten die anwendungsbegrenzenden Normen dogmatisch nicht von den Normen des materiellen Verwaltungsrechts unterschieden werden. Die Verselbstständigung sei eher eine Frage der Gesetzgebungstechnik; die Grenznormen würden überwiegend unmittelbar in den zu begrenzenden Sachnormen selbst geregelt. Die eigentliche, aber auch die einzige „Kollisionsnorm“ des internationalen Verwaltungsrechts liege in dem Einseitigkeits-Gedanken, nach dem der Staat nur sein eigenes Verwaltungsrecht anzuwenden habe und anwenden könne. Die Anwendung ausländischen Verwaltungsrechts stütze sich prinzipiell auf eine innerstaatliche „materielle Verweisung“, die entweder auf die entsprechende Anwendung der Rechtsfolge einer fremden Sachnorm verweise oder ihre eigene Rechtsfolge in ihrem Tatbestand von dem Vorliegen bestimmter Rechtsfolgen nach Maßgabe ausländischer Verwaltungsrechtsnormen abhängig mache. Die „Anerkennung“ fremder Verwaltungsakte sei nur ein Sonderfall der Anwendung fremden Verwaltungsrechts; angewandt würden die Vorschriften des fremden Verwaltungsrechts über die Verbindlichkeit (Bestandskraft) der Verwaltungsakte. Die Kernaussage von der offenen Staatlichkeit prägt das wissenschaftliche Leben von Klaus Vogel. Als zu seinem 60. Geburtstag seine wichtigsten Einzelveröffentlichungen in einem Sammelband publiziert worden sind,4 lautete der Titel „Der offene Finanz- und Steuerstaat“. In seiner Münchener Abschiedsvorlesung hat Klaus Vogel diesen Leitgedanken erneut aufgegriffen und für das Verhältnis von Völkerrecht und Verfassungsrecht akzentuiert. Diese „Offenheit“ steht allerdings nicht für verminderte Verbindlichkeit oder gar Beliebigkeit. „In geradezu rigoroser Begriffstreue“5 und sprachlicher Klarheit hat er den Gesetzgeber und die Exekutive ‑ insbesondere in Zeiten einer gefährdeten Universität und gegenüber der Steuergewalt, dem „Zentrum der Macht“ moderner Staatlichkeit ‑ an seine Pflicht erinnert, Gewalt über den Menschen in einen Verfassungsstaat und diesen an die Idee des juristischen Liberalismus zu binden. 2. Im Rahmen dieser Erwägungen dient das Steuerrecht – das Recht der „leistungsanfordernden“ Normen – bereits als Anwendungsbeispiel für eine „offene“ Staatlichkeit.6 Das Steuerrecht sei auf Sachverhalte mit Auslandsbeziehung in
3 Vgl. auch Klaus Vogel, Karl Neumeyer zum Gedächtnis, AöR 95 (1970), S. 138. 4 Klaus Vogel, Der offene Finanz- und Steuerstaat, Ausgewählte Schriften 1964–1990, hrsg. von Paul Kirchhof, 1991. 5 Anna Leisner-Eggensperger, Nachruf auf Klaus Vogel, NJW 2008, S. 277. 6 Klaus Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 425 f.
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Zweifelsfällen so anzuwenden, dass etwaige Erschwerungen des internationalen Leistungsaustausches vermieden werden. Diesen Ausgangsgedanken hat Klaus Vogel zu einem Kerninhalt des Internationalen Steuerrechts ausgeformt und weiterentwickelt. Bis heute gilt im internationalen Einkommensteuerrecht weder für den Belastungsgrund noch für die Aufteilung des Steueraufkommens ein einmütig anerkanntes Prinzip. Teilweise wird das internationale Einkommensteuerrecht als ein positivrechtlich vorgefundenes Nebeneinander nationaler Steuergesetze und völkerrechtlicher Abkommensbestimmungen verstanden (dualistische Theorie), teilweise wird die Doppelbesteuerung als eine Kollision verschiedener Steuerrechtsordnungen gedeutet, der durch eine eindeutige Zuteilung der Steuersubjekte und Steuerobjekte abzuhelfen sei (Kollisionstheorie). Neuere, steuerspezifische Ansätze bemühen sich, die Einkommenbesteuerung grundsätzlich auf das inländische Einkommen jedes Steuerpflichtigen zu beschränken (Ursprungstheorie). Klaus Vogel7 geht von der Ursprungstheorie aus und betont, dass die Ursprungsorientierung den Dreh- und Angelpunkt jeder gerechten internationalen Steuerordnung bilde. Angesichts des Wirkungszusammenhangs von innerstaatlichem Recht und Abkommensrecht könne von einem Vorrang der Welteinkommensbesteuerung heute nicht mehr gesprochen werden. Zur Bestimmung des Ursprungsortes wählt Vogel jedoch einen neuen Ansatz: Die Ursprungsbestimmung setze zwar einen Staat voraus, in dem einem Wirtschaftsgut ein Wert hinzugefügt werde; die Definition des Ursprungs sei jedoch mehr Teil der Problembeschreibung denn Lösungsbasis und müsse deshalb im Licht der übergeordneten Zielvorgaben des internationalen Steuerrechts geformt werden. Vogel schließt also nicht vom jeweiligen Beitrag eines Staates zur Einkünfteerzielung auf die Qualifikation als Ursprungsstaat, sondern fragt zunächst, welchem Staat nach den dem internationalen Steuerrecht zugrundliegenden Gerechtigkeitswertungen das Besteuerungsrecht zugesprochen werden müsse. Als Zielvorgaben des Internationalen Steuerrechts – und damit der Definition des Ursprungsbegriffs – nennt Vogel die wirtschaftliche Effizienz, die individuelle und die zwischenstaatliche Gerechtigkeit. Effizienz meint Produktivität; deshalb ist diesem Erfordernis genügt, wenn die das Einkommen produzierenden Faktoren durch den Marktmechanismus ohne staatlichen Einfluss verteilt werden. Steuergesetze, welche die Faktorallokation durch Marktkräfte nicht
7 Klaus Vogel, Die Besteuerung von Auslandseinkünften. Prinzipien und Praxis, in: Klaus Vogel, Grundfragen des internationalen Steuerrechts, 1985, S. 3 ff. (20 ff); ders. World-wide vs. Source Taxation of Income. A Review and Re-evaluation of Arguments, Intertax 1988, S. 216 ff., 310 ff., 393 ff.
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stören, bezeichnet er als neutral. Die Besteuerung wirkt jedoch nicht schon dann neutral, wenn Investitionen so vorgenommen werden, als ob es keine Besteuerung gäbe; vielmehr erst dann, wenn so investiert wird, als ob es keinen staatlichen Einfluss – weder einen positiven noch einen negativen – auf die Investitionsentscheidung gäbe. Mit dieser tatbestandlichen Verschärfung der Neutralität berücksichtigt Vogel, dass der Anleger seine Investitionsentscheidung nicht nur auf die zukünftige Steuerlast, sondern auch auf den Nutzen der vom Investitionsland bereitgestellten öffentlichen Güter ausrichtet. So gerät das Verhältnis von Steuerleistung und staatlicher „Gegenleistung“ in den Blick: „Je höher das Steuerniveau eines Landes liegt, desto höher ist in der Regel auch die Versorgung mit öffentlichen Gütern, vor allem der Sicherheit, der wirtschaftlichen Stabilität, der Infrastruktur, der direkten Subventionen, des Niveaus der Volksgesundheit, des öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesens.“ Vogel versteht demnach die Besteuerung als Gegenleistung für die vom Staat gewährten öffentlichen Güter. Diese „Nutzentheorie“ weise im zwischenstaatlichen Verhältnis dem Quellenstaat das alleinige Besteuerungsrecht zu, weil er am Investitionsort durch die Erbringung öffentlicher Leistungen die Erzielung von Einkünften ermögliche. Im Ergebnis sieht Vogel den Ursprung von Einkünften aus Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen im Quellenstaat, die Quelle von Einkünften aus dem Verkauf von Waren und immateriellen Gütern im Wohnsitzstaat. Die Quelle der Lizenzgebühren liege teils im Wohnsitz-, teils im Quellenstaat, weil die Lizenzvergabe gegen ratenweise Zahlung als Veräußerung eines immateriellen Gutes mit gleichzeitiger Darlehensgewährung zu qualifizieren sei. Mit diesen Thesen hat Vogel den wissenschaftlichen Anspruch und den praktischen Wert der Ursprungstheorie für die Gegenwart bewusst gemacht: Sie ist nicht nur finanzwissenschaftliches Postulat, sondern Grundlage des geltenden Rechts und wesentlicher Teilinhalt der internationalen Rechtsordnung. Diese Vorgabe verpflichtet das internationale Einkommensteuerrecht auf übergeordnete Ziele der Gesamtrechtsordnung, auf Gerechtigkeit und auch auf Effizienz. Es ist grundsätzlich gerecht und wirkt gleichzeitig wettbewerbsneutral, wenn alle Personen in den Staaten, mit denen sie in Berührung stehen, Einkommensteuer nach Maßgabe der von diesen Staaten empfangenen öffentlichen Leistungen zahlen. 3. Steuergerechtigkeit ist bei Klaus Vogel austeilende Gerechtigkeit.8 Es gehe um die gerechte Verteilung staatlicher Lasten. Die Steuergerechtigkeit nehme die Verhältnisse, in denen die Steuerpflichtigen leben, als ihren Ausgangspunkt hin.
8 Klaus Vogel, Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1972/1973, S. 155 ff.; ders., Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZ/A 1975, S. 409 ff.;
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Austeilende Gerechtigkeit sei nicht aktive, sondern re-aktive Gerechtigkeit. Auch steuerrechtliche Regelungen mit nichtfiskalischen Zwecken, die den Erfordernissen der gestaltenden Gerechtigkeit unterlägen, nähmen der austeilenden Gerechtigkeit letztlich nicht den verfassungsrechtlichen Vorrang bei der Beurteilung der Steuergesetze. Der nichtfiskalische Zweck rechtfertige die betreffende Regelung nur dann, wenn er nicht nur die Belastung oder Entlastung als solche, sondern auch die Maßstäbe ihrer Verteilung legitimiere. Der Zweck der Steuer, den öffentlichen Finanzbedarf zu decken, wird durch jede Steuerzahlung erreicht. Die Deckung des staatlichen Finanzbedarfs ist eine abstrakte, weitgehend willentlich bestimmte Größe, die dem Steuerrecht ebenfalls keinen prägnant rechtfertigenden und begrenzenden Zweck vorgibt. Für die Steuergerechtigkeit tritt deshalb der Zweck, dem Staat Finanzmittel zu beschaffen, zurück und das Ziel einer gerechten Verteilung dieser Lasten in den Vordergrund. Klaus Vogel fordert für das Steuerrecht eine eigene Methodologie, die diesen Erfordernissen austeilender Gerechtigkeit genügen kann. Das Prinzip der Leistungsfähigkeit sei nur ein erster bescheidener Ansatz dazu. Es bedürfe weiterer, abgestufter Konkretisierungen, um diesen Maßstab der Belastungsgleichheit deutlicher zu entfalten. Insbesondere die progressive Einkommensteuer stelle die Gerechtigkeitsfrage in zweierlei Richtung: im Verhältnis zwischen Steuerpflichtigen gleicher Leistungsfähigkeit (horizontale Steuergerechtigkeit) und im Verhältnis zwischen Steuerpflichtigen unterschiedlicher Leistungsfähigkeit (vertikale Steuergerechtigkeit). Der progressive Tarif verwirkliche vertikale Gerechtigkeit; die horizontale Steuergerechtigkeit fordere den gleichen Steuersatz für die Steuerpflichtigen gleicher Leistungsfähigkeit. Für die Bindungen, denen der Gesetzgeber bei der Bestimmung des Begriffs der Leistungsfähigkeit unterliege, seien sodann notwendige Elemente des Begriffs der Leistungsfähigkeit von den fakultativen Elementen zu unterscheiden und von den Tatsachen abzuheben, die mit der Leistungsfähigkeit in keinem Zusammenhang stehen. Diese Überlegungen der Steuergerechtigkeit zielen nicht nur auf die Ausgestaltung und Höhe der Steuerbelastungen, sondern nehmen die Grundsatzfrage nach der Rechtfertigung der Steuern auf. Lorenz von Stein9 hat drei Prinzipien zur Rechtfertigung und zur Beschränkung der Steuergewalt genannt: Das wirtschaftliche Prinzip fordere, dass die Steuer nicht das Kapital angreife, um nicht den Prozess der Neubildung durch Einkommen und Kapitalbildung langsam
ders. Die Besonderheit des Steuerrechts, DStZ/A 1977, S. 5 ff.; ders., Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, in: Der Staat 1986, S. 481 ff. 9 Lorenz von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 5. Aufl., 1. Theil und 2. Theil, 1. Abtheilung, 1885, 2. und 3. Abtheilung 1886.
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zu vernichten; das finanzielle Prinzip verbiete, nicht mehr Steuern zu erheben, als der Bedarf rechtfertige; das staatswirtschaftliche Prinzip, das Prinzip der Reproduktivität des Steuerwesens, verlange auch für den Steuerstaat, dass der wirtschaftliche Wert dessen, was durch die Verwendung erreicht wird, den Wert dessen, was verwendet wird, übersteige. Klaus Vogel10 knüpft an diese Lehre an, zeigt aber insbesondere die Notwendigkeit, das Prinzip der Reproduktivität neu zu durchdenken. Anstelle des Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft sei heute eine Dreiecksbeziehung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft getreten. Dementsprechend könne die Rechtfertigung der Steuern sich nicht mehr allein an die Rechtfertigung des Staates anlehnen, sondern führe darüber hinaus auf die Frage der Rechtfertigung jenes Dreiecksverhältnisses Staat/Wirtschaft/ Gesellschaft. In diesem System gewinne die selbstgesteuerte Privatwirtschaft die überlegene Fähigkeit, wirtschaftliche Produktivität zu erbringen und zu erhalten. Der Staat habe vor allem die Aufgabe, gegenüber der leistungsfähigen, mächtigen Wirtschaft wichtige Allgemeininteressen zu wahren und die Ergebnisse wirtschaftlicher Steuerung zu korrigieren. Dementsprechend sind Ausgaben – und Steuern zur Deckung dieser Ausgaben –gerechtfertigt, soweit sie zur Erfüllung dieser soziaalstaatlichen Aufgaben nötig sind. Steuern würden grundsätzlich von wirtschaftlichen Werten erhoben. Ihre Rechtfertigung ergebe sich nun daraus, dass sie ein unverzichtbares Element der beschriebenen dreiteiligen Verfassung in den Elementen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seien. Mit den Steuern gäbe die produzierende Wirtschaft aus den erzeugten wirtschaftlichen Werten einen Teil dessen an die Allgemeinheit zurück, was der Staat seinerseits zur Erzeugung der Güter beigetragen habe – ein Gedanke, der bereits die Besteuerungshoheit verschiedener Staaten bei grenzüberschreitenden Lebenssachverhalten gerechtfertigt und zugeteilt hat. Sei aber die Leistungsfähigkeit des Staates derjenigen der Privatwirtschaft unterlegen, so kehre sich die Beweislast für die Einhaltung des Reproduktivitätsprinzips spätestens dann um, wenn der Anteil des Staates an den produzierten Werten 50 % erreiche. Sei eine solche Rechtfertigung aus dem Reproduktivitätsprinzip nicht möglich, so bleibe als Rechtfertigungsprinzip allenfalls noch das Nutzenprinzip, wenn der individuelle Nutzen zugerechnet und die Abgabe nach der Höhe dieses Nutzens bemessen werden könne. 4. Klaus Vogel ist der Begründer der Dogmatik des Internationalen Steuerrechts. Seine Lehre über die Auslegung und Handhabung des internationalen
10 Klaus Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, in: Der Staat 1986, 481 (497 ff.); ders., in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I 1987, § 27 Rdnr. 64 ff.
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Steuerrechts „ist weltweit anerkannt“.11 Sein Meisterwerk ist sein DBA-Kommentar.12 In diesem inzwischen in fünfter Auflage erschienenen, nunmehr zusammen mit Moris Lehner herausgegebenen Werk hat Vogel eine übergreifende Lehre zur internationalen Aufteilung des Besteuerungsrechts und zur Vermeidung von Doppelbesteuerung entwickelt. Die Aufteilung der Besteuerungsgewalt erreiche eine individuelle Gerechtigkeit wie auch eine Gerechtigkeit unter den Staaten nach Gesichtspunkten der Legitimation, der Gleichbehandlung und der Stimmigkeit, wenn das Besteuerungsrecht allein dem Quellenstaat zugewiesen werde. Die Doppelbesteuerung wird insbesondere durch Abkommen vermieden, die in dem OECD-Musterabkommen eine wesentliche Orientierung finden und deren Fortbildung Klaus Vogel weitgehend beeinflusst hat. Sein Kommentar ist inzwischen das Standardwerk für Wissenschaft und steuerrechtliche Praxis, sein Kommentarprinzip ist in Deutschland, Dänemark und Großbritannien zum Vorbild für andere Werke geworden. Die englische Fassung des Kommentars13 vermittelt seine Lehren in nahezu alle am Welthandel beteiligten Staaten. Das Anliegen des DBA-Kommentars zielt darauf, nicht die weltweit etwa 2500 oder von Deutschland abgeschlossenen knapp 100 Abkommen zu kommentieren, sondern die Grundstrukturen dieses von der internationalen Praxis bestimmten Rechtsgebietes rechtswissenschaftlich zu ergründen und zu verstehen, dabei das OECD-Musterabkommen als „Blaupause“14 zu nutzen. Aus dem zwischenstaatlichen Recht wird ein transnationales Recht, das die Normen und ihre Anwendung („Entscheidungsharmonie“) umfassen. Auf dem Fundament seiner Grundlagenüberlegungen zum Steuerrecht, einer elementaren Rechtfertigungslehre für die Steuern,15 bettet er das geltende Recht tatbestandsgenau und textgebunden aus seiner historischen Herkunft, in seiner rechtlichen Bedeutung und in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen in einen Rechtshumus ein, aus dem Recht erwächst, aus dem Recht gefertigt wird. Dieses Fundament erlaubt einen prinzipiengerechten Ausgleich zwischen den Steuerstaaten,16 hat auch die ebenso bedeutende wie
11 Moris Lehner, Klaus Vogel zum 75. Geburtstag, DStR 2005, S. 2053. 12 Klaus Vogel/Moris Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Steuern von Einkommen und Vermögen. Kommentar auf der Grundlage der Musterabkommen, 5. Aufl. 2008. 13 Klaus Vogel, Klaus Vogel on double taxation conventions, 3. Aufl., 1997; 4. Auflage vorgesehen für August 2013. 14 Christian Waldhoff, Klaus Vogel, Nachruf, JZ 2008, S. 246 (247). 15 Klaus Vogel, Rechtsfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat, Bd. 25 (1986), S. 481 f. 16 Klaus Vogel, World-Wide vs. Source Taxation of Income – A Revision and Re-evaluation of Arguments, Intertax, 1988, S. 216 f., 310 f, 393 f.
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umstrittene These von der Verfassungswidrigkeit des Völkerrechtsbruchs („treaty override“) veranlasst.17 5. Die staatsrechtliche Zusammenschau staatlichen Nehmens, Bewirtschaftens und Verteilens von Geldmitteln erfasst die moderne Staatslehre in dem Begriff des Steuerstaates, den Klaus Vogel als einen der Strukturprinzipien des Grundgesetzes bewusst macht.18 Die Äußerung Bodins, nach der die Finanzen die Nerven des Staates seien, biete ein suggestives, treffendes Bild: die Finanzen vermitteln dem Gemeinwesen Kraft, „Vermögen“ in seiner ursprünglichen doppelten Bedeutung. Das Geld habe insbesondere zwei Funktionen: es erweitere die individuellen Handlungsalternativen des Einzelnen (die Freiheit), verschaffe und erweitere aber auch die Möglichkeit, auf den Willen anderer einzuwirken (die Macht). Die Geldmacht sei der Rechtsmacht darin vergleichbar, dass sie Freiheit beschränken und erweitern, aber auch mit der Übertragung Macht weitergeben könne. Die durch Geld vermittelte Macht habe zwar nicht die dem Rechtsbefehl eigene unbedingte Verbindlichkeit, erreiche jedoch faktisch ähnliche, gelegentlich effektivere Steuerungswirkungen. Das Geld diene der Organisation des Staatsapparates und der Lenkung der laufenden Staatstätigkeit, ebenso aber der Einwirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft.19 Dadurch würden der Staatshaushalt, insbesondere die Etathoheit des Parlaments, die Methoden der Finanzplanung und die Finanzkontrolle zu zentralen Handlungs- und Koordinationsinstrumenten des Staates. Diese Finanzmächtigkeit des Staates basiere auf seiner Steuerstaatlichkeit, die eine Trennung von Staat und Wirtschaft voraussetze, zugleich den Staat aber auch am Ertrag der produzierenden Wirtschaft beteilige. Diese Trennung mache es möglich, dass Staat und Wirtschaft je nach ihren eigenen Maßstäben handeln: Staatliches Handeln solle allgemeine Interessen wahren, sei auf Gerechtigkeit verpflichtet. Die Wirtschaft orientiere sich demgegenüber an Gewinn und Verlust als Maßstab für in ihrem Sinne „richtiges“ Handeln. Die Trennung von Staat und Wirtschaft gebe der Wirtschaft die Möglichkeit, ihre auf Produktivität und Unternehmenserhaltung ausgerichtete Leistungsfähigkeit zu entfalten. Diese Rationalität würde allerdings durch einen Verzicht erkauft: Andere als in Geld ausdrückbare Ziele träten bei der Bemessung eines Erfolges oder Misserfolges nicht in Erscheinung. Hier setze die Aufgabe des Staates ein, der die Ergebnisse des wirtschaftlichen Verteilungsprozesses zu berichtigen habe, soweit sie unter Gerech-
17 Ekkehard Reimer, Klaus Vogel (1930–2007), Ein Nachruf, DStR 2008, S. 169. 18 Klaus Vogel a. a. O. (Fn. 32). 19 Vgl. auch Klaus Vogel, Begrenzung von Subventionen durch ihren Zweck, in: Rolf Stödter/ Werner Thieme (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S. 539 ff.
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tigkeitsaspekten nicht mehr vertretbar seien. Er habe zu kontrollieren und, falls nötig, auch zu korrigieren, wenn das Verhalten der wirtschaftlich Tätigen andere gefährde (Gewerbeaufsicht, Umweltschutz) oder kulturell nicht wünschenswerte Entwicklungen fördere (Bauplanung, Denkmalschutz). Das Grundgesetz hat sich mit seiner Finanzverfassung und seiner Wirtschaftsverfassung auf den Steuerstaat festgelegt. Zwar lässt Klaus Vogel offen, ob das Grundgesetz die Steuerstaatlichkeit als Verfassungsvoraussetzung oder als Verfassungsinhalt behandelt; jedenfalls sei die Steuerstaatlichkeit durch das Grundgesetz gewährleistet, weil ohne sie wichtige Regelungen der Verfassung funktionslos würden. Steuerstaatlichkeit fordere insbesondere eine Finanzierung des Staates durch Steuern, erwarte die wirtschaftliche Produktivität von der Privatwirtschaft, beschränke die staatliche Finanzausstattung im Kern auf die steuerliche Teilhabe an der privatwirtschaftlichen Produktivität und setze der Besteuerung eine verfassungsrechtliche Grenze. Dieses Verständnis des Finanz- und Steuerstaates, das die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland in gleichrangiger Weise erklärt wie seine Qualität als Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat und Bundesstaat, verdeutlicht Klaus Vogel durch eine Kommentierung der Finanzverfassung des Grundgesetzes,20 durch eine die Fülle seiner Erfahrungen und Einsichten resümierenden Studie „Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes“21 sowie durch eine Vielzahl von Abhandlungen zum Finanzverfassungsrecht der Bundesrepublik. In seinen finanzverfassungsrechtlichen Grundüberlegungen22 entwickelt Vogel im Rahmen des – weitgehend ungeschriebenen – Abgabensystems des Grundgesetzes einen verfassungsrechtlichen Steuerbegriff sowie den Verfassungsrahmen für die Rechtfertigung, Bemessung und Begrenzung der Steuern und der speziellen Finanzierungs-, Ausgleichs- und Lenkungsabgaben.23 In vertiefenden Einzelstudien widmet sich Vogel ferner den verfassungsrechtlichen Grenzen der öffentlichen Finanzkontrolle,24 dem Verbot „gleichartiger“ örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern in Art. 105 Abs. 2a GG,25 der Abgrenzung zwischen Steuervergünstigungen und direkten Subventionen und ihrer Auswirkung auf Gesetzgebungs-,
20 In: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung zu Art. 104a-109, 114 GG (1970–1978). 21 Klaus Vogel a. a. O. (Fn. 33). 22 Klaus Vogel a. a. O. (Fn. 32). 23 Vgl. auch schon den Beitrag: Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: Peter Selmer/Ingo v. Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift Wolfgang Martens, 1987, S. 265 ff. 24 DVBl. 1970, 193 ff. 25 In: Karl Oettle (Hrsg.), Festschrift für Kuno Barth, 1971, S. 169 ff., ferner: Zur Konkurrenz zwischen Bundes- und Landessteuerrecht nach dem Grundgesetz, Über das „Anzapfen“ von „Steuerquellen“, StuW 1971, 308 ff.
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Finanzierungs- und Verwaltungszuständigkeiten sowie die Notwendigkeit einer haushaltsmäßigen Veranschlagung,26 der Direktive zur Umsatzsteuerverteilung in Art. 106 Abs. 3 Nr. 1 GG in ihrer Vergleichbarkeit mit völkerrechtlichen Regeln27 und den verfassungspolitischen Lehren der amerikanischen Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben.28Zum materiellen Steuerrecht hat insbesondere seine Monographie zu den Rechtswirkungen der Unternehmereinheit (1966) die Rechtsprechung des BFH29 beeinflusst. In zahlreichen Beiträgen weist er auch den Gesetzgeber auf Defizite der Steuerrechtsordnung hin und legt – vielfach auf der Grundlage rechtsvergleichender Erkenntnisse – konkrete Verbesserungsvorschläge vor.30 Seine Auffassung von Staat und Wirtschaft, Besteuerung und Haushaltswesen, Finanzmächtigkeit und Rechtsmächtigkeit, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, nationalem, europäischem, ausländischem und internationalem Recht hat Klaus Vogel ‑ zusammen mit Christian Waldhoff – auf dieser Grundlage in dem Werk „Grundlagen des Finanzverfassungsrechts“31 und in verfassungsrechtlichen Grundlagenstudien zum Finanz- und Steuerstaat32 und zum Finanzrecht des Grundgesetzes33 zu einem geschlossenen System des verfassungsrechtlich gebundenen Finanzstaates, damit des vor allem durch seine Finanzmacht wirkenden Verfassungsstaates zusammengeführt.
26 Klaus Vogel, Verfassungsfragen der Investitionszulage und verwandter Vergünstigungen, DÖV 1977, 837 ff. 27 Klaus Vogel, Anwendung des Völkerrechts zur Auffüllung einer Lücke im Bundesstaatsrecht: Art. 108 Abs. 3 Nr. 1 GG, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 333 ff. 28 Klaus Vogel, Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben, in: Peter Lerche/Hans Zacher/Peter Badura (Hrsg.), Festschrift für Theodor Maunz, 1981, S. 415 ff. 29 BFH BStBl. II 1979, 347, 350, 352, 354, 358. 30 Vgl. – neben dem Gutachten für den Deutschen Juristentag 1966 – seine Schrift über den ausländischen Aktionär in der Körperschaftssteuerreform (1973), seinen Generalbericht für den XI. Kongress der Academie Internationale de Droit Comparé in Caracas zum Thema: Die Flucht vor der Steuer in internationale Transaktionen (1982), oder die Beiträge über die Gesellschaftssteuerpflicht der GmbH & Co. (BB 1970, 269 ff.) und die Arbeitserschwernisse für gemeinnützige und mildtätige Stiftungen durch die Körperschaftssteuerreform (DB 1980, Beilage Nr. 11). 31 Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts: Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz (Vorbemerkungen zu Art. 104a bis 115 GG), 1999. 32 Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 30. 33 Klaus Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl., Bd. IV, 1990, § 87.
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6. In einer kritischen Analyse des geltenden „überkomplizierten, undurchsichtigen, oft ungerechten“ deutschen Steuerrechts34 stellt Klaus Vogel fest, dass das Steuerrecht nicht mehr „Recht“ sei. Ein Steuergesetz aber, das durch seine Kompliziertheit demokratische Verantwortlichkeit verhindere, verstoße gegen das Demokratieprinzip; ein Steuergesetz, das den Rechtsgedanken nicht mehr verwirkliche, verletze das Verfassungsgebot der Rechtsstaatlichkeit. Um eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des Steuergesetzgebers in Zukunft wirksamer werden zu lassen, bietet Klaus Vogel im Anschluss an die „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts eine verdeutlichende Interpretation des Gleichheitssatzes an, die zwischen dem personalen Gleichheitsgebot als Grundrecht und einem objektiv-verfassungsrechtlichen Willkürverbot unterscheidet. Eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf persönliche Eigenschaften lasse sich nicht mit jeder plausiblen Begründung rechtfertigen, sondern verlange Gründe von Gewicht. Außerhalb des personalen Gleichheitssatzes hingegen sei eine großzügige Betrachtung am Platze; hier gelte das Willkürverbot, das Gebot sachgemäßer Begründung, das Gebot der Folgerichtigkeit. Auf der Grundlage dieser Dogmatik lasse sich das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuergesetzgebung verfassungsrechtlich auf eine vierfaches Fundament stützen: Die Finanzverfassung mit ihren steuerlichen Typenbegriffen bilde die Grundlage; das Gleichheitsgrundrecht in der entwickelten Dogmatik bestimme die verfassungsrechtlichen Bezugsgrößen für die Auswahl und die Ausgestaltung der Steuergesetze; das im Rahmen des Demokratie- und des Rechtstaatsprinzips geltende Gebot der Folgerichtigkeit bestimme die gesetzliche Ausgestaltung der gesetzlich geschaffenen Grundsatzentscheidungen für eine Besteuerung; das Sozialstaatsprinzip schaffe inhaltliche Anforderungen. Dem Gesetzgeber bleibe im Rahmen dieser Verfassungsvorgaben ein weiter Spielraum. Es gelte jedoch, diese in verfassungspolitischer Klugheit weit gespannten, aber strikt verbindlichen Verfassungsregeln zu beachten. 7. Die Aufgabe, dem Staat für seine wachsenden Aufgaben hinreichend Handlungsmittel zur Verfügung zu stellen, seine Handlungsmöglichkeiten aber zugleich freiheitlich zu beschränken, stellt sich insbesondere für das Polizeirecht innerhalb eines daseinsbegleitenden Sozialstaates. Auch hier ist Klaus Vogel daran gelegen, für den stets auf neuartige und wechselnde Aufgaben ausgerichteten Staat liberal-rechtsstaatliche Kontinuität zu wahren. In einer seinem Lehrer Gerhard Wacke gewidmeten Studie „Über die Herkunft des Polizeirechts aus der
34 Klaus Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, in: Karl Heinrich Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStJG 12 (1989), S. 123 ff.
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liberalen Staatstheorie“35 verteidigt er engagiert den traditionell freiheitlichen, auf die Gefahrenabwehr beschränkten Charakter des Polizeirechts als „unsere gute Waffe gegen den Polizeistaat“ auch im heutigen Wohlfahrtsstaat mit seinen vielfältigen sozialen Verpflichtungen. Ein Verzicht auf die Typik des klassischen Polizeirechts wäre zugleich ein Verzicht auf die durch sie gewährleistete Freiheit. Gerade in einem freiheitlichen Staat bedürfe es gewisser Sozialnormen, die den großen rechtlich nicht geregelten Bereich des gesellschaftlichen Lebens ordnen und strukturieren. Würden sie erheblich verletzt, so könne der Betroffene sich beim Ausbleiben einer staatlichen Ahndung zur Selbsthilfe veranlasst sehen. Wolle der Staat aber um des inneren Friedens willen diese Selbsthilfe unterdrücken, so wachse ihm die Aufgabe und Pflicht zu, auch in solchen Fällen regelnd tätig zu werden. Deshalb benötige das Polizeirecht auch heute den Ermächtigungstatbestand der „öffentlichen Ordnung“, der zum Schutz der nach Auffassung einer überwiegenden Mehrheit unerlässlichen Voraussetzungen des mitmenschlichen Zusammenlebens berechtige. Diese Ausformung des Polizeiwesens aus seiner Aufgabe und aus den daraus abgeleiteten begrenzten Befugnissen gibt die Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens wiederum nicht allein in die Hand des Staates, insbesondere nicht allein in die Hand des Gesetzgebers, sondern erwartet aus dem Zusammenwirken von freiheitsberechtigter Gesellschaft und freiheitsverpflichtetem Staat die reale Freiheit. Die Folgerungen dieses Grundverständnisses entwickelt Klaus Vogel in dem von ihm und Wolfgang Martens erneuerten Standardwerk des deutschen Polizeirechts.36 Diesem Werk kommt das Verdienst zu, aus der Tradition deutscher polizeirechtlicher Liberalität und gegenüber den für das gesamte deutsche Polizeiwesen gemeinsamen Herausforderungen ein allgemeines deutsches Polizeirecht bewahrt und fortgebildet zu haben, das trotz der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder elementare Gemeinsamkeiten verfasster Staatlichkeit sichert. Diese Aufgabe ist in ihrer Thematik und in ihrer praktischen Bedeutung durchaus der Lehre von den Grundrechten vergleichbar. 8. Würdigen wir Klaus Vogel als Wissenschaftler, denkt der Jurist zunächst an den Forscher des Staats-, Polizei- und Steuerrechts, an den engagierten, immer wieder neue Lehrmethoden bedenkenden und erprobenden akademischen Lehrer, an den kollegialen Freund, an den Ehemann, den fünffachen Vater und vielfachen Großvater. Klaus Vogel ist durch seine Zeit geprägt und dieser doch oft voraus. Geboren 1930 in Hamburg hat er seine Kindheit unter wirtschaftlich und
35 Klaus Vogel, Über die Herkunft des Polizeirechts aus der liberalen Staatstheorie, in: Verfassung, Verwaltung, Finanzen, Festschrift für Gerhard Wacke, 1972, S. 375. 36 Bill Drews/Gerhard Wacke/Klaus Vogel/Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl., Band 1 1975, Band 2 1977; 9. Aufl. 1986.
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politischen schwierigen Bedingungen verbracht, dadurch ersichtlich seinen Sinn für, seine Sehnsucht nach einem fundierten freiheitlichen Rechtsstaat entwickelt. Zu seinen frühen Erfahrungen gehört aber auch das Erlebnis, dass eine Gesellschaft, die von dem elementaren Willen zum Besseren bestimmt ist, fast aus dem Nichts einen Verfassungsstaat, eine bald wieder Ansehen gewinnende Demokratie, eine Kulturgemeinschaft und ein „Wirtschaftswunder“ aufbauen kann. Klaus Vogel bleibt während seiner juristischen Ausbildung und wissenschaftlichen Qualifikation in seiner Heimatstadt, wechselt dann 1964 als Ordinarius nach Nürnberg und Erlangen (1964–1966), begründet in Heidelberg (1966–1977) das Institut für deutsches und internationales Steuerrecht, wirkt schließlich in München (1977–2007) und gründet dort die Forschungsstelle für ausländisches und Internationales Finanz- und Steuerrecht, die zur Basis für Klaus Vogel wurde, um als ein führendes Mitglied der International Fiscal Association zu wirken, als Berater und Gutachter der OECD, des US-amerikanischen Finanzministeriums, der EG-Kommission und der Vereinten Nationen. Seine Wissenschaft handelt von der inter- und transnationalen Welt des Rechts und er erlebt sie in vielen Begegnungen, Freundschaften, Wissenschaftskreisen.37 Ausgangspunkt seines Denkens bleibt der Staat und das Staatsrecht. Auch dieses hat er wissenschaftlich und institutionell gelebt. 1995 ist er in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer mit einem Referat zum Thema „Gesetzgebung und Verwaltung“, zusammen mit Roman Herzog, hervorgetreten und hat lebhafte Grundsatzdiskussionen angestoßen. 1974/1975 war Klaus Vogel zusammen mit Hans Peter Ipsen und Fritz Ossenbühl Mitglied des Vorstands der Vereinigung, 1990/1991 Vorsitzender dieser Vereinigung. Sein Vorsitz fiel in die Zeit der Wiedervereinigung, in der eine politische Praxis, aber auch ein Teil der Publizistik die Legitimation des Grundgesetzes in Frage stellte, deswegen durch eine Volksabstimmung die Verfassung im Zeitpunkt ihres glanzvollsten Legitimationserfolges zur Disposition stellen wollte. Klaus Vogel rief als Vorsitzender der Vereinigung zu einer Sondertagung nach Berlin, die wesentlich dazu beigetragen hat, die Wiedervereinigung innerhalb des Grundgesetzes und nicht jenseits dieser Verfassung zu organisieren. Der Forscher und Lehrer Klaus Vogel, dem die staatsrechtliche und die steuerrechtliche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts vertraut ist, begegnet vor allem mit seinen steuerrechtlichen Themen herausragenden Wissenschaftlern und Denkauffassungen dieser Welt, gibt einem großen Kreis von Studenten, Schülern
37 Vgl. die 2. englischsprachige Festschrift zu seinem 70. Geburtstag: Paul Kirchhof/Moris Lehner/Arndt Raupach/Michael Rodi/Kees van Raad, International and Comparative Taxation. Essays in Honour of Klaus Vogel, 2002.
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und Habilitanten sein Denken, aber auch die Offenheit für andere Auffassungen weiter. Manche Lehre ist von seinen Habilitanden aufgenommen und in eigenen systematischen Rechtsdarstellungen zur Wirkung gebracht worden.38 Klaus Vogel findet vielfältige Anerkennungen, insbesondere durch Rufe nach Nürnberg, Saarbrücken, Bochum, Heidelberg, Hamburg und München, erfährt Wertschätzung in der Mitwirkung in vielen internationalen Vereinigungen, Beiräten, Akademien, empfängt die Ehrendoktorwürde der Wirtschaftsuniversität Wien, die heute jedes Jahr ihm zu Ehren auch eine Klaus-Vogel-Lecture durchführt. Mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes bekundet die Bundesrepublik ihm eine besondere wissenschaftliche und persönliche Wertschätzung. Als er nach der Wiedervereinigung die Initiative „Teilen mit Ostdeutschland“ gründete, verband er wiederum staatspolitische Einsicht und wissenschaftlichen Anspruch mit praktischem Handeln. Zu seinem Siebzigsten wurden ihm zwei Festschriften – eine deutschsprachige39 und eine englischsprachige40 – gewidmet. Klaus Vogel ist ein Rechtslehrer und Rechtsgestalter, der die Positivität des Rechts wahrt, seine Verwurzelung in der Ideengleichheit stets bedenkt, das Recht in seinem staatlichen Ursprung und seiner transnationalen Bedingtheit entfaltet. Klaus Vogel bleibt in seinem Schaffen wirksam und gegenwärtig.
Auswahlbiographie Öffentliche Wirtschaftseinheiten in privater Hand. Eine verwaltungsrechtliche Untersuchung. Hamburg 1959. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit. Tübingen 1964. Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm. Eine Untersuchung über die Grundfragen des sog. Internationalen Verwaltungs-und Steuerrechts. Frankfurt a. M. und Berlin 1965. Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder. Bd. 1 und 2, 8. Auflage des von Bill Drews begründeten, von Gerhard Wacke fortgeführten Werkes, Bd. 2 zusammen mit Wolfgang Martens, Köln, Berlin, Bonn, München, 1975, 9. Auflage in einem Bd., 1985. DBA, Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen, Kommentar, 1. Auflage München 1983, 5. Auflage, zusammen mit Moris Lehner, München 2008.
38 Vgl. insbesondere Dieter Birk, Steuerrecht, 13. Aufl., 2010. 39 Paul Kirchhof/Moris Lehner/Arndt Raupach/Michael Rodi, Staaten und Steuern. Festschrift für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, 2000. 40 Vgl. Fn. 37.
LXVI Peter Saladin (1935–1997) Diemut Majer
I. Leben1 Peter Saladin wurde am 04. Februar 1935 in Basel geboren. Sein Vater war Berufsoffizier. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Basel promovierte er 1960 bei Max Imboden, anschließend war er dessen Assistent in Basel. Während dieser Zeit verbrachte er ein Forschungssemester an der FU Berlin. 1962/63 absolvierte er ein postgraduate Studium an der Michigan-Law School, mit einem Master of Comperative Law (MCL) als Abschluss. Er hatte zwei Kinder, eine Tochter Anne und einen Sohn David, der 1988 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Peter Saladin zog es nach den universitären Aufenthalten in die Praxis. Er trat 1963 bei der Bundesverwaltung in die Justizabteilung des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartments ein (heutiges Bundesamt für Justiz). 1966 bis 1972 amtierte er als Sekretär des Schweizer Wissenschaftsrats. In dieser Zeit wurde er für sieben Monate beurlaubt, um seine Habilitationsschrift anzufertigen, die er 1969 mit dem Titel „Grundrechte im Wandel“ (Bern 1970) vorlegte. 1972 wurde er nach Basel als Nachfolger von Max Imboden, dann 1976 nach Bern als Professor für öffentliches Recht und Kirchenrecht berufen. 1991 verlieh ihm die juristische Fakultät der Universität Genf den Doktortitel honoris causa. Neben seiner Professur war Peter Saladin als Gutachter und Berater vor allem für den Kanton Bern und für den Bund tätig. Er wirkte in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien mit, so im Wissenschaftsrat, in der Expertenkommission für die Totalrevision der BV, der Expertenkommission für Personenrecht, der Expertenkommission für ein neues Atomenergiegesetz und der Kommission zur Revision des Berner Beamtenrechts. Ferner übte er das Amt des Präsidenten der Expertenkommission für die Revision des Sprachenartikels (116 Bundesverfassung 2000) aus. Von 1971 bis 1994 war er Mitherausgeber der Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR). Hinzu traten eine rege Vortragstätigkeit und die
1 Der folgende Text beruht auf den biographischen Hinweisen in W. Kälin u. a. (Hg.): Die Kunst der Verfassungserneuerung, Bern 1998, sowie auf den Auskünften des ehemaligen Mitarbeiters von Peter Saladin, Dr. Petros Evangelides (2011). Ich bin Herrn Dr. phil. Wolfgang Höhne zu großem Dank verpflichtet, der die Textbearbeitung übernommen hat.
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Mitwirkung in zahlreichen internationalen Gremien. Sie verschafften ihm und seinem Werk europaweite Anerkennung. Zwangsläufig stand Peter Saladin mit diesen Funktion mit der Verfassungspolitik in enger Verbindung, behielt aber stets seine wissenschaftliche Distanz. In der auch in der Schweiz seit den 1990er Jahren zunehmenden Europadebatte um einen Beitritt der Schweiz zum damaligen EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) vertrat er die Auffassung, dass die Schweiz eine starke Position habe und selbstbewusst auftreten müsse. Solange die Schweiz im Besitz der Alpenpässe sei, müsse sie sich keine Sorgen machen. Saladin war religiös sehr engagiert und in vielfacher Weise als Ratgeber für seine Kirchengemeinde in Bern tätig. In späteren Jahren ging er über die dogmatischen Grenzen des evangelisch-reformierten Bekenntnisses hinaus, indem er sein Engagement für die Bewahrung der Schöpfung, wie später zu zeigen ist, unter dem Dach des Christlichen allgemein (der Bund Gottes mit den Menschen und dessen Verantwortung) ansiedelte. Die Natur war für ihn als Lebensgrundlage des Menschen im Prinzip unangreifbar. Auch im Alltag waren er wie seine Frau Theresia sehr naturverbunden, liebten Tiere und Pflanzen. Peter Saladin sagte, dass alles, was die Natur biete, schützenswert sei und Baubelange notfalls zurückstehen müssten. Er war Baubewilligungen (auf die normalerweise ein Rechtsanspruch besteht) nur nach Ermessen der Verwaltung (die also auch die Bewilligung ablehnen konnte) nicht abgeneigt, wenn Naturschutzbelange Vorrang hätten. Peter Saladins Hobby war die Musik. Er war ein ausgezeichneter Klavierspieler. In seiner Wohnung versammelten sich Freunde und Kollegen zu Hauskonzerten, bei denen auch seine Frau, eine ausgebildete Geigerin, und sein langjähriger Mitarbeiter Petros Evangelides, im „Nebenberuf“ Tenorsänger, mitwirkten. Universität und Privates gingen ineinander über, ein „Biotop“, wie es heute kaum mehr anzutreffen ist. Mit seinen Kollegen verstand sich Peter Saladin sehr gut, insbesondere mit Alt-Nationalrat Richard Bäumlin und mit Jörg Paul Müller. Den verschiedenen Reformwellen, die die Universitäten in den letzten Jahrzehnten bewältigen mussten, stand er skeptisch gegenüber; dies war, wie zu zeigen ist, schon in den 70er Jahren so, als die Folgewirkungen der 1968er Jahre in die Schweiz „überschwappten“. „Ent-Geschichtlichung“ des Rechts, neue Studienstruktur, sog. Demokratisierung der Universität (Mitbestimmung), neue Gremien, vermehrte Bürokratie, erhöhte Hektik – all dies führte bei vielen Professoren, auch bei Peter Saladin, zu Verdruss und Frustration. Er war kein Konservativer, war aber besorgt, ob angesichts der neuen Hektik für Forschung und Lehre noch genügend Freiräume bleiben würden. Die zweite Reformwelle, die seit den Neunzigerjahren auf die Universitäten zurollte, kündigte neue Umwälzungen an: Reglementierung des Studiums, weitere Bürokratisierung, Strukturreformen und
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neue Lehreinheiten,2 ferner sog Effizienzkontrolle der Fakultäten – all diesen Vorwirkungen der Bologna-Reform stand Saladin ebenfalls distanziert und skeptisch gegenüber. In diesen Jahren äußerte er einmal resigniert: „Ich hätte heute wohl keine Chance mehr, nach Bern berufen zu werden“. Peter Saladin starb nach langer schwerer Krankheit am 25. Mai 1997 im Alter von 62 Jahren, vielbetrauert von Kollegen3 und von der Öffentlichkeit.
II. Werk4 Peter Saladin hat ein vielseitiges Werk hinterlassen. Er vertrat die gesamte Breite des öffentlichen Rechts.5 Die bekanntesten Werke sind seine Habilitationsschrift „Grundrechte im Wandel“ (1970),6 seine Schrift „Rechte künftiger Generationen“ (1988),7 sowie: „Wozu noch Staaten?“ (1995). Die nach seinem Tod von seinen Fakultätskollegen herausgegebene Schrift „Die Kunst der Verfassungserneuerung“8 nennt neben weiteren Werken Aufsätze aus den Bereichen Verfassungsreform, Staatsrecht, Umweltschutz, Recht und Wirtschaft, Föderalismus, Völkerrecht und Landesrecht, von denen die wichtigsten in dem genannten Werk abgedruckt
2 Übergang in die sog. Departmentstruktur, unter deren Dach dann die früheren Institute versammelt wurden. 3 Walter Kälin: Recht und Menschlichkeit. Zum Tode von Peter Saladin, in: NZZ Nr. 123, 31.5.1997, S. 14; Zum Gedenken an Peter Saladin, mit einer Biographie und Bibliographie, in: ZSR (1997) I. S. 181 ff.; Ueli Friedrich, Nachruf auf Professor Peter Saladin, in: Schweiz. Jahrbuch für Kirchenrecht 2 (1997) S. 133 ff.; Jean Nicholas Durey, Jörg Paul Müller: Zum Tod von Prof. Peter Saladin, in: Unipress intern., Bern 1997, Juni S. 10; Liz Fischli Giesser. Nachruf auf Peter Saladin, in: Reformatio, Zeitschrift für Kultur, Politik, Kirche 1998 Nr. 1 S. 37 f.; Jörg Paul Müller: Zum Tod von Peter Saladin, in: AöR 1998, S. 129 ff.; Kunz, S. 259 ff. (zitiert nach A. Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 2011, S. 525 f.) 4 Die folgenden Ausführungen beruhen, neben den Ausführungen von P. Saladin selbst und den eigenen Wahrnehmungen d. V. (1984 bis 2004 PD und, seit 1993, Tit. prof. an der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern), auf A. Kley: Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 2011 (im folg.: Kley), sowie auf den mündlichen Auskünften von A. Kley. 5 Seine Dissertation betraf das Verwaltungsrecht: Der Widerruf von Verwaltungsakten, Bern 1960. 6 Grundrechte im Wandel. Die Rechtssprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zu den Grundrechten in einer sich ändernden Umwelt. Bern 1970, 3. Auflage 1982. 7 Zusammen mit Chr. A. Zenger, Basel/Frankfurt 1988. 8 W. Kälin, J. P. Müller, A. Kley, P. Tschannen, U. Zimmerli (Hg.): Die Kunst der Verfassungserneuerung, Basel 1988.
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sind.9 Hinzu treten zahlreiche Gutachten und Memoranden für Behörden des Bundes und der Kantone, für die evangelisch reformierte Kirche, für Umweltverbände, etc., die heute im Staatsarchiv Bern verwahrt werden.10 Peter Saladin war kein Anhänger dickleibiger Lehrbücher. Seine Monographien, die nach seiner 1970 erschienen Habilitationsschrift herauskamen, haben einen geringeren Umfang und bestechen durch ihre Übersichtlichkeit und Klarheit. Am „neuen Lehrbüchermarkt“ für Professoren beteiligte er sich nicht. Peter Saladins Schwerpunkte lagen in den 1970er Jahren auf Fragen der Verfassungsreform und der Grundrechte. Er hat den Prozess der Reform der Bundesverfassung während dreißig Jahren mitgestaltet und kritisch mitverfolgt. Er war Mitglied der „Furgler-Kommission“ und der „Wahlen-Kommission“ zur Totalrevision der Bundesverfassung, die seit 1967 im Gespräch war. Saladin verfolgte zwei Zielsetzungen: Die Bundesverfassung müsse die Grundrechte „positivieren“, die bis dahin nur in ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen des Bundesgerichts anerkannt waren. Die Verfassung müsse darüber hinaus die Grundrechte in „praktischer Konkordanz“ (in der Wirklichkeit), also in der Gesetzgebung, ausgestalten (Meinungs-, Versammlungs-, Pressefreiheit, Religionsfreiheit etc.). Mit der Forderung nach der Institutionalisierung von Grundrechten und deren Konkordanz befand er sich in Übereinstimmung mit seinem Fakultätskollegen Richard Bäumlin, nach dem die Rechtswissenschaft ihre Maßstäbe (zum Grundrechtsverständnis) beim Vollzug zu praktischer „Konsonanz“ (später Konkordanz) bringen müsse.11 Auch außerhalb des eigentlichen Reformprozesses war es ihm ein Anliegen, verfassungsrechtliche Normen und Konzepte in ihrem Wandel und in ihrer Tragfähigkeit für die Herausforderungen der Zeit zu untersuchen und zu hinterfragen. Von diesem Bemühen um die Reform des Verfassungsrechts im weitesten Sinne zeugen viele seiner Schriften. Diesen Bemühungen lag eine Grundrechtslehre zu Grunde, mit der er eine „kopernikanische Wende“ des Grundrechtsverständnisses einläutete. Waren diese bisher im Sinne des Liberalismus des 19. Jahrhunderts reine Abwehrrechte gegen staatliche Unrechtsakte gewesen, verstand er (und sein Mitstreiter Jörg Paul
9 Siehe das Schriftenverzeichnis am Ende von Teil B. 10 Die Sichtung und Ordnung des Nachlasses besorgte der langjährige Mitarbeiter von Peter Saladin, Herr Dr. Petros Evangelides. 11 Kley, S. 215. In der Tat hat der schweizerische Gesetzgeber viele aktuelle Probleme des Umwelt- und Lebensschutzes in die „alte“ BV (vor 2000) aufgenommen; so Regelungen über die Fortpflanzungs- und Gentechnologie (Art. 24 novies), über die Transplantation von Organen (Art. 24 decies), Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage (Art. 31 octies) – alle Maßnahmen auf diesen Gebieten, so Saladin, müssen den „Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte“ beachten.
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Müller) sie als verfassungsimmanente Verpflichtung und Aufgabe des Staates, für die Verwirklichung der Grundrechte Sorge zu tragen (Verfassungsrecht als Aufgabe)12 und ihren Schutz gegen jedermann, auch und vor allem gegen privatrechtlich handelnde Akteure, durchzusetzen. Im Berner „Drittwirkungsstreit“13 nahm er eine entschiedene Position ein: Die Grundrechte wirkten horizontal; auch wenn der Staat als Privatrechtssubjekt zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben handele, sei er an die Grundrechte gebunden (z. B. an den Gleichheitssatz: Keine Flucht ins Privatrecht)14. Dies gelte auch, wenn die Akteure als reine Privatrechtssubjekte aufträten: Immer müssten sie die Grundregeln eines gedeihlichen Zusammenwirkens beachten, z. B. im Arbeitsrecht.15 Das gelte auch für den einzelnen Bürger. Er müsse die Rechte anderer beachten, dies sei eine Grundpflicht. Allerdings, so Saladin, wirkten die Grundrechte nicht unmittelbar,16 sondern mit-
12 Ähnlich K. Hesse: Grundlagen des Verfassungsrechts, Heidelberg 1967. 13 Die Drittwirkungsdebatte begann 1988 an der Berner rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und setzte sich in der Literatur bis 1989-’90 fort. Hintergrund des Streits, der bis an die Grenze persönlicher Zerwürfnisse führte, war, dass damals das Zivilrecht als die „Krone“ der Rechtswissenschaft galt und dort eine Einschränkung befürchtet wurde, wenn die Grundrechte in alle Lebensbereiche vordringen sollten. J. P. Müller deutete den bisherigen Zustand an, als er äußerte, man übernehme mit fremdem Recht auch etliches des damaligen Zeitgeists – z. B. imperiales Denken. Die Gewohnheit, das Menschen- und Gesellschaftsbild zu hinterfragen, sei leider immer noch viel zu wenig verbreitet. Peter Saladin führte in der Schweizer Juristenzeitung (SJZ 84/85, S. 373 ff. zit. n. Kley, S. 325) aus, dass Grundrechte von Anfang an horizontale Wirkung gehabt hätten, denn die Verfassungen verlangten von den Bürgern (durch Gesetz), ihre Grundrechte gegenseitig zu respektieren. Das sei gesetzliche Pflicht, mittelbar aber Grundrechtspflicht. Der Berner Drittwirkungsstreit wurde schließlich mit Hilfe des damaligen Rektors Pio Caroni und Peter Saladin beigelegt, die zur Versöhnung von Privatrecht und öffentlichem Recht aufriefen (wenngleich nie endgültig entschieden, Kley S. 326 ff.). In Deutschland wirken Grundrechte über die Generalklauseln des § 626 BGB (Diskriminierungsverbot), und der §§ 823, 826 (unerlaubte Handlungen und sittenwidrige Schädigung) auf das Privatrecht ein (Anm. d.V.). 14 So ein Diktum aus dem deutschen Verwaltungsrecht für die Daseinsvorsorgetätigkeit der Verwaltung in den Formen des Privatrechts (z. B. öffentlicher Nahverkehr u. a.). 15 Unter dem „Recht auf Arbeit“, verstand Peter Saladin die Freiheit, nach eigenem Gutdünken zu arbeiten (historisch: Befreiung von Leibeigenschaft). In der Verfassungsreformdebatte der 70er Jahre wurde dieses Recht dahingehend konkretisiert, dass der Staat verpflichtet ist, Vorkehrungen zu treffen, damit jedermann seinen Unterhalt durch Arbeit bestreiten kann. Im Völkerrecht ist ein solches Recht anerkannt: In der Europäischen Sozialcharta 1961 und in der UNO-Konvention 1966 über wirtschaftliche Rechte (Art. 6). 16 Art. 1 Abs. 3 des deutschen GG schreibt die unmittelbare Bindung des Staates an die Grundrechte ausdrücklich fest. Das bedeutet, dass, wenn gesetzliche Regeln fehlen, die Grundrechte unmittelbar Anwendung finden müssen. Zu der Thematik näher P. Saladin in: Die Kunst der Verfassungserneuerung, S. 1 ff. (Verfassungserneuerung) und S. 45 ff. (Grundrechte).
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telbar. Der Gesetzgeber müsse die Grundrechte im Wege der (einfachen) Gesetzgebung konkretisieren. Auch die soziale Seite der Grundrechte hob Saladin hervor: Er leitete sie aus den Freiheitsrechten ab: Sie sind Bedingungen der Freiheit, z. B. das Recht auf Existenzsicherung, auf eine Grundausbildung, auf Arbeit, für deren Rahmenbedingungen der Staat sorgen muss. Der tiefere Grund für Saladins Engagement für die Grundrechte lag in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die ihn zu einer Abkehr vom Optimismus der liberalen Freiheitsrechte bewegt hatten. Er dachte historisch und in großen Zeiträumen. Seine tieferen Wurzeln hatte sein Grundrechtverständnis jedoch in seiner religiösen Überzeugung. „Der letztliche Geltungsgrund der Grundrechte, ihre einzige Legitimation ist – im Gegensatz zum naturrechtlichen Pathos – umso herrlicher und triumphaler: Die Rechtfertigung durch Jesu Christi Tod und Auferstehung. Im Glanz dieser Ereignisse ist es auch allein möglich, das Sein und Sollen miteinander zu verschmelzen“.17 Damit war Peter Saladin in gewisser Weise unangreifbar geworden. Dies galt auch für sein später zu erörterndes Bekenntnis zur Bewahrung der Schöpfung und der „Würde der Kreatur“ (Tiere), die Gott den Menschen anvertraut habe. Das Schweizer Volk habe sich eine Verfassung „im Namen des Allmächtigen“ (Präambel)18 gegeben, der die Schöpfung in die Verantwortung des Menschen gelegt habe. Wer hätte diesem Bekenntnis mit welchem Argument widersprechen können? Die Rezensenten und Kollegen Saladins übergingen dieses allerdings meist stillschweigend, wie wenn er das nie geschrieben hätte, obwohl er auch vorsichtige Zustimmung erhielt, wie z. B. von Richard Bäumlin19 und Werner Kägi. Peter Saladin hat sich aber nicht nur um das Staatsrecht, sondern auch um das Verfassungsrecht gekümmert. Er schrieb ein ausgezeichnetes Lehrbuch zum Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes (Basel 1979). Seit Mitte der 1980er Jahre befasste sich Peter Saladin mehr und mehr mit Themen der Umwelt, der Natur und deren Schutz. Er begrüßte zwar das Umweltschutzgesetz (USG) von 1985, appellierte aber an den Gesetzgeber, seine Schutzfunktion gegenüber Missbräuchen, insbesondere in der Fortpflanzungs- und
17 Zit. nach Kley, S. 423 18 Saladin hatte sich sehr für die Beibehaltung des Gottesbezugs in der neuen Bundesverfassung 2000 eingesetzt. 19 der selber Pfarrerssohn war (Kley, a. a. O.).
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Gentechnologie20 (Art. 24 novies alte BV) ernst zu nehmen und über diese Bestimmung hinaus verschärfte Reglements zu erlassen. Saladin kritisierte auch einige grundsätzliche Dinge im Umweltrecht. Er lehnte stets Atomkraftwerke ab, die Stromversorgung könne auch ohne sie gewährleistet werden. Ferner wandte er sich gegen den Begriff der „Sache“ des Schweizer (und deutschen) Rechts, nach dem auch Tiere als Sachen galten. In beiden Gesetzgebungen ist dies mit der Zeit geändert worden: „Tiere sind keine Sachen“.21 Er warb für die Rechtsfähigkeit der Tiere, ja der Natur insgesamt. Eine Patentierung von Tieren lehnte er ab. Diese Überlegungen einer Rechtssubjektivität der Natur hatte sein Doktorand Jörg Leimbacher vertieft, der die bahnbrechende Studie Die Rechte der Natur (Frankfurt/Basel 1988) verfasst hatte. Diese Gedanken fanden auch in Deutschland ein großes Echo (Mayer-Tasch, MeyerAbich), wo im Zusammenhang mit dem Robbensterben in der Nordsee ähnliche Fragen diskutiert worden waren. Die Idee der Rechtssubjektivität in Gestalt eines „Fürsprechers“ der Natur erreichte in der Schweiz tatsächlich seine Verwirklichung; im Kanton Zürich war von 1992 bis 2010 die Institution eines „Tieranwalts“ eingerichtet worden, der Misshandlungen von Tieren den Behörden zur Anzeige brachte und großen Erfolg hatte. So wurden pro Jahr ca. 190 Strafsachen wegen Tierquälerei (meist durch die Tierhalter selbst) verhandelt und diese zu Geldbußen verurteilt. Das Amt wurde von einem Rechtsanwalt wahrgenommen. 2010 endete das Amt des Tieranwalts, weil es angeblich gegen Bundesrecht verstoße. Die Aufspürung von Misshandlungen von Tieren obliegt nunmehr den kantonalen Veterinärämtern. Saladins Engagement für Natur und Schöpfung gründete, wie sein Grundrechtsverständnis, auf einer ebenfalls metaphysischen, religiösen Auffassung vom Schutz der Natur. Diesen leitete er aus der von Gott gegebenen Schöpfung her. Gott habe mit den Menschen einen Bund geschlossen und ihnen in diesem Bund die Schöpfung anvertraut. Diese müsse pfleglich behandelt und geschützt werden. Saladin stützte sich dabei auf das Prinzip der Verantwortung (H. Jonas). Gott habe den Menschen umfassende Verantwortung aufgetragen. Sieht man genauer hin, verstärkt sich diese Verantwortung, denn die Natur ist nicht nur „Schutzobjekt“ Gottes, sondern zugleich „Vertragsperson“. Gott schließt nicht nur einen Bund mit den Menschen, sondern auch mit der Natur:
20 Siehe auch D. Majer: Gentechnik und Lebensmittel. Hommage an Peter Saladin, in: Reformatio-Zeitschrift für Kultur, Politik und Kirche, 47/1988, S. 39 ff. 21 Art. 641 a ZGB. Vergl. in Deutschland § 20a GG und § 90a BGB, die seit 1993 die Tiere als schützenswerte Lebewesen nennen.
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„Siehe, ich richte mit Euch (den Menschen) einen Bund auf (…) und mit allem lebenden Getier bei Euch, an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren des Feldes bei Euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist.“ (1. Mose 9, V.8)
Saladin argumentierte darüber hinaus auch christologisch: Die christliche Nächstenliebe des Neuen Testaments umfasse auch die Liebe zur Natur. Peter Saladin war auch gegen Großprojekte jedweder Art skeptisch. Mit Sympathie verfolgte er die Bemühungen schweizerischer Naturschutzverbände, mit den Betreibern (meist Gemeinden und Kantone) umweltschädlicher Großanlagen (Kraftwerke) ins Gespräch zu kommen – damals noch vergeblich. Verbände waren unwillkommene „Störer“, die nur Zeit kosteten und die Verfahren verzögerten. Es ging vor allem um die Großprojekte Val Curciusa, bei dem ein ganzes Tal für ein neues Kraftwerk hätte geflutet werden müssen und um das GrimselProjekt, das an dem Pass einen 110m hohen Staudamm vorsah (und das bis Ende der 1990er Jahre aktuell war). Auch bei geplanten Erweiterungen von Kraftwerken durch Erhöhung der Staumauern erhoben die Verbände ihre Stimme. Im August leuchteten nachts die Höhenfeuer rund um das Val Curciusa und zeigten der Öffentlichkeit, dass das Projekt immer noch die Alpenlandschaft bedrohte.22 Im Rahmen seiner Thesen für einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Schöpfung galt Peter Saladins besonderes Augenmerk den Rechten zukünftiger Generationen. Seine Schrift Rechte zukünftiger Generationen (zus. m. A. Zenger, 1988), das Ergebnis eines interdisziplinären Seminars an der Universität Bern, ist noch heute grundlegend. Er entwarf eine Charta von 10 Punkten, die man, so Saladin, wie die Menschenrechtserklärung von 1789 betrachten solle. Sie lauten: 1. Künftige Generationen haben ein Recht auf Leben. 2. Künftige Generationen haben ein Recht auf nicht manipuliertes, d. h. nicht durch Menschenhand künstlich verändertes menschliches Erbgut. 3. Künftige Generationen haben ein Recht auf eine vielfältige Pflanzen- und Tierwelt, damit auf Leben in einer reichen Natur und auf Wahrung vielfältiger genetischer Ressourcen. 4. Künftige Generationen haben ein Recht auf gesunde Luft, auf eine intakte Ozonschicht und auf hinreichenden Wärmeaustausch zwischen Erde und Weltraum. 5. Künftige Generationen haben ein Recht auf gesunde und hinreichende Gewässer, besonders auf gesundes und hinreichendes Trinkwasser.
22 Später wurde das Projekt fallen gelassen, weil „kein Bedarf mehr bestehe“ (Anm. d. V.).
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6. Künftige Generationen haben ein Recht auf einen gesunden und fruchtbaren Boden und auf einen gesunden Wald. 7. Künftige Generationen haben ein Recht auf erhebliche Vorräte an nicht (oder nur sehr langsam) erneuerbaren Rohstoffen und Energieträgern. 8. Künftige Generationen haben das Recht, keine Erzeugnisse und Abfälle früherer Generationen vorfinden zu müssen, welche ihre Gesundheit bedrohen oder einen übermäßigen Bewachungs- und Bewirtschaftungsaufwand erfordern. 9. Künftige Generationen haben ein Recht auf „kulturelle Erbschaft“, d. h. auf Begegnung mit der von früheren Generationen geschaffenen Kultur. 10. Künftige Generationen haben allgemein ein Recht auf physische Lebensbedingungen, die ihnen eine menschenwürdige Existenz erlauben. Insbesondere haben sie ein Recht, keine von ihren Vorfahren bewusst herbeigeführten physischen Gegebenheiten hinnehmen zu müssen, die ihre individuelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung in kultureller, wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Hinsicht übermäßig einschränken. Peter Saladin beschwor diese Rechte als „Gemeinschaftsaufgaben“ ersten Ranges23 und fragte, ob dieser Gedanke bisher auseichend ernst genommen worden sei.24 Welchen Auftrag vermitteln die Rechte künftiger Generationen dem Recht? Die materialen Gehalte innerhalb des Bestehenden auch zur Geltung zu bringen, oder das Bestehende daraufhin zu überprüfen, ob es diese Gehalte weitestgehend verwirklichen kann? Diese Erklärung der Rechte künftiger Generationen will deren Rechte auf Leben, gesunde Natur, Luft und Gewässer, auf fruchtbaren Boden und gesunden Wald, auf ausreichende Rohstoffe, auf Befreiung vom Abfall früherer Generationen, auf „kulturelle Erbschaft“, und „menschenwürdige Lebensbedingungen“ sichern. Viele dieser Gedanken sind in die Verfassung eingeflossen (Art. 90 BV 2000 [Tierschutz]; Art. 119, 199a und 120 BV 2000 [Fortpflanzung, Medizin, Gentechnik, „Die Würde der Kreatur“]) Besonderes Augenmerk richtete Peter Saladin auch auf die Gentechnologie: Nach ihm war nicht nur der unmittelbare Eingriff verboten, sondern auch der mittelbare, sobald wahrscheinlich sei, dass er die Erbsubstanz nachteilig verändere, anders gesagt: Verbot, solange das Mittel nicht unschädlich ist (z. B. Verwendung chemischer Substanzen für eine Therapie). Auch beklagte er oft das Artensterben (bisher 50 %, der Verlust schreite voran), das die Natur unheilbar schädige.
23 a. a. O., Saladin-Zenger, S. 143 24 Dies muss man sich auch heute fragen (Anm. d. V.)
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Peter Saladin war aber kein Träumer. Er suchte und fand im positiven Recht stets Anhaltspunkte für seine Grundanschauungen, vom intentionalen Recht bis hin zum kantonalen Recht. So wies er in Vorträgen auf die Präambel der amerikanischen Bill of Rights von 1776 hin, in der Vertreter des „guten Volkes“ von Virginia eine Erklärung der Rechte abgeben, die ihnen und ihrer Nachkommenschaft zukommt. In der Präambel der neuen Bundesverfassung (2000) heißt es ähnlich: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizer Volk und die Kantone (…) in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bewusstsein (…) der Verantwortung gegen die künftigen Generationen (…) geben sich folgende Verfassung …“
Peter Saladin fragte aber auch ganz konkret, wo die heutige Generation die Rechte künftiger Generationen verwirklichen könnte (S. 87 ff.). So zunächst in völkerrechtlichen Verträgen und Resolutionen internationaler Organisationen. Sie müssten aber auch als Grundrechte in der Verfassung verankert werden: „Rechte künftiger Generationen sind … Menschenrechte, und zwar sowohl Rechte der kommenden Generationen insgesamt als auch Rechte der künftigen Einzel-Menschen. Sie sind prägnanter Ausdruck und elementare Konkretisierung der Würde künftiger Menschen. Sie sollen unsere Nachfahren um ihrer kategorialen und um ihrer individuellen Wertigkeit schützen …“ Die Rechte künftiger Generationen sollten auch in Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, ferner in konkreten Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen Eingang finden; ihre Geltendmachung soll durch „Treuhändler“, „Vertreter“, „Beistände“, „Pfleger“ erfolgen. Dazu machte er zahlreiche praktische Vorschläge. „Die Verfassungen der Schweiz und Deutschlands verpflichten den Staat auf die Wahrung und Sicherung menschlicher Würde. Diese Verpflichtung ist, so haben wir gesehen, in der Zeit unbeschränkt; sie gilt der Würde Künftiger ebenso wie der unsrigen. Dieser Ausgangspunkt hat uns veranlasst zu fragen, ob die Rechte künftiger Generationen als Grundrechte in der Verfassung bereits heute (implizit) gewährleistet, und ferner, ob sie, gewährleistet oder nicht, in der Verfassung explizit zu statuieren seien. Wir haben im vorangehenden Abschnitt den Sinn und die Problematik einer solchen Verankerung von Rechten als Rechte erörtert. Es bleibt zu bedenken, ob wir der Sache des Nachfahrenschutzes nicht besser dienten, wenn wir den Auftrag des Staates zu wirksamem Nachfahrenschutz als Auftrag in die Verfassung „einbauten“ als Staatszielbestimmung und (oder) als Gesetzgebungsaufträge. In einer Staatszielbestimmung und in Gesetzgebungsaufträgen ließen sich die staatliche Verantwortlichkeit für die Rechte künftiger Generationen und Hinweise auf deren Inhalt verfassungsrechtlich verfassen, ohne dass die schwierigen dogmatischen Probleme zu lösen wären, die die verfassungsrechtliche Anerkennung von Grundrechten künftiger Aufwürfe.“ Eine derartige Staatszielbestimmung könnte etwa wie folgt lauten: „Bund und Kantone (Länder) sichern die Rechte künftiger Generationen. Sie unterlassen alles, was das Über-
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leben der Menschen oder einzelner Gruppen gefährdet. Sie sorgen dafür, dass künstliche Mutationen der menschlichen Genstruktur unterbleiben und dass die natürlichen Lebensgrundlagen wie auch die lebenswichtigen Ressourcen in hinreichender Quantität und Qualität erhalten bleiben. Bund und Kantone (Länder) wirken darauf hin, dass künftige Generationen nicht mit übermäßigen Mengen an gefährlichen oder lästigen Abfällen belastet, noch in ihrer Handlungsfähigkeit durch gegenwärtige zivilisatorische Entwicklungen übermäßig eingeschränkt werden“.25
Bei all diesen Überlegungen war Saladin stets auch pflichtenorientiert. Er sah das Individuum keineswegs als Subjekt uferloser Ansprüche, sondern stets eingebunden in das Gemeinwesen: Die Rechte künftiger Generationen müssten sich auch in den Pflichten der heutigen Bürger niederschlagen. Schließlich forderte Saladin, dass die Rechte künftiger Generationen sowohl vom Verfassungsgeber wie vom „einfachen“ Gesetzgeber verwirklicht werden müssten26 und dabei auch den Pflichtenkatalog der Verfassung für die heutigen Bürger nicht vergessen
25 Rechte künftiger Generationen, S. 117 ff. 26 „… Wir sind davon ausgegangen, dass die Grundrechte der persönlichen Freiheit in der Schweiz und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. l GG) in der Bundesrepublik Deutschland die physischen und die psychischen Voraussetzungen menschlicher Autonomie gewährleisten, und dass sie als objektive Gebote den Rechtsstaat dazu verpflichten, die Möglichkeit menschenwürdiger Existenz zu sichern, wo und wann immer sie gefährdet erscheint. Wir haben aber auch gezeigt, dass gute Gründe dafür sprechen, die existentiellen Rechte Künftiger ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen, sie ausdrücklich als Grund-Rechte zu anerkennen und zu gewährleisten, in verschiedenen ‚juristischen Gewändern‘. So oder so – die Rechte Künftiger bedürfen, wenn sie Wirklichkeit werden sollen, komplexer rechtlicher Umsetzung: Sie müssen durch die Gesetzgebung konkretisiert und durch Verwaltung und Gerichte in der Lösung konkreter Probleme honoriert werden. Was das im einzelnen bedeutet, muss durch intensive Bearbeitung verschiedenster Rechtsgebiete ermittelt werden“ (a. a. O. S. 141). „Nochmals: die skizzierten Probleme können im Rahmen unserer Studie nicht gelöst werden. Darum muss die Frage offen bleiben, ob wir den Gedanken der Rechte künftiger Generationen letztlich ernst genug genommen haben. Genügt es, diese Rechte in das Gebäude unserer rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen einzubauen, sie überdies mit dem Apparat vertrauten juristischen Denkens zu bearbeiten? Oder wird der Gedanke von Rechten Künftiger dadurch gerade entschärft, domestiziert, unanstößig gemacht? Müsste dieser Gedanke Anlass weniger für die vertraute reformierende Kritik bestehenden Rechts im Namen von Verfassungsprinzipien sein, sondern vorab für ein viel tieferes Überdenken bestehender rechtlicher und sozialer Strukturen und des Selbstverständnisses der Jurisprudenz? Welchen Auftrag vermitteln die Rechte künftiger Generationen dem Recht in erster Linie: die entsprechenden materialen Gehalte innerhalb des Bestehenden auch zur Geltung zu bringen oder das Bestehende auf seine Eignung hin zu überprüfen, diese Gehalte weitestgehend zu verwirklichen?“
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werden dürfe. All dies erfordere ein „tieferes Überdenken bestehender rechtlicher und sozialer Strukturen“.27 Peter Saladins letztes Werk war „Wozu noch Staaten“ (1995), in dem er in einer zunehmend international werdenden Welt die Staaten als Vermittler politischer Kultur erhalten will (Schutz und Erhaltung der Grundlagen des Gemeinwesens, der Kultur der Zivilgesellschaft, insbesondere des Demokratieprinzips und des Minderheitenschutzes etc.). Saladins Thesen haben heute in vielen Punkten an Bedeutung gewonnen, denn vieles, was er in diesen Bereichen zukunftsschauend forderte, ist erst in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein gerückt: Schutz des Kulturerbes, Nachhaltigkeit des Umweltschutzes, Klimawandel, alternative Energien etc. Seine Aufrufe zum Schutz der Natur, zur Abstandnahme von Großprojekten und Großsystemen sind aktueller denn je, wenn man an die heutigen Katastrophen denkt: Fukushima 2011, Erdbeben, Boden- und Wasserverunreinigung, das Abschmelzen der Polkappen, die Abholzung der Wälder, der Klimawandel … Saladin fragt: Welche Erde sollen unsere Nachkommen vorfinden? Er verfällt dabei weder in ökologische Theorien oder Wunschvorstellungen, sondern prüft (mit konkreten Vorschlägen) die Verwirklichungschancen im nationalen wie internationalem Recht. Gerade diese Verbindung von Visionen, konkretisiert mit verfassungspraktischem Feingefühl, fordert dazu auf, Peter Saladins Aufrufe zur Verantwortung heute als dringlicher denn je zu betrachten.
Sein Werk enthält folgende Monographien Der Widerruf von Verwaltungsakten, Basel 1960 (Dissertation) Der Staat als Aufgabe. Gedenkschrift für Max Imboden (mit Luzius Wildhaber), Basel 1972 Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979 (mit Eugen Bucher Hg.), Bern 1979 Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel 1979 Das Bundesgesetz über die Raumplanung (mit Rudolf Stüdeli), Bern 1980 Grundrechte im Wandel, Bern 1981 (Habilitationsschrift)
27 „Gleichgültig, ob die Rechte künftiger Generationen in Form von Grundrechten, Staatszielbestimmungen oder Gesetzgebungsaufträgen verfasst werden, ihre Verwirklichung bleibt im demokratischen Staat immer zur Hauptsache und in erster Linie dem Gesetzgeber aufgetragen. Bedingung für ihre Verwirklichung ist damit die Bereitschaft von politischen Behörden und (unmittelbar oder mittelbar) der Stimmbürgerschaft, den Schutzbedürfnissen Künftiger Rechnung zu tragen“ (a. a. O. S. 124). Die Verantwortung Privater sei so zentral, dass sie als Grundpflichten in die Verfassung aufgenommen werden müssten (a. a. O. S. 136).
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Beiträge zum Arbeits- und Sozialrecht, Festschrift für F. Tschudi (mit Frank Vischer), Bern 1983 Bund und Kantone, Basel 1984 Verantwortung als Staatsprinzip, Bern 1984 Rechte künftiger Generationen (mit Christoph Zenger), Basel/Frankfurt 1988 Widerstand im Rechtsstaat? Hrsg. für die Schweizerische Akademie des Geisteswissenschaften (mit Beate Sitter), Freiburg i. Ue. 1988 Widerstand? Verfasst im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, Bern 1988 Medizin für die Medizin? Festschrift für Hannes Pauli (mit Hansjörg Schaufelberger und Peter Schläppi), Basel 1989 Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz. Verfasst im Auftrag des Eidgenössischen Departments des Inneren, Bern 1989 Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaates in einer zunehmend überstaatlichen Welt. Bern/München/Wien 1985 Hinzu kommen sechs Werke in Mitherausgeberschaft zwischen 1972 und 1989, sowie die im Berner Staatsarchiv gesammelten Materialien (Gutachten, Vorträge, Vorlesungsscripten) Die Kunst der Verfassungserneuerung (1998): Dort sind 94 Aufsätze zu Fragen des Staats- und Verwaltungsrechts, Völkerrechts, Umweltschutzes etc. aufgelistet.
III. Wirkung28 Peter Saladin hatte ein gewinnendes Äußeres. Das in „Die Kunst der Verfassungserneuerung“ 1998 abgedruckte Bild zeigt ein schmales Gesicht, eine hohe Stirn, umgeben von widerspenstigen weißen Löckchen. Hinter einer großen Brille blickten seine Augen den Besucher freundlich forschend an. Sein ganzes Wesen strahlte Gelassenheit und innere Harmonie aus, eine in sich ruhende Persönlichkeit, die sich auf den ersten Blick manifestierte.
1. Peter Saladin und die Universität In der Universität war Peter Saladin sehr beliebt, autoritäres Gehabe war ihm fremd. Er gehörte zu den ersten, die Fragen der Studierenden in den Vorlesungen zuließen; das war damals sehr ungewöhnlich, da in den 1970er, 1980er Jahren noch ein streng hierarchisches Verhältnis zwischen Studierenden und Professoren bestand. In Saladins Vorlesungen und Übungen herrschte eine Art fami-
28 Der folgende Text beruht auf Auskünften ehemaliger Studierender und Kollegen von Peter Saladin, den Hinweisen in Kley, Geschichte des Öffentlichen Rechts der Schweiz (Zürich 2011) sowie den eigenen Wahrnehmungen d. V. an der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Bern (PD und Tit. prof. 1984–2004)
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liärer Atmosphäre. Fragen der Zuhörer begegnete er mit Geduld und Aufmerksamkeit. Damit war er seiner Zeit weit voraus. Nach Bekundungen ehemaliger Studierender wurden seine Vorlesungen als sehr fundiert und praxisnah erlebt. Seine zu den Vorlesungen verfassten Skripten waren übersichtlich gegliedert und der Stoff wurde anhand vieler Bundesgerichtsurteile eingehend erläutert. Durch die (damals noch nicht allgemein übliche) Methode, mit konkreten Beispielen zu arbeiten, machte Peter Saladin den Lehrstoff lebendig und anschaulich und weckte damit in vielen Studierenden die Begeisterung für das öffentliche Recht. Saladin beeindruckte die Studierenden auch durch seine weite Sicht der Dinge. Während einer Vorlesung an einem schönen Sommertag sah er, wie einige von ihnen zum Fenster hinausschauten. Er meinte, dass sie dies nur tun sollten, denn das Leben sei so vielseitig. Für manche seiner damaligen Studierenden wurde er mit seinem stets dialogbereiten Verhalten zum juristischen und menschlichen Vorbild. Die Freundlichkeit Peter Saladins machte sich auch im Institutsalltag bemerkbar, dessen ruhender Pol er war. Es fehlte jede Hektik. Besucher im Institut für öffentliches Recht in der Neuengasse 30 in Bern empfanden die Ruhe und die von dem allgemeinen Universitätsbetrieb abgeschirmte Welt seit den 1970er Jahren als eine Art Refugium, in dem er mit seinen Kollegen Jörg Paul Müller und Fritz Gygi (†) residierte. Dann kam 1992 der große Umzug in den vierten und fünften Stock des (direkt über dem Hauptbahnhof auf der „Schanze“ gelegenen) Universitätshauptgebäudes (eines „richtigen“ Universitätsgebäudes mit Säulen, geschwungenen Treppenhäusern, Jugendstilfresken und lateinischen Inschriften), mit dem zwar alle juristischen Institute unter einem Dach vereint waren, die Öffentlichrechtler sich jedoch gleichwohl eine Art „Eigenständigkeit“ gegenüber dem im Erdgeschoss angesiedelten Dekanat – in Form der Distanz von drei Stockwerke – „bewahrten“. Es war eine eigene Welt mit den nachmittäglichen Kaffeepausen, Diskussionsrunden und den „neuesten Nachrichten“, in denen sich ein harmonisches Institutsleben entfaltete. Das Institut vergrößerte sich bald: Völkerrecht und Europarecht traten hinzu. Alles wurde jetzt hektischer – im Hinblick auf die damals aktuellen Sparmaßnahmen, der Umstellung der Studienpläne zu einem Pflicht- und Wahlpflichtkatalog, den Vorboten der kommenden Bolognareform. Das von Peter Saladin mitinitiierte Umweltrecht gehörte nach dem Inkrafttreten des Umweltschutzgesetztes von 1985 (USG) zu den (Wahl-) Pflichtfächern und führte in den 1990er Jahren in einer „ersten Welle“ zu einem neuen Umweltbewusstseins an den Universitäten und zu einem großen Andrang der Studierenden zu den entsprechenden Veranstaltungen. Schon vorher hatte ein interdisziplinärer Arbeitskreis unter Leitung des Geographen Bruno Messerli und des Fürsprechers Hans Ulrich Liniger den Boden dafür bereitet (später wurde daraus die Interfakultative Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie [IKAÖ] unter Ruth Kaufmann-Hayoz [bis 2010],
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Anm. d. V.). Angesichts der vielen Änderungen im Studium zeigte sich bald, dass Peter Saladin „an sich“ ein entschiedener Anhänger der (bisher) freien Wahl der Studienfächer war. Der seit Anfang der 1990er Jahren überbordenden Bürokratie, die diese Freiheit unter dem Gesichtspunkt einer „Neustrukturierung der Studiengänge“ beschränkte, stand er höchst reserviert gegenüber, ebenso wie er die neuen „Auffächerungen“ und Spezialisierungen des öffentlichen Rechts kritisch betrachtete, da sie den Blick auf das große Ganze verstellten. Peter Saladin hatte schon in den 1970er Jahren, als die Folgewirkungen der Umbrüche der 68er auch in die Schweiz „überschwappten“, seine Skepsis gegenüber zuviel Betriebsamkeit an den Universitäten kundgetan; in diesen Jahren, als immer neue Fächer aus dem Boden sprossen – zu Lasten der Rechtsgeschichte29 und der Rechtsphilosophie –, in dieser Zeit, als die „Demokratisierung“ der Universitäten und der Anstieg der Studentenzahlen immer neue Ausschüsse, Kommissionen und Arbeitsgruppen hervorbrachte, hatte dies zu viel Frustration und Ärger bei den Professoren gesorgt. Denn sie hatten nun vermehrte Gremienarbeit und erhöhte Prüfungsverpflichtungen etc. wahrzunehmen. Richard Bäumlin verglich die Gesellschaft mit einem „Warenhaus“, Peter Saladin hatte eine Persiflage des modernen Don Juan konzipiert, der nicht mehr den Frauen nachjagt, sondern nur noch von Sitzung zu Sitzung, von Medienauftritt zu Medienauftritt eilt. Das damals in Universitätskreisen kursierende „Ideal“ in Gestalt von Jean-François Aubert, der in den Weinbergen von Neuenburg mit drei Studenten wandelt und ihnen die Grundlagen des öffentlichen Rechts erklärt, rückte schon damals in weite Ferne. Als die bereits oben genannten „zweite Reformphase“ seit Anfang der 1990er Jahre hinzutrat und den Universitäten die neuesten ManagementVerfahren (Controlling, Evaluierung) bescherte und sich alle Vorzeichen der Gewitterwolken der kommenden Bolognareform über den Universitäten zusammenbrauten, zog er sich mehr und mehr von der Gremienarbeit zurück. Die Möglichkeiten, seine Thesen auch zukünftig in voller Breite und Tiefe zu vertreten, sah er skeptisch.
2. Peter Saladin und die Grundrechte Saladin war einer der wenigen Staatsrechtlehrer, die aus historischer Erkenntnis schon früh für eine erhöhte Geltung der Grundrechte eintraten, die in der
29 Die seitdem in der Schweiz viel von ihrer früheren Bedeutung verloren hat – wie auch in Deutschland, wo diese Fächer in einen Korb von Wahlpflichtfachgruppen gepackt und nur noch „am Rande“ geprüft werden.
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Vergangenheit auf schlimmste Weise missbraucht worden seien. Er hatte, wie oben ausgeführt, die zunächst nur als liberale Abwehrrechte gegen rechtswidrige Eingriffe des Staates konzipierten Freiheitsrechte in die Verfassung integriert und sie als „Pflichtenheft“ des Staates definiert, Ausbau und Fortführung des Grundrechtsbereichs voranzutreiben bis hin zu Ansprüchen des Einzelnen aus sozialstaatlicher Sicht, z. B. auf die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine auskömmliche Erwerbstätigkeit. Bedeutsam in dieser von ihm maßgeblich mitbestimmten Grundrechtsdiskussion ist die starke Betonung der Pflichtenseite, die z. B. in den entsprechenden Debatten in Deutschland fast völlig fehlte. Zwar sprach die von Konrad Hesse und Peter Häberle entwickelte Verfassungstheorie von der „Aufgabe“ des Staates, die Verfassung zu verwirklichen, aber der Begriff Aufgabe ist bzw. wirkt weit schwächer, als Peter Saladins Pflichtenbegriff, der das Verbindliche und Dringliche der Grundrechtsverwirklichung (durch die Gesetzgebung) deutlich macht. Das Element der Pflicht spielte auch im oben erläuterten sog. Berner Drittwirkungsstreit 1988 eine Rolle, als Peter Saladin, wie ausgeführt, argumentierte, dass die Grundrechte quer durch alle Rechtsgebiete zur Wirkung kommen müssten. Dies gelte auch für private Akteure, die die (Grund-)Rechte anderer achten müssten (Grundpflichten). Zwar wirkte er zusammen mit dem damaligen Rektor Pio Caroni mäßigend auf die Diskussion ein, so dass der Streit mit den Zivilrechtlern beendet (aber nicht entschieden) wurde, hielt aber stets an seiner Auffassung fest. Seine „Mitstreiter“ waren sein nur wenige Jahre jüngerer Kollege Jörg Paul Müller sowie Alt-Nationalrat Richard Bäumlin; dieses Dreigestirn beherrschte viele Jahre die Staatsrechtslehre an der Berner Fakultät. Peter Saladin war auch privat ein Pflichtenmensch, der seine staatsbürgerlichen Pflichten ernst nahm. Gerne erzählte er von den Wehrübungen, an denen er als Reserveoffizier im Bunker tief unter den Bergen teilgenommen hatte. Mit Strategieplänen beschäftigt, seien das gute Zeiten gewesen, da man dort, vom Alltag abgeschirmt, immer lange und interessante Diskussionen mit den Kameraden habe führen können. Betrachtet man die Entwicklung der Grundrechtsdiskussion in größerem Zusammenhang, hatte Peter Saladin, damals in den 70er Jahren, ein noch „unbeackertes Feld“ vor sich. Galt es damals doch, die Grundrechte unter den gewandelten Verhältnissen neu zu „entdecken“, ihre Bedeutung zu erkennen und sie als „Pflichtenheft“ des Staates in die Verfassung „einzubringen“. Dies wurde damals in der Schweiz als Institutionalisierung der Grundrechte, als „kopernikanische Wende“ des Grundrechtsverständnisses bezeichnet. Peter Saladin verstand die Grundrechte als stetige Verpflichtung des Staates und nicht so sehr, wie in der Diskussion in Deutschland, als Kette subjektiver Rechte des Bürgers gegen die öffentliche Hand (Grundrechte „im Staat“ und nicht nur „Grundrechte
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gegen den Staat“, während die „Brosamen“ der Detailausarbeitung der Grundrechte der heutigen Lehre vorbehalten sind).30 Dieses Grundrechtsverständnis als Pflicht des Staates stellt wohl den entscheidenden Unterschied zwischen der schweizerischen und deutschen Lehre dar, da letztere das Heil zur Grundrechtsrealisierung am ehesten in der Judikative sah.31 Die Schweiz hingegen hatte den Missbrauch der Institutionen nicht so stark erlebt wie Deutschland, so vertraute man diesen eher. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene gab es in der Schweiz bisher nicht und wird erst in jüngster Zeit in begrenztem Umfang zugelassen, seit am 5. Dezember 2011 der neugewählte Nationalrat eine Änderung beschlossen hat, die eine eingeschränkte Nachprüfung von Bundeserlassen durch das Bundesgericht vorsieht.32 Zudem sind die Wege in der Schweiz zur politischen Entscheidung kurz, die Lehre konnte wohl davon ausgehen, dass tendenziell dringliche Fragen durch die politischen Instanzen in absehbarer Zeit aufgegriffen werden würden.33
3. Peter Saladin und die Gerechtigkeit Saladin hatte einen wachen Sinn für Gerechtigkeit und hatte sich zusammen mit anderen seit je für Betroffene eingesetzt. So z. B. im Fall des Freiburger (Fribourger) Theologen und Angehörigen des Dominikanerordens Stephan Pfürtner, der
30 Kley, S. 523 f. 31 Dieses Vertrauen in die Justiz ist ein „typisch deutsches“ Phänomen. Es reicht bis in das 16. Jh. zurück (Reichskammergericht) und kommt auch in der Paulskirchenverfassung von 1849 (ein Reichsgericht als Verfassungsgericht) sehr deutlich zum Ausdruck. Allerdings ist dieser Trend zu einer starken Judikative wissenschaftlich noch längst nicht erforscht. Näher D. Majer: Gerichtliche Kontrolle und politische Macht – Von der Paulskirche zum Bundesverfassungsgericht, in: Jahrbuch für Deutsche Geschichte, Bd. XVI/1985 S. 135 ff. 32 Lediglich kantonale Erlasse (Rechtsakte) konnten bisher auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Nunmehr sollen Bundeserlasse vom Bundesgericht mit Wirkung inter partes überprüft werden können (Aufhebung Art. 190 BV 2000). Eine Allgemeinverbindlichkeit wird aber abgelehnt, dies ausdrücklich mit dem Hinweis auf die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit. Gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit wird nämlich in der Schweiz immer wieder die Befürchtung ins Feld geführt, dass das Bundesgericht dadurch zur politischen Instanz werden könnte. Als warnendes Beispiel gilt das deutsche Bundesverfassungsgericht, das regelmäßig Erlasse des Parlaments wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufhebe. Zu den Änderungen vgl. NZZ 6.12.2011 betreffend „Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit“ für die Schweiz. 33 In der Tat hat der Verfassungsgeber, wie oben ausgeführt, dringliche Fragen schon in die alte Bundesverfassung (1874) aufgenommen (Art. 24 novies, 24 decies, 31 octies) und in der neuen Bundesverfassung (2000) verfestigt und konkretisiert (Art. 35, 80, 119, 119a, 120).
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1971 durch einen Vortrag „Moral – was gilt heute noch“ an der Universität Bern eine jahrelange Diskussion über die Wissenschaftsfreiheit in Fragen der Sexualmoral an der (katholischen) theologischen Fakultät Fribourg ausgelöst hatte.34 Alle kirchlichen Stellen beurteilten die Thesen kontrovers, verwarfen sie also nicht von vornherein. Ein juristisches Gutachten von Luzius Wildhaber urteilte, die Thesen Pfürtners hielten sich im Rahmen der Lehrfreiheit; Entlassungsgründe seien nicht gegeben. Weitere Gelehrte äußerten sich ähnlich,35 unter ihnen auch Peter Saladin und Jörg Paul Müller. Pfürtner schied von sich aus 1974 aus der Fakultät und aus dem Dominikanerorden aus und kehrte nach Deutschland zurück. Die Mahnung von Luzius Wildhuber „die Universitäten sollen als Hort der intellektuellen und akademischen Freiheit betrachtet werden …“ bedeutete, dass die Wissenschaftsfreiheit in diesem Fall nicht gewährleistet war.36
4. Die Universität Bern als wissenschaftliches Asyl In dem anderweitig geschilderten Fall37 einer Habilitationsschrift (d. V.), die eine Verfassungstheorie des NS-Staats vorgelegt hatte,38 hatte sich Peter Saladin ebenfalls engagiert. Die Arbeit, die vom Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin zunächst abgelehnt worden war39 und viel öffentliches Aufsehen erregt hatte (die Ablehnung musste später nach verwaltungsgerichtlicher Intervention aufgehoben werden), wurde auf sein Betreiben, unterstützt von Richard Bäumlin, und Jörg Paul Müller, zusammen mit einer weiteren Schrift40 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät 1984 als Habilitationsschrift im öffentlichen Recht anerkannt (allerdings nicht ohne Widerstand). Peter Saladin spielte
34 Näher Kley, S. 380 f. 35 Dies waren Thomas Fleiner, Walter Haller, Johannes Fuchs (Kley S. 381 m. w. N.) 36 Kley, S. 381 37 Majer, Frauen – Revolution – Recht, Zürich 2008, Vorwort, Anmerkungen 79, 80, 83; ferner dies., Commentationes Historiae Juris Hellveticae IV, 2009, S. 145; Kley S. 260 f. 38 Diemut Majer, Fremdvölkische im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981 (unveränderte Neuauflage München 1993) (Schriftenreihe des Bundesarchiv Koblenz Nr. 28) 39 Nach Kollegenaussagen aus „politischen Gründen“, die die Unerwünschtheit von Zitaten von Rechtsgelehrten vor 1945, insbesondere von solchen, die auch noch nach 1945 an Universitäten lehrten, andeuten sollten. Anm. d. V. 40 Verfassungsgerichtsbarkeit und Bund-Länderkonflikte, Berlin 1981.
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die Hauptrolle bei der Vorbereitung und beim Gelingen des Verfahrens.41 Er hatte damit den Kollegen in Deutschland „eine Lektion in Gerechtigkeit“ erteilt, wie er sagte. Die Vorgeschichte erklärt dies.42 Peter Saladin spielte auch eine entscheidende Rolle, als er 1985, zusammen mit Fritz Gygi, Jörg Paul Müller und den Öffentlichrechtlichern der Universität Innsbruck, den Antrag zur Aufnahme d. V. in die deutsche Staatsrechtlehrervereinigung gestellt hatte. Diese hielt ihre Jahrestagung damals in Fribourg ab, auf der der Antrag eine lange Debatte entfesselt hatte,43 die nicht gerade von Taktgefühl gegenüber dem Gastgeber geprägt war.44
5. Peter Saladin und die Natur Wie oben beschrieben, engagierte sich Peter Saladin für den Schutz der Natur, für die Bewahrung der Schöpfung, für die Rechtssubjektivität der Tiere und die Würde der Kreatur, für eine strenge Gesetzgebung im Bereich der Fortpflanzungsund Gentechnologie. Damals, in den 70er und 80er Jahren, war das etwas völlig Neues; erst Anfang der 70er (Club of Rome 1973) kam in der öffentlichen Diskussion überhaupt der Gedanke des Umweltschutzes zum Tragen – Umweltschutz als öffentliche Aufgabe. Die ersten Erlasse (Gesetze) zum Umweltschutz waren in
41 Am Vorabend des Habilitationsvortrag am 1.11.1984 hatten Peter Saladin und Jörg Paul Müller die mit Zittern und Zagen angereiste Vf. am Bahnhof in Bern abgeholt und sie mit dem Verfahren des Vortrags vertraut gemacht – eine große Geste des Beistandes. 42 Die Arbeit wurde nach über sechsjähriger Verfahrensdauer im Dezember 1980 abgelehnt. Es erfolgten anschließend zahlreiche Interventionen (der FU-Forschungskommission und des FUPräsidenten persönlich), sowie, höchst ungewöhnlich, der Einspruch des polnischen Wissenschaftsministers und auch ein großes Presseecho – dies alles jedoch erfolglos. Der Erstgutachter hatte vor der Ablehnungsentscheidung sein Gutachten de facto widerrufen. Ein Angebot zur Habilitation der Universität Posen konnte unter den damaligen Verhältnissen des Kalten Krieges nicht wahrgenommen werden. 43 Die Öffentlich-Rechtlicher der FU hatten Einspruch eingelegt und mit Austritt gedroht, falls positiv entschieden würde. 44 Die Debatte wurde schließlich von Otto Bachof (†) beendet, der (sinngemäß) fragte, wie lange man diese peinliche Debatte noch weiterführen wolle, ob man etwa gewillt sei, einen Schweizer Antrag auf Schweizer Boden abzulehnen, und beantragte Schluss der Debatte und Abstimmung. Im Vorfeld hatte der Vorstand versucht, den Schweizer Antrag zu verhindern. Die Innsbrucker Öffentlichrechtler prognostizierten das Ende der Staatsrechtslehrervereinigung, falls der Antrag abgelehnt würde und beharrten, wie auch die Berner Antragsteller, auf der Entscheidung in Fribourg; offenkundig in der nicht unbegründeten Furcht vor einer „Verschleppung“ und damit vor einem Scheitern des Antrags bis zu einer Entscheidung in Deutschland (Anm. d. V.).
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Vorbereitung, sie mussten erst einmal die Grundlagen schaffen.45 Die Schweizer Umweltgesetzgebung der späteren Jahre wurden wegen der klaren Entscheidungen des Gesetzgebers und der verständlichen Sprache der Regelwerke in vielen anderen Ländern zum Vorbild. Peter Saladins Engagement für die „Würde der Kreatur“ und für die Rechte künftiger Generationen musste auf diesem Hintergrund als Visionen wirken, die vielleicht in ferner Zukunft verwirklicht werden würden. Die Entwicklung des Umweltschutzes und die zunehmenden Probleme zwischen Umweltschutz und ökonomischen Interessen, verstärkt durch Internationalisierung und Globalisierung, haben ihm Recht gegeben. Peter Saladins Engagement ging freilich über das wissenschaftliche Engagement weit hinaus: Die Bewahrung der Schöpfung war ihm ein Herzensanliegen, das er mit Leidenschaft verfolgte; er sah den Raum für den Umweltschutz in der Ära rücksichtsloser Ausbeutung der Natur immer kleiner, die Gefahren einer nur am wirtschaftlichen Erfolg orientierten Gentechnologie immer größer werden. Er sah wohl, das zeigen seine späteren Veröffentlichungen, den Schutz der Natur als wichtigste öffentliche Aufgabe. Raum, Fauna, Flora können nicht wie Industriewaren vervielfältigt werden. Sie sind einmalig und brauchen ein besonderes Schutzstatut. Vor allem sein Engagement für die Rechte künftiger Generationen beruht auf der Sorge vor übergroßer Nutzung der Naturgüter durch die jetzt lebenden Generationen, leidenschaftlich setzte er sich, wie ausgeführt, für eine Charta über die Rechte künftiger Generationen ein. Unermüdlich drängte er die Politik, in diesem Sinne zu handeln. Sein christologisches Fundament verlieh seinen Argumenten ein besonderes Gewicht. Er stellte stets das Prinzip Verantwortung (H. Jonas) in den Mittelpunkt: Gott habe dem Menschen die Natur anvertraut: der Schutz der Schöpfung sei seine Aufgabe.
6. Peter Saladin und das Einhorn Saladins letzte Jahre waren trotz seines schweren Leidens von einem gewissen Zauber umgeben. Seine letzte Aufzeichnung war „Die Wirklichkeit des Einhorns“ die nach seinem Tod vom Stämpfli-Verlag in begrenzter Auflage 1997 in Bern gedruckt wurde und an Freunde und Kollegen verteilt wurde. Unterhalb des Fotos von Peter Saladin heißt es: Es seien die Geschichten, die er in den letzten zwei Jahren seiner Krankheit geschrieben habe, die ihm „zugefallen“ seien. Er äußerte einmal: „Ich weiß nicht, wohin ich geführt werde, wenn ich zu schrei-
45 Ausnahme: Das eidgenössische Natur- und Heimatschutzgesetz (1966)
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ben beginne, es ist richtig spannend.“ Die Schrift umfasst 180 Seiten und enthält Themen, die in der Staatsrechtslehre bisher nicht präsent waren („Schönheit und Recht“, „Zeit und Ebbe“, „Die Hausamsel“, „Die Einhornschule“, etc.). In den Geschichten ziehen das Leben und die Weggefährten Peter Saladins in farbigen Bildern, geleitet vom Einhorn, an ihm vorüber; Tagungen, Sitzungen, Diskussionen werden geschildert. Für Juristen ist besonders der erste Abschnitt „Schönheit und Recht“ (S. 11 ff.) von Interesse. Saladin beschreibt darin die Idee des Einhorns, dass die Schönheit als Staatsziel aufgenommen werden solle („Der Staat erfüllt seine Aufgaben so, dass Schönes nach Möglichkeit erhalten bleibt und neu geschaffen wird …“). Dies in Anlehnung an Platon, nach dem Schönheit das Ziel aller Erziehung ist (S. 25). Das Einhorn, ein mystisches Fabelwesen,46 das die Reinheit und Wahrheit verkörpert, ist ein scharfer Beobachter der juristischen Welt. So mahnt es auch eine schönere Sprache bei Juristen an, die sehr selten sei, und lässt nur wenige Ausnahmen gelten (z. B. den von Peter Saladin in Zwiegespräch genannten Jean François Aubert).47 Das Einhorn vermittelt ferner die Botschaft, dass nicht nur die Schönheit, sondern die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen von Schönheit als Teil der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verstanden werden muss. Auch an anderer Stelle steht die Schönheit in engem Zusammenhang mit dem Einhorn. Denn das Einhorn verficht nicht nur die Schönheit als Teil der menschlichen Existenz, es verkörpert sie selbst: Das Einhorn ist ein Meister der Schönheit.48 Peter Saladin gehört neben Namen wie Zaccaria Giacometti, Werner Kägi, Fritz Fleiner, Dietrich Schindler, Max Imboden, Richard Bäumlin, Alfred Kölz, Max Huber, Jean-François Aubert, Jörg Paul Müller u. ä. zu den großen Namen der Schweizer Staatsrechtslehre. Er war und blieb eine Ausnahmeerscheinung, auch in persönlicher Hinsicht. Er hat die Probleme der Zeit erkannt, er hat die Grundrechte in die Verfassungstexte eingebracht und die Schöpfung als wichtigstes Gut der Menschheit „entdeckt“. Niemand vermochte wie er in die Zukunft zu blicken und die Rechte künftiger Generationen und den Schutz der Natur von der jetzt lebenden Generation einzufordern. Seine Wurzeln in der Verantwortung
46 Es war zugleich das Wappentier der französischen Könige. 47 Die Geschichte „Schönheit und Recht – Gespräch mit einem Einhorn“ ist auch veröffentlicht in: Etudes en l’honneur de Jean-François Aubert, Basel/Frankfurt 1996, S. 181 ff. 48 „Das Einhorn glühte in der Vielfalt seiner Farben. Und plötzlich wurde mir klar: Du bist mir Meister. Ich brauche und finde dich als Meister wegen Deiner Schönheit. Wegen des Schimmers, des Glanzes, der einhüllenden und ausweitenden Kraft Deiner Schönheit. Offenbar soll mich mein Weg zu viel umfassenderem Wahrnehmen und Gestalten von Schönheit führen. Und auf diesem Weg brauche ich Dich als Meister!“. Aus Meister, in: Peter Saladin Die Wirklichkeit des Einhorns, Bern 1997, S. 171.
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des Christen hat er niemals aufgegeben; sie verliehen ihm Kraft und Geduld, stets an diesen Grundlagen festzuhalten. Sein viel zu früher Tod im Mai 1997 hinterließ eine große Lücke. Pfarrer Lukas Schwyn und Jörg Paul Müller hielten die Trauerreden, die vielen noch heute im Gedächtnis sind. Mögen sich auch die Grundrechtsdebatten immer weiter „auffächern“, die von ihm gelegten Grundlagen bleiben bestehen, ebenso sein Appell an die heute (vielfach vergessenen) Grundpflichten der Bürger. Seine Ideen zum Schutz der Schöpfung fassen in der Praxis Fuß – aber viel zu langsam. Bodenverseuchung und Wasserverunreinigung durch Überdüngung (bis in 10–15 m Tiefe) nehmen zu, Dürre und Trockenheit machen sich (wie im Herbst 2011) immer heftiger bemerkbar, die Abholzung der tropischen Wälder schädigt Klima und Natur irreparabel. Der Flächenverbrauch durch Straßen und Industrieanlagen zerstört die Natur. Der wirtschaftliche Fortschritt, besonders in den Staaten der Dritten Welt, droht die Wirkung der erreichten Umweltschutzstandards aufzuzehren. Die Verwirklichung der Forderungen Peter Saladins wird immer drängender; seine Botschaften sind wichtiger denn je.
LXVII Klaus Schlaich (1937–2005) Stefan Korioth
I. Biographisches Am 1. Mai 1937 wurde Klaus Schlaich in Stetten/Remstal als jüngstes von fünf Kindern geboren.1 Sein Vater, evangelischer Pfarrer, leitete die Stettener Diakonie-Anstalten, in denen Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen Aufnahme und Heimat fanden. Nach dem Besuch des humanistischen Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums in Stuttgart wurde Tübingen zur akademischen Heimat Klaus Schlaichs. Dort absolvierte er ein Studium generale am Leibniz-Kolleg, es folgten das Studium der Rechtswissenschaften und Referendariat, Assistenzzeit mit Promotion (1967) und Habilitation (1971), beide betreut von seinem akademischen Lehrer Martin Heckel. Den Lebenswelten des württembergischen Pfarrhauses und der Tübinger Gelehrtenrepublik folgte dann die volle Entfaltung akademischer Wirksamkeit im Rheinland: 1972, gerade 35 Jahre alt, nahm Klaus Schlaich einen Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, verbunden mit der Leitung des kirchenrechtlichen Instituts,2 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn an. Dieser Wirkungsstätte blieb Klaus Schlaich bis zu seiner vorzeitigen Emeritierung im Jahre 1997 treu. Einen Ruf nach Freiburg lehnte er 1987 ab. Erfolgreiche Lehre und reiche wissenschaftliche Tätigkeit fanden eine jähe Unterbrechung und Einschränkung, als Klaus Schlaich im Sommer 1987 unerwartet schwer erkrankte. Die Folgen eines schweren Schlaganfalles in Verbindung mit Parkinsonscher Krankheit zwangen ihn, seine Kräfte zu konzentrieren. Im Rückblick wird klar, wie tief der Einschnitt war: Seit 1980 hatten die öffentliche Wirksamkeit und die Publikationstätigkeit an Umfang und Entschiedenheit zuge-
1 Zum folgenden auch die Nachrufe von Werner Heun, ZevKR 51 (2006), S. 1 f.; Christoph Link, JZ 2006, S. 82 f.; Stefan Korioth, NJW 2006, S. 34 f. S. a. Martin Heckel, Das Kirchen- und staatskirchenrechtliche Werk Klaus Schlaichs, in: In Memoriam Klaus Schlaich. Reden, gehalten bei der Akademischen Gedenkfeier am 21. April, 2007, Bonn 2007, S. 11 ff. 2 Dazu Christian Waldhoff, Kirchenrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn, ZevKR 51 (2006), S. 70 ff., zu Schlaich S. 93 f.
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nommen.3 Vieles Geplante und Begonnene, so ein großangelegtes Vorhaben zu den Synoden des 19. Jahrhunderts, mußte nach 1987 ganz aufgegeben oder eingeschränkt werden. Was ihm weiterhin möglich war, hat Klaus Schlaich dennoch mit der ihm eigenen Zähigkeit und Entschlossenheit fortgesetzt. Am 23. Oktober 2005 verstarb Klaus Schlaich im Alter von 68 Jahren in St. Augustin.
II. Die Grundlagen: Kirche, Recht und Staat in geschichtlicher Entwicklung und wechselseitiger Bedingtheit Klaus Schlaichs Dissertation über die Kollegialtheorie aus dem Jahre 19674 ist eine bahnbrechende historische, näher dogmengeschichtliche Untersuchung über ein bis dahin vernachlässigtes Konzept des Verhältnisses von Staat und Kirche des 18. Jahrhunderts samt praktischen Folgerungen und Auswirkungen, die es auf das deutsche Staatskirchenrecht und das Kirchenrecht bis in das 20. Jahrhundert hinein gehabt hat. Die konzentriert geschriebene, einer Rehabilitierung des lange verpönten Kollegialismus das Wort redende Abhandlung ist aber noch mehr. Fast auf jeder Seite ist zu spüren, wie der Autor anhand seines Gegenstandes seine eigenen Auffassungen zu Kirche und Staat, weltlichem Recht und Kirchenrecht entwickelt. Kein Zweifel bleibt daran, daß heutiges Denken über die evangelische Kirche die Vorstellung, Kirche sei frei gebildete Gesellschaft, überwunden hat. Aber: Die Distinktionen des 18. Jahrhunderts, Vernunftrecht, Rationalismus, das erstmalige Ausloten der Begrenztheit und Stärke des souveränen Staates und des weltlichen Rechts, gerade in der Befassung mit Religion und Kirche, faszinieren den Autor. Der Versuch der Kollegialtheorie, die (Mehrzahl) von Kirchen in das autonome, säkular legitimierte Recht des Staates bei Wahrung der theologischen Autonomie der Religionsgesellschaften einzuordnen, erscheint in der Darstellung als Paradigma für die Aufgabe des modernen Rechts überhaupt. Wie löst das Recht das Problem, Sachbereiche zu ordnen, die ganz eigenen, dem Recht möglicherweise fremden Maßgeblichkeiten folgen? Die Antwort liegt im Ausgleich und der gegenseitigen Anerkennung. In Schlaichs durchaus distanzier-
3 Eine vollständige Bibliographie in: Klaus Schlaich, Gesammelte Aufsätze. Kirche und Staat von der Reformation bis zum Grundgesetz, 1997, S. 581–586. Nachzutragen ist: Klaus Schlaich, Das Recht der Papstwahl, JuS 2001, S. 319 ff. 4 In Buchform: Klaus Schlaich, Kollegialtheorie. Krise, Recht und Staat in der Aufklärung, 1969 (Jus Ecclesiasticum, Band 8).
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ter Beschreibung des Grundschemas des Kollegialismus erscheint zunächst die Annäherung der Kirche an weltliche Ordnungsformen: „Die Kirche in der Welt […] ist eine freie und gleiche Gesellschaft; in ihr vereinigen sich Menschen aus freier Entschließung, um nach der Vorschrift Christi sowie nach gewissen vereinbarten Lehrbegriffen und Regeln Gott gemeinsam zu verehren. […] Diese Rechtsform der ‚societas aequalis et libera‘ gewährleistet die Gewissensfreiheit des einzelnen: er hat die Möglichkeit, jederzeit auszutreten und zu einer anderen Religionsgemeinschaft überzutreten […]. Aus der Rechtsform einer Gesellschaft fließen aber auch der Kirche selbst die Rechte zu, die jede erlaubte Gesellschaft im Staate hat, nämlich das Recht, die Mittel zum Vollzug des Gesellschaftszwecks zu bestimmen. […] Die Summe dieser Gesellschaft bildet die Kirchengewalt […]. Das Subjekt der Kirchengewalt ist die ganze Kirche […]. Die Kirche hat die Verwaltung der Kirchengewalt – nicht die Kirchengewalt selbst – zur Ausübung bestimmten Personen übertragen. Die Wahl dieser Personen steht ihr völlig frei […].“5 Und das weltliche Recht? „Kurz gesagt ging es um den Versuch, die Kirche und ihr von den theologischen, transzendenten Grundlagen her bestimmtes Recht in den Bau eines neuen welt-immanenten, ‚vernunftmäßigen‘ Rechtssystems des modernen, säkularen Staates einzupassen.“ Und: „Für das Recht der Kirche stand damit schicksalhaft zur Entscheidung, auf welche Seite es sich in diesem Abschichtungsprozeß schlagen würde, ob zur Kirche und ihrer Theologie oder in den Bereich des Staates mit seinem profanen (Natur-)Recht. Diese Frage ist seitdem die fundamentale Frage nach Existenz, Wesen und Legitimität evangelischen Kirchenrechts.“6 Klaus Schlaich gelingt nun, in intensiver Auseinandersetzung mit den Quellen, der zeitgenössischen Theologie und Rechtslehre, der Nachweis, daß Kollegialismus keineswegs als Profanisierung der Kirche zu verstehen ist, wie dies in der Dogmengeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts durchgehend angenommen wurde. Es sei, so die These, im Kollegialismus ein ausgleichendes Nebeneinander des äußeren Verständnisses der Kirche als Kollegium und des theologischen Verständnisses als göttliche Stiftung festzustellen. Damit hat der Kollegialismus in einer Art Langzeitwirkung die reformatorische Crux des landesherrlichen Kirchenregiments mit dialektischen Wendungen unterspült. Die Eigenständigkeit der Kirche, ihre Verschiedenheit vom Staat, läßt ein konsequentes Staatskirchentum nicht zu. Der weltliche Notbischof verwaltet übertragene und an kirchliche Maßgaben gebundene Kirchengewalt. Zugleich lassen sich Konflikte entspannen: „Die Bindung des Landesherrn an die Maßstäbe und Gesetze der Kirche vermag sich mit der staatlichen Souveränität zu ver-
5 Klaus Schlaich, Kollegialtheorie (Anm. 4), S. 14–16. 6 Klaus Schlaich, Kollegialtheorie (Anm. 4), S. 21 f.
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söhnen, denn die Kirche ist ja in das staatliche Gesellschaftsrecht eingeordnet.“7 Das ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nichts nur gestriges: Der schwierige Ausgleich religionsgesellschaftlicher Autonomie und staatlicher Letztentscheidung, die das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes verlangt (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV), steht häufig vor ähnlichen Kollisionsfragen.8 Von hier aus gibt es eine erst auf den zweiten Blick erkennbare, aber umso deutlichere Verbindung zu Schlaichs Tübinger Habilitationsschrift zur Bedeutung von Neutralität im Verfassungsrecht.9 Mit der Themenwahl bewies Schlaich Gespür für das, was in der Luft lag und der Klärung bedurfte. Neutralität, ursprünglich aus dem Völkerrecht kommend, hatte sich in der Endphase Weimars, dann aber vor allem und mit neuem Akzent in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, zum Kristallisationspunkt der Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft entwickelt und stieg, in gewisser Parallele zum Pluralismus, zum Schlüsselbegriff der Verbandsdemokratie auf. Anfang der 1970er Jahre war es an der Zeit, eine umfassende juristische Standortbestimmung vorzulegen. Für Schlaich geht es auch bei der Neutralität um Verhältnisbestimmung, um Ausgleich, um den Versuch des staatlichen (Verfassungs)Rechts, einen Standpunkt der Vermittlung zwischen Identifikation und völliger Distanz zu gesellschaftlichen Freiheitsbetätigungen und gesellschaftlicher Vielfalt zu finden. Dem schillernden Begriff der Neutralität nähert sich Schlaich mit Vorsicht und Skepsis. „Neutralität ist zum Schlagwort und Träger geworden für alle möglichen Gedanken über den Staat und sein Verhältnis zu anderen Gruppen, Verbänden und Institutionen in den Bereichen der Politik, Kultur und Wirtschaft. […] Die Sache und der Modebegriff der Neutralität sind nicht neu. Dennoch läßt es sich kaum zurückhaltender sagen: Der gegenwärtige allseitige Ruf nach Neutralität wirft die zeitlose Frage auf nach dem Selbstverständnis des Staates, nach seinen Grundlagen, seiner Legitimation, seinem Verhältnis zur Gesellschaft und damit nach seiner Reichweite sowie nach der Art und Weise seiner Tätigkeit.“10 Die ideengeschichtliche und verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme zum Neutralitätsbegriff führt Schlaich zu der kühnen Frage, ob auf ihn besser verzichtet werden solle. Jedenfalls könne es nicht gelingen, eine einheitliche umgreifende inhaltliche Definition der Neutralität zu finden. Stattdessen müsse Neutralität als
7 Klaus Schlaich, Kollegialtheorie (Anm. 4), S. 277. 8 Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997. 9 Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, 1972. 10 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 1.
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Relationsbegriff gefaßt werden, als „Entscheidungshilfe bei der Offenlegung des Maßstabs“11 rechtlicher Festlegungen, bei dem alles auf den Standort, Maßstab und Gegenstand ankommt, zu dem in Beziehung gesetzt wird. Schlaich sieht die Funktion des Neutralitätsbegriffs in der „Hervorkehrung der jeweils vom Sachgebiet her gebotenen eigenen Handlungs- und Entscheidungsmaßstäbe“ und damit als Verweisungsbegriff.12 Neutralität als heuristischer Begriff ist geeignet und bestimmt, zwischen den geltenden Verfassungsbestimmungen und dem Vorverständnis von Interessenten und Interpreten zu vermitteln. Dies zeigt die Untersuchung an verschiedenen Sachbereichen, in denen Neutralität als Prinzip, als Schlagwort oder Destillat einzelner Normen verwendet wird, bei der Stellung der Berufsbeamten, dem Amt des Bundespräsidenten, den Einrichtungen der Bundesbank und der Rechnungshöfe, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und im Schul- und Arbeitsrecht. Als Relationsbegriff soll Neutralität ideologische Voreingenommenheiten und inhaltliche Verkrustungen offenlegen und verhindern. In den Extremen gibt Neutralität dem Staat zwei mögliche Verhaltensweisen vor: „distanzierende Trennung bzw. Indifferenz“ oder „neutrale Parität“. „Neutralität kann das Verbot oder das Gebot staatlicher Intervention zugunsten gesellschaftlicher Freiheit meinen.“13 Es versteht sich von selbst, daß dieses Verständnis von Neutralität besondere Bedeutung für das Staatskirchenrecht hat, das als Staatsrecht nach Schlaichs Auffassung keine Sonderexistenz führt, sondern möglichst weit in die verfassungsrechtliche Gesamtordnung einzubetten ist. Auch hier ist Neutralität keine vorverfassungsrechtliche Großformel, sondern Entscheidungshilfe beim Verständnis sowohl der Religionsfreiheit als auch des institutionellen Staatskirchenrechts des Art. 140 GG. Neutralität bedeutet einerseits Distanz des Staates zu religiösen Wahrheitsansprüchen, andererseits Respekt vor und Berücksichtigung religiöser Interessen in der staatlichen Ordnung der Gesellschaft. Dieses Neutralitätsverständnis stößt 40 Jahre nach Erscheinen von Schlaichs Abhandlung zwar auch auf Kritik;14 die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
11 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 44. 12 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 219, 227. 13 Beide Zitate: Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 26. 14 Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002; ders., Der Grundsatz der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates – Gestalt und Grenzen, 2004, mit der Unterscheidung zwischen „Begründungs-“ und „Wirkungsneutralität“. Die staatliche Rechtsordnung sei allein der Begründungsneutralität verpflichtet, was die Abwehr einer absichtlichen Diskriminierung in religiös-weltanschaulicher Sicht bedeute. Siehe auch ders., Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates – Gehalt und Dogmatik, in: J. Krüper u. a. (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 5 ff.
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gerichts indes ist ihm, auch und gerade in der Unterscheidung zwischen distanzierender und übergreifender Neutralität, nach wie vor verpflichtet, etwa in der Kopftuch-Entscheidung des Jahres 2003.15 Unabhängig davon ist die Diskussion weitergegangen und thematisiert heute, viel stärker als dies vor 40 Jahren bewußt war, die Rahmenbedingungen des Konzepts von Neutralität und, im Religionsrecht, von Säkularität.16 In den 1970er Jahren lag die wichtige Bedeutung der Schrift darin, auf die jeweiligen Vorverständnisse des schillernden Neutralitätsbegriffs aufmerksam zu machen, sie zu reflektieren und (scheinbare) Gewißheiten zu unterspülen: „Neutralität regt zum Weiterdenken an, zur Offenlegung und Sinnerhellung dessen, was in der Verfassung und in anderen Normen bereits angelegt ist. So leistet Neutralität Hilfsdienste. Neutralität provoziert das Argument, das inhaltlich erst aus der Bewertung der jeweils anstehenden Sach- und Kompetenzinteressen folgt und zu deren Ausgleichung erforderlich ist.“17
III. Methodik Die Themen der Dissertation und Habilitation bezeichnen nicht allein die inhaltlichen Fundamente für die folgenden Forschungen Schlaichs. Sie lassen auch, manchmal in ihrer Genese, methodische Grundhaltungen erkennen. Abstrakte Methodenfragen haben Schlaich – wie so viele Juristen seiner Generation – nie interessiert. Dennoch weisen seine Untersuchungen durchgehend Merkmale auf, die seine gesprächsweise Selbsteinschätzung als „Positivist besonderer Art“ oder, im Anschluß an die in Weimar von Anschütz und Thoma repräsentierte Richtung, als „gemäßigter Positivist“,18 bestätigen. Bei der Erschließung jedes Gegenstandes, zumal des geltenden Rechts, ging Schlaich induktiv, geschichtsbewußt und
15 BVerfGE 108, 282 (299 ff.). Überblick zur aktuellen Diskussion bei Stefan Korioth/Ino Augsberg, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, JZ 2010, S. 828 ff. Eine klare Einteilung und Bewertung der heute vertretenen Neutralitätskonzepte gibt Hans Michael Heinig, Verschärfung der oder Abschied von der Neutralität? Zwei verfehlte Alternativen in der Debatte um den herkömmlichen Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität, JZ 2009, S. 1136 ff. 16 Ino Augsberg, Die Entstehung des neutralen Staates als Vorgang der Säkularisation, ZevKR 53 (2008), S. 445: „Vor dem Hintergrund einer postmodernen Gesellschaft, die auch auf dem Religionssektor durch Pluralisierungs- und Fragmentierungstendenzen gekennzeichnet ist, zeigt sich der traditionelle […] staats(kirchen)rechtliche Neutralitätsbegriff als in sich paradox.“ 17 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 230. 18 Die Bezeichnung „gemäßigte Positivisten“ findet sich bei Werner Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, Der Staat 28 (1989), S. 377 ff., 379, 385.
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interdisziplinär vor. Insbesondere Großformeln und Epochenbegriffe hat er nie als Träger von Gewißheiten verstanden; ausgehend von einzelnen Aspekten werden sie Stück um Stück rekonstruiert. So gilt etwa Neutralität nicht etwa als vorverfassungsrechtliche Formel, sondern muß sich aus einzelnen Normen herleiten lassen und an ihnen bewähren – oder eben nicht. Das Geschichtsbewußtsein war zum einen mit Schlaichs Gegenständen verbunden – kein Kirchen- und Staatskirchenrechtler kommt ohne Geschichte aus –, es entsprach zum anderen aber auch Schlaichs besonderem Interesse. Keine These wird bei ihm ohne historische Verankerung und Einordnung entwickelt. Das interdisziplinäre Gespräch, mit der Theologie, Geschichte und Soziologie vor allem, gehören zur Skepsis Schlaichs vor schnellen Gewißheiten. „Soziologie, Theologie, Kirchenrecht und Staatsrecht können ein je verschiedenes Bild von Kirche und Religion gewinnen, da ihre Wertund Beurteilungsmaßstäbe jeweils differenziert sind. Aus methodischer Sicht ist entscheidend, daß keiner der gewonnenen Begriffe die ganze Wirklichkeit einzufangen vermag. Deshalb kann nicht die eine Blick- und Forschungsrichtung die Ergebnisse der anderen als Mißverständnis, Anmaßung oder Überfremdung charakterisieren.“19 All dies mündete in ein Selbstbewußtsein als Jurist, bei dem zugleich die Einsicht in die Begrenztheit des Rechts immer mitschwang – viel stärker als bei denjenigen Juristen, die sich ausschließlich mit dem geltenden weltlichen Recht befassen. „Die juristische Bezeichnung und konkrete Erfassung der Dinge kann sich nicht anmaßen, schon als solche das Wesen der Dinge voll zu erfassen. Die verengende, eigene Begriffsbildung des Rechts braucht andererseits aber die Sache im Ganzen nicht zu verfehlen, weil und soweit sie im juristischen ‚Hin- und Herwandern des Blicks‘ (Engisch) die ganze jeweilige Wirklichkeit – als im staatlich-rechtlichen Begriff eingelagert – mitbedenkt.“20
IV. Kirchenrecht und Staatskirchenrecht Aus der Kirchen- und Kirchenrechtsgeschichte hat Schlaich seine Linien in das heutige Kirchenrecht gezogen. Seine Abhandlungen verbinden Grundprobleme mit praxisrelevanten Fragestellungen. Mehrfach hat Schlaich zu den Versuchen Ende der 1970er und anfangs der 1980er Jahre Stellung genommen, die Grund-
19 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 161. 20 Klaus Schlaich, Neutralität (Anm. 9), S. 163.
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lagendiskussion des evangelischen Kirchenrechts zu erneuern,21 er hat Kirchenrechtsquellen, das Lehrbeanstandungsverfahren und die Grundordnung der EKD untersucht.22 Als Mitherausgeber hat er das dreibändige Werk „Das Recht der Kirche“ (1994/1995) maßgeblich mitgeprägt. Daneben verstand sich für einen aus der Schule Martin Heckels stammenden Kenner des Neutralitätsgrundsatzes fast von selbst die intensive Befassung mit dem Staatskirchenrecht, etwa im Handbuchbeitrag über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, der auch eine spezifisch protestantische Staatsethik erkennen läßt.23 Sie gipfelt in der Untersuchung „Konfessionalität – Säkularität – Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat“.24 Es lohnt, gerade nach den Veränderungen der religiösen Landschaft in den beiden letzten Jahrzehnten – einerseits Entkirchlichung, andererseits zunehmende Fixierung auf den Islam als den Exponenten der multireligiösen Gesellschaft25 – auf die Thesen dieser Arbeit zurückgreifen. Sind, so fragt Schlaich, Christentum und Kirchen staatstragende Größen? Gibt es vielleicht sogar ein Bedingungsverhältnis von Religion und Demokratie? Die Antwort ist ein klares Nein: Verfassungsrechtlich stehe fest, daß es der „modernen Demokratie an einer verbindlichen weltanschaulichen Grundlage fehlt“.26 Damit bleibt die Legitimation des modernen Staates prekär und muß prekär bleiben, denn es läßt sich zwar beweisen, „daß der demokratische Verfassungsstaat der Neuzeit seine Gründe auch in christlichen Wurzeln hat, nicht aber, ob er, abgeschnitten von diesen Wurzeln, lebensfähig sein wird.“27 Das Verhältnis des Staates zu seinen Grundlagen ist „in der Schwebe und in dieser zu halten“,28 Religion darf nicht zur Legitimati-
21 Klaus Schlaich, Die Grundlagendiskussion zum evangelischen Kirchenrecht. Ein Lagebericht, Pastoraltheologie 72 (1983), S. 240 ff.; ders., Kirchenrecht und Kirche – Grundfragen einer Verhältnisbestimmung heute, ZevKR 28 (1983), S. 337 ff. 22 Klaus Schlaich, Kirchenrechtsquellen, in: TRE XIX (1990), S. 45 ff; ders., Das Recht der Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung in der Kirche, in: M. Brecht/R. Schwarz (Hrsg), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, 1980, S. 491 ff.; ders., Änderungen der Grundordnung der EKD nur mit Zustimmung der Gliedkirchen?, ZevKR 32 (1987), S. 117 ff. 23 Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Auflage 1995, S. 131 ff. 24 In: T. Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, 1985, S. 175 ff. 25 Dazu Stefan Korioth, „Jeder nach seiner Façon“: Grundgesetz für die multireligiöse Gesellschaft, in: KJ, Beiheft 1, 2009, S. 175 ff. 26 Klaus Schlaich, Konfessionalität (Anm. 24), S. 185. 27 Klaus Schlaich, Konfessionalität (Anm. 24), S. 178. 28 Klaus Schlaich, Konfessionalität (Anm. 24), S. 192.
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onsgrundlage der freiheitlichen Demokratie erhoben werden.29 „Aber normativ läßt sich Gott weder aufdrängen noch dem Staat zugrundelegen. Bewahren wir also das Kreuz vor der Überwucherung durch das Recht!“30 Von manchen und zu Unrecht wird dies heute in Frage gestellt. Im Interesse der Geltungs- und Realisierungsbedingungen der freiheitlichen Verfassungsordnung sei es geboten, Religion und Religionsgemeinschaften je nach dem Beitrag unterschiedlich zu behandeln, den sie für ein freies Gemeinwesen erbringen.31 Manche Theologen sprechen sogar von der Unverzichtbarkeit des Christentums für die Legitimation der säkularen Gesellschaft und des säkularen Staates. Das aber ist auch in der postsäkularen Gesellschaft ein Irrweg. Verfassungsvoraussetzungen dürfen nicht Teil der Verfassung werden. Das Bundesverfassungsgericht verfolgt heute, wie in Fragen der Neutralität, die Linie Schlaichs. Insbesondere in seiner Entscheidung zum Körperschaftsstatus für die Zeugen Jehovas hat es die jeweilige Eigengesetzlichkeit von Religion und weltlicher Ordnung betont und die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts verworfen, die Korporationsfähigkeit von Religionsgemeinschaften hänge von ihrer Staatsloyalität ab.32
V. Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident Klarheit und skeptische Zurückhaltung in dem, was Verfassungsrecht leisten kann, prägen auch außerhalb des Religionsrechts die Staatsrechtslehre Klaus
29 Zustimmung dazu etwa bei einem theologischen Weggefährten Schlaichs: Martin Honecker, Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft, in: ders., Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat, 1998, S. 107 ff., insbes. S. 121 ff. 30 Klaus Schlaich, Konfessionalität (Anm. 24), S. 187. 31 Paul Kirchhof, Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 39 (2005), S. 105 ff.; Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 125 ff.; Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, S. 538 ff.; ders., Können Minderheiten Mehrheiten blockieren? Religionsbezüge staatlicher Ordnung zwischen individueller Religionsfreiheit und demokratischer Mehrheitsentscheidung, Kirche und Recht 2010, Nr. 110, S. 8 ff. 32 BVerfGE 102, 370 (395): „Das Wirken und der Status einer korporierten Religionsgemeinschaft bleiben, soweit nicht verfassungsrechtliche Einschränkungen geboten sind, von der grundrechtlichen Freiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geprägt. Dem Träger dieser Freiheit ist es überlassen, ob und wie er seinen Freiheitsraum ausfüllt. Grundrechtliche Freiheit ist, vom Staat aus betrachtet, formale Freiheit.“ Bei Schlaich, Konfessionalität (Anm. 24), S. 191, hieß es 15 Jahre zuvor: „Denn staatlich definierte Freiheit ist im freiheitlichen Verständnis der Grundrechte keine Freiheit.“
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Schlaichs. Seine intensive Befassung mit dem Bundesverfassungsgericht beginnt mit dem Staatsrechtslehrerreferat „Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen“ (1980). Gut 30 Jahre später läßt sich sagen, daß dieses Referat die Diskussion über ein wesentliches Element der grundgesetzlichen Ordnung erstmals auf ein sicheres Fundament gestellt hat. Das Bundesverfassungsgericht wird gründlich entzaubert, gerade dadurch aber in seiner Bedeutung bekräftigt. Schlaich stellt klar, daß es um Verfassungsbindung und Rechtsprechung anhand der Verfassung geht. Das Bundesverfassungsgericht ist ein Gericht, die Redeweise vom Verfassungsorgan bezeichne nur die protokollarische Bedeutung.33 Aufgabenbereich und Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts in den verschiedenen Verfahrensarten hängen vom Maßstab der einschlägigen Verfassungsnormen ab. Insbesondere für die Normenkontrolle gelte: „verfassungsgerichtliche Normenkontrolle und Gesetzgebung sind fundamental verschieden […]. Materialprüfung ist nicht Produktion.“34 Um die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu wahren, müsse auch eine Kanonisierung oder sogar Bindungswirkung der Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts zurückgewiesen werden. Diese Sicht entspannt auch die Abgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und den übrigen Gerichten, die nichts anderes als „produktive Konkurrenz im Grundrechtsschutz durch verschiedenartige Gerichtsverfahren“35 sei. Und: „Die größte Mühe macht man sich um die Grenzen der Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht. Lohnt sich dieser Aufwand? Was ist in dem Verhältnis Bundesverfassungsgericht – Fachgerichtsbarkeit eigentlich schützenswert?“36 Schlaichs Empfehlung, wonach es um die Pluralität der die Verfassung anwendenden Gerichte gehe, hat die Staatsrechtslehre nicht aufgegriffen: Immer wieder sieht sie hier den Konflikt, der zu lösen sei, statt der produktiven Konkurrenz.37 Aus Schlaichs Staatsrechtslehrerreferat entstand das Lehrbuch „Das Bundesverfassungsgericht“,38 das bei seinem Erscheinen im Jahre 1985 sogleich als geglückte Verbindung von Wissensvermittlung und Grundlagenarbeit gelobt wurde.39
33 Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (103 ff.). 34 Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 33), S. 114 f. 35 Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 33), S. 125. 36 Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 33), S. 120. 37 Zuletzt etwa Georg Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 119 ff.; Ralf Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006. 38 Jetzt: Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012. 39 Gunnar Folke Schuppert, Buchbesprechung, NJW 1986, 830.
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Auch das Amt des Bundespräsidenten hat Schlaich im Lichte seines gemäßigten Positivismus der Deutung unterzogen.40 Anstoß war neben seiner Beschäftigung mit der staatsrechtlichen Bedeutung der Neutralität dann auch, in den Jahren 1982/83, seine – im Ergebnis erfolglose – Prozeßvertretung vor dem Bundesverfassungsgericht im Streit um die Bundestagsauflösung 1983.41 Kritik findet die starke Betonung der praeterkonstitutionellen Staatspraxis, der die normativen Vorgaben entgegenstellt werden. Schlaich benennt die drei Grundfunktionen, die Integrationsfunktion, die politische und die rechtliche Reservefunktion, die den Bundespräsidenten in die Reihe der Verfassungsorgane einordnen. Der Begriff des Staatsoberhauptes wird als verfassungsfremd zurückgewiesen. „Die Republik ist nicht ein Organismus, der – vergleichbar der vom Papst geführten römisch-katholischen Kirche – nur mit einem ‚Haupt‘ lebensfähig wäre. Der Präsident der Republik ist Verfassungsorgan unter Verfassungsorganen.“42
VI. Wirken in Kirche und Universität In den Institutionen von Kirche und Universität hat Klaus Schlaich engagiert mitgewirkt, vor allem durch langjährige Mitgliedschaft in der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, als Synodaler der 6. EKD-Synode, durch seine Mitarbeit an der Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft,43 als Mitherausgeber – zusammen mit Roman Herzog, Hermann Kunst und Wilhelm Schneemelcher – der dritten Auflage des Evangelischen Staatslexikons (1987) und der Reihe „Jus Ecclesiasticum“. Hier konnte sich das, was ihn charakterisierte, auch in anderen Zusammenhängen entfalten: Sein Ernst, sein Verantwortungsbewußtsein und, geleitet von protestantischem Ethos, sein Wahrheitsanspruch, der bis zu Skrupeln bei einzelnen Formulierungen reichen konnte und sich bei der Diskussion eigener und fremder Texte und Thesen vor allem in bohrenden Fragen äußerte, aber auch sein Humor und seine Verschmitztheit, vor
40 Klaus Schlaich, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1. Auflage 1987, § 47; ders., Der Status des Bundespräsidenten, ebenda, § 48; ders., Die Funktionen des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, ebenda, § 49. 41 BVerfGE 62, 1. 42 Klaus Schlaich, Die Funktionen (Anm. 40), § 49 Rdnr. 92. 43 Dazu Eberhardt Schmidt-Aßmann, Klaus Schlaichs Wirken für die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, in: In Memoriam Klaus Schlaich (Anm. 1), S. 23 ff.
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allem aber seine Rücksichtnahme auf andere, sein Einfühlungsvermögen44 und seine – im wörtlichen Sinne – Sympathie, der sich Studierende, Mitarbeiter und wissenschaftliche Weggefährten sicher sein konnten, nicht zuletzt seine beiden Habilitanden und Schüler, Werner Heun und der Verfasser dieser Zeilen.
Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl Kollegialtheorie, Kirche, Recht und Staat in der Aufklärung, Jus Ecclesiasticum, Band 8, München 1969 Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Band 34, Tübingen 1972 Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren Entscheidungen, Kurzlehrbuch, 4. Auflage, München 1997 Maioritas – protestatio – itio in partes – corpus evangelicorum. Das Verfahren im Reichstag des Hlg. Römischen Reiches nach der Reformation, in: ZRG 94 Kann. Abt. 63 (1977), S. 264 ff., ZRG 95 Kann. Abt. 64 (1978), S. 139 ff. Der „Dritte Weg“ – Eine kirchliche Alternative zum Tarifvertragssystem?, in: JZ 1980, S. 209 ff. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1981). S. 9 ff. Kirchenrecht und Kirche. Grundfragen einer Verhältnisbestimmung heute, in: ZevKR 28 (1983). S. 337 ff. Konfessionalität – Säkularität – Offenheit. Der christliche Glaube und der feiheitlichdemokratische Verfassungsstaat, in: Trutz Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, 1985, S. 175 ff. Staatskirchenrecht, in: Dieter Grimm/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Nordrhein-Westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 704 ff. Änderungen der Grundordnung der EKD nur mit Zustimmung der Gliedkirchen?, in: ZevKR 32 (1987), S. 117 ff. Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Auflage, Berlin 1995, S. 131 ff.
44 Nachlesbar auch in seinem Nachruf auf Ulrich Scheuner: Klaus Schlaich, Von der Notwendigkeit des Staates – Das wissenschaftliche Werk Ulrich Scheuners, Der Staat 21 (1982), S. 1 ff.
Bildnachweis Mit Ausnahme der unten aufgeführten Bilder stammen alle aus Privatbesitz bzw. aus dem Verlagsarchiv. Verlag, Herausgeber und Autoren danken den Familien und Freunden der Staatsrechtslehrer des 20 Jahrhunderts für die Erlaubnis zum Abdruck ihres Bildmaterials. Für den Fall, dass trotz sorgfältiger Recherche nicht alle Inhaber von abgedruckten Bildern ermittelt wurden, bitten wir die Rechteinhaber, sich zur Klärung etwaiger bestehender Ansprüche an den Verlag zu wenden. Wolfgang Abentroth: „Einer der Redner der am 20. März 1970 in der Frankfurter Paulskirche veranstalteten VietnamManifestation, Professor Wolfgang Abendroth, unter den Zuhörern vor dem Rednerpodium“. Das Copyright liegt bei dpa. Ludwig Adamovich sen. Österreichische Akademie der Wissenschaften Gerhard Anschütz Universitätsarchiv Heidelberg, Fotograf Robert Herbst Otto Bachof Norbert H. Krüger, Sophienstraße 38, D-7407 Rottenburg Felix Ermacora Wiener Presse Bilddienst Votava, 1020 Wien II, Taborstrasse 7, Tel. 354540 Ernst Forsthoff Universitätsarchiv Heidelberg, Fotograf Balarin, RNZ Wilhelm G. Grewe aus der Festschrift „Im Dienste Deutschlands und des Rechts“, 1981, FS für W. Grewe, Nomos Verlag Max Huber (UAZ) AB.1.0463.2 Hans Peter Ipsen aus dem Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen: Zur Feier des 80. Geburtstages, Nomos, 1988 Georg Jellinek Universitätsarchiv Heidelberg Fotograf: Robert Herbst, Heidelberg
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