121 56 39MB
German Pages 424 Year 1998
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 45
Die soziale Sicherung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der Landtage und der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament Von
Felix Welti
Duncker & Humblot · Berlin
FELIX WELTI
Die soziale Sicherung der Abgeordneten
Beiträge zum Parlaments recht Herausgegeben von Werner KaItefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 45
Die soziale Sicherung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der Landtage und der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament
Von
Felix Welti
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Welti, Felix:
Die soziale Sicherung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der Landtage und der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament / von Felix Welti. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 45) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09403-4
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-09403-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem rechtspolitisch aktuellen und hoch umstrittenen Thema. Während der Bearbeitung in den Jahren 1994 bis 1996 war schon aus diesem Grund eine ständige Weiterentwicklung des Konzepts erforderlich, um etwa durch die gescheiterte Verfassungsänderung von 1995 neu aufgeworfene Fragen einarbeiten zu können. Ich hoffe, daß trotzdem ein Vordringen zu den Grundfragen der Problematik möglich war. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur aus der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 15. September 1997 konnten nur noch vereinzelt eingearbeitet werden. Der Verfasser einer solchen Arbeit kann und sollte seinen verfassungsrechtlichen und politischen Standort nicht verleugnen. Ich hoffe aber, auch anderen Meinungen gerecht geworden zu sein und sie angemessen dargestellt zu haben. Meinem Betreuer, Herrn Professor Dr. Gerhard Igl, habe ich für die Anregung zu dieser Arbeit zu danken. Durch seine Vermittlung konnte ich für den Einstieg in das Thema auf die Vorarbeiten der Enquete-Kommission "Parlamentsreform" der Hamburger Bürgerschaft zurückgreifen. Ihm und dem Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Hans Peter Bull, habe ich auch für günstige und anregende Arbeitsbedingungen und die zügige Abwicklung des Promotionsverfahrens am Fachbereich Rechtswissenschaft 11 der Universität Hamburg zu danken. In diesen Dank möchte ich weitere Angehörige und Beschäftigte des Fachbereichs, namentlich Frau Inge Kampen, einschließen. Weiterhin habe ich für anregende Gespräche zum Thema insbesondere meinen Kollegen Knut Haack, Gilvert W. Krull und Oliver Domscheit zu danken, weiterhin Thomas Sauer und Konrad Nabel, der mir einen vertieften Einblick in die Tätigkeit eines Landtagsabgeordneten gegeben hat, sowie etlichen weiteren Abgeordneten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Fraktionen und Parlamentsverwaltungen, die mir mit Auskünften geholfen haben. Für technische Unterstützung im Umgang mit der Textverarbeitung danke ich Veronika Schlick. Für Unterstützung und Beistand danke ich weiterhin meiner Frau Andrea Schulz und meinen Eltern Dr. Alfred und Elisabeth Welti. Dem Verlag Duncker & Humblot und Herrn Professor Dr. Ulrich Karpen danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Beiträge zum Parlamentsrecht". Ahrensburg, im März 1998
Felix Welti
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ............................................................................................................................... I 9 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder ...... 22 I.
Demokratische Repräsentation ................................................................................ 25 1. Wahl der Abgeordneten ....................................................................................... 30 2. Gleichheit der Abgeordneten ............................................................................ 33 3. Öffentliche Arbeitsweise der Abgeordneten .................................................. 36 4. Offenheit der Parlamente.................................................................................... 46 a) Die "politische Klasse" in der politischen Theorie .............................. 5 2 b) Die "politische Klasse" in der Abgeordnetensoziologie .................... 57 aa) Die Dauer der Mandatsausübung ........................................................ 5 7 bb)Männliche und weibliche Abgeordnete ............................................ 58 cc) Die Altersschichtung .............................................................................. 60 dd)Abgeordnete mit Kindern und ohne Kinder.. .................................. 62 ee) Beruf, Ausbildung und Studium ......................................................... 62 ff) Erklärungen für die Zusammensetzung der Parlamente ................ 6 9 c) Rechtliche Bewertung ................................................................................... 76
11.
Freiheit und Unabhängigkeit .................................................................................. 80 1. Schutzrichtung ...................................................................................................... 80 a) Unabhängigkeit von den Wählerinnen und Wählern ........................... 81 b) Unabhängigkeit von der Exekutive ......................................................... 82 c) Unabhängigkeit von der Partei... ................................................................. 83 d) Unabhängigkeit von Verbänden ................................................................ 86 e) Unabhängigkeit von privaten Interessen .................................................. 87 f) Ergebnis ............................................................................................................ 8 7 2. Schutzbereich ........................................................................................................ 89
III.
Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot ........................... 9 2 I. Geschichtliche Entwicklung............................................................................. 92 a) Verfassungen vor 1918 .................................................................................. 92 b) Die Weimarer Reichsverfassung und die Länderverfassungen 1918-1933 ........................................................................................................ 94 c) Das Kündigungs- und Behinderungsverbot im Grundgesetz ............ 9 6 d) Das Kündigungs- und Behinderungsverbot in den Länderverfassungen ....................................................................................... 97 e) Das Kündigungsverbot der Abgeordneten der Volkskammer in der DDR ....................................................................................................... 98 2. Behinderungsverbot als allgemeiner Verfassungsgrundsatz .................. .1 00 3 . Normzwecke ................................................................................................... ,..... 102 4. Schutzbereiche ....................................................................................................... 104 a) Personaler Schutzbereich ............................................................................. 104
Inhaltsverzeichnis
8
b) Sachlicher Schutzbereich: Erforderlichkeit einer Behinderungsabsicht? ................................................................................. 110 c) Verfassungsrechtliche Einordnung ........................................................... 113 IV.
Die Inkompatibilität ................................................................................................ 114 1. Geschichtliche Entwicklung........................................................................... 114 2. Zweck und Reichweite der Ermächtigung ................................................... 118 3. Inkompatibilitäten anderer Personengruppen ........................................... .123 a) Kirchengesetzliche Inkompatibilität... ................................................... 123 b) Regierungsinkompatibilität.. .................................................................... 125 c) Verbandsi nkompatibi li täten ..................................................................... 1 26 d) Parteiinkompatibilitäten ............................................................................ 126 e) Wirtschaftliche Inkompatibilitäten ......................................................... 127 f) Europäische Union ...................................................................................... 128
V.
Wahlvorbereitungsurlaub (Art. 48 Abs. 1 GG) .................................................. l30
VI.
Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG) ................................................... 133 1. Geschichtliche Entwicklung ........................................................................... 133 2. Rechtscharakter der angemessenen Entschädigung ................................... 140 3. Die Zahlung für die Abgeordnetentätigkeit... ............................................ 143 a) Der Begri ff der Entschädigung ................................................................. 143 b) Die Entschädigung als Anknüpfungspunkt der sozialen Sicherung ........................................................................................................ 147 4. Die Angemessenheit der Entschädigung ...................................................... 150 a) Angemessenheit als inhaltliche Norm ..................................................... 151 b) Angemessenheit als Verfahrensnorm ........................................................ 156 5. Politische Chancengleichheit und Entschädigung ................................... 157 6. Die gescheiterte Verfassungsänderung von 1995 ...................................... 158 7. Landtage ............................................................................................................... 168
VII. Gebot der Geschlechtergleichstellung ................................................................ 177 I. Gleichstellungsgebot und demokratische Repräsentation ...................... 178 2. Gleichstellungsgebot und soziale Sicherung ............................................. 179 VIII. Besondere Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 GG .......................... 183 IX.
Die Gesetzgebungskompetenz ............................................................................... 184 1. Kompetenz der Parlamente .............................................................................. 1 85 2. Alternativen und Schranken in der Parlamentskompetenz ..................... 189 a) Transparenzgebot und Kopplung ............................................................ 190 b) Kommissionen und Beiräte ........................................................................ 192 c) Wirksamkeit erst zur folgenden Wahlperiode ........................................ 193 3. Beschränkung der Landesparlamente ............................................................ 194 4. Gesetzgeber des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung..................... I 95 5. Das Kompetenzproblem beim Europäischen Parlament... ....................... 196 6. Das Bundesverfassungsgericht ........................................................................ 197
c. Regelungen und Reformvorschläge ............................................................................. 203 1.
Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung ................................ 203 I. Funktionszulagen ............................................................................................... 207 2. Anrechnung .......................................................................................................... 210
Inhal ts verzeichni s
9
3. Verdienstausfallprinzip ..................................................................................... 212 4. Ausgleichszahlungen ......................................................................................... 213 11.
Krankheit und Pflegebedürftigkeit.. .................................................................... 215 1. Beihilferegelungen ............................................................................................ 216 2. Zuschuß zur gesetzlichen Krankenversicherung ....................................... 217 3. Anderweitige Krankenversicherung.............................................................. 219 4. Sicherung bei Pflegebedürftigkeit ................................................................ 219 5. Entgeltfortzahlung und Krankengeld .......................................................... 221 6. Vergleich ............................................................................................................... 222 7. Kritik und Reformvorschläge ......................................................................... 223
III.
Abgeordnete mit Behinderungen .......................................................................... 224 I. Regelungen der Abgeordnetengesetze .......................................................... 224 2. Regelungen anderer Gesetze ............................................................................ 225 3. Reformvorschläge............................................................................................... 225
IV.
Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen .............................. 227 1. Vereinbarkeit von Mandat und Beruf.. ......................................................... 233 a) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer................................................... 234 aa) Fortgeltung von Art. 160 WRV? ........................................................ 234 bb) Regelungen nach den Abgeordnetengesetzen ............................... 23 5 cc) Unmittelbare Wirkung von Art. 48 Abs. 2.GG im Arbeitsrecht - Vereinbarkeitsgebot von Mandat und Beruf.. ..... 238 dd)Recht auf Vertrags anpassung zum Teilzeitarbeitsverhältnis ...... 242 b) Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst.. ............................... 245 c) Selbständige ................................................................................................... 249 d) Der Wahlvorbereitungsurlaub ................................................................... 250 2. Sicherung gegen Dequalifikation und Desintegration ........................... 253 a) Anrechnung von Mandatszeiten ............................................................... 255 b) Das Wiederverwendungsgebot im Öffentlichen Dienst.. ................... 257 c) Fort- und Weiterbildung ............................................................................. 258 3. Kündigungsschutz ............................................................................................. 260 a) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer................................................... 261 aa) Außerordentliche Kündigung und Mandatsfreiheit.. .................. 262 bb) Änderungskündigungen ...................................................................... 264 cc) Befristete Arbeitsverhältnisse ............................................................. 2 64 dd) Arbeitnehmerähnliche Personen ........................................................ 265 b) Öffentlich Bedienstete ................................................................................ 266 c) Selbständige ........................ " ......................................................................... 267 4. Monetärer Ausgleich durch Ubergangsgeld ................................................ 268 a) Übergangs frist ............................................................................................... 2 7 0 b) Leistungshöhe ............................................................................................... 2 71 c) Anrechnungsvorschriften ................. ,......................................................... 272 d) Zusammenfassung ......................................................................................... 273 5. Einbeziehung in die gesetzliche Arbeitsförderung................................... 278 6. Rechtliche Bewertung umt Reformvorschläge ........................................... 280 7. Behinderungsverbot und Offentlichkeitsgebot: Das Problem der Veröffentlichungs- und Offenlegungspflichten ................................. 28 I a) Veröffentlichungs- und Offenlegungspflichten im Bundestag und in den Landtagen ................................................................................. 282 b) Zwecke ............................................................................................................. 284 c) Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Behinderungsverbots ..... 285 d) Zulässigkeit und Grenzen von Veröffentlichungs- und Offenlegungspflichten ................................................................................ 286
10
Inhaltsverzeichnis aa) Veröffentlichung der Berufstätigkeit.. ............................................. 2 8 7 bb) Veröffentlichung der Einkommenshöhe......................................... 2 8 8 cc) Offenlegung gegenüber dem Parlamentspräsidium ..................... 290 dd) Sanktionen .............................................................................................. 290 V.
Die Alterssicherung ................................................................................................... 292 1. Geschichtliche Entwicklung ........................................................................... 296 2. Die Abgeordnetenpensionen in Bund und Ländern ................................. 300 a) Anspruchsvoraussetzungen ........................................................................ 300 aa) Mandatszeit ............................................................................................. 300 bb)Lebensalter .............................................................................................. 303 b) Umfang des Anspruchs ................................................................................ 306 aa) Mindestanspruch .................................................................................... 307 bb) Höchstanspruch ...................................................................................... 308 cc) Steigerungsrate ....................................................................................... 309 dd) Bezug zum Aktiveinkommen ............................................................ .311 ee) Berücksichtigung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten ... .313 c) Sonderregelungen für die neuen Länder............................................... .316 d) Anrechnung .................................................................................................... 319 aa) Anrechnung von Arbeitseinkommen ............................................... 3 21 (I) Einkommen aus abhängiger Erwerbsarbeit ............................. 3 21 (2) Einkommen aus Besoldung ......................................................... 321 (3) Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Kapital und Vermietung .............................................................................. 322 (4) Einkommen aus Mandaten ........................................................... 322 bb)Anrechnung von Sicherungseinkommen ........................................ 322 (1) Gesetzliche Rentenversicherung ................................................ 3 23 (2) Betriebliche und berufsständische Altersversorgung........... .3 24 (3) Beamtenversorgung ....................................................................... 324 (4) Versorgung der Minister und Staatssekretäre .......................... 324 (5) Abgeordnetenversorgung ............................................................. 324 cc) Kritik ........................................................................................................ 325 3. Versorgungs abfindung ...................................................................................... 3 27 a) Versorgungsabfindung im engeren Sinne .............................................. 327 b) Nachversicherung ......................................................................................... 328 c) Anerkennung der Mandatszeit als Dienstzeit im öffentlichen Dienst ...................................................................................... 330 4. Vergleich mit anderen Systemen der Alterssicherung ............................... 330 a) Gesetzliche Rentenversicherung und betriebliche Altersversorgung ........................................................................................... 331 b) Beamtenversorgung ..................................................................................... 332 5. Kritik und Reformvorschläge ......................................................................... 332 a) Eigenvorsorge ............................................................................................... 333 b) Versorgungswerk ........................................................................................... 334 c) Integration in die Beamtenversorgung................................................... 335 d) Integration in die gesetzliche Rentenversicherung............................ .335 e) Verbleiben in den mitgebrachten Sicherungssystemen ...................... 337
VI.
Die Sicherung bei Invalidität ................................................................................ 339 I. Arbeitsunfall ........................................................................................................ 339 2. Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. .................................................................... 340 a) Invaliditätsbegriff ........................................................................................ 340 b) Verschulden ..................................................... ,.............................................. 341 c) Leistungshöhe ............................................................................................... 341 aa) Erwerbsunfähigkeit aufgrund Krankheit... ..................................... 341
Inhaltsverzeichnis
II
bb) Erwerbsunfähigkeit durch Unfallfolgen ......................................... 3 4 2 3. Vergleich und Reformvorschläge ................................................................... 342 VII. Die Hinterbliebenenversorgung .......................................................................... .3 44 I. Leistungen zur Überbrückung........................................................................ 344 a) Überbrückungsgeld für Hinterbliebene von Abgeordneten ............ 346 b) Überbrückungsgeld für Hinterbliebene ehemaliger Abgeordneter ................................................................................................. 348 c;) Hinterbliebenenbegriff beim Überbrückungsgeld ............................. 348 2. Vberbrückungsgeld und Sterbegeld nach dem SGB V ............................ 350 3. Uberbrückungsgeld und vergleichbare Leistungen ................................. 35 I 4. Hinterbliebenenversorgung der Rentenversicherung .............................. 35 I 5. Sterbegeld der Beamtenversorgung ............................................................... 35 I 6. Versorgung der Hinterbliebenen von Abgeordneten ............................... 3 5 2 a) Versorgung verwitweter Ehegatten .......................................................... 352 b) Versorgung verwaister Kinder.. ................................................................. 353 c) Ausschluß- und Kürzungsgründe ............................................................. 354 aa) Versorgungsehe ...................................................................................... 3 5 5 bb)Nachheirat ............................................................................................... 355 cc) Späte Annahme an Kindes statL ........................................................ 3 5 5 dd) Überschneide~de Waisengeldansprüche .......................................... 356 ee) Kürzung bei Uberschreiten des zugrundeliegenden Ruhegehalts ............................................................................................. 356 ff) Tod von Hinterbliebenen .................................................................... 357 gg) Wiederverheiratung ............................................................................... 357 hh)Ende der Waisenversorgung ................................................................ 357 ii) Verurteilung zu erheblicher Freiheitsstrafe .................................... 357 d) Anrechnungsvorschriften ........................................................................... 3 5 8 7. Vergleich mit der Gesetzlichen Rentenversicherung ................................ 359 a) Uberlebende Ehegatten .............................................................................. 3 5 9 b) Waisen .............................................................................................................. 360 8. Vergleich mit der Beamtenversorgung ......................................................... 360 a) Uberlebende Ehegatten .............................................................................. 360 b) Waisen .............................................................................................................. 361 9. Reformvorschläge ............................................................................................... 36 I VIII. Der Familienleistungsausgleich ............................................................................ 3 62 I. Familienleistungsausgleich in den Abgeordnetengesetzen .................... 363 2. Allgemeiner Familienleistungsausgleich ..................................................... 363 a) Bundeskindergeldgesetz und Einkommensteuergesetz .................... .363 b) Bundeserziehungsgeldgesetz..................................................................... 364 c) Mutterschutzgesetz ....................................................................................... 365 d) Kinder- und Jugendhilfe ............................................................................ 366 e) Kinderzuschläge ........................................................................................... 3 67 3. Vergleich mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ........................... 368 4. Vergleich mit Beamtinnen und Beamten .................................................... .368 5. Reformvorschläge ............................................................................................... 369 IX.
Der Rechtsschutz ........................................................................................................ 370 I. Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ..................................................... 3 7 0 2. Rechtsweg zu den Sozialgerichten ................................................................. 37 I 3. Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten .............................................................. .371 4. Rechtsweg zu den Verfassungsgerichten ....................................................... 37 I a) Organklage beim Bundesverfassungsgericht ........................................ 372 b) Verfassungs beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ................... 3 7 2
12
Inhaltsverzeichnis c) Klage bei den Landesverfassungsgerichten ...........................................373
D. Zusammenfassung .............................................................................................................376 I.
Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder....................................................................................................................376 1. Demokratische Repräsentation ......................................... .............. ................ 376 a) Wahlen und Periodizität ............................................................. ................376 b) Gleichheit der Abgeordneten ........................... ................. ........................ 377 c) Öffentlicher Status ....................................................................................... 377 d) Offenheit der Parlamente ............................................................................ 377 2. Politische Klasse und demokratische Repräsentation ............................... 377 a) Politische Theorie......................................................................................... 377 b) Abgeordnetensoziologie ................................................. ...........................378 3. Freies Mandat.. ...... ..... ......................................... .................................................378 4. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot... ...............379 5. Unvereinbarkeit mit dem öffentlichen Dienst... ........................................ 379 6. Wahl vorbereitungsurlaub ................................................................................. 379 7. Entschädigungsgebot. ....................................................................................... 3 79 8. Angemessenheit. ............................................................................ ...................... 380 9. Gleichstellung der Geschlechter .................................................................... 381 1O. Gesetzgebungskompetenz.......................... ......................................................381 a) Kommissionen, Transparenzgebot und aufschiebende Kompetenz ..................................................................................................... 381 b) Konkurrenzfragen der Gesetzgebungskompetenz ............................... 3 8 1 c) Das Bundesverfassungsgericht .............................................. ;................... 382
II.
Regelungen und Reformvorschläge .....................................................................383 1. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung ..................... .... 383 2. Krankheit und Pflegebedürftigkeit.. ............................................................. 383 3. Abgeordnete mit Behinderungen ................................................................... 383 4. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen....................... 384 a) Vereinbarkeit von Mandat und Beruf.. ................................................... 384 b) Sicherung gegen Dequalifikation und Desintegration ........... ..........3 84 c) ~ündigungs- und Entlassungsschutz ...................................................... 384 d) Ubergangsgeld .............................................................................................. 385 e) Veröffentlichungs- und Offenlegungspflichten ..................................385 5. Alterssicherung ..................................................... ............................................... 385 6. Arbeitsunfall, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit... ....................................... 386 7. Hinterbliebenenversorgung ...................... ...................................................... 387 8. Familienleistungsausgleich ........................................................ ................. .... 387 9. Rechtsschutz ....................................................................................... ..................387
Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 3 89
Abkürzungsverzeichnis A a.F. AM. Abg. ABI. AblEKD Abs. Abschn. AcP AdAnpG AFG AFRG AG AiB AK ÄndG ÄndTV Anl. AöR APuZ ArbG ArbPlSchG ArbuR ArbZG ARSP
Art. AuS AZ BAG BAGE BAT BayAbgG BayObLG BayVerf BayVerfGH BayVfGHG BB BBG Bd. BerlLAbgG BerlVerf BerlVerfGH BErzGG BeschFG BetrAVG BetrVG BGB
Auflage alter Fassung Anderer Meinung Abgeordneter, Abgeordnete Amtsblatt Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis Adoptionsanpassungsgesetz Arbeitsförderungsgesetz Arbeitsförderungs-Reformgesetz Amtsgericht Arbeitsrecht im Betrieb Alternativkommentar Änderungsgesetz Änderungstarifvertrag Anlage Archiv des öffentliche Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgericht Arbeitsplatzschutzgesetz Arbeit und Recht Arbei tszei tgesetz Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Arbeit und Soziales Ahrensburger Zeitung Bundesarbei tsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundes- Anges tell tentari fvertrag Bayerisches Abgeordnetengesetz Bayerisches Oberstes Landesgericht Verfassung des Freistaats Bayern Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerisches Verfassungsgerichtshofgesetz Betriebsberater Bundesbeamtengesetz Band Berliner Landesabgeordnetengesetz Verfassung von Berlin Berliner Verfassungsgerichtshofgesetz Bundeserziehungsgeldgesetz Beschäftigungsförderungsgesetz Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch
14 BGBI. BGH BGHZ BHE BhV BKGG BMBWFf BMinG BNotO BoK BR BRAO BrbAbgG BrbVerf BremAbgG BremKG BremStGH BremVerf BRRG BSG BSHG BT BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BW BWAbgG BWG BWStGHG BWVerf CDU CSU DB DDR ders. DGB DiätG Diss. DJT DKP DM DöD DÖV DPWV DRiG DuR DVBI. DVP e.a. ebd. EG EinfA
Abkürzungsverzeichnis Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des BGH in Zivilsachen Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten Beihilfevorschriften Bundeskindergeldgesetz Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technik Bundesministergesetz Bundesnotarordnung Bonner Kommentar Bundesrat Bundesrechtsanwaltsordnung Brandenburgisches Abgeordnetengesetz Verfassung des Landes Brandenburg Bremisches Abgeordnetengesetz Bremisches Kirchengesetz Bremischer Staatsgerichtshof Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bundestag Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Baden-Württembergisch Baden-Württembergisches Abgeordnetengesetz Bundeswahlgesetz Baden-Württembergisches Staatsgerichtshofsgesetz Verfassung des Landes Baden-Württemberg Christlich-Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union Der Betrieb Deutsche Demokratische Republik derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund Diätengesetz Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Mark Der öffentliche Dienst Die Öffentliche Verwaltung Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Deutsches Richtergesetz Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Volkspartei et alii ebenda Europäische Gemeinschaft Einführungsakte für das Europäische Parlament
Abkürzungsverzeichnis EStG EU EuAbgG EuGH EuP EuWG EVertr EWGV EZA f.
FAZ FDP ff. FKPG
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Einkommensteuergesetz Europäische Union Europaabgeordnetengesetz Europäischer Gerichtshof Europäisches Parlament Europawahlgesetz Einigungsvertrag Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei fortfolgende Föderales Konsolidierungsprogramms-Gesetz Fußnote Frankfurter Rundschau Festschrift Freie Universität Gesetz Gesellschaft bürgerlichen Rechts Geschäftsordnung des Bundestags Geschäftsordnung des Landtages Grundgesetz für die Bund~~republik Deutschland Gemeinschaftskommentar Offentliches Dienstrecht Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Gewerkschaftliche Monatshefte Gemeindeordnung Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Gesundheitsreformgesetz Großer Senat Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Hamburger Abendblatt Heimarbeitsgesetz Habil i tationsschrift Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburgisches Abgeordnetengesetz Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Herrenchiemseer Entwurf des Grundgesetzes Handbuch des Verfassungsrechts Hessisch Hessisches Abgeordnetengesetz Verfassung des Landes Hessen Handelsgesetzbuch Hochschulrahmengesetz Herausgeber Halbsatz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Hamburgisches Verfassungsgericht in der Fassung der Bekanntmachung vom in Verbindung Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Jahrbuch des öffentlichen Rechts
15
16
Jur. JW JZ Kap. KG KJ KLVG KPD KritV KSchG LadenschlußG LAG LAW LBG LG lit. LMinG Ls. LSAAbgG LSAVerf LSG LT-Drucks.
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Abkürzungsverzeichnis juristisch Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kapitel Kommanditgesellschaft Kritische Justiz Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte Kommunistische Partei Deutschlands Kritische Vierteljahreszeitschrift Kündigungsschutzgesetz Ladenschlußgesetz Landesarbeitsgericht Lenin Ausgewählte Werke Landesbeamtengesetz Landgericht Ziffer Landesministergesetz Leitsatz Abgeordnetengesetz von Sachsen-Anhalt Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landessozialgericht Landtagsdrucksache laut Landesverfassungsgerichtsgesetz Sachsen-Anhalt Landeswahlgesetz Reichsmark Mitglied des Abgeordnetenhauses Mitglied des Bundestages Mitglied des Landtages Monatsschrift für Deutsches Recht Marx-Engels Ausgewählte Werke Marx -Engels-Werkausgabe Hamburger Morgenpost Mutterschutzgesetz Mecklenburg-Vorpommersches Abgeordnetengesetz Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommem Neues Deutschland Niedersächsisch Niedersächsisches Abgeordnetengesetz Niedersächsischer Staatsgerichtshof Niedersächsische Verfassung Neue Folge Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälisches Abgeordnetengesetz Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Wehrrecht ohne Verfassernamen Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Parteiengesetz
Abkürzungsverzeichnis PartGG PDS PersVG PflegeVG phi\. Prot. PVS RAG RG RGB\. RhPfAbgG RHPfVerf RiA RL
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RRG RStG RV S. S. S.c. Sachgeb. SächsAbgG SächsVerf SächsVerfGHG SED SG SGB I SGB III SGBIV SGBV SGB VI SGB VII SGB VIII SGB XI SGG SH SHAbgG SHVerf Sitz. SKPWG SLAbgG Sig. SLVerf SoldG Sp. SPD SPE SSW ST StGB StPO StrR StVollzG SZ 2 Welti
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Partnerschaftsgesellschaftsgesetz Partei des demokratischen Sozialismus Personalvertretungsgesetz Pflegeversicherungsgesetz philosophisch Protokoll Politische Vierteljahresschrift Reichsarbeitsgericht Reichsgericht Reichsgesetzblatt Rheinland-Pfälzisches Abgeordnetengesetz Verfassung für Rheinland-Pfalz Recht im Amt Richtlinie Randnummer Rentenreformgesetz Rechtsstellungsgesetz Reichsverfassung Satz Seite South Carolina Sachgebiet Sächsisches Abgeordnetengesetz Verfassung des Freistaates Sachsen Sächsisches Verfassungsgerichtshofsgesetz Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgericht Sozialgesetzbuch I - Allgemeiner Teil Sozialgesetzbuch III - Arbeitsförderung Sozialgesetzbuch IV-Allgemeine Vorschriften für die Sozialversicherung Sozialgesetzbuch V - Gesetzliche Krankenversicherung Sozialgesetzbuch VI - Gesetzliche Rentenversicherung Sozialgesetzbuch VII - Gesetzliche Unfallversicherung Sozialgesetzbuch VIII - Kinder- und Jugendhilfe Sozialgesetzbuch XI - Solidarische Pflegeversicherung Sozialgerichtsgesetz Schieswig-Hoistein Schieswig-Hoisteinisches Abgeordnetengesetz Verfassung des Landes Schieswig-Hoistein Sitzung Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms-Gesetz Saarländisches Abgeordnetengesetz Sammlung Verfassung des Saarlandes Soldatengesetz Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialistische Partei Europas Südschleswigscher Wählerbund Stormarner Tageblatt Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Strafrecht Strafvollzugs gesetz Süddeutsche Zeitung
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ThürAbgG ThürVB!. ThürVerf ThürVerfGHG TU TVG u.a. USA USG V.U.Z. VdVDStRL VerfGBrb VerfGGBbg VerfGHNW VerwArch VG VGHG VGHGNW vgl. VO VrMdB VwGO VwVfG VwVG \W
WPflG WRV WSI ZBR ZfA ZfP ZG Ziff. ZParl ZPO ZRP zug!.
Abkürzungsverzeichnis Thüringisches Abgeordnetengesetz Thüringer Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaats Thüringen Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz Technische Universität Tarifvertragsgesetz unter anderem United States of America Unterhaltssicherungsgesetz vor unserer Zeit Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Verfassungsgericht Brandenburg Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Landes Brandenburg Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Verwaltungsarchi v Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshofgesetz Saarland Verfassungsgerichtshofgesetz Nordrhein-Westfalen vergleiche Verordnung Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages Verwal tungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungsvollstreckungsgesetz Wahlperiode Wehrpflichtgesetz Weimarer Reichsverfassung Wirtschafts- und Sozialpolitisches Institut des DGB Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschri ft für Arbei tsrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Parlamentsfragen Zi viI prozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zugleich
A. Einleitung Soziale Sicherung durch staatlich und rechtlich gesicherte Schutznormen, Ansprüche und Mechanismen der Risikoverteilung, des Chancenausgleichs und der Einkommensumverteilung ist in der Bundesrepublik Deutschland und den entwickelten Industriegesellschaften zu einem wesentlichen Bestandteil staatlicher Tätigkeit geworden. Mit Hilfe der institutionalisierten sozialen Sicherung werden für die meisten Bevölkerungsgruppen Lebensbedingungen gestaltet, soziale Risiken verändert und vermindert und die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Bürgerinnen und Bürger Grund- und Freiheitsrechte verwirklichen und an politischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit teilhaben können. Die Bundes- und Landtagsabgeordneten in der Bundesrepublik Deutschland sowie die deutschen Abgeordneten im europäischen Parlament bilden eine Gruppe, die derzeit 2.801 Personen umfaßt. Viele von ihnen sind Kindern und Ehepartnern zum Unterhalt verpflichtet. Schätzungsweise gibt es gegenwärtig ca. 10.000 ehemalige Abgeordnete und Hinterbliebene. Die meisten von ihnen empfangen nachwirkende Leistungen nach den Abgeordnetengesetzen. Zumindest aber wurde ihre Erwerbs- und Sicherungsbiographie von einer Mandatszeit beeinflußt. Nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialwissenschaften und auch den Leitbildern des Bundesverfassungsgerichts und der Abgeordnetengesetze sind die Abgeordneten überwiegend auf ein Einkommen und auf davon abgeleitete soziale Sicherung nach den Abgeordnetengesetzen angewiesen. Die soziale Sicherung der Abgeordneten verdient besondere Beachtung als ein Schnittpunkt der die gesamte Bevölkerung und der die politischen Institutionen betreffenden Sicherung sozialer Risiken und demokratischer Teilhaberechte. Dabei ist der Begriff der sozialen Sicherung aufgrund der spezifischen Probleme der Abgeordneten, namentlich des Verhältnisses von Mandat und Beruf, in einem weiteren Sinne zu betrachten, als er gewöhnlich im Sozialrecht verwendet wird. Fragen aus dem Arbeitsrecht und Beamtenrecht sind hier ebenso wie die genuin abgeordnetenrechtliche Entschädigungsfrage einzubeziehen, um das System der Sicherung der Abgeordneten erfassen zu können. Zum Verständnis der Rechts- und Verfassungswirklichkeit sind auch die Ergebnisse der politischen Theorie und der Soziologie, welche die Inhalte von politischer Demokratie und Repräsentation erforschen und erfassen, als Voraussetzungen und Auswirkungen des geltenden Rechts heranzuziehen. 2*
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A. Einleitung
Die Parlamente haben durch ihre Staats funktionen der Gesetzgebung, der Regierungskreation, der Mitwirkung an der Richterbestellung und der Regierungsund Verwaltungskontrolle eine zentrale Rolle im Staatsaufbau. Für Qualität und Art der Verwirklichung des politischen Demokratiegebots sind sie von besonderer Bedeutung, weil sie in einer unmittelbaren Wahlbeziehung zu den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern stehen und in einern engen Kontakt zur Öffentlichkeit stehen. Die soziale Sicherung der Abgeordneten ist daher nicht nur für die unmittelbar Betroffenen wichtig. Sie ist auch bedeutend für das politische Leben. Sie hat eine eigenständige, in ihrer Geschichte politisch und juristisch umstrittene Grundlage in Art. 48 GG und ähnlichen Normen des Landesverfassungsrechts gefunden. Diese können wiederum nur in Verbindung und Übereinstimmung mit den Grundnormen der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats, im Grundgesetz mit Art. 38 GG, ausgelegt und ausgeformt werden. Sie ist in mehreren Schüben in den Abgeordnetengesetzen kodifiziert worden. Die meisten heute gültigen Normen sind nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 geschaffen worden. Sie sind seit einigen Jahren wieder verstärkter Diskussion und Reform ausgesetzt. Im Jahr 1995 scheiterte der Versuch, Art. 48 Abs. 3 GG zu ändern. In der Folge dieser Bestrebungen kam es wiederum zu einer lebhaften öffentlichen politischen und wissenschaftlichen Debatte. In der folgende Untersuchung werden zunächst orientiert an Art. 38 und 48 GG die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die soziale Sicherung der Abgeordneten bestimmt. Diese in den Landesverfassungen meist in eigener Ausformung enthaltenen, ansonsten den Ländern als Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaats vermittelten Normen sind die demokratische Repräsentation und das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, der Wahlvorbereitungsurlaub aus Art. 48 Abs. I GG, das Behinderungsverbot aus Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG, das Kündigungs- und das Entlassungsverbot aus Art. 48 Abs. 2 S. 2 GG, das Entschädigungsgebot aus Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG und der Gesetzgebungsauftrag an das Parlament aus Art. 48 Abs. 3 S. 2 GG. In die verfassungsrechtliche Betrachtung ist auch die Inkompatibilität von Mandat und öffentlichem Dienst aufgrund Art. 137 Abs. 1 GG einzubeziehen. Diese Verknüpfung ist bereits in der Vorfrage der Vereinbarkeit von Mandat und Berufsausübung angelegt; sie wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 noch verstärkt, bei dem das Gericht das Recht der in ein Parlament gewählten Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst als Teil des Statusrechts der Abgeordneten qualifizierte. Im einern zweiten Teil werden die Regelungen der sozialen Sicherung der Abgeordneten, die überwiegend in den Abgeordnetengesetzen kodifiziert sind, unter Einbeziehung ihrer sozialen und speziellen Schutzzwecke untersucht, sy-
A. Einleitung
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stematisiert und kritisiert. Dies geschieht anhand der einzelnen Risiken und Schutzbereiche der sozialen Sicherheit. Namentlich sind dies der Schutz vor Arbeits- und Erwerbslosigkeit sowie beruflicher Dequalifikation, der Arbeitsunfall und seine Folgen, die Krankheit und Pflegebedürftigkeit und ihre Kosten, der Schutz behinderter Abgeordneter, die Alterssicherung, die Sicherung des Unterhalts von Hinterbliebenen und der Familienleistungsausgleich. Abschließend werden Fragen des Rechtswegs untersucht.
B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Zur Untersuchung der rechtlichen Regelungen der sozialen Sicherung der Abgeordneten ist es zunächst nötig, zu betrachten, was Arbeit und Aufgaben der Abgeordneten sind und welche Besonderheiten sich daraus ergeben, die es nötig machen oder rechtfertigen, für sie eine spezielle soziale Sicherung vorzusehen. Im Grundgesetz und den Landesverfassungen befinden sich sowohl grundsätzliche Aussagen über Status und Tätigkeit der Abgeordneten als auch genauere Regelungen über ihre soziale Sicherung. Auf ihrer Grundlage, durch das Verfassungsrecht dazu ermächtigt und verpflichtet, regeln überwiegend Abgeordnetengesetze die soziale Sicherung. Auch andere Gesetze, die unmittelbar oder mittelbar die Situation der Abgeordneten beeinflussen - insbesondere die auf die Abgeordneten anwendbaren Nonnen des Sozialrechts -, sind vor diesem Hintergrund zu betrachten. Verfassungsrechtliche Grundnonn l für die Abgeordneten ist im Grundgesetz2 Art. 38 Abs. 1.: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. " Ähnliche Verfassungssätze gab es schon in der Reichsverfassung 1871 3 und der Weimarer Reichsverfassung 19194 .1n ihren wesentlichen Inhalten sind sie im modemen bürgerlichen Parlamentarismus im-
I Hans-Peter Schneider in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, RN I zu Art. 38; Peter Badura in Bonner Kommentar, Art. 38 RN I; Wolfgang Czepluch, Abgeordnetenstatus und politische Partei (1991), S. 3 f. 2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (BGB\. I, S. I), zuletzt geändert durch G. v. 3.11.1995 (BGB\. I, S. 1492). 3 Art.20 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.1871, (BundesGesetzblatt des Deutschen Bundes, 1871, S. 63): "Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.", Art. 29: "Die Mitglieder des Reichstags sind Vertreter des gesammten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden." 4 Art. 21 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919 (RGB\. 1919, S. 1383) - Weimarer Reichsverfassung (WRV): "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden." Art. 22: "Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl (... ) gewählt."
B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
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mer vertreten 5 • Ihre Aufnahme in das Grundgesetz wurde im Parlamentarischen Rat von breiten Mehrheiten getragen 6 • Der Gehalt von Art. 38 Abs. 1 GG ist im Zusammenhang mit den Fundamentalnormen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, insbesondere Art. 20 und 21 GG, zu betrachten. Daraus ergeben sich zwei Grundsätze: die demokratische Repräsentation und das freie Mandat der Abgeordneten. Diese Grundaussagen finden sich auch in allen Länderverfassungen 7 • Sie sollen zunächst darge5 So Titel III, Art. 7 der Constitution Francaise vom 3.9.1791: "Les representants nommes dans les departements ne seront pas representants d'un departement particulier, mais de la nation entiere, et il ne pourra leur etre don ne aucun mandat." Vgl. Art. 32 der heute noch gültigen Verfassung des Königreichs Belgien vom 7. Februar 1831: "Die Mitglieder der beiden Kammern vertreten die Nation und nicht allein die Provinz oder die Provinzunterteilung, die sie bestimmt haben."; Art. 67 der Verfassung der Republik Italien vom 27. I 2.1947: "Jedes Mitglied des Parlaments vertritt die Nation und ist bei der Wahrnehmung seines Mandats an Aufträge nicht gebunden." 6 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Rudolf- Werner Füßlein in JöR 1951, S. 349 ff.; Hildegard Hamm-Brücher, Der Politiker und sein Gewissen (1983), S. 13 ff. 7 Für die demokratische Repräsentation: Art. 38 Abs. I S.2 I. Hs. GG; Wortgleich: Art.27 Abs.3 S. I Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953 (Gesetzblatt S. 173), zuletzt geändert durch G. v. 12.2. 199 I (GBI., S. 81); Art. 56 Abs. I S. I, I. Hs. Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.8.1992 (GVBI. S.298); Art. 7 S. I Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6.6. I 952 (Slg. des bereinigten Landesrechts 100-a); Art. 77 Verfassung des Landes Hessen vom 1.12.1946 (GVoBI. S.229), zuletzt geändert durch G. v. 20.3.1991 (GVBI. S. 102); Art.22 Abs. I , I. Hs. Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 23.5.1993 (GVBI. S. 372); Art.79 S.2 I. Hs Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18.5.1947 (VOBI. S. 209), zuletzt geändert durch G. v. 13.12.1993 (GVBI. S.471); Art. 66 Abs.2 I. Hs Verfassung des Saarlandes vom 15.12.1947 (ABI. S. 1077) i.d.F.d.G. Nr. 1310 v. 9.6.1993 (ABI. S.626); Art. 41 Abs.2 S. 1 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 17.7.1992 (GVBI. S.600); mit dem Akzent auf die Tätigkeit Art. 12 S. I Verfassung des Landes Niedersachsen vom 6.6.1993 (GVBI. S. 229), zuletzt geändert durch G. v. 6.6.1994 (GVBI. S. 229): "Die Mitglieder des Landtages vertreten das ganze Volk.", ebenso Art. 39 Abs. 3 S. I Verfassung des Freistaats Sachsen vom 27.5.1992 (GVBI. S. 243); Art. 11 Abs. I S. I Verfassung des Landes Schleswig-Holstein vom 13.12.1949 (GVOBI. 1950 S. 3) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.6.1990 (GVOBI. S. 391); Mit pluraler Beschreibung der zu Vertretenden: Art. 25 Abs.4 S. 1 Verfassung von Berlin vom 1.9.1950 (VB I. I S. 433), zuletzt geändert durch G. v. 6.7.1994 (GVBI. S. 217): "Die Abgeordneten sind Vertreter aller Berliner." und Verfassung des Freistaats Thüringen vom 29.10.1993 (GVBI. S. 625): "Die Abgeordneten sind die Vertreter aller Bürger des Landes.", begrifflich etwas abgesetzt Art. 83 Abs. 1 S. 1 Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21.10.1947 (GBI. S. 251), zuletzt geändert durch G. v. 1.11.1994 (GBI. S. 289): "Die Mitglieder der Bürgerschaft sind Vertreter der ganzen bremischen Bevölkerung."; Mit Angabe einer Schutzrichtung Art. 13 Abs. 2 S. 1 Verfassung des Freistaats Bayern vom 2.12.1946, (GVoBI. S. 333), zuletzt geändert durch G. v. 20.6.1984 (GVBI. S. 223): "Die Abgeordneten sind Vertreter des Volkes, nicht nur einer Partei."; Die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28.6.1950 (GS NW 100 S.3), zuletzt geändert durch G. v. 24.11.1992 (GV NW S. 448) enthält als einzige keinen derartigen Satz. Für das freie Mandat: Art. 27
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
stellt und auf ihre Bedeutung für den konkreten Abgeordnetenstatus untersucht werden, wobei zu berücksichtigen ist, daß beide Grundsätze für eine Konzeption des Abgeordnetenmandats konkordant auszulegen sind8 • Spezielle Vorgaben für den Status der Abgeordneten mit Auswirkungen auf ihre soziale Sicherung enthält Art. 48 GG. Er umfaßt in Art. 48 Abs. I den Anspruch aufWahlvorbereitungsurlaub, in Art. 48 Abs. 2 das Behinderungsverbot, das Kündigungs- und EntIassungsverbot und in Art. 48 Abs. 3 das Entschädigungsgebot und die freie Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Entsprechende und vergleichbare Normen enthalten auch alle Länderverfassungen9 • Ihre Untersuchung folgt derjenigen von Art. 38 GG, weil sie unter den Prämissen der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats vorzunehmen ist.
Abs.3 S.2 BWVetf; Art. 13 Abs.2 S. 2 BayVerf; Art. 25 Abs.4 BerlVerf wurde erst 1990 eingeführt; dazu Ernst R. Zivier, Verfassung und Verwaltung von Berlin, 2.A. (1992); Art. 56 Abs. 1 BrbVerf; Art. 83 S.3 BremVetf; Art. 7 S.2 HbgVerf; Art. 22 Abs.1 MVVerf; Art. 12 S. 2 NdsVerf; Art. 30 Abs. 2 NWVetf; Art. 79 S. 2 RHPfVerf; Art. 66 Abs.2 SLVerf; Art. 39 Abs.3 S.2 SächsVerf; Art.41 Abs.2 S.2 LSAVerf; Art. II Abs. 1 S.2 SHVerf; Art. 53 Abs. 1 S. 2 ThürVerf; keine ausdrückliche Nennung in Hessen. 8 Wolfgang Dehne, "Rotation" und Verfassungsrecht (1988), S. 72. 9 • Art. 40 BWVetf; Art. 30 und 31 BayVerf; Art. 38 BerlVerf; Art. 60 BrbVerf; Art. 82, 97 BremVerf; Art. 13 Abs.3 HbgVerf; Art. 76 HessVetf; Art.22 Abs.3 MVVerf; Art. 13 NdsVerf; Art. 46, 50 NWVcrf; Art. 96,97 RHPfVerf; Art. 84 SLVetf; Art. 42 SächsVerf; Art. 56 LSAVerf; Art. 11 Abs. 3 SHVerf; Art. 51,54 ThürVerf.
I. Demokratische Repräsentation Die Abgeordneten "sind Vertreter des ganzen Volkes". Vom souveränen Volk geht in der politischen Demokratie die Staatsgewalt aus I, die von ihm in Abstimmungen und Wahlen und durch die besonderen Organe der Gesetzgebung, hier also den Bundestag und die Landtage, ausgeübt wird 2 • Dies beschreibt die Aufgabe der demokratischen Vertretung oder Repräsentation, die die Abgeordneten als Teile des staatsleitenden Organs Bundestag und individuell auszufüllen haben. Die Repräsentation darf im Staat des Grundgesetzes nicht als legitime Antithese des demokratischen Elementes angesehen werden), sondern muß der Volkssouveränität entsprechend ausgestaltet werden. Die Vertretung anderer ist ein Verhältnis, das in vielen Bereichen des Rechts vorkommt. Vertretung ist ein juristischer Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und deren konkret-historischer Ausformung4 • Arbeitsteilung und ihr folgend Vertretung ist auch Bestandteil der Politik5 • Die Vertretung selbst ist nicht nur im Recht6 , sondern auch im politischen Prozeß7 derart vielgestaltig Art. 20 Abs. I S. 1 GG. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Vg!. zu grundsätzlicher Kritik an der Praxis in der Bundesrepublik Heinrich Hannover, Repräsentative Demokratie - interpretiert und praktiziert von Neodemokraten, in: Hannover! Kutschal Skrobanek-Leutner, Staat und Recht in der Bundesrepublik (1987), S. 161 ff. ) So Joseph H. Kaiser, Die Dialektik der Repräsentation, FS Carl Schmitt (1958), S. 71 (72). 4 Vg!. kritisch Alex Demirovic, Demokratie und Herrschaft (1997), S. 72 ff. 5 . Werner J. Patzelt, Abgeordnete und Repräsentation (1993), S. 23. Dimitris Th. Tsatsos, Einführung in das Grundgesetz (1976), S. 76; Czepluch, S. 72; Wilfried Röhrich, Eliten und das Ethos der Demokratie (1991), S. 16; Wolfgang Schäuble, Das personale Element in der repräsentativen Demokratie, FS Benda (1995), S. 221 (229); Gerhard Stuby, Die Macht des Abgeordneten und die innerparteiliche Demokratie, DeX Staat 1969, S. 303 (320 f.) zur historischen Einordnung und zur Möglichkeit der Uberwindung einer Arbeitsteilung in Herrschaftsfragen; Hermann Heller, Staatslehre (1934/ 1983), S. 253 ff.; Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung (1927/ 1988), S. 511 ff.; Zur Entwicklung früher Formen von Repräsentation vg!. z.B. Uwe Wesei, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften (1985). 6 Vg!. §§ 164 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vom 18.8.1896 (RGB!. S. 195), zuletzt geändert durch G. v. 11.10.1996 (BGB!. I, S. 1250); §§ 78-90 Zivilprozeßordnung (ZPO) i.d.F.v. 12.9.1950 (BGB!. S.533), zuletzt geändert durch G. v. 18.12.1995 (BGB!. I, S. 1959), §§ 137-149 Strafprozeßordnung (StPO) i.d.F.d.B.v. 7.4.1987, zuletzt geändert durch G. vom 21.8.1995 (BGB!. I, S. 1050), §§ 67, 67a Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.d.F.d.B.v. 19.3.1991 (BGB!. I, S.686), zuI
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
anzutreffen, ebenso wie die Repräsentation als Begriff und soziales Phänomen8 • Der Begriff der Repräsentation selbst ist im Grundgesetz nicht enthalten, sondern der Begriff "Vertreter". Schon von daher ist fraglich, ob umfangreiche begriffliche Ausarbeitungen zur Abgrenzung der "Repräsentation" von der "Vertretung" weiterhelfen9 • Der Begriff der Repräsentation bezeichnet einen politischen Sonderfall der Vertretung, bei dem eine gesellschaftlich oder institutionell betrachtete Einheit durch Personen vertreten und vergegenwärtigt wird 10 • Die Repräsentation einer Gruppe durch Vertreter kann dabei dazu beitragen, diese Gruppe überhaupt als solche zu konstituierenll.hn politischen Leben kann Repräsentation zum Herrschaftsverhältnis werden 12, das im demokratischen Rechtsstaat einer rechtlichen Legitimation bedarf11 • Die Anerkennung eines Vertretungsverhältnisses als Repräsentation setzt voraus, daß die Ausübung politischer Funktionen und politischer Herrschaft als Wirken aufeinander bezogener Individuen oder Gruppen einer Gesellschaft betrachtet wird. Damit ist auch eine letzt geändert durch G. v. 23.11.1994 (BGBl. I, S. 3486), §§ 14-19 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vom 25.5.1976 (BGBI. I, S. 1253), zuletzt geändert durch G. vom 14.9.1994 (BGBl. I, S. 2325). 7 Umstritten ist zum Beispiel demokratietheoretisch auch, ob auch die Personen, die die Exekutiv- und Judikativgewalt ausüben als Vertreter zu betrachten sind, dies legt im Anschluß an Immanuel Kant Ingeborg Maus dar, Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1994), S. 194 ff. Ablehnend gegen einen demokratischen Repräsentativcharakter der nichtparlamentarischen Staatsorgane Christoph Gusy, Demokratische Repräsentation, ZfP 1989, S. 264 (266 f.); vgl. sonst auch die Parteitage der Parteien und das Delegationsprinzip in Gewerkschaften und Verbänden, Betriebs- und Personalräte, Vertreterversammlungen in der Sozialversicherung, Vorstände von Vereinen und Kapitalgesellschaften, vgl. Hans-Peter Schneider, Repräsentation und Partizipation, FS Simon (1987), S. 243 (254). 8 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (264); Heinz Rausch, Repräsentation und Repräsentativverfassung (1979), S. 239, 251: "Repräsentation (ist) eine Form des menschlichen Vergegenwärtigungsvermögens, die politisch in Zauberei und Sakralkönigtum ebenso in Erscheinung treten kann wie in Repräsentativkörperschaften". Zum Unterschied von institutioneller und spontaner Repräsentation am Beispiel des Hambacher Fests von 1832 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 11, S. 134. Repräsentation kann auch durch Kunst, Kultur und Medien hergestellt werden, zu letzterem Phänomen z.B. Michael Jäger, Im Schatten des "Schattenmannes", Freitag Nr. 3/1996, 11.1.1996, S. 3. 9 Vgl. z.B. Walter Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S.548 (553 ff.); Kaiser, FS Carl Schmitt (1958), S. 71 (75). 10 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 61. 11 So soziologisch beschrieben bei Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und "Klassen" (1984), S. 37 ff.; Demirovic, S. 84 f. 12 Christian Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat (1990), S. 68 f.; Jürgen Spalckhaver, Mandatsverlust bei Fraktionswechsel und freies Abgeordnetenmandat (1977), S. 91. Vgl. auch Friedhelm Hasel Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System (1980), S. 193 ff.; Demirovic, S. 85 ff. 11 Wefelmeier, S. 69 f.; Rausch, Repräsentativverfassung, S. 251.
I. Demokratische Repräsentation
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Anerkennung der Vertretenen als Rechtssubjekte zumindest angeleg 4 • Demokratische Repräsentation wirkt dann im gesetzgeberischen Tun, im vertretenden Handeln für andere, nicht im Darstellen l5 • Die heutige politische Repräsentativverfassung hat historische Wurzeln in der klerikalen und ständisch-feudalen Repräsentativverfassung l6 und in den bürgerlichen Revolutionen und Umbrüchen Englands l7 , der USA und Frankreichs l8 • Die modernere Entwicklung in Deutschland geht über die süddeutschen Landtage Bayerns, Badens und Württembergs auf der Grundlage ihrer Landesverfassungen von 1818 19 , die Nationalversammlung von 1848/4920 und weiter über die Reichsverfassungen von 1871 und 1919 mit ihren Reichstagen bis zum Grundgesetz und dem Bundestag. Im frühen bürgerlichen Parlamentarismus wurde im Parlament zunächst ein Beitrag zur Konstitution der Gesellschaft gegenüber dem Monarchen und dem Staat gesehen. Im späteren Staatsrecht wurde dann die Meinung entwickelt, durch die Repräsentation würden Volk und Staat rechtlich überhaupt erst konstituiert und den Repräsentanten komme dabei eine qualitativ hervorgehobene Stellung ZU21.
14 Vgl. Otto Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (1931) in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, S. 140 (147). 15 Karl Marx, Zur Kritik der HegeIschen Rechtsphilosophie (1843), MEW I, S. 201 (325): "Die gesetzgebende Gewalt ist hier Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z.B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut." 16 Dazu ausführlich Hintze. Vgl die Auseinandersetzung um den Begriff der "landständischen Verfassung" in Art. 13 der Wiener Bundesakte vom 8.6.1815, abgedruckt bei Boldt, Reich und Länder, S. 196. Siehe auch Frank lulius Hospach, Diäten in Deutschland (1992), S. 35. Für das Alte Reich gilt dies mehr für die Ständeversammlungen der Länder als den Reichstag, vgl. Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 25 ff. 17 . Vgl. Wefelmeler, S. 42 ff. 18 Vgl. Wefelmeier, S. 45 ff. 19 Wefelmeier, S. 49 ff. 20 Vgl. Hans Boldt, Die Stellung des Abgeordneten im historischen Wandel in: Politik als Beruf? (1979), S. 15 (18 ff.); zur Bedeutung der Paulskirchenverfassung für die deutsche Verfassungsentwicklung lärg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche (1985), S. 51 und 60 ff. 2l So z.B. bei Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung des Abgeordneten in: Anschütz/Thoma HdbDStR (1930), S. 413 (414 f.): "Durch die Repräsentation wird der Repräsentant Träger einer übergeordneten, über das eigene Wesen hinausgreifenden Werteinheit, die durch Repräsentation erst wahrnehmbar wird." Zur weiteren Entwicklung dieses Denkens zur Überhöhung des Staates vgl. nur TatarinTarnheyden, Werdendes Staatsrecht (1934).
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Eine Repräsentativverfassung mit einer parlamentarischen Versammlung aus mehreren Vertretern des Volkes ist der institutionelle Ausdruck der sozialen Tatsache, daß in der Gesellschaft unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Interessen bei den sozialen Gruppen und den Individuen vorhanden sind. Diese sollen durch ein Parlament in der Gesetz~ebung und politischen Leitung des Staates symbolisiert und repräsentiert sein 2. Die Methode der parlamentarischen Repräsentation ist dabei prozedural die Übertragung des Prinzips des gerichtlichen kontradiktorischen Verfahrens und seiner rechts- und friedensstiftenden und damit legitimierenden Wirkung auf den Vorgang der Gesetzgebung, indem die widerstreitenden Interessen in offener Verhandlung präsent sind 23 • Die parlamentarische Repräsentation ist nicht nur die Vertretung einer unmöglichen permanenten Volksversammlung oder -abstimmung, die lückenlose Volkssouveränität ohne Vertretung herstellte 24 • Sie ist auch eine bewußt die dauerhaften Widersprüche in sich vertretende Versammlung, die durch geregeltes Verfahren befrieden und Machtausübung legitimieren soles. Nach dem Grundgesetz erhalten die Abgeordneten als Vertreterinnen und Vertreter einen Teil der in der politischen Demokratie dem Volk zustehenden, von ihm ausgehenden Aufgabe der Gesetzgebung als Kompeteni 6 • Die Delegation dieser Kompetenz führt zur politischen Zurechnung der Entscheidungen zum Vole 7 • Unter welchen rechtlichen und realen Bedingungen diese Vertretung stattfindet, entscheidet mit über Form und Qualität einer politischen Demokratie. In der Geschichte der Parlamente unterschiedlich ist die jeweilige Konzeption, diesen Interessen Repräsentation zu verschaffen. Am Beginn stand die gesellschaftlich vorgeformte - und nicht proportionale und universelle - Auftei22
Vgl. Ulrich Rödel/ Günter Frankenbergl Helmut Dubiel, Die demokratische Frage (1989), S. 114 ff zum Verhältnis von symbolischem und realem gesellschaftlichen Konflikt und dem Parlamentarismus als adäquatem Ausdruck der fortdauernden Konflikte. Vgl. auch Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 67 f. 23 Kriele, § 48; Vgl. den ähnlichen Gedanken im Rahmen der Diskurstheorie bei Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S.219; vgl. weiter Harold 1. Berman, Recht und Revolution (1995), S. 257 f. 24 Vgl. Ernst Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modemen parlamentarischen Demokratie (1966) in: ders., Reformismus und Pluralismus, S. 389 (393); Fritz Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung (1975), S. 59; Ernst- Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation in: Isenseel Kirchhof, HStR 11 (1987), § 30, S. 29 (32 f.); Gusy, ZfP 1989, S. 264 (268). Vgl. zur vertretungsfeindlichen Demokratiekonzeption Jean-Jacques Rousseaus Johannes Caspar, Wille und Norm (1993), S. 137 ff. 2S Bernd Jeand'Heur, Formales oder materiales Konsensprinzip?, ARSP 1995, S. 453 (463). u . Gusy, ZfP 1989, S. 264 (273). Knele, § 61. 27 Gusy, ZfP 1989, S. 273.
I. Demokratische Repräsentation
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lung in Stände28. Ihr folgte die in die Gesellschaft verlagerte, fließende Selbstorganisation der Interessen in Parteien und Wählergruppen. Der Versuch, Erkenntnisse über die symbolische Bedeutung von Repräsentation für soziale Bewußtseinsbildung umstandslos ins Verfassungsrecht und damit in den normativen Bereich zu übertragen, geht aber fehl. Das dort beschriebene Phänomen ist dem sozial-gesellschaftlichen Bereich zuzuordnen. Weder der Staat als Herrschafts- und Verwaltungsverband noch die in soziale Gruppen aufgegliederte Gesellschaft entsteht durch die Repräsentation. Im demokratischrechtsstaatlichen Verfassungsrecht geht es um einen Modus zur Bestellung von Vertreterinnen und Vertretern der Gesellschaft für Herrschafts-, Verwaltungs- und Kontrollaufgaben. Eine solche Wahl kann sich mit einem sozialen Formierungsund Bewußtwerdungsprozeß durch Repräsentation überschneiden, muß es aber nicht. Die demokratische Vertretung oder Repräsentation kann nicht aus einem " Wesen der Repräsentation" als ontologischem oder sprachlichen Begriff heraus verstanden werden 29. Der demokratische Rechtsstaat und die im Rahmen seiner Verfassung gewählten und agierenden Abgeordneten können entsprechend gerade keine über ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen hinausgehende Autorität beanspruchen. Demokratische Repräsentation ist eine spezifische Form der Vertretung 30 , deren nähere Bestimmung nur im Rahmen des Grundgesetzes und mit ihrer spezifischen Funktion und Geschichte möglich und sinnvoll ist Diese demokratische Repräsentation durch die Abgeordneten ist vor allem durch die Grundsätze der periodischen Bestellung der Vertreterinnen und Vertreter durch die Vertretenen, also durch die Wahl als maßgeblichen Zurechnungsgrund
28 Vgl. G. W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 308, 311, der Abgeordnete als Vertreter der "ohnehin konstituierten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen" sieht. In gewisser Weise erlang~e ein ähnliches Repräsentationskonzept Aktualität in den "Runden Tischen" des Ubergangs in Osteuropa, vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk? (1990), S. 174 ff. 29 So ausführlich begründet bei Wefelmeier, S. 55 ff., insbesondere S.67; Vgl. Heinz Rausch, Repräsentation: Wort, Begriff, Kategorie, Prozeß, Theorie in: Karl Rosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation (1977), S. 69 (73). Vgl. auch Hans-Peter Schneider, Das Parlamentarische System, in: Renda/ Maihoferl H.-i. Vogel, HdbVerfR (1994, 2.A.), S.552. Auch Befürworter eines besonderen Repräsentationsbegriffs in der Politik gestehen zu, daß dieser nicht nur vor den Realbedingungen der Politik, sondern auch denen der immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr paßt, vgl. Konrad Adam, Gewählt wie gewürfelt, FAZ, 29.1l.l995. 30 Ulrich K. Preuß, in: Volker Kräning (Hrsg.), Handbuch der Bremischen Verfassung (1991), S. 302. 31 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (274).
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
der Entscheidungen J2, durch die Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte, die Öffentlichkeit der Vertretung und ihre Offenheit für Veränderung charakterisiert. 1. Wahl der Abgeordneten
Die Frage, wer die Abgeordneten nach welchem Verfahren wählt, war bereits in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 der Brennpunkt in den Kämpfen um das demokratisch-repräsentative System. Dabei standen bereits die Wahlrechtsgrundsätze im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, die das Grundgesetz heute benenne J • In Preußen war die gleiche Wahl bis 1918/19 nicht durchgesetze 4 In anderen Ländern wurden ein Klassenwahlrecht noch um die Jahrhundertwende wieder eingeführtJs • Erst seit der Weimarer Reichsverfassung sind die heutigen Wahlrechtsgrundsätze allgemeiner Bestandteil des politischen Systems Deutschlands, soweit es demokratisch-repräsentativ verfaßt war36 • Die Abgeordneten sind zur Vertretung des Volkes legitimiert, weil sie aus Wahlen hervorgegangen sind 37 , deren Qualität das Grundgesetz mit • Ib ar, 39 ~ I' h41 un d geh' 43 I . 38 ,unmztte "a IIgemem Jrel.40 , gele elm42 "n äh'er be' stImmt. n 32 Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928) in: Matz (Hrsg.): Grundprobleme der Demokratie, S.7 (12); Gusy, ZfP 1989, S.264 (275); Wefelmeier, S. 81 ff. 11 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 787 ff. Vgl. hier zur Allgemeinheit des aktiven und passiven Wahlrechts: Marx, Kritik, S. 326; anders noch Heget, § 311. 34 Zum ungleichen und mittelbaren Wahlrecht Preußens (Drei-KlassenWahlrecht) vgl. E.R. Huber Bd. I1I, S. 86 ff. Siehe auch Ferdinand Lassalle, Uber Verfassungswesen (1862/ 1987), S. 120 (130 f.). 3S In Sachsen wurde das ungleiche Wahlrecht 1896 wieder eingeführt, vgl. E.R. Huber, Bd. IV, S. 405. In Lübeck wurde 1905, in Hamburg 1906 ein Klassenwahlrecht wieder eingeführt, vgl. Frank-Michael Wiegand, Die Notabeln (1985), S.209, 218 ff., 238; Zum völligen Fehlen einer gewählten Volksvertretung in Mecklenburg, E.R. Huber, Bd. IV, S. 422 ff. 16 Zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts gehörte 1919 wesentlich das Frauenwahlrecht, vgl. Ute Gerhard, Frauenwahlrecht in Deutschland, in: Barbara Schaeffer-Hegel (Hrsg.), Vater Staat und seine Frauen (1990), S. 21 ff.; Hildegard Hamm-Brücher, Seit 70 Jahren Abschied vom Männerwahlrecht, ebd. S. 33 ff. 37 Zur Kritik an der Zeitgemäßheit dieser Verbindung vgl. Wolf-Dieter Narr, Jenseits der gegenwärtigen Verfassungsdebatte, Blätter für deutsche und internationale Politik 1991, S.462 (466 f.). Zum Vorschlag, die Repräsentation durch Wahl durch eine Repräsentation nach Losentscheid für Nichtwähler durch Nichtwähler zu ergänzen vgl. Gerd Grözinger, Nichtwählers Wahl, Blätter für deutsche und internationale Politik 1994, S. 1248 ff. 18 Baden-Württemberg: Art. 28 Abs.2 S. I BWVerf: "Wählbar ist jeder Wahlberechtigte."; Rheinland-Pfalz: Art. 80 Abs.2: "Wählbar ist jeder Stimmberechtigte (.. )"; ebenso Saarland Art. 66 Abs.2 S. 2 SLVerf; Sachsen: Art. 41 Abs.2 S. 2 SächsVerf; Art. 14 Abs. 1 S. 1 BayVerf; Art. 26 Abs. I BeriVerf; Art. 75 S. I BremVerf; Art. 6 Abs.2 HbgVerf; Art. 20 Abs.2 S.2 MVVerf; Art. 8 Abs.l NdsVerf; Art. 31 Abs. I NWVerf; Art. 42 Abs. I LSAVerf.
I. Demokratische Repräsentation
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den Ländern sind diese Wahlrechtsgrundsätze in den Landesverfassungen teilweise wiederholt. Wo dies nicht der Fall ist44 , gelten sie über das Gebot der Einheitlichkeit der demokratischen Ordnung45 ausdrücklich auch für die Wahl der Landtage46. Die fünf Wahlrechtsgrundsätze entsprechen westlich-demokratischer Tradition. Für die Wahl zum Europäischen Parlament gelten sie allerdings insofern eingeschränkt, als die Gleichheit der Stimmenzählung durch eine Mandatsverteilung zu Gunsten der kleineren EU-Staaten durchbrochen ist47 • Die Wahlrechts grundsätze gelten sowohl für die aktive Wahlberechtigung wie für die passive Wählbarkeit und sind auch für den Status der Abgeordneten von Bedeutung48. Sie beschreiben allgemein die Idealbedingungen des Verhältnisses der potentiell und real am politischen Leben Beteiligten zueinander im demokratisch verfaßten Staat. Sie treffen also auch Aussagen über das Verhält39
Art. 14 Abs. 1 S. 1 BayVerf; Art. 26 Abs. 1 BerlVerf; Art. 75 S. 1 BremVerf; Art. 6 Abs.2 HbgVerf; Art. 20 Abs.2 S.2 MVVerf; Art. 8 Abs.l NdsVerf; Art.31 Abs.l NWVerf; Art. 42 Abs. 1 LSAVerf. 40 ;Art. 6 Abs. 2 HbgVerf; Art. 20 Abs. 2 S. 2 MVVerf; Art. 8 Abs. 1 NdsVerf; Art. 31 Abs. 1 NWVerf; Art. 42 Abs. 1 LSAVerf. 41 . Art. 14 Abs. 1 S. 1 BayVerf; Art. 26 Abs. 1 BerlVerf; Art. 75 S. I BremVerf; Art. 6 Abs.2 HbgVerf; Art. 20 Abs.2 S.2 MVVerf; Art. 8 Abs. I NdsVerf; Art. 42 Abs.l LSAVerf. 42 Art. 14 Abs. I S. I BayVerf; Art. 26 Abs. I BerlVerf; Art. 75 S. I BremVerf; Art. 6 Abs.2 HbgVerf; Art. 20 Abs.2 S.2 MVVerf; Art. 8 Abs. I NdsVerf; Art. 31 Abs.l NWVerf; Art. 42 Abs. I LSA Verf. 43 Peter Badura, Die parlamentarische Demokratie in: lsenseel Kirchhof, HStR I (1987), § 23, S. 953 (955); Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, HStR 11 (1987), § 37, S. 249 (251). 44 Vgl. die FN 38-42; in Hessen sind die Wahlrechtsgrundsätze nur für die Stimmberechtigung in Art. 73 Abs. 2 HessVerf aufgeführt. 45 Art. 28 Abs. I S. 2 GG. 46 H. Meyer, Wahlsystem, S. 257; Wefelmeier, S. 83. Ebenso schon nach Art. 17 WRV, vgl. Huber, Bd. VI, S. 71 f. Für die Reichsverfassung von 1871 war ein solcher Homogenitätsgrundsatz für das Bestehen einer Volksvertretung noch vom Bundesrat verhindert worden, dies betraf vor allem Mecklenburg, vgl. Huber, Bd. IV, S. 422 f. 47 Art. 138 Abs.2 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25.3.1957 (BGBI. 11 S. 766) in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union vom 7.2.1992 (BGBI. 11 S. 1253/1255) (EWGV), dazu Peter Schönberger, Einstellungen und Arbeitsbedingungen von Europaabgeordneten aus Deutschland, ZPar11996, S. 410 (421); § 1 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 16.6.1978 (EuWG) nennt alle fünf Grundsätze, Art. I des Beschlusses und Aktes des Rates zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung vom 20.9.1976, ABI. 1976 Nr. L 278/1; in der Fassung vom 1.2.1993 (BGBI. 11 1993 S. 1243),.(EinfA) nennt nur .. allgemein" und .. unmittelbar". Vgl. auch Robert Fleuter, Mandat und Status der Abgeordneten im Europäischen Parlament (199\), S. 14. 48 BVerfG vom 5.11.1975, BVerfGE 40, S. 296 (318).
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
nis der aus der Wahl hervorgegangenen Abgeordneten zueinander. Das Bundesverfassungsgericht hat aus der Wahlrechtsverbürgung des Grundgesetzes im Urteil zum Unionsvertrag von Maastricht ein subjektives staatsbürgerliches Recht auf Teilnahme an Wahlen mit einem garantierten Niveau von Einfluß auf die staatliche Willensbildung entwickelt49 • Art. 38 Abs. 2 GG beschränkt diese Grundsätze auf Personen über 18 Jahre. Diese Einschränkung ist nicht mehr unumstritten und wird rechtsPc0litisch vor dem Hintergrund der Auslegung des Gleichheitssatzes angegriffen o. Eine weitere heute nicht allgemein akzeptierte Einschränkung der Allgemeinheit des Wahlrechts liegt in der Konkretisierung des Begriffes des wahlberechtigten Volkes durch das Staatsbürgerschafts- und Wahlrecht. Abgeordnete müssen also Menschen sein, die bereit und in der Lage sind, sich einer demokratischen Wahl zu stellen. Die Allgemeinheit des Wahlrechts zeigt, daß grundsätzlich alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger vor der Verfassung als Abgeordnete in Betracht kommen. Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG und entsprechende Normen der Länder legen die Periodizität der Wahl auf einen vier- oder fünfjährigen Turnus 52 fest und normieren damit den zeitlich begrenzten Charakter der Vertretung 51 Sie ist für Tätigkeit und Status der Abgeordneten grundlegend und wichtig für die Grundsätze der sozialen Sicherung, die oft an der biographischen Dauer von Tätigkeiten anknüpfen.
49 BVerfG vom 12.10.1993 - 2 BvR 2134, 2159192 - BVerfGE 89, S. 155, Ls. 1, S. 182 ff.; Dazu ausführlich Ulrich M. Gassner, Kreation und Repräsentation, Der Staat 1995, S. 429 ff. 50 Vg!. z.B. Hans Hattenhauer, Über das Minderjährigenwahlrecht, JZ 1996, S.9. 51 Art. 116 Abs. I GG, § 12 Bundeswahlgesetz (BWahIG) Ld.F.d.B.v. 23.7.1993, zuletzt geändert durch G. vom 10.5. I 994 (BGB!. I, S. 993); vg!. die Entscheidungen des BVerfG zum kommunalen Ausländerwahlrecht vom 31.10.1990, - 2 BvF 3/89 BVerfGE 83, S. 37 (Schleswig-Holstein), - 2 BvF 2,6/89 - BVerfGE 83, S. 60 (Hamburg). Vg!. zur Problematik grundsätzlich: Helmut Rittstieg, Wahlrecht für Ausländer (1981); Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen (1996), S. 128 ff. 52 Nach der Reichsverfassung von 1848 drei Jahre (§ 97); nach Art. 24 der RV 1871 drei Jahre, von 1888 an fünf Jahre, nach Art. 23 S. 1 WRV vier Jahre. In den Ländern heute vier Jahre: Art. 30 Abs. 1 S. 1 BWVerf; Art. 16 Abs.l S. 1 BayVerf; Art. 39 Abs. 1 S.1 BerlVerf; Art. 75 S. 1 BremVerf; Art. 10 S. 1 HbgVerf; Art. 79 S. 1 HessVerf; Art. 27 Abs. I S. I MVVerf; Art. 43 S. I LSAVerf; Art. 13 S. 1 SHVerf; Fünf Jahre: Art. 62 Abs. 1 S. I BrbVerf; .Art.9 Abs. I S. I NdsVerf; Art. 34 S. 1 NWVerf; Art. 83 Abs. 1 RHPfVerf; Art. 67 Abs. 1 S. 1 SLVerf; Art. 44 Abs. I S. I SächsVerf; Art. 50 Abs. I S. 1 ThürVerf. 51 Vg!. Ernst-Walfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation (\ 983) in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 379 (390) in Abgrenzung zur Entäußerung der Macht im Habbesschen Gesellschaftsvertrag. Vg!. Dehne, S. 203 ff.
I. Demokratische Repräsentation
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2. Gleichheit der Abgeordneten Die Gleichheit vor dem Gesetz und in den staatsbürgerlichen Rechten ist der wesentliche Grundgedanke der Demokratie54 • Die Notwendigkeit einer Gleichheit der Abgeordneten ergibt sich aus der Verlängerung des Wahlrechtsgrundsatzes "gleich", des am meisten politischen und wichtigsten Wahlrechtsgrundsatzes55, in das Parlamentsreche ö : Die Wählerinnen und Wähler haben nicht nur einen Anspruch darauf, daß sich ihre Stimmen in gleicher Weise bei der Wahl der Vertreter auswirken, sondern auch darauf, daß die Vertreterinnen und Vertreter ihres Vertrauens in gleicher Weise die Chance haben, in den politischen Prozeß einzugreifen und die Abgeordnetenrechte zu nutzen. Dies entspricht dem Prinzip der demokratischen Repräsentation. Die Wahlgleichheit ist historisch heftig umkämpft gewesen und ist in einer real von Ungleichheit der Macht- und Chancen verteilung vorgeprägten Gesellschaft besonders zu schützen. Indem sich die Wahlgleichheit vom Privileg einer Minderheit vermögender Männer zu einem Recht entwickelt hat, dessen Schranken heute nur noch von Alter und Staatsbürgerschaft gebildet werden 57, ist sie ein wesentlicher Ausdruck sich entwickelnder Universalität der Demokratie und des Rechts 58 • Ihr wichtigster praktischer Geltungsgrund ist die besondere Bedeutung der Gleichheit bei der politischen Mitwirkung und deren besondere Gefährdung 5Y • Es ist zu untersuchen, in welcher Form die Gleichheit der Abgeordneten ein wesentlicher Grundsatz für ihre soziale Sicherung ist.
"Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes", sind dies aber nur gemeinsam in ihrer Gesamtheit als Organ. Da nach demokratischen Grundsätzen alle das Volk bildenden Individuen bei der Ausübung ihrer Rechte und Gewalten zunächst gleich sind, müssen dies auch die von ihnen gewählten Abgeordneten sein 60 • Das Bundesverfassungsgericht hat für die Wahlgleichheit und für die Statusgleichheit der Abgeordneten einen speziellen Gleichheitssatz entwikkelt. Im Statusrecht der Abgeordneten wird dieser strenge Gleichheitssatz be54 Schon für die athenische Demokratie sind Demokratie, Gleichheit (Isonomie) und Freiheit (Isegorie) eng zusammenhängende Begriffe, vgl. Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie (1994), S. 287 ff. Differenzierend Sartori, S. 331 ff. Vgl. lmmanuel Kant, Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), 11., S. 86 ff. 55 H. Meyer, Wahlsystem, S. 265. 56 Dieter Birk, Gleichheit im Parlament, NJW 1988, S. 2521. 57 Vgl. FN 51. 58 Hauke Brunkhorst, Demokratie als Solidarität unter Fremden, APuZ NT. 36/1996, S. 21 (25). 59 .. - Hans-Herbert von Arnim, Der strenge und der formale Gleichheitssatz, DOV 1984, S. 85 (86); Annette Fischer, Abgeordnetendiäten und staatliche Fraktionsfinanzierung in den fünf neuen Bundesländern (1995), S. 71. 60 Böckenförde, S. 916 f.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
deutsam für die Abgeordnetenrechte bei der parlamentarischen Mitwirkung und der Besetzung von Ausschüssen und Gremien 61 • Er ist durch das Bundesverfassungsgericht auch auf andere Bereiche ausgedehnt worden, die für die Mitwirkung an der politischen WiIIensbildung bedeutsam sind, so die staatliche Parteienfinanzierung und die Verteilung von Sendezeit für Wahlwerbung der Parteien in Rundfunk und Fernsehen62. Der staatsbürgerliche Wahlgleichheitssatz ist rechtlich nicht als einfacher Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes zu behandeln. Um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, reicht bei diesem ein nicht willkürlicher Grund der Differenzierung. Bei einem besonders zu schützenden Gleichheitssatz dagegen ist für jede Ungleichbehandlung ein zwingender Grund zu finden 63. Dies wird als demokratische Gleichheit64 oder als strikter, formaler, formalisierter oder strenger Gleichheitssatz bezeichnet65 . Erst diese strenge Gleichheit legitimiert die Abgeordneten, dem allgemeinen Gleichheitssatz in der Gesetzgebung Inhalt zu verleihen 66 • In ähnlicher Rechtstechnik sind im Grundgesetz das Gleichstellungsgebot der Geschlechter67 , die Diskriminierungsverbote68 , das Verbot von Ausnahmegerichten 69 und das Gleichheitsgebot bei öffentlicher Dienstleistungsptliche o geregelt. Es handelt sich um thematisch ausgerichtete Diskriminierungsverbote71 • Bei ihnen gilt ein strengeres Differenzierungsverbot als im allgemeinen Gleichheitssatz. Daher können für das Gleichstellungsgebot der Geschlechter und die anderen strengen Gleichheitssätze entwickelte Auslegungsmethoden für die Wahl- und Statusgleichheit der Abgeordneten herangezogen werden. Dabei ist aber zu beachten, daß dem Gebot der Geschlechtergleichstellung eine historisch klar zu identifizierende Schutzrichtung zugunsten der Frauen als Individuen wie Gusy, Ztp 1989, S. 264 (283 f). BVerfGE 42, S. 133 (138); BVerfGE 78, S. 350 (358); BVerfGE 92, S. 107. 63 BVerfGE 36, S. 139 (141); Ingo von Münch in von Münch! Kunig, GG, RN 8 zu Art. 38. 64 Ernst- Wolfgang Bäckenfärde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I, § 22, S. 887 (914 ff.). 65 Von Arnim, DÖV 1984, S. 85; Vgl. Thomas EllweinJ Joachim Jens Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 247: "extrem gleich". 66 Christian Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes in: Christoph Link (Hg.): Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S 51 (63). 67 Art. 3 Abs. 2 GG. 68 Art. 3 Abs. 3 GG. 69 Art. JOI Abs. I S. I GG. 70 Art. 12 Abs. 2 GG. 71 Starck, Gleichheitssatz, S 51 (62). 61
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I. Demokratische Repräsentation
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als Gruppe zugrundeliegt, während die Schutzrichtung der Wahlgleichheit nicht gleichermaßen klar bestimmt ist, sondern sie zunächst rein individualschützend ist72 • Daraus folgt, daß Ungleichbehandlungen im Einzelfall zur Durchsetzung einer generellen Schutzrichtung - der politischen Chancengleichheit und Partizipation aller - anders zu beurteilen sind als im Falle der Geschlechtergleichstellung. Der demokratische Verfassungsstaat bietet für die politischen Auseinandersetzungen einen Rahmen, dessen Neutralität gerade durch die strikte Gleichheit der politischen Rechte dargestellt werden soll. Er soll die in der gesellschaftlichen Sphäre entstandenen Nachteile zwar etwa durch sozialstaatliche Intervention oder Bildungspolitik ausgleichen, nicht jedoch durch einen Ausgleich bei Wahlen. Politische Demokratie kann und will Bürgerinnen und Bürger und Stimmen nicht gewichten, sondern nur zählen 7 ' . Hiervon kann es Ausnahmen geben, etwa zum Schutz von Minderheiten 74 oder bei der Gleichstellung der Frauen; diese bedürfen aber als Eingriff in die Grundregel des politischen Prozesses einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Zwingende Gründe können zum einen in der Struktur der Abgeordnetentätigkeit gefunden werden. Zum anderen ist jener Umschlagpunkt zu beachten, an dem formale Gleichheit in faktische Ungleichheit umschlägt, wo Gleichbehandlung und Gleichberechtigung auseinanderfallen 7s • Im politischen Leben treffen Individuen und Gruppen mit sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen aufeinander. Werden sie gleich behandelt, so zeitigt die gleiche Behandlung unter Umständen ungleiche Wirkungen. Ist eine solche Wirkung so beschaffen, daß sie bestehende Ungleichbehandlung reproduziert und verstärkt, wird die Gleichbehandlung zur Parteinahme. Hier kann dann eine Durchbrechung der strikten Gleichheit um ihrer eigenen ratio willen geboten sein: um die gleichen Chancen im politischen Prozeß zu sichern.
72 Zum Unterschied von rein individuellem Differenzierungsverbot und auch kollektivem Dominierungsverbot vgl. Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung (2.A., 1996), S. 310 ff. 7l Bäckenfärde, Demokratie, S. 915. 74 So die Ausnahme des SSW als Vertretung der dänischen und friesischen Minderheit in Schieswig-Hoistein von der 5%-Klausel; Vgl. § 3 Abs. 1 S.2 Wahlgesetz für den Landtag von Schleswig-Hoistein (LWahIG SH) i.d.F.v. 7.10.1991 (GVOBI. S. 442), zuletzt geändert durch G. vom 8.12.1995 (GVOBI. S. 480), § 6 Abs. 6 S. 2 BWahIG, BVerfGE 4, S. 31; 6, S. 84, § 22 Abs. 4 GeschO-LT SH; Albert von Mutius in von Mutiusl Wuttkel Hübner, Kommentar zur Landesverfassung SH, RN 13 zu Art. 3 SHVerf; Vgl. auch die Sonderregelung bei der Bundestagswahl am 2.12.1990 zur getrennten Anwendung der Sperrklausel in den Wahlgebieten der bisherigen Bundesrepublik und der vorherigen DDR, BVerfGE 82, S. 322 (337). 7S Zum Problem: Giovanni Sartori, Demokratietheorie (1992), S. 341 f.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Abgeordnete müssen also im Verhältnis zueinander nach dem strengen Gleichheitssatz behandelt werden. Mehr noch als sonst im Bereich der sozialen Sicherung ist zu beachten, mit welcher Art von Sicherung Gleichheit erreicht wird, die hier als politische Chancengleichheit und als Nachteilsausgleich verstanden wird, der aber nur zulässig ist, um eine vorgefundene Ungleichheit der Chancen nicht weiter zu verfestigen.
3. Öffentliche Arbeitsweise der Abgeordneten Wie aber müssen die Abgeordneten arbeiten, um das Volk bei ihren Aufgaben demokratisch zu vertreten? Demokratische Repräsentation ist essentiell auf freie Kommunikation innerhalb des Volkes und der Vertreterinnen und Vertreter mit dem Volk angewiesen 76 • Sie erst sichert die Demokratie und grenzt sie von der reinen Mehrheitsherrschaft ab. Wahlen als Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation der Vertretung hängen entscheidend von den sich öffentlich und frei vollziehenden Äußerungen des ständigen politischen Willensbildungsprozesses ab 77 • "Freie Wahlen bei unfreien Meinungen drücken nichts aus. ,,78. Das Volk herrscht erst demokratisch, indem es mit sich frei politisch deliberativ kommuniziert79 • Der kommunikative Prozeß wird wesentlich abgesichert durch die kommunikativen Grundrechte der Meinungs- und InformationsfreihelD der Kunstfreiheit, der Medienfreiheit , der Versammlungsfreiheit82 , der Vereini-
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Gusy, ZfP 1989, S. 264 (277). Gusy, ZfP 1989, S. 264 (278 f.); Bäckenfärde, Demokratie, S. 932; Wefelmeier, S. 86 und 124 ff. 78 Sartori, S. 95, 113. 79 Damit löst sich ein angeblicher Widerspruch von Demokratie und Freiheit: Mehrheitsherrschaft ohne kommunikative Freiheit für alle Individuen des Volkes ist keine Demokratie, weil die nötigen Voraussetzungen fehlen, unter denen der demos zu sich kommt und herrschen kann. Anders z.B. Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Der Konsens wird aufgekündigt, FAZ, 17.10.1996. Vgl. Habermas, Einbeziehung, S. 280 ff. 80 Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; BVerfGE 7,208; Kriele, § 83; Wefelmeier, S. 89 f; Wolfgang Zeh, Parlamentarismus: historische Wurzeln - modeme Entfaltung, 5.A. (1991), S.96; Tsatsos, Einführung, S.80; vgl. Habermas, Faktizität, S.445. Wolfgang Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe (1955), in: Grundprobleme der Demokratie, S. 156 (166); Bäckenfärde, Demokratie, S. 942; Bleicken zur Isegorie, S. 292 ff.; Gi/bert Kempff, Meinungsfreiheit im Betrieb?, AiB 1996, S. 265. 81 Art. 5 Abs. 1 S.2 GG; Wefelmeier, S. 90 ff.; Tsatsos, Einführung, S.80; vgl. Habermas, Faktizität, S. 445. 82 Art. 8 GG; Wefelmeier, S. 93 ff.; Tsatsos, Einführung, S.80; vgl. Habermas, Faktizität, S. 445. Vgl. Ausführlich Sieghard Oft, Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in: Joachim Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie (1979), S. 139 ff (insbes. 144). 77
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gungsfreiheit83 durch das Petitionsrecht84 und durch die Mitwirkung der politischen Parteien an der Willensbildung8s • Diese grundgesetzlichen Gewährleistungen dienen alle der Sicherung öffentlicher Kommunikation und Willensbildung, die sich auch auf das Parlament richtet und im Kontakt mit ihm Einfluß erlangen kann und soll. Die Grundrechte bilden insofern als subjektive Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte die funktionelle Grundlage der politischen Demokratie und gehören im demokratisch-repräsentativen System zu den Organisations- und Verfahrensgarantien86 • Sie sichern die Freiheit der zivilen Gesellschaft gegenüber der staatlichen Sphäre, als ihr vorausgesetzter und vorgeordneter Bereich der Willensbildung87 • Das Grundgesetz erwähnt das Recht auf Bildung nicht, es gehört aber in die Reihe der Rechte und Institutionen, die Demokratie erst möglich machen 88. 83 Art. 9 GG; Wefelmeier, S. 97 ff.; Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung (1994), S. 168 L; Tsatsos, Einführung, S. 80; vgl. Habermas, Faktizität, S. 445; Abendroth, Demokratie, S. 156 (166). 84 Art. 17 GG; Wefelmeier, S. 96 f. Joachim Burmeister, Das Petitionsrecht, HStR 11, § 32, S. 73 (94 ff.); Vgl. Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland nach der Vereinigung (1993), S. 261. 8S Art. 21 GG; Peter Badura, Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung (1986), S. 19 ff.; Gusy, ZfP 1989, S.264 (280 f.); Wefelmeier, S. 110 ff.; Tsatsos, Einführung, S. 80; vgl. Habermas, Faktizität, S. 445. 86 Hans Peter Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat in: Joachim PereIs (Hrsg.): Grundrechte als Fundament der Demokratie (1979), S. 1 I (28 ff.). Zum historischen Zusammenhang Wolfgang Abendroth, Über den Zusammenhang von Grundrechten und Demokratie, ebd. S. 249 ff; Zeh, S. 17 ff; Kautsky, S. 512 f.: "Presse, Partei, Parlament (.. ) sind die großen Organe der modernen Demokratie, die unvollkommen bleibt, wenn einem von ihnen die nötige Kraft oder Freiheit fehlt. (.. ) Sie sind die Organe, durch die, wenn sie über genügend Macht verfügen, das Volk ( .. ) den Staat beherrscht." 87 Preuß, Revolution, S. 125 ff. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart (1972) in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 185 (200). Walter Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR Bd. 101 (1976), S.548 (574); Czepluch, S. 105, 160 ff.; Habermas, Faktizität, S.209, 215 f.; Brunkhorst, S.28. Die Trennung von Staat und Gesellschaft als staatsrechtlichen Begriffen bedeutet nicht, daß der Staat als außerhalb oder oberhalb der Gesellschaft stehend begriffen wird. Hier trennen sich aber notwendigerweise juristische und soziologische Begrifflichkeit, vgl. dazu etwa Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus (1922), S. 29 ff. 88 Allerdings wird dabei in besonderem Maß der fließende Übergang von Freiheits- zu Teilhaberechten deutlich. Abendroth, Demokratie, S. 156 (166); Böckenförde, Demokratie, S. 931 f.; Vgl. Art. 24 des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches für die DDR vom 4.4.1990, Blätter für dt. und intern. Politik 1990, S. 731 (735 f.); Art. 128 BayVerf; Art. 29 BrbVerf; Art. 4 NdsVerf; Art. 29 SächsVerf; Art. 20 ThürVerf; BVerfGE 33, S. 303; Gerade die Tatsache, daß Bildungschancen und soziale Herkunft nach wie vor zusammenhängen, ist ein wichtiges Argument für die Notwendigkeit einer nicht rein meritokratischen Auswahl des Führungspersonals, anders Hans-Peter Barteis, Eine kurze Verteidigung der Politik (1992), S.46, der gleiche Chancen "längst erreicht" sieht. Im Gegensatz dazu steht das stabile Fortbe-
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Dies kann nicht ohne Einfluß auf die Ausgestaltung des Mandats bleiben, so auf die Frage der Arbeitsbelastung und daraus folgend auf die Frage, ob die Haupt- oder Nebenberuflichkeit des Mandats verlangt werden darf. Diese Frage wiederum entscheidet mit darüber, wie soziale Sicherung ausgestaltet werden kann und muß. Das Grundgesetz und die Verfassungen der Länder geben den Abgeordneten zunächst ihre Aufgaben im Rahmen des Organs Bundestag oder Landtag vor: Gesetzgebung, Wahl des Bundeskanzlers und der obersten Bundesrichter, Kontrolle der Regierung, Behandlung von Petitionen, Untersuchung gesellschaftlicher Angelegenheiten 89 • Art. 42 Abs. I S. I GG gibt einen wichtigen Hinweis auf die dem Prinzip der demokratischen Repräsentation entspreDieser Grundchende Arbeitsweise: "Der Bundestag verhandelt öffentlich. satz ist historisch zur Sicherung der Bedingungen der Repräsentativität und der kommunikativen Parlamentsfunktionen erkämpft worden 90 • Er begrenzt die Macht des Parlaments gegenüber den Wählerinnen und Wählem 91 und verwirklicht ein dem Demokratieprinzip angemessenes Verfahren, bei dem die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind und die Vertreter gegenüber dem Volk in einem ständigen Zwang zur Begründung und Rechtfertigung ihrer Entscheidungen stehen 92 • Aus ihm folgt auch das Prinzip der grundsätzlich offenen Abstimmung im Parlament in Sachfragen, dessen Ausdehnung auch auf die parlamentarischen Wahlen vor diesem Hintergrund gefordert werden kann93 • Er steht in einem engen Zusammenhang zur Vertretungsfunktion und zur periodischen Wahl des Parlaments, die Wissen über H.
stehen von Zugangsbarrieren zu höheren Bildungsabschlüssen nach sozialen Schichten und Geschlecht, vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung, Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland (1994), S. 279 ff. Vgl. auch Ursula Hoffmann-Lange, Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik (1992), S. 127 ff; Kritisch zum Zusammenhang des allgemeinen und des politischen Bildungsniveaus: Sartori, S. 117 f.; vgl. dazu Sybille Reinhardt, Braucht die Demokratie politische Bildung?, APuZ Nr. 47/1996, S. 9. 89 Vgl. Art. 23 Abs. 2, 29 Abs. 2,41 Abs. 1,44,45, 45a, 45b, 45c, 53a, 63, 67, 68, 70-82" 94 Abs. 1 S. 2,95 Abs. 104a-115, 115a u.a. GG; Hans-Hugo Klein, Aufgaben des Bundestages, HStR 11, § 40, S. 341 ff. 90 Vgl. Hegel, § 315; Karl Marx, Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags (1842), MEW I, S. 41 ff. über die Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen; Art. 22 Abs. I Reichsverfassung von 1871; vgl. Huber Bd. II1, S. 886 f. 91 Wolfgang Jäger, Repräsentationsdefizite des Deutschen Bundestages: Ei n Plädoyer für den Parlamentskanal und partielle Fraktionsöffentlichkeit in: Guggenberger/ Meier (Hrsg): Der Souverän auf der Nebenbühne (1994), S. 134. 92 BVerfGE 89, S. 155 (185); Jörg Lücke, Begründungszwang und Verfassung (1987), S. 97 ff.; Gusy, ZfP 1989, S. 264 (277 f). 93 Vgl. §§ 4,52, 53 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GeschO-BT) i.d.F.d.B.v. 2.7.1980 (BGBl. I, S. 1237), zuletzt geändert durch Bek. v. 30.9.1995 (BGBI. I, S. 1246); Wefelmeier, S. 188 ff zur Sachabstimmung, S. 190 f. zur Forderung nach einer offenen Wahl.
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dessen Tätigkeit und das Verhalten der Vertreter voraussetzt94 • Die partielle oder vollständige Ausdehnung des Öffentlichkeitsgebots auf die Sitzungen der Ausschüsse ist eine der Fragen, die in den letzten Jahrzehnten bei Verfassungs- und Parlamentsreformen intensiv beraten wurde95 • Die Ausschußöffentlichkeit kann sehr wohl als nötige Folge des Gebots der öffentlichen Verhandlung angesehen werden96 • Nicht zuletzt der Sicherung der Kommunikation der Abgeordneten mit der Öffentlichkeit dient der Grundsatz der Indemnität, der Straflosigkeit für parlamentarische Äußerungen 97 • In diesem Kontext entstanden historisch die Indemnität98 und der Grundsatz der Straflosigkeit für Berichte aus dem Parlament 9 • Die heutige Beschränkung der Indemnität bei den Bundestagsabgeordneten in Deutschland und den Landtagsabgeordneten aus sieben Ländern 100 auf Äußerungen in der parlamentarischen Debatte ist nicht unumstritten und für die Abgeordneten in den anderen Ländern lol und für die Abgeordneten des Europäischen Parlament auf andere Äußerungen "in Ausübung ihres Amtes" oder ihres Mandates erstreckt l02 • Das Öffentlichkeitspostulat weist über den bloßen Zugang der Öffentlichkeit zur Parlamentssitzung hinaus und konstituiert den Status des Parlaments und 94 H.-H. Klein, Aufgaben, S. 362 f.; Karl Matthias Meessen, Beraterverträge und freies Mandat (1974), FS Scheuner, S. 431 (450). 95 Vgl. für den Bundestag zuletzt Stefan Marschall, Die Reform des Bundestages 1995: Inhalte, Hintergründe, Konsequenzen, ZParl 1996, S.365 (367). BTDrucks. 13/1, 1312, 10.11.1994 (Anträge der Fraktion Bündnis 901 Die Grünen und der PDS-Gruppe zur Änderung von § 69 GeschO-BT); BT-Drucks. 1312342, Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses zur Einführung von § 69a GeschO-BT. Eingeführt durch Bek. vom 30.9.1995 (BGBl. I S. 1246). Vgl. für Hamburg: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.) Enquete-Bericht Parlamentsreform (1993), S. 64 ff.; für Schleswig-Holstein: Kommissionsbericht, S. 131 ff. Im Verfassungsentwurf des Runden Tisches für die DDR vom 4.4.1990 ausdrücklich vorgesehen in Art. 59 Abs. 1. 96 Marschall, S. 373. 97 Art. 46 Abs. 1 GG. 98 Art. 36 WRV, Huber Bd. VI, S. 371 f. Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland (1963), S. 506. 99 Art. 22 Abs. 2 RV 1871, vgl. Huber, Bd.lII, S. 887. 100 Art. 46 Abs. 1 GG; Art. 27 BayVerf; Art. 57 BrbVerf; Art. 14 Abs. 1 HbgVerf; Art. 24 Abs. 1 MVVerf; Art. 14 NdsVerf; Art. 57 LSAVerf; Art. 24 Abs. 1 SHVerf. 101 Art. 37 BWVerf; Art. 35 Abs. 1 BerlVerf; Art. 94 BremVerf; Art. 95 HessVerf; Art. 47 NWVerf; Art. 93 RHPfVerf; Art. 81 SLVerf; Art. 55 Abs. 1 SächsVerf; Art. 55 Abs. 1 ThürVerf. 102 Vgl. Fleuter, S. 108 f. Nach § 5 Abs. 1 S.2 des G. über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 6. April 1979 (BGBl. 11, S.413), zuletzt geändert durch G. v. 22.4.1993, (BGBl. I, S. 462) (EuAbgG) soll diese Regelung aus Art. 4 Abs. 2 EinfA auf das Schutzniveau von Art. 46 GG begrenzt sein; Fleuter bestreitet die Möglichkeit dieser Einschränkung.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
der Abgeordneten als öffentlich. Es erfordert eine grundsätzlich eigene Dimension und Qualität der Parlaments- und Abgeordnetenarbeit. Juristische, politische und politikwissenschaftliche Diskussion stimmen im Ergebnis darin überein, daß die Parlamente eine eigenständige Öffentlichkeitsfunktion haben 103, deren Sinn in der öffentlichen Kontrollmöglichkeit, der Schaffung und Erhöhung des Begründungszwanges zur Erreichung rationaler Entscheidungen l04 , der Darstellung der politischen Konfliktlinien in Vorbereitung der zukünftigen Wahlen und der Repräsentation der gesellschaftlichen Konflikte in der staatlichen Sphäre überhaupt dienen. Als letztere sind sie ein Teil des "symbolischen Dispositivs der demokratischen Republik" als deren Institution es den Handlungsrahmen einer Sphäre des Politischen öffnet, innerhalb dessen eine Gesellschaft die Macht über sich selbst ausüben will und kann l05 • Die symbolische Wirkung aber kann sich nur im Öffentlichen herstellen. Die Öffentlichkeit der Parlaments- und Abgeordnetentätigkeit ist die Verbindungsstelle zwischen der Vertretung des Volkes in Herrschafts- und VerwaItungsfunktionen und der Repräsentation als dauerndem sozialem Prozeß. Diese Öffentlichkeitsfunktion verwirklicht sich nicht nur in den öffentlichen Verhandlungen des Parlaments l06 und den zu deren Effektivierung eingeführten Fernseh- und Rundfunkübertragungen l07 und in öffentlichen Hearings l08 , son103 Leo Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages.(1976), S. 86 ff. und ders., Der Deutsche Bundestag, JöR 1978, S. 39 (115 ff.) zur normativen Grundle·gung. In der Untersuchung von Kißler werden auch umfangreiche politikwissenschaftliche und kommunikationstheoretische Untersuchungen angestellt. Vgl. Zeh, S. 95 ff. Loewenberg, S. 451 ff. Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland nach der Vereinigung (1993), S. 261 ff; Dehne, S. 116. Für die Landesparlamente Herbert Schneider, Länderparlamentarismus in der Bundesrepublik (1979) spricht von der "Debattenfunktion" , S. 53 ff. und "Repräsentations- und Artikulationsfunktion", S. 62 ff. 104 Jürgen Habermas, Volkssouveränität als Verfahren (1988) in: ders., Faktizität und Geltung, S.6OO (628). Vgl. Berliner Grundsatzprogramm der SPD, S. 80: "Demokratie lebt vom Prinzip Offentlichkeit"; Schäuble, Das personale Element, S. 221 (225). 105 So Rödel/ Frankenbergl Dubiel, S.91 und erläuternd S. 109 ff. Vgl. Hegel §§ 315-317. 106 Dazu Siegfried Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes (1979), S. 148 ff. 107 Vgl. hierzu die Diskussion über die Einführung eines Parlamentskanals, Wolfgang Jäger, Repräsentationsdefizite des Deutschen Bundestages: Ein Plädoyer für den Parlamentskanal und partielle Fraktionsöffentlichkeit in Guggenbergerl Meier (Hrsg): Der Souverän auf der Nebenbühne (1994), S. 134 ff; Michael Quasthoff, Redeschlachten fürs Wohnzimmer, SZ, 12.10.1995; Michael Hanfeld, Live aus der Duma, FAZ, 14.10.1995; Christian Raskob, Politik zeigen, wie sie wirklich ist, Die Zeit, 19.1.1996; Heinrich Oberreuter, Falsch ist das Schielen auf die Quote, Das Parlament Nr. 33-34, 9.8.1996.
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dern auch in der Tätigkeit der einzelnen Abgeordneten in ihrer Partei, im Wahlkreis, im Kontakt mit Verbänden, Initiativen, Petenten und Petentinnen, Bürgerinnen und Bürgern 109. Auch der einzelne Abgeordnete hat somit einen Teil der Öffentlichkeitsfunktion des gesamten Parlaments als repräsentative und kommunikative Aufgabe 11 0. Die Bedeutung dieser öffentlichen Funktionen ist in den parlamentarisch verfaßten Staaten der Europäischen Union gleichbleibend hoch oder wächst an 111. Das Fehlen einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit aufgrund mangelnder Homogenität und gemeinsamer Öffentlichkeit des Staatsvolkes wurde vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Maastrichter Vertrag als ein wesentliches Hindernis für die Entwicklung demokratischer Staatsqualität für die Europäische Union gesehen I 12. Sie behinderten die Weiterentwicklung des Europäischen Parlaments zum zentralen demokratisch-repräsentativen Organ der EU" 3 • Dagegen steht eine Auffassung, die eine dynamische Wechselbeziehung zwischen der Bildung europäischer repräsentativer Institutionen und der Entwicklung einer demokratischen Öffentlichkeit erwartet und anstrebt l14 • Erst im Ergebnis kommunikativer Koppelung wird Repräsentation als demokratische Repräsentation von einer einseitigen Beauftragung und Legitimation zu einem dynamischen Prozeß der Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten 115. Autoren aus der politikwissenschaftlichen Parlamentsforschung wie Dietrich Herzog sehen diese parlamentarisch-gesellschaftliche Kommunika108
Dazu von Beyme, System, S. 262 f. Vgl. Friedrich Schäfer, Der Bundestag (1975), S. 156 ff: "Das Wirken des Abgeordneten im Wahlkreis ist bestimmt durch die mit dem Mandat verbundene Verpflichtung, sich so zu verhalten, daß die Bevölkerung mit Recht in ihm ihren Repräsentanten sehen kann." (159). Nach einer Befragung hatten 1986 22,5% der Befragten bereits persönlich Kontakt zu einem Bundestagsabgeordneten, weitere 24,7 % wünschten sich einen solchen Kontakt. Unter den 12 damaligen EGLändern war dies der drittniedrigste Wert, nach Oscar W. Gabriel, Die EG-Staaten im Vergleich (1992), S. 577. 110 Hans Boldt, Die Stellung des Abgeordneten im historischen Wandel, in: Politik als Beruf? (1979), S. 15 (16). 111 Heinrich Oberreuter, Das Parlament als Gesetzgeber und Repräsentationsorgan in: Gabriel, S. 305 (327 ff.). 112 BVerfG vom 12.10.1993 - 2 BvR 2134/92 - BVerfGE 89, S. 155 (185 f.). 113 Vgl. Fleuter, S. 76 f. 114 Habermas, Einbeziehung, S. 180 ff.; vgl. in historischer Sicht zum Wechselverhältnis von Demokratisierung, Öffentlichkeit und Nationenbildung und zur Nachrangigkeit der gemeinsamen Sprache in diesem Prozeß Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus (1991), S.97 ff. 115 Wefelmeier, S. 131 f. im Anschluß an Marek Sobolewski, Politische Repräsentation im modernen Staate. Dazu auch Rausch, Repräsentativverfassung (1979), S.240. Ebenso Dehne, S.99; ähnlich: Gusy, ZfP 1989, S.264 (269); Marschall, S. 370. Vgl. Hasel Ladeur, S. 196. 109
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
tion mittlerweile als "eigentliche Einflußressource des Parlaments ,,116. Siegfried Magiera sieht in der Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion eine Voraussetzung für Repräsentation und für eine funktionierende kooperative Staatsleitung von Parlament und Regierung l17 • Der Gedanke der "teaching function" und "informing function" des Parlaments, die sich in der Kommunikation der Abgeordneten verwirklicht, findet sich bereits bei Walter Bagehot im Jahre 1867, wobei Lehrfunktion und Artikulationsfunktion erst zusammen in die Nähe der modemen Kommunikationsfunktion kommen l18 • Eine zentrale Rolle spielt die Kommunikation auch für die Legitimation des Parlaments zur Rechtssetzung im Rahmen der Diskurstheorie (Theorie des kommunikativen Handeins) in der Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas. Volkssouveränität bedeutet dabei, daß sich die politische Macht aus der diskursiven Macht der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ableitet. Danach sind die Abgeordneten der Parlamente gewählt als Teile von repräsentativ oder stellvertretend geführten Diskursen, die unter prinzipiell allgemeiner Beteiligung als organisierter Mittelpunkt des gesellschaftsweiten Kommunikationskreislaufs einer im ganzen nicht organisierbaren Öffentlichkeit geführt werden 119. Der politische Bereich ist dabei der Ort, an dem der Kompromiß zwischen dem Diskursprinzip und dem Prinzip des strategischen Interessenausgleichs hergestellt und zugleich der Versuch unternommen werden kann, das diskursive und demokratische Element zu stärken l20 • Wahlmodus, Status und Arbeitsweise der Abgeordneten haben dabei prinzipielle Bedeutung für die notwendigen Kommunikationsvoraussetzungen für pragmatische, ethische und moralische Diskurse einerseits, für faire Verhandlungen andererseits 12 1• Dagegen findet sich auch eine juristisch oder politisch begründete Ablehnung der Ausweitung kommunikativer Aufgaben der Abgeordneten. So sieht 116 Dietrich Herzog, Der Funktionswandel des Parlaments in: D. Herzog/ Hilke Rebenstorjl Bernhard Wefteis, Parlament und Gesellschaft (1993), S. 13 (28). Bernhard Wefte/s, Abgeordnete und Bürger: Faktoren politischer Repräsentation in: Klingemannl Stössl Wefteis, Politische Klasse und politische Institutionen (1991), S. 325 (356), zusammenfassend: "Repräsentation ist ohne Kommunikation nicht zu denken." 117 Vgl. Magiera, S. 252 und 262 (267): "Zu der erforderlichen bürger- und wählerrelevanten Informationsaufbereitung ist von den Staatsorganen nach seiner verfassungsrechtlichen Struktur vor allem das Parlament berufen. ". 118 Walter Bagehot, Die englische Verfassung (1867/1971), S. 138 und 162 ff.; Vgl. die Anknüpfung bei D. Herzog. Funktionswandel, S.25; Carl-Christoph Schweitzer. Der Abgeordnete im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (1976). S. 219,224; Schäfer, S. 16 f. 119 Habermas, Faktizität. S. 208 ff.; vgl. Röhrich, Eliten. S. 118 ff. 120 Röhrich. Eliten, S. 119 f. 121 Habermas. Faktizität, S. 210 f.
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Hans-Herbert von Amim Veranlassung, die Ausweitung politischer Aktivitäten der Abgeordneten in Partei und Gesellschaft zu kritisieren und begründet dies mit einer Gefährdung von Chancengleichheit und Offenheit im Rekrutierungsverfahren und dem Vorwurf, daß eine Partei aktivität des Abgeordneten verdeckte Parteienfinanzierung sei 122 • Die Soziologen Ute Scheuch und Erwin K. Scheuch stellen "Sachkompetenz" und "kommunikative Kompetenz" antinomisch gegenüber und beklagen einen Rückgang der ersteren auf Kosten der letzteren IB. Die Kritik macht sich vor allem - aber nicht nur - an der Parteibezogenheit der Kommunikation fest. Die gesteigerte Kommunikation von Abgeordneten mit ihrer Partei findet aber rechtlich ihre Wurzel nicht nur in der allgemeinen verfassungsmäßigen Rolle der Parteien, sondern noch spezieller im Recht der Partei zur Kandidatenaufstellung l24 und der im Parteien gesetz festgeschriebenen Aufgabe der Parteien, "auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß (zu) nehmen undfür eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen (zu) sorgen ,,12S. Die Wahl der Parteikandidaten und -kandidatinnen muß demokratischen Anforderungen genügen I 26. Eine Wahl von Vertretern und Vertreterinnen erlangt demokratische Qualität aber am besten als Zwischenergebnis eines ständigen kommunikativ-diskursiven Prozesses l21 • Dies setzt voraus, daß sich die Abgeordneten in ständigem und intensivem Kontakt zu ihrer Partei bewegen und mit ihr kommunizieren.
122 Hans-Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld (1991), S. 151 ff. l2l Ute Scheucht Erwin K Scheuch, Cliquen, Klüngel und Karrieren (1992), ~. 154 f. mit deutlicher Verachtung für Politiker mit kommunikativer Kompetenz. AhnIich auch von Arnim, Demokratie ohne Volk (1993), S.288f mit Gegenüberstellung von "kommunikativ" und "gestaltungsorientiert". Vgl. zum Spannungsverhältnis der Forderungen nach "Sachkompetenz" und nach "Bürgernähe" reflektierter Udo Bermbach, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979), S. 99 f. 124 § 18 BWahIG; vgl. dazu etwa Dehne, S. 106 ff. 12S § 1 Abs. 2 Parteiengesetz (ParteienG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.l.l994 (BGBI. I S. 149). 126 Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG; § 21 Abs. 3 BWahlG; §§ 10 Abs. 2, 15 Abs.2 und 3, 17 ParteienG; Zu den Mindestanforderungen BVerfG vom 20.10.1993 - 2 BvC 2/91 BVerfGE 89, S. 243, Ls. 4 und S. 259 f. und HVerfG vom 4.3.1993 - HVerfG 3/92 in: Ulrich Karpen, Hamburgensien (1994), S.41 - (CDU Hamburg); dazu Anmerkung von Ulrich Karpen, ebd., S. 83; vgl. Czepluch, S. 169. 127 Vgl. theoretisch bei Stuby, S. 321; Empirisch: Werner J. Patzelt, Abgeordnete und ihr Beruf (1995), S. 152 ff.; Erfahrungsbericht z.B. von Peter Glotz, Die Innenausstattung der Macht (1979), S. 136 ff. Zur Kritik der innerparteilichen Demokratie ausführlich und differenziert z.B. Rährich, Eliten, S. 79 ff., der von einer Tendenz zur "diskreten Willensbildung" spricht; dagegen pauschale Wertung bei Karl A. Schachtschneider, Res publica, res populi (1994): "abstoßendes, schmutziges Geschäft".
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Gegen das Argument von der zu mißbilligenden Parteiaktivität des Abgeordneten kann auch aus parteienkritischer Sicht angeführt werden, daß gerade Abgeordnete mit ihrem Unabhängigkeitsschutz wesentliche Beiträge zur Demokratisierung der Partei leisten können, wenn sie im häufigen Kontakt zu Bürgern und Gruppen sind und ein gewisses Gegengewicht zur parteilichen Führung und zu hierarchischen und einseitig staatsorientierten Entwicklungen der Parteien bilden können 128. Dies wird bestätigt durch die abgeordnetensoziologische Forschung, die den Abgeordneten bescheinigt, daß sie einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit und Mandatsausübung für gesellschaftliche Kontakte aufwenden, die geeignet seien, den Blick für andere Politikfelder als die gerade bearbeiteten und für die Folgewirkungen und Zusammenhänge politischer Entschei"-" 129 . dungen zu schauen In der Politikwissenschaft wird der auf diese Weise realisierte Einfluß aus der Bevölkerung auf die Abgeordneten als Responsivität bezeichnet130 • Diese verwirklicht unter den Bedingungen notwendiger Vertretung des Volkes dessen permanente weitere Einbeziehung in den Gesetzgebungs- und Herrschaftsprozeß als Ergebnis eines kommunikativen politischen Prozesses 13l • Das Konzept der Responsivität ist eine Möglichkeit, Mitwirkungsmöglichkeiten und damit eine Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger und eine Steigerung von Legitimät und Wirksamkeit politischer Entscheidungen ebenso wie 128 Stuby, S. 323 ff. (325): "Die Verfassung hat den Abgeordneten eine besondere Verantwortung für die Schaffung der Bedingungen einer innerparteilichen Demokratisierung auferlegt."; Spalckhaver, S. 128 ff.; Wefelmeier, S. I7I. 129 Dietrich Herzog! Hilke RebenstorJl Camilla Werner! Bernhard Weßels, Abgeordnete und Bürger (1990), insbes. S. 19 ff.: "Jeder einzelne Abgeordnete hat etwa zwischen 270 und 430 Kontakte pro Jahr mit den großen Interessenverbänden, den Unternehmen sowie mit den Organisationen des sozialen, religiösen und kulturellen Lebens (S. 31 f.); Wolfgang lsmayr, Der Deutsche Bundestag (1992), S. 81 f.; Patzelt, Repräsentation. 130 Patzelt, Repräsentation, S. 41 ff zum Begriff, der aus den US-amerikanischen Untersuchungen von Hanna F. Pitkin und Eulaul Karps übernommen wurde. Zum Begriff auch: D. Herzog, Repräsentation, S.307 (325 ff.). Vgl. Frank Brettschneider, Parlamentarisches Handeln und öffentliche Meinung. Zur Responsivität des Deutschen Bundestags bei politischen Sachfragen zwischen 1949 und 1990, ZPari 1996, S. 108. Laut Brettschneider befanden sich im Untersuchungszeitraum 68,7% der klassifizierbaren parlamentarischen Handlungen in Übereinstimmung mit der Meinung der Bevölkerungsmehrheit. Weiterhin: Herbert Uppendahl. Repräsentation und Responsivität: Bausteine einer Theorie responsiver Demokratie, ZParl 1981, S. 121, ders. Responsive Demokratie - ein neuer Ansatz, ZParl 1981, S. 440. 131 Patzelt, Beruf, S. 20 ff.; Zur Bedeutung einer wechselseitigen Kommunikation von Eliten und Bevölkerung im Vergleich zu einseitiger Responsivität gegenüber Wählerwünschen D. Herzog, Repräsentation, und Ursula Hoffmann-Lange, Kongruenzen in den politischen Einstellungen von Eliten und Bevölkerung als Indikator für politische Repräsentation in: Klingemann! Stöss! Weßels, Politische Klasse und politische Institutionen (1991), S. 273 (287 f.).
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von demokratischer Qualität repräsentativer Staatsleitung herzustellen 132. Seine Grenzen und Probleme durch eine vermachtet vorstrukturierte Öffentlichkeie 33 die mangelnde Verankerung demokratischer Verfahren im Bewußtsein der Bevölkerung 134 und einen sozial unterschiedlichen Zugang zur Partizipation 135, dürfen aber nicht negiert werden, sondern machen gerade seine Sicherung im normativen System notwendig. Die Bereitschaft vieler Abgeordneten zur Verwirklichung eines responsiven Mandatskonzepts zeigt sich daran, daß 79 % der Abgeordneten an ihre Arbeit den Anspruch stellen, durch persönliche Kontakte Parlament und Gesellschaft miteinander zu verknüpfen l36 • In der Neufassung der Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung und in den Landesverfassungen Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts und Thüringens wurde in bewußter Aufnahme dieser politischen und politikwissenschaftlichen Diskussion die Öffentlichkeitsfunktion des Landtags ausdrücklich festgeschrieben 137. Die in Schleswig-Holstein gewählte Formulierung geht zurück auf den Bericht der Enquete-Kommission Verfassungs- und Parlamentsreform, die einrefordert hatte, die Parlamentsfunktionen wirklichkeitsgerecht zu beschreiben 13 und in der Veröffentlichung von Politik, der Kommunikation und der Vermittlung zwischen Wählenden und Gewählten im Rahmen eines stabilen Interaktionengeflechts eine eigenständige wesentliche Aufgabe des Parlaments 132
Böckenförde, Repräsentation, S. 379 (396 f.); Gusy, ZfP 1989, S. 264 (278). Vgl. zur Kritik an Habermas' Theorie am Beispiel der politischen Realität Italiens Andrea Wolf, Telekratie oder Tele Morgana? (1997), S. 18 ff. 134 Vgl. die Analysen zur mangelnden Darstellung des Parlaments in seiner politischen Funktion in den elektronischen Medien, Wolfgang Jäger, Fernsehen und Demokratie (1992), S. 68 ff. und zur Unkenntnis großer Teile der Bevölkerung über die Kommunikationsweise parlamentarischer Institutionen, Jörg Kilian, Das alte Lied vorn Reden und Handeln, ZParl 1996, S. 503 ff. 135 Vgl. zur Kritik Fritz Scharpf, Demokratie als Partizipation in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, S. 117 (118); Hasel Ladeur, S. 206 f.; Czepluch, S. 71. Auch Jürgen Ha~ermas räumt ein: ,,( ... ) die Voraussetzung einer nicht-vermachteten politischen Offentlichkeit ist unrealistisch; richtig verstanden, ist sie aber nicht in einem schlechten Sinne utopisch.", Volkssouveränität, S. 600 (628). 136 Werner J. Patzelt, Deutschlands Abgeordnete: Profil eines Berufsstandes, ZParl 1996, S. 462 (468 f.). 137 Art. 48 Abs. 2 ThürVerf: ,,( ... ), behandelt die in die Zuständigkeit des Landes gehörenden öffentlichen Angelegenheiten ( ... )"; Art. 41 Abs. 1 S.4 LSAVerf: ,,( ... ) und verhandelt öffentliche Angelegenheiten." Vgl. Andreas Reich, Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt (1994), RN 4 zu Art. 41; Art. 20 Abs. 1 S.4 MVVerf; Art. 10 Abs.l S.4 SHVerf: "Er behandelt öffentliche Angelegenheiten." Zugleich wurde die öffentliche Verhandlung auf die Parlamentsausschüsse erweitert, Art. 17 Abs. 3 S. 1 SHVerf.; Vgl. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungs- und Parlamentsreform (1989), S. 40 f.; Stephan Rahn, Verfassungsreform in SchleswigHolstein, NJW 1990, S. 2782 (2784 f.); Peter Hübner in von Mutiusl Wuttkel Hübner, Kommentar zur Landesverfassung (1995), RN 16 zu Art. 10. 138 SH Bericht, S. 37. 133
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
und der einzelnen Abgeordneten sah l39 • Diese Konzeption wurde bei den nach 1990 geänderten oder neugeschaffenen Landesverfassungen immer diskutiert und teilweise übernommen. Sie findet auch in der neueren parlamentsrechtlichen Z ' 140 · LIteratur ushmmung . Eine abwertende Gegenüberstellung von "kommunikativer Kompetenz" und "Sachkompetenz" wie bei Scheuch und Scheuch verkennt die Aufgaben des Abgeordneten im Rahmen der demokratischen Repräsentation: die zuerst geforderte Kompetenz von Abgeordneten ist die zur Kommunikation, wie schon Ernst Fraenkel 1955 zugespitzt beschrieb: ,,Das Spezialgebiet des Politikers ist die Beobachtung, Lenkung, Kontrolle und Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Seine Spezialfunktion besteht darin, die verschiedenen Komponenten, die bei Fällung einer politischen Entscheidung in Erwägung gezogen werden müssen, zusammen sehen zu können und ihre massenpsychologische Wirkung abzuschätzen und zu beeinflussen. Auf diesem seinem Spezialgebiet muß der Politiker Fachmann sein (..)"141. Die Abgeordneten müssen also Spezialistinnen und Spezialisten für das Allgemeine der politischen Demokratie sein: die Kommunikation der Gesellschaft mit sich selbst und ihre Umsetzung in politisches Handeln. Hierzu müssen die Abgeordneten so verschieden sein wie die Glieder der Gesellschaft selbst. 4. Offenheit der Parlamente Daran anknüpfend ist zu fragen, welchen Grad von Offenheit für Veränderung der Grundsatz der demokratischen Repräsentation für die Parlamente verlangt und was dieses für die Ausgestaltung des Parlamentsrechts und der sozialen Sicherung der Abgeordneten bedeutet. Als Folge des kommunikativen Charakters der politischen Demokratie muß diese offen für die aus dem Diskurs folgende Veränderung sein, sei es in Hinsicht auf die Personen der Abgeordneten, sei es in Bezug auf deren Politik. Offenheit der Parlamente soll hier zunächst vor allem verstanden werden als die rechtlich gesicherte und reale Möglichkeit der wahlberechtigten und wählbaren Bürgerinnen und Bürger zu wählen, wen sie wollen, als Abgeordnete zu kandidieren, gewählt zu werden und das Amt wahrnehmen zu können. Das Grundgesetz stellt zunächst nur Wahlgrundsätze auf, die die rechtlichen Bedingungen der Wählerinnen und Wähler und der Kandidatinnen und Kandidaten im Wahlvorgang determinieren. SH Bericht, S. 41 f. 140 Hermann Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat (1991), S. 161 f. 141 Ernst Fraenkel, Akademische Bildung und politische Berufe (1955) in: ders., Reformismus und Pluralismus, S. 315 (325). Vgl. Dietrich Herzog, Der modeme Berufspolitiker in Hoffmann-Lange (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland (1990), S.28 (37); Dieter Grimm, Krisensymptome parlamentarischer Repräsentation in: Huber (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie (1995), S. 4 (13 f.). 139
I. Demokratische Repräsentation
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Die Grundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit der Wahl 142 weisen über diese formale Seite des Wahl vorgangs hinaus aber auch einen materiellen Gehalt auf. Die unbestimmte Zielrichtung des Wahlgleichheitsgebotes ist nicht nur die umfassende Richtun politischer Chancengleichheit, sondern zugleich historisch offenes Elemene 4 • Sie soll Raum geben für die Repräsentation gesellschaftlicher Wandlungen im Parlament und damit für die sich ändernde Repräsentation einer sich wandelnden Gesellschaft l44 • Gerade das Demokratieprinzip ist bedeutsam für ein zeitoffenes Verfassungsverständnis l45 •
r
Die modeme parlamentarische Repräsentation ist im Gegensatz zur ständischen Vertretung, wie sie noch bei Hegel den Vorstellungen von Repräsentation zugrundeliegt, von der Vorstellung gelöst, daß die Repräsentanten den Vertretenen in wesentlichen sozialen Eigenschaften gleichen müssen l46 • Die Trennung der Sphären von Gesellschaft und Staat führt hier gerade zur Abstraktion der Vertretung von den Vertretenen l47 • Es steht den Wählerinnen und Wählern frei, ihnen nicht ähnliche Abgeordnete zu wählen und als Vertreter ihrer Interessen zu betrachten 148. Dennoch ist die Betrachtung der sozialen Zusammensetzung Art. 38 Abs. I S. I GG. 143 Vgl. Rödelt Dubielt Frankenberg, S. 120 ff.: Demokratie ist ein "unabschließbares und zukunftsoffenes historisches Projekt"; "Das demokratische Dispositiv ist zwar im Gründungsakt bereits real wirksam und bestimmt das ZusammenhandeIn der Mitglieder der Zivilgesellschaft, aber seine weitere Realisierung in Form von Institutionen läßt sich nicht vorherbestimmen und auf ein vorgegebenes Ziel ausrichten." 144 Udo Bermbach, Repräsentation, imperatives Mandat und recall (1972), in ders. Demokratietheorie und politische Institutionen (1991), S. 74 (104 f.). Vgl. dazu etwa auch Fritz Vilmar, Strategie gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung, parlamentarische Demokratie und sozialistische Transformation, ZParl 1972, S.480 (493) zur historischen Offenheit des Parlamentarismus; zur Entstehung einer historisch offenen Rechtstradition Berman, S. 324. 145 Vgl. Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassung und Zeit - von der "entzeiteten" zur zeitgeprägten Verfassung, AöR 103 (1978); S.566 (580 ff.). Vgl. auch Dehne, S. 87 f.; Czepluch, S. 4 ff.; Demirovic, S. 105 f. 146 Vgl. Hegel § 308, § 311: "Es bietet sich von selbst das Interesse dar, daß unter den Abgeordneten sich für jeden besondere Zweig der Gesellschaft (.. ) Individuen befinden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören; - in der Vorstellung eines losen unbestimmten Wählens ist dieser wichtige Umstand nur der Zufälligkeit preisgegeben. ( .. ) Wenn die Abgeordneten als Repräsentanten betrachtet werden, so hat dies einen organisch vernünftigen Sinn nur dann, daß sie nicht Repräsentanten als von Einzelnen, von einer Menge seien, sondern Repräsentanten einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen Interessen."; Rausch, Repräsentativverfassung, S. 237, der "Identifikation, in dem Sinne, daß derjenige, der repräsentiert, die E.\genschaften des von ihm Repräsentierten hat" und "Zurechenbarkeit durch Ahnlichkeit" in das begriffliche Umfeld der Repräsentation einordnet. 147 Zur Kritik an Hegel: Marx, Kritik, MEW I, S. 201 (273 ff.); Umberto Cerroni (1962/1974), Marx und das modeme Recht, S. 128 f. 148 Vgl. Demirovic, S. 136. 142
48 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder der Parlamente, ihrer Veränderung und Mechanismen unter dem Gesichtspunkt der Offenheit und Wirksamkeit des demokratischen repräsentativen Prozesses notwendig l49 • Denn erhebliche Abweichungen der Zusammensetzung der Parlamente von der sozialen Struktur der Bevölkerung sind Indizien dafür, daß ihnen zumindest möglicherweise nicht freie Entscheidung, sondern gesellschaftlich oder rechtlich determinierte Bedingungen zugrunde liegen, welche die Offenheit der demokratischen Repräsentation einschränken. Um die gesellschaftlichen Diskurse, die unterschiedlichen Deutungsperspektiven verschiedener sozialer Sphären, Selbst- und Weltverständnisse ansatzweise stellvertretend im Parlament führen zu können, muß ein möglichst breites Spektrum der Gesellschaft auch dort vertreten sein, zumal sich ansonsten der kommunikative Aufwand zur Erreichung von Responsivität enorm erhöhe 50 • Eine Einschränkung und zugleich Gewährleistung der Offenheit ist die Dauer der Wahlperiode, die für den Bundestag auf vier Jahre festgelegt ist l , in den Ländern entweder vier oder fünf Jahre, beim Europäischen Parlament fünf Jahre beträgt. Die Periodizität und Diskontinuität der Vertretungskörperschaften und des einzelnen Mandats dient der regelmäßigen Sicherung der demokratischen Legitimationsqualität durch Wahlen und führt zur Herstellung von Responsivität, indem bevorstehende Wahlen einen Druck auf die Vertreterinnen und Vertreter ausüben. Die Dauer der Wahlperiode ist somit eine Rahmenbedingung der Offenheit im Rahmen der Gesamtkonzeption, indem sie die Höchstdauer eines Mandats markiert. Fraglich ist, ob ihr darüber hinaus eine normative Bedeutung zukommt. Dies ist wichtig für die soziale Sicherung der Abgeordneten 152, da die Dauer des biographischen Abschnitts ein entscheidender Anknüpfungspunkt ist und die Systematik des Rechts der sozialen Sicherheit hier mit Normwerten und Normfiktionen arbeitet, die ihrerseits Rückwirkungen auf die Mandatskonzeption haben und sich als faktische Eingriffe in die freie Mandatskonzeption erweisen können. Juristisch und politisch wurde die Diskussion hierüber in den achtziger Jahren geführt, als die Abgeordneten der Grünen mehrheitlich eine Mandatskonzeption vertraten, die durch die Rotation auf eine Mandatsdauer von einer halben
149
Ursula Hoffmann-Lange, Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik
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Habermas, Faktizität, S. 224 f.; Demirovic; S. 136 f.
(1992), S. 118.
Art. 39 Abs. 1 GG. Anerkannt in BVerfGE 76, 256 (341) bei der Darlegung der Unterschiede zwischen Abgeordneten und Beamten. 151
152
I. Demokratische Repräsentation
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Wahlperiode angelegt war lS3 • Dies stand in Verbindung mit einer insgesamt anderen Konzeption von Parlamentsarbeit, zu der auch die stärkere Anbindung an Partei voten und die Betonung kommunikativer Abgeordnetentätigkeit zu Lasten klassischer Abgeordnetenfunktionen kam 154 • Die konsequent durchgeführte Rotation wird in rückblickender Analyse teilweise als ein wirksames Instrument bewertet, die Entwicklung eines beruflich-finanziellen Interesses an der Abgeordnetentätigkeit zu verhindern, zugleich werden ihm aber auch aus dem Selbstverständnis seiner Erfinderinnen und Erfinder heraus zahlreiche Mängel zugeschrieben 155. Der juristische Streit um die Zulässigkeit der Rotation spitzte sich bis zu einem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes zu, in dem die Rotation der Landtagsabgeordneten der Grünen für rechtswidrig gehalten wurde, ohne daran im Einzelfall allerdings Sanktionen zu knüpfen I 56. Der juristische Streit über die Rotation wurde in der Literatur kontrovers ausgetragen I 57 • Teilweise wurde gefordert, die Rotation als verfassungswidrig und die Funktionsfähigkeit der Parlamente beeinträchtigend zu unterbinden 158, Es ist aber heute kaum noch umstritten, daß der individuelle Rücktritt auf Grundlage eines Rotationsbeschlusses der Partei von der Freiheit der Mandatsausübung gedeckt ist. Die Abgeordneten selbst entscheiden, ob und wie lange sie das Mandat wahrnehmen wollen i59 • Rotationsbeschlüsse von Parteien sind aufgrund des freien Mandats nicht einklagbar, Abgeordnete dürfen sich aber daran halten l60 • Die Dauer der Wahlperiode ist insofern auch keine Beschrän-
153 Vgl. Karl-Heinz HohmJ Thomas Rautenberg, Mandatsrotation und Grundgesetz, NJW 1984, S. 1657; Jan Ziekow, Rotation von Mandatsträgern, ZParl 1990, S. 631. 154 Vgl. Dehne, S. 25 ff.; Roland Roth, Eliten und Gegeneliten in: Leifl Legrand/ A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland (1992), S. 364 (371). Ellwein/ Hesse, S.248. 155 Jörg Wischermann, Anpassung und Gegenwehr - die Parlamentsbeteiligung der GlÜn-AIternativen Liste Hamburg und ihre Folgen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre (1992), S. 320 f; 333 ff. 156 NdsStGH, DVBI. 1985, S. 1063 ff; dazu z.B. Ludger Anselm Versteyl, Rotation: abstrakt verboten - konkret erlaubt, ZParl 1985, S. 465; Bernd Rebe, Die erlaubte verfassungswidrige Rotation, ZParl 1985, S. 468. 157 Vgl. die Nachweise bei Dehne, S. 21 f. 158 So Norbert Achterberg/ Hans-Hermann Kasten, Urteils anmerkung, DVBI. 1985, S. 1066 ff; Klaus Dicke! Tobias Stoll, Freies Mandat, Mandatsverzicht und das Rotationsprinzip der GRÜNEN, ZParl 1985, S. 451 ff. 159 Dehne, S. 218; Von Mangoldtl H.-H. Klein/ Achterberg/ Schulte GG RN 22 zu Art. 38; Wefelmeier, S. 202 ff. 160 Horst Sendler, Abhängigkeiten der unabhängigen Abgeordneten, NJW 1985, S. 1425 (1430).
4 Welli
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
kung der Freiheit der Mandatsausübung in dem Sinne, daß sie individuell zu ihrer Einhaltung verpflichten könnte. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Begründung seines sogenannten Diäten-Urteils die These aufgestellt: "Niemand bewirbt sich heute um einen Abgeordnetensitz, um ihn nach vier Jahren wieder aufzugeben ,,161 und daran normative Schlußfolgerungen geknüpft, die bis heute nachwirken. Schon die Behauptung war allerdings damals wie heute empirisch falsch. Der Schluß von der überwiegenden Realität auf die Norm l62 war aber nicht nur fragwürdig l63 , sondern auch verfassungsrechtlich nicht haltbar, denn außer der Dauer der Wahlperiode enthält das Grundgesetz im Rahmen der freien und offenen Mandatskonzeption hierüber gerade keine einschränkenden Aussagen 164. Die Verknüpfung des Mandats mit einer regelmäßigen Wahl, der Gefahr des Ausscheidens und dem Zwang zur Überprüfung der eigenen Motivation ist ein wesentlicher Baustein eines Konzepts, die Abgeordneten an den öffentlichen Diskurs zu binden und diesem Offenheit für personelle und sachliche Veränderung zu bieten. Die Mandatsausübung ist ein atypischer Lebensabschnitt von unterschiedlicher Dauer l6s • Die Tatsache, daß es in zunehmendem Maße Berufspolitiker und -politikerinnen gibt, die ihr ganzes Leben im erwerbsfähigen Alter oder doch einen sehr großen Teil davon als Abgeordnete arbeiten, darf nicht zu der Schlußfolgerung führen, dieses sei nunmehr ein normatives Leitbild l66 • Ein solches mißachtet eben die sich aus der demokratischen Repräsentation ergebende Orientierung auf Auswahl und Wechsel 167. Umgekehrt mißbilligt das Grundgesetz die dauernde berufliche Politikausübung nicht, errichtet ihr aber mit der BVerfGE 40, S. 296 (312 f.). 162 BVerfGE 40,296 (313): "Das liegt in der Regel auch im Interesse (.. ) des Parlaments." 163 Hans Peter Bull, Macht einen neuen Anfang!, Die Zeit, 20.10.1995. 164 Ebenso H.-P. Schneider, AK-GG, RN 28 zu Art. 38; Klaus Schlaichl Hermann J. Schreiner, Die Entschädigung der Abgeordneten, NJW 1979, S.673 (676); Ellweinl Hesse, S. 248. Michael Freytag, Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentsreform für den Deutschen Bundestag (1990), sieht die Aussage "eindeutig bestätigt", da die Wiederwahl "zur Regel geworden" sei. Darauf kommt es aber nicht an. 165 Materialien zum AbgG, BT-Drucks. 7/5531, S. 8; Peter Conradi, Parlamentarier in privilegienfeindlicher Demokratie, ZParl 1976, S. 113 (114); auch berücksichtigt in BVerfGE 76, S. 256 (342): "vorübergehende, zumindest teilweise Unterbrechung des..Berufslebens"; Martin Grundmann, Zur Altersentschädigung für Abgeordnete,DOV 1994, S. 329. 166 Man/red Abelein, Die Rechtsstellung des Abgeordneten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS von der Heydte (1977), S. 777 (788). Czepluch, S. 207. 167 Ellweinl Hesse, S. 248. 161
I. Demokratische Repräsentation
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Periodizität der Wiederwahl notwendige Hürden. Dabei ist der hergebrachte Berufsbegriff 68 mit dem Merkmal der auf Dauer angeler,ten Schaffung einer Lebensgrundlage in der Interpretation der Berufsfreiheit 69 nicht entscheidend, da längst viele Tätigkeiten von vornherein biographisch nur einen befristeten Abschnitt einnehmen l70 und eine weite Auslegung des verfassungsrechtlichen Berufsbegriffs anerkannt ist l71 • Entscheidend ist vielmehr die Sicherung der freien regelmäßigen Wahl. Abgeordnete müssen also bereit und in der Lage sein, sich dem Wechsel zu stellen, abgewählt zu werden. Die aktuelle Ausformung der sozialen Sicherung der Abgeordneten muß das Spannungsfeld zwischen normativer Ausrichtung auf Offenheit und Wechsel und einer Tendenz zu Professionalisierung und Verfestigung berücksichtigen. Wir finden mit dem Recht auf Wahlvorbereitungsurlaub, dem Behinderungs- und Kündigungsverbot und dem Entschädigungsgebot172 im Grundgesetz speziellere Aussagen, die eine Konzeption aufzeigen, wonach die Parlamente möglichst vielen zur Kandidatur auch realoffenstehen sollen und hierfür rechtliche Sicherungen geschaffen werden sollen. Die normativen Vorgaben der Wahlrechtsgrundsätze für die Offenheit der Parlamente stehen im Kontrast zu den sozialwissenschaftlichen Befunden und Theorien über Auswahl und Zusammensetzung der Abgeordneten, die belegen, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen weit häufiger als Abgeordnete zu finden sind als andere und die dies teilweise auch theoretisch begründen. Demokratische Repräsentation wird gefahrdet, wenn eine repräsentierende Gruppe von der repräsentierten Basis tendenziell abgekoppelt wird und dadurch keine Wahlalternativen mehr in den Kandidaten personell verkörpert scheinen oder sind 173. Die Theorien der politischen Wissenschaft zur "politischen Klasse" und die Befunde der Soziologie über die Abgeordneten sollen im folgenden kurz vorgestellt werden, um zu überprüfen, welchen Gefahrdungen der Offenheit die soziale Sicherung der Abgeordneten entgegenwirken kann und muß. Die politische und sozialwissenschaftliche Diskussion konstatiert schon seit langer Zeit die Existenz einer "politischen Klasse" oder "Schicht von Berufspolitikern ", ohne allerdings deren klare Definition und Abgrenzung erreicht zu haben 174. Würde eine solche klar abgrenzbare soziale Gruppe bestehen und dies 168 169 170
Vgl. BVerfGE 7, S. 377; BVerfGE 32, S. 1. Art. 12 GG.
Anders Czepluch, S. 206 f. BVerfGE 14, S. 19 (22); BVerfGE 68, S. 272 (281); BSGE 22, S. 92 (94). 172 Art. 48 GG. 173 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (276 ff. 174 Wilhelm Weege, Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungsgruppen, in: LeiJl Legrand/ A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland (1992), S. 35. 171
4*
52 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder im Rahmen der demokratischen Repräsentation gewollt oder tolerierbar sein, wäre dies nicht ohne Folgen für eine Konzeption sozialer Sicherung dieser Klasse oder Schicht. Soziale Sicherung ist in Deutschland grundsätzlich für voneinander klar abgrenzbare soziale Gruppen - Selbständige, Beamte und Beamtinnen, Angestellte, Arbeiter und Arbeiterinnen, Landwirte und Landwirtinnen - unterschiedlich organisiert, dieser Unterschied verstärkt wiederum den Gruppencharakter der den unterschiedlichen Systemen zugeordneten Individuen.
a) Die "politische Klasse" in der politischen Theorie Die Möglichkeit der Entstehung einer sozialen Gruppe mit Eigeninteressen, die ihre Stellung nutzt, um politische und ökonomische Vorrechte zu erlangen, erscheint als ein Grundproblem jeder gesellschaftlichen und Staatsorganisation, die im Rahmen der Arbeitsteilung Funktionen der Gesetzgebung, Leitung und Verwaltung spezialisiert Einzelnen zuweise 75. Verstärkt wird dies im modemen Staat durch die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, die eine Trennung der Sphären und ihrer Funktionsträger impliziert und mit sich bringt. Diejenigen, welche staatliche Funktionen ausüben, nehmen dann gerne für sich in Anspruch, ein allgemeines Interesse zu vertreten l76 • Grundsätzlich ist auch eine Konzeption der Vertretung von Wählerinnen und Wählern denkbar, bei der die Vertretenden aus einer abgeschlossenen Schicht oder Gruppe stammen. Die Mitglieder der Verwaltung und die Richterinnen und Richter unterliegen beispielsweise durch das Juristenmonopol177 und das Lebenszeitprinzip des Beamten- und Richterstatus l78 einer erheblichen Eingrenzung. Auch bezüglich der parlamentarischen Repräsentation wird heute die These aufgestellt, daß schon aufgrund der wachsenden Komplexität der Interessen eine personale Repräsentation von Interessen und sozialen Gruppen nicht möglich sei und sich die Repräsentativität des Parlaments im wesentlichen über seine Entscheidungen l79 und seine adäquate Funktionserfüllung l80 herstelle. 175 Vgl. etwa Robert Michels, Zur Soziologie des Partei wesens, S. 342 ff. "Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden."; Max Weber, Politik als Beruf (1919) in: Gesammelte politische Schriften, S. 505 ff. ; Adler, S. 169 ff. 176 Hegel, § 303 mit der Gegenüberstellung des "allgemeinen, sich näher dem Dienst der Regierung widmenden Stand" und des "Privatstands"; vgl. Marx, Kritik, S. 275, 280; Cerroni, S. 130; Demirovic, S. 84. 177 Vgl. § 5 Abs. 1 Deutsches Richtergesetz (DRiG).i.d.F.d.B.v. 19.4.1972 (BGB!. I, S. 713), zuletzt geändert durch G. vom 2.9.1994 (BGBl. I, S. 2278). 178 Vgl. § 5 Bundesbeamtengesetz (BBG) i.d.F.d.B.v. 27.2.1985, zuletzt geändert durch G. v. 14.9.1994 (BGB!. I, S. 2325), §§ 10,11 DRiG. 179 Dietrich Herzog, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979), S. 101 f. 180 Helmut Willke, Die Abwicklung der Politik (1993), S. 54 (79).
I. Demokratische Repräsentation
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Aus diesem Ansatz könnte konsequenterweise gefolgert werden, daß sich eine Rekrutierung der Abgeordneten aus einer bestimmten Schicht oder einer eingegrenzten Laufbahn mit dem Grundsatz der demokratischen Repräsentation vereinbaren ließe l81 • Fraglich ist, ob sich die Konzeption des demokratisch-repräsentativen Parlaments nach dem Grundgesetz mit einer vergleichbaren Einschränkung vertragen würde. Die politischen Theorien einander bekämpfender Elitengruppen (Mosca)182 oder eines Wettbewerbsmodells (Schumpeter l83 , Downs) setzen voraus, daß nur eine kleine Minderheit der Wahlberechtigten real für die Auslese oder Auswahl der politischen Führungsgruppe in Betracht kommt. Sie kritisieren dies nicht, sondern beschreiben Mechanismen, unter denen sich diese Auswahl vollziehe. Die - wie immer eingegrenzte - ·"politische Klasse" ist keine Klasse im Sinne einer ökonomischen Grundgruppe der Gesellschaft l84 . Eine eher beiläufige Anknüpfung an eine ökonomische Klassentheorie nimmt Klaus von Beyme aber vor, wenn er für die politische Klasse eine "Dieselbigkeit der Revenuen ,,185 konstatiert und sie als besondere Versorgungsklasse einstuft, die aufgrund Professionalisierung und Berufspolitikertum ihren Lebensunterhalt ganz oder überwiegend aus der staatlichen Bezahlung decke 86. Die politische Klasse befindet sich dann im Rahmen der Dienstklassen im Dahrendorfschen Sinne l87 , weil sie - zumindest nach ihrer Funktion - ein Teil des öffentlichen Dienstes ist. Jens Borchert und Lutz Golsch sehen in der Rolitischen Klasse diejenige Gruppe, die hauptberuflich" von der Politik lebt,,1 8. Dazu zählen sie Abgeordnete, Regierungsmitglieder, deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Teile der politischen Beamten und Beamtinnen, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen und politisch bestimmte Leitungspersonen in öffentlichen Institutionen und
181 So fordert Barteis, S. 50 ff., die Entwicklung zum Laufbahnpolitiker zu akzeptieren und für ihn adäquate Qualifikationskriterien zu entwickeln, so einen obligatorischen "Grund- und Aufbaustudiengang mit multidisziplinären Kenntnissen" sowie eine hohe Bezahlung entsprechend derjenigen von leitenden Angestellten. Im Ergebnis ähnlich argumentiert Willke, S. 54 (80), wenn er für "volle Professionalisierung (.. ) zu einer Laufbahn für politische Verantwortung" eintritt. 182 Dazu: Wilfried Rährich, Die repräsentative Demokratie (1981), S. 51 ff. 183 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), 5. A. (1980), S. 427 ff. Zur Kritik: Rährich, Demokratie, S. 122 ff; Wefelmeier, S. 84 ff. 184 Von Beyme, System, S. 243.
185 Dieses Kriterium wurde von Marx eingeführt, aber als zu wenig aussagekräftig verworfen, vgl. Karl Marx, Das Kapital, IIl. Band, 2. Teil; Adler, S. 90. 186 Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, S. 131 f. 187 Von Beyme, Parteienstaat, S. 106. 188 Vgl. Max Weber, S. 505 (545).
54 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Untemehmen l89 . Eine solche Einstufung allein ist aber nicht in der Lage, die besondere soziale Abgrenzung einer politischen Klasse von einer breiteren Gruppe öffentlich Bediensteter zu leisten. Viele neuere Ausarbeitungen der politischen Theorie benutzen den Begriff der politischen Klasse als Bezeichnung der politischen Entscheidungsträger, sie definieren sie von der Funktion her als Funktionsklasse l9o . Dabei gehören oft nur ein Teil der Bundestagsabgeordneten und nur ein geringer Teil der Landtagsabgeordneten, dagegen auch Regierungsmitglieder und politische Beamte und Beamtinnen, teilweise auch Partei-, Verbands- und Wirtschaftsangestellte zur "politischen Klasse,,191. Von Beyme ergänzt dies durch den Hinweis auf die Kommunikationsstrukturen dieser Gruppen, durch die diese sich als teilweise abgeschlossene Klasse darstellten l92 . Die Theorie der politischen Klasse als Funktionsklasse erklärt nicht, wie sich diese Klasse rekrutiert und reproduziert. Borchert und Golsch verbinden den Ansatz der Funktions- und der ökonomischen Klasse, indem sie nur diejenigen Teile der politischen Elite zur politischen Klasse zählen, die durch das ,.Leben von der Politik" ein Eigeninteresse an der Gestaltung ihres Arbeitsfeldes und ihrer sozialen Stellung bekommen l93 . Dietrich Herzog zeichnet für die "politische Klasse" im wesentlichen das verbindende Element eines vergleichbaren Karriereverlaufs 194, dessen heutige 189 Jens Borchertl Lutz Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien, PVS 1995, S. 609 (613 ff.). 190 Georges Burdeau, Die politische Klasse (1957), S. 258. "Die politische Klasse besteht aus der Gesamtheit der Personen (.. ), die (.. ) an den mit der politischen Autorität verknüpften Vorrechten teilhaben."; Dietrich Herzog, Zur Funktion der politischen Klasse in der sozialstaatlichen Demokratie der Gegenwart, in: Lelfl Legrandll A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland (1992), S. 126. 191 Von Beyme, Parteienstaat, S. 60 ff., beziffert diese Gruppe auf ca. 150 Personen im Bund. Hoffmann-Lange, Eliten, S. 93 f., rechnete 140 Bundestagsabgeordnete und insgesamt 93 Landtagsabgeordnete zur "politischen Elite" der Bundesrepublik; In einem weiteren Sinne sehen Peter Glotz, Rita Süssmuth und Konrad Seitz die "politische Elite" als "Funktionselite", der angehören "Berufspolitik, Bürokratie, Militär, poli.tischer Journalismus und Diplomatie" in: Die planlosen Eliten (1992), S. 27 f. Ahnlich die Definition des Schriftstellers Christoph Hein: (Die politische Klasse, Wochenzeitung Freitag, 23.2.1996): "Zur politischen Klasse rechnen sich die Politiker und sämtliche Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten wie Vereinsvorsitzende, Großverleger, Intendanten, Herausgeber (.. ), Bundesanwälte, Medientycoons, Kardinäle, Standartenträger, Leitartikler." 192 Von Beyme, System, S. 248. Ebenso Glotz! Süssmuthl Seitz, S. 27 f. 193 Borchertl Goisch, PVS 1995, S. 609 (614, 620 f.). Vgl. Walter Schmidt in H. Meyerl Stolleis, Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, 3.A. (1994), S. 51. 194 Dietrich Herzog, Karrieremuster von Abgeordneten in Deutschland - früher und heute, in: Politik als Beruf? (1979), S. 63 ff.; Thomas Meyer, SPD, Politische Klasse und politische Kultur in: Leifl Legrandl A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland (1992), S. 172.
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Charakteristika eine frühe politische Professionalisierung und die damit verbundene Entfremdung von einem anderen Beruf und dem Herkunftsmilieu sind l9s • Diese Entwicklungen sieht er als notwendige Folge der Funktion der politischen Klasse. Herzog konstatiert, daß eine Repräsentation sozialer Strukturen und selbst gesellschaftlicher Interessen in heutigen Vertretungskörperschaften nicht möglich, aufgrund der Komplexität der zu lösenden Probleme aber auch nicht sinnvoll sei, da Distanz und Flexibilität notwendige (strukturelle, nicht persönliche) Eigenschaften der Entscheidungsträger sein müßten l96 • Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch US-amerikanische Untersuchungen, die die zunehmende funktionale Differenzierung, aggregative Institutionalisierung und Problemkomplexität als Ursachen der Entwicklung zum BeC I"k rulSPO Itl er se hen 197 . Teilweise anknüpfend an Forschungsergebnisse von Herzog gibt Hilke Rebenstorf eine Untersuchung der politischen Klasse, die auf dem erweiterten Klassenbegriff von Pierre Bourdieu aufbaut und politikwissenschaftliche und soziologische Analysemethoden verbindet l98 • Sie sieht in der politischen Klasse eine Funktionselite, die im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine spezifische Form der Reproduktion und einen sozialen Habitus entwickelt hat. Sie stellt eine überdurchschnittliche Ausstattung ihrer Angehörigen mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, das heißt mit Geld und Eigentum, Bildungstiteln und sozialen Beziehungen fest. Durch die politische Arbeit in den Parteien und vor allem durch die parlamentarische Arbeit und ihre rechtlichen und informellen Regeln 199 bilde sich eine spezifische Sozialisation heraus, die Anforderungen an die Ausbildungs- und Berufsprofile schaffe und einen eigenen Habitus erzeuge, der die Abgrenzung der politischen Klasse bewirke20o • Diese reproduziere sich dann, indem sie selbst die ungeschriebenen,
D. Herzog, Karrieremuster, S. 63 (7If.). D. Herzog, Repräsentation, S. 307 (311). 197 Grell, S. 118 im Anschluß an G. F. Moncrief 198 Hilke Rebenstorf, Die politische Klasse (1995). Zu Methode und Terminologie S. 64 ff. 199 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 162 ff. beschreibt die "Parlamentskultur". 200 So schon Burdeau, S. 259 f.: "Die politische Klasse ist mithin zugleich Ausdruck einer Lebensform und Denkweise."; Schäuble, Das personale Element, S. 221 (227): "Zu beobachten ist (.. ) eine zunehmende Identifikation mit einem abgegrenzten Tätigkeitsbereich, mit bestimmten Gepflogenheiten, die Ausbildung eines speziellen 'esprit de corps', der die politische Klasse auch über Partei grenzen hinweg verbindet. das Ergebnis ist der modeme Typus des Berufspolitikers, des Lebenszeitpolitikers (.. )." 195
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
über den Habitus vermittelten Qualifikationsanforderungen schaffe, die über die Aufnahme neuer Mitglieder der politischen Klasse entscheide20I • Als Beispiele für die Entwicklung führt Rebenstorf an die Veränderung und Verfestigung des sozialstrukturellen Profils der Abgeordneten durch die politisch besonders stark mobilisierten Schichten aus dem öffentlichen Dienst Ende der sechziger Jahre und die Veränderung der Grünen und ihrer Abgeordneten durch parlamentarische Sozialisation 202 • Die Institution formt dann ihre Mitglieder stärker als diese die Institution 203. Wegen der besonderen, auch das Privatleben erfassenden Arbeits- und Funktionsbedingungen politischer Arbeit wirkt die politische Sozialisation stärker prägend als die in anderen Berufen . k same A npassung204 . wIr Die Arbeit von Rebenstorf zeigt, daß eine politische Klasse nicht in dem Sinne besteht, daß sie durch Vererbung oder Kooptation ihre Zusammensetzung souverän regeln könnte. Es besteht aber eine Verfestigung sozialstruktureller Merkmale der politischen Funktionsträger durch einen typischen Karriereverlauf und typische Qualifikationsanforderungen205. Die Rekrutierungsbedingungen bei der Aufstellung neuer Kandidaten und Kandidatinnen spielen dabei eine große Rolle206 • Dieses Muster ist elastisch für politische und soziale Interessengruppen, die ihre Integration erreichen können, übt aber zugleich einen Druck auf die Bestimmung der Vertreterinnen und Vertreter und die Art der Vertretung aus. Dieser Druck wird teils durch Integration und Ausgrenzung mit dem gesellschaftlichen Habitus vorgenommen, teils aber auch durch die Ausgestaltung des Parteien- und Geschäftsordnungsrechts und der rechtlich vorgenommenen sozialen Sicherung der Abgeordneten reproduziert und verstärkt. Klarzustellen ist dabei aber auch, daß dieser Prozeß größtenteils unbewußt und ungeplant verläuft und zudem durch die spezifischen Funktionsbedingun201 Ohne den Begriff des Habitus zu benutzen beschrieb schon 1928 Hermann Heller die Bedeutung der "Gleichheit der Konventionen" für die Verwirklichung politischer Demokratie, in: Politische Demokratie, S. 7 (17). 202 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 188 ff. Zu den Grünen S. 177 ff. Vgl. Lilian Klotsch! Klaus Könemannl Jörg Wischermannl Bodo Zeuner, Zwischen Systemopposition und staatstragender Funktion: Die Grünen unter dem Anpassungsdruck parlamentarischer Mechanismen in D. Herzog! Weßels (Hrsg.): Konfliktpotentiale und Konsensstrategien (1989), S. 180 ff. 203 Willke, S. 54 (76 f.). 2~ . . . Hans Apel, Die deformierte Demokratie (1991), S. 240 ff. 205 Christoph Hein, Die politische Klasse: "Der Begriff (der politischen Klasse) ist nicht zutreffend. Es wäre angebracht, von einer Kaste zu sprechen, der Politikerkaste. Noch korrekter wäre - denn die Mitglieder einer Kaste sind Hineingeborene, und soweit ist es noch nicht - die Bezeichnung Clique." 206 .. Vgl. Jochen A. Frowein, Uberwältigtes Modell - Parteien und Verfassungsstaat, FAZ, 13.9.1996.
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gen eines Parlaments als Teil eines modemen VerwaItungs- und Herrschaftsapparats detenniniert wird207 • Die so konstituierte politische Klasse kann ihre Gesetzgebungsbefugnis dann aber auch nutzen, um die Rahmenbedingungen ihrer politischen Tätigkeit abzusichern 208 und verändert dadurch den institutionel1en Kontext der Parlamente selbst; es besteht eine Interdependenzbeziehung zwischen Akteuren und Institution209 • b) Die "politische Klasse" in der Abgeordnetensoziologie Diese Ergebnisse der politischen Theorie sol1en an hand der soziologischen Daten über die Abgeordneten überprüft und konkretisiert werden. Die Abgeordnetensoziologie gibt wichtige Hinweise auf den realen Grad von Offenheit der politischen Repräsentation 21o • Dabei ist gerade wegen der subjektiven Elemente der Repräsentation und der Integrationsfunktion des Parlaments auch zu betrachten, in welchem Ausmaß die Zusammensetzung der Parlamente Gegenstand öffentlicher Diskussion ist. Die Zusammensetzung der Parlamente sol1 hier nur anhand von Kriterien überprüft werden, bei denen unterschiedliche soziale Lagen und Sicherungsinstrumente als Ursachen in Frage kommen. Die konfessioneUe Zusammensetzung ist daher beispielsweise nicht untersucht worden. Die regionale Verteilung der Abgeordneten scheint durch das System der Wahl in Wahlkreisen für Bundestag und Landtage211 sowie für den Bundestag nach Landeslisten 212 hinreichend detenniniert. aa) Die Dauer der Mandatsausübung Die Dauer der Mandatsausübung zeigt neben der Häufigkeit erneuter Aufstellung und Wahl auch die Bedeutung der Mandatszeit innerhalb der gesamten Biographie an. Die Abfolge von Tätigkeiten und Berufen mit ihren spezifischen Arten, Einkommen zu erzielen und soziale Sicherung zu organisieren im Laufe der Biographie ist wesentlich für Quelle, Art und Niveau der sozialen Sicherung der Individuen insgesamt. Durch die Veränderung von Habitus und EinsteUungen mit wachsender Entfernung von anderen Bezügen ist die Mandats207 Klatt, APuZ 40/1980, S. 25 (35). Vgl. auch Hermann Scheer, Parteien kontra Bürger? (1979), S. l36 ff. zu den konkreten Sozialisations- und Qualifikationsbedingungen in der politischen Arbeit. 208 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 198. 209 Borchertl Golsch, PVS 1995, S. 609 (617). 210 Vgl. zur Geschlechtergleichheit Uwe BerUt, Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 1996, S. 17 (59): "Denn paritätswidrige Lagen im Ergebnis indizieren vielfach fortbestehende Unterschiede in den Ausgangs- und Wettbewerbsbedingungen, mithin zu beseitigende Chancenungleichheiten." 211 Außer in Hamburg. 212 §§ 2-6 BWahIG.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
dauer zugleich wichtig für Verhalten und Einstellungen von Abgeordneten. Die häufige Wiederwahl als Ziel und Phänomen ist ein wichtiger Hinweis auf die Entwicklung der Abgeordnetentätigkeit zum Beruf als dauerhaft angelegter Tä. k . 213 tIg elt . Die durchschnittliche Verweildauer im Mandat der Bundestagsabgeordneten beträgt heute acht Jahre und lag vor der durch das Hinzukommen der Abgeordneten aus den neuen Ländern bedingten (atypischen) Verkürzung bei über zehn Jahren 214 • Bei Landtagsabgeordneten liegt die durchschnittliche Mandatsdauer mit ca. 5-8 Jahren niedriger215 • Im internationalen Vergleich sind Abgeordnete in anderen Staaten eher länger im Mandat 6 • Die Wiederwahlquote liegt bei 80% für eine einmalige Wiederwahl, bei zwei Drittel für eine zweite, 50% für eine dritte und 30% für eine vierte Wiederwah1 217 . Bei Abgeordneten, die mehr als vier Wahlperioden im Parlament verbleiben, kann davon gesprochen werden, daß die Abgeordnetentätigkeit ihre Biographie insgesamt dominiert. Ihr Anteil liegt zu Beginn der xm. Wahlperiode bei 19,2 % (129)218. Diese Quote liegt momentan aber niedriger als der oben referierte Wiederwahlschnitt, da die deutsche Vereinigung zu einem Hinzutreten zahlreicher neuer Abgeordneter geführt hat. In den Landtagen liegt der Anteil der langzeitig tätigen Abgeordneten niedrige/ 19 • bb) Männliche und weibliche Abgeordnete Zwischen Männern und Frauen bestehen erhebliche Unterschiede im Verlauf der Erwerbsbiographie, in den Auswirkungen generativen Verhaltens, im Zugang zu Einkommens- und Statusschancen, die sich im System der sozialen Sicherung widerspiegeln und reproduzieren. Angesichts der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern, die auch als Unterschied von politischen Werten, Einstellungen und Prioritäten sowie als gesellschaftsstrukturierender Widerspruch wahrgenommen wird, ist die Zusammensetzung der Parlamente nach Geschlechtern bedeutsam. 213
Borchertl Golsch, PVS 1995, S.609 (620); Wolfram Höfling, Amtsgedanke und Bürgervertrauen, ZRP 1988, S. 396 (398). 214 Heino Kaack, Abgeordnetensoziologie des Deutschen Bundestages, ZParl 1987, S. 169 (176) für das Ende der 10. WP 10,52 Jahre; Bericht der Kommission vom 15.6.1990, BT-Drucks. 1117398, S. 13: acht Jahre. Ulrich Dübber, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979): sieben Jahre, sieben Monate, ca. ein Viertel des Berufslebens. 215 Stefan Hall, Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg (1989), S. 71. 216 Vgl. Petra Beckmann-Schulz, Rezension, ZParl 3/1995. 217 Von Beyme, System, S. 239. 218 Kürschners Volkshandbuch für die XIII. WP, Stand 1.3.1995, S. 300. 219 Holl, Baden-Württemberg, S. 71.
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Zu den zentralen (und zunächst einfachen) Befunden der Abgeordnetensoziologie gehört, daß Männer zu einem weit höheren Anteil Abgeordnete sind, als es ihrem Anteil an der wahlberechtigten Bevölkerung entspricht. Der Frauenanteil steigt seit ca. zwanzig Jahren an und hat inzwischen im Bundestag 26,4% erreicht220 . Im internationalen Vergleich ist der Frauenanteil in Deutschland relativ hoch221 und liegt nur in den skandinavischen Ländern signifikant höherm . Heute liegen die Anteile der Frauen in den Landtagen bei 11,6% (Baden-Württemberg)223, 21,1% (Bayern)224, 21,8% (Rheinland-Pfalz)225, 24,8% (Niedersachsen)226, 26,1% (Thüringen)227, 28,2% (Mecklenbur Vorpommern)228 , 28,3% (Sachsen)229, 29,4 % (Nordrhein-Westfalen)20, 30,3% (Sachsen-Anhalt)231 , 31,4% (Saarland)232, 34,1% (Brandenburg)2B, 34,8%
ft-
220 Kürschners Volkshandbuch für die XIII. WP, Stand 1.3.1995; Beate Hoecker, Parlamentarierinnen im Deutschen Bundestag, ZParl 1994, S. 556 (559) nennt für die XII. WP 20,5% Frauen, 79,5 % Männer; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980-1987, S. 179 für die Xl. WP: 15,4% Frauen, 84,6 % Männer. In den ersten fünf Wahlperioden zwischen 6,9 (V.) und 9,2 (III.) %, nach Loewenberg, S. 127, der dies als im europäischen Vergleich relativ hoch einschätzt. In der WNV 19199,6% Frauen, in den Reichstagen zwischen 8,0% (I., 1920) und 3,5% (VIII., 1933) fallender Anteil nach Liese/oue Berger/ Lenelotte von Bothmer/ Helga Schuchardt, Frauen ins Parlament? (1976), S. 91. 221 In den USA waren 1995 10,3% der Kongreßabgeordneten und 8% der Senatsmitglieder weiblich, vgl. Birgit Meyer, Amerika, hast Du es besser? Zur politischen Partizipation von Frauen in den USA, APuZ Nr. 21-2211996, S.35 (36 f.); ebenso in den Bundesstaaten, Winfried Gretz, Politische Eliten im internationalen Vergleich - Eine Studie über die Parlamentsmitglieder in South Carolina und Baden-Württemberg (1993), S. 89, nennt 10% für die General Assembly von South Carolina. m Vgl dazu Beryl Nicholson, From Interest Group to (almost) Equal Citizenship: Women's Representation in the Norwegian Parliament, Parliamentary Affairs 1993, S.255 und Sören Holmberg, Politische Repräsentation in Schweden in: Pappil H. Schmitt, Parteien, Parlamente und Wahlen in Skandinavien (1994), S. 109 (115); Walter Hollstein, Ende der Frauenpolitik? APuZ Nr. 42/1996, S.41 nennt 41 % für den schwedischen Reichstag. 223 Xl. Wahlperiode, Stand Januar 1994 It. Volkshandbuch. Zu den besonderen und allgemeinen Erscheinungsformen der besonders niedrigen Frauenrepräsentanz in Baden-Württemberg vgl. Holl, Baden-Württemberg, S. 100 ff. 224 XIII. WP, Stand Dezember 1994 It. Volkshandbuch. 22S XII. WP, Stand August 1992 It. Volkshandbuch. 226 XIII. WP, Stand Dezember 1994 It. Amtlichem Handbuch. 227 11. WP, Stand März 1995 It. Volkshandbuch. 228 11. WP, Stand Mai 1995 It. Volkshandbuch. 229 11. WP, Stand Dezember 1994 It. Volkshandbuch. 230 XII. WP, Stand Juni 1995 It. Amtlichem Handbuch. 231 11. WP, Stand Oktober 1994 It. Volkshandbuch. m X. WP, Stand Oktober 1991 It. Volkshandbuch. m 11. WP, Stand Dezember 19941t. Volkshandbuch.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
(Schleswig-Holstein)234, 35,5% (Hamburg)235, 37,3% (Hessen/ 36 und 38,8% (Berlin)217. In den Landtagen lag der Anteil der Frauen bis 1976 zwischen 6,7% und 7,9% und begann danach deutlich anzusteigen238 . Die Zusammensetzung der Parlamente nach Geschlechtern ist wegen der Unterrepräsentanz von Frauen starker Kritik ausgesetzt. Ihre Veränderung wird von vielen politischen Kräften ausdrücklich als Ziel betrachtet2l9 • Eine gleichmäßige Vertretung von Frauen und Männem als Abgeordnete erscheint auch als notwendige Folge des grundgesetzlichen Gebots der Gleichstellung240 . cc) Die Altersschichtung Durch die Notwendigkeit langer Bildungs- und Bewährungszeiten vor dem Beruf und im Beruf, durch das Anwachsen von Ansprüchen und Anwartschaften ist das Alter der Abgeordneten für deren soziale Sicherung erheblich. Die unterschiedliche Prägung politischer Anschauungen und Werte nach "Generationen" und deren unterschiedlichen Erfahrungen spielt im politischen System eine wachsende Rolle. Von der Altersschichtung her sind in den Parlamenten (bei Bildung von Zehnjahres-Kohorten) die 40-50-jährigen und die 50-60-jährigen deutlich stärker vertreten, als es ihrem Anteil an der wahlberechtigten Bevölkerung ent-
234 XIII. WP, Stand Dezember 1993 It. Volkshandbuch. 235 XV. WP., Stand 1993 nach Inge Grolle/ Rita Bake, "Ich habe Jonglieren mit drei Bällen geübt", S. 173. 236 XIV. WP, Stand August 1995 It. Volks handbuch. 237 XIII. WP, Stand März 1996 It. Volkshandbuch. 238 1986 lag der Anteil der Frauen in Landtagen zwischen 7,1% (BadenWürttemberg) und 12,9% (Niedersachsen) bei Flächenstaaten, in den Stadtstaaten deutlich höher (Hamburg 33,3%). 1988 waren bereits Werte von 8,8% (BadenWürttemberg) bis 28,3% (Schleswig-Holstein) und 36,4% (Berlin) erreicht. Vgl. Beate Hoecker, Frauen in der Politik (I 986), S. 62-67; Elke Schnitger, Frauen und Parlamente (1990), S. 217-225. 219 Glotz! Süssmuth! Seitz, S. 205 ff.; Hamm-Brücher, Gewissen, S.65; HansJochen Vogel, Demokratie und Elite in: Leifl Legrand/ A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland (1992), S. 104: "völlig unbefriedigend"; Berliner Grundsatzprogamm der SPD, S. 82: "Frauen und Männer sollen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Parlamenten vertreten sein." Vgl. Von Beyme, System, S. 228 ff. 1987 meinten 26,9% der Befragten einer Untersuchung, mehr Frauen im Parlament wären eine Verbesserung, 10,9% würden dies als Verschlechterung werten, 50,7% sähen keine Veränderung. In acht von zwölf damaligen EG-Ländern überwogen die Befürworter weit die Gegner stärkerer Frauenrepräsentanz, nach Gabriel, S.560. 240 Hans-Peter Schneider, Die Gleichstellung von Frauen in Mitwirkungsgremien der öffentlichen Verwaltung (I 991), S. 41: ..( .. ) (wird) inzwischen allgemein als Skandal empfunden (.. )".
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spricht, dagegen sind die Gruppen darunter und darüber schwächer vertreten 24\ • Die Frauen im Bundestag waren lange Zeit im Durchschnitt älter als die Männer, sind aber mittlerweile im Schnitt jünger242 • Die Altersschichtung ist, was den niedrigen Anteil der unter 40-jährigen angeht, historisch ziemlich konstant. Dagegen ist der Anteil der über 60-jährigen erst in den letzten dreißig Jahren marginalisiert worden 243 • Der Eintritt in die "politische Karrierespitze" ist heute im Schnitt mit 52 Jahren erreicht, seit 1949 hat sich dieser Wert um fünf Jahre verringert244 • Stefan Holl stellt fest, daß Landtagsabgeordnete überwiegend eine zweite (Abgeordneten-)Karriere nach einer vorangegangenen Berufskarriere durchlaufen 245. In der Öffentlichkeit und Sozialwissenschaft ist umstritten, ob eine repräsentative Altersstruktur ein anstrebenswertes oder erreichbares Ziel ist. Die Einengung auf die mittlere Generation wird kritisiert246 , eine höhere Repräsentanz der jüngeren247 und älteren 248 Generation wird gefordert. Für die jüngere Generation wird bereits vereinzelt eine feste Mindestquote für notwendig gehalten249 • Da-
24\ Kürschners Volkshandbuch zur XIII. WP, Stand 1.3.1995, S. 300: 0,9 % unter 30, 10,0% 30-40; 30,8% 40-50; 47,5% 50-60; 10,3% 60-70; 0,6% über 80; Schindler, Datenhandbuch, S. 167 zur XI. Wahlperiode: Bei Beginn 0,6 % unter 30, 10,8% 30-40,40,4% 40-50,37,2% 50-60, 10,2% 60-70, 0,8% 70-80; vgl. Burmeister, Die Professionalisierung der Politik (1993), S 102. Zum niedrigen Durchschnittsalter von 43,5 Jahre in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Kühne, Reichsverfassung, S. 55 f.; Holl, Baden-Württemberg, S. 61 ff., stellt bei vergleichender langfristiger Betrachtung der Landtage von Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern sowie des Bundestags fest, daß die 40-49-jährigen und die 50-59jährige seit Mitte der sechziger Jahre alle Parlamente dominieren. 242 Hilke Rebenstorf, Frauen im Bundestag - anders als die Männer? in Hoffmann-Lange (Hrsg.) Eliten in der Bundesrepublik Deutschland (1990); Hoecker, Frauen, S. 83. 243 Im 111. Bundestag 19%, nach Loewenberg, S. 116. Dieser Prozeß hat in anderen Staaten nicht oder noch nicht stattgefunden, vgl. Gretz, S. 66 ff. In S. C. stellen die über 60-jährigen fast 20% des Repräsentantenhauses mit wachsender Tendenz. 244 Von Beyme, System, S. 239 f. 245 Holl, Baden-Württemberg, S. 62. 246 Apel, Deformierte Demokratie, S. 248f. 247 Erich Mende in: 40 Jahre Deutscher Bundestag, S. 145; Günter Verheugen/ Thomas Westphal. Kampagnenfähigkeit und Parteireform in: Volker Grube! Birgit Zoemer, Kampagnen, Dialoge, Profile (1995), S. 74 (82). In Schleswig-Holstein gelang es beispielsweise bei der Kandidatenaufstellung der SPD zur Landtagswahl 1996 keinem Kandidaten unter 39 Jahren einen aussichtsreichen Platz zu bekommen, vgl. Kai Dordowsky, Ein Juso in den Landtag, Stormarner Tageblatt, 2.10.1995; Sven Kummereincke, Kommentar, Ahrensburger Zeitung, 24.5.1995. 248 H.-J. Vogel, Elite, S. 104. 249 Hans-Peter Schneider, HdbVerfR, S.598. Beschluß des SPDLandesparteitages Schleswig-Holstein vom 21.9.1996 (10% für unter 35-Jährige).
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gegen wird aber auch in Jahren gemessene Lebens- und Berufserfahrung ver. Iter notwend'Ig an he bt25\ . Iangt250 , d'le aber das E'mtnttsa dd) Abgeordnete mit Kindern und ohne Kinder Die Vertretung von Eltern und Kinderlosen unter den Abgeordneten ist sowohl aus politischen Gründen - wegen der unterschiedlichen Erfahrungswelten und Interessenlagen - wie auch zur Ermittlung möglicher Probleme der sozialen Sicherung der Abgeordneten interessant. Die Unterschiede zwischen Eltern und Kinderlosen im Zugang zu Einkommenschancen und in der sozialen Sicherung ihrer Person und der von ihren Unterhaltsleistungen Abhängigen sind in den letzten Jahren verstärkt thematisiert und auch zum Thema der politischen Auseinandersetzung gemacht worden. Der Anteil von Abgeordneten, die für mindetjährige Kinder sorge- und unterhaltsverpflichtet sind, ist aus den statistischen Daten nur schwer zu ermitteln. Er liegt aber für Männer über dem Durchschnitt der wahlberechtigten Bevölkerung, für Frauen dagegen erheblich darunter252 • Das gesunkene Durchschnittsalter von Frauen im Bundestag scheint zu einem erheblichen Teil dadurch erklärbar, daß Frauen ohne Kinder dort tätig werden, teilweise auch mit einer verkürzten Phase ausschließlicher Familienbindung253. ee) Beruf, Ausbildung und Studium Der Beruf als Quelle des Erwerbseinkommens ist für die Ausgestaltung der sozialen Sicherung wesentlich. Zugleich prägt er als Teil der individuellen 250 Scheucht Scheuch, Cliquen, fordern eine obligatorische Berufserfahrung von zehn Jahren, S. 123 und wenden sich geradezu haßerfüllt gegen jüngere Abgeordnete, S. 152 ff und schließen - empirisch widerlegbar - auf einen stetig steigenden Anteil jüngerer Abgeordneter: "Die Jugendorganisationen sind die wichtigsten Brutstätten von Seilschaften innerhalb der Parteien. das bestätigt sich nicht zuletzt durch die Tatsache, daß im XII. Bundestag 50 Politiker sitzen, die jünger als 35 Jahre sind gegenüber nur vier solcher Abgeordneter im XI. Bundestag." (S. 155). Skeptischer und sachlicher Holl, Baden-Württemberg, S. 123, der für die Landtagsabgeordneten eher einen geringen Bezug zur Tätigkeit in den Jugendorganisationen ausmacht. Zurückhaltender zu den Ansichten in der Wahlbevölkerung: Von Beyme, Parteienstaat, S. 124: "Nicht akzeptiert wird der Politiker, der keine Berufserfahrung hat." Vgl. Patze/t, Beruf (1995), S. 320 f. 251 Frank Christian Starke, Krise ohne Ende? (1993), S. 163. 252 Kürschners Volkshandbuch für die XIII. WP., Stand 1.3.1995, S. 301: 81,5 % der männlichen Abgeordneten und 68,75% der weiblichen Abgeordneten gaben Kinder an. In der X. Wahlperiode des Deutschen Bundestages waren 82,1 % der männlichen Abgeordneten verheiratet und hatten mindestens ein Kind, dagegen nur 49 % der weiblichen Abgeordneten; nach Hoecker, Frauen, S. 87. In der XI. WP verstärkt sich dieser Abstand auf 83% gegen 45%. 253-Rebenstoif, Politische Klasse, S. 54 f. Vgl. dazu z.B. die Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, Ute Pape, in Grolle! Bake, S. 185.
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Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung auch die politischen Anschauungen 254 • Die Zuordnung der Einzelnen zu einem Beruf ist ein wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Identität255 • Im besonderen Maße Gegenstand öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses ist daher die Frage des vor Annahme eines Mandats oder während des Mandats ausgeübten Berufes der Abgeordneten. Hier ergeben sich wegen der Ungenauigkeit der Erhebungs- und Vergleichsmethode Schwierigkeiten, aussagekräftige Befunde zu erhalten 256 • Mangels anderer Erhebungsmethoden muß auf die Berufsangaben der Abgeordneten zurückgegriffen werden, die sich teils auf einen noch, teils auf einen bis zur Mandatsübernahme oder auf einen nur erlernten Beruf beziehen. Nahezu alle Abgeordneten haben eine abgeschlossene Berufsausbildung und zumindest erste •• 257 berufliche Erfahrungen vor Ubernahme des Mandats . Bereits hier ist der Maßstab schwierig, an dem die Repräsentation gemessen werden soll: an der Gesamtbevölkerung, an der Wahlbevölkerung, an den Erwerbstätigen? Den immanenten Regeln des demokratischen Prozesses wäre die Wahlbevölkerung die beste Vergleichsgruppe. Doch stößt die soziale Verortung der Gruppen der Studierenden und Lernenden, der Arbeitslosen, der aus familiären Gründen nicht Erwerbstätigen und der Rentnerinnen und Rentner, Pensionärinnen und Pensionäre auf erhebliche Schwierigkeiten, da sich diese oft aufgrund des erlernten Berufs oder des sozialen Status ihrer Familie selbst einordnen. Werden Bürgerinnen und Bürger aus einer dieser Gruppen Abgeordnete, so verlassen sie diese geradezu automatisch, weil sie als Abgeordneter eben der Erwerbsbevölkerung zugehören 258.
254 Vgl. Heinrich Best, Die Männer von Bildung und Besitz (1990), S. 49 und ff.: "Das Verhältnis von Politik und Beruf ist das am häufigste intonierte und mit Daten am reichsten instrumentierte Thema einer Soziologie politischer Eliten." 255 Vgl. Bourdieu, Sozialer Raum, S. 25 ff: "Eine Berufsbezeichnung, ein Titel bildet (wie Lohn oder Gehalt) eine positive oder negative Vergütung, im Sinne einer Unterscheidung (Emblem oder Stigma), deren Wert sich nach der Stellung innerhalb eines hierarchisch gestaffelten Systems von Titel richtet und die auf diese Weise zur Festlegung der jeweiligen Positionen von Akteuren und Gruppen beiträgt ... 256 VgI dazu Ludger Anselrn Versteyl, Plädoyer zur Vereinheitlichung der Berufsbezeichnung der Abgeordneten, ZParl 1970, S. 27 ff.; Hartrnut Klatt, Die Verbeamtung der Parlamente, APuZ 44/1 980, S. 25 (29). 257 Patzelt, ZParl 1996, S. 462 (465). 258 Vgl. Heino Kaack, Die soziale Zusammensetzung des Deutschen Bundestages in: Thaysen/ Davidsonl Livingston, US-Kongreß und Deutscher Bundestag (1988), S. 128 (148): "Der Bundestag ist ein Parlament der berufstätigen Bevölkerung." Hartrnut Klatt, Die finanzielle Stellung der Abgeordneten, ZParl 1971, S.344 (365), streift dieses Problem durch die Feststellung: "Würde der Bundestag die Bevölkerung im Maßstab I: 100000 repräsentieren, dann müßten annähernd 50 Prozent der Parlamentsmitglieder von Beruf Hausfrau sein."
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Insbesondere das Problem der Repräsentation der wachsenden aus dem Erwerbsleben dauerhaft oder für längere Zeit ausgegrenzten Unterschicht kann durch einen Vergleich mit der Erwerbsbevölkerung nicht adäquat erfaßt werden. Die dauerhafte Existenz einer solchen Schicht in der Gesellschaft ist aber ohnehin eine Aushöhlung der notwendigen Grundlagen eines demokratisch-repräsentativen Systems, die dessen Existenz gefährden kann. Dieses Problem ist mit den Mitteln der sozialen Sicherung Abgeordneter nicht lösbar. Als Vergleichsbasis dieser Ausarbeitung soll daher unter Berücksichtigung der genannten Einschränkun~en und methodischen Probleme die Erwerbsbevölkerung herangezogen werden 59. In der Erwerbsbevölkerung wird zunächst nach dem wirtschaftlichen Status zwischen selbständig und abhängig Beschäftigten unterschieden. In den Parlamenten ist ein höherer Anteil von Selbständigen im Vergleich zu den abhängig Beschäftigten festzustellen. Bei einem Anteil von rund 10% an der Erwerbsbevölkerung stellen sie über 20% der Abgeordneten 260. Unter den abhängig Beschäftigten ist die Aufteilung nach Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten weithin aufgebrochen und wird auch im Arbeitsund Sozialrecht zugunsten eines einheitlichen Begriffs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Beschäftigten aufgegeben. Eine wichtige statusrelevante 259 Der Anteil an der Gesamtzahl der 34.881.000 Erwerbstätigen (= 42,8 % der Bevölkerung; 1994) 82,6% für die Arbeitnehmer, 7,2 % .für die Beamten und 10,1% für Selbständige und mithelfende Familienangehörige. Uber 20% der abhängig Beschäftigten waren im Öffentlichen Dienst beschäftigt, von diesen 33,5 % als Beamte, nach Fischer Weltalmanach 1996, Sp. 233. Der Anteil des öffentlichen Dienstes an der Gesamtheit der Erwerbstätigen betrug 18,64%. 260 Emil-Peter Müller, Wirtschaftliche und soziale Interessen im XII. Deutschen Bundestag, ZPari 1992, S. 5, 7: insgesamt 23,2 % MdB aus selbständigen Berufen, 72,9 % aus abhängigen Berufen einschließlich Beamte und Regierungsmitglieder; Adalbert Hess, Statistische Daten und Trends zur 'Verbeamtung der Parlamente' in Bund und Ländern, ZParl 1976,37,42: in den Länderparlamenten: 22,0 % MdL aus selbständigen Berufen, 70,8 % aus abhängigen Berufen. Vgl. lsmayr, Bundestag, S. 57f., der Unternehmern, dem selbständigen Mittelstand und Rechtsanwälten bescheinigt, besonders begünstigt zu sein. Ebenso Klatt, APuZ Nr. 4011980, S. 25 (31); Holl, Baden-Württemberg, S. 81 ff. bestätigt dies für den Baden-Württembergischen Landtag und nennt ca. 20% als Anteil. Best, S. 59, nennt für die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 16,7% Freiberufler, 7,2% Unternehmer, 6,8% Landwirte, 0,8% selbständige Handwerker, zusammen über 30% Selbständige. Die Behauptung, Freiberufler und Selbständige seien "unterrepräsentiert" findet sich in der politischen und wissenschaftlichen Debatte häufig, ist aber am Maßstab der gesamten Erwerbsbevölkerung nicht zu belegen. Vgl. Herbert Schneider, Länderparlamentarismus, S. 64. Im Berliner Abgeordnetenhaus wurden 1980 sogar 55% Selbständige gezählt, nach Horst Nauber, Das Berliner Parlament (1980), S.337; 1985 allerdings noch 30%, Nauber, 5.A. (1986), S. 368. Vgl. auch die Wahrnehmung der Schweizer Verhältnisse bei Konrad Mrusek, Schweizer Manager im Spagat zwischen Wirtschaft und Politik, FAZ, 14.10.1995, der dem Schweizer Nationalrat eine höhere Repräsentativität bescheinigt als dem Deutschen Bundestag und dann aufzählt: "Am stärksten vertreten sind Anwälte, Lehrer und Professoren sowie Landwirte. Doch man findet auch Ingenieure, Architekten (.. ) Journalisten, (.. ) Gewerbetreibende."
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Aufteilung ist aber diejenige zwischen privatwirtschaftlich abhängig Beschäftigten und im öffentlichen Dienst Beschäftigten und unter diesen wieder zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Beamtinnen und Beamten. Zu beachten ist, daß viele Abgeordnete vom Status her Angestellte eines Verbandes oder einer Partei waren bzw. noch sind und somit in der eigenen Zuordnung, in sozialen Kontakten und politischen Präferenzen eher zu der sozialen. Gruppe neigen, die der Verband organisiert und die sich teilweise selbst durch einen selbständigen Status auszeichnet. Bei einer Betrachtung anhand dieser Kriterien sind die im öffentlichen Dienst Beschäftigten im Verhältnis stärker vertreten als die in der privaten Wirtschaft abhängig Beschäftigten. Rund 20 % aller abhängig Beschäftigten arbeiten im öffentlichen Dienst, unter dem nach Abzug der Selbständigen verbleibenden Teil der Abgeordneten stellen sie - je nachdem ob die Regierungsmitglieder mitgerechnet werden oder eine eigene Kategorie bilden - etwas mehr oder weniger als die Hälfte 261 • Der öffentliche Dienst ist - je nach Berechnungsgrundlage - zwei- bis dreimal so stark vertreten wie in der Erwerbsbevölkerung 262 • Unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind wiederum die Beamten und Beamtinnen - auch ohne Regierungsmitglieder - in einer sehr deutlichen Überzahl gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern 263 sowie die Angehörigen des gehobenen und höheren Dienstes weit stärker vertreten als diejenigen der einfachen und mittleren Dienstes 264 • Der Anteil der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ist seit einigen Jahren nicht mehr nen261 E.-P. Müller, ZPari 1992, S.5, 7: 46,0 % aller MdB aus dem öffentlichen Dienst, 26,9 % aller MdB Arbeiter oder Angestellte aus der Privatwirtschaft (inc!. Pfarrer); Hess, ZPari 1976,37,42: in den Länderparlamenten: 45,9 % aller MdL aus dem öffentlichen Dienst, 24,9 % aus der Privatwirtschaft. Michael Freytag, Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentsreform (1990), S.93 nennt nach Schindler für die VI. WP 42,9%, VII. 46,2%, VIII. 46, I %, IX. 44,6%,X: 47,7 %, XI. 46,6 % Angehörige des Öffentlichen Dienstes. Nach Loewenberg in der III. WP. ein Drittel einschließlich Regierungsmitglieder, S. 148 f. Vg!. Von Beyme, System, S. 232 f. Für die FNV 1848 nennt Best, S. 59 56,2% Angehörige des öffentlichen Dienstes. Zu beachten ist der relative Anstieg des Anteils der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen bis zu den 70er Jahren, vg!. Prodromos Dagtoglou, Die verfassungspolitische Problematik einer Reform des öffentlichen Dienstes in: Verfassungspolitische Probleme einer Reform des öffentlichen Dienstrechts (1973), S. 31. und Roman Herzog, Verfassungspolitische Perspektiven einer Reform des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland, ebenda, S. 253 f. 262 Klau, APuZ 4411980, S. 25 (30) nennt das Dreifache. 263 E.-P. Müller, ZParl 1992, S. 5 (7): 39,4 % aller MdB Beamte, Richter oder Regierungsmitglieder, 6,6% aller MdB Angestellte des öffentlichen Dienstes. Holl, Baden-Württemberg, S. 85 ff. spricht von ca. 60 % der Landtagsabgeordneten in Baden-Württemberg. Freytag, S.93 nennt nach Schindler für die VI. WP 28,6%, VII. 30,7%, VIII. 30,5%, IX. 32,8%, X: 31,1%, XI. 32,2% aller Abgeordneten als Beamte. 264 Apel, Deformierte Demokratie, S. 244.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
nenswert gestiegen 265. Der Anteil öffentlich Bediensteter in den Parlamenten scheint sich innerhalb der Europäischen Union auf hohem Niveau anzunähern 266 • Auch bei der Berufsstruktur der Bundestagsabgeordneten hat eine Angleichung zwischen den Fraktionen stattgefunden, die an diesem Punkt in den Anfangsjahren der Bundesrepublik wesentlich stärker differierten als früher267 • Unter den grundlegend anderen politischen und sozialen Bedingungen der DDR war die soziale Zusammensetzung der Volkskammer von den Daten der Bundesrepublik stark abweichend268 • Teilweise quer zu den Berufsangaben liegt die Frage nach dem Anteil der Berufspolitiker und Berufspolitikerinnen. Diese Gruppe von Personen, die ihre gesamte oder einen relevanten Teil ihrer Erwerbsbiographie mit hauptberuflicher Politik verbringt und diese auch zum Kern seines beruflichen Selbstverständnisses macht, existiert im Parlamentarismus seit langem und wird für das politische System in seiner heutigen Gestalt in der Politikwissenschaft für unverzichtbar gehalten 269 , obwohl der Begriff oft negativ konnotiert wird 270 • Es gibt aber - da die politische Profession teilweise verschleiert oder nicht bewußt gemacht wird - keine Methode, ihren Anteil aussagekräftig zu bestimmen 271 • Auch das Selbstverständnis der Abgeordneten, die sich oft als Berufspolitiker und -politikerinnen und zugleich als Angehörige eines anderen Berufs 265 Klatt, APuZ 44/1980, 25, (30) fragte, ob die niedrigere Zuwachsrate eine "Stabilisierung auf höchstem Niveau oder aber eine echte Tendenzwende" darstelle. Es scheint eher eine Stabilisierung eingetreten zu sein. 266 Heinrich Best nach o.V., Europas Parlamente der Beamten, HA, 30.7.1997. 267 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 147. 268 Handbuch für den Abgeordneten (1984), Stichwort "Volkskammer" nennt 47,2% Arbeiter, 10,4% landwirtschaftlich Beschäftigte, 23,0% Angehörige der Intelligenz, 17,8% Angestellte, 1,6% Sonstige. 269 Hans-Hugo Klein, Status des Abgeordneten, HStR 11, § 41, S. 367 (373); Kerstin Burmeister, Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland (1993), S. 90 ff. Thomas Ellweinl Joachim Jens Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (1987), S.243; Loewenberg, S. 86 ff.; Fraenkel, Akademische Erziehung, S. 315 (323 ff.). 270 Vgl. Loewenberg, S. 71. 271 Nach Kaack und Jsmayr, Bundestag, S. 53 f., könnten als Berufspolitiker im engeren Sinne diejenigen bezeichnet werden, die bereits vor erstmaliger Mandatsübemahme ein Amt ausgeübt haben, für das Parteiaktivitäten unerläßliche Voraussetzung sind; diese beziffert Kaack auf 26,2 % für die IX. WP. Vgl. Kaack in Thaysenl Davidsonl Livingston, S. 132. Das Problem der Unbestimmtheit des Berufspolitikerstatus benennt Huber, Bd. III, S. 891 bereits für den Reichstag des Kaiserreichs: "Die Anzahl dieser Berufsparlamentarier ... ist kaum festzustellen. Auch wer sich Beamter, Gelehrter oder Arbeiter nannte, konnte in Wahrheit ein Berufspolitiker sein."
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sehen, hilft hier nur bedingt weiter272 • Die Definitionsmacht über die Berufszugehörigkeit der Abgeordneten liegt zu einem großen Teil bei ihnen selber273 • Dazu kommt, daß sie eben über kein festgelegtes "Berufsbild" verfügen 274 • Die Ausbildung zur beruflichen Politik, sei sie lebenslang oder nur für vier Jahre, erfolgt nicht nach festen Regeln oder einem Plan, sondern allein in der Sozialisation durch die Partei- und Parlamentsarbeit im "on-the-job-training ,,275. Bei einem nicht eingeengten Begriff des Berufs, der diesen weder als ausschließlich, noch als lebenslang definiert276 , sind fast alle Bundes-, Europa- und Landtagsabgeordneten heute Berufsabgeordnete. Schul- und Berufsausbildung sowie Studium und die dadurch vermittelten Abschlüsse determinieren zwar nicht unmittelbar Beruf und soziale Sicherung, führen aber zu wichtigen Vorentscheidungen über deren Ermöglichung und Zuteilung ("kulturelles Kapital"). Sie sind zugleich wichtige Agenturen für die Herausbildung des gesellschaftlichen und politischen Habitus. Abgeordnete ordnen sich oft selbst einer Berufsgruppe vor allem aufgrund ihrer Ausbildung D7
zu .
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hn Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist ein signifikant höherer Anteil von Abgeordneten mit Hochschulabschluß gegenüber anderen Bildungswegen festzustellen 278 • Unter diesen sind wiederum insbesondere juristische Ausbildungen, in zweiter Linie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Pädagogik überrepräsentiert279 • Als spezifische Folge des Umbruchs in der DDR sind unter den 272 Nach Holl, Baden-Württemberg, S. 171 f., stuften sich 49,4 % der befragten MdL als Berufspolitiker ein; diese Selbsteinstufung hing nicht von der Mandatsdauer, sondern eher vom Lebensalter ab: Jüngere Abgeordnete bezeichneten sich unbefangener als Berufspolitiker. VgI. Borchert/ Golsch, PVS 1995, S. 609 (610). 273 Zur Bedeutung der Definitionsmacht über Berufsbezeichnungen Bourdieu, Sozialer Raum, S. 25. 274 Hans Boldt, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979), S. 83. 275 Hermann Scheer, Parteien, S. 136 f.; zur Problematik z.B. Johannes E. Strelitz, 30 Jahre Hessischer Landtag in: Dreißig Jahre Hessische Verfassung (1976), S. 101 (111). 276 So z.B. Stellungnahme des Deutschen Bundestags in BVerfGE 40, S. 296 (302). 277 Versteyl, ZParl 1970, S. 31. 278 Kürschners Volkshandbuch für die XIII. WP., Stand 1.3.1995, S.303: 71,1 % mit höherem Schulabschluß, 62,9% mit Universitätsabschluß. Holl, BadenWürttemberg, S.75: 67,5 % Akademiker in der IX. WP des Landtags von BadenWürttemberg. Nauber, 3.A., S. 339: 77,8% Akademiker in der VIII. WP des Berliner Abgeordnetenhauses, 5.A., S. 363: 64,4% in der X. Wahlperiode; VgI. für die Führungsgruppe im engeren Sinne Hoffmann-Lange, Eliten, S. 125: 85,1 % mit Abitur, 61,5% mit Hochschulabschluß; Schon in der Nationalversammlung 1848/49 lag der Anteil der akademisch Gebildeten bei 81,7%, vgI. Kühne, Reichsverfassung, S. 52 f. 279 Kürschners Volkshandbuch für die XIII. WP., Stand 1.3.1995, S. 296: 18,75 % Juristen, 11,75 % Pädagogen, 9,4 % Ingenieure; Ismayr, Bundestag, S. 55f. benennt
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
ostdeutschen Bundestags- und Landtagsabgeordneten Ingenieurinnen und Ingenieure und naturwissenschaftlich Ausgebildete deutlich stärker vertreten als un280 ter den westdeutschen Abgeordneten .
Im Gegensatz zu den früheren Wahlperioden des Bundestags hat sich die Bildungsschichtung in den letzten dreißig Jahren unter den Fraktionen fast ausgeglichen. Der früher signifikant niedrigere akademische Anteil der SPD besteht nicht meh/ 81 • Das in Bildungstiteln gemessene Bildungsniveau des Bundestags stieg sehr viel stärker an als in der Gesellschaft insgesamt282 • Im "Bildungsgefälle" von den Parlamenten zur Gesamtbevölkerung wird eine "geradezu zwangsläufige" Gefahr für Verständigungsschwierigkeiten und Interessenkonflikte gesehen 283 • Auch wenn von sozialen Zugangsschwellen zu Bildung abgesehen wird, muß daran erinnert werden, daß Meritokratie nicht gleichbedeutend mit Demokratie ist und zumindest bei einem Teil der vom Abschluß her weniger Gebildeten das Gefühl vorherrscht, nicht freiwillig von höher Gebildeten vertreten zu werden, sondern nur mangels Auswahl 284 •
für die XII. WP. 77,9 % der MdB mit Hochschulbildung, 22,3 % Juristen, 10,6 % Wirtschafts- und Sozial wissenschaftler. Ralf Dahrendorf schreibt von einem langjährigen Schnitt von mindestens 20% Juristen, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965), S. 261. Ebenso viele gibt Loewenberg (1969) an, S. 137, auf S. 142 beträgt die Zahl 18,9% für die III. WP., 17,1 % für die 11. WP und 20,9% für den Reichstag von 1912, aber 42,5% für den Reichstag von 1871 und 50% für die Nationalversammlung von 1848. Die angegebenen Vergleichszahlen liegen ebenfalls um 20% für Frankreich, Großbritannien und Italien, aber bei ca. 60% für die USA. 280 Dazu Adalbert Hess, Sozialstruktur des 13. Deutschen Bundestages, ZParl 1995, S. 567 (576 ff.): Von 124 ostdeutschen MdB sind 41 Ingenieure, 15 Naturwissenschaftler und fünf Ärzte, zusammen also ca. 50%. Unter den Fraktionen weicht hiervon nur die PDS ab, die einen höheren Anteil von Sozialwissenschaftlern hat. Vgl. weiter Wemer J. Patze/tl Roland Schirmer, Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern, APuZ Nr. 27/1996, S. 20 (21). 281 Nach Loewenberg hatten in der V. WP 60% der CDU-Abgeordneten, aber nur 30% der SPD-Abgeordneten eine Hochschulausbildung. Die "Mannheimer Elitenstudie" von 1981 sieht noch ein Verhältnis von 73 zu 55%, Hoffmann-Lange, Eliten, S. 126. Für Rebenstorf, Politische Klasse, S. 143 ff. liegt in der Angleichung des "kulturellen Kapitals" ein wesentlicher Beleg für die von ihr analysierten Prozesse der Angleichung der Angehörigen der politischen Klasse. 282 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 145. Vgl. Dietrich Herzog, Politik als Beruf: Max Webers Einsichten und die Bedingungen der Gegenwart in FS Fijalkowski (1993), S. 107 (113), der diese Tendenz für alle westlichen Demokratien ausmacht. Bestätigt bei Gretz, S. 95, der in South Carolina und Baden-Württemberg jeweils über 80% Inhaber des höchsten formalen Bildungsniveaus ausmacht. 283 H.-P. Schneider, FS Simon (1987), S. 243 (249). 284 Vgl. Christopher Lasch, Die Revolte der Eliten, Blätter für deutsche und internationale Politik 1994, S. 1437 (1444 ff.)
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Insgesamt rekrutieren sich die Abgeordneten wie andere gesellschaftliche Eliten vornehmlich aus ökonomisch privilegierten Bevölkerungssegmenten285 • Heino Kaack resümierte in einer Untersuchung: "Der Bundestag ist ein Parlament der politischen Berufe, ein Parlament gehobener Berufspositionen (... ), ein Parlament der überdurchschnittlich Gebildeten, (..) ein Parlament der Beamten und Juristen, (.. ) vor allem ein Parlament der Berufspolitiker. ,,286 ff) Erklärungen für die Zusammensetzung der Parlamente Für die soziologisch-empirisch feststellbare Abweichung der Abgeordneten von den Vertretenen gibt es Erklärungen. Sie sollen hier unterschieden werden nach Erklärungen, die der rechtlichen Ordnung des Abgeordnetenmandats vorgelagert sind (gesellschaftliche Erklärungen) und solchen, die inder rechtlichen Ausgestaltung die Ursache finden. Durch empirische Untersuchungen sowohl für die politischen wie für andere Führungspositionen am besten belegbar ist die Erklärung für die Unterrepräsentanz von Frauen aufgrund ihrer mangelnden Abkömmlichkeit für lange und unregelmäßige Arbeitszeiten wie in der politischen Arbeit durch die höhere Belastung mit Berufs- und Familienaufgaben 287 • Sie kollidiert mit dem" impliziten normativen Ideal des politischen aktiven Bürgers,,288. Solange Beruf, Familie
285
Hoffmann-Lange, Eliten, S. 400 ff.; Thomas Kröter, Eine Klasse für sich, Blätter für deutsche und internationale Politik 1993, S.478 (483); Wilhelm Bürklin, Durchlässigkeit der Elite, Das Parlament, 8.115.8.1997. 286 Kaack, in Thaysenl Davidsonl Livingston, S. 148; Stark neben der Sache und den Problemen sind gängige Vorurteile wie bei Schachtschneider, S. 1165: "Berufspolitiker (.. ) haben mangels altersadäquater Qualifikation in der Regel keine angemessene berufliche Alternative." 287 Hoecker, Frauen, S. 103 ff.; Holl, Baden-Württemberg, S. 102 ff.; Schnitger, S. 117 ff.; Hoffmann-Riem, S. 179; Vgl. insgesamt die Erfahrungsberichte in: Berger/ von Bothmer/ Schuchardt, und Rose Göue, Frauengeschichten aus dem Parlament (1991); Wie oben gezeigt haben männliche Abgeordnete öfter Kinder als weibliche Abgeordnete; dies zeigt, daß die Vereinbarkeit von Mandat und Familienpflichten vor allem für Frauen zum Problem wird, da sie stärker für Familienpflichten in Anspruch genommen werden und weniger vom Partner entlastet werden, vgl. die Schilderung des Abgeordneten Hugo Brandt, seiner Frau und seines Sohnes, Drei Ansichten über zehn Jahre in: Hugo Brandt (Hrsg.), Hoffen, Zweifeln, Abstimmen (1976), S. 135 ff. 82% der Abgeordneten halten die schlechte Vereinbarkeit von Mandat und Familienleben für belastend, nach Patzelt, ZParl 1996, S. 462 (475); vgl. ausführlich ders., Beruf, S. 300 ff. 288 Seyla Benhabib, Über das zeitgenössische Unbehagen an der Demokratie, FR, 12.10.1996: "Stellen sie sich einmal vor, daß unser implizites normatives Ideal des politischen aktiven Bürgers nicht das des männlichen Kämpfers wäre, sondern das der arbeitenden Mutter. Wie müßten wir dann die Hauptinstitutionen unserer Gesellschaft neu gestalten?"
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
und Politik zu vereinen sind, müssen Frauen "Jonglieren mit drei Bällen ,,289. Mandatstätigkeit kann in der Lebenssituation gerade jüngerer Frauen unter dem Vorbehalt stehen, daß ein männlicher Partner bereit und in der Lage ist, auf Berufstätigkeit ganz oder teilweise zu verzichten 290 . Die Rahmenbedingungen der Erwerbsbeteiligung von Frauen291 und der politischen und betrieblichen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind von zentraler Bedeutung, wie das Beispiel der skandinavischen Staaten zeigen. Weniger Frauen als Männer sind in Deutschland Parteimitglieder293 .
Im Verhältnis der Geschlechter zueinander werden weiterhin die traditionelle Rollenzuschreibung und Sozialisation der Frauen in Familie und Bildungssystem 294 und die männlich geprägten Sprach- und Interaktionsmuster des politischen Raumes 295 und gewachsene Vorurteile bei Männem und Frauen über die Fähigkeiten von Frauen im politischen Leben angeführt296 . Diese könnten zu informellen "Männerquoten" führen 297 . Auch die niedrigere Zahl von Frauen in Berufsgruppen mit einer hohen Parlaments- und Politikaffinität spielte und spielt eine Rolle298 • Für das Überwiegen gesellschaftlich-politischer Gründe spricht auch die starke Differenz des Frauenanteils zwischen den Fraktionen in den Parlamenten299 und zwischen den in der Sozialstruktur und den Biographi289
So der Titel der Studie "Ich habe Jonglieren mit drei Bällen geübt" - Frauen in der Hamburgischen Bürgerschaft 1946 bis 1993 von Inge Grolle und Rita Bake (1995), nach einem Zitat der Vizepräsidentin der Bürgerschaft, UUa Bussek. 290 Vgl. die Abg. Ursula Burchardt (SPD), XIII. WP, 75. Sitzung, 1.12.1995, S.6603. 291 Dazu Heide M. Pfarr! Christine Fuchsloch, Quoten und Grundgesetz
(1988), S. 193 ff. 292 Hollstein, S. 41 ff für Schweden; für Norwegen Marit Halvorsen, Die Rolle
der Frauen im Aufbau der Demokratie in Europa: Theorie und Praxis in: Europarat (Hrsg.), Das demokratische Prinzip gleicher Repräsentativität (1989), S. 29 (48). 293 Beate Hoecker, Die Partizipation von Frauen im vereinigten Deutschland, APuZ 21-22/1996, S. 23 (28f.): 3% der Frauen und 7% der Männer in den alten, 2% der Frauen und 4% der Männer in den neuen Bundesländern sind Partei mitglied (Stand: 1993). Der Frauenanteil beträgt in der SPD 29%, CDU 25%, CSU 16%, FDP 25%, Bündnis 901 Die Grünen 36%, PDS 43% (FR, 22.10.1996). 294 Schnitger, S. 106 ff. 295 Schnitger, S. 127 ff. 296 Bei einer Befragung 1987 erklärten in Deutschland 23,3%, lieber von einem Mann, 9,5% lieber von einer Frau im Parlament vertreten zu werden, 64,8% gaben an, gleiches Vertrauen zu haben, das Verhältnis war in allen EG-Staaten außer Dänemark ähnlich, nach Gabriel, S. 559. 297 Vgl. Pfarrl Fuchsloch, Quoten, S. 15 ff. 298 Leneloue von Bothmer, Frauen ins Parlament? (1976), S. 17 f. 299 . Schmtger, S. 224 f.; Landtage 1994 nach Hoecker, APuZ 21-22/1996, S.23 (29, 31): PDS: 48,4%; Bündnis 901 Grüne: 40% (Ost), 46,1 % (West); SPD 35,2% (Ost), 27,0% (West); FDP 21,9% (Ost), 15,4% (West); CDU 15,2% (Ost), 20,6% (West); CSU 8,7%; Sonstige 12,5% (Ost), 21,1% (West). Bei den Partei mitgliedern
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en unterschiedlichen westlichen und östlichen Bundesländern30o . Obwohl sich rechtliche Ansatzpunkte im Bereich der sozialen Sicherung der Abgeordneten zur Erklärung der Unterzahl von Frauen in den Parlamenten finden lassen, zumal wenn die Methode der Suche nach mittelbar diskriminierenden Regelungen angewandt wird, nennt niemand in Politik oder Wissenschaft die Regelungen der spezifischen sozialen Sicherung der Abgeordneten als herausragende Gründe. Die altersmäßige Zusammensetzung wird durch den langwierigen politischen Karriereverlauf in Parteien und Öffentlichkeit ebenso wie mit der Forderung nach Erfahrung der Abgeordneten in nichtpolitischen Berufs- und Lebenszusarnmenhängen erklärt. Die bildungs- und berufsmäßige Schichtung wird auf die Politikferne oder nähe bestimmter Ausbildungen und Berufe zurückgeführt, die sowohl ihren Angehörigen die politische Aktivität und Kandidatur wie auch den Wählerinnen und Wählern die Kompetenzzuschreibung erleichtert30I . Als Erklärung wird außerdem die Ausbildung von fachlichen und kommunikativen Kompetenzen im Hochschulstudium und akademischen Beruf angeführt 302 , weiterhin die Möglichkeit intensiverer politischer Betätigung parallel zum Studium in der "karrierevorbereitenden Phase". Für die Juristen und Juristinnen wird die Ausbildung für Entscheidungsprozesse und die relative Allgemeinheit ihrer Ausbildung genanne 03 , aber auch ihr hohes Sozialprestige im bisherigen Beru(04. Die starke Vertretung von Hochschulabschlüssen wird von Thomas Ellwein und Joachim J. Hesse mit dem Argument kritisiert, sie leiste der Spezialisierung des Parlaments und damit einem Verlust an repräsentativen Funktionen und kommunikativen Fähigkeiten Vorschub l05. Ralf Dahrendorf kritisierte 1965 eine strukturkonservative Tendenz, die durch die hohe Anzahl von Juristinnen und Juristen in Führungspositionen entstehe306 . Diese These ist aber nach Verände-
lagen die Zahlen Ende 1995 bei 33% (Grüne), 28,3% (SPD), 25% (PDS, FDP),
23,5% (CDU), 16,2% (CSU). 300 Hoecker, APuZ 21-22/1996, S. 30: MdL West ohne Berlin: 23,6% Frauen; Ost: 30%. 301 Ismayr, Bundestag, S. 50 f. Vgl. zur Bedeutung eines Hochschulstudiums: Fraenkel, Akademische Erziehung, S. 315 ff. 302 . .. Ellweznl Hesse, S.250; Hall, Baden-Wurttemberg, S. 168; bereits Kau tsky , S. 523 f. 303 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 260 ff. 304 Loewenberg, S. 141. 305 Ellweinl Hesse, S. 251. 306 Dahrendorf, Gesellschaft, S. 267 ff.
72 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder rungen in Ausbildung und sozialer Zusammensetzung der Juristenschaft abzuschwächen und zu modifizieren 307 • Rebenstorf benennt das besondere "kulturelle Kapital" der öffentlich Bediensteten: Befassung mit Verwaltungsaufgaben, technokratisches Abstraktionsvermögen in bürokratischen Organisationen einschließlich Menschenführung; dies gelte auch für höhere Angestellte der Privatwirtschaft und der Verbände und freie Berufe des Rechtswesens 308 • In den USA, wo Angehörige des öffentlichen Dienstes einer Ineligibilität unterliegen, nehmen weithin die Anwälte und Anwältinnen die in Deutschland quantitativ dominierende Rolle der Beamten und Beamtinnen sowie öffentlichen Angestellten ein 309 • Die Aspekte der inhaltlichen und organisatorischen Politiknähe des Berufs, der Abkömmlichkeit durch freie Arbeitszeiteinteilung und der sozialen Techniken und Kompetenzen werden immer wieder angeführt3lO • In diesen Zusammenhang gehört auch die spezifische Kompetenzzuweisung im Bewußtsein vieler Wählerinnen und Wähler, die Abgeordnete oft als eine besondere Art von Beamten ansehen 311 • Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang sicher auch die unterschiedliche Ausprägung politischen Interesses und vor allem politiknaher Fähigkeiten im Elternhaus und deren unterschiedliche Widerspiegelung und Umsetzung in Bildungs- und Berufsbiographien. So scheint der öffentliche Dienst die politisch Interessierten bereits von vornherein eher anzuziehen 312 • Um diese Fragen näher zu betrachten wäre eine empirische Untersuchung der intergenerationellen Mobilität der Abgeordneten (soziale Herkunft) notwendig. Eine solche liegt nicht vor3!3. Die besonders hohe Präsenz der Beamten in Parlamenten hat in Deutschland im übrigen eine besondere Tradition 314 , die durch 307 Hoffmann-Lange, Eliten, S. 142 f.; Von Beyme, Parteienstaat, S. 237; VgJ. zur gewandelten sozialen Zusammensetzung: BMBWFf, Absolventenreport Rechtswissenschaft (1995), S. 10 ff. 308 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 151. 309 Gretz, S. 112. 310 Klatt, APuZ 4011980, S.25 (32 f.); Hall, Baden-Württemberg, S.86: "Dienstwissen"; Nauber, 3.A., S. 344 f;. Spalckhaver, S. 64; Als Indiz für die Relevanz dieses Arguments führt Hall an, daß der höhere Dienst im Verhältnis zu seinem Anteil an der Beamtenschaft wesentlich stärker vertreten ist als der mittlere Dienst. Ellweinl Hesse, S. 250. VgJ. Dietrich Herzog, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979), S. 78 f. 311 Loewenberg, S. 74. 3\2 Niklas Luhmannl Renate Mayntz, Personal im öffentlichen Dienst (1973), S.56. 3!3 VgJ. für die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848 Best, S. 73 ff. Für die Gruppe der Eliten insgesamt, die sich nicht mit der "politischen Klasse" oder den Abgeordneten deckt, vgJ. Hoffmann-Lange, Eliten, S. 122 ff. 314 Vgl. Ellweinl Hesse, S. 250; Loewenberg, S. 75 zu den mentalitätsgebundenen Voraussetzungen: "Nur in Deutschland ist das Vertrauen in die Verwaltung größer
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ganz verschiedene Ausfonnungen von Wahl- und Parlamentsrecht nicht gebrochen wurde. So betrug der Anteil von Beamten schon im Württembergischen Landtag zwischen 1818 und 1831 über 80%315. Der Anteil war ebenfalls hoch in der Nationalversammlung von 1848 316 . Im Reichstag zwischen 1871 und 1918 lag er niedriger317 . In der Weimarer Republik lag der Beamtenanteil im Reich und den Ländern wieder höher318 . Jedenfalls führen Analysen der empirischen Sozialforschung zu dem Ergebnis, daß das politische Engagement und die Aufteilung sozialer Milieus mit unterschiedlicher Haltung und Beteiligung an den Fonnen von Politik in erheblichem Zusammenhang mit Ausbildung und beruflicher Betätigung steht. So sind die Angehörigen expandierender Felder der sog. neuen Berufe (sozialpflegerischer Berufe, medizinischer Hilfsberufe, erzieherischer Berufe, technischer Intelligenzberufe, qualifizierter Rechts- und Verwaltungsberufe sowie Kunst- und Kulturberufe ) überdurchschnittlich im "kritisch-engagierten", "radikaldemokratischen" und "sozialintegrativen" Milieu geselligen und politischen Verhaltens zu finden. Dagegen werden Arbeiterinnen und Arbeiter, kleinere Selbständige und Rentnerinnen und Rentner überdurchschnittlich oft in den Milieus der "Enttäuscht-Apathischen" und "Enttäuscht-Aggressiven" verortet 9. Insbesondere ökonomische Unterschiede - wie die Einkommens- und
als in den Gesetzgeber." Von Beyme, Parteienstaat, S.233: "Iegalistische politische Kultur Deutschlands"; Klatt, APuZ 40/1980, S. 25 (31). 315 Hospach, S. 69. Hans Boldt, Stellung des Abgeordneten, S. 14 (20f.), der bereits für den süddeutschen Frühkonstitutionalismus den Anteil der Beamten auf 6080% der Abgeordnetenschaft beziffert; in einem Diskussionsbeitrag, S. 54 f., stellt Boldt eine Verbindung zwischen politischem Großklima und Beamtenanteil her. 316 55 % Regierungsbeamte, 38 % Selbständige, vor allem Anwälte, nach Loewenberg, S. 39. 317 Zu beachten ist hier, daß die Sozialdemokraten im Kaiserreich vom Beamtenturn faktisch ausgeschlossen waren, so daß der Beamtenanteil mit deren Anwachsen im Reichstag sank, vgl. Diskussionsbeitrag von P. Steinbach in: Politik als Beruf? (1979); S. 90. Im ersten Reichstag von 1871 waren 27% Regierungsbeamte, im Jahre 1912 noch 12%, Zahlen bei Loewenberg, S.39. Apel, Deformierte Demokratie, S.245. 318 Loewenberg, S. 148 nennt 19% für den Reichstag von 1928. Im Mittel der preußischen Landtage zwischen 1919 und 1933 knapp 27% Beamte, das Fünffache ihres Anteils an den Erwerbstätigen, Horst Möller, Preußischer Parlamentarismus 1919-1932 in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zu Gegenwart (1983), S. 149 (152 f.). Klatt, APuZ 4011980, S. 25 (31) nennt im Schnitt ein Drittel für den öffentlichen Dienst in den Reichstagen von 1919-1933. 319 Ausführlich: Michael Vesterl Peter von Oertzen u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel (1993), insbesondere S. 305 ff.
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Reichtumsdifferenzen zwischen Frauen und Männern oder auch zu Lasten der Alten - finden sich in der parlamentarischen Repräsentation wieder320 • Alle im gesellschaftlichen Raum anzusiedelnden Ursachen für Gruppenrepräsentanz in den Parlamenten vermitteln sich über die Parteien, die die Kandidatenaufstellung besorgen. Die oben genannten Über- und Unterrepräsentationen finden sich bereits in der Mitgliedschaft der Parteien und verstärken sich mit wachsendem Aktivitäts- und Delegationsgrad zur Spitze hin 321 • Ob und wieweit sie durch "bessere Fraktions- und Parteiplanung" effektiv bekämpft werden können 122, ist fraglich, da sich die Strukturen der überwiegend ehrenamtlichen und freiwilligen Parteiarbeit, die beispielsweise Berufe mit freierer Zeiteinteilung und familiär weniger belastete Männer begünstigen, recht machtvoll reproduzieren 323 • Am Beispiel der Repräsentation von Frauen wird allerdings deutlich, daß eine hierauf angelegte Politik Erfolge haben kann, wenn sie sehr entschlossen und mit Hilfe von Satzungsrecht vorgenommen wird 324 • Als Beleg für Erklärungsansätze, die eher die gesellschaftlichen Strukturen als eine spezifische rechtliche Ausgestaltung des Abgeordnetenrechts in den Vordergrund stellen, kann auch dienen, daß andere demokratisch-repräsentativ verfaßte europäische Länder ähnliche Tendenzen aufweisen wie sie von Rebenstorf und anderen für die Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet wurden. Dies gilt selbst für das vom sozialen Sicherungssystem her als besonders egalitär geltende Schweden, in dem die Abweichungen beim Vergleich der Geschlechter, des öffentlichen und des privaten Sektors und der Altersgruppen allerdings jeweils geringer ausfallen 325 • Neben den der gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnenden Einflüssen wird aber auch ein Einfluß der Ausgestaltung des Abgeordnetenmandats, des Wahlrechts 320 Helmuth Berking, Lebensstile, Identitätspolitiken und Gestaltungsmacht, GMH 1996, S. 488 (492). 321 RebenstorJ, Politische Klasse, S. 129 ff. Kaack, in Thaysenl Davidsonl Livingston, S. 134; Scheer, Parteien, S. 137 ff. Hildegard Hamm-Brücher, Der Freie Volksvertreter - eine Legende? (1990), S.220. Apel, Deformierte Demokratie, S.246. 322 So der Lösungsvorschlag von von Beyme, System, S. 267. 323 Scheer, Parteien, S. 138 f.; Glotz! Süssmuthl Seitz, S. 182 f.; Peter Glotz, Die politische Krise als Kommunikations-Krise, APuZ Nr. 36-37/1997, S.3 (4) sieht einen Gegensatz zwischen "Zeitreichen" und "Zeitarmen" in den Partizipationschancen in den Parteien. 324 Von Beyme, System, S. 228 f. 32S Holmberg, S. 109 (115) nennt für 1985 im schwedischen Reichstag: 31% Frauen und 69% Männer, 78 % Abgeordnete von 41-60 Jahren und je 11 % bis 40 und über 60 Jahren, 46% Abgeordnete aus dem öffentlichen Sektor bei einem Anteil an den Erwerbstätigen von 41 % und 14% Selbständige bei einem Anteil an der Erwerbsbevölkerung von 12%. Holmberg konstatiert aber eine "klare Überrepräsentation von Mitgliedern aus privilegierteren Gesellschaftsschichten" (S. 136).
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und der sozialen Sicherung der Abgeordneten, also rechtlich regulierter Einflußfaktoren auf die soziale Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft festgestellt oder behauptet. So heißt es, daß die Diätenlosigkeit des Reichstags bis 1906 und später die niedrige Bezahlung der ersten Bundestagsperioden die Tendenz zur Berufspolitik gefördert habe, da Abgeordnete sich verstärkt aus den hauptberuflichen Angestellten der Parteien und Verbände rekrutierten l26 • Ellwein und Hesse sehen eine Verfestigung eines einseitigen Karrieremusters und die Schaffung eines Typs von Abgeordneten mit negativen Konsequenzen für die Offenheit der Repräsentation durch das gegenwärtige Abgeordnetenrecht begründet327 • Michael Freytag sieht den Hauptgrund für die hohe Zahl der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst und insbesondere der Beamten und Beamtinnen als Folge der Ausformung von Kündigungsschutz und Wiederverwendungsgebot in den Abgeordnetengesetzen 328. Dies sprechen auch Rebenstorf, von Beyme, Czepluch, Kißler und Klatt an 329. Vorsichtiger bewertet Wolfgang Czepluch die sinkende Mobilität der Mandatsträger und ihre steigende Wiederwahlhäufigkeit "zugleich als Ursache und Auswirkung" der rechtlich ermöglichten Professionalisierung des Mandats3Jo • Ähnlich äußert sich Hasso Hofmann 331 Auch für freiberuflich Tätige, insbesondere Anwälte und Anwältinnen, wird wegen deren freier Arbeitszeiteinteilung ein struktureller Vorteil in der Frage der beruflichen Sicherung gesehen m. Ein Einfluß des Wahlrechts und des Rechts der Kandidatenaufstellung auf die soziale Zusammensetzung der Parlamente erscheint ebenfalls möglich. Wahlsysteme können mehr oder weniger adaptiv für Minderheiten und unterrepräsentierte Gruppen sein, so durch Mehrpersonenwahlkreise333 und Möglichkeiten der Wählerinnen und Wähler, die Kandidatenreihenfolge auf Parteilisten zu verän326
Loewenberg, S. 39 für den Reichstag, S. 89 ff. für den Bundestag bis 1965.f Ellweinl Hesse, S. 247 f. Freytag, S.94 ff. 329 Rebenstorf, Politische Klasse, S. 198 ("weitgehende Freistellungsregelungen"); von Beyme, Parteienstaat, S. 233; Klatt, APuZ 40/1980, S. 25 (32): "wichtiger, aber häufig überschätzter Faktor"; Czepluch, S. 85; Kißler, JöR 1978, S. 129 (131 f.). 330 Czepluch, S. 81. 331 Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in lsenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR I (1987), § 7, S. 259 (315): "Ergänzt und gestützt wurde die Entwicklung der Organisation einer politischen Klasse durch das sogenannte Diäten-Urteil ( .. )." 332 Von Beyme, Parteienstaat, S. 233. 331 Nicholson, S. 255 (260 f.) sieht einen solchen Zusammenhang beim norwegischen System der Mehrpersonenwahlkreise, gesellschaftlicher Druck ist aber Voraussetzung für eine solche Wirkung. Vgl. die Forderung des Europäischen Parlaments in der Entschließung vom 16.9.1988, Nr. C 262/189, Ziff. 13. Weiterhin: H.-P. Schneider, Gleichstellung, S. 58 ff. 327 328
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
dem. Für die gleiche Vertretung der Frauen in den Parlamenten ist unter den dargestellten Restriktionen auf absehbare Zeit die wahlrechtliche Quotierung der Parlamentssitze der einzig zuverlässige Weg, sie zu erreichenll4 • Das Recht der sozialen Sicherung der Abgeordneten ist wohl kein Generalschlüssel für die Probleme der demokratischen Repräsentation, mit dessen Hilfe die Offenheit der Parlamente für alle Wahlberechtigten allein hergestellt werden könnte. Andere Ursachen, die in den Lebensläufen der Wählerinnen und Wähler und Abgeordneten weit vorher stehen, der Anforderungen an die Abgeordneten, der Urteile und Vorurteile, also zunächst gesellschaftliche Ursachen, sowie rechtliche Fragen aus dem Wahlrecht und dem Parteienrecht, die hier nicht untersucht werden sollen, bewirken Einschränkungen der Offenheit der demokratischen Repräsentation. Die Bedeutung des sozialen Lebenslaufes für die Erringung des Mandats und die zahlreichen Hinweise auf mehr oder weniger direkt selektive Wirkungen des Rechts der sozialen Sicherung der Abgeordneten sind aber hinreichend, um die rechtliche Betrachtung unter diesem Gesichtspunkt durchzuführen. c) Rechtliche Bewertung
Notwendige Bedingung demokratischer Repräsentation ist die Offenheit für die Vertretung der sich wandelnden Gesellschaft und neu erscheinender Minderheiten, mögen sie sich in politischen Ansichten und Habitus als künftige Mehrheiten oder als vorübergehende Erscheinungen darstellen. Das Grundgesetz sieht in der Gleichheit und Allgemeinheit der Wählbarkeit und der vierjährigen Wahlperiode deutliche Regeln vor, die die Offenheit des demokratischen Prozesses festschreiben sollen. Die Gleichheit der politischen Rechte trifft aber zusammen mit einer ungleichen Verteilung ökonomischer und sozialer Möglichkeiten bei den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern, die der Realisierung der politischen Rechte entgegenstehen können. Die Offenheit des demokratischen Prozesses ist zugleich Bedingung für das Funktionieren seiner Kommunikationsfähigkeie l5 • Dies gilt sowohl für den Charakter der Wahl als auch für die politische Kommunikation zwischen den Wahlen. Zu fragen ist, wie frei die Konzeption der demokratischen Repräsentation nach dem Grundgesetz für unterschiedliche Ausgestaltungen und Ausstattungen des Abgeordnetenmandats ist, wenn diese sich auf die soziale Zusammensetzung der Kandidatinnen und Kandidaten und der gewählten Abgeordneten auswirken. ll4 Elisabeth G. Sledziewski, Demokratische Ideale und Rechte der Frau (1989), in: Europarat (Hrsg.), Das demokratische Prinzip gleicher Repräsentativität (1989), S. 14 (24 ff.). ll5 So auch D. Herzog, Repräsentation, S. 325 f.: "Ohne die Institution der Wahl (... ) läuft jede Responsivität leer." Vgl. Von Beyme, System, S. 261 .
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Dies gilt sowohl für die oben aufgeführten Erklärungen der Zusammensetzung aus den Regelungen des Abgeordnetenrechts wie auch für das Zusammenwirken der Normen mit den gesellschaftlichen Ursachen und Prozessen. Das im Interesse der Funktionsfähigkeit des politischen Systems eingeforderte Element der Handlungsfähigkeit, Stabilität und Autonomie eines politischen Steuerungszentrums, das nur durch professionelle Politiker und Politikerinnen zu verwirklichen sei336 findet an diesen Prinzipien demokratischer Repräsentation eine Grenze. Es sollte sich wirkungsvoll genug durch die Interessenaggregation bei Parteien und Verbänden und durch die exekutivische und judikative Gewalt vermitteln können 337 • Ein sozialer Zusammenhang und Ausgleich in der Gesellschaft ist im übrigen bereits Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines demokratisch-repräsentativen Systems, wie schon Hermann Heller 1928 warnend im Hinblick auf die Verhältnisse seiner Zeit feststellte JJ8 • Die von Heller festgestellte Aufgabe, die nötige soziale Homogenität der Gesellschaft herzustellen, in der sich diese auf gemeinsame politische Regeln in Gestalt einer demokratisch-repräsentativen Verfassung erst einigen kann, ist der Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Einzelnen vorgelagert und erneuert sich zugleich permanent, zumal dann, wenn der Lösungsweg die politische Demokratie nicht durch soziale Abhängigkeit und Paternalismus abschwächen soll319. Ein Prozeß, bei dem sich eine "politische Klasse" herausbildet, läuft der für demokratische Repräsentation notwendigen Offenheit der Repräsentation und der Materialisierung und Sicherung des allgemeinen passiven Wahlrechts zuwider und behindert weitergehend die Entwicklung der notwendigen Voraussetzungen für eine demokratische und diskursive Gesellschaft340 • Die für Demokratie notwendigen kommunikativen Fähigkeiten des Parlaments sind durch sie gefährdee 41 • Aus der soziologischen Feststellung, daß eine politische Klasse 336 D. Herzog, Repräsentation, S. 307 (321, 327, 332) und ders., Berufspolitiker. Früher auch z.B. Otto Stammer, das Elitenproblem in der Demokratie (1951), S.209. 337 Kritisch insgesamt: Hermann Scheer, Zurück zur Politik (1995), S. 121 ff. 338 Hermann Heller, Politische Demokratie, S.7 (12 ff.); Böckenförde, S.930; Röhrich, Eliten, S. 51 ff.; H.-P. Schneider, HdbVerfR, S. 544 f.; Günter Frankenberg, REPUBLIK und SOZIALSTAAT, KritV 1995, S. 25. 339 Vgl. Michael Köhler, Begriff der freiheitlichen Rechtsverfassung, Rechtstheorie 1995, S. 387 (397). 340 Vgl. in der Polemik von Christoph Hein: "Jene, die sich selbst als politische Klasse definieren, bestreiten eben dadurch dem Bürger, ein politisches Lebewesen zu sein."; Röhrich, Eliten, S. 142 f. 341 Kißler, JöR 1978, S. 128: "Die sozialstruktureIl bedingte, vornehmlich juristisch gefärbte politische Kultur mit ihrer vom Fachjargon geprägten Debatte trifft sich mit einer herrschaftsstrukturell bedingten Expertensprache. Das Harmoniestreben des Mittelschichtcharakters findet sich wieder im Korpsgeist des Berufspoliti-
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
existiert, kann also nicht auf ein Sollen geschlossen werden 342 : Demokratische Repräsentation muß zur Minimierung personaler Herrschaft hinführen, weil sie dieser ständige Legitimation abverlangt. Die Ursachen für die Entstehung einer "politischen Klasse" liegen zu einem größeren Teil im gesellschaftlichen Raum. Die abgrenzende Habitusbildung und Reproduktion von Qualifikationsanforderungen durch den Zwang eines historisch gewachsenen politischen Milieus erscheint in einer aus pluralen Gruppen bestehenden hoch arbeitsteiligen Gesellschaft gegenwärtig nicht abschließend vermeidbar. Sieht die Verfassung dieser Gesellschaft aber eine offene demokratische Repräsentation vor, ist eine Verfestigung dieses gesellschaftlichen Prozesses durch Recht nicht legitim. Das Bundesverfassungs~ericht hat in Urteilen zum Abgeordnetenrecht von der" radikal-egalitären ,,34. und der "privilegienjeindlichen Demokratie" des Grundgesetzes gesprochen. Die einzelnen Normen des Art. 48 GG geben deutliche Hinweise darauf, daß es seiner Mandatskonzeption insgesamt entspricht, eine möglichst große politische Chancengleichheit auch unterschiedlicher sozialer Bedingungen zu schaffen. Dabei erweist sich zunächst der strenge Gleichheitssatz für die soziale Sicherung der Abgeordneten auch als Mittel der Durchsetzung der Offenheit des politischen Prozesses und der Realisierung der Auswahlchance im Wahlverfahren. Zugleich stellt sich aber noch deutlicher als im Zusammenhang der bereits gewählten Abgeordneten die Frage nach der Zulässigkeit oder Gebotenheit kompensatorischer Maßnahmen im Spannungsfeld realer sozialer Ungleichheit und rechtlicher Gleichbehandlung. Die Offenheit ist eine Anforderung an die Ausgestaltung und Ausgestaltbarkeit des konkreten Parlamentsrechts und der sozialen Sicherung der Abgeordneten 344 • Das bedeutet, daß eine Verfestigung von Ungleichheiten der Vertretungschancen durch das Recht nicht erlaubt ist. Das für die Abgeordneten relevante Recht, auch das Recht der sozialen Sicherung der Abgeordneten, ist daher darauf zu untersuchen, an welchen Punkten es selbst zur Verfestigung einer einmal entstandenen politischen Klasse beiträgt und ob seine Ausgestaltung dazu beikers. Sie begründen den weitgehend inkommunikativen Wert der parlamentarischen Debatte, führen zur Einengung des kommunikativen Frequenzbereiches eines 'Mittelschichtenparlaments' unter Ausblendung insbesondere der gesellschaftlichen Unterschichten ... 342 Kröter, S. 478 (482 ff.). 343 BVerfG vom 21.10.1971 - 2 BvR 367/69 -, BVerfGE 32, S. 157, Ls. 1. 344 Vgl. Hartmut Klatt, APuZ 40/1980, S. 25 (44): "Das Parlament als offenes soziales System muß in seiner Zusammensetzung kontinuierlich auswechselbar sei und auch vertikale Zirkulation ermöglichen."
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tragen kann, den Verfestigungsprozeß aufzuhalten und zum Ausgleich der durch ihn entstehenden Nachteile für bestimmte Gruppen beizutragen. Die soziale Sicherung der Abgeordneten ist ebenso wie das Wahlrecht der politischen Diskussion und Veränderung zur spezifischen Aufnahme gesellschaftlicher Probleme offen. Das heißt, die Definition von Gruppen, denen durch Aufbau kompensatorischer Normen Defizite sozialer Gleichheit und Repräsentationschancen ausgeglichen werden sollen, ist im Rahmen des strengen Gleichheitssatzes möglich, um zur historischen Offenheit des repräsentativdemokratischen Systems beizutragen. Ein solches Wirken gegen reale soziale Ungleichheit kann ein zwingender Grund für rechtliche Ungleichbehandlung im Rahmen des strengen Gleichheitssatzes sein. Das Recht der sozialen Sicherung der Abgeordneten ist offen für kompensatorische Ungleichbehandlungen zum Abbau gesellschaftlicher Gründe für geminderte Vertretungschancen.
11. Freiheit und Unabhängigkeit Der zweite in Artikel 38 genannte Grundsatz für die Arbeit der Abgeordneten ist das Postulat der Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten, das freie Mandat. Das freie Mandat ist mit der politischen und demokratischen Repräsentation nicht zwingend verknüpft', aber in der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte weithin mit ihr verbunden 2 • Die Verfassungen der Länder sehen das freie Mandat ebenfalls ausdrücklich vor. Verschiedene Praktiken und Konzeptionen der politischen Repräsentation gehen von einer je unterschiedlich weitreichenden Bevollmächtigung der Repräsentanten aus, dies auch dann, wenn sie eine je bestmögliche Verwirklichung des Demokratiegebots für sich in Anspruch nehmen. Daraus folgt, daß - nach Art. 38 Abs. 1 Satz I und Art. 20 GG demokratisch zu denkende - Repräsentativität und freies Mandat zwei Normsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind, die zusammen den Status der Abgeordneten bestimmen. Das freie Mandat könnte so ebenfalls das Recht der sozialen Sicherung der Abgeordneten determinieren. Es handelt sich beim freien Mandat nicht nur um eine Norm, die der Effizienz und Schnelligkeit des Entscheidungsprozesses diene, sondern auch um eine Schutznorm für die Mandatsausübung der einzelnen Abgeordneten. Soziale Sicherung ist freiheits sichernd für alle Bürgerinnen und Bürger. Welchen Beitrag sie zur Sicherung der Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten leisten kann oder ob sie diese sogar gefährden kann, ist zu untersuchen. Um hierüber genauere Aussagen machen zu können, sind aber zunächst Schutzrichtung und Schutzbereich des freien Mandats zu bestimmen, damit klar wird, vor wem Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen sind und welche Teile der Abgeordnetentätigkeit geschützt werden müssen. 1. Schutzrichtung Die Schutzrichtung des freien Mandats erscheint bereits durch die passivische Konstruktion des Satzes universell bestimmt. Je nach den konkret beobachteten und politisch für relevant gehaltenen Konflikten werden historisch und
,
Rausch, Repräsentation, S.68 (75 f.); Spalckhaver, S. 104. Vgl. zu anderen Möglichkeiten, den Grad der Bevollmächtigung der Abgeordneten zu bestimmen z.B. Bermbach, Imperatives Mandat und recall, S. 74 ff. 2 Vgl. § 96 der Reichsverfassung von 1848; Art. 4 Abs. 1 S. 2 EinfA für das Europäische Parlament; vgl. Fleuter, S. 105 f .. 1 Spalckhaver, S. 108.
11. Freiheit und Unabhängigkeit
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aktuell stärker die Unabhängigkeit von den Wählerinnen und Wählern, von den anderen StaatsgewaIten, besonders der Regierung, die Unabhängigkeit von Partei und Fraktion oder die Unabhängigkeit von Verbänden und von privaten Interessen hervorgehoben. Auch historisch haben die je unterschiedlichen Schutzrichtungen wechselnde Bedeutung gehabt.
a) Unabhängigkeit von den Wählerinnen und Wählern Insbesondere in der Tradition der englischen Diskussion über Repräsentation und Unabhängigkeit wurde die Freiheit von Weisungen der Wähler des Wahlkreises betont4 • Auch in der französischen Verfassung von 1791 war dies eine eindeutige Schutzrichtung5 • Mit der Herausbildung starker politischer Parteien und Veränderungen im Wahlrecht wurde die Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber einer Einflußnahme der Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis weniger stark betont. Sie wird aber nach wie vor schon wegen der Heterogenität der Wählerschaft der einzelnen Abgeordneten und Parteien als notwendige Funktionsbedingung demokratischer Repräsentation betrachtet Die Unabhängigkeit vom realen aktuellen Willen der Wählerinnen und Wähler "auf Grund größeren Sachverstands, größeren Überblicks und größerer Reife" wird auch heute als Bestandteil der demokratischen Repräsentation durch freies Mandat gesehen 7 , die zu einer als notwendig betrachteten Verselbständigung des staatlichen Willensbildungsprozesses führe 8 • Dazu kommt das Bewußtsein, daß diejenigen Wählerinnen und Wähler, die entschlossen und in der Lage sind, sich zu artikulieren, oft in verschiedener Weise selbst einen privilegierten Zugang zur öffentlichen Debatte haben sowie daß zu beachtende Interessen - etwa ökologische Gesichtspunkte, Rechte von Minderheiten oder überregionale Lastenverteilungen - keine Fürsprecher in einer bestimmten Wählerschaft finden. 90% der Abgeordneten meinen, aus 'übergeordneten Gesichtspunkten' auch gegen vorgebrachten Wählerwillen entscheiden zu können 9 • In der neueren politologischen Diskussion über Repräsentation ist es - je nach Forschungsmethode und Blickwinkel - umstritten, ob und in welchem Umfang es eine Loslösung der Abgeordneten von den Ansichten der Wählerinnen und Wähler gibt und wie sie 4 Vgl. Roman Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates (1993), S. 24 ff. Barteis, S. 36. 5 Vgl Titel III, Art. 7 der Verfassung von 1791. Vgl. Zeh, S. 40. 6 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (280): "Hinter dem Abgeordneten steht ( .. ) kein monolithischer Wählerblock, sondern ein überaus heterogener Kreis von Ansprüchen und Interessen. " 7 Roman Herzog, Der Mensch des technischen Zeitalters als Problem der Staatslehre in: ders., Staat und Recht im Wandel (1993), S. 33 (67). Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 497; Sendler, NJW 1985, S. 1425 (1429). 8 Gassner, Der Staat 1995, S. 429 (440). 9 Vgl. Patzelt, ZParl 1996, S. 462 (469).
6 Welti
82 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder zu beurteilen ist 10 • Die Unabhängigkeit von den Wählerinnen und Wählern ist innerhalb eines Konzepts demokratischer Repräsentation sicherlich die schwierigste Schutzrichtung des Unabhängigkeitsgebots. Als politisch sinnvolles Organisationsprinzip kann es dort nur funktionieren, wenn es eine relative ökonomische, soziale und kulturelle Homogenität der Gewählten mit den Wählerinnen und Wählern gibt, die Unabhängigkeit nicht in das Fehlen von Kommunikation umschlagen läßt. Hier zeigt sich erneut der Zusammenhang der Prinzipien demokratischer Repräsentation nach der Konzeption des Grundgesetzes. Unabhängigkeit von den Wählerinnen und Wählern bedeutet für die soziale Sicherung der Abgeordneten, daß diese nicht jenen unmittelbar überlassen bleiben kann.
b) Unabhängigkeit von der Exekutive Geschichtlich sind die Volksvertretungen gewachsen als der - nicht demokratisch legitimierten, feudal-erblich entstandenen - Exekutive gegenübergestellte Körperschaften. Entsprechend hatte das freie Mandat eine wichtige Bedeutung als Garantie der Unabhängigkeit von der Exekutive und ihrer weder politisch noch rechtsförmig kontrollierten Macht. Diese Ausgangsbedingungen haben sich mit dem politischen und Verfassungswandel in Richtung auf ein parlamentarisches Regierungssystem verändert, sind aber nicht gänzlich entfallen. In der staatsrechtlichen Diskussion wird behauptet, eine Unabhängigkeitssicherung gegenüber der Exekutive sei heute im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems nicht mehr notwendig l3 • Dem kann so nicht gefolgt werden. Die Kreation der Regierung und die Kontrolle der Exekutive sind Kernaufgaben der Parlamente, zu deren funktionsgerechter Erfüllung Unabhängigkeit gegenüber den vielfältigen Beeinflussungsmöglichkeiten durch Regierung und Verwaltung nötig sind. Insbesondere die Oppositionsabgeordneten, aber auch die im Verhältnis zur Regierung oft potentiell einflußreicheren regierungstragenden Abgeordneten bedürfen des Schutzes vor Einflußnahme, um ihren Aufgaben nachkommen zu können 14.
10 Zur methodischen Kritik an einer Untersuchung von Übereinstimmungen zwischen Wählern und Wahlkreisabgeordneten vgl. Hoffmann-Lange, Kongruenzen, S.273 (275 f.) und Weßels, Abgeordnete und Bürger, S. 325 (329 ff.). Vgl. weiter aus Sicht der Abgeordneten Patzelt, ZParl 1996, S. 468 f. 11 Udo Bermbach, Wertewandel und politisches Institutionensystem (1986) in: ders. Demokratietheorie und politische Institutionen (1991), S. 129 (135). 12 Vgl. Zeh, S. 40 f; Barteis, S. 36. IJ Von Arnim, Zweitbearbeitung Bonner Kommentar (1980), RN 101 zu Art. 48. 14 Peter M. Huber, Der Parteienstaat als Kern des politischen Systems - Wie tragfähig ist das Grundgesetz, JZ 1994, S. 689 (691)
11. Freiheit und Unabhängigkeit
83
c) Unabhängigkeit von der Partei Die Parteien sind heute durch ihre Rolle bei der Kandidatenaufstellung und Wahl und durch die Formierung des Abgeordnetenwillens zu Mehrheiten im Rahmen der Parlamentsfraktionen ein bestimmender Bestandteil demokratischer Repräsentation nach dem Konzept des Grundgesetzes. In der Sicherung des Abgeordneten vor Weisungen der Partei sehen deshalb viele Autoren den heute wichtigsten Sinn des Unabhängigkeitsgebots l5 • Ernst R. Huber sieht einen Wandel von der ursprünglichen Schutzrichtung gegenüber den altständischen Wahlkörpern zum vorrangigen Schutz vor den Parteien, der mit der Weimarer Reichsverfassung seinen Abschluß gefunden habe l6 •
Im Rahmen seines Konzepts vom Parteienstaat wurde dagegen von Gerhard Leibholz zugespitzt formuliert, daß ein Unabhängigkeitsschutz gegenüber Partei und Fraktion nicht erforderlich sei, da sich das repräsentative System zu einem Parteienstaat entwickelt habe, in dem die Abgeordneten lediglich vorgezeichnete Parteimeinungen umzusetzen haben, einem "Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat,,17. Diese Beschreibung der Realität, welche die Lehre vom Parteien staat theoretisch einzuordnen versucht, ist weder zur Zeit ihrer Formulierung noch heute belegbar gewesen l8 • Die Parteienstaatsthese entspricht auch nicht dem Leitbild des Grundgesetzes l9 • Das Verhältnis von einzelnem Abgeordneten, Parlamentsfraktion und aufstellender Partei stellt sich vielmehr als ein spannungs- und interaktionsreiches Wechselverhältnis dar, das zudem je nach politischer Situation und dem Selbstverständnis der Parteien und Abgeordneten sehr unterschiedlich ausfällt20 • Juristisch äußert sich dies darin, daß weder von einem Vor15
Z.B. Jürgen Lückhoff, Das "freie Mandat" des Abgeordneten, APuZ Nr. 5/1989, S. 17 (21). 16 E.R. Huber, Bd. VI, S. 37 und S. 365 ff.. 17 Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie (1967), S. 78 (93 f.). 18 Dazu etwa Peter Haungs, Die Bundesrepublik - ein Parteien staat? Kritische Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Mythos, ZParl 1973, S. 502 ff. Zustimmend z.B. Dehne, S. 88 f. Vgl. Stuby, S. 314; Anders nur bei sehr polemischen Stellungnahmen wie Schachtschneider, S. 1153. 19 Magiera, S. 141f.; Philip Kunig, Parteien, HStR II, § 33, S. 103 (143 ff.); Wefelmeier, S. 139 ff. (142). Zur Genese des Parteienstaatsbegriffs im Rahmen der Integration von Demokratie und Pluralismus in das Staatsrecht vergleiche: Christoph Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik (1993). 20 Vgl. Stuby, Der Staat 1969, S. 303; Boldt, Stellung des Abgeordneten, S.26. Tsatsos benennt eine Dialektik zwischen dem repräsentativen und parteienstaatlichen Prinzip, Einführung, S. 78. Aus politikwissenschaftlicher Sicht wird das Verhältnis von Art.38 und Art. 21 als Festschreibung des "Trustee-DelegateKontinuums" in der Rollenbeschreibung des Abgeordneten gesehen, vgl. Weßels, Abgeordnete und Bürger, S. 325 (327). 6*
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
rang von Art. 21 GG noch von Art. 38 GG, sondern von einer konkordanten Interpretation beider Normen im Rahmen der demokrati'schen Repräsentation auszugehen ist. Relevante Theorieansätze hierfür sind die Theorie vom rahmengebundenen Mandae 2 oder vom parteigebundenen Mandat. Beide Ansätze berücksichtigen aber die Vielfalt der legitimen Bindungen und Einflüsse nicht hinreichend, denen der Abgeordnete unterliegt. Sie sind von Christian Wefelmeier weiterentwickelt und in der Theorie des pluralistischen Mandats aufgehoben worden 24. Das Wechselverhältnis von freiem Mandat und Parteibindung und -mitwirkung, von Abgeordneten und Parteien, ist davon geprägt, daß letztere der Sphäre gesellschaftlicher Selbstorganisation entstammen, die Abgeordneten diese dann in der staatlichen Sphäre vertreten, dort die Themen und Anliegen der gesellschaftlichen Diskussion einbringen und eine Verbindung zwischen bei den herstellen 25 • Eine Gefahr für die Realisierung dieses Modells liegt darin, daß die Parteien nicht zuletzt durch den starken Einfluß der Abgeordneten in ihnen zunehmend in die staatliche Sphäre einrücken, Regierungsmitglieder und Fraktionsspitzen zuviel Macht konzentrieren und die für die Stiftung von demokratischer Qualität der Repräsentation, von Konsens und Legitimität notwendige Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft schlechter funktioniert26 • Ein Gegensatz zwischen "Partei im Staat" und Mitgliederpartei entsteht27 , der die Gefahr einer Umkehrung der Richtung von Willensbildung und einen Verlust an demokratischer Qualität besorgen läßt. Diskussionen über eine zu geringe Parteibindung des parlamentarischen Verhaltens der Abgeordneten sind vor diesem Hintergrund vor allem in der SPD immer wieder geführt worden und
21 Ausführlich Spalckhaver, S. 121 ff.; Dehne, S. 121 ff.; Gusy, ZfP 1989, S.264 (280 f.). 22 Norbert Achterberg, Das rahmengebundene Mandat (1978). 2l Badura, BoK, Art. 38, RN 70. Ihm folgt Dehne, S. 132, 24 Wefelmeier, S. 158 ff. 25 Grundsätzlich: Peter Badura, Parteien staatliche Demokratie. 26 Vgl. Habermas, Volkssouveränität, S. 600 (618 f.): "Mit dem Prozeß der Verstaatlichung der Parteien verlagert sich die politische Willens bildung in ein politisches System, das sich weitgehend selbst programmiert. Dieses wird von den demokratischen Quellen seiner Legitimation in dem Maße unabhängig, wie es ihm gelingt, Massenloyalität aus der Offentlichkeit zu extrahieren. So ist die Kehrseite eines halbwegs erfolgreichen Sozialstaates jene Massendemokratie, die Züge eines administrativ gesteuerten Legitimationsprozesses annimmt." Jürgen Seifert, Die unfertige Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik 1989, S.97 (100 ff.). 27 Vgl. z.B. Alex Demirovic, Nicos Poulantzas (1987), S. 124 ff.; Hasel Ladeur, S. 221 f.; Bermbach, Imperatives Mandat und recall, S. 85 ff.
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auch heute noch aktue1l 2B • Die Grünen wollten, insbesondere in den ersten Jahren ihres parlamentarischen Auftretens, gerade einer als Mißstand empfundenen Dominierung der Parteien durch die Abgeordneten entgegenwirken, indem sie eine strikte Bindung an Parteibeschlüsse durchzusetzen versuchten29 • Die vielfach beklagte Problematik der Hierarchisierung der Abgeordneten und der faktischen Einschränkung der Entscheidungsfreiheit von Abgeordneten ist in stärkerem Maße ein Problem des Verhältnis der Ab~eordneten zur Fraktionsführung und damit ein innerparlamentarisches Problem o. Aus politikwissenschaftlicher Sicht wird zudem die Einbindung der Abgeordneten in den Rahmen von Partei und Fraktion als notwendiges Element für Stabilität und Funktionsfähigkeit des politischen Systems - auch im Sinne der wirksamen Ermöglichung der Einflußnahme von Wählerinnen und Wählern - gesehenlI. Empirisch und politisch ist eine einseitige Steuerung der Abgeordneten und Fraktionen durch die Parteiorganisation nicht feststellbar12 • Es besteht ein Wechselverhältnis, in dem eine eher zunehmende Dominanz der Abgeordneten und Fraktionen über die Parteiorganisation durch deren vorgelagerte Stellung im Willensbildungsprozeß, materielle und Informationsressourcen und Medienzugänge festgestelle l , teilweise beklagt wird. Die real existierenden Parteien sind durch ihre vielfach dezentralisierte und fragmentierte Struktur zu einer machtpolitisch wirksamen Einwirkung auf die Abgeordneten nicht zentral, sondern hauptsächlich regional und punktuell durch ihre rechtlich gesicherte Stellung bei der Kandidatenaufstellung in der Lage. Problematisch erscheint weiterhin die Binnenstruktur der Fraktionen. Sie binden die Abgeordneten durch ihre internen Regeln und Geschäftsordnungen stärker als die Partei als solche. Das freie Mandat, die rechtlich gesicherte Freiheit zur Abweichung, ist eine wichtige
2B Beispiele bei Stuby, S. 304 f.; Bermbach, Imperatives Mandat und recall S. 74 (89); Ellweinl Hesse, S. 257 ff. 29 Wefelmeier, S. 142 ff. 10 Das wird z.B. deutlich in der zugespitzten Gegenüberstellung bei HammBrücher, Gewissen. Kritisch dazu: R. Herzog, Grundlagen, S. 24: "Es gibt kein verfassungsrechtliches Verbot des innerfraktionellen Liebesentzugs." Ausführliche Kritik an Hamm-Brücher bei Eberhard Schütt-Wetschky, Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse?, APuZ 4811987, S. 3 ff, vgl. auch P.M. Huber, JZ 1994, S.689 (691 ). 31 Vgl. z.B. Winand Gellner, Die Blockade der politischen Gewalten in den USA, APuZ Nr. 8-9/1996, S. 3 (6). 32 Haungs, S. 511. 11 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (281): "Das Bild, wonach die Abgeordneten fremdbestimmt von der Partei entscheiden, ist so jedenfalls faktisch nicht der Normal-, sondern der Ausnahmefall."
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Stütze - wenn auch keine jederzeit hinreichende Bedingun~ - für eine demokratische und dialogorientierte innere Struktur der Fraktionen 4. Durch die Funktion der Parteien bei der Aufstellung der Abgeordneten ist diesen allerdings punktuell in hohem Maße Einfluß auf die Abgeordneten gegeben 35 , der auch mit der Mandatskonzeption des Grundgesetzes vereinbar ist. Veränderungen beim Einfluß der Parteiorganisationen und der Wählerinnen und Wähler auf die Abgeordneten - wenn sie angestrebt werden - sind also eher beim Wahlrecht und der Kandidatenaufstellung zu verorten als im Status des gewählten Abgeordneten 36. Eine Sicht der Abgeordneten als reine Vertreterinnen und Vertreter der Parteien im Parlament entspricht nicht der Konzeption des Grundgesetzes 37 • Es erscheint daher im übrigen auch bei halbstaatlicher Parteienfinanzierung38 nicht möglich, die soziale Sicherung der Abgeordneten den Parteien oder Fraktionen zuzuweisen. Anders verhält es sich bei den Wahlbewerbern, die vor ihrer Wahl noch eindeutiger der parteilich-gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen sind. d) Unabhängigkeit von Verbänden
Weiterhin wird der Unabhängigkeitsschutz in Verbindung mit der Zugehörigkeit von Abgeordneten zu Unternehmerverbänden, Gewerkschafts-, Berufsund Interessenverbänden durch Mitgliedschaft oder Arbeitsverhältnis gesehen. Der Einfluß der Verbände im politischen Prozeß vollzieht sich durch deren allgemeine und besondere Einflußnahme (Lobby) auf die parlamentarische Diskussion und hier insbesondere im Kontakt mit Abgeordneten, die den Verbänden als Mitglieder oder Funktionsträger und -trägerinnen verbunden sind39 • Der Anteil von durch frühere oder aktuelle Funktionen besonders an Verbände gebundenen Abgeordneten wird auf ca. 50 % geschätzt40 • Insbesondere soweit es
Apel, Deformierte Demokratie, S. 223 f. Vgl. Bodo Zeuner, Wahlen ohne Auswahl - Die Kandidatenaufstellung zum Bundestag in Martin Greiffenhagen (Hrsg.): Demokratisierung in Staat und Gesellschaft (1973), S. 225 ff; Joachim Henkel, Die Auswahl der Parlamentsbewerber (1976); Dieter Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers (1977), S. 25 f. 36 Seifert, Blätter 1989, S. 97 (102). 37 Vgl. WilU Geiger, Der Abgeordnete und sein Beruf in: Politik als Beruf? (1979), S. 105 (109). 38 Vgl. §§ 18-22 Partei enG. 39 Vgl. Manfred Hirner, Das Parlament im Netzwerk gesellschaftlicher Interessen in: D. Herzog/ RebenstorJl Weßels (Hrsg.), Parlament und Gesellschaft (1993), S. 138. Rudzio, S. 86 ff. Patzelt, ZParl 1996, S.462 (493 f.); Röhrich, Demokratie, S. 133 ff. 40 Rudzio, S. 87. 34 35
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sich hierbei um hauptamtliche Funktionen handelte oder handelt, benötigen diese Abgeordneten den Schutz des freien Mandats vor Weisungen 41. Die Wirkung auf demokratische Qualität und Funktionsfähigkeit der Parlamente wird ganz unterschiedlich betrachtet. Angesichts der universellen Schutzrichtung des freien Mandats und des faktischen Einflusses der Verbände hat der Unabhängigkeitsschutz jedenfalls eine Schutzrichtung auch gegen diese. Wenn Abgeordnete durch das freie Mandat vor der Einflußnahme der Partei geschützt werden, deren Verbindung zu ihnen und ihrer Abgeordnetentätigkeit durch Wahl- und Parteienrecht abgesichert ist und die für alle Wählerinnen und Wähler bekannt ist, so muß der Unabhängigkeitsschutz erst recht und verstärkt gegenüber anderen Organisationen gelten. e) Unabhängigkeit von privaten Interessen
Schließlich soll der Unabhängigkeitsschutz die Einflußnahme einzelner, oft aufgrund wirtschaftlicher Interessen42, verhindern, indem die wirtschaftliche Abhängigkeit der Abgeordnetenentscheidungen durch Aufträge und Weisungen rechtlich mißbilligt wird. Daraus ergibt sich auch, daß solche Abhängigkeiten faktisch mit den Mitteln des Parlamentsrechts nicht gefördert werden dürfen und soweit möglich verhindert werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht ist darauf 1975 im Diäten-Urteil näher eingegangen, weil es diese Anforderungen nicht erfüllt sah4). Die soziale Sicherung der Abgeordneten wird besonders von der Tatsache bestimmt sein müssen, daß berufliche, vertragliche und persönliche Bindungen in vielfältiger Weise soziale Sicherung schaffen und determinieren und die Abgeordneten den Freiraum benötigen, sich dieser Bindungen entledigen zu können oder ihnen für ihr parlamentarisches Verhalten keine erzwungene Bedeutung einräumen zu müssen. f) Ergebnis
Insgesamt ist der Schutzzweck der Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten gerade in der Sicherung der demokratischen Repräsentationsfunktion und ihrer Offenheit44 und der damit verbundenen Kommunikationsfunktion des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten 45 zu sehen. Abgeordnete sollen die Bartels, S. 36. Vgl. Christine Landfried, Partei finanzen und politische Macht (1990), S. 43 ff. 4) BVerfGE 40, S. 296 (297). 44 Baldt, Stellung des Abgeordneten, S. 15 (16). 45 Walfgang Ismayr, Parlamentarische Kommunikation und Abgeordnetenfreiheit (1982), S. 81 f.. 41
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Möglichkeit haben, in verschiedener Weise selbstverantwortlich46 die Gewichtung auf sie einwirkender Interessen und Forderungen vorzunehmen 47. Sie sind mit der notwendig freien Aushandlung von Kompromissen beauftragt, nachdem die freie Wahl für eine möglichst faire Vertretung und Aggregierung gegebener Interessenlagen und Präferenzen geführt haben sollte und damit die relevanten Deutungsperspektiven in die Entscheidungsfindung einbezogen sein können48. In der Sichtweise der Systemtheorie der Gesellschaft heißt dies, daß die Abgeordneten ihrer spezifischen Aufgabe nachkommen, im politischen Funktionssystem die übrigen gesellschaftlichen Funktionssysteme mit den notwendigen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu versorgen. Ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ist dabei ebenso Voraussetzung wie ihre autonome und sachverständige Stellung darin 49. Dabei bleibt eine Schutzrichtung gegenüber der organisierten Staatlichkeit erhalten, Abgeordnete üben kein staatliches, sondern ein öffentliches Amt aus 50 • Diese Willensbildung soll aber frei von sachfremden Motiven und politisch unkontrollierbareri Bindungen bleiben. So kann das Abgeordnetenmandat glaubwürdig 51 wahrgenommen werden und damit seiner Repräsentations-, Integrations- und Befriedungsfunktion gerecht werden 52. Die Möglichkeit vielfältiger Bindungen kann dazu führen, daß keine - auch nicht die an die Partei und an die Regierung durch die Strukturen im parlamentarischen Regierungssystem - übermächtig wird 51 • Die Forderung nach völliger Unbefangenheit und Unparteilichkeit der Abgeordneten gegenüber den zu entscheidenden Gegenständen 54 ist angesichts ihrer Herkunft aus der gesellschaftlichen Sphäre und ihrem Stand mitten in der Ge-
Friedrich Karl Fromme, Der Parlamentarier - ein Freier Beruf (1978), S. 55. Empirisch bei Patzelt, Beruf, S. 28 ff.; Boldt, Stellung des Abgeordneten, S. 16 (32 f.): "Freiraum", der den Abgeordneten zu einer "Vermittlerfunktion" befähigt. S. 61: "Der Abgeordnete ist gerade dadurch frei, daß er vielen Abhängigkeiten unterliegt und sich auf das freie Mandat berufen kann."; Haungs, S. 502 (510). Zeh, S.40; Karl Matthias Meessen, Beraterverträge und freies Mandat, FS Scheuner (1974), S. 431 (445); Schäuble, Das personale Element, S. 221 (225). 48 Habermas, Faktizität, S. 224 f. 49 Willke, S. 54 (79); vgl. dazu Andreas Greifeid, Das Wahlrecht des Bürgers vor der Unabhängigkeit des Abgeordneten, Der Staat 1984, S. 501 (512 ff.). 50 Czepluch, S. 106 f. 51 Dimitris Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik (1987), S. 51. 52 R. Herzog, Grundlagen, S. 26 f. 51 Meessen, S. 446. 54 So Hans-Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen (1979), S. 388 f.; ders., Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz (1976), S. 33. 46
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seIlschaft irreae 5 , sie entspricht auch gar nicht der Funktion des repräsentativen Parlaments, durch Präsenz und Verhandlung der gesellschaftlichen Interessen Lösungen, Kompromisse und gesellschaftlichen Frieden zu stiften. 2. Schutzbereich Der Schutzbereich des freien Mandats umfaßt die gesamte Abgeordnetentätigkeit. Gesetzgebung, die dem Bundestag übertragenen Wahlen, Regierungskontrolle, die öffentlichen Funktionen und die Mandatskonzeption sollen von den Abgeordneten selbst bestimmt werden. Das ergibt sich bereits aus der Entstehungsgeschichte, bei der nicht nur das parlamentarische Handeln im engeren Sinne (Wahlen und Abstimmungen), sondern auch Reden und Handlungen der Abgeordneten in Art. 38 erwähnt werden sollten56 • Dies unterblieb lediglich aus sprachlich-redaktionellen Gründen 57. Während bei den sich in festgelegten Beratungen und Abstimmungen manifestierenden Parlamentsfunktionen der Normgehalt klar dahingehend bestimmbar ist, daß eine rechtlich wirksame Bindung des Abgeordnetenverhaltens durch Aufträge und Weisungen nicht möglich ist, wirken im weiteren Bereich der kommunikativen und Wahlkreisarbeit, der Öffentlichkeitsarbeit und der je individuell verschiedenen Tätigkeit in der Mandatszeit die Gebote der Freiheit und Unabhängigkeit und der Repräsentativität zusammen im Gebot der freien Mandatskonzeption. Sie bedeutet die Freiheit der Abgeordneten, Inhalt, Schwerpunkte und Konzeption ihres Mandats so weitgehend wie möglich selbst zu bestimmen. Das dient der Sicherung der Verschiedenheit und Chancengleichheit der Abgeordneten zur Sicherung der Repräsentativität des Gesamtparlaments. Die freie Mandatskonzeption spiegelt - im Rückgriff auf Menschenwürde, Handlungsfreiheit und Meinungsfreiheit - Freiheit und Verschiedenheit der Bevölkerung wider58 • Es ist kennzeichnend für die plurale Gesellschaft, Abgeordnete mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Mandatskonzeptionen als Vertreter zu bestellen 59 • Die Individualisierung und Pluralisierung von Lebensverhältnissen und 55 Bereits die moderne Naturwissenschaft (Quantenphysik) lehrt, daß keine unbeteiligte Beobachtung, erst recht keine unbeeinflußte Beteiligung an irgendeinem Vorgang möglich ist. 56 Erste Lesung im Hauptausschuß am 11.11.1948 auf Antrag des Abg. Dr. Süsterhenn (CDU). Siehe Füßlein, JöR 1951, S.355; Hamm-Brücher, Gewissen, S.17ff. 57 Zweite Lesung im Hauptausschuß am 7.1.1949 auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 13.12.1948. 58 . . Schia/chI Schreiner, NJW 1979, S. 673 (676); Thomas Oppermann, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VdVDStRL 1975, S. 63. 59 Kommissionsbericht vom 15.6.1990, BT-Drucks. 7/5531, S. 8: "pluralistische Repräsentation. "
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Lebensstilen, die Heterogenisierung von Berufs- und Ausbildungsbiographien in der Gesellschaft wird zunehmend als Herausforderung an die politischen Institutionen verstanden, diesen Wandel aufzunehmen und zu verarbeiten 60 • Als Schutz unterschiedlicher Mandatskonzeptionen verstanden, kann das freie Mandat dabei helfen. Das Postulat der Unabhängigkeit besagt nicht, daß Abgeordnete in ihren Entscheidungen keinen Bindungen unterliegen dürfen. Repräsentativität unter dem Demokratiegebot verlangt vielmehr eine Fülle von kommunikativen Bindungen und Kopplungen an die Bevölkerung und die sich in ihr bildenden Gruppen 61 • Die freie Mandatskonzeption ist aber begrenzt durch die Dauer der Wahlperiode, an deren Beginn und Ende ein wirksames und legitimes Druckinstrument stehen soll: die Wahl. So kann und soll das freie Mandat nicht vor den durch gesellschaftliche Kommunikation und politischen Druck vermittelten Einflußnahmen schützen, die gerade die Bedingung der demokratischen Repräsentation sind, sondern es soll im Gegenteil diese Kommunikation fördern und schützen. Das freie Mandat bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen Schutz davor, daß sich dieser Druck zu einer rechtlichen Bindung verfestigt62 • Entscheidend für den Normgehalt des freien Mandats ist, daß die Bindungen z.B. an Partei- und Fraktionsbeschlüsse, aber auch an im Wahlkreis oder vor Verbänden gegebene Versprechen - freiwillig ein~egangen werden und nicht rechtlich verbindlich und erzwingbar sein dürfen6 .• Aus wirtschaftlichen Bindungen z.B. aufgrund von Beraterverträgen können sich keine einklagbaren Rechte auf loyales Verhalten im Parlament ergeben64. Dieses Verbot der rechtlichen Bindung ist auch vor Umgehungen zu schützen, wie z.B. der Hinterlegung von Blanko-Rücktrittserklärungen, ehrenwörtlichen Rücktrittsversprechen oder Schulderklärungen zugunsten der Partei65 • Die Erwähnung des Gewissens unterstützt diese Konzentration auf die eigene Meinungsfindung und Selbstbindung
60 Von Beyme, Politische Klasse, S. 106; Roth, S. 364 (386). Helmuth Berking, Lebensstile, Identitätspolitiken und Gestaltungsmacht, GMH 1996, S. 488 (490 f.). 61 Magiera, S. 137 (139 f. und 144 ff.). 62 Wefelmeier, S. 162 ff; lsmayr, Bundestag, S.82; Eschenburg, Gesellschaft, S. 502; Gassner, S. 442. 63 Magiera, S. 145; Dehne, S. 76. 64 Meessen, S. 437. 65 Beispiele bei Rudzio, S. 105 aus der Praxis von KPD, BHE und NPD. R. Herzog, Grundlagen, S. 23. Für die Weimarer Republik bei E.R. Huber, Bd. VI, S. 366. Ein aktuelles Beispiel für den Einsatz von nachträglich datierten Rücktrittserklärungen ist der Abgeordnete Gaulieder in der Slowakei, der aus der HZDS ausgetreten war, vgl. bko., Einschüchterung eines Unbequemen?, FAZ, 9.12.1996.
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der Abgeordneten66 , begründet aber keine neue und eigenständige Kategorie von Entscheidungen. Die soziale Sicherung der Abgeordneten muß diesen Schutz vor rechtlichen Bindungen realisieren helfen, die Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten bedrohen. Sie muß so organisiert werden, daß möglichst weder die Regierung noch die Partei noch private Arbeitgeber und Vertragspartner der Abgeordneten Druckmittel besitzen, weil die Abgeordneten von ihnen sozial abhängig sind oder weil sie die soziale Sicherung beeinflussen können. Sie muß auch die Freiheit der Mandatskonzeption schützen, darf also keine unnötige Vorgabe für Arbeitsweise, zeitliche Dauer der Abgeordnetenkarriere und den Entschluß zur Kandidatur enthalten .
.• 66 Dazu und zur Genese des Begriffs im Verfassungsrecht Erk Volkmar Heyen, Uber Gewissen und Vertrauen der Abgeordneten, Der Staat 1984, S. 35 (41 ff.).
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot Das Verbot, Abgeordnete bei Mandatsübernahme oder -ausübung zu behindern, ist im Grundgesetz zusammen mit dem Kündigungs- und Entlassungsverbot in Art. 48 Abs.2 GG enthalten: "Niemand darf gehindert werden. das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig." Beide Sätze stehen von Entstehung und Auslegung her in einem engen Zusammenhang. Ihr rechtliches Wechselverhältnis ist im Einzelnen strittig und auslegungsbedürftig. Das Behinderungsverbot im ersten Satz erscheint als der weitergehende Rechtssatz, das Kündigungs- und Entlassungsverbot als wichtige spezielle Ausformung. Die Bedeutung des Kündigungs- und Entlassungsverbots für die soziale Sicherung ist evident, da das hier geschützte Arbeitsverhältnis Grundlage und Anknüpfungspunkt sozialer Sicherung ist. Welche Bedeutung das allgemeine Behinderungsverbot für die Ausformung der sozialen Sicherung hat, ist klärungsbedürftig. Dies wird im weiteren herauszuarbeiten sein. 1. Geschichtliche Entwicklung Zum besseren Verständnis der Norm wird zunächst ihre Entstehungsgeschichte im deutschen Verfassungsrecht betrachtet. Hierbei sind in unterschiedlichen Entwicklungsstufen zwei speziellere Normsätze zu betrachten, aus denen sich der heutige Art. 48 Abs. 2 GG zusammensetzt: die Behinderungsverbote für Beamte und diejenigen zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
a) Verfassungen vor 1918 In den frühen Länderverfassungen des 19. Jahrhunderts war insbesondere die Frage umkämpft, ob Beamte von ihren Landesherren einer Genehmigung oder der Bewilligung von Urlaub zur Annahme und faktischen Wahrnehmung eines Parlamentsmandats bedurften I. Die Verweigerung des Urlaubs oder die Zwangspensionierung oder Versetzung gegen - insbesondere als Professoren - beamtete Abgeordnete wurde in politischen Konflikten von den Regierungen einzelner Länder zur Behinderung oppositioneller Abgeordneter benutze, so in Bayern I Vgl. Paul Feuchte, Zur Geschichte und Auslegung des Behinderungsverbots in Art. 48 Abs. 2 des Grundgesetzes, AöR 111, S. 325 ff; Götz Sadtler, Die Bedeutung des Art. 160 WRV für das Arbeitsrecht (1968), S. 44. 2 lulius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches (1915), S. 585.
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
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gegen Wilhelm Josef Behr, in Baden gegen Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker 1832 oder in Württemberg gegen Ludwig Uhland und Friedrich von Römer 1833. In Baden führten wiederholte Behinderungen dieser Art zu einem schweren Konflikt, in dessen Verlauf die zweite Kammer (Volkskammer) die Eingriffe am 19. August 1842 für verfassungswidrig erklärte. Sie wurde später vom Großherzog aufgelöst. Nach Neuwahlen kam es 1843 zum ersten parlamentarischen Mißtrauensvotum der deutschen Geschichte l . Die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 nahm den Satz: "Personen, die ein öffentliches Amt bekleiden, bedüifen zum Eintritt ins Volkshaus keines Urlaubs," in das Reichswahlgesetz4 auf. In der preußischen Verfassung von 1850 hieß es: "Beamte bedüifen keines Urlaubs zum Eintritt in die Kammer, "s was fast wortgleich in die Verfassung des Norddeutschen Bundes· und
in die Reichsverfassung von 1871 7 übernommen wurde. Diese Bestimmungen zielten vor allem darauf ab, Einflüsse der Regierung auf den parlamentarischen Ablauf durch Behinderung von als Abgeordnete gewählten Beamten zu verhindem 8 • Ob sie auch die in einem Arbeits-, Dienst- oder Angestelltenverhältnis privater Art stehenden Abgeordneten schützen sollten und wie weit der Begriff der "Beamten" gehen sollte, ist umstritten 9 • Faktisch unterfielen jedenfalls nur höhere Beamte diesen Verfassungsnonnen. Offiziere waren ausgenommen lO • Die Beamten mußten keine Stellvertreterkosten an die Staatskasse zahlen I I, auch wenn dies vereinzelt gefordert wurde. Sie wurden also für ihre Mandatsausübung voll weiter besoldee 2 •
E.R. Huber, Bd. 11, S. 441 f. Reichswahlgesetz vom 12.4.1849 (E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. I, S. 324f.; § 94 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849 (RGBI. vom 28.4.1849), S. 101 ff; vgl. Detle! Spoerhase, Probleme des grundgesetzlichen Verbots der Abgeordnetenbehinderung (Artikel 48, Absatz 1 und 2 GG) (1968), S. 14. 5 Art. 78 Abs.2 der Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 (PrGS 1850, S. 17). 6 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867, Art. 21 Abs. 1; vgl. Spoerhase, S. 14; E.R. Huber, Bd. III, S. 662: Bismarck hatte sich für eine Inkompatibilität ausgesprochen, um Homogenität und Disziplin des Beamtenstandes zu wahren. 7 Art. 21 Abs.2 RV: "Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag" . 8 Vgl. Hatschek, S. 589. Feuchte, S. 329 f. 10 E.R. Huber, Bd. III, S. 896. 11 § 14 Abs. 2 Reichsbeamtengesetz; Hatschek, S. 596. 12 E.R. Huber, Bd. III, S. 895 f. 1
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B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Zugleich legte die Reichsverfassung fest, daß bei Annahme eines besoldeten Staatsamtes im Reich oder einem Bundesstaat oder bei seiner Beförderung der Beamte im Reichstag Sitz und Stimme verlieren sollte lJ • Damit war zwar zum einen die Unabhängigkeit des Reichstags vor Einflußnahme bezweckt, zugleich wurde bewirkt, daß sich beamtete Abgeordnete in einer schwierigen Lage stets möglicher Interessenkonflikte befanden, die ihre politische und berufliche Tätigkeit erschwerte 14 • Jedenfalls markierte die neue Verfassungslage auch eine Verlagerung grundsätzlicher politischer Konfliktlinien. Diese verliefen nun zwischen den konservativ-adligen und Teilen der bürgerlichen Kräfte einerseits und der erstarkenden politischen Arbeiterbewegung andererseits 1s. Das Behinderungsverbot für Beamte hatte an Brisanz verloren, weil viele von ihnen 1871 stärker als in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts eine Stütze der bestehenden Verhältnisse geworden und somit grundsätzliche Konflikte mit der Regierung nicht mehr zu besorgen waren, wenn auch Konflikte in Einzelfragen durchaus stattfanden l6 •
b) Die Weimarer Reichsverfassung und die Länderverfassungen 1918-1933 In der Weimarer Reichsverfassung wurde der Schutz der Beamtinnen und Beamten genauer gefaßt und erweitert. Art. 39 WRV lautete: "Beamte und Angehörige der Wehrmacht bedürfen zur Ausübung ihres Amtes als Mitglieder des Reichstags oder eines Landtags keines Urlaubs. Bewerben sie sich um einen Sitz in diesen Körperschaften, so ist ihnen der zur Vorbereitung ihrer Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren. " Neu war hier die Einbeziehung der Soldaten und die Ausdehnung der Regelung auf die Landtage. In der preußischen Verfassung von 192017 wurden öffentlich Beschäftigte noch weitergehend geschützt: ,,(1) Beamte, Angestellte und Arbeiter des Staates und der Körperschaften des öffentlichen Rechts bedürfen zur Ausübung der Tätigkeit als Abgeordnete keines Urlaubs. (2) Bewerben sie sich um einen Sitz im Landtag, so ist ihnen der zur Vorbereitung ihrer Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren.
Art. 21. Gerhard A. Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus (1976), S.176. IS Plüm, Die arbeitsrechtliche Stellung der Abgeordneten (1975), S. 11. 16 E.R. Huber, Bd. III, S. 896 nennt z.B. den Konflikt um den Bau des Mittellandkanals 1899. 17 Art. 11 der Verfassung des Freistaats Preußen vom 30.11.1920 (PrGS 1920, S. 543); vgl. Spoerhase, S. 18. 13
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III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
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(3) Lohn und Gehalt sind weiter zu zahlen." Eine inhaltlich dieser entsprechende Norm enthielt die bayerische Verfassung von 191918 •
An anderer Stelle der Weimarer Reichsverfassung, nicht im zweiten Abschnitt über den Reichstag, sondern im fünften Abschnitt über "Das Wirtschaftsleben", wurde geregelt: "Wer in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis
als Angestellter oder Arbeiter steht, hat das Recht auf die zur Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und, soweit dadurch der Betrieb nicht erheblich geschädigt wird, zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter nötige freie Zeit. Wieweit ihm der Anspruch auf Vergütung erhalten bleibt, bestimmt das Gesetz. "
Dieser Artikel 160 WRV wurde als arbeitsrechtliche Norm mit unmittelbarer Wirkung ins Dienst- oder Arbeitsverhältnis verstanden l9 , als subjektivöffentliches Grundrecht, das zugleich ein subjektives privates Recht konstituierte20 • Sie bedeutete kein allgemeines Nachteils- oder Kündigungsverboe 1 wie es in den Beratungen der Nationalversammlung zunächst vorgeschlagen war22 • Die Gewährung des staatsbürgerlichen Freizeitrechts auch auf Beamte und Beamtinnen war umstritten 23. Der Rechtsgedanke konnte bei ihnen aber zur Ausfüllung von Lücken des Schutzes vor Benachteiligung herangezogen werden 24 • Das in der Verfassung in Aussicht gestellte Gesetz über Entgeltfortzahlung wurde nie erlassen 25 , in der Literatur wurde aber die Meinung vertreten, diese sei zu gewähren 26. Die systematische Stellung im fünften Abschnitt der Grundrechte und Grundpflichten der Weimarer Reichsverfassung, "Das Wirtschaftsleben" und die Ausgestaltung zeigen den Ursprung des staatsbürgerlichen Freizeitrechts in den Bestrebungen der politischen Organisationen der Arbeiterbewegung, an den parlamentarischen Institutionen teilzunehmen. Die Norm steht mehr im Kontext des mit den Umwälzungen von 1918 und 1919 durchgesetzten Arbeitsrechts als in dem des klassischen Parlamentsrechts21. Das Reichsarbeitsgericht interpretierte Art. 160 WRV dahingehend, seine Zweckrichtung sei nicht, den Parlamentarismus oder die politische Betätigung in Parteien zu fördern, sondern nur einen 18 Verfassungsurkunde des Freistaats Bayern vorn 14.8.1919, GVBl. S. 531; vgl. Spoerhase, S. 18. 19 RAG vorn 3.12.1930, JW 1932, S. 534, Sadtler, S. 78 f.; Plüm, S. 11. 20 Sadtler, S. 79. 21 So das RAG aaO. 22 Plüm, S. 12. 23 Dafür z.B.: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S 737. 24 Sadtler, S. 81. 25 Art. 160 S. 2 WRV; Plüm, S. 12. 26 Meißner, Das Staatsrecht des Reiches und seiner Länder, S. 68. 21 Sadtler, S. 75.
96 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder individuellen Freizeitanspruch aufzustellen28 • Dementsprechend konnte er für die soziale Sicherung von Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten im Reichstag wenig wirksam werden. Weitergehend war die badische Verfassung vom 21.3.1919, die beide Regelungsbereiche zusammenführte und zum Behinderungs- und Kündigungsverbot verallgemeinerte: "Niemand, insbesondere kein Beamter, Angestellter oder Arbeiter darf an der Übernahme oder Ausübung des Landtagsmandats gehindert und deshalb entlassen, noch darf ihm hierwegen gekündigt werden. Urlaub ist nicht erforderlich 29 • Dagegen war der Kündigungs- und Behinderungsschutz von in der Privatwirtschaft beschäftigten Abgeordneten in anderen Landesverfassungen - wie den zitierten preußischen und bayerischen - nicht enthalten. Damit war auch der Anspruch breiter Bevölkerungsschichten auf Beteiligung am staatlichen Leben durch die Möglichkeit, Abgeordnetenmandate zu übernehmen oder Vertreter zu entsenden, in Verfassungsnormen der Weimarer Republik eingegangen, wenn auch noch unvollständig und unsystematisch. c) Das Kündigungs- und Behinderungsverbot im Grundgesetz
Der erste Entwurf des Grundgesetzes enthielt noch eine lediglich auf Angehörige des öffentlichen Dienstes anwendbare Schutzvorschrift auf der Grundlage von Art. 39 WRV lo . Im Parlamentarischen Rat brachten die Abgeordneten Fecht aus Baden und Kaufmann aus Württemberg-Baden die Vorschläge ein, die zu Art. 48 GG in seiner heutigen Form führten. Sie stützten sich dabei auf die Normen ihrer Landesverfassungen, die an die badische Verfassung von 1919 anknüpftenlI. Im Herrenchiemseer Konvent wurde das Ziel deutlich, die ungehinderte Mandatsausübung der abhängig Beschäftigten einschließlich der Beamten und Beamtinnen zu garantieren und dies durch eine unmittelbar auf das Arbeitsrecht und Dienstrecht wirkende Verfassungsnorm abzusichern12 • Die immer noch bestehende Ungleichheit von im Arbeitsverhältnis und im Beamtenstatus Beschäftigten wurde dabei als Problem erkannt, ohne eine durchschlagende Lö28 29
S.19.
Sadtler, S. 76; Plüm, S. 13. Badische Verfassung vom 21.3.1919 (GVOBI Nr. 28 S. 279); vgl. Spoerhase,
10 Herrenchiemseer Entwurf; Art. 62 HehE; vgl. Spoerhase, S. 22; Sadtler, S. 45; Plüm, S. 14. 11 Art. 68 Abs. 1 der Verfassung für Württemberg-Baden vom 28.11.1946, RegBl. S. 277; Art. 69 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden vom 19.5.1947 (Bad. GVBl. 129); Art. 40 der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern; vgl. Sadtler, S.45; Spoerhase, S. 21, Plüm, S. 15; von Arnim, BoK, RN 29; Paul Feuchte, Verfassung des Landes Baden-Württemberg (1987), RN 1 zu Art. 29. 12 Plüm, S. 14 ff.
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
97
sung zu finden 33 • Ebenso wurde eine Benachteiligung freiberuflich Tätiger befürchtee 4 • Die Frage einer möglichen Lohnfortzahlung sollte nach dem Parlamentarischen Rat der Rechtsprechung überlassen werden. Für den bedingt vergleichbaren Wahlvorbereitungsurlaub wurde weder der Antrag auf Einfügung des Wortes "bezahlten" (Renner, KPD) noch des Wortes "unbezahlten" (Dr. Menzel, SPD) beschlossen 35 • hn Grundrechtsteil des Grundgesetzes war während der Beratungen ein an Art. 160 WRV anknüpfendes Grundrecht auf Freizeit für die Ausübung staatsbürgerlicher Ehrenämter zur Sicherung der Wahlfreiheit und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern vorgesehen gewesen 36. Dieser Vorschlag wurde schließlich wieder aus dem Grundgesetz genommen, da die in ihm behandelten Fragen landesgesetzlich bereits geregelt seien und für den Bund im Wahlgesetz geregelt werden könnten 37 •
Art. 48 Abs. 1 und 2 GG lauten nun: ,,(1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. (2)Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig." Art. 48 Abs. 2 GG führt die in der WRV getrennten Normen des Schutzes der Beamteten und öffentlich Bediensteten einerseits und der privatwirtschaftlich abhängig Beschäftigten andererseits zusammen und knüpft so an die bisher referierte Verfassungsgeschichte an 38 •
d) Das Kündigungs- und Behinderungsverbot in den Länderverfassungen In der Hessischen Verfassung 39 heißt es: "Jedermann ist die Möglichkeit zu sichern, in den Landtag gewählt zu werden und sein Mandat ungehindert und Plüm, S. 14. 34 lörg-Detlef Kühne, Kündigung freiberuflich beschäftigter Parlamentsbewerber, ZParl 1986, S. 347 (352) zitiert Heinz Renner (KPD) in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 23 (2. Sitzung, 11.11.1948): "Der Dumme ist auf jeden Fall der Mann, der sich aus einem freien Beruf heraus zum Abgeordneten wählen läßt." 35 Füsslein, JöR 1951, S. 377 36 Vorschlag des Abg. Dr. Eberhard (SPD) in der 29. Sitzung des Grundsatzausschusses am 4.12.1948 als Art. 19 Abs.2 , vgl. Werner Matz, JöR 1951, S.I92, Plüm, S. 50. 37 Streichung auf Antrag des Abg. Zinn (SPD) in der vierten Lesung des Hauptausschusses in der 57. Sitzung am 5.5.1949, vgl. Matz, JöR 1951, S. 193. 38 Anders Von Arnim, BoK, RN 29, der feststellt, Art. 48 Abs. 2 GG habe "keinen Vorläufer in der Weimarer Reichsverfassung". 39 Art. 76 Abs. 1 HessVerf. 33
7 Welli
98
B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
ohne Nachteil auszuüben." In der Bayerischen Verfassung ist geregelt40 : "Abgeordnete bedürfen zur Ausübung ihres Amtes als Mitglied des Landtags keines Urlaubs von ihrem Arbeitgeber. " Die Nonn der saarländischen Verfassung ist hiennit fast wortgleich 41. In der Hamburgischen Verfassung 42 lautet eine Verfassungsnorm: "Die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten in öffentlichen Ehrenämtern darf nicht behindert werden, insbesondere nicht durch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis. Dem Arbeitnehmer ist die dafür nötige freie Zeit zu gewähren. Wieweit der Anspruch auf Vergütung erhalten bleibt, bestimmt das Gesetz. " Mit dem grundgesetzlichen Behinderungsverbot und Kündigungsschutz annähernd gleiche Verfassungssätze enthalten die Landesverfassungen von Rheinland-Pfalz43, Nordrhein-Westfalen 44, Baden-Württemberg45, Schleswig-Hol. 46 47 48 49 • stein , Sachsen , Sachsen-Anhalt , Mecklenburg-Vorpommern , Nledersachsen 50 und Thüringen 51 • Keinen unmittelbaren Landesverfassungsrang hat der Kündigungsschutz der Abgeordneten in Bremen, Berlin und Brandenburg.
e) Das Kündigungsverbot der Abgeordneten der Volkskammer in der DDR Die Volkskammer der DDR unterschied sich in ihrer verfassungsrechtlichen Stellung, politischen Funktion und demokratischen Legitimation erheblich vom Bundestag, dem Reichstag der Weimarer Republik und den Landesparlamenten in der Bundesrepublik und genügte wesentlichen der oben beschriebenen Grundsätze demokratischer Repräsentativität niche 2 • Sie soll aber in die geschichtliche Betrachtung einbezogen werden, da sie eine besondere Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland darstellte und - zusammen mit dem "Runden Tisch" - gerade durch ihren Anteil am Transfonnationsprozeß der
40
Art. 30 BayVerf. Art. 84 S. 1 SLVerf. 42 Art. 73 HbgVerf. 43 Art. 96 Abs. 1 S. 3 RHPfVerf. 44 Art. 46 Abs. 1 NWVerf. 45 Art. 29 Abs. 2 BWVerf. 46 Art. 4 S. 3 SHVerf. 47 Art. 42 Abs. 2 S. 2 SächsVerf. 48 Art. 56 Abs. 2 S. 2 LSA Verf. 49 Art. 23 Abs. 2 S. 2 MVVerf. 50 Art. 13 Abs. 2 S. 2 NdsVerf. 51 Art. 51 Abs. 2 ,2. Hs ThürVerf. 52 Vgl. Georg Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, HStR I, § 10, S. 385 (415); Zeh, S. 77 ff. 41
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
99
DDR 1989 und 1990 ein Bestandteil der Verfassungsgeschichte der heutigen Bundesrepublik ise 3 • Die Verfassung der DDR von 194954 setzte implizit voraus, daß das Mandat in der Volkskammer zusammen mit einem fortbestehenden Beschäftigungsverhältnis ausgeübt werden konnte und regelte: ,,(1) Abgeordnete der Volkskammer bedürfen zur Ausübung ihrer Tätigkeit keines Urlaubs. (2) Bewerbern um einen Sitz in der Volkskammer ist der zur Vorbereitung der Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren. (3) Gehalt und Lohn sind weiterzuzahlen. " Somit wurden laufender Unterhalt und soziale Sicherung an ein bereits innegehabtes bezahltes Beschäftigungsverhältnis gebunden; darüber hinaus wurde eine Aufwandsentschädigung gewährt55 • Die Verfassung der DDR vom 6.4.1968, die diejenige von 1949 ablöste, bestimmte56 : "Den Abgeordneten dürfen aus ihrer Abgeordnetentätigkeit keinerlei berufliche oder sonstige persönliche Nachteile entstehen. Sie sind von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt, soweit die Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Abgeordnete es erfordert. Gehälter und Löhne sind weiterzuzahlen. " Damit war weiterhin ein ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis der Abgeordneten festgeschrieben, die soziale Sicherung dem Betrieb, der Verwaltung oder der Produktionsgenossenschaft57 übertragen. Eine Sicherung für Selbständige oder nicht Berufstätige war nicht vorgesehen 58 • Das Benachteiligungsverbot umfaßte Z.B. ein Verbot der Versetzung in eine niedrigere Lohngruppe wegen der häufigen Fehlzeiten59 • Die Abgeordneten der Volkskammer waren ehrenamtlich und sollten durch ihre fortgesetzte Betriebsangehörigkeit den Werktätigen verbunden bleiben60 und in den Betrieben eine politische und mobilisierende Funktion
53 Vgl. Uwe Thaysen, Die Verfassungspolitik in der DDR 1989/90, in: Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis (FS Steffani 1992), S. 299 ff. 54 Artikel 68 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949; fast gleichlautend bereits Art. 57 des Entwurfs einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik des SED-Parteivorstands vom 14.11.1946. 55 Artikel 69. 56 Artikel 60 Abs.3 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968 (GBI. I S. 199). 57 Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 2. A., (1982), RN 11 zu Art. 60. 58 Mampel, ebenda. 59 Peter 1 Lapp, Die Volkskammer der DDR (1975), S.66; Autorenkollektiv, Handbuch für den Abgeordneten (1984); Stichwort "Rechtsschutz des Abgeordneten" (S. 150 f.). 60 Lapp, S. 65 f.
7*
100 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
einnehrnen61 • Dies wurde in Darstellungen der DDR explizit als Vorteil gegenüber dem Berufsparlamentarismus der Bundesrepublik angesehen62. Die Verfassung der DDR von 1968/74 galt auch im Umbruch 1989/90 bis zum 3. Oktober 1990, erlebte aber zahlreiche Änderungen63. Gerade die organisationsrechtlichen Teile dieser Verfassung blieben aber in Kraft und gewannen sogar für das weitere Verfahren bis hin zum Beitritt an Bedeutung und erfuhren eine Aufwertung 64 • Bereits die X. Volkskammer, die von März bis Oktober 1990 amtierte, arbeitete aber nach anderen Grundsätzen; das Mandat wurde schon wegen der außergewöhnlich umfangreichen Gesetzgebungstätigkeit und der Diskussion von Grundfragen65 in der Vorbereitung der deutschen Vereinigung von den meisten Abgeordneten vollzeitig ausgeübt. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches hatte für das Statusrecht der Abgeordneten - wie auch das Behinderungsverbot - weitgehend Regelungen vorgeschlagen, die denen des Grundgesetzes glichen66
2. Behinderungsverbot als allgemeiner Verfassungsgrundsatz Nicht einheitlich beurteilt wird die Frage, ob das Behinderungs-, Kündigungs- und Entlassungsverbot des Grundgesetzes aufgrund des Homogenitätsgebots der demokratischen Ordnung in Bund und Ländern67 unmittelbar für diejenigen Landtagsabgeordneten in den Ländern gilt, bei denen der landesverfassungsrechtliche Schutz nicht die Intensität des Grundgesetzes erreicht. Bei der Entstehung von Art. 48 Abs. 2 GG wurden die Worte "des Bundestags" aus dem Entwurf gestrichen, um Zweifel zu beseitigen, ob gleiche Grundsätze auch für Landtagsabgeordnete gelten 68. Systematisch betrachtet steht die 61 Handbuch für den Abgeordneten (1984), S. 11 f; vgl. dort Stichworte "ehrenamtliche Tätigkeit" (S. 54) und "Rechtsschutz des Abgeordneten" (S. 150 f.). dort heißt es auch: "Gleichzeitig liegt es im Interesse des Abgeordneten, die Inanspruchnahme der Arbeitszeit für die Abgeordnetentätigkeit auf das notwendige Minimum zu reduzieren, damit er in der beruflichen Arbeit ebenfalls vorbildlich wirken kann." 62 Vgl. Jürgen Schuster. Parlamentarismus in der BRD (1976). S. 133 ff.; heute kritisch: Michael Benjamin. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 30 (1997). S. 117 (120). 63 Vgl. Thomas Würtenberger, Die Verfassung der DDR zwischen Revolution und Beitritt, HStR Bd. VIII (1995). S. 101 ff.; Preuß. Revolution. S. 82 ff. 64 Würtenberger, S. 122; Preuß, Revolution. S. 84. 65 Vgl. Otto Luchterhandt, Aufbau des parlamentarischen Regierungssystems in der DDR. HStR Bd. VIII (1995). S. 35 (46 ff.). 66 Art. 54 Abs. 2 Runder-Tisch-Entwurf. 67 Art. 28 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG. 68 Zweite Lesung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 7.1.1949. HA-Steno S. 349. Abg. Walter (CDU) nach Füsslein. JöR 1951. S. 377.
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
101
Vorschrift im Grundgesetz allerdings im Abschnitt "Der Bundestag,,69. Für die Geltung der Grundsätze kommt es aber darauf nicht an. Die besondere Erwähnung der Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in Art. 28 Abs. I S. 2 GG weist darauf hin, daß auch die mit ihnen in einem engen Zusammenhang stehenden Normen des Art. 48 GG vom Homogenitätsgebot in ähnlich strenger Weise umfaßt sind. Eine Ausweitung des strengen Homogenitätsgebots nach dem zweiten Satz über die Wahlgrundsätze im engeren Sinn hinaus hat das Bundesverfassungsgericht auch bei der Entscheidung über den Kreis der Wahl· 70 berechtIgten vorgenommen . Detlef Spoerhase lehnt dieses Ergebnis ab, da das Homogenitätsprinzip grundsätzlich nicht die Kraft habe, "Regelungslücken" in den Verfassungen der Länder zu schließen Es beschreibdediglich den Rahmen für den eigenständigen Verfassungsraum der Länder71 • Die Abwägung öffentlicher und privater Interessen an diesem Punkt könne verschieden ausfallen 72 • Götz Sadtler lehnte eine Geltung für die Landtage ab, da diese - anders als in Art. 39 WRV - nicht ausdrücklich erwähnt seien73 •. Dagegen sieht Dimitris Tsatsos im gesamten Bereich des Wahl- und Statusrechts aufgrund des strengen Gleichheitssatzes und der Verschränkung von Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 48 GG wenig Raum für Differenzierungen und erstreckt diese Prinzipien folgerichtig auch auf das Landesverfassungsreche 4 • Diese Auffassung wird in der juristischen Literatur mehrheitlich geteile l . Sie wurde auch vom Bundesarbeitsgericht für Landtagsabgeordnete und Mitglieder von 76 Kommunalparlamenten angewandt . Art. 48 Abs. 2 GG beschreibt Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Diesen kommt aufgrund Art. 28 Abs. 1 und 2 GG bindende Wir69 Feuchte, BWVerf, RN 4; Karl Schweiger in Nawiasky/ Schweiger/ Knöpfle, RN 3 zu Art. 30. 70 BVerfGE 83, S. 37 (53 ff.). 71 Spoerhase, S. 157 f. Ebenso: Udo Stein er, Der verfassungsrechtliche Schutz des parlamentarischen Mandats als Grenze kirchlicher Inkompatibilitätsgesetzgebung, Der Staat 1975, S. 491 (495). 72 Steiner, S. 499. 73 Sadtler, S. 97. 74 Dimitris Tsatsos, Die parlamentarische Betätigung der öffentlich Bediensteten (1970), S. 94 f. 7l Von Arnim, BoK, RN 12 zu Art. 48 GG; H.-P. Schneider in AK-GG, RN 6 zu Art. 48 GG. 76 BAG vom 30.6.1994 - 8 AZR 94/93 - EZA Nr. 1 zu Art. 48 GG in einem Urteil zur in Mecklenburg-Vorpommern geltenden Kommunal verfassung. Die Kommunalverfassungen der Länder wiederholen meist wortgleich die Art. 48 Abs. 2 GG entsprechende Norm, vgl. z.B. § 24 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein (GO SH) i.d.F. v. 1.4.1996 (GVOBI. S. 322).
102 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder kung auch für die Bundesländer zu 77 • Die landesverfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Ausformung kann dabei im Rahmen einer ·Bandbreite möglicher Lösungen 78 anders ausfallen als im GG, sie darf aber nicht hinter dessen Schutzstandard zurückbleiben. Der Gestaltungsspielraum der Länder im Staatsorganisationsreche 9 wird dadurch nicht eingeschränkt. Vielmehr müssen sich die Länder innerhalb ihres Spielraums für eine Konzeption der materiellen Sicherung der Wahlrechtsgrundsätze (und damit der Abgeordneten) entscheiden. Tun sie dies gar nicht oder in einer nicht gleichwertigen Weise, so kann Art. 48 Abs. 2 GG lückenfüllende Geltung beanspruchen. 3. Normzwecke
Bei der Untersuchung der Normzwecke können der Schutz der Grundsätze der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats und der Schutz der einzelnen Abgeordneten unterschieden werden. Art. 48 Abs. 2 GG schützt das Parlamentsinteresse als demokratiestaatliches Interesse an breiter Beteiligung am offenen parlamentarischen Auswahlprozeß und an der Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten8 • Dies wird insbesondere realisiert, indem breiten Teilen der Bevölkerung die Möglichkeit zu Kandidatur und Mandatsausübung geschaffen werden solt. Damit soll erreicht werden, daß eine soziale Repräsentativität des Parlaments zumindest möglich wird82 und so die Freiheit und Gleichheit der Wählbarkeit wirksam gemacht wird83 • Ebenso soll das Behinderungsverbot die Unabhängigkeit und Freiheit des Parlaments und seiner Abgeordneten sichern 84. Art. 48 Abs. 2 GG schützt somit die Verwirklichung der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats. Art. 48 Abs. 2 GG versieht dabei die einzelnen Parlamentsbewerber und -bewerberinnen und Abgeordneten mit einem individuellen Abwehrrecht vor dem aus sozialem Machtgefalle entstehenden Druck, der durch Kündigung oder Entlassung oder andere Repressalien zu einer Bedrohung ihrer persönlichen und 77 78
Feuchte, BWVerf, RN 4 zu Art. 29 Wolfgang Löwer in von Münchl Kunig, GG, RN 6 zu Art. 28. Feuchte,
BWVerf, RN 4. 79 Dazu Siegfried lutzi, Gestaltungsräume der Landesverfassung gegenüber Bund und Europa, KritV 1996, S. 138 (140 f.). 80 Spoerhase, S. 27; Plüm, S. 20; Theodor Maunz in Maunz! Dürig, GG, RN 15 zu Art. 48. 81
Spoerhase, S. 30 f. Plüm, S. 18 f.; Spoerhase, S. 30 83 Bodo Pieroth in larass/ Pieroth, GG, RN 1 zu Art. 48 GG; Von Arnim, BoK, RN 6-8 zu Art. 48; Feuchte, RN 2. 84 Von Arnim, BoK, RN 10 zu Art. 48. Feuchte, BWVerf, RN 2. 82
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
103
politischen Entfaltung führen kann 85. Aus der Sicherung der Effektivität des Behinderungsverbotes ergibt sich im übrigen, daß nicht nur die gelungene, sondern auch die mißlungene Hinderung und nicht nur die Hinderung an der Mandatsausübung insgesamt, sondern die Hinderung an der freien Mandatsausübung nach der Konzeption des Abgeordneten verboten ist. Art. 48 Abs.2 S. 1 GG enthält so gesehen ein Benachteiligungsverbot86 • Die bei den Sätze sind durch ihre Aufnahme in das GG grundrechtsähnliche Abwehrrechte, deren Durchsetzung Einzelne als Mandatsbewerber und bewerberinnen oder Abgeordnete vom Staat verlangen können. Sie haben damit eine doppelte Schutzrichtung: Sie zielen auf ein Mehr an politischer Chancengleichheit und konkretisieren und materialisieren damit das Wahlgleichheitsgebot. Damit haben die Verbote des Art. 48 Abs. 2 GG zugleich eine typisch sozial staatlich-arbeitsrechtliche Schutzrichtung, indem sie durch Regulierung der arbeitsvertraglichen Freiheitseinschränkungen der abhängig Beschäftigten diesen wieder die Teilhabe an Freiheits- und in diesem Falle an Partizipationsrechten sichern sollen88 und ihnen einen effektiven Bestandsschutz des zu ihrer sozialen Sicherung nötigen Arbeitsverhältnisses geben89. Art. 48 Abs. 2 GG richtet sich nicht gegen die Art von Behinderung und Druck, die Abgeordnete im politischen Raum von ihren oder anderen Parteien, von Verbänden und Interessenten alltäglich erfahren, soweit sich diese mit erlaubten politischen Mitteln vollziehen 90 • Das Behinderungsverbot dient vielmehr der Abwehr solchen Druckes, der aufgrund der notwendigen rechtlichen Bindungen des sozialen Raumes, insbesondere des Arbeitsverhältnisses, ausgeübt wird91 • Das Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot konstituiert ein demokratisches Statusrecht und ein soziales Grundrecht92 • Er ist eine der Verfassungsnonnen, die belegen, wie die NonninhaIte des Begriffs "demokratischer und sozialer Rechtsstaat" ineinandergreifen. H.-P. Schneider in: AK-GG, RN 6 zu Art. 48 GG. Hans-Heinrich Trute in von Münch! Kunig, RN 14 zu Art. 48 GG; lose! Medding, Das Verbot der Abgeordnetenbehinderung nach Art. 48 Abs.2 GG, DÖV 1991, S. 494 (499). 87 Plüm, S. 16. 88 Plüm, S. 16 f. 89 Martin Schulte! Norbert Achterberg, Das Bonner Grundgesetz, RN 32 zu Art. 48 GG. 90 So ist Art. 48 Abs. 2 GG nicht auf Parteitagsbeschlüsse anwendbar, die den Abgeordneten zu einem bestimmten Verhalten oder zur Mandatsniederlegung, z.B. aufgrund der "Rotation" auffordern, Dehne, S. 46 ff. 91 Dehne, S. 47; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RN 608. 92 Plüm,S.17. 85
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104 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
4. Schutzbereiche
Der grundgesetzliche Kündigungs- und Entlassungsschutz nach Art. 48 Abs.2 S. 2 GG steht in einem engen sachlichen und systematischen Zusammenhang mit dem allgemeinen Behinderungsverbot: "Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben." Der zweite Satz: "Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig." schließt sprachlich nicht eindeutig an den ersten Satz an. Schon aufgrund der sprachlichen Ungenauigkeit ist hier umstritten, ob der im zweiten Satz. genannte Grund die Hinderung oder die Übernahme und Ausübung des Mandats ist. Die Schutzbereiche beider Verfassungssätze sind zunächst in einer Gesamtbetrachtung zu ermitteln und dann voneinander abzugrenzen. Aus den Schutzbereichen kann dann erschlossen werden, welche Bedeutung das allgemeine Behinderungsverbot für die Ausgestaltung der sozialen Sicherung der Abgeordneten hat.
a) Personaler Schutzbereich Unstrittig ist für Art. 48 Abs. 2 S. 2 GG, daß darin der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor der Kündigung des Arbeitsverhältnisses93 und von Beamten und Beamtinnen vor der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis94 normiert ist. Umstritten ist aber für beide Sätze, ob sich ihr personaler Schutzbereich allein auf diese beiden Statusgruppen beschränkt oder ob es sich um eine Norm handelt, die für alle Abgeordneten bedeutsam ist. Sowohl für das allgemeine Behinderungsverbot wie für das Kündigungs- und Entlassungsverbot ist zu klären, ob es auch für selbständig Erwerbstätige Geltung hat. Diese Frage ist von Interesse, weil die Intensität des Schutzes durch das Behinderungsverbot für alle sozialen Status gruppen entscheidet, wie stark auf dem 93 Die Kündigung ist ein Rechtsinstitut des allgemeinen Schuldrechts zur einseitigen Beendung von Dauerschuldverhältnissen; für den Arbeitsvertrag vgl. §§ 620 Abs. 2, 621, 622, 626 BGB und das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vom 10.8.1951 (BGBI. I, S. 499) in der Fassung vom 25.8.1969 (BGBI. I, S. 1317). 94 Die Entlassung ist ein hoheitlicher Rechtsakt zur einseitigen Beendung des Beamtenverhältnisses; vgl. §§ 28-34 BBG und die Beamtengesetze der Länder, z.B. §§ 40-46 des Beamtengesetzes für das Land Schleswig-Holstein (LBG) vom 2.6.1991 (GVOBI. S. 275), zuletzt geändert durch G. v. 19.3.1996 (GVOBI. S. 301). 95 Allerdings sieht beispielsweise H.-P. Schneider, AK-GG, RN 7 zu Art. 48 GG die Unterscheidung zwischen Kündigung und Entlassung nicht als Unterscheidung zwischen Arbeits- und Beamtenverhältnis, sondern bezieht beide Begriffe auf beide Gruppen. Wilfried Berkowsky, Münchner Handbuch Arbeitsrecht Bd. 2, § ISS RN 13 sieht in der Entlassung die "tatsächliche Entfernung des Arbeitnehmers aus dem Betrieb". Wie hier aber: SchultelAchterberg, Das Bonner Grundgesetz, RN 34 zu Art. 48 GG; Maunz, RN 8 zu Art. 48 GG. Anders ist z.B. Art. 56 Abs.2 S. 2 LSAVerf zu verstehen, der dem Begriff der Entlassung eindeutig einen anderen Gehalt gibt: "Niemand darf deswegen aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis entlassen werden.", vgl. Reich, RN 3 zu Art. 56. Bei eindeutiger Sinngebung in den Normen wird der Grundsatz anzuwenden sein "falsa demonstratio non nocet".
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
105
Prinzip der geschützten und zu schützenden Einkommensquelle der Abgeordneten außerhalb des Mandats aufgebaut werden kann und damit auch für die Organisation der sozialen Sicherung bedeutsam wird. Der Bundesgerichtshof erstreckte in einer Entscheidung des 11. Zivilsenats vom 6. Mai 196596 die Geltung des Behinderungsverbotes auf den Fall des geschäftsführenden Direktors einer Kommanditgesellschaft, der in den Bundestag gewählt worden war. Schadensersatzansprüche der Gesellschaft konnten demnach nicht auf den Gesellschaftsvertrag gestützt werden, in dem dieser sich verpflichtet hatte, seine Arbeitskraft ausschließlich der Gesellschaft zu widmen. Der Bundesgerichtshof charakterisierte das Behinderungsverbot als "gesetzliches Verbot, das uneingeschränkt in allen Bereichen des Rechtslebens gilt." Art. 48 Abs. 2 GG sei ein Verbotsgesetz für das gesamte Zivilrecht mit der Folge der Nichtigkeit widersprechender Vereinbarungen 97 • Der Bundesgerichtshof ging den Gründen nach davon aus, daß sich das Verbot der Kündigung eines Selbständigen auf Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG stützt, während Art. 48 Abs.2 S. 2 GG eine Spezialnorm beispielhaften Charakters für abhängig Beschäftigte sei. Dieses Urteil ist in der Literatur unterschiedlich bewertet worden. Udo Bertermann stimmte der Entscheidung im Ergebnis zu, kritisierte aber die Einordnung als Verbotsgesetz und schlug vor, Art. 48 Abs. 2 GG als Einrede zu betrachten, um Abgeordneten nicht die Möglichkeit zu nehmen, ihre geschuldete Leistun weiter innerhalb eines Vertragsverhältnisses zu leisten, wenn sie dies wollen 9 • Eine Kündigung sah Bertermann als nicht ausgeschlossen an, sie sei vielmehr zulässig, wenn ein Nachteil eines Mitgesellschafters anders nicht abzuwenden sei99 • Hans-Horst Giesing schloß sich dagegen der Auffassung an, den Schutz des Behinderungs- und des Kündigungsverbotes in vollem Umfang auf Gesellschaftsverträge zu erweiterniOD. Er sah jedoch einen Sinn der Abgeordnetenentschädigung darin, durch die eingeschränkte oder aufgegebene Erwerbstätigkeit entstehende Einbußen, einschließlich Ausgleichsansprüchen von Mitgesellschaftern, zu bezahlen. Aus dem Schutz vor Enteignung und dem Gebot der Entschädigung für Aufopferungen lOI und dem anerkannten Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs schloß Giesing, daß für den Fall der Mandatsübernahme Regelungen zur Sicherung selbständig Tätiger ge-
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BGH vom 6.5.1965 - II ZR 82/63 - BGHZ 43,384 = NJW 1965, S. 1958 f. § 134 BGB. 98 Udo Bertermann, Der Einfluß eines Abgeordnetenmandats auf Dienst-, Arbeits- und Gesellschaftsverträge, BB 1967, S. 270 ff. 99 Bertermann, S. 272. 100 Hans-Horst Giesing, Abgeordnetenmandat und Gesellschaftsvertrag, DÖV 1967, S. 401 ff. 101 Art. 14 Abs. 3 GG. 96 97
106 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
boten seien, die dem Unterhaltssicherungsgesetz für Wehrpflichtige vergleichbar sein könnten l02 • Dagegen entschied der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs arn 2. Mai 1985, daß die Kündigung einer Anwaltssozietät nach der Wahl des Partners in den Niedersächsischen Landtag mit dem Kündigungsverbot aus der Niedersächsischen Verfassung vereinbar sei lOJ • Allerdings nennt deren Norm im Gegensatz zum Grundgesetz ausdrücklich das "Dienst- und Arbeitsverhältnis". Der Bundesgerichtshof schloß dabei aber auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 48 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund des explizit auf abhängig Beschäftigte beschränkten Art. 69 der Badischen Verfassung auf eine dauerhafte Beschränkung des Schutzbereiches des Grundgesetzes auf diese l04 • Diese Entscheidung wird in der Literatur im Ergebnis überwiegend kritisch bewertee 05 • Paul Feuchte wendet sich gegen die Anwendung des Behinderungs- und insbesondere des Kündigungsverbotes außerhalb des Arbeitsrechts I 06. Er führt das Kündigungsverbot historisch auf Art. 160 WRV zurück und sieht die unmittelbare Drittwirkung des Grundgesetzes als typisch nur für arbeitsrechtliche Normen 107. Im Begriffspaar "Kündigung oder Entlassung" sei ein Hinweis darauf enthalten, daß ein Rechtsvorgang von erheblicher, vielleicht existentieller Tragweite gemeint sein muß I08 • Die Unbestimmtheit des Begriffs gebiete eine einschränkende Auslegung. Entscheidend ist für Feuchte, daß nach der Entwicklung der Abgeordneten zu durch Entschädigungszahlung gesicherten Mandatsträgern, von denen eine andere Berufstätigkeit nicht erwartet werde, der frühere Schutzzweck des Behinderungsverbots nicht mehr gegeben sei. Dieser beschränke sich nun auf bewußte Behinderungen und den Schutz weisungsgebundener Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen l09 • Im von der Gleichheit der Vertragschließenden beherrschten Gesellschaftsrecht dagegen berechtige die Übernahme eines Mandats durch ein Gesellschaftsmitglied bei Nichterfüllung seiner Pflichten die anderen Mitglieder zu vorzeitiger Kündigung, Ausschließung oder Auflösung der Gesellschaft sowie zum Verlangen nach Vertragsanpassung 110. Eine mögliche Ausnahme sieht Feuchte bei atypischen Vertragsgestaltungen, 102
103
(252).
Giesing, S. 404. Art. 17 Abs. 2 S. 1 NdsVerf; BGH vom 2.5.1985 - III ZR 4/84 - BGHZ 94, 248
BGHZ 94, 248 (254). Trute, RN 13 zu Art. 48 GG; von Arnim, BoK, RN 40 zu Art. 48 GG; H.-P. Schneider, AK-GG, RN 6 zu Art. 48. 106 Feuchte, AöR 111 (1985), S. 323 ff. Ebenso in BWVerf, RN 9 zu Art. 29. 107 Feuchte, AöR 111 (1985), S. 346. 108 Feuchte, AöR 111 (1985), S. 349. 109 Feuchte, AöR 111 (1985), S. 352. 110 Feuchte, AöR 111 (1985), S. 353. 104
105
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
107
z.B. Dienstverträgen mit Gewinnbeteiligung lll • Eine Schadensersatzverpflichtung von Abgeordneten gegenüber anderen Gliedern der Gesellschaft sieht auch Feuchte nur dann, wenn sie bei Vertragsabschluß die Möglichkeit der Mandatsübernahme kannten und verschwiegen haben. Ein aus Art. 48 Abs. 2 GG folgendes unzumutbares Sonderopfer von Gesellschaftsmitgliedern von Abgeordneten müsse nach den Grundsätzen des Aufopferungsrechts ausgeglichen werden. Erhebliche Kritik am Urteil des Bundesgerichtshofs übt Jörg-Detlef Kühne 112 • Er kritisiert dessen innere Inkonsistenz, nach der zunächst wegen des unterschiedlichen Wortlauts der Vorrang der Niedersächsischen Verfassung und die Unanwendbarkeit des Grundgesetzes konstatiert wird, dann aber dennoch eine restriktive Auslegung von Art. 48 Abs. 2 GG vorgenommen wird lD • Historisch verweist Kühne weiter auf Art. 69 Abs. 1 der Badischen Verfassung von 1947, in der es noch hieß: "Niemand, insbesondere kein Beamter, Angestellter oder Arbeiter darf (... ) gehindert (... ) oder entlassen werden. " und stützt damit die Auslegung des Kündigungsverbots als einer extensiv auszulegenden Schutznorm. Er zieht aus einer historischen und teleologischen Betrachtung den Schluß, es gehe beim Behinderungs- und Kündigungsverbot wie bei seinen Vorläuferbestimmungen - etwa Art. 160 WRV - darum, diskriminierende Angriffe auf die beruflich-wirtschaftliche Basis von Abgeordneten abzuwehren. Wenn dieses Ziel für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute besser erreicht werde, könne dies nur Grund sein, auch die Sicherungen für die freiberuflich Tätigen zu verbessern Er führt aus, die abhängig im Arbeitsverhältnis Beschäftigten seien wegen ihrer Mehrheie 14 Hauptanlaß der Mandatsschutzregelungen, eine gleichheitliche Verklammerung der Berufsgruppen zur Vermeidung jeder Ungleichbehandlung sei aber geboten llS • Durch die Entwicklung des Mandats zur Vollzeitbeschäftigung sieht Kühne das Arbeitsplatzrisiko der freiberuflich Tätigen gestiegen. Kühne wendet sich gegen die Argumentation, der Kündigungsschutz verliere schon wegen der gestiegenen Diäten- und Übergangsgeldregelungen an Bedeutung. Er fordert dagegen deren strikte Überprüfung auf mögliche Ungleichbehandlungen und sieht im Verhältnis von Art.48 Abs.2 und Abs. 3 GG keine beliebige Austauschbarkeit der Naturalrestitution, das heißt, des Kündigungsschutzes gegenüber dem monetären Ausgleich von Nachteilen nach dem Entschädigungsgebot. Dem Kündigungsschutz müsse beim Schutz der
Feuchte, BWVerf, RN 9. Kühne, ZParl 1986, S. 347 ff. 113 Kühne, ZParl 1986, S. 349. 114 81 % der Erwerbsbevölkerung im Jahr 1995 nach Fischer Weltalmanach 1997, Sp. 204 f. gegenüber 9,5% Selbständigen mit mithelfenden Familienangehörigen und 4,5 % Beamten. IIS Kühne, ZParl 1986, S. 351 f. 111
112
108 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Erwerbsquelle Vorrang vor Übergangsgeldregelungen eingeräumt werden I 16. Kühne kommt zu dem Ergebnis, daß der Kündigungsschutz nach Art. 48 Abs. 2 S. 2 GG auch für freiberuflich tätige Mandatsbewerber und -bewerberinnen und Abgeordnete gilt und in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall dem Kläger nicht hätte vorenthalten werden dürfen. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Grundsätzlich erfaßt das Kündigungsverbot auch die Dauerschuldverhältnisse selbständig Berufstätiger zum Zwecke ihrer Berufsausübung 117. Der Vorrang des Kündigungsschutzes vor Diäten und Übergangsgeld entspricht der Normstruktur und Intention VOn Art. 48 Abs. 2 und 3 GG. Ein solcher Kündigungsschutz dient am ehesten der Verwirklichung eines auch in Anlage und Ausgestaltung freien Mandats und einer unabhängigeren Mandatsausübung. Den Abgeordneten stehen bei Stärkung des Kündigungsschutzes mehr Optionen zur Verfügung, Mandatsdauer und -intensität selbst zu steuern und Verbindung zu ihrem Beruf zu halten. Eine Beschränkung des Kündigungsverbots auf die Gruppe der abhängig Beschäftigten würde die Bedeutung des strengen Gleichheitssatzes verkennen, der als Folge des Demokratiegebots die Statusnormen der Abgeordneten bestimmt 8. Die historische Tendenz, den Schutzbereich - ausgehend von den Beamten - in den privatwirtschaftlichen Bereich zu erstrecken 119 spricht für eine weite Auslegung des Kündigungsverbots im Rahmen des allgemeinen Behinderungsverbots .. Dabei ergibt sich aber auch die Einschränkung aus dem Norrnzweck des Kündigungs- und Behinderungsverbots: Auf selbständig Erwerbstätige ist es nur anwendbar, wenn sich die Kündigung überhaupt als Behinderung der Mandatsausübung nach dem Konzept des Abgeordneten darstellt. Ist etwa die Vertragsgestaltung oder die Verteilung VOn Arbeitskraft und Ressourcen unter den Vertragspartnern so, daß sich ein Abgeordneter als der überlegene Partner darstellt, der seiner selbständigen Erwerbstätigkeit ebenso gut ohne die bisherigen Vertragspartner nachgehen könnte, so bedarf er des Kündigungsschutzes nicht, weil eine Kündigung für ihn auch keine Behinderung ist. Eine Einzelfallprüfung, ob der Schutzbereich des Behinderungs- und Kündigungsverbotes tangiert ist, wird bei Selbständigen also erforderlich sein. Die historische Offenheit des demokratischen Repräsentativsystems muß sich auch gegenüber dem Wandel der Formen beruflicher Betätigung bewähren. Das Kühne, ZParl 1986, S. 356. So auch Maunz in Maunz! Dürig/ R. Herzog/ Scho/z, GG, RN 8 zu Art. 48 GG; Klaus Müller, Verfassung des Freistaats Sachsen (1993), Nr. 2 zu Art. 42. 118 So im Grundsatz auch der BGH in BGHZ 94, 248 (250), der aber durch die Absichtsformel wieder abschwächt. 119 Karl Schweiger in Nawiasky/ Schweiger/ Knöpfte, Die Verfassung des Freistaats Bayern, RN 2 zu Art. 30. 116
ll7
IlI. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
109
Gebot, daß die individuellen sozialen Machtverhältnisse, aus denen die Vertreter kommen, die demokratische Repräsentativität und das freie Mandat nicht beeinträchtigen sollen, gilt über die konkreten Formen des Arbeits- und des Beamtenverhältnisses hinaus. Da hier ein öffentliches Interesse unter Umständen mit einem geschützten und schützenswerten Privatinteresse an freier Berufsausübung kollidieren könnte, sind die verschiedentliehen Hinweise auf den Aufopferungsgedanken und seine sozialrechtliche Ausformung im Unterhaltssicherungsrecht nicht abwegig, haben aber noch keine gesetzliche Normierung gefunden. Weiterhin ist umstritten, ob das Behinderungsverbot für den gesamten Bereich des Privatrechts unmittelbare Wirkung entfaltet oder nur in einem zu umreißenden Teilbereich. Hier werden als argumentum ad absurdum die Fälle von Abgeordneten genannt, die ihre ehelichen und Unterhaltspflichten durch das Behinderungsverbot begrenzen könnten, wenn diese sie an der Mandatsausübung hinderten oder es wird die KoIIision mit der mandatsbehindernden Ausübung der Pressefreiheit angeführt '20 . Zwecksetzung und historischen Wurzeln des Art. 48 Abs. 2 GG wird weder eine stark einengende Auslegung gerecht, die beide Sätze auf den Bereich des Rechts der abhängigen Arbeit im Arbeits- und Beamtenrecht beschränkt noch eine solche, die jede die Mandatsausübung hindernde Tätigkeit Dritter umfaßt. Das Behinderungsverbot vermag insbesondere nicht die legitime und für die demokratische Repräsentation essentielle Einbindung der Abgeordneten in den öffentlichen politischen Diskurs zu erfassen. Nicht erfaßt werden auch Behinderungen, denen der Bezug zur Mandatsausübung völlig fehlt. Das Behinderungsverbot ist vielmehr immer (und nur) dann anzuwenden, wenn ein rechtliches oder soziales Machtgefälle zu Lasten der grundgesetzlieh geschützten Tätigkeit der Abgeordneten oder Wahlbewerberinnen und Wahlbewerber genutzt wird '21 und damit die Bedingungen des demokratischen Diskurses verlassen werden. Damit kann unter Umständen auch eine familiäre Drucksituation, ein Mietverhältnis oder ein Verhalten unter selbständigen Unternehmern erfaßt sein. Das Behinderungsverbot kann somit als objektiver Rechtssatz zumindest auch Hinweise und Leitlinien für die möglichst gleichgerichtete, behinderungsfeindliche oder -abwehrende Ausgestaltung der sozialen Sicherung der Abgeordneten geben.
120 121
So bei Plüm, S. 23 f. Medding, S.500: "jeder wirtschaftliche, berufliche oder gesellschaftliche
Zwang oder Druck".
110 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
b) Sachlicher Schutzbereich: Eiforderlichkeit einer Behinderungsabsicht ? In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob das Behinderungs- und das Kündigungs- und Entlassungsverbot in ihrem sachlichen Schutzbereich im Sinne eines faktischen Eingriffsverbotes oder intentional-subjektiv als Verbot nur politisch zielgerichteter Behinderungen zu verstehen sind. In der Entscheidung vom 6.5.1965 122 setzte der Bundesgerichtshof einen an den objektiven Folgen orientierten weiten Begriff des Behinderungsverbots voraus und stellte entsprechend die unabhängig vom Willen der Vertragspartner eintretende Rechtsfolge des Kündigungsverbots heraus. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 21.9.1976 123 über die Vereinbarkeit einer bremischen kirchenrechtlichen Inkompatibilitätsregelung für Pfarrerinnen und Pfarrer und Kirchenbeamtinnen und -beamte zu entscheiden. Es judizierte: "Der Anwendungsbereich des Art. 48 Abs. 2 GG wird insbesondere nur durch eine Regelung berührt, die die Übernahme oder Ausübung des Abgeordnetenmandats erschweren soll, nicht aber durch eine Regelung, die in eine andere Richtung zielt und nur unvermeidlicherweise die tatsächliche Folge oder Wirkung einer Beeinträchtigung der Freiheit der Mandatsübemahme und ausübung hat. " Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Brernischen Kirchengesetz konnte so verstanden werden, daß in der kirchenrechtlichen Inkompatibilität gar keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Behinderungsverbots liegt. Dieser sei vielmehr nur bei Regelungen tangiert, die eine Erschwerung des Abgeordnetenberufs beabsichtigen, ein Verhalten: "das die Übernahme oder Ausübung des Abgeordnetenmandats erschweren oder unmöglich machen soll." 124 Normzweck der kirchlichen Inkompatibilität sei aber nicht die Erschwerung des Mandats, sondern der Schutz des kirchlichen Arntes 12S • Spoerhase sieht diese Entscheidung im Ergebnis als Bestätigung der Ansicht, daß Inkompatibilitätsvorschriften nicht an Art. 48 Abs. 2 GG, sondern ausschließlich an Art. 38 Abs. 1 GG zu messen seien l26 • Diese Rechtsprechung bestimmt bis heute die Auslegung des Behinderungsverbotes. Sie bezieht sich sprachlich auf den transitiven Charakter von "hindern ,,127. Ein Transitivum enthält aber auch grarnrnatisch nicht die unterstellte finale Aussage. Weiterhin bezieht sie sprachlich den Satzteil "aus die122 123 124 125 126
127
BGHZ 43,384 = NJW 1965, S. 1958 f. BVerfG vom 21.9.1976 - 2 BvR 350175 - BVerfGE 42,312. BVerfGE 42,312 (329); Hervorhebung vom Verfasser. BVerfGE 42,312 (330). Spoerhase, S. 148 ff. BVerfGE 42, 312 (329).
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
111
sem Grunde" auf das "gehindert werden" des ersten Satzes. Sowohl sprachlich als auch nach Betrachtung des Normzweckes ist "aus diesem Grunde" aber auf "das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben" zu beziehen 128, so daß eine politische Motivation gerade nicht als Tatbestandsmerkmal herauszulesen ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht tatsächlich aussagen wollte, eine berufliche Behinderung von Abgeordneten, sei nicht von Art. 48 Abs. 2 GG erfaßt, solange sie intentional auf einen anderen Zweck als die Mandatsbehinderung gerichtet sei, hätte es den Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 2 GG in nicht vertretbarer Weise eingeschränkt. Zurecht bemerkt Kühne: "Die Verfassungsmäßigkeitsfrage vom Vorliegen bestimmter Intentionen, d.h. einer Innentendenz abhängig zu machen, erscheint ebenso atypisch wie unter rechtsstaatlichen Vorzeichen mißlich.(. .. ) Das Merkmal {der Behinderung} ist wie die Verfassung überhaupt grundsätzlich objektiv zu verstehen. ,,129 Die auf die Einordnung privater Kündigungen unter das Kündigungsverbot gerichtete Aussage ist erst recht auf Entscheidungen des (staatlichen wie kirchlichen) Gesetzgebers anzuwenden, von dem erwartet werden muß, daß er sich im Rahmen des Grundgesetzes hält. Wird Art. 48 Abs. 2 GG als Konkretisierung zum Grundsatz der freien und gleichen Wahl und der freien und gleichen Mandatsausübung und damit als Folge des Demokratie- und sozialen Rechtsstaatsprinzipsl30 gesehen, erscheint eine objektive Auslegung zwingend geboten. Wilfried Berkowsky bezieht das" wegen des Mandats" zwar auf das Motiv der kündigenden Person, läßt aber dann für dieses Motiv genügen, daß die Umstände (z.B. Arbeitsversäumnis) mit der Bewerbung oder Mandatsausübung in Zusammenhang stehen 131. Diese Auslegung dürfte in allen denkbaren Fällen dazu führen, daß bei Mandatsbezug eine Kündigung auch dann ausgeschlossen ist, wenn die Behinderung dem Kündigenden bekannt ist. Ein diesbezüglich voluntatives Element ist nicht erforderlich. Das Bundesarbeitsgericht äußerte sich in einem Urteil aus dem Jahre 1994 nicht explizit zu dem Streit, stellte aber in den Sätzen "Damit ist klargestellt, daß nur durch die Ausübung des kommunalen Ehrenamtes veranlaßte Kündi128
Hans-Heinrich Trute in von MünchlKunig, RN 13 zu Art. 48 GG. So auch der BGH, BGHZ 94, 248 (253). 129 Kühne, ZParl 1986, S. 347 (357). 130 Kühne: "grundrechtsähnliches Recht mit sozialem Tiefgang", ZPari 1986,
347 (356). 131 Wilfried Berkowsky, Münchner Handbuch des Arbeitsrechts Bd. 2 § 155 RN 14; ähnlich auch Peter Dobberahn, Wahlbewerbung und Übernahme eines Mandats durch Arbeitnehmer, NZA 1994, S. 396 (397), der allerdings beim Absichtserforder-
nis der Rechtsprechung folgt, ohne deren mangelnde Kohärenz aufzudecken.
112 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
gungen verboten sind.(. ..) Kündigungen, die in keinem Zusammenhang mit dem Ehrenamt stehen, werden von dem Verbot nicht eifaßt. (. .. ) Art. 48 Abs. 2 Satz 2 GG gewährt Abgeordneten relativen Sonderkündigungsschutz in dem Sinne, als daß Kündigungen aus Gründen, die im Zusammenhang mit der Abgeordnetentätigkeit stehen, unzulässig sind"m, keinerlei Finalitätserfordernis auf, sondern verlangte einen Zusammenhang zwischen Kündigung und der in diesem Falle ehrenamtlich kommunalen - Mandatsausübung. In der Literatur wird das Absichtserfordernis auch von weiteren Autoren als zu eng gefaßt und wenig sachgerecht kritisiert133 • Sowohl die Auslegung der verfassungsmäßigen Grundrechte 134 als auch des Arbeitsrechts 135 sind davon geprägt, die Anordnungen und Rechtsfolgen an den objektiven Folgen zu orientieren. Sie sollen Schutz möglichst guten und effektiven Schutz für diejenigen verwirklichen, die in den Schutzbereich einer Norm einbezogen sind.
Das Erfordernis der subjektiven mandats gerichteten Behinderungsabsicht ist also abzulehnen. Art. 48 Abs. 2 GG schützt vielmehr vor allen Behinderungen, bei denen ein soziales Machtgefälle zu Lasten des Abgeordneten und seiner Mandatsausübung ausgenutzt wird. Dabei ist ein objektiver Mandatsbezug im Sinne einer realen Beeinträchtigung der Mandatsausübung durch das behindernde Verhalten zu fordern. Dieser Beeinträchtigung darf sodann keine vernünftige, schützens werte Rechtsposition des Behinderernden entgegenstehen 136, die bei einer Abwägung nach den Regeln der Kollision von Grundrechten überwieg 37 • Der spezifische Einfluß des Behinderungsverbotes in dieser Abwägung ist, daß Mandatsausübung und -bewerbung einen solchen vernünftigen Grund nicht ergeben können. Dabei darf nicht verkannt werden, daß es grundsätzlich legitim und notwendig ist, mit kommunikativen und diskursiven Mitteln auf
e
132
BAG vom 30.6.1994 - 8 AZR 94/93 - EZA Nr. 1 zu Art. 48 GG. Vg!. Stahlhacke/ Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 6.A. (1995), RN 1038. 133 H.-P. Schneider, AK-GG RN 6 zu Art. 48; von Arnim, BoK RN 38 zu Art. 48 GG; Hans-Heinrich Trute in von Münch/Kunig RN 12 zu Art. 48 GG. A.M.: Medding, S. 498. 134 Vg!. Ulrich Ramsauer, Die Bestimmung des Schutzbereichs von Grundrechten nach dem Normzweck, VerwArch 72 (1982), S. 89 (95); Hans D. Jarass, Ein!. zu Jarass/ Pieroth, GG, RN 8 zum Prinzip optimaler Wirksamkeit der Verfassungsauslegung. 135 Vg!. die Rechtsprechung zur objektiven Umgehung des Kündigungsschutzes durch befristete Arbeitsverhältnisse, BAG GS AP Nr. 16 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag, BAG BB 1982, S. 434. 136 Trute in von Münch/Kunig, RN 12 zu Art. 48 GG. 137 So auch beim BGH in BGHZ 94, 248 (256) angedeutet, der aber aus der Kollision nicht auf eine notwendige Abwägung unter Einbeziehung der Normzwecke, sondern auf eine Einschränkung des Schutzbereichs schließt.
III. Behinderungsverbot, Kündigungs- und Entlassungsverbot
113
Abgeordnete Einfluß zu nehmen 138 , dies aber soll allen möglichst in gleicher Weise möglich sein. Entsprechend diesem Schutzniveau des freien Mandats ist also nur eine rechtlich verfestigte Behinderung verboten, das heißt, ein Verhalten bei dem der Behinderer versucht, eine spezifische Rechtsposition zu nutzen, die er gegenüber dem Abgeordneten oder Wahlbewerber tatsächlich hat. c) Verfassungsrechtliche Einordnung
Das Behinderungsverbot ist der allgemeine unmittelbar geltende Grundsatz eines subjektiven grundrechtsähnlichen Schutzrechtes der Abgeordneten, das im Kündigungs- und Entlassungsverbot seine beispielhafte Konkretisierung in zwei besonders typischen Fällen findet l39 • Art. 48 Abs. 2 GG schränkt Grundrechte anderer Grundrechtsträger - insbesondere die Berufs- und Vertragsfreiheit - ein. Gesetzgebung und Rechtsprechung sind also gehalten, im Rahmen der für derartige Kollisionen geltenden Regeln und Spielräume einen Ausgleich zu finden. Dieses Gebot könnte beispielsweise verletzt sein, wenn auch außerordentliche Kündigungen verboten wären l40 • Das allgemeine Behinderungsverbot nach Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG ist zugleich ein objektiver Rechtssatz. Er ist daher auf die Rechtssetzung und anwendung insgesamt anzuwenden und durchsetzungsfreundlich auszulegen 141. Er bindet auch den Gesetzgeber und die staatlichen Gewalten, eine Behinderung der Übernahme oder Ausübung des Abgeordnetenmandats nur aus Gründen vorzunehmen, die selbst verfassungsrechtlichen Rang haben. Dieser Grundsatz ist bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherung der Abgeordneten zu beachten.
"Sozialadäquate Behinderungen" im Sinne von BVerfGE 42, S. 312, Ls. 3. H.-P. Schneider, AK-GG, RN 7 zu Art. 48 GG; Martin Schulte! Norbert Achterberg, Das Bonner Grundgesetz, RN 30 zu Art. 48 GG. 140 So das BAG, EZA Nr. 1 zu Art. 48 GG. 141 Berkowsky, § 155 RN I. 138
139
8 WeIh
IV. Die Inkompatibilität Für Beamtinnen und Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes gelten im Bund und für fast alle Landtage spezielle Regelungen der Unvereinbarkeit (Inkompatibilität) des Amtes mit dem Parlamentsmandat. Sie sind in Art. 137 Abs. 1 GG zugelassen und in den Abgeordnetengesetzen geregelt!. Einige Länder haben entsprechende eigenständige Landesverfassungsnormen 2 • Von der Inkompatibilität ausgenommen sind im Bund die Lehrpersonen an Hochschulen J , in den Ländern zum Teil weitere Gruppen öffentlich Bediensteter. Diese Regelungen stellen eine Besonderheit im Vergleich zu den Grundsätzen für alle anderen Berufsgruppen dar und beeinflussen die soziale Sicherung der von ihnen Betroffenen, weil das Verhältnis zum Erwerbsberuf als einer Quelle von Sicherungsansprüchen bei ihnen anders gestaltet. Sie könnten als Eingriff in den Schutzbereich des Behinderungsverbots verstanden werden und determinieren Schutzbedürfnis und Ausgestaltung der sozialen Sicherung der Abgeordneten. Vor dem Hintergrund des Gebots der strengen Gleichbehandlung der Abgeordneten geht der Einfluß der Regelungen für Abgeordnete aus dem öffentlichen Dienst über deren Bereich hinaus und beeinflußt die Regeln für alle Abgeordneten. Angesichts der soziologischen Fakten, die eine besonders hohe Vertretung öffentlich Beschäftigter als Abgeordnete ausweisen, sind diese Regelungen sorgfältig auf gleichheitswidrige Privilegierungen zu untersuchen. 1. Geschichtliche Entwicklung
Das deutsche Verfassungs- und Parlamentsrecht vor 1945 kannte keine systematische Regelung der Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandaten im Reichstag oder den Landtagen mit gehobenen Stellungen im öffentlichen Dienst, insbesondere Beamtenstellungen. Im Gegenteil hatte sich die Auseinandersetzung auf die Frage konzentriert, wie bei grundsätzlicher Vereinbarkeit eine
! §§ 5-10 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Deutschen Bundestages (AbgG) vom 18.2.1977 (BGBI I S. 297), i.d.F.d.B.v. 21.2.1996 (BGBI. I, S.326); z.B. §§ 33-41 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Schleswig-Holsteinischen Landtages (SHAbgG) i.d.F.v. 13.2.1991 (GVOBI. SH S. 100), zuletzt geändert. 2 Art. 71 Abs.3 MVVerf; Art. 61 NdsVerf; Art. 46 Abs. 3 NWVerf; Art. 91 Abs.2 LSAVerf. J § 9 AbgG; vgl. Martin Lohmeier, (Un-)Vereinbarkeiten von Abgeordnetenmandat und Professur, ZParl 1978, S. 209.
IV. Die Inkompatibilität
115
Behinderung von Beamten durch ihren Dienstherrn verhindert werden konnte4 • In der Weimarer Republik wurde allerdings politisch wie juristisch über die Einführung einer Beamten-Inkompatibilität diskutiert. Als Gründe für diese Bestrebungen wurden der Grundsatz der Gewaltenteilung und die angestrebte Entpolitisierung der Beamtenschaft angeführe . Dagegen war die Inkompatibilität insbesondere in Großbritannien und den USA im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zu einer gefestigten Institution des Verfassungsrechts geworden. Die Gründe hierfür waren verschieden. In Großbritannien sollte die Inkompatibilität bereits seit dem 17. Jahrhundert die Stellung des Parlaments gegenüber der Krone sichern, indem den von dieser abhängigen Verwaltern öffentlicher Ämter die Wählbarkeit entzogen wurde (disqualificationt Der sinkende· Einfluß der Krone auf die Politik führte schließlich zur Änderung der Regelung im Jahre 1937, bei der nun die Unvereinbarkeit für politische Ämter (ministerial offices) des öffentlichen Dienstes festgeschrieben wurde, um dessen politische Neutralität herzustellen, für nichtpolitische Ämter sollte die Inkompatibilität nicht mehr felten 7 • 1957 wurde das Recht der parlamentarischen Unvereinbarkeit neu gefaßt . Unter das neue Gesetz fallen nun eine Reihe abschließend aufgezählter Gruppen öffentlich Bediensteter: ein großer Teil der Richterämter, der civil service, das Heer und die Polizei. Dabei steht weniger die Gewaltenteilungslehre im Vordergrund als vielmehr das Streben nach einer parteipolitischer Neutralität der Verwaltung 9 • Die Inkompatibilität ist in Großbritannien als Unwählbarkeit (Ineligibilität) der entsprechenden Berufsgruppen streng ausgestaltet. In den USA 10 ist in der Bundesverfassung 11 festgeschrieben, daß kein Mitglied des Kongresses während seiner Amtszeit in ein Staatsamt berufen werden darf, das während seiner Amtszeit geschaffen oder mit erhöhtem Einkommen ausg~stattet worden ist. Grund dieser Inkompatibilitätsbestimmung ist der Schutz des Parlaments vor Korruption durch die Regierung l2 • Im weiteren Verlauf der US-Geschichte wurde die politische Betätigung der öffentlich BedienVgl. A.III.I.
E.R. Huber, Bd. VI, S. 368 f. Darstellung bei Tsatsos, Betätigung, S. 42 ff. Die erste Regelung dieser Art war das Agreement oft the people vom 15.1.1649, Nr. III, 1., erweitert durch den Act of
Settlement aus dem Jahr 1700 und den Succession to the Crown's Act aus dem Jahr 1707. 7 Ministers of the Crown Act. 8 House of Commons Disqualification Act. 9 Tsatsos, Betätigung, S. 45 f. 10 Darstellung bei Tsatsos, Betätigung, S. 47 ff. 11 Art. 1 Sect. 6 Abs. 2. 12 Tsatsos, Betätigung, S.48.
8*
116 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
steten mehnnals dienstrechtlich eingeschränkt, um das sogenannte Spoil-System, die Vergabe öffentlicher Ämter an Parteigänger der jeweiligen Regierungspartei 13, indirekt zu treffen. Dies begann 1883 14 und wurde 1939 und 1940 so verschärft, daß öffentlich Bedienstete des Bundes und der Staaten und Kommunen - soweit vom Bund bezahlt - mit dem Verbot einer Kandidatur belegt wurden 15. 1947 wurde dieses Gesetz vom Supreme Court als mit der Freiheit der politischen Betätigung vereinbar bestätigt, da es gerade das Demokratieprinzip gebiete, die Bürokratie politisch neutral zu halten l6 • In Frankreich dienten örtlich beschränkte Wählbarkeitsbeschränkungen von Inhabern öffentlicher Ämter dem Schutz der Integrität des Wahlaktes vor Mißbräuchen des aus dem Amt heraus werbenden Kandidaten 17. Verfassungs- und Wahlgesetzbestimmungen enthielten von 1795 an lokal beschränkte Wählbarkeitsbeschränkungen und den Grundsatz der Inkompatibilität in Form eines Op• 18 ttonszwanges . Die im Einzelnen sehr unterschiedlich ausgestalteten Inkompatibilitätsregelungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA dienten also dem Schutz des Parlaments vor unerwünschten Einflüssen der Krone bzw. Regierung (erste Phase in Großbritannien und USA), dem Schutz der Verwaltung vor unerwünschten Einflüssen der parlamentarischen Mehrheit (zweite Phase in Großbritannien und den USA) und dem Schutz des Wahlaktes vor Beeinflussungen durch Amtsinhaber (Frankreich). Diese Regelungen entstanden in Situationen, in denen politisch die jeweilige Einflußnahme als Mißstand empfunden wurde. Sie waren nicht Ausdruck eines abstrakt gewollten Gewaltenteilungsprinzips, sondern sollten bestimmte politische Ziele des Verfassungsgebers oder der jeweils gesetzgebenden Parlamentsmehrheit verwirklichen l9 • Nach dem zweiten Weltkrieg war es ein Anliegen der drei westlichen Besatzungsmächte, in den Ländern Deutschlands und im Grundgesetz Inkompatibilitätsvorschriften für den öffentlichen Dienst zu verankern. Grund dafür war nicht nur die jeweils eigene Verfassungstradition, sondern die Analyse der Ursachen des Nationalsozialismus und seiner Durchsetzungsfähigkeit im Staatsapparat des Deutschen Reiches. Die Behörden der Siegermächte führten diese auf eine Politisierung der Beamtenschaft im antidemokratischen Sinne zurück und sahen 13
Vgl. Max Weber, S. 505 (538). Ci vii Service Act vom 16.1.1883 (Pendleton Act). 15 Hatch Acts 1939 und 1940, vgl. Tsatsos, Betätigung, S. 50 f. 16 United Public Workers vs. MitchelI, 330 US 75 (1947). 17 Tsatsos, Betätigung, S. 40 f. 18 Art. 47 der Verfassung vom 22.8.1795; weitere Nachweise bei Tsatsos, Betätigung, S. 41. 19 Tsatsos, Betätigung, S. 52 f. 14
IV. Die Inkompatibilität
117
politische Inkompatibilität und Veränderungen im Dienstrecht als mögliche Gegenmittel. Sie erließen zu diesem Zweck in den von ihnen kontrollierten Ländern Gesetze, die sich an den jeweiligen Inkompatibilitätsregeln orientierten20. Die politischen Parteien in Deutschland teilten die zugrundeliegende Analyse nicht und sahen im Gegenteil einen unpolitischen öffentlichen Dienst als problematisch und eine Inkompatibilität als hinderlich beim Aufbau parlamentarischer Institutionen und demokratischer Parteien an. Die Westmächte drängten auf die Aufnahme einer Inkompatibilitätsbestimmung in das Grundgesetz, so im Memorandum der Militärgouverneure vom 22.11.1948, in dem sie Bedingungen für die Grundsätze der künftigen Verfassung aufstellten. Dort hieß es unter lit. h: " ... daß ein öffentlich Bediensteter, sollte er in die Bundeslegislative gewählt werden, vor Annahme der Wahl von seinem Amt bei der ihn beschäftigenden Behörde zurückzutreten hat. " Nach der Formulierung des heutigen Art. 48 GG im Parlamentarischen Rat wiederholten die Westmächte in einem Memorandum vom 2.3.1949 diese Forderung konkret auf diesen Artikel bezogen. Dem verliehen sie Nachdruck durch Erlaß des Gesetzes Nr. 15 2 \ für die bizonale Verwaltung der US- und britischen Zone, in dem Beamten und Beamtinnen bereits die Kandidatur für gesetzgebende Körperschaften untersagt wurde. Unter erheblichen Vorbehalten 22 wurde in der Dritten Lesung des Plenums des Parlamentarischen Rates Art. 137 Abs. 1 GG eingefügt, der heute lautet: "Die Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeü23 und Richtern im Bund, den Ländern und den Gemeinden kann gesetzlich beschränkt werden. " Im Bund wurde dies durch die Rechtsstellungsgesetze näher ausgeführt, in den ,Ländern erfolgten sehr unterschiedliche Regelungen, die in BadenWürttemberg, Bayern, Bremen und Hessen zunächst keine Unvereinbarkeit oder nur eine sehr eingeschränkte Inkompatibilität vorsahen 24 • Während die Verfassungen der Länder sehr unterschiedliche Regelungen aufweisen, gibt das Beam20
Tsatsos, Betätigung, S. 55 ff.; Vg\. Art. 21 Abs.2 der vorläufigen Verfassung der Hansestadt Hamburg vom 15.5.1946 (GVB\. S. 51); § 36 des Nds. Landeswahlgesetzes vom 31.3.1947; VO Nr. I des Gouverneurs der Britischen Zone (AB\. 1947, S. 102). 2\ VB\. für die britische Zone, S. 57. 22 Tsatsos, Betätigung, S. 68. 23 Berufssoldaten und freiwillige Soldaten auf Zeit eingefügt durch G. vom 19.3.1956 (BGB\. I S. 111) . .. 24 Vgl. H. Nilges, Der Beamte als Abg.~ordneter, ZBR 1962, S. 104 (\05 ff.) mit Ubersicht über die damalige Rechtslage. Ubersicht über den zeitgenössischen Stand auch bei Jürgen Massengeil, Beamte als Parlamentarier, ZParl 1971, S. 44 ff.
118 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
tenrechtsrahmengesetz25 heute die Regelung des Bundes vor, von der die Länder aber abweichen können.
2. Zweck und Reichweite der Ermächtigung Insbesondere im Zusammenhang mit Inkompatibilitäts- oder Ineligibilitätsregelungen auf Grundlage von Art. 137 Abs. 1 GG und des Status von ins Parlament gewählten Beamten und Beamtinnen wird diskutiert, ob und inwieweit eine Kompetenz der Parlamente besteht, durch die Wahl- oder auch die Statusgesetze steuernd auf die Zusammensetzung des Parlaments nach seiner sozialen Herkunft einzuwirken 26. Strittig ist hier, ob Art. 137 Abs. 1 GG Wählbarkeitsbeschränkungen zur Verhinderung individueller Konflikte mit dem Gewaltenteilungsprinzip zuläße 7 oder auch die Ermächtigung zur Regulierung von Zahl und Anteil der öffentlich Bediensteten darstellt, die ein "materiell verstandenes Gewaltenteilungsprinzip ,,28 gebieten könne 29 • In der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur blieben die Zwecksetzung des Art. 137 Abs. 1 GG und der auf seiner Grundlage beschlossenen Inkompatibilitätsregelungen ebenso wie ihr Verhältnis zum allgemeinen Behinderungsverbot umstritten. Die Frage ist, ob in der Inkompatibilität eine Behinderung im Sinne von Art. 48 Abs. 2 GG liegt und ob diese aus der Ermächtigung zur Unvereinbarkeitsregelung heraus zu rechtfertigen ist. Dimitris Tsatsos arbeitete die Position heraus, daß die Wählbarkeitsbeschränkung als Eingriff in Art. 48 Abs. 2 GG eines legitimierenden Grundes bedarf, der nicht in der alleinigen Existenz von Art. 137 Abs. 1 GG gegeben ist, und sah als solchen den Grundsatz der funktionsgerechten Funktionsausübung auf Grundlage der im Rechtsstaatsgebot verorteten Gewaltenteilung30 • Tsatsos
25 § 33 Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahrnengesetz - BRRG) i.d.F.d.B.v. 27.2.1985, zuletzt geändert durch G. v. 24.7.1995 (BGBl. I, S. 962). 26 Bejaht von Klaus Schlaich, Wählbarkeitsbeschränkungen für Beamte nach Art. 137 Abs. 1 GG und die Verantwortung des Gesetzgebers für die Zusammensetzung der Parlamente, AöR 105 (1980), S. 188 (230 ff.). Ebenso: Freytag, S. 98 f. 27 So u.a. Tsatsos, Betätigung, S. 165 ff. 28 BVerfGE 40, S. 296 (321) deutet dies an. 29 Schlaich, AöR 105, S. 231. 30 Tsatsos, Betätigung, S. 158 ff verortet dies in Art. 20 Abs. 2 S.2 GG; zustimmend: Karl-Heinz Evers, Hochschullehreramt und Abgeordnetenmandat (1976), S. 11 ff. Ebenfalls für ..den Normzweck der Sicherung der Gewaltenteilung: H.-H. Klein, Status, S. 380; Ahnlieh schon Jürgen Hartmann, Der Angestellte des öffentlichen Dienstes in Art. 137 Abs. 1 GG, DöD 1965, S. 108 (110 f.).
IV. Die Inkompatibilität
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verwarf dabei eine Begründung aus den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums31 ebenso wie aus dem Prinzip des freien Mandats 32 • Die Ausnahme der Hochschullehrer und -lehrerinnen wird damit begründet, daß bei diesen eine Interessenkollision von Amt und Mandat nicht möglich sei33 • Dazu kommt das Konfliktverhältnis zwischen der Forschungs- und Lehrfreiheie 4 und der Abgeordnetenfreiheit nach Art. 38 GG. Hans Ulrich Evers führt hierzu aus, daß die Lehr- und Forschungsfreiheit und die Abgeordnetenfreiheit funktionsgerecht nebeneinander ausgeübt werden können und wegen ihrer ähnlichen Realisierungsbedingungen sich gerade nicht beeinträchtigen3l • Eine Inkompatibilitätsregel für das Professorenamt wäre demnach von Art. 137 Abs. 1 GG nicht gedeckt und verstieße gegen die Lehr- und Forschungsfreiheie 6 • Dagegen sieht Klaus Schlaich37 in der Ermächtigung für Unvereinbarkeitsregeln bereits einen rechtfertigenden Grund für Einschränkungen im Sinne von Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG, eine Ermächtigung für die Einschränkbarkeit des passiven Wahlrechts nach dem Gutdünken des Gesetzgebers in den spezifischen Grenzen bei Grundrechtseingriffen 38 • Nach Schlaich ermächtigt Art. 137 Abs. I GG den Gesetzgeber auch, Inkompatibilitäten und Ineligibilitäten mit dem Ziel festzusetzen, den Anteil der öffentlich Bediensteten unter den Abgeordneten zu vennindem 39. In diesem Sinne sprachen sich auch Anfang 1996 die Politikwissenschaftler Fritz Vilmar und Peter Grottian für eine Begrenzung der Listenplätze öffentlich Bediensteter auf den Wahlvorschlägen der Parteien auf maximal 25% aus 40 • Die Auffassung von Schlaich geht zu weit. Das Prinzip des formalen oder strengen Gleichheitssatzes für Wahl- und Statusrecht der Abgeordneten und das Behinderungsverbot sind tragende Materialisierungen des Demokratieprinzips. Ihre Einschränkung aufgrund Art. 137 Abs. I GG ist nur dann gerechtfertigt, 31 Art. 33 Abs.5 GG; Tsatsos, Betätigung, S. 126 ff.; ebenso z.B. Geller-Kleinrahm, Anm. 4d zu Art. 46. 32 Tsatsos, Betätigung, S. 142 ff. 33 BVerfGE 18, 172. 34 Art. 5 Abs. 3 GG. 3l Evers, S. 14 f. 36 Evers, S. 19. 37 Schlaich, AöR 105, S. 188 (206). 38 Schlaich, AöR 105, S. 208, 210. 39 Schlaich, AöR 105, S. 231. In diese Richtung geht auch die Bewertung des Urteils durch Peter Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 (542); nicht ganz so eindeutig: Von Arnim, Gemeinwohl, S. 402 f. 40 Zit. nach Quote soll "Verbeamtung" der Parlamente bremsen, FR, 23.3.1996.
120 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
wenn dies zur Sicherung des Gewaltenteilungsprinzips oder eines anderen verfassungsrechtlich geschützten Grundsatzes notwendig ist. Dies bedeutet auch, daß eine Auslegung des Begriffs des öffentlichen Dienstes anhand dieses Normzwecks geboten ist. Die Verbürgungen in Art. 48 GG sind grundsätzlich Mindestverbürgungen, die auch für öffentlich Bedienstete gelten müssen. Sie verbieten es, den einzelnen im öffentlichen Dienst Beschäftigten zu benachteiligen, um die Senkung des Anteils dieser Gruppe an den Abgeordneten zu erreichen oder einen anderen Zweck zu erreichen, der nicht unmittelbar mit der funktionsgerechten Ausübung des Beamten- oder Abgeordnetenamts durch die individuell betroffene Person zusammenhängt 2 • Eine Quotierung des Anteils von öffentlich Bediensteten auf Wahllisten durch Gesetz wäre unzulässig. Ein Bezug zwischen Gewaltenteilungsprinzip und dem rein statistischen Anteil von Abgeordneten, die vor dem Mandat im öffentlichen Dienst gearbeitet haben, beruht auf der nicht belegbaren Unterstellung, ein einmal innegehabter Beamtenstatus oder ein öffentlicher Dienstposten verschließe notwendig den Zugang zu einer korrekten Ausübung des Abgeordnetenstatus. Hier muß die vom Bundesverfassungsgericht womöglich ohne weitere Reflexion aufgeworfene Frage, ob alleine die Herkunft einer größeren Zahl von Abgeordneten aus der Beamtenschaft die Gewaltenteilung untergräbt, bis zum Beweis des Gegenteils verneint werden. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zum Verhalten der "Beamtenabgeordneten" kam zu dem Schluß, daß ein Bezug zwischen Beamtenherkunft und Abstimmungsverhalten nicht gefunden werden konnte43. Gegen die Bejahung der These spricht auch die Heterogenität der unter dem Beamtenstatut und im öffentlichen Dienst tätigen Personen44 und ausgeübten Berufe, die sich ebenso in Umbruch und Auflösung befindet wie die Lebenslänglichkeit des Beamtenturns und die besondere Bindung an den Dienstherrn 45. Zu prüfen wäre auch, ob nicht weniger einschneidende Mittel eine befürchtete Interessenkonvergenz der Abgeordneten mit den Beamtinnen und Beamten verhindern könnten, so eine nicht systematisch verknüpfte Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme beider Gruppen 46. 41 S. das zutreffende abweichende Votum des Richters Wand zu BVerfG vom 21.1.1975 - 2 BvR 193/74 - BVerfGE 38, S. 326, 343 (344). 42 .. AhnIich auch Hoffmann-Riem, S. 186. 43 Klaus Schrode, Beamtenabgeordnete in Landtagen der Bundesrepublik Deutschland (1977), insbesondere S. 264 f. 44 Vgl. Dagtoglou, S. 3l. 45 Dagegen spricht Freytag, S.98 von einer "besonderen inneren Orientierung
und Denkweise", einer "Beamten-" und "Vollzugsmentalität". Die oben aufgeführten sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse deuten aber eher darauf hin, daß nur ein Teil der Beamten - und unter diesen derjenige mit selbständiger, weniger vollziehender Tätigkeit - eine besondere Affinität zum Wechsel ins Parlament hat. 46 Vgl. Lattmann, Einsamkeit, S. 57.
IV. Die Inkompatibilität
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Zu fragen ist also nicht, ob der Gesetzgeber zur SchlechtersteIlung von öffentlich Bediensteten dann berechtigt ist, wenn diese über ihrem Anteil an der Bevölkerung im Parlament vertreten sind, sondern vielmehr, ob dieser hohe Anteil Folge weiterbestehender und abzubauender Privilegien dieser Gruppen im Hinblick auf das Statusrecht ist. Nicht zuletzt aus der Regelung der Rechtsverhältnisse der ins Parlament gewählten Angehörigen des öffentlichen Dienstes hatte sich dann die im Diätengesetz 1968 materialisierte Forderung nach existenzsichernden Entschädigungszahlungen und einer eigenständigen Alterssicherung für alle Abgeordneten gespeist, ohne daß allerdings im Zuge dieser Neuregelung das Rechtsstellungsgesetz ersetzt worden wäre. Der Ruf nach Chancengleichheit mit den Beamtinnen und Beamten war neben dem gewachsenen Arbeitsanfall zur Hauptbegründung der Entwicklung zum sozial eigenständig gesicherten Abgeordnetenberuf geworden. Im Urteil vom 5.11.1975 zum saarländischen Abgeordnetenrecht 7 hat das
Bundesverfassungsgericht das gesamte Rechtsstellungsgesetz zum Statusrecht der Abgeordneten gezählt und die Zahlung von Ruhegehalt als Privileg charakterisiert, das von vornherein dem fonnalisierten Gleichheitssatz widersprochen habe und spätestens mit der Einführung existenzsichernder angemessener Entschädigung seine Berechtigung verloren habe. Damit gab das Gericht den entscheidenden Anstoß zur Neuregelung des gesamten Komplexes in den Abgeordnetengesetzen des Bundes und der Länder48 sowie in den Beamten-, Richter49 und Soldatengesetzen Bei dieser NeuregeJung wurde das Inkompatibilitätsgebot des Rechtsteilungsgesetzes in vollem Umfang beibehalten. Ob eine Lockerung in Frage gekommen wäre, wurde je nach Ansicht über Bindungswirkung, Sinn und Zweck von Art. 137 Abs. 1 GG und politischer Position zur politischen Betätigung der öffentlich Bediensteten einerseits und zu ihrer Auswirkung auf das parlamentarische Leben andererseits unterschiedlich bewertet. Insgesamt überwogen aber die Stimmen in der juristischen und politischen Literatur, die eine zeitlich venninderte Beamtentätigkeit neben einem Bundestags- oder Landtagsmandat 47
BVerfGE 40, S. 296. .. Ubersicht über den Gesetzgebungsprozeß der Länder nach 1975 bei earl Ludwig Sträter, Zur Rechtsstellung der in ein Parlament gewählten Angehörigen des öffentlichen Dienstes, RiA 1980, S. 81 (86 f.); in nahezu allen Ländern bestehen heute Inkompatibilitätsvorschriften, zur kontroversen Diskussion in SachsenAnhalt vgl. Joachim Kirmis, Ständiges Tauziehen um den "Sachverstand der Basis", Das Parlament vom 4.111.4.1997. 49 Vgl. §§ 89a BBG, § 121 DRiG, § 8 Soldatengesetz (SoldG). Darstellung bei Sträter. Zu Soldaten vgl. weiter Richard Alff, Zur Rechtsstellung der in ein Parlament gewählten Soldaten, NZWehrR 1980, S. 201. 48
122 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder für einen großen Teil der Dienstposten für verfassungsrechtlich zulässig gehalten hätten 50 • Zu bedenken ist dabei auch, daß der Anteil der Beamtinnen und Beamten an der Gesamtbevölkerung von 1949 bis 1975 gestiegen war51 und dabei gerade diejenigen Berufe eine Ausweitung und ein gestiegenes politisches Interesse erlebten - wie die pädagogischen Berufe - bei denen Interessenkonflikte zwischen Berufstätigkeit und Mandat im Sinne der funktionalen Gewaltenteilung fernerliegend erschienen52. Auch in den Gesetzgebungsmaterialien zum Abgeordnetengesetz wird die Meinung vertreten, eine Abmilderung der Inkompatibilität sei zulässig. Sie sei aber verworfen worden, da es nicht gelungen sei, brauchbare Abgrenzungskriterien zwischen kompatiblen und nicht-kompatiblen Ämtern zu finden 51 und die Bezahlung nach tatsächlicher Arbeitsleistung zahlreiche Probleme aufwürfe 54. Der Gesetzgeber entschied sich, die Inkompatibilität in vollem Umfang beizubehalten und votierte damit auch gegen das Konzept eines Nebeneinander von Beruf und Mandat aller Berufsgruppen, da sich die Bedingungen der Arbeit und der sozialen Sicherung ja daran orientieren mußten, Mandatsausübung ohne gleichzeitige Berufstätigkeit zu garantieren. Regelt der Gesetzgeber im Bund oder in den Ländern die Unvereinbarkeit, so ist er an den Gleichheitssatz in der Form gebunden, daß ein einheitlicher Maßstab für die Einschränkung der Wählbarkeit angelegt wird55 • Art. 137 Abs. 1 GG ist nach seinem Wortlaut auch eine Ermächtigung der Landtage zur gesetzlichen Regelung von Inkompatibilitäten öffentlich Bediensteter56 • Nur einige Länder haben zusätzlich entsprechende Landesverfassungsnormen. Die Länder sind im gleichen Maße wie der Bund berechtigt, InkompaJoachim Henkel, Amt und Mandat (1977), S. 10. Dies räumt auch Schlaich, AöR 105, S. 188 (194) ein. Ruland, Zur Zukunft von gesetzlicher Rentenversicherung und Beamtenversorgung, NVwZ 1995, S.417 (421) nennt einen Anstieg der Beamten und Richter von 466.000 (1950) auf 2.100.000 (1992). 52 Vgl. Roman Herzog, Verfassungspolitische Perspektiven einer Reform des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland (1973), S. 253: "Die gesellschaftliche Sonderstellung des öffentlichen Dienstes wird (.. ) immer deutlicher infragegestellt. (.. ) Die Einheit des Beamtentums reduziert sich bei solcher Auffächerung der Arbeits- und Tätigkeitsfelder immer mehr auf den äußeren Rahmen eines gemeinsamen Beschäftigungsfeldes, verliert also ihre realsoziologische Berechtigung." 53 So auch Henkel, S. 13. 54 BT-Drucks. 7/5531, S. 11. 55 Joachim Linck, Gestaltungsrahmen des Gesetzgebers zur Unvereinbarkeit von Amt und Mandat, ZG 1996, S. 181 (185). 56 . Vgl. Michael Sachs, W~ kann eine Landesverfassung heute leisten?, KritV 1996, S. 125 (128). 50
SI
IV. Die Inkompatibilität
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tibilitäten zu regeln 57; Landesverfassungsrecht kann die Zusammenwirkung von Art. 137 Abs. I mit dem Homogenitätsgebot nicht beseitigen. Eine abweichende ausdrückliche Regelung des Landesverfassungsrechts könnte aber Inkompatibilitäten ganz oder teilweise untersagen 58 • Voraussetzung dafür wäre, daß das Problem der funktionsgerechten Funktionsausübung in anderer Weise geregelt würde. Ein Urteil des Brandenburgischen Verfassungsgerichts vom 25.1.1996 entscheidet zwar vom Gesichtspunkt der funktionsgerechten Funktionsausübung im Einzelfall vertretbar, in den Gründen aber zu weitgehend und zu mißverständlich59 •
3. Inkompatibilitäten anderer Personengruppen Die Unvereinbarkeitsregelungen für den öffentlichen Dienst werden unmittelbar aus Art. 137 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Andere Unvereinbarkeiten von Mandat und Berufs- oder Amtsausübung werden teilweise praktiziert, so auf Grund von Kirchengesetzen, teils wird ihre Einführung gefordert und diskutiert. Dies gilt vor allem für Unvereinbarkeiten von Mandat und wirtschaftlicher Position oder Verbands funktion. Insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Inkompatibilitäten kann hierbei auch auf Regelungen anderer parlamentarischrepräsentativ verfaßter Staaten verwiesen werden. a) Kirchengesetzliche Inkompatibilität
Die berufliche Inkompatibilität ist für Pfarrerinnen und Pfarrer und Kirchenbeamte und -beamtinnen in den Kirchengesetzen verschiedener Landeskirchen festgeschrieben. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bremisehen Kirchengesetz60 vom 21.9.197661 ist dies den Kirchen aufgrund ihrer grundgesetzlieh geschützten Freiheit zur Regelung ihrer inneren Ordnung62 erlaubt und mit dem Behinderungsverbot schon deshalb vereinbar, weil eine entsprechende Ermächtigung für den öffentlichen Dienst besteht und die Integrität des kirchlichen Amtes ein der Rücksicht auf das Gewaltenteilungsprinzip vergleichbarer Grund sei.
Von Arnim, Sondervotum, DVBI. 1996. S. 367 (370). GellerlKleinrahm. Anm. 4a zu Art. 46. Ausführlich dazu: Linck. ZG 1996. S. 181. 59 VerfGBrb vom 25.1.1996 - VfGBbg 12/95 - DVBI. 1996, S. 363 ff. mit ablehnendem Sondervotum von Arnim. S. 367. Ablehnend auch Linck, ZG 1996, S. 181. 60 § 1 BremKG - Kirchengesetz der Bremischen Evangelischen Kirche über die Rechtsstellung der in eine staatliche gesetzgebende Körperschaft gewählten Angehörigen des kirchlichen Dienstes vom 28.3.1973 (ABIEKD S. 966). 61 BVerfGE 42,312. Abweichend zuvor BremStGH vom 15.1.1975, JZ 1975, S.365. 62 Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV. 57
58
124 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
In der Inkompatibilität ist eine Benachteiligung zu sehen. Während die ihr nicht unterfallenden Abgeordneten zumindest im Rahmen der zeitlichen Beanspruchung versuchen können, Mandat und Beruf zeitgleich auszuüben, wenn sie es wollen, können dies die Inkompatiblen nicht63 • Sie verlieren Möglichkeiten der freien Mandatsausübung und des Kontakts zu ihrer beruflichen PraxisM • Für sie ist die Freiheit der Kandidatur und der Mandatsausübung im Vergleich zu anderen Bürgerinnen und Bürgern eingeschränkt. Das Bestehen einer Benachteiligung ist daher auch nach Einführung voll existenzsichernder Diäten und Übergangsgelder zu bejahen6S • Eine Einbeziehung der kirchlich Beschäftigten in den Kreis des öffentlichen Dienstes, wie sie Freiherr von Campenhausen vorschlägt66 , ist mit einer an Normzweck der Sicherung der Funktionsfähigkeit von Parlament und Verwaltung orientierten und restriktiven Auslegung des Begriffes des öffentlichen Dienstes nicht vereinbar. Für die kirchlichen Inkompatibilitäten ist also danach zu fragen, ob die verfassungsmäßige Autonomie der Kirchen die kirchlich Beschäftigten dem Geltungsbereich des Behinderungsverbotes entziehen kann 67 • Im Verhältnis zu kirchlichen Beschäftigten handelt es sich bei einer Einschränkung der staatsbürgerlichen und individualarbeitsvertraglichen oder dienstlichen Rechte nicht um eine rein innerkirchliche Angelegenheit8 • Betroffen sind die Kirchenbeschäftigten als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und darüber hinaus auch die Parteien und die Wählerinnen und Wähler: Für sie wird der Kreis möglicher Kandidatinnen und Kandidaten eingeengt. Bereits in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 und in der Folge in der Auslegung der Reichsverfassung wurde ein Recht der Kirchen zum Eingriff in die staatsbürgerlichen Abgeordnetenrechte abgelehnt69 • Es handelt sich hier also gerade um einen Übergriff der Kirche in weltliches Terrain, für das sie keine Regelungskompetenz hat, sondern auf dem sie sich der Verfassungsentscheidung für das allgemeine aktive und passive Wahlrecht beugen muß, die durch das Behinderungsverbot bewehrt ist.
63 A.M.: Axel Freiherr von Campenhausen, Aktuelle Rechtsprobleme der Inkompatibilität, JZ 1975, S. 351 unter Verweis auf die unberührte Berechnung von Dienstaltersstufen. 64 Steiner, S. 493. 65 Ebenso: Steiner, S. 493, Tsatsos, Betätigung, S. 65 ff, S. 98. Anders: Spoerhase, S. 154. 66 Freiherr von Campenhausen, JZ 1975, S. 349 (353), 67 Dafür: Freiherr von Campenhausen, S. 351. 68 Anders: BVerfGE 42, S. 312 (338). 69 Darum wurde in der FNV der Urlaubsschutz auf alle Inhaber öffentlicher Ämter ausgedehnt; vgl. Hatschek, S. 597 f.
IV. Die Inkompatibilität
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b) Regierungsinkompatibilität Eine Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandats mit der Mitgliedschaft in der Regierung besteht in Hamburg 70 • Im Bund und allen anderen Bundesländern besteht die Mehrzahl der Regierungsmitgliedern aus Abgeordneten. In Nordrhein-Westfalen ist das Ministerpräsidentenamt an die Zugehörigkeit zum Landtag zwingend gebunden 7l • Vor dem Hintergrund der Definition des Mandats als "Full-time-Job" im Diäten-Urteil wurde auch eine Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt auf der Grundlage von Art. 66 GG diskutiert72 • Diese Verfassungsnorm enthält das Verbot, zugleich mit einem Amt in der Bundesregierung eine weitere besoldete Tätigkeit auszuüben. Auch die Befürworter einer Regierungsinkompatibilität räumen aber ein, daß diese nicht durch eine Interpretation von Art. 66 GG, sondern durch eine Verfassungsänderung einzuführen sei 73 • Das parlamentarische Regierungssystem, in dem die Regierung aus dem Parlament hervorgeht und mit ihm in enger Verbindung steht, hat sich in Deutschland fest etabliert und kann als Verfassungsgewohnheitsrecht bezeichnet werden 74. Die Möglichkeit personel1er Übereinstimmungen von Parlament und Regierung ermöglicht jedenfalls aus Sicht vieler Analysen eine bessere Kontrolle der Regierung durch das Parlament und eine intensivere Mitwirkung zumindest der Regierungsfraktionen an der Staatsleitung 75. Kritiker der heutigen Praxis sehen durch personelle Überschneidungen die Regierungskontrolle ausgehöhle 6 • Unter dem geltenden Verfassungsrecht sind sowohl eine Konzeption der Überschneidung wie der Trennung von Regierungs- und Abgeordnetenamt zulässig. Die Entscheidung hierüber ist der politischen Auseinandersetzung zu überlassen. Aufgrund des breiten zeitlichen Überschneidungsbereichs, den die Regierungs- und Parlamentariertätigkeit hat, kann die Regierungsinkompatibilität nicht im Zusammenhang der sonstigen Berufsinkompatibilität diskutiert werden. Für die soziale Sicherung der Abgeordneten ist sie unter dem Gesichts-
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Art. 38a HbgVerf. Art. 52 Abs. 1 NWVerf. 72 Armin Dittmann, Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Mandat - eine unliebsame Konsequenz des "Diäten-Urteils"?, ZRP 1978, S. 52. 73 Vgl. Freytag, S. 70. 74 Freytag, S. 71. 75 Nach Patzelt, ZParl 1996, S.462 (470 f.) befürworten 52% der Bürgerinnen und Bürger und 36% der Abgeordneten eine Regierungsinkompatibilität. Patzett selbst hält diese für dysfunktional und antiquiert. 76 Scheer, Zurück, S. 205. 7l
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punkt der Anrechnung von Leistungen interessant, die sich bei einer Überschneidung zweier Tätigkeitskreise empfehlen könnte. c) Verbandsinkompatibilitäten
Aus der politischen und juristischen Diskussion über den Einfluß einzelner Wirtschaftsunternehmen oder Unternehmensverbände sowie von Gewerkschaften stammt der Vorschlag, eine Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Verbandsfunktionen einzuführen, um den Einfluß der Verbände auf die Politik zu vermindern. Hierfür wird vorgebracht, die Verbandsinkompatibilität sei geeignet, die Unabhängigkeit des Abgeordneten zu schützen und zu sichern. Eine solche Argumentation verkennt aber, daß Sinn des freien Mandats nicht die Beseitigung gesellschaftlicher Einflüsse auf das Parlament ist, sondern das Finden eines Modus und von Grenzen für deren Einbringung. Kein Verband könnte von ihm haupt- oder ehrenamtlich angehörenden Abgeordneten ein bestimmtes Abstimmungsverhalten rechtlich erzwingen, bei Hauptamtlichen dürfte er das Verhalten nicht durch Kündigung sanktionieren. Eine Einschränkung der Befugnis der Abgeordneten, sich in Verbänden zu organisieren und betätigen, liefe dem Prinzip des freien und pluralistischen Mandats zuwider und findet im Grundgesetz keine Stütze. Sie ist daher abzulehnen 77 • Veröffentlichungspflichten können dagegen dazu beitragen, Bindungen von Verbandsabgeordneten transparent zu machen und damit Gefährdungen für den demokratischen Prozeß zu vermeiden 78 • d) Parteiinkompatibilitäten In der Diskussion innerhalb der Parteien wird gelegentlich die Forderung nach einer Unvereinbarkeit von Parteiämtern und Abgeordnetenmandat verlangt. Die hierfür vorgetragenen Gründe beziehen sich auf die Macht- und Aufgabenverteilung zwischen Partei, Fraktion und Abgeordnetem. Es steht jeder Partei frei, eine entsprechende Praxis einzuführen. Unter der Konzeption des freien und pluralistischen Mandats gibt es aber keine Grundlage, eine solche Unvereinbarkeit vorzuschreiben 79 • Eine andere Frage ist, ob die Unvereinbarkeit einer Mandatsausübung mit der hauptamtlichen Beschäftigung in einer Partei durch Parteisatzung festgeschrieben werden dart°. Anders als bei der Unvereinbarkeit mit ehrenamtlichen Partei ämtern wird hier der Schutzbereich von Art. 48 Abs. 2 GG 77
•
Wefelmeler, S. 193 ff. 78 Vgl. Rainer Hensel, Mehr Transparenz für Verbandsabgeordnete, ZRP 1974, S. 177. 79 Wefelmeier, S. 192 f. 80 Vgl. § 5 Abs. 10 der Satzung des SPD-Landesverbandes Schleswig-Holstein.
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berührt. Zwar wirken Partei angestellte an der Aufstellung und politischen Kontrolle von Abgeordneten zum Teil mit. Hieraus ergibt sich aber kein hinreichender Anlaß, für eine funktionsgerechte Funktionsausübung die generelle Inkompatibilität festzuschreiben. Bei der Satzungsregelung handelt es sich also um eine politische Deklaration ohne Rechtsverbindlichkeit. e) Wirtschaftliche Inkompatibilitäten In der Diskussion befindet sich auch die wirtschaftliche Inkompatibilität mit der Mitgliedschaft in Aufsichts- und Verwaltungsräten, mit Eigentümerund Leitungsfunktionen in Firmen, staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen, teilweise beschränkt auf deren wirtschaftliche Verknüpfung mit dem staatlichen Sektor z.B. bei Auftragsvergaben. Hierbei wird zum einen die Vermeidung interessengeleiteter Abgeordnetenentscheidungen82 , zum anderen die allgemeine Gefährdung des freien Mandats durch Einkünfte von dritter Seite als Zweck genannt. Daher wird hier teilweise auch nur das Verbot von Einkünften aus Verwaltungs- und Aufsichtsratsmandaten gefordert, ohne diese wirtschaftliche Mandatsausübung selbst in Frage zu stellen83. Aus den Rechtsgedanken der funktionsgerechten Funktionsausübung von Parlamentsmandat und öffentlicher Funktion, die der Unvereinbarkeit von öffentlichem Amt und Mandat zugrunde liegen, sind Inkompatibilitäten begründbar, die in die privatwirtschaftliche Berufsausübung dann eingreifen, wenn diese eine öffentliche Funktion erfüllt. Hier sind in erster Linie die Funktionen der Anwaltschaft und des Notariats zu nennen, die von freiberuflich oder abhängig Beschäftigten ausgeübt werden, die zugleich Organe der Rechtspflege sind84 • Der Bundesgerichtshof hat hierzu entschieden, daß eine Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Anwaltsberuf weder aus standes- noch aus abgeordnetenrechtlichen Gesichtspunkten gegeben ist8s • Geboten ist danach eine restriktive Auslegung möglicherweise in bestimmten Bereichen gegebener Unvereinbarkeiten für die Übernahme bestimmter anwaltlicher Mandate86 • Dies trifft zum
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Vg\. Markus Schuppisser, Wirtschaftliche Inkompatibilitäten (1976). Schuppisser, S. 9 ff. So Helmut Lolhöffel, Zauberformel für Diäten, Frankfurter Rundschau, 21.9.1995. 84 §§ 1, 2 Abs. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1.8.1959 (BGB\. I, S. 565), zuletzt geändert durch G. v. 5.10.1994 (BGB\. I, S. 2911); § 1 Bundesnotarordnung (BNotO) v. 24.2.1961 (BGB\. I, S.98), zuletzt geändert durch G. v. 5.10.1994 (BGB!. I, S. 2911). 8S BGH vom 26.6.1978 - AnwZ (B) 7178 - BGHZ 72, S. 70 zu § 7 Nr. 8 BRAO; vgl. die Anmerkung von Rüdiger Zuck, DÖV 1979, S. 446. 86 BGHZ 72, S. 70 (75). 82 83
128 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Beispiel für die Rechtsvertretung für und gegen die Bundesrepublik bzw. die Länder ZU 87 • Wirtschaftliche Inkompatibilitäten finden im übrigen im Grundgesetz keine Stütze und könnten daher nur durch Verfassungsänderung oder - an den Berührungspunkten wirtschaftlicher Tätigkeit und öffentlicher Ämter - durch Auslegung von Art. 137 Abs. 1 GG nach dessen allgemeinem Zweck gerechtfertigt werden. Zur Lösung der etwa in USA und Frankreich durch eine Reihe von Inkompatibilitäten angegangenen Probleme der Interessenkollision im Bereich des Handeins zwischen Staat und Unternehmen ist in Deutschland der Weg der Offenlegungs- und Veröffentlichungspflichten gewählt worden. Anders verhält es sich mit einzelfallorientierten Mitwirkungsverboten aus Gründen wirtschaftlicher Betroffenheit im Einzelfall. Eine solche Regelung ist in der bremischen Verfassung verankert88 , sie ist mit Art. 28 Abs. 1 S.2 GG vereinbar89 • Da hier zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Ausnahme von allgemeinen Grundsätzen konstituiert wird, sollte diese aber selbst Verfassungsrang haben und restriktiv gefaßt sein. Die bremische Vorschrift ist im Bewußtsein dieser Problematik formuliert, wenn es heißt: "Diese
Vorschriften gelten nicht, wenn ein Bürgerschaftsmitglied an der Entscheidung der Angelegenheit lediglich als Angehöriger eines Berufes oder einer Bevölkerungsgruppe betroffen ist, deren gemeinsame Interessen durch die Angelegenheit berührt werden. ,,90 f) Europäische Union
Für das Europäische Parlament ist die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament für alle Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften 87 Vgl. die Regelung in den USA nach 18 USC § 203, beschrieben bei Jörg Meister, Die Regelungen wirtschaftlicher Interessenkonflikte von Abgeordneten des
Kongresses der USA, 1976, S. 119 ff.; noch weitergehend in Frankreich und Italien, vgl. Schuppisser, S. 70 ff.; für MdB besteht lediglich eine Anzeigepflicht nach § 2 Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages (VrMdB), Bekanntmachung vom 18.12.1986 (BGBI. 1987 I S. 147) mit Ausführungsbestimmungen vom 26.6.1987 (BGBI. I S. 1758) .. 88 Art. 84 S. 1 und 2 BremVerf: "Ein Mitglied der Bürgerschaft darf nicht bei Beratungen mitwirken, die ihm selbst oder seinem Ehegatten, seinem Verwandten bis zum dritten oder Verschwägerten bis zum zweiten Grade oder einer von ihm kraft Gesetzes oder Vollmacht vertretenen Person unmittelbaren Vorteil oder Nachteil bringen können. Das gilt auch, wenn das Mitglied der Bürgerschaft 1. in der Angelegenheit in anderer als öffentlicher Eigenschaft ein Gutachten abgegeben hat oder sonst tätig geworden ist, 2. gegen Entgelt bei jemand beschäftigt worden ist, der an der Erledigung der Angelegenheit ein persönliches oder wirtschaftliches Sonderinteresse hat." 89 Preuß in Kröning, S. 316. 90 Art. 84 S. 3 BremVerf. Die Norm findet sich ähnlich im Kommunalverfassungsrecht anderer Länder, z.B. in § 22 Abs. 3 Nr. I GO SH.
IV. Die Inkompatibilität
129
sowie der Regierungsgremien und Gerichte der Gemeinschaften vorgesehen 91 • Das europäische Recht ermächtigt zu weiteren innerstaatlichen Inkompatibilitäten 92 • Durch das Europaabgeordnetengesetz gelten die Regelungen der Bundestagsabgeordneten entsprechend für das Europäische Parlament93 , das heißt auch Angehörige des öffentlichen Dienstes von Bund, Ländern und Gemeinden können Mandat und Amt nicht gleichzeitig ausüben. Ob die herkömmlichen Begründungen der Inkompatibilität hierfür hinreichen, ist zweifelhaft. Durch Fahrtzeiten und Arbeitsbelastung wird aber eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit neben dem Mandat ohnehin kaum in Betracht kommen.
91 92
93
9 WclIi
Art. 6 Abs. 1 EinfA. Vgl. Fleuter, S. 106 f. Art. 6 Abs. 2 EinfA; § 8 Abs. 3 EuAbgG, §§ 5-9 AbgG.
V. Wahlvorbereitungsurlaub (Art. 48 Abs. 1 GG) Art. 48 Abs. 1 GG lautet: " Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. " Dieser Verfassungssatz hat keine direkten Vorläufer in deutschen Verfassungen vor 1945. Sein Normgehalt ist weitgehend aus sich heraus verständlich. Er sollte ursprünglich auf den heutigen zweiten Absatz folgen 1, so daß die Erstreck4ng des Geltungsbereiches auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Beamtinnen und Beamte sowie die Anwendbarkeit auf Selbständige wie bei diesen zu betrachten ist. Die Verfassungen der Länder regeln den WahlvorbereitungsurIaub entweder nicht (Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland, SchleswigHolstein) oder weitgehend inhalts- und annähernd wortgleich 2 In NordrheinWestfalen ist eine eindeutige Beschränkung auf Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Beamtinnen und Beamte enthalten 1. Trotz der sprachlich eindeutig aIlgemeinen Fassung wird in Literatur und Rechtsprechung häufig angenommen, der Wahlvorbereitungsurlaub sei auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Beamtinnen und Beamte, Richterinnen und Richter, Soldaten und Zivildienstleistende beschränkt. Dagegen wird ein Recht zum Wahlvorbereitungsurlaub für Selbständige4 , Werkvertragsverpflichtete, zur Arbeit verpflichtete Sozialhilfeempfanger und -empfangerinnen 5 , Strafgefangene und Untersuchungsgefangene bestritten6 • Theodor Maunz sah grundsätzlich aUe privat- und öffentlich-rechtlichen Dienstverpflichtungen umfaßt7 • Zur Frage der Selbständigen kann auf die Erörterungen beim Behinderungsverbot verwiesen werden, zumal beide Regelungen entstehungsgeschichtlich eng 1
Füßlein, JöR 1951, S. 376 zitiert Art. 62 HChE in Anlehnung an Art. 69 Abs. 1 der Verfassung von Württemberg-Baden. 2 Art. 29 Abs. 1 BWVerf; Art. 23 Abs. 1 MVVerf; Art. 13 Abs. 1 NdsVerf; Art. 96 Abs .. 1 S. 1 RHPfVerf; Art. 42 Abs. 1 SächsVerf; Art. 56 Abs. 1 LSAVerf; Art. 51 Abs. 1 ThürVerf. Ebenfalls wortgleich in Art. 54 Abs. 1 des Runder-Tisch-Entwurfs. 1 . Art. 46 Abs. 2 S. 2 NWVerf. 4 Magiera in Sachs, GG RN 4 zu Art. 48 GG. \ . § 19 Abs. 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) i.d.F.d.B.v. 23.3.1994 (BGB!. I S. 646, ber. S. 2975); erwähnt bei Trute. 6 Trute in von Münchl Kunig RN 6 zu Art. 48 GG; Jarass/ Pieroth, RN 2 zu Art. 48; Magiera in Sachs, GG, RN 4 zu Art. 48; Joachim Linck, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, RN 2 zu Art. 51. 7 Maunz, RN 1 zu Art. 48 GG.
V. Wahlvorbereitungsurlaub (Art. 48 Abs. I GG)
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zusammenhängen. Für eine Ausnahme von nach dem Sozialhilferecht Dienstverpflichteten ist kein Grund ersichtlich. Die Problematik der Straf- und Untersuchungsgefangenen ist so zu lösen, daß sie - wie alle passiv Wahlberechtigten grundsätzlich den Schutz des Art. 48 GG genießen. Nur in besonders schweren Fällen verbindet das Strafrecht Haft mit dem Verlust der Wählbarkeit Das Strafgesetzbuch regelt ausdrücklich, daß mit dem Verlust der Wählbarkeit auch die damit verbundenen Rechte verlorengehen9 . Daraus kann geschlossen werden, daß wählbare Gefangene die Rechte weiter innehaben, die das passive Wahlrecht schützen und konkretisieren und zu denen auch der Wahl vorbereitungs urlaub gehört. In Abwägung der Zwecke des Wahlvorbereitungsurlaubs und der Strafund Untersuchungshaft kann die Anwendbarkeit von Art. 48 Abs. 1 aber nicht bedeuten, daß ein Hafturlaub zwingend zu gewähren ist, sondern daß Gefangene innerhalb der Anstalt von ihnen zugewiesenen Tätigkeiten lO befreit werden, um ihre Kandidatur betreiben zu können und innerhalb der Beschränkungen des Strafvollzugsrechts 11 Hafturlaub erhalten können 12. Bei der Haft im Rahmen des Verfahrens zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung sowie der Ersatzzwangshaft in der Verwaltungsvollstreckung 13 ist die Haftunterbrechung für Bundes- und Landtagsabgeordnete zur Teilnahme an den Tagunfen des Parlaments gesetzlich vorgesehen, wenn die Versammlung sie verlange . Diese Regelungen deuten darauf hin, daß Abgeordnetenstatusrechte und -pflichten der Haft im Rahmen der zivilrechtIichen Zwangsvollstreckung jedenfalls vorgehen. Eine unmittelbare Geltung von Art. 48 Abs. 1 GG kann also insofern angenommen werden, daß für diese Gefangenen grundsätzlich auch Hafturlaub für Wahlkampfverpflichtungen zu gewähren ist. Ob während des Wahlvorbereitungsurlaubs das Entgelt fortgezahlt werden solle, wurde vom Parlamentarischen Rat bewußt nicht entschieden, ein entsprechender Antrag wurde abgelehnt 15, ein gegenteiliger nicht behandelt, um die Entscheidung den Zivil- oder Arbeitsgerichten zu überlassen l6 • Art. 48 Abs. 1 GG bedeutet die Erstreckung des verfassungsmäßigen Schutzes auch auf die §§ 45, 45 a, b StGB. § 45 Abs. 3 StGB. 10 §§ 37 Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung - Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vom 16.3.1976 (BGBL I, S. 581). 11 §§ 10, 13 und 35 StVollzG. 12 So im Grundsatz auch H.-P. Schneider, AK-GG RN 2 zu Art. 48 GG. I) § 901 ZPO. 14 §§ 904 Nr. I, 905 Nr. 1 ZPO; § 16 Abs. 3 Verwaltungs'lollstreckungsgesetz (VwVG) vom 27.4.1953 (BGBI. I S. 157). 15 Abg. Renner (KPD) in der 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7.1.1949. 16 Antrag des Abg. Dr. Menzel (SPD) und Nichtbefassungsantrag des Abg. Dr. Katz (SPD) in der 2. Sitzung des Hauptausschusses vom 11.11.1948. 8 9
9'
132 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Wahl bewerber und -bewerberinnen, denen eine Kandidatur ennöglicht und erleichtert werden soll und sichert damit das allgemeine passive WahIreche 7. Wie bei Art. 48 Abs. 2 GG ist eine über das Homogenitätsgebot vennittelte Geltung für die Länder anzunehmen 18. Durch den Verfassungsrang des Wahlvorbereitungsurlaubs wird deutlich, daß der Wahlkampf als gesellschaftlich-kommunikative Vorbereitung des Wahlaktes und damit als ein Verbindungsglied zwischen Abgeordneten und Volk zu den notwendigen Voraussetzungen demokratischer Repräsentation gehört l9 • Die Sicherung gleicher Chancen in diesem Prozeß ist ein Anliegen des Grundgesetzes. Hierdurch wird deutlich, daß eine klare Trennung von "eigentlicher" Abgeordnetentätigkeit in der Gesetzgebung und Staatsleitung und "parteilicher" Abgeordnetentätigkeit in der Kommunikation mit Partei und Bürgerinnen und Bürgern nicht möglich ist, sondern die staatliche und gesellschaftliche Sphäre sich in der demokratischen Repräsentation durchdringen sollen. Dabei erreicht der Grad des Schutzes der Wahlbewerber bezüglich ihrer Chancengleichheit aber nicht das Schutzniveau, dem die gewählten Abgeordneten mit dem strengen Gleichheitssatz unterliegen. Wie auch gegenüber den politischen Parteien20 ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlvorbereitungsurlaubs gegenüber den Wahlbewerberinnen und -bewerbern verpflichtet, vorgegebene Chancenungleichheiten nicht zu verstärken, er darf sie abmildern, muß sie aber nicht ausgleichen.
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Jarass/ Pieroth RN 1 zu Art. 48 GG; Trute in von Münchl Kunig, RN 3 zu Art. 48 GG. 18 H.-P. Schneider, AK-GG, RN 2 zu Art. 48 GG. 19 Vgl. Bodo Hombach, Politische Parteien in der Bundesrepublik - Staatsorgane oder Volksorgane in: Gerhard Schröderl Hans-Peter Schneider, Soziale Demokratie - das Grundgesetz nach 40 Jahren, S. 65 (70 f.). 20 Vgl. §§ 5 Abs. 1 S.2 ParteienG; BVerfGE 8, S. 51 (64 f.); BVerfGE 78, S. 350 (357 f.); BVerfG, DVBI. 1992, S.764 (768); Kunig, Parteien, S. 103 (133 ff.); Jörn Ipsen, Staatsorganisationsrecht, 4. A. (1992), S. 69.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG) Art. 48 Abs. 3 GG lautet: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Sie haben das Recht auf freie Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz" Diese Norm ist eine wesentliche sedes materiae der sozialen Sicherung der Abgeordneten. Der Entschädigungsanspruch der Abgeordneten ist historisch umkämpft und umstritten gewesen. Auch seitdem das Grundgesetz gilt, ist es dariiber, wie er auszufüllen sei, zu politischen wie juristischen Konflikten gekommen.
1. Geschichtliche Entwicklung In der Demokratie der athenischen Polis wurde zeitweilig den männlichen Bürgern, die als Ratsherrn oder Geschworene fungiertenIoder die an der Volksversammlung teilnahmen 2 , ein Tagegeld gezahlt3 • Die Tagegeldzahlung war umstritten. Ihren Befürwortern galt sie als Mittel, politischen Demokratie auch unter den Bedingungen wirtschaftlicher Ungleichheit zu realisieren und den änneren Schichten der Bürgerschaft die Ausübung öffentlicher Rechte zu ermöglichen und sie für die Pflichten zu gewinnen4 • Dabei erforderten die Tagegeldzahlungen bei der Volksversammlung erhebliche Aufwendungen, die aber für die Demokraten Priorität hatten 5 • Aus Sicht der oligarchisch orientierten Gegner z.B. Aristoteles - war der Verzicht auf eine Bezahlung eine notwendige aristokratische Korrektur demokratischer Verfassungen 6 • Heliastensold, eingeführt durch Perikles ca. 455 V.U.Z. "galt als Kernstück des gesamten Diätensystems und folglich auch der Demokratie überhaupt", Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie (1994), S. 280 (282); wurde auch in einigen weiteren poleis gezahlt, Bleicken, S. 420. 2 Ekklesiastensold, eingeführt 403 v.u.Z., Bleicken, S. 282 f. 3 Vgl. Bleicken, S. 280 ff.; Tuttu Tarkiainen, Die athenische Demokratie (1966), S. 227, 317 f.; Theodor Eschenburg, Der Sold des Politikers (1959), S. 8 ff.; Autorenkollektiv, Griechische Geschichte bis 146 v.u.Z. (1991), S. 154 f., 181, 246 f. 4 Bleicken, S. 285 f. 5 Bleicken, S. 284 f.; 396 f.: "Abgesehen von allem anderen verschlangen allein die Diäten knapp die Hälfte der städtischen Einnahmen eines Jahres." 6 Aristoteles, Politik, S.328: "Denn daß alle Bürger 9as Recht haben, in die Regierung zu kommen, ist demokratisch; daß sich aber die Amter tatsächlich in den Händen der angesehenen Familien befinden, ist aristokratisch. Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn man aus den Ämtern keinen Gewinn ziehen kann. Denn die
134 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Auch in der ständischen Repräsentation Europas war die Zahlung von Geld an die Vertreter der Stände ein dauernder Streitpunkt. Dabei war vor allem strittig, ob der Unterhalt der Vertreter während der meist längere Reisen erfordernden Reichs- oder Landtage von den Vertretenen, also vom Stand oder Wahlkreis, oder aus der Staatskasse aufzubringen war. In der englischen Parlamentsverfassung des 13. Jahrhunderts erhielten die "rninores" Tagegelder vom König oder der Königin, da sie - in Vorgängerschaft des house of commons - die Funktion einer Gesamtrepräsentation der Gemeinschaft zugeschrieben bekamen 7 • Dabei wurde zwischen Tagegeldern und Reisekostenentschädigung differenziert und es wurden feste Sätze gezahlt. Die Zahlung war an die Anwesenheit beim Parlament geknüpft8 • Nachdem die Diätenauszahlung an die Grafschaftskassen übertragen war, versuchten die Bezirke die Zahlung zu vermeiden, indem sie keine Abgeordneten entsandten oder solche suchten, die auf die Zahlung verzichten, so daß die Diätenzahlung um 1678 aufhörte9 • 1710 wurde durch den "property qualification act" der Nachweis eines Mindesteinkommens gefordert, um für das Unterhaus kandidieren zu können 10 • Wieder eingeführt wurde eine Diätenzahlung erst 1911 im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Labour 11 Party . Bei den französischen Generalständen lag die Last der Kosten für die Deputierten bei den entsendenden Ständen, dies wurde durch königliche Verordnung garantiert l2 • Mit der revolutionären Umwandlung der Generalstände in die Nationalversammlung 1789 wurden die Deputierten vom Staat bezahlt, der Charakter der Zahlungen nicht mehr als "indemnite", Entschädigung, sondern als "traitement", Besoldung, definiert. Ein Verhältnis der Abgeordneten- zur BeamArmen werden keine Ämter bekleiden wollen, wenn sie nichts dabei gewinnen, sondern lieber ihren privaten Geschäften nachgehen; die Wohlhabenden aber werden die Regierung übernehmen können, weil sie von den öffentlichen Geldern nichts brauchen. So wird dann den Armen die Gelegenheit gegeben sein, wohlhabend zu werden, weil sie ihren Geschäften nachgehen können, und die Angesehenen brauchen sich nicht von den nächsten besten Bürgern regieren lassen ... ". Bei den oligarchischen Umstürzen 411 und 404 V.U.Z. wurde der Heliastensold jeweils abgeschafft. Vgl. Bleicken, S. 286, 534 ff. 7 Hospach, S. 5 f. nach dem modus tenendi parliamentum, XXIII. Das Dokument wird der zweiten Regierungszeit Richards ll. zugerechnet (1377-1399), könnte aber auch etwas jünger sein. 8 Hospach, S. 7 f. 9 Hospach, S. 9 f. Vgl. Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien (1967), S. 211. 10 Hospach, S. 10 f.; das Gesetz galt bis 1858. 11 Loewenstein, S. 212. 12 Hospach, S. 18 ff.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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13
tenbesoldung wurde festgesetzt . Verfassungsrang wurde der Besoldung der Abgeordneten weder 1791 noch 1793 eingeräumt, wohl aber in der Direktorialverfassung von 1795 14 • Die Besoldung von Deputierten - allerdings dezentralisiert - wurde auch in nicht verwirklichten Vorstellungen deutscher Anhänger der französischen Revolution adaptiert l5 • Von 1814 bis 1848 waren ih Frankreich Wahlrecht und Wählbarkeit an einen hohen Zensus geknüpft, eine Diätenzahlung war nicht vorgesehen l6 • Seit der Verfassung von 1848 wurde wiederum eine feste Besoldung vorgenommen l7 • Die belgische Verfassung von 1831 hatte als bürgerlich-konstitutionelle Verfassung im 19. Jahrhundert erheblichen Einfluß auf die europäische Verfassungsentwicklung l8 • Sie sah eine in den Sitzungsmonaten gewährte Entschädigungszahlung vor, die durch die Ausnahme der hauptstädtischen Abgeordneten stark vom Zweck des Ausgleichs zwischen den Abgeordneten mit unterschiedlichen Anfahrtswegen geprägt war l9 • In den Beratungen war die Diätenfrage stark kontrovers gewesen. Es gab sowohl prinzipielle Gegner wie auch solche Abgeordnete, die eine nur für die Sitzungsmonate gezahlte Entschädigung für unzureichend hielten, da einzelne Abgeordnete ihren Beruf aufgeben müßten 20. Die Entscheidung fiel dann für die indemnite, gegen das traitement. Durch die Wahl des Entschädigungsbegriffs wurde zwar der Zweck der Zahlung in Richtung auf einen Ausgleich mandatsbedingter Verluste definiert, durch die Pauschalierung der Entschädigung aber auch ein Element von Gleichbehandlung !3
Hospach, S.24; § 12 des Gesetzes vom 13.6.1791 zur Verfassung vom 3.9.1791. 14 Hospach, S. 21 ff. S. 24 zu Art. 68 der Verfassung vom 22.8.1795, die eine indemnite von 3.000 Myriagramm Weizen jährlich festlegt; durch Gesetz vom 1 I .10.1795 erfolgte die Rückkehr zur aus wirtschaftlichen Gründen ausgesetzten Geldzahlung. 15 VgI. Andreas Riedeis "Aufruf an alle Deutschen zu einem antiaristokratischen Gleichheitsbund" vom Herbst 1792, Ziff. XXVII: "Jedes Bündnerbuch wird seine Deputierten aus sei':len öffentlichen Geldern mit Reisekosten und Subsistenz versorgen, jedoch allen Uberfluß und Verschwendung sorgfältig vermeiden.", zit. nach Walter Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern (1984), S. 586 (590). 16 Hospach, S. 25 f. 17 Art. 38 der Verfassung vom 23. 10. I 848; Gesetz vom 15.3. I 849; Hatschek, S.608. 18 VgI. Robert Reineke, Einflüsse der Repräsentationsmodalitäten der belgisehen Verfassung von 1831 auf die Struktur der Paulskirchenverfassung (1961). 19 Hospach, S. 27; Art. 52 der belgisehen Verfassung vom 7.2.1831: "Chaque membre de la chambre des representants jouit d'une indemnite mensuelle de 200 florins (432 francs) pendant toute la duree de la session. Ceux qui habitent a la ville ou se tient la session ne jouissent d'aucune indemnite." 20 Hatschek, S. 606. 21 Von Arnim, BoK, RN 55 zu Art. 48 GG; Hospach, S. 28 f. Mehrheit: 87 zu 72 Stimmen.
136 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder und faktischer Bezahlung eingeführt. Der materielle Unterschied zu den Tagegeldern der Ständeversammlungen ist noch nicht stark entwickelt22 • Im alten Reich Deutschlands war die Praxis der Tagegelder verschieden. Sie wurden in den Landtagen je nach den politischen Kräfteverhältnissen gezahlt oder nicht gezahlt, den Ständen oder der Landeskasse zugewiesen. Im 17. und 18. Jahrhundert bildete sich eine vorherrschende Praxis heraus, Tagegelder aus der Landeskasse zu zahlen 23 • Beim Reichstag - einem modemen Parlament weniger vergleichbar als die Ständeversammlungen der Länder24 - war die Zahlung den Reichsständen überlassen 25. In den Landesverfassungen vor 1848 finden sich Diätenregelungen in Württemberg, Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt, Kurhessen und Nassau26 • Sie sahen überwiegend Tagegelder und Reisekostenerstattung vor, teilweise auch eine Besoldung der Landtagspräsidenten 27 und die ungekürzte Fortzahlung von Beamtenbesoldungen 28 • In Württemberg, Bayern, Nassau und Kurhessen hatte die Zahlung der Tagegelder Verfassungsrang. Diese Regelungen fügen sich in den Kontext wachsender bürgerlicher Bewegungen, welche die Parlamente als öffentliche Foren und Mittel zur Erweiterung demokratischer Mitbestimmung nutzten 29 • Die Nationalversammlung von 1848 führte nach kontroversen Debatten die Zahlung von Tagegeldern mit der Zielsetzung ein, breiteren Volksschichten die Kandidatur und Wählbarkeit zu ermöglichen 30 • Sie stellte sich damit in die Tradition der französischen Verfassung von 1791 und der belgischen Verfassung von 1831 31 • In die preußische Verfassung von 1851 wurde diese Regelung übernommen 32. Otto von Bismarck war ein scharfer Gegner jeder Diätenzahlung. Er setzte sich im Verlauf der Reichsgründung mit seiner Ablehnung gegen parlamentarische Mehrheiten durch und verankerte das Diätenverbot in der Bundesverfassung von 186i 3 und der Reichsverfassung von 1871. In dieser lautete Art. 32: "Die 22 23 24
25 26 27 28
2Y
30 31 32 33
Anders: Von Arnim, BoK, RN 56, der diesen Unterschied betont. Hospach, S. 36 ff. Loewenberg, S. 25. Hospach, S. 50 ff. Hospach, S. 64 ff. Württemberg, § 194 Abs. 4 der Verfassungsurkunde vom 20.6.1821. Württemberg, Hospach, S. 69. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2, S. 85 ff. § 95 Reichsverfassung; Vgl. E.R. Huber, Bd. 11, S. 830. Reineke, S. 90. Czepluch, S. 19. Vgl. E.R. Huber, Bd. 111, S. 97. Vgl. E.R. Huber, Bd. II1, S.651, 662; Boldt, Verfassungsgeschichte Bd. 2,
S. 170 f., 176. Der Reichstag hatte die Einführung von Diäten am 30.3.1867 mi t
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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Mitglieder des Reichstages düljen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen. " Bismarck benannte als sein politisches Ziel freimütig, ein Korrektiv zum allgemeinen aktiven Wahlrecht durch die faktischen Einschränkungen des passiven Wahlrechts mit der Diätenlosigkeit zu schaffen. Zahlreiche Mehrheitsbeschlüsse des Reichstags zur Einführung von Diäten auf Initiative der liberalen Fortschrittspartei, von Teilen des Zentrums und von den Sozialdemokraten, scheiterten am Einspruch des Bundesrats34 • Politisch wurde mehrmals die Diätenzahlung im Tausch gegen eine Beschneidung anderer Reichstagsrechte angeboten 35 • Dem politisch repressiven Zweck der Diätenlosigkeit sollte auch ein Verbot von Zahlungen Dritter an Abgeordnete dienen. Zahlreiche Diäten-Prozesse gegen liberale und sozialdemokratische Abgeordnete versuchten diesem Verbot Nachdruck zu verleihen, blieben aber im Ganzen erfolglos. Faktisch umging die Mehrzahl der Abgeordneten das Diätenverbot durch eine mehr oder weniger "organisierte Selbsthilfe,,36. Viele Abgeordnete hatten einen "politischen Erwerbsberuf' als Verbands- oder Partei angestellte, Journalisten oder Syndici. Insbesondere die SPD besoldete ihre wachsende Zahl von Reichstagsabgeordneten systematisch selbse 7 • Beamte, Richter und Hochsschullehrer konnten ihren Lebensunterhalt durch die voll weitergewährte staatliche Besoldung decken. 1906 wurde durch Verfassungsänderung schließlich eine jährliche Zahlung von 3.000 RM unter dem Begriff der Entschädigung eingeführt38 • Der neugefasste Art. 32 RV lautete: "Die Mitglieder dürfen als solche keine Besoldung beziehen. Sie erhalten eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes. " Hospach stellt in seiner materialreichen rechtshistorischen Arbeit über Diäten in Deutschland39 anhand der deutschen Verfassungsgeschichte und der anders verlaufenden Entwicklung der europäischen Staaten dar, daß die Diätenlosigkeit mit dem "Honoratiorenparlamentarismus" des 19 . Jahrhunderts keineswegs zwingend verknüpft ist. Die überwiegend liberal eingestellten örtlichen Honoratioren der Landtage des 19. Jahrhunderts entschieden sich nämlich oft in An136 zu 130 Stimmen ausgesprochen, Bismarck legte im Namen der verbündeten Regierungen sein Veto ein. In der dritten Lesung fand der Antrag für Diätenlosigkeit eine Mehrheit von 178 gegen 90 Stimmen. 34 Karl Baumbach, Der deutsche Reichstag (1890), D. 26; Hatschek, S. 699 ff. m.w.N.; E.R. Huber, Bd. III, S. 894 f. Elfi Pracht, Parlamentarismus und deutsche Sozialdemokratie 1867-1914 (1990), S. 307. 35 Pracht, S. 308. 36
37
E.R. Huber, Bd. III, S. 893 f. Pracht, S. 305.
38 G. vom 21.5.1906 (RGB!. S.467, 468); Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. A. (1911), S. 360 ff.; E.R. Huber, Bd. III, S.895; Kühne, Reichsverfassung, S. 125. 39 Frank Julius Hospach, Diäten in Deutschland, Jur. Diss., Tübingen (1992).
138 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
lehnung an die ihnen vorangehenden landständischen Versammlungen oder mit der bewußten Zielsetzung der Förderung der Offenheit der parlamentarischen Arbeit für die Diätenzahlung. Dagegen geht die Diätenlosigkeit maßgeblich auf die Linie Bismarcks und der Konservativen zurück, die politisch die Schwächung des Parlaments gegenüber der Exekutive und die Behinderung der liberalen und sozialdemokratischen Opposition 40 bezwecken sollte. Sie fügt sich damit in den insgesamt antiparlamentarischen Charakter dieser Reichsverfassung41. Die Weimarer Reichsverfassung 42 und die Landesverfassungen der Weimarer Republik führten eine monatliche Diätenzahlung ein. Der Begriff der Entschädigung wurde beibehalten und weiter in Abgrenzung zur Besoldung verstanden. Sie betrug zunächst 1.500 RM, ab 1923 25% des Grundgehaltes der Reichsminister und ab 1930 600 RM monatlich43. Im Grundgesetz wurde dann Art. 48 Abs. 3 GG verankert. Dabei war die Entschädigungszahlung im Parlamentarischen Rat grundsätzlich nicht umstritten44. Der Gesetzgebungsauftrag und die Worte "ihre Unabhängigkeit sichernde" wurden erst im Laufe der Beratungen eingefügt, ohne aber Anlaß zu Kontrover45 sen gegeben zu haben . Die vorher und seitdem geschaffenen Landesverfassungen (mit Ausnahme des Saarlandes) sehen ebenfalls explizit Zahlungen vor46 • Als Verfassungsbegriff blieb es bei" Entschädigung" oder "Aufwandsentschädigung ,,47. Die hessische Verfassung spricht von Sitzungsgeldem, der Präsident soll eine Aufwandsentschädigung erhalten. Die neugefaßte hamburgische Verfassung enthält den Be40 Loewenberg, S. 76; Pracht, S. 304 ff.; Vgl. zum konservativen Antiparlamentarismus im Kaiserreich Hartmut Wasser, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik (1974), S. 28 ff. 41 Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa (1970), S. 232 ff; E.R. Huber, Bd. IV, S. 152 ff.; Röhrich, Demokratie, S. 71 ff.; Boldt, S. 180 f. 42 Art. 40 WRV; Vgl. E.R. Huber, Bd. VI, S. 367 f. 43 Czepluch, S. 23 f.; G. über die Entschädigung der Mitglieder des Reichstags vom 15.12.1930 (RGB!. II S. 1275). 44 Füßlein, S. 377. 45 Füßlein, S. 378; S. 3 wurde auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses in zweiter Lesung durch den Hauptausschuß eingefügt; die Sicherung der Unabhängigkeit durch den Fünferausschuß. 46 Art. 40 BWVerf; Art.31 BayVerf; Art. 36 Abs.l BerlVerf; Art. 60 BrbVerf; Art. 82 S. 2 BremVerf; Art. 13 Abs. 1 HbgVerf; Art. 98 Abs. 1 HessVerf; Art. 22 Abs.3 MVVerf; Art. 13 Abs.3 NdsVerf; Art. 50 NWVerf; Art. 97 Abs.l; Art.42 Abs.2 SächsVerf; Art. 56 Abs. 5 LSAVerf; Art. 11 Abs.3 S. 1 SHVerf; Art. 54 Abs. 1 und 2 ThürVerf. 47 Letzteres in Bayern und Bremen; in Bremen ergänzt durch den Hinweis, daß hierfür feste Sätze vorgeschrieben werden können.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
139
griff "Entgelt,,48. Den Begriff der Angemessenheit benutzen auch die Verfassungen von Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommem, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen, die Sicherung der Unabhängigkeit erwähnen Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommem, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen, den Zusatz "ihrer Verantwortung entsprechend" macht Brandenburg. Thüringen regelt in seiner Landesverfassung von 1993 eine Bindung der Entschädigung an die allgemeine Einkommensentwicklung49. Die einfachgesetzlichen Regelungen sahen zunächst eine monatliche Zahlung vor, die im Gesetz beziffert wurde 50. Im Jahre 1968 erfolgte die Koppelung an die Ministergehälter mit einem Drittel eines Ministergehalts. Mit den Urteilen von 1971 und vor allem 1975 griff das Bundesverfassungsgericht stark in die Ausformung des Diätenrechts ein. Es stellte - teilweise beeinflußt von der Parteienstaats-Theorie von Gerhard Leibholz - einen grundlegenden Bedeutungswandel der Entschädigung hin zu einer besoldungsähnlichen Zahlung fest. Der Bundestag und die Landtage beschlossen am Diäten-Urteil von 1975 orientiert und aufeinander bezogen Abgeordnetengesetze51 , die das Statusrecht der Abgeordneten umfassend regeln sollten. Diese waren seit Mitte der achtziger Jahren wieder vermehrten Änderungen ausgesetzt. Die Reform des Abgeordnetengesetzes wurde als Verbesserung der politischen Chancengleichheit der Abgeordneten betrachtee 2 , aber auch wegen der Höhe der Entschädigungssumme und der Ausgestaltung der Altersversorgung und des Übergangsgeldes kritisiert. Während für die Abgeordneten der Volkskammer in der DDR das Prinzip der Fortzahlung der Löhne gegolten hatte, sah der Verfassungsentwurf des Runden Tisches die Zahlung einer Entschädigung vor53 • Nachdem eine Änderung von Art. 48 Abs. 3 GG vom Bundestag beschlossen wurde, scheiterte sie Mitte Oktober 1995 am Bundesrae 4. Damit ist das Recht Q
.
Art. 13 Abs. I S. 1 HbgVerf. Vgl. Velt Ruppersberg, Grundlegende Reform der Bürgerschaft, Das Parlament Nr. 26, 21.6.1996. Zur Begriffswahl HoffmannRiem, S. 188 f. 49 Art. 54 Abs. 2 ThürVerf. 50 G. über die Entschädigung der Bundestagsabgeordneten vom 15.6.1950, BGB!. I, S. 215 und Ausführungsbestimmungen vom 20.6.1950, 28.11.1951, 11.9.1952 und 5.3.1953, Bundesanzeiger Nr. 119/1950, 3/1952, 180/1952 und 47/1953; Ausgangssumme waren jährlich 7.200 DM zuzüglich Tage- und Sitzungsgelder. Czepluch, S. 24 f. 51 .. Vgl. Joachim Henkel, Das Abgeordnetengesetz des Bundestages, DOV 1977, S. 350; Rudolf Kabel, Das neue Abgeordnetengesetz vom Dezember 1976, ZParl 1977,S.3. 52 So z.B. von Lattmann, Einsamkeit, S. 28. 53 Art. 52 Abs. 4 Verfassungsentwurf. 54 Dazu näher VI.6.
140 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
der Abgeordnetenentschädigung in Deutschland weiter auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 3 GG zu betrachten.
2. Rechtscharakter der angemessenen Entschädigung Zur Bestimmung der Vorgaben aus Art. 48 Abs. 3 GG für die soziale Sicherung der Abgeordneten sind die Begriffe der Entschädigung und der Angemessenheit in ihrer rechtlichen Bedeutung und den ihnen verbundenen politischen Zwecken und Problemen zu untersuchen. Entscheidend für die Beurteilung des Rechtscharakters der Entschädigung und den Anforderungen, die an das Entschädigungsgebot und die soziale Sicherung gestellt werden, ist die Beurteilung der Frage, ob das Mandat der Bundestags-, Landtags- und Europaabgeordneten gleichzeitig mit einem bezahlten Beruf ausgeübt werden soll, kann oder darf. Je nach politischem Standpunkt werden hierzu sehr verschiedene Meinungen vertreten, von der Forderung nach obligatorischer gleichzeitiger Berufstätigkeit bis zum Ruf nach deren Verbot. Explizit beantwortet ist die Frage nur in der Hamburgischen Verfassung, die seit 1996 festschreibt: "Die Vereinbarkeit des Amtes eines Abgeordneten mit einer Berufstätigkeit ist gewährleistet. ,,55 Für den Bundestag kaum noch bestritten wird die empirische Feststellung, daß das Amt gegenwärtig mit einem solchen Arbeitsaufwand verbunden ist, daß die Ausfüllung eines Berufes während der Mandatszeit schwierig, für viele unmöglich ise 6 • Eine Untersuchung kam 1990 zum Ergebnis, daß die Abgeordneten des Bundestags eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit zwischen 70 und 80 Stunden haben 57. Andere nennen gar einer Wochenarbeitszeit von 9058 oder Art. 13 Abs. 2 S. 1 HbgVerf in der Fassung vom 29.5.1996 (GVBI. I, S. 77). H-P. Schneider, HdbVerfR, S.569; Bereits 1968 schrieb Hans Apel, Der deutsche Parlamentarismus (1968), S. 83: "Nur der Berufspolitiker ist in der Lage seiner Aufgabe im Bundestag voll gerecht zu werden." Von einem sehr verengten Spektrum von Berufsgruppen und Abgeordneten muß er dagegen 1991 ausgegangen sein, als er schrieb: "Niemand muß nach seiner Wahl seinen Beruf aufgeben und damit auf beträchtliche Nebeneinnahmen verzichten," Deformierte Demokratie, S. 266; vgl. weiter Spalckhaver, S. 60 ff. 57 D. Herzog/ RebenstorJl Werner/ Weßels, Abgeordnete und Bürger, S. 84 f. Vgl. eine ausführliche Darstellung der Abgeordneten-Arbeit als Erfahrungsbericht in Dieter Lattmann, Die lieblose Republik (1981) oder bei Hans-Jochen Vogel, Nachsichten (1996), S. 445 ff. und als politikwissenschaftliche Untersuchung bei Patze/t, Beruf, S. 49 ff. oder die kurzen Darstellungen von Birgit C. Hamburger, MdB (F.D.P.), Cem Özdemir, MdB (Bündnis 901 Die Grünen), Christine Lucyga, MdB (SPD) und Gerhard Zwerenz, MdB (parteilos, PDS-Fraktion) in Das Parlament, Nr. 33-34, 11.118.8.1995, S. 11. Vgl. weiter Andreas Thewalt, Die Bürger und der Bundestag - Spiegelbild, HA, 25.11.1995. 58 Robert Antretter, MdB (SPD) It. o.V. Diäten - eine Frage der Ehre, MoPo, 21.5.1996. 55
56
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
141
100 Stunden59 • Patzelt kritisierte diese Untersuchungen methodisch und hält nach Abzug sich überschneidender Tätigkeiten 65 Wochenstunden als Durchschnittswert für Bundes- und Landtagsabgeordnete für realistisch 6o • Für die Abgeordneten im Europäischen Parlament gilt wegen erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwands nichts anderes 6 !. Der Anteil der Abgeordneten, die ihren Lebensunterhalt allein aus den Abgeordnetenbezügen decken, ist stark gewachsen. 1964 waren dies nur 27%62. Regelungen der Arbeitsorganisation, die eine Gleichzeitigkeit von Beruf und Mandat voraussetzten und sie dennoch nur bestimmten Gruppen ermöglichten, wurden Ende der sechziger Jahre als negativ für die Arbeitsfähigkeit des Bundestags und die reale Gleichstellung seiner Abgeordneten betrachtet. In den siebziger Jahren verfügte noch die Hälfte der Bundestagsabgeordneten über weitere Einkünfte64 Angesichts gestiegener Entschädigung, gewachsener Arbeitsbelastung und Spezialisierung der Abgeordneten ist diese Quote weiter gesunken. Heute sind von allen Bundes- und Landtagsabgeordneten noch 13% gleichzeitig in ihrem angestammten Beruf tätig, 10% gelegentlich, aber 77% widmen sich ausschließlich dem Mandat. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil 1975 festgestellt, daß die Tätigkeit im Bundestag und den Landtagen - zu betrachten war die Tätigkeit im saarländischen Landtag - insofern als Vollzeitbeschäftigung (" Full-time-Job ") zu behandeln sei, daß von einem Abgeordneten bei der gegebenen Arbeitsbelastung eine zusätzliche Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden dürfe und die soziale Sicherung entsprechend auszugestalten seiM. Dem lag einerseits zugrunde, daß Plenums-, Ausschuß- und Fraktionssitzungen so stattfinden, daß ein Normalarbeitsverhältnis gleichzeitig nicht ausgefüllt werden kann, zum anderen, daß für öffentlich Bedienstete durch die Inkompatibilitätsvorschriften eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit in ihrem Beruf gar nicht erlaubt ist. Schon zur Herstellung von Chancengleichheit im politischen Prozeß darf also eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit nicht zugrundegelegt werden. 59
Schweitzer, S. 211; Burmeister, S. 53;
Patzelt, ZParI 1996, S. 462 (481). Vgl. bereits für die Frühzeit Peter Reichei, Bundestagsabgeordnete in europäischen Parlamenten (1974), S. 98 ff; später Roland Bieber in: Bangemann/ Klepschl Beate Weber/ Bieber, Die Abgeordneten Europas (1984), S. 213 ff. 62 Loewenberg, S. 80; bei den SPD-Abgeordneten waren es 40%, bei CDU/CSU und FDP 20%. Klau, ZPari 1971, S. 344 (352) schätzte diese Zahl noch als zutreffend ein. 63 Loewenberg, S. 86 ff. 64 Spalckhaver, S. 69. 65 Patzelt, ZPari 1996, S. 462 (465). 66 BVerfGE 40, S. 296 (312). 60 6!
142 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Nach 1976 und der Erhöhung der Entschädigungsbeträge mit dem Abgeordnetengesetz 1977 wurde gefordert, den Abgeordneten - wie den Ministern nach Art. 66 GG - jede Berufsausübung zu untersagen, um sicherzustellen, daß sie sich dem Mandat in angemessener Weise widmen, da sie für einen "Full-timeJob" bezahlt würden 61 • In abgemilderter Form wird darauf verwiesen, andere Tätigkeiten könnten - wie die Nebentätigkeiten bei öffentlich Bediensteten68 einer Genehmigungspflicht unterworfen werden. Diese Forderung ist auch mit dem politischen Zweck begründbar, daß so Interessenkonflikte am wirksamsten vermieden werden könnten. Vor dem Hintergrund der Professionalisierung der Abgeordnetentätigkeit erschiene die Umwandlung in einen regelmäßig oder sogar lebenszeitlich ausgeübten Beruf nicht undenkbar69 • Probleme der sozialen Sicherung könnten so sicher vereinfacht werden. Einer solchen Art von Professionalisierung stehen aber die Leitbilder der demokratischen Repräsentation und des freien Mandats entgegen, die verlangen, daß jeder wahlberechtigten Person, unabhängig von Alter und Beruf, der Einstieg in das Abgeordnetenamt durch Kandidatur und Wahl offen stehen muß und der Wechsel von Wahlperiode zu Wahlperiode möglich sein soll. Dazu kommt, daß die Ausübung eines Berufs vor der Abgeordnetentätigkeit nach wie vor für viele Wählerinnen und Wähler und Abgeordnete ein Kriterium für die Qualifikation als Abgeordneter oder Abgeordnete darstellt10 • Die Änderung der Vorstellungen der Wählerinnen und Wähler und der aktiven Parteimitglieder über Tätigkeit und Aufgabe der Abgeordneten wäre somit erste Voraussetzung für eine derartige Veränderung in Richtung auf den Laufbahnpolitiker11 • Problematisch bleibe aber, daß eine Trennung von Wahlrecht und Wählbarkeit nicht nur ein Grundprinzip der demokratischen Wahl außer Kraft setzen würde, sondern auch neuen Deformationen im Auswahlmechanismus zu Lasten der Offenheit und Reformfahigkeit der Institutionen den Weg ebnen könnte. Hier sind Entwicklungen in Frankreich, aber auch in anderen Ländern kritisch auszuwerten, in denen ein großer Teil des politischen Führungspersonals einen vereinheitlichten Ausbildungsabschnitt durchläuft12 Aus der Interpretation des freien Mandats als Gebot der freien Mandatskonzeption ergibt sich, daß ein generelles Berufsausübungsverbot neben dem Man61 Armin Dittmann, Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat - eine unliebsame Konsequenz des "Diätenurteils"?, ZRP 1978, S.52; Richard Ey, Regierungsamt und Abgeordnetenmandat, ZRP 1978, S. 200. 68 Vgl. §§ 64, 65 BBG. 69 Vgl. B.I. 10 Von Beyme, Politische Klasse, S. 124. 11 Dies räumen auch Barteis, S. 56 und Willke, S. 80, ein. 12 • Vgl. Pierre Bourdieu, La noblesse d'Etat - Grandes eco)es et esprit de corps (1989); Röhrich, Eliten, S. 20 ff.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
143
dat mit der Mandatskonzeption des Grundgesetzes nicht vereinbar ist 73 • Dies gilt auch für den generellen Vorbehalt einer Nebentätigkeitsgenehmigung 74 , wie er im Beamten- oder Richterrecht enthalten ise 5 • Es könnte allenfalls durch Verfassungsänderung festgeschrieben werden. Damit würde sich jedoch ein Widerspruch zu Art. 48 Abs. 2 GG ergeben, der eine Gleichzeitigkeit von Mandat und Beruf zwar nicht verlangt, aber erleichtern soll. Auch wäre das Prinzip der Offenheit der demokratischen Repräsentation für den Wechsel verletzt. 3. Die Zahlung für die Abgeordnetentätigkeit Die an die Abgeordneten vom Staat zu leistende Geldzahlung wird im Grundgesetz als "angemessene Entschädigung" bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht führte im Urteil von 1975 aus, daß sich der Charakter des an die Abgeordneten gezahlten Geldes verändert habe und verwendet die Begriffe Bezahlung, Besoldung, Alimentation, Gehalt, Entgelt und Einkommen 76 • Diese Begriffe entstammen unterschiedlichen Rechts- und Wirklichkeitssphären und haben nicht unwesentlich zu unterschiedlichen Deutungen des Urteils beigetragen. Der Entschädigungsbegriff soll daher zunächst untersucht werden. a) Der Begriff der Entschädigung
Der Begriff der Entschädigung wurde - wie bereits bei der französischen und belgischen Verfassungsdiskussion 1791 und 1831 (indemnite vs. traitement) in Abgrenzung zum Begriff der Besoldung gebraucht. Dennoch zeigte sich auch schon im 19 . Jahrhundert und bei der Reichsverfassungsänderung von 1906, daß die begriffliche Klarheit dieser Abgrenzung sich der praktischen Umsetzung versagte. Ob Entschädigung oder Besoldung, stets sahen die konkreten Gesetze eine monatliche Zahlung in wiederkehrender Höhe vor, so daß der Entschädigungsbegriff mehr eine symbolische denn eine praktische Abgrenzung von der Besoldung bewirkte, sieht man einmal von der Steuerfreiheit ab.
73
Henkel, Amt und Mandat, S. 17; Tsatsos, Einführung, S. 120 f; Dirk Pohl, Orittzuwendungen an Bundestagsabgeordnete, ZParl 1995, S. 385 (388). 74 Von der POS-Gruppe im Bundestag gefordert, BT-Orucks. 13/4484, Ziff. 3, 12.6.1996. 75 § 42 BRRG. 76
Bereits in BVerfGE 4, S. 144 (151) heißt es, daß die Aufwandsentschädigung "den Charakter einer Besoldung oder eines Gehalts annimmt". In BVerfGE 32, S. 157 (164) wird dies mit einem "mehr und mehr" zitiert und der Begriff des Entgelts hinzugefügt. Oer Begriff der Alimentation und des Einkommens erscheint in BVerfGE 40, S. 296, Ls. I, zusammen mit dem Entgeltbegriff. Kritisch abweichendes Votum von Seuffert, BVerfGE 40, S. 330 (3340.
144 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Somit zeigt sich die Entschädigung der Abgeordneten als eine pauschalierte oder vorveranschlagte Entschädigung 77 für Zeit- und Arbeitsaufwand und den dadurch entstehenden Ausfall an Erwerbs- und Sicherungsmöglichkeiten. Eine solche Entschädigung monatlich zu zahlen entspricht der heute üblichen monatlichen Zahlungsweise der meisten Erwerbseinkommen. Die ursprüngliche Tagegeldgewährung hat sich somit sowohl wegen der veränderten Abgeordnetentätigkeit wie auch wegen der veränderten Modalitäten der sozialen Sicherung durch Erwerbseinkommen überlebt. Von Arnim kritisiert die Benutzung der Begriffe "Entgelt" und "Bezahlung für geleistete Dienste" durch das Bundesverfassungsgericht als nicht mit dem Verständnis des Urteils von der Abgeordnetentätigkeit in Einklang zu bringen. Beide Begriffe setzten ein Austauschverhältnis zwischen Bezahlung und geleisteter Tätigkeit voraus, das wegen der Unabhängigkeit der Abgeordneten nicht bestehen dürfe 78 • Diese Argumentation wird immer wieder zur Abgrenzung der Abgeordneten vom Arbeitnehmerstatus und damit auch in direkter Relevanz für die Struktur ihrer sozialen Sicherung benutzt. Dagegen seien die. Begriffe "Besoldung" und "Alimentation" passend, die aus dem Beamten-, Richter- und Hochschullehrerrecht stammen und eine Bezahlung ohne Synallagma kennzeichneten, die lediglich die materielle Basis für ein Tätigwerden um des Gemeinwohls, der Gerechtigkeit oder der Wissenschaft willen schaffe80 • Damit lebt die Fiktion der Unabhängigkeit von Tätigkeit und Einkommen auf, die auch im Falle des Beamten-, Richter- oder Professoreneinkommens, aber auch für die freien Berufe wie die Anwaltschaft und Ärzteschaft problematisch ist. Das Arbeitseinkommen ist in aller Regel auch für diese Personengruppen Grundlage der Lebensführung und wird durch die Leistung von Arbeit erzielt. Leisten sie die Arbeit nicht, geht ihnen (jedenfalls auf Dauer) das Einkommen verloren. Der Unterschied zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besteht nicht im Zusammenhang von Arbeit und Einkommen, sondern darin, daß die Weisungsbefugnis des Zahlenden über den Inhalt der Arbeitsleistung in spezifi-
77 Vgl. schon Hatschek, S. 615 ff. und Anschütz, S. 239; Sichtbar auch z.B. in der Bremischen Verfassung, die in Art. 82 eine "Aufwandsentschädigung" nennt, in Art. 82 S. 2 erlaubt, hierfür feste Sätze festzulegen. Vgl. Preuß in Kräning, S. 314. 78 Von Arnim, BoK, RN 103. 79 Wolf- Werner Walloth in Hauck, SGB VI, K § I, RN 39; 80 Von Arnim, BoK, RN 103. 81 Vgl. Fromme, Der Parlamentarier, S.42: "Das materielle Gewinnstreben, anders als beim Gewerbe, soll und darf nicht bestimmende Triebfeder der Ausübung eines Freien Berufes sein." in Anknüpfung an RGZ 66, 148 vom 11.6.1907. Rolf Wank, Arbeitnehmer und Selbständige (1988) S.298, dazu: "Verwechslung von Standesideologie und Realität".
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
145
scher Weise beschränkt ist82 • Dies allerdings ist Teil des Verhältnisses, in dem sich die Tätigwerdenden und ihre Auftraggebenden befinden. Die Bindung der Beamtenschaft an das Gesetz und ihre Eigenverantwortung81 , die Unabhängigkeit der Richterschaft84 , die Lehr- und Forschungsfreiheit der Hochschullehrerschaft , die Gebundenheit der Anwaltschaft an die Regeln ihres Standes bei eingeschränkter Weisungsbefugnis der Auftraggebenden 86 sind im Gesetz ebenso formuliert worden wie die Bedingungen der materiellen Absicherung dieser Gruppen und konstituieren gemeinsam ein jeweils spezifisches Synallagrna, eine Verpflichtung zur unabhängigen Tätigkeit. Auch im Sozialversicherungsrecht wird der Begriff der Weisungsgebundenheit bei der Interpretation des Beschäftigtenbegriffes eher weit gefaßt, wenn bei Leitungsfunktionen die Entscheidungsbefugnisse die Beschäftigung prägen87. Bei den Abgeordneten ist für die strikte Abgrenzung vom sozialrechtlichen Beschäftigtenbegriff kein zwingender Grund erkennbar. Wie für die Bewertung der Entschädigung im Steuerrecht bereits seit langem anerkannt, sind vielmehr sinnvollerweise die dem jeweiligen Rechtsgebiet eigenen Zwecke für die Betrachtung anzuwenden 88 • Wird in der Entschädigung der Abgeordneten eine Bezahlung für das Ausfüllen des Abgeordnetenstatus gesehen, zu dessen Wesensmerkmalen die Weisungsungebundenheit und die selbständige Entscheidung aus eigener Urteilskraft gehören soll, löst sich der Widerspruch zwischen vorgeschriebener Unabhängigkeit und praktischer Abhängigkeit von der Bezahlung auf: Abgeordnete werden dafür bezahlt, daß und damit sie weisungsunabhängig ihren Status ausfüllen. In diesem Sinne besteht auch eine Leistungspflicht, sie müssen diesen Status ausfüllen, sie haben eine Pflicht zur Repräsentation 89. 82
Wank, S. 299 f. spricht von "abhängigen Freiberuflern" und führt aus: "Ob sie abhängig sind, entscheidet sich nicht nach dem fachlichen, sondern nach dem unternehmerischen Entscheidungsspielraum und nach dem unternehmerischen Risiko." 83 Art. 33 Abs. 5 GG; §§ 35, 38 Abs. 1 BRRG, hier allerdings im Spannungsverhältnis zur allgemeinen Weisungsgebundenheit nach § 37 S. I BRRG. 84 Art. 97 Abs. I GG; §§ 25, 26 Abs. 1 DRiG. 85 Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG; § 3 Hochschulrahmengesetz (HRG) i.d.F.d.B.v. 9.4. I 987 (BGB!. I, S. 1170), zuletzt geändert durch G. v. 20.5.1 994 (BGB!. I, S. 1078). 86 §§ 1,43, 43a BRAO. 87 Walloth in Hauck, SGB VI, K § 1, RN 22 nennt Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, Fraktionsvorstände als Beschäftigte ihrer Fraktionen, angestellte Hochschullehrer, politische Beamte, Bundes- oder Landesbeauftragte für bestimmte Aufgaben, höhere Geistliche und Ordensobere. 88 .. Vg!. Norbert Achterberg, Parlamentsreform - Themen und Thesen, DOV 1975, S. 833 (844) zum Merkmal der Weisungsunabhängigkeit im steuerrechtlichen Zusammenhang: "unangebrachte zivilrechtliehe Betrachtungsweise." 89 Johannes Kimme, Das Repräsentativsystem (1987), S. 162 ff. Ebenso: Wiese, AöR 101 (1976); S. 548 (571); Czepluch, S. 102 ff. H.-H. Klein, Status, S. 378 f. 10 Wclli
146 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Johannes Kimme führt als Beispiel hierfür an, daß ein Abgeordneter, dem wegen Agententätigkeit die Fähigkeit abgesprochen wurde, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, Mandat und Entschädigungsanspruch verliert90 • Zur regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen des Parlaments und der Ausschüsse sowie an Abstimmungen besteht eine Pflicht der Abgeordneten 91 , die auch in der Geschäftsordnung normiert92 und durch das Führen einer Anwesenheitsliste und die Kürzung der Kostenpauschale bei Abwesenheit93 untermauert wird. Dazu kommt die Pflicht, die Regeln der Geschäftsordnung und der Geheimschutzordnung zu beachten94 • In Hamburg und Bremen können grobe Pflichtverstöße der Abgeordneten sogar mit Mandatsaberkennung sanktioniert werden 95 • Im einzelnen ist die Leistung des Abgeordneten - wie auch die Leistung aus einem Arbeits- oder Dienstvertrag96 - nicht einklagbar. Sie korrespondiert aber sehr wohl mit dem Einkommensanspruch des Abgeordneten 97 • Der Entscheidungsfreiheit über die Ausgestaltung des Mandats entspricht nicht eine Befreiung von Pflichten, sondern das Recht, deren Inhalt teilweise selbst zu bestimmen und zu gewichten 98 • Im Kollektiv geschieht dies durch die autonom gesetzte Geschäftsordnung. Gerade für die repräsentativ-kommunikativen Funktionen des Abgeordneten entspricht die Freiheit zur Selbstbestimmung der Eigenheit seiner Tätigkeit. Ob es sich bei der Entschädigung der Abgeordneten um eine Verdienstausfallentschädigung oder um eine Aufwandsentschädigung für Zeit- und Arbeitsaufwand handelt, kann letztendlich offenbleiben. Bei der Ausgestaltung und Bemessung der Entschädigung ist in jedem Fall das Gebot der Sicherung der 90 Kimme, S. 166 f.; BayObLG vom 16.5.1980, BGH vom 23.1.1981, BVerfG vom 24.3.1981, BVerfGE 56, S. 396. 91 Achterberg, Das Bonner Grundgesetz, Art. 38, RN 90. 92 Art 13 GeschO-BT. 93 § 14 Abs. 1 AbgG. 94 H.-H. Klein, Status, S. 379. 95 Art. 85 Abs. I BremVerf; Art. 13 Abs. 2 HbgVerf; Vgl. Otger Kratzsch, Befugnis der Länderparlamente zur Abe~kennung des Abgeordnetenmandats bei Unwürdigkeit und Mandatsmißbrauch, DOV 1970, S. 372. 96 § 888 Abs. 2 ZPO. 97 Ebenso: Freytag, S. 64. 98 Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 509 ff: "Ob der Abgeordnete dem Wohl des Staates mehr dient, wenn er pünktlich an Ausschußsitzungen teilnimmt; oder wenn er Versammlungen abhält, um bei den Wählern für seine Ideen zu werben; oder wenn er in einer Bibliothek sitzt, um alles, was über einen bestimmten Gegenstand an Gesetzen erlassen ist, zu studieren, (.. ) ist rechtlich allein seiner Entscheidung überlassen." ; zustimmend Heinz V. Rausch, Der Abgeordnete - Idee und Wirklichkeit (1965), S. 52; Klatt, APuZ 44/1980, S. 25 (28); Vgl. Fromme, Der Parlamentarier, S. 55: Der Parlamentarier hat die Pflicht zur ständigen Prüfung seines Gewissens und zum Aushalten der ihm damit auferlegten Spannung.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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politischen Chancengleichheit durch eine streng gleiche Ausgestaltung zu beachten. Das bedeutet, daß eine Verdienstausfallentschädigung nur in streng pauschalierter Form erfolgen kann, um nicht zu Verstößen gegen das Chancengleichheitsprinzip zu führen. Somit ist die Entschädigung praktisch zu verstehen als Ausgleich für ein Einkommen, das die Abgeordneten bei ähnlichem Arbeitsaufwand erreichen könnten, wenn sie Zeit und Arbeit nicht dem Mandat widmen würden. Unter den Bedingungen andauernder Arbeitslosigkeit verbietet es sich dabei erst recht, darauf abzustellen, ob in dieser Zeit ohne Mandat konkret-real eine bezahlte Beschäftigung ausgeübt werden würde. Ein durch seine Entschädigungsregelung auf Berufstätige beschränktes Parlament stünde nicht im Einklang mit den Vorgaben der Art. 38 und 48 GG. Die Entschädigung ist unter diesen Vorgaben funktional ein Arbeitseinkommen sui generis 99 • b) Die Entschädigung als Anknüpfungspunkt der sozialen Sicherung
Aus dem Wortlaut von Art 48 Abs. 3 GG ist vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lOO und vereinzelt auch danach 101 gefolgert worden, über die Entschädigung hinausgehende Sozialleistungen seien unzulässig, da sie im Grundgesetz nicht erwähnt seien. Statusrechte der Abgeordneten müßten aber nach dieser Auffassung in der Verfassung abschließend geregelt werden. Dagegen steht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die Altersversorgung und anderes Sozialleistungen seien ein Annex der Abgeordnetenentschädigung. Arbeitseinkommen aller Art werden im modemen Sozialstaat als Grundlage sozialer Sicherung für die Risiken der Krankheit und Pflegebedürftigkeit, der Invalidität, der Arbeitsunfähigkeit und des Alters benutzt. Wird die Entschädigung als funktionales Arbeitseinkommen eigener Art betrachtet, erscheint der Aufbau von sozialer Sicherung in wie immer gearteten Systemen als folgerichtig. Im modernen Sozialstaat ist die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen verschiedener Art und damit verknüpfte Sozialleistungen zu einer zentralen Freiheitsverbürgung der Individuen geworden. Dies ist vom Bundesverfassungsgericht insbesondere in den Entscheidungen zum Eigentumsschutz von Rentenanwartschaften l02 hervorgehoben worden. Dieses Verständnis muß auch für die Freiheitssicherung der Abgeordneten durch ihr Arbeitseinkommen und eine daraus folgende Einbindung in soziale Sicherungssysteme und -ansprüche gelten. 99
Vgl. auch Joachim Linck, Zur Verfassungsmäßigkeit einer Indexierung der Abgeordnetendiäten, ThürVBl. 1995, S. 104 (l05). 100 Nachweise bei Hartmut Klatt, Die Altersversorgung der Abgeordneten (1972), S. 132f. \01 Geiger, Der Abgeordnete und sein Beruf, ZParl 1978, S. 522, 532. 102 BVerfGE 64, S. 87; BVerfGE 70, S. 101; BVerfGE 75, S. 78. 10'
148 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Vor diesem Hintergrund sind Abgrenzung und Gemeinsamkeiten der Abgeordneten mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern' zu bestimmen. Nach Praxis und Theorie der Sozialversicherung gehören Abgeordnete nicht zu dem Kreis von Personen, die in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis l03 stehen und somit zur Teilnahme und Teilhabe an der Solidargemeinschaft der Sozialversicherten in den einzelnen Systemen lO4 berechtigt und verpflichtet sind. Es ist aber fraglich, ob dies nach dem von den Parlamenten selbst und vom Bundesverfassungsgericht entwickelten modemen Abgeordnetenverständnis gerechtfertigt ist. Gegen die Einbeziehung der Abgeordneten wird vorgebracht, daß ihre Tätigkeit nicht ent~eltlich sei, weil dem Entgelt keine Weisungsgebundenheit gegenübersteht lO • Es fehle an einer abhängigen Beschäftigung, die mit der Unabhängigkeit des Abgeordnetenstatus nicht in Einklang gebracht werden könne l06 • Der Beschäftigtenbegriff des Sozialversicherungsrechts korrespondiert dabei mit dem Arbeitnehmerbegriff des Arbeitsrechts. Beide werden vom Bundesarbeitsgericht und vom Bundessozialgericht nach den Kriterien der persönlichen Weisungsgebundenheit und betrieblichen Eingliederung vorgenommen. Diese Rechtsprechung begegnet aber erheblicher Kritik, weil sie nicht geeignet scheint, der sozialen Schutzbedürftigkeit einzelner Erwerbstätiger gerecht zu werden, für deren Rechtsbeziehungen zu Auftraggebenden umstritten ist, ob sie als Teil einer selbständigen oder einer abhängigen Beschäftigung zu werten sind l07 • Bei einer norrnzweckorientierten Betrachtung der Tatbestandsmerkmale des Beschäftigungsverhältnisses ergibt sich, daß das Merkmal der entgeltlichen Beschäftigung und mit ihm verbunden der Weisungsabhängigkeit - ein aus dem vorherrschenden Arbeitnehmerbegriff übernommenes Kriterium - der Abgrenzung von selbständiger Tätigkeit dient l08 • Selbständige sind aus der Sozialver103 § 7 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) vom 23.12.1976 (BGB!. I, S. 3845). 104 Sozialgesetzbuch _ Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) vom 20.12.1988 (BGB!. I S. 2477); Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) vom 18.12.1989 (BGB!. I S. 2261, ber. 1990 I S. 1337); Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII vom 7.8.1996 (BGB!. I, S. 1254); Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) vom 26.5.1994 (BGB!. I S. 1014); Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25.6.1969 (BGB!. I S. 582); vom 1. Januar 1998 an Sozialgesetzbuch Dritttes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) vom 24. März 1997 (BGB!. I S. 595). 105 Walloth in Hauck SGB VI K § 1 RN 39. 106 Plüm, S. 150. Vg!. auch Fischer, S. 53. 107 Ausführlich dazu Wank; Udo Mayer/ Ulrich Paasch, Ein Schein von Selbständigkeit: Ein-Personen-Unternehmen als neue Form der Abhängkeit (1990). 108 Vg!. dazu Wank, S. 389: "Zwischen Weisungsgebundenheit und Eingliederung einerseits und der Anwendung des Arbeitsrechts statt des Selbständigenrechts andererseits besteht kein Sinnzusammenhang."; Mayer/ Paasch, S. 188 ff. Für eine
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
149
sicherung ausgeschlossen, weil ihre Tätigkeit im Gegensatz zur abhängigen Beschäftigung mit Chancen und Risiken einer freien Gestaltung von Arbeit, Verdienst und Vorsorge verbunden ist und sein solll09. Abgeordnete mit einem festen Entgelt für eine sie regelmäßig voll in Anspruch nehmende Tätigkeit sind bei dieser Abgrenzung auf der Seite der abhängig Beschäftigten zu verorten, deren fehlende Chance zu hoher Gewinnerzielung und Eigenvorsorge durch die Teilnahme an der Sozialversicherung kompensiert werden soll. Die für die Selbständigen und freiberuflich Tätigen wesentliche und typische wirtschaftliche Situation ist bei Abgeordneten nicht gegeben, sie sind mit diesen also nicht wie z.B. Fischer meintliD - vergleichbar. Abgeordnete als "politische Unternehmerinnen und Unternehmer", die sich im wesentlichen aus Spenden und Zuwendungen ihrer politischen Klien~el finanzieren 111, entsprechen in Deutschland weder der Verfassungsnorm noch der Verfassungswirklichkeit. Bei einer teleologischen Betrachtung des Arbeitnehmer_112 und sozialrechtlichen Beschäftigtenbegriffs l13 spricht also nichts gegen die Einbeziehung der Abgeordneten in die Sozialversicherung, sondern diese erscheint sogar systemgereche 14. Abgeordnete leben von ihrer Entschädigung und haben im typischen Fall keine weitere Möglichkeit der Lebensunterhaltssicherung. Sie haben daher die gleiche Schutzbedürftigkeit - wenn nicht aufgrund ihres spezifischen Status eine höhere - wie andere Menschen, deren regelmäßiges, auf Einsatz von Arbeitszeit und -leistung beruhendes Einkommen ihre einzige oder wesentliche Unterhaltsquelle ist. Anerkannt ist dies beispielsweise bereits bei der Einbeziehung der Abgeordneten in die Schutzvorschriften gegen Zwangsvollstreckung in das laufende Arbeitseinkommen 115.
teleologische Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs spricht sich auch Reinhard Richardi in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1 (1992), § 23, RN 45 ff., aus. 109. Mayer/ Paasch, S. 193 f. 110 Fischer, S. 53. 111 Vgl. zu diesem Modell der Abgeordnetentätigkeit in den USA Walfgang Fach, Vom Preis der Politik, Blätter für deutsche und internationale Politik 1995, S. 1290 (1291) sowie bereits Max Weber, S. 505 (532). 112 Vgl. Wank, S. 389 ff. 113 Wank, S. 387 f. 114 Wank, S. 387, sieht in Art. 12 Abs. 1 und 9 Abs.3 GG eine Verpflichtung zur systemgerechten Gestaltung des berufsbezogenen Sozi al schutzes begründet. 115 Nach den §§ 850 ff. ZPO; OLG Düsseldorf, Beschluß vom 28.9.1984 - 3 W 239/84 -, MDR 1985, S. 242; vgl. Adalph BaumbachJ Walfgang Lauterbach, ZPO, vor 9 C vor § 704; Stein! fanas/ Münzberg RN 28 zu § 850 ZPO. Festgeschrieben in § 26 S. 3 Gesetz über die RechtsverhäItnisse der Mitglieder des Landtages Brandenburg (BrbAbgG) vom 15.3.1991; § 25 Abs. I S. 3 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Sächsischen Landtags (SächsAbgG) i.d.F.d.B.v. 2.5.1994 (GVoBI. S. 954); § 30a Abs. 3 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtages von Sachsen-Anhalt (LSAAbgG) i.d.F.d.B.v. 21.7.1994 (GVoBI. S. 907).
150 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
4. Die Angemessenheit der Entschädigung Art. 48 Abs. 3 GG konstituiert das Gebot der Angemessenheit der Entschädigung zusammen mit ihrem Zweck, der Sicherung der Unabhängigkeit. Das heißt, die Angemessenheit mißt sich zunächst und zuvörderst an der Erreichung dieses Zwecks ll6 • Dieser verweist auf die vielschichtigen Schutzrichtungen des freien Mandats l17 • Neben der Sicherung der politischen Chancengleichheit war die Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten vor dem Einfluß anderer Geldgeber immer ein wesentlicher Zweck der Entschädigungszahlungen. Die Bedrohungen der Unabhängigkeit durch interessierte, korruptiv eingeschätzte Zahlungen wandelten sich im Lauf der Geschichte des Parlamentarismus ebenso wie die oben dargestellten Schutzrichtungen des freien Mandats: vom "Kauf von Regierungsmehrheiten " durch die Exekutive im Frühparlamentarismus mittels Ämtervergabe zum "Kauf von Parteirepräsentanten " durch Firmen und Verbände mittels Beraterverträgen in der modemen Parlamentsgeschichte l18 • Die Entschädigung durch den Staat schützt die Abgeordneten auch davor, unmittelbar von ihrer Partei materiell abhängig zu sein l19 • Andererseits wird heute teilweise in der mittelbar von der Wiederaufstellung durch die Partei abhängigen Entschädigungszahlung selbst eine mögliche Bedrohung der Unabhängigkeit 120 der Abgeordneten gesehen . Das schließt nicht aus, daß mit der Entschädigung nach Art. 48 Abs. 3 GG noch weitere Zwecke als die Sicherung der Unabhängigkeit, also des freien Mandats, verfolgt werden. Art. 48 Abs. 3 GG dient auch der Ermöglichung demokratischer Repräsentativität durch Sicherung der Freiheit und Gleichheit des passiven Wahlrechts 12l •
116 Achterbergl Schulte, Das Bonner Grundgesetz RN 53 zu Art. 48 GG. Trute in von Münch! Kunig, GG, RN 21 zu Art. 48; LU.4ger Anselrn Versteyl, Verfassungsrechtliche Aspekte des Abgeordnetengehalts, DOV 1972, S. 774 (776). 117 Dazu B.II. 118 Vgl. Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in der Geschichte des Parlamentarismus in: Ebbighausenl Necket (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals (1989), S. 130 ff; Peter Krause, Freies Mandat und Kontrolle der Abgeordnetentätigkeit, DÖV 1974, S. 325 (336). 119 Fischer, S. 21. 120 H.-P. Schneider, AK-GG, RN 12 zu Art. 48 leitet daraus ab, daß das Durch-
schnittseinkommen der in den Parlamenten vertretenen Berufsgruppen nicht wesentlich überschritten werden darf. Dieser politisch beachtenswerte Vorschlag läßt sich verfassungsrechtlich eher nicht begründen, da der Zusammenhang von Entschädigungshöhe und Unabhängigkeit so nicht vollständig erfaßt wird; ähnlich Czepluch, S.204. 121 Trute in von Münchl Kunig, GG, RN 17 zu Art. 48.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
151
a) Angemessenheit als inhaltliche Nonn Der Begriff der Angemessenheit stellt die notwendige offene Verbindung der Entschädigung mit den realen Bedingungen der Abgeordnetentätigkeit 122 und den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie deren politischer Interpretation her. In der Folge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts wird Angemessenheit zunächst so definiert, daß die Entschädigung für den Abgeordneten und seine Familie eine hinreichende Existenzgrundlage bilden und der Bedeutung des Abgeordnetenamtes im Verfassungsgefüge gerecht werden müsse m. Der Begriff der Angemessenheit kann dabei so verstanden werden, daß er eine inhaltliche Vorgabe in Form einer Unter- und Obergrenze der Entschädigung gemessen an anderen Einkommen macht l24 • Unumstritten ist dabei, daß eine angemessene Entschädigung zur Deckung des Lebensbedarfs der Abgeordneten und ihrer Familie immer ausreichend sein muß 12S • Die Frage des Bedarfs kann obwohl schwer zu beantworten - nicht völlig außer Betracht bleiben l26 • Eine angemessene Entschädigung muß sich aus ihren Normzwecken Unabhängigkeitsschutz, Unterhaltssicherung, bedeutungs- und arbeitsangemessenes Entgelt heraus rechtfertigen. In einer Gesellschaft, in der die Einkommensverteilung zunehmend ungleich ise 27 und feste Kriterien für die Entlohnung einer Tätigkeit im Vergleich zu anderen nicht existieren, erscheint die absolute Höhe der Abgeordnetenentschädigung mit dem Begriff der Angemessenheit kaum eingrenzbar l28 • Wenn einerseits die meisten Bürgerinnen und Bürger die Entschädigung mit ihrem eigenen Einkommen, andererseits die Abgeordneten mit den Einkommen ähnlich arbeitsinTrute in von Münchl Kunig, GG, RN 17 zu Art. 48. BVerfGE 40, S. 296 (315); Czepluch, S. 32. 124 Achterbergl Schulte, Das Bonner Grundgesetz RN 53 zu Art. 48 GG; Michael Kloepfer, Diäten-Urteil und Teilalimentationen, DVBI. 1979, S. 378 (381). 125 Das wird auch von den Befürwortern sogenannter Teilalimentationen eingeräumt, vgl. Kloepfer, DVBI. 1979, S. 378 (380). 126 Damit verträgt es sich beispielsweise nicht, Erhöhungen der Entschädigung durch einen kollektiven Verzicht der Abgeordneten auf den Erhöhungsbetrag zugunsten einer Stiftung für HIV -Infizierte rechtfertigen zu wollen, so die Abg. Gerhard Scheu (CSU) und Horst Schmidbauer (SPD) It. o.V., Diäten - eine Frage der Ehre, MoPo, 21.5.1996; vgl. Helmut Lolhöffel, Frankfurter Rundschau, 23.5.1996, Auf Schleichwegen streben Abgeordnete zu höheren Diäten ("chancenlose Außenseiteridee"); kritisch: o.V., Das Streiflicht, SZ, 24.5.1996. Ebenso muß die Höhe von Parteibeiträgen bei der Bemessung der Entschädigungshöhe außer Betracht bleiben. 127 Vgl. Ernst-Ulrich Huster, Reichtum in Deutschland, WS I-Mitteilungen 1994, S. 635 ff.; Walter Hanesch (Hrsg.), Armut in Deutschland - Der Armutsbericht von DGB und DPWV (1994); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Sondervotum zum Vermögensteuer-Beschluß des BVerfG, NJW 1995, S. 2620 (2624). 128 Vgl. Klatt, ZParl 1971, S. 344 (351), schreibt, daß die Relation zwischen Leistung und Bezahlung für Abgeordnete gesellschaftlich nicht akzeptiert scheine. 122 123
152 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder tensiver und verantwortlicher Positionen in der Privatwirtschaft vergleichen, liegen die Ergebnisse immer weiter auseinander. Hier wird am speziellen Beispiel ein allgemeiner Widerspruch zwischen dem Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit in der politischen Demokratie mit einer Wirtschaftsordnung deutlich, deren Prinzipien zu ungleicher Einkommensverteilung führen. Die Angemessenheit der Entschädigung bemißt sich aus ihrem Doppelcharakter als Ausdruck demokratischen Wahl- und Vertretungsverfahrens einerseits, individuelles Arbeitsentgelt andererseits. Während die notwendigen Beträge zur Erreichung der Zwecke der Unabhängigkeitssicherung und der Unterhaltssicherung quantifizierbar sind, ist die Bewertung der Arbeit der Abgeordneten nicht objektivierbar l29 • Die meisten politischen Argumente gewinnen dabei ihre Vorstellung über Angemessenheit im Vergleich mit Entlohnung und Einkommen anderer in absoluter Höhe und relativer Steigerung l3o • Die Berichte parlamentarischer Kommissionen zur Angemessenheit der Entschädigung arbeiten stets mit der Betrachtung der allgemeinen Einkommensentwicklung und der Einkommen ausgewählter Berufsgruppen, deren Tätigkeit mit derjenigen der Abgeordneten für vergleichbar gehalten wird. Ein weiteres Argument ist eine vermutete Anreiz- und Abschreckungswirkung, die einer jeweils bestimmten Höhe der Entschädigung auf Zusammensetzung von Kandidaten- und Abgeordnetenschaft sowie auf die Arbeitsweise der Abgeordneten zugeschrieben wird. So fragen Peter Glotz, Rita Süssmuth und Konrad Seitz: "Ist es selbstverständlich, daß der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse einer Mittelstadt das Doppelte verdient wie ein Abgeordneter? ,,131. Sie sehen in der nach ihrer Auffassung niedrig bemessenen Entschädigung einen Grund für eine mangelnde Attraktivität des Mandats für Selbständige, Unternehmerinnen und Unternehmer, Angehörige des Managements und moderner Dienstleistungsberufe 132. Die Einkommen dieser - von Verantwortung und Arbeitsintensität her oft mit den Abgeordneten verglichenen - Berufsgruppen werden oft frei vereinbart, sind öffentlich weit weniger transparent und oft wesentlich höher als die Abgeordnetenbezüge m. Auch ist der gesellschaftliche Bezug der aus Steuermitteln gezahlFischer, S. 42, 54; Vgl. z.B. Thewalt, HA, 27.11.1995. Abg. Andreas Schmidt (Mülheim) (CDUlCSU), XIII. WP., 75. Sitz., 1.12.1995, S. 6595, führt an, daß im Zeitraum von 1977 bis 1995 die Löhne leitender Angestellter um 143%, Angestellter um 115%, öffentlich Bediensteter um 89% und Diäten um 38% gestiegen waren; Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD), ergänzte in der gleichen Sitzung, daß das Unternehmereinkommen im gleichen Zeitraum um 157% gestiegen ist, S. 6598; Fischer, S. 50 f. 131 Glotz/ Süssmuth/ Seitz, S. 179. 112 Ebenda; ähnlich: Grimm, Krisensymptome, S. 4 (14). 133 Symptomatisch für das Auseinanderfallen der Einkommen von Führungskräften im privatwirtschaftlichen und im staatlichen Bereich war die Suche nach einem 129
110
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
153
ten Abgeordnetenentschädigung zur unmittelbar produktiven Arbeit transparenter als bei Einkommen, die in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung über Vcrbraucherpreise oder Anteile am Unternehmergewinn in ähnlicher Höhe gehalten werden l34 . Das Abgeordneteneinkommen heute bietet aus der Sicht vieler nicht die Gewähr dafür, daß die fähigsten Personen Abgeordnetenmandate anstreben 135 . Andere setzen das Einkommen der Abgeordneten in Bezug zum Durchschnittseinkommen l36 , zu den Bezügen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmem 137 , aus Sozialhilfe 138 und Renten 139 und bewerten es als hinreichend l40 , als hoch oder als unangemessen hoch. Grundsätzlich wird dabei das Argument genannt, daß die Entschädigung das Einkommen der großen Masse der Wählerschaft - insgesamt oder der spezifischen Partei - nicht überschreiten sollte, um Polizeipräsidenten für Hamburg im September 1996, bei der ein Unternehmensberater eingesetzt wurde. Angesichts einer ursprünglich angepeilten Vergütung nach B 6 (12.440 Mark) erklärte der, "in dieser unteren Abteilungsleiter-Gehaltsebene werde er normalerweise gar nicht aktiv" und attestierte ein "Systemproblem" bei der Bezahlung öffentlicher Spitzenämter. Vgl. Peter U. Meyer, Uhrlau - teurer und kompetenter, HA, 28.9.1996 und Thomas Hirschbiegei, Vorteil Uhrlau, MoPo, 28.9.1996. Vgl. Patzelt, Beruf, S. 317 f. 134 Nauber, 5.A. (1986), S. 351. 135 Alexander Gauland, Gedanken über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit, Blätter für deutsche und internationale Politik 1992, S.1331 (1338); Patzelt, Beruf, S. 204 f., 313 ff. 136 So für die Einkommensentwicklung Gerald Häfner, MdB (Bündnis 901 Die Grünen), Pressemitteilung Nr. 643/95 der Bundestagsfraktion Bündnis 901 Die Grünen, 28.9.1995, zit. u.a. bei Günter Bannas, Neuer Gesetzentwurf für Diätenerhöhung, FAZ, 24.11.1995. 137 Hier z.B. Friedrich Karl Fromme, Etwas mehr Mut, FAZ, 2.12.1995: "Daß die Abgeordneten mehr verdienen müssen als der Durchschnitt der Arbeitnehmer, versteht sich heute von selbst." 138 Vgl. hierzu z.B. den Vorschlag des Beauftragten der Evangelischen Kirche Deutschlands für Fragen der Arbeitslosigkeit, Eduard Wöhrmann, die Erhöhung der Entschädigungen an den Anstieg der Sozialhilferegelsätze zu koppeln, Abgeordnete und andere Bedürftige, Wochenzeitung Freitag, 3.11.1995. Positive Bezugnahme durch Abg. Dagmar Enkelmann (POS), XIII. WP., 75. Sitz., 1.12.1995, S. 6603; 78. Sitz., 8.12.1995, S. 6889 und im Entschließungsantrag der PDSGruppe BT-Drucks. 13/4884, Ziff. 1, 12.6.1996; vgl. § 22 BSHG. 139 Fischer, S. 50. 140 Vgl. den Abgeordneten Norbert Gansel (SPD), der im Zusammenhang mit der jährlichen Veröffentlichung seiner EinkommensverhäItnisse für 1995 einen Nettoverdienst nach Abzug mandats bedingter Ausgaben, Steuern und Krankenversicherung von 87.799 DM im Jahr angibt und erklärt: "Man kann nicht behaupten, daß ich durch die Politik reich geworden bin. Aber meine Familie lebt gut und in wirtschaftlicher Unabhängigkeit. ", zit. nach: o.V., Bonns "gläserner Abgeordneter" rechnet ab, SZ, 21.5.1996. Hans Apel, schrieb 1968 in Der deutsche Parlamentarismus, S. 92: "uninteressant für alle Führungskräfte aus Wirtschaft und Verbänden," bewertete das später erreichte Niveau aber als "anständiges Gehalt", Deformierte Demokratie, S. 239.
154 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder damit eine Gleichordnung leitender und koordinierender mit ausführenden und produzierenden Funktionen auszudrücken und eine habituelle Entfremdung der Abgeordneten von ihren Wählerinnen und Wählern zu verhindern l41 • Durch die Einordnung auf einem bestimmten Einkommensniveau besteht auch immer die Gefahr, daß sich Abgeordnete bei den allgemeinen Gesetzen - etwa Steuer- und Sozialgesetzgebung - an den Interessen dieser Gruppe orientieren könnten 142. Weiterhin kann auch argumentiert werden, die zu sichernde Unabhängigkeit der Abgeordneten verringere sich ab einem bestimmten Entschädigungsniveau wieder, da eine materielle Abhängigkeit vom Mandat und damit von der Wiederaufstellung und Wiederwahl und damit von Parteiorganisation und Wahlvolk eintrete l43 • Dazu kommt das Argument, Abgeordnete sollte gerade nicht durch die Einkommenshöhe motiviert werden, sondern aus anderen Gründen 144. Zudem ordnet sich die Stellung zur Höhe der Abgeordnetenentschädigung ein in die allgemeine politische Auffassung zur Legitimität von Einkommensunterschieden und zur Belastung unterschiedlicher Einkommensgruppen mit Steuern und Sozialabgaben 145. Diese unterschiedlichen politischen Auffassungen über die Angemessenheit der Höhe der Abgeordnetenentschädigung entscheidet die Verfassung nicht. Sie sind als politische Fragen zu klären. Der Begriff der Angemessenheit hat aber 141 Verschiedene kommunistische Parteien Westeuropas und die Grünen in ihren ersten Wahlperioden verpflichteten daher ihre Abgeordneten, den ein Facharbeitergehalt überschreitenden Teil der Entschädigung an die Partei abzugeben. Dazu bereits Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), MEAW N, S.45 (74 ff.), daran anknüpfend Wladimir l. Lenin, Staat und Revolution (1917), LAW III, S. 461 (505,513), die fordern, die Mitglieder von Vertretungskörperschaften mit dem Arbeiterlohn zu bezahlen. Lehrreich in Bezug auf die entfremdende Wirkung einer Einkommensdifferenzierung war wiederum die Diätendebatte 1995196, vgl. z.B. in der "metall", Zeitschrift der IG Metall Nr. 7-1996 den Kommentar von Jürgen Meehelhoff, "Das Heulen der Hunde", in der Ausgabe 9-1996 den verständnislosen Leserbrief des Abgeordneten und Gewerkschaftsmitglieds Bernd Reuter (SPD) ("Als langjähriges Mitglied einer Industriegewerkschaft, das treu und brav seinen Beitrag zahlt und darüber hinaus noch bemüht ist, die Interessen der Arbeitnehmer im Deutschen Bundestag zu vertreten, habe ich kein Verständnis dafür, daß hier (.. ) der Sozialneid gegen die Abgeordneten (.. ) geschürt wird.") und wiederum die verständnislosen Repliken darauf in der Leserbriefspalte der metall 10-1996. 142 Angeführt z.B. von Barbara Sehaeffer-Hegell Andrea Leist, Sozialer Wandel und Geschlecht: Für eine Neubestimmung des Privaten, APuZ Nr. 4211996, S. 31 (40) für die Frage der Ehegattenbesteuerung. 143 Czeplueh, S. 187 f.; Apel, Deformierte Demokratie, S. 242. 144 Vgl. Patzelt, Beruf, S. 309 ff. 145 Vgl. dazu insbesondere den Vorschlag des Abg. Detlev von Lareher (SPD), einen Verzicht auf die Erhöhung der Entschädigung mit einer fünfprozentigen Sonderabgabe für alle zu verknüpfen, die mehr als Bundestagsabgeordnete verdienen, zit. nach Helmut Lolhäffel, Solidarzuschlag von Begüterten, FR, 31.5.1996, als Antrag von der.. SPD-Fraktion modifiziert übernommen, BT-Drucks.13/4841, 11.6.1996 zur Anderung des Solidaritätszuschlagsgesetzes 1995.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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seinen materiellen Gehalt vor allem durch den in ihm enthaltenen VelWeis auf die allgemeinen Verfassungsgrundsätze und hier besonders den allgemeinen Gleichheitssatz. Interessant sind dabei besonders Umfang und Grenzen der erlaubten Ungleichbehandlung mit Nichtabgeordneten. Fraglich ist, ob das Demokratie- oder das Sozialstaatsgebot ein Gebot enthält, Privilegien zu vermeiden. Ein Privilegienverbot könnte aus der demokratischen Repräsentation im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsgebot entwickelt werden. Das Bundesverfassungsgericht benutzte in den zwei wichtigsten Entscheidungen zur Abgeordnetenversorgung die Begriffe der "radikal-egalitären parteienstaatlichen Demokratie ,,146 und der "privilegienfeindlichen Demokratie ,,147. Diese Begriffe haben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weder eine Konkretisierung noch eine Fortentwicklung erfahren. Sie deuten die Ableitung eines Privilegienverbotes aus dem Demokratiegebot an. Eine solche Verbindung könnte darin bestehen, daß die demokratische, durch Wahlen vermittelte Repräsentation sich mit einer sozialen Abkopplung der Vertreter von den Vertretenen nicht verträgt. In einer sozial stark differenzierten Gesellschaft ist es kaum möglich, dem Prinzip der Privilegienfeindlichkeit einen bestimmten Gehalt zu geben: Was dem einen als Privileg erscheint, ist für den anderen selbstverständlich oder Rückschritt. Die Ausstrahlung des Demokratie- und Sozialstaatsgebotes erscheint hier zu schwach für eine nähere Ausgestaltung des Angemessenheitsbegriffs. Zurückzugreifen ist vielmehr auf das im Angemessenheitsprinzip enthaltene Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes. Sein Inhalt könnte soweit bestimmt sein, daß soziale Sicherung auch für Abgeordnete möglichst gleichmäßig, gerecht und nach allgemeinen, nachvollziehbaren Kriterien zu organisieren ist. Das Niveau der sozialen Sicherung der Abgeordneten ist variabel. Seine Systematik findet aber im allgemeinen Gleichheitssatz eine Schranke. Das allgemeine Gleichheitsgebot wirkt so bestimmend für das Gebot der Angemessenheit der Entschädigung. Das heißt, die soziale Sicherung der Abgeordneten muß sich grundSätzlich an den Sicherungssystemen der Bevölkerung insgesamt ausrichten 146
BVerfG vom 21.10.1971; kritisch hierzu Günther KüchenhoJJ, Eine neue Art von Demokratie?, NJW 1972, S. 618 f. An den Begriff der egalitären Demokratie knüpft an Badura, HStR I, S. 974 f. 147 BVerfGE 40, S. 296 (317): "Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie," ohne nähere Erläuterungen, dazu vgl. Joachim Linck, Zur Zulässigkeit parlamentarischer Funktionszulagen, ZParl 1976, S. 54 (57): "politisches Schlagwort, das einer exakten verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht zugänglich ist"; dagegen positive Bezugnahme des Abg. Gansel (SPD) bei seiner Erklärung nach § 59 GeschO-BT zu seiner Ablehnung des AbgG, VII. WP/259. Sitz., S. 18597; vgl. aber die ähnlichen Ausgangspunkte der Kommissionen in Hamburg, HoJJmann-Riem, S.32, 214 und Baden-Württemberg, LTDrucks. 1112426, 10.9.1993, S.4, die explizit eine größtmögliche Gleichstellung der Abgeordneten mit ihren Wählerinnen und Wählern fordern.
156 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
und deren Niveau weder über- noch unterschreiten. Abweichungen müssen aus den spezifischen Bedingungen der Abgeordnetentätigkeit im Vergleich zu anderen Beschäftigungen begründet sein, so zum Beispiel der ungewissen Periodizität und der hohen Arbeitsbelastung. Eine Sicherung, über die große Teile der Bevölkerung verfügen, ist auch für Abgeordnete angemessen. Fehlt sie, werden auch die Unabhängigkeit und die demokratische Repräsentation beeinträchtigt, da Abgeordnete auf andere Einkommensquellen als die Entschädigung angewiesen wären, um eine soziale Sicherung zu erreichen, die als gesellschaftlicher Standard gilt. Ein höheres Sicherungsniveau muß gesondert begründet werden. Als angemessene Entschädigung zu rechtfertigen sind im Bereich der sozialen Sicherung nur diejenigen Ungleichbehandlungen von Abgeordneten im Bereich der Entschädigung und sozialen Sicherung, die auf der verfassungsrechtlichen Besonderheit des Abgeordnetenstatus beruhen. b) Angemessenheit als Verjahrensnorm
Zugleich verweist der Begriff der Angemessenheit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Notwendigkeit einen Maßstab zu finden, anzumessen. Angemessenheit ist somit nicht nur materielle, sondern auch verfahrensbestimmende Norm. Der Maßstab, der dem gefundenen Maß der Abgeordnetenentschädigung zugrundeliegt, ist demnach transparent zu machen und in der systematischen Ausgestaltung des Abgeordnetenrechts systemgerecht durchzuhalten. Das Bundesverfassungsgericht hatte bestimmt, daß das Parlament durch Art. 48 Abs. 3 GG und das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip zu einer selbständigen Entscheidung über die Bestimmung dessen, was nach seiner Auffassung eine angemessene, die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung sei, gehal.148 ten seI . Dadurch werden angesichts durchgängiger - wiederum im allgemeinen Gleichheitssatz materialisierten - Sorgfaltsanforderungen an die Gesetzgebung an sich keine höheren Anforderungen an die Gesetzgebung zur Entschädigung der Abgeordneten gestellt als an andere Gesetzgebung auch, die ebenfalls nicht zu willkürlichen Privilegierungen und Systemungerechtigkeiten führen darf. Zur Gewinnung einer verfahrensmäßig angemessenen Entschädigungsregelung hat der Gesetzgeber das einschlägige Entscheidungsmaterial, die Daten der Entscheidungsfindung heranzuziehen, aufzubereiten, abzuwägen und unterliegt einer Kontrolle auf die sachgerechte und vertretbare Beurteilung des erreichba-
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BVerfGE 40, S.296 (317, 327). Ablehnend Se uffert, BVerfGE 40, S.330 (344): "Ein verfassungsrechtliches Gebot, das hier eine 'selbständige' Entscheidung des Parlaments verlangt, läßt sich nicht finden."
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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ren Materials, der Ausschöpfung der zugänglichen Erkenntnisquellen und der Prognose der voraussichtlichen Auswirkungen der Regelung l49 . Damit sind die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die Gesetzgebung zur Abgeordnetenentschädigung formuliert hat, nicht als Spezialität der Gesetzgebungskompetenz "in eigener Sache,,150, sondern als allgemeine Anforderungen des Gleichheitsprinzips, der Angemessenheit und eines rechtsstaatlichen Begründungszwangs im Gesetzgebungsverfahren zu betrachten.
5. Politische Chancengleichheit und Entschädigung Das Entschädigungsgebot nach Art. 48 Abs. 3 GG unterliegt als Statusrecht der Abgeordneten nicht nur dem Gebot der Angemessenheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz, sondern dem strengen Gleichheitssatz, wie ihn das Bundesverfassungsgericht aus dem Wahlrecht in das Abgeordnetenrecht verlängert hae 51 . Klärungsbedürftig ist, ob eine differenzierte Zahlung an Abgeordnete statthaft ist, das heißt, ob alle Abgeordneten die gleiche Entschädigungssumme erhalten sollen. Hier sind drei Fragen zu unterscheiden: die Differenzierung nach der Abgeordnetentätigkeit (Funktionszulagen), die Differenzierung nach einem realen Einkommen neben der Abgeordnetentätigkeit (Anrechnung) und die Differenzierung nach einem ohne Abgeordnetentätigkeit erziel baren Einkommen (Entschädigungsgedanke). Jeder dieser Grundsätze wäre nicht nur für die monatliche Grundentschädigung, sondern auch für die systematisch darauf aufbauenden Sozialleistungen von bestimmender Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1975 in Bezug auf alle drei Möglichkeiten der Differenzierung im obiter dictum ablehnend Steilung bezogen und aus dem strengen Gleichheitssatz gefolgert, daß jede Differenzierung der Entschädigungssumme unzulässig sei 152. Diese Auslegung ist seitdem immer wieder kritisiert worden 153. Zugleich ist sie insbesondere in Bezug auf Funktionszulagen l54, aber auch auf Anrechnungen in verschiedenen Re149 Trute in von Münchl Kunig, GG, RN 29 zu Art. 48 GG; vgl. BVerfGE 50, S. 290 (333 f.); ausführlich: Jörg Lücke, Begründungszwang und Verfassung (1987), S. 37 ff. ISO Dazu IX.
15 1
BVerfGE 40, S. 296 (318); Czepluch, S. 34 f.
152 BVerfGE 40, S. 296 (318): "Danach werden also künftig z.B. eine Reihe von
Pauschalen, Tage- und Sitzungsgeldern, Verdienstausfallentschädigungen und ähnlichen Zuwendungen aus der Parlamentskasse sowie gestaffelte Diäten für Abgeordnete mit besonderen parlamentarischen Funktionen entfallen." 153 Bull, Die Zeit, 20.10.1995: "unerfindlich". l54 In Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen, vgl. näher c.1.!.
158 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder gelungen durchbrochen worden. Was die Anrechnung betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht selbst im gleichen Urteil eine Differenzierung befiirwortee 55 , ohne darin einen Widerspruch zu seinen Ausführungen zum strengen Gleichheitssatz zu sehen. Der strenge Gleichheitssatz ist bei der Ausgestaltung der Entschädigungsregelungen zu beachten, sein spezifischer Gehalt ist noch zu untersuchen. Ebenso wie im Wahlrecht oder im Geschäftsordnungsrecht bedeutet dies aber nicht, daß Differenzierungen in keiner Weise zulässig sind. Ob die genannten Möglichkeiten differenzierter Entschädigungsregelungen mit dem strengen Gleichheitssatz vereinbar sind, wird unten weiter geprüft. 6. Die gescheiterte Verfassungsänderung von 1995 In der XII. Wahlperiode des Deutschen Bundestags beriet eine Unabhängige Kommission unter Leitung des ehemaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Otto Kissel, über Fragen der Rechtsstellung und sozialen Sicherung der Abgeordneten. In der XIII. Wahlperiode wurden deren Ergebnisse sowie weitere Vorschläge von einer interfraktionellen Kommission des Ältestenrates für die Rechtsstellung der Abgeordneten unter Leitung des Bundestagsvizepräsidenten Hans-Ulrich Klose aufgearbeitet. Der Ältestenrat billigte am 22.6.1995 mit Mehrheit deren Vorschlag, auf Grundlage einer Änderung von Art. 48 Abs. 3 GG Entschädigung, Amtsausstattung und Altersversorgung sowie Übergangsgeld neu zu ordnen I 56. Weiterer Inhalt dieser Beschlußempfehlung waren die Willenserklärung zur Verkleinerung des Bundestags von 672 auf unter 600 Abgeordnete und eine Veränderung von Struktur und Darstellung der parlamentarischen Arbeie 51 • Der Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes wurde wenige Tage später als Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD I58 in den Bundestag eingebracht und sah vor, Art. 48 Abs. 3 GG neu zu fassen: "Die Abgeordneten haben An155 BVerfGE 40, S. 296 (329 f.) begründet die Ungleichbehandlung der Abgeordneten bezüglich der Anrechnung mit der Gleichbehandlung der öffentlichen Alimentationsempfänger untereinander. 156 BT-Drucks. 13/1803,26.6.1995, S. 2 f. und 10 f.. 151 BT-Drucks. 13/1803, S. 1 und 4 ff. Vgl. zu den nicht die Entschädigung betreffenden Teilen der Reform: Marschall, ZPari 1996, S.365 und Sabine LemkeMüller, Zur Parlamentsreform im Deutschen Bundestag: Mehr Transparenz, Öffentlichkeit und Effektivität, APuZ Nr. 27/1996, S. 3. Zum Stand der Arbeit der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages BT-Drucks. 13/4560, 13/4860. Bundestagsbeschluß zur yerkleinerung auf 598 Abgeordnete am 11.10.1996, vgl. Helmut Lolhäffel, Uberhangmandate bleiben unangetastet, FR, 12.10.1996; Peter Schmitt, Nur bedingt ein Konsens, Das Parlament Nr. 43, 18.10.1996. ISS BT-Drucks. 13/1824, 28.6.1995. Ausschußbericht BT-Drucks. 13/2339, 19.9.1995.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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spruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Die Abgeordnetenentschädigung bestimmt sich nach den Jahresbezügen eines Richters an einem obersten Bundesgericht. Das Nähere, insbesondere über die Abgeordneten- und Altersentschädigung sowie die Amtsausstattung, wird durch Bundesgesetz oder auf Grund eines Bundesgesetzes geregelt. " In Verbindung damit wurde von den beiden Fraktionen der Entwurf des acht.. 159 zehnten Anderungsgesetzes zum Abgeordnetengesetz eingebracht ,der die damit verbundene Anhebung der Entschädigung stufenweise bis zum 1.1.2000 realisieren sowie zahlreiche weitere Änderungen der Regelungen zur Altersentschädigung und zum Übergangsgeld verwirklichen sollte. Für die Verfassungsänderung wurde von den Abgeordneten Süssmuth, Wilhelm Schmidt und Gerhard Scheu vorgebracht, die geltende Entschädigungsregelung sei unbefriedigend und behindere eine repräsentative Zusammensetzung des Parlaments. Sie führe aufgrund der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts zum ständigen Zwang der Entscheidung in eigener Sache und damit zum unberechtigten Vorwurf der Selbstbedienung. Der Maßstab der obersten Bundesrichter und -richterinnen basiere auf dem vergleichbaren Verantwortungsbereich und der vergleichbaren unabhängigen Stellung, den relativen Zielvorgaben der Beratungen von 1977 und der noch nicht erreichten Vorgabe, Abgeordnete sollten nicht weniger erhalten als die obersten Beamtinnen und Beamten, die sie kontrollierten l6o • Gerhard Scheu legte dar, die geplante Verfassungsänderung sei mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar, ermögliche die vom Demokratiegebot her nötige öffentliche Kontrolle und betone den Parlamentsvorbehalt für die Regelung statussichernder Ansprüche l61 • Im Bundestag lehnte Burkhard Hirsch die Festschreibung einer Bezugsgröße grundsätzlich ab 162 • Gerald Häfner befürwortete sie prinzipiell, schlug aber vor das Grundgehalt oberster Bundesrichter ohne die beamtentypischen Zuschläge zugrundezulegen l63 • Manfred Müller forderte eine zeitlich längere Streckung der Anhebung, befürwortete aber prinzipiell eine Bezugs größe, wenn sie zu einer interessenbestimmten Nähe der Abgeordneten zu den tarifverhandelnden Gewerkschaften führe l64 • Während der Phase der ersten 159 BT-Drucks. 1311825, 28.6.1995. Ausschußbericht BT-Drucks.1312340, 19.9.1995. 160 Rita Süssrnuth (CDU/CSU), XIII. WP, 47. Sitz., 29.6.1995, Prot. S. 3852 f.; Wilhe/rn Schrnidt (SPD), S. 3858; Gerhard Scheu (CDUlCSU), S. 3865. 161 Gerhard Scheu (CDU/CSU), S. 3863 f. 162 Burkhard Hirsch, (FDP), S. 3862. 163 Gerald Häfner (Bündnis 901 Die Grünen), S. 3860. 164 Manfred Müller (PDS), S. 3863. Vgl. die Aufnahme dieses Arguments als Befürchtung bei Günter Bannas, Bedenken gegen die neue Diäten-Regelung, FAZ, 29.11.1995. Eine Verknüpfung zur Tarifdiskussion wurde auch wieder bei der Diskussion im Frühjahr 1996 über eine Aussetzung der Erhöhung hergestellt, vgl. z.B. Franz Thönnes, MdB (SPD), der mit einer Nullrunde negative Signale für andere
160 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Beratung waren öffentliche Kritik oder Zustimmung zur vorgeschlagenen Verfassungsänderung ebenso wie zu den anderen Maßnahmen der Parlamentsreform verhalten 165 • Kurz vor der zweiten und dritten Beratung der Grundgesetzänderung und des achtzehnten Änderungsgesetzes verschärfte sich die öffentliche Kritik erheblich. Der VerfassungsrechtIer von Arnim und ihm folgend Stimmen aus der Publizistik kritisierten die Änderung als mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates unvereinbaren und darum auch als Verfassungsänderung unzulässigen Verstoß gegen das vom Bundesverfassungsgericht statuierte Kopplungsverbot l66 sowie als unangemessene Erhöhung der Entschädigungssumme. Andere Stimmen lehnten den Vorwurf des Verfassungsbruchs, der mangelnden Transparenz und der Unangemessenheit ab 167. Kritik im Detail richtete sich aber insbesondere gegen die fortbestehende Möglichkeit der Abgeordneten zu Verdiensten neben dem Mandat, die bei Richterinnen und Richtern nicht gegeben sei l68 und die die Unabhängigkeit gefährde l69 • In der Beratung widersprachen die Abgeordneten Süssmuth, Klose und Scheu noch einmal der These, die vorgeschlagene Verfassungsänderung verstoße gegen das Demokratieprinzip und setzten dagegen, es handele sich um eine erlaubte Konkretisierung, die eine Praxis einführe, wie sie in zwei Dritteln der vergleichbaren parlamentarisch verfaßten Staaten üblich sei l7O • Der Bundestag Berufsgruppen befürchtete, zit. nach Sven Kummereincke, Diätenerhöhung: Echo in Stormam gespalten, AZ, 29.5.1996. 165 Vgl. zur Vorphase Patrick Schmelzer, Reform des Bundestages - aber wie?, Das Parlament Nr. 13-14, 31.3.1995; Helmut Lolhöffel, Von großen Plänen nicht viel übrig, FR, 6.6.1995; ders., Reformidee mit Schwächen, FR, 14.6.1995 166 Art. 20 Abs. 1 und 3, 79 Abs. 3 GG; Hans-Herbert von Arnim, "Der Staat sind wir" (1995) und ders. Demokratie vor neuen Herausforderungen, ZRP 1995, S. 340 (348); Wolfgang Hoffmann, Für höhere Diäten die Verfassung kneten, Die Zeit, 8.9.1995; Peter Richter, Wenn's ums liebe Geld geht, ND, 11.10.1995; Erich Böhme, Nur nicht im Dunkeln, MoPo, 25.9.1995; Rudolf Augstein, Die Ladenhüter, Der Spiegel Nr. 38, 11.9.1995. Diese Ausgabe des Spiegel enthielt die argumentativ entgleisten Wendungen vom "Verfassungsbruch aus Geldgier" und von der "Ermächtigungsvorschrift für den Bundestag", vgl. dazu kritisch Lemke-Müller, S.IO. 167 Martin E. Süskind, Nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten!, SZ, 19.9.1995; Helmut Lolhöffel, Zauberformel für Diäten, FR, 20.9.1995; Wolf Heckmann, Verfassungsbruch?, MoPo, 20.9.1995; Friedrich Karl Fromme, Aus Angst mutig, FAZ, 22.9.1995 168 Süskind, SZ, 19.9.1995. 169 Lolhöffel, FR, 20.9.1995. 170 Rita Süssmuth (CDU/CSU), XIII. WP., 55. Sitz., 21.9.1995, Prot. S.4587; Hans-Ulrich Klose (SPD), S. 4590; Gerhard Scheu (CDUlCSU), S. 4592. Vgl. die Anlage zur BT-Drucks. 1312339: Eine Kopplung der Abgeordnetenentschädigung an Gehälter aus dem öffentlichen Dienst nehmen Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden, Portugal und Groß-
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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beschloß die Grundgesetzänderung und die Novelle des Abgeordnetengesetzes am 21. September 1995. Erst nach diesem Termin begann eine intensive öffentliche Diskussion über das Abstimmungsverhalten der Bundesländer im Bundesrat, welcher der Grundgesetzänderung noch mit einer Mehrheit von zwei Dritteln zustimmen mußte, damit sie in Kraft treten konnte I71 • Erste Bedenken waren wenige Tage vor der Abstimmung vom Schleswig-Holsteinischen Bundesratsminister Gerd Walter (SPD)geäußert worden 172. Am 26. September wurde noch prognostiziert, die Mehrheit werde nicht verfehlt werden I7 • Der Bundesrat werde eine traditionelle Autonomie des Bundestags in eigenen Angelegenheiten nicht antasten l74 • Zuerst legte sich die von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen getragene hessische Landesregierung auf eine Ablehnung fest, die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) bezeichnete die Neuregelung als" verfassungsrechtlich möglich, verfassungspolitischjedoch nicht tragbar,,175. Später führte sie aus, sie lehne nicht eine Erhöhung der Entschädigungen ab, sondern die Ankoppelung, da diese beamtenrechtsähnliche Strukturen einführe und die Gestaltungsfreiheit des Bundestags einschränke l76 • Hans Eichel (SPD), Ministerpräsident von Hessen, führte zur Begründung dagegen insbesondere an, eine starke Abweichung von der allgemeinen Einkommensentwicklung sei nicht vertretbar, die Mitglieder der SPD lehnten die Erhöhung ab, Parteiaustritte häuften sich l77 • Die Stellung der an der Regierung beteiligten Partei Bündnis 90/ Die Grünen ließ für die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und SachsenAnhalt, diejenige der FDP in Rheinland-Pfalz Stimmenthaltung erwarten.In den CDU/ SPD-Koalitionsregierungen von Baden-Württemberg und Berlin setzten
britannien vor. Vgl. dazu auch z.B. Peter Nonnenmacherl Hans-Hagen Bremer, Beihilfen und portofreie Post - Diäten in London und Paris, FR, 25.9.1995. 171 Art. 79 Abs. 2 GG. 172 Günter Bannas, Der Widerspruch in der SPD gegen höhere Diäten wirft Schatten auf die Partei- und Fraktionsführung, FAZ, 28.9.1995. 173 Helmut Lolhöffel, ..... spucken sich nicht in die Suppe" - Stoppen Länder die Neuregelung der Bundestagsdiäten?, FR, 26.9.1995. 174 Friedrich Karl Fromme, Drohende Wolken, FAZ, 27.9.1995. 175 Helmut Lolhöffel, Diätengesetz führt zu neuem Zwist in der Koalition und der SPD, FR, 28.9.1995; Eckhard Fuhr, Druck aus der Provinz, FAZ, 28.9.1995. 176 Schieswig-Hoistein will gegen Diätengesetz stimmen! Bundeskanzler Kohl will sich nicht einmischen, SZ, 5.10.1995; Karsten Plog, Simonis sagt endgül tig nein, FR, 5.10.1995. Vgl. die Erklärung von Minister Gerd Walter zur 689. Sitzung des BR, Prot. S. 483. 177 Lolhöffel, FR, 28.9.1995 und Schadensbegrenzer bevölkern die Bundestagsflure/ Gegendruck, FR, 29.9.1995. 11 Wclli
162 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder die Vertreter der SPD sich frühzeitig für eine Enthaltung ein l7s . Führende Abgeordnete der Bundestagsfraktionen von CDUI CSU und SPD äußerten öffentlich Verärgerung über den Eingriff der Länderregierungen, den späten Zeitpunkt, an dem die Bedenken geäußert wurden 179 sowie insbesondere auf die hessische Kritik bezogen, daß sie aufgrund der hohen Landtagsentschädigungen unehrlich seilso. Auch wurde darauf verwiesen, daß die Bezüge der kritisierenden Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentin sowie der Minister und Ministerinnen der Länder durch die Ministergesetze gleichfalls an die Beamtenbesoldung gekoppelt seienISI. Der Bundestagsabgeordnete und Schriftsteller Stefan Heym erklärte aus Protest gegen die Diätenerhöhung in Zeiten zweistelliger Arbeitslosenraten und sinkender Realeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seinen Mandatsverziche s2 . Ungefähr vierzig Staatsrechtslehrer wandten sich in einem Appell an Bundesratspräsident Johannes Rau, den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, und forderten den Bundesrat auf, die Grundgesetzänderung abzulehnen ls >. Sie begründeten dies mit der Ansicht, es entspreche "demokratischem Brauch "IS4, eine solche Änderung erst zur nächsten Wahlpe17S Bannas, FAZ, 28.9.1995. Bannas, FAZ, 28.9.1995 zitiert u.a. Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Michael Glos (CDU/CSU), Peter Struck, Eckart Kuhlwein, Gerd Andres (SPD). Ada Brandes, Union und SPD suchen Auswege, FR, 30.9.1995, zitiert Rupert Scholz (CDU/ CSU), der dem Bundesrat eine Legitimation zur Ablehnung absprach. ISO Lolhäffel, Schadensbegrenzer bevölkern die Bundestagsflure/ Gegendruck, FR, 29.9.1995. ISI Gerhard Scheu, MdB (CDU/ CSU), Selbstbetroffene Nutznießer, FAZ, 13.10.1995. Vgl. § 11 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz - BMinG) i.d.F. v. 27.7.1971, zuletzt geändert durch G. v. 18.12.1989 (BGBl. I, S. 2218) und entsprechende Regelungen der Länderministergesetze, z.B. § 7 Abs. 2 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten und der Landesministerinnen und Landesminister (Landesministergesetz - SHMinG) i.d.F.v. 1.1 0.1990 (GVOBl., S. 515), zuletzt geändert durch G. v. 8.2.1994 (GVOBl. S. 124), wonach die Ministerpräsidentin 110% von B 11, die Minister 110% von BIO erhalten. IS2 Helmut Lolhäffel, Stefan Heym gibt Mandat unter Protest zurück, FR, 30.9.1995. Der parteilose Heym gehörte der Fraktion der PDS an. IS3 Wortlaut in der FR, 29.9.1995; vgl. Friedrich Karl Fromme, Staatsrechtler appellieren an Rau, FAZ, 29.9.1995. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. HansHerbert von Arnim, Hans Schneider, Hans-Peter Schneider, Hans-Heinrich Rupp, Michael Stolleis, Erhard Denninger, Konrad Hesse, Olto Kimminich, Christian Pestalozza und Günter Dürig. Insgesamt unterzeichneten 86 Staatsrechtslehrer den Text. Vgl. Joachim Linck, Kritisches zur Diätenkritik von 86 Staatsrechtslehrern, ZParl 1995, S. 683, der auch den kompletten Text wiedergibt. Kritisch auch LemkeMüller, S. 10 f. IS4 Ein solcher .. Brauch ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht feststellbar. Anderungen des GG waren regelmäßig auch in der Wahlperiode in Kraft getreten. Da sich auch Vertreter der ablehnenden Mehrheit im Bundesrat darauf beriefen (Erklärung von Gerd Walter zur 689. Sitz. des BR, Protokoll S.483), ist dieser Rechtsgedanke nun allerdings eingeführt. Möglicherweise bezieht sich das 179
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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riode in Kraft treten zu lassen. Die Neuregelung widerspreche wegen mangelnder Transparenz dem Demokratiegebot. Andere Stimmen in der politischen Publizistik verteidigten weiter Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit der geplanten Reform 185. Die Landesregierungen von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sprachen sich für die erneute Einrichtung einer Diätenkommission für den Bundestag aus l86 • Am 6. Oktober stellte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rudolf Scharping nach einem Gespräch mit den SPD-Fraktionsvorsitzenden der Landtage öffentlich fest, die notwendige Mehrheit im Bundesrat werde nicht erreicht werden und kündigte neue Beratungen in der SPD-Bundestagsfraktion und im Präsidium der Partei an 187 • Die Auseinandersetzung wurde nun immer stärker als interner Konflikt in der SPD zwischen den Ministerpräsidenten und Landespolitikern einerseits, dem damaligen Parteivorsitzenden Scharping und der Bundestagsfraktion andererseits interpretiert 188 • Nach Hessen und SchleswigHolstein legten sich auch die Landesregierungen von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz auf ein ablehnendes Stimmverhalten im Bundesrat fest. Dabei wurde noch das neue Argument vorgebracht, die Änderung könne die Regelungen auf Länderebene präjudizieren l89 • Die Regierungen des Saarlandes, Brandenburgs, Baden-Württembergs, Berlins, Bremens, Harnburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts, Thüringens und Nordrhein-Westfalens entschieden sich für Stimmenthaltung l9o • Nur noch Bayern und Sachsen stimmten der Grundgesetzänderung zu. Die Staatsregierungen begründeten dies insbesondere damit, die Frage liege im originären Verantwortungsbereich des Bundestags l91 • Damit war .. 192 die vom Bundestag beschlossene Anderung des Grundgesetzes gescheitert .
Argument auf die Diskussion in den USA, vgl. unten B.IX.2.c. Dazu Linck, ZPari 1995, S. 685 f; Lemke-Müller, S. 11. 185, Robert Leicht, Teuer - und gut?, Die Zeit, 29.9.1995; Friedrich Karl Fromme, Das Ziel bleibt, FAZ, 30.9.1995; Martin E. Süskind, Nochmals: Ein Appell an das Selbstbewußtsein, SZ, 6.10.1995. 186 Hannover für Diätenkommission, FR, 6.10.1995. 187 lnge Günther/ Ada Brandes, Scharping gibt Diätenpläne auf, FR, 7.10.1995. 188 Günter Bannas, Um die Macht in der SPD, FAZ, 9.10.1995; Beschimpfungen und Begründungen im Streit der SPD-Fraktion über Diäten und Personen, FAZ, 11.1 0.1995; Andreas Thewalt, Betriebsunfall, HA, 28.9.1995; Klaus Kramer, Aus Stärke schwach, HA, 11.10.1995. Eckhard Fuhr, Irgendwie, FAZ, 11.10.1995. 189 Erklärung von Gerd Walter (Schleswig-Holstein) zur 689. Sitz. des BR, Prot. S.483. 190 C. G../Sto., CDU und SPD wollen an der Diäten-Anhebung festhalten, FAZ, 11.10.1995. Vgl. den Redebeitrag von Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) in der 689. Sitz. des BR. 191 Vgl. den Beitrag von Ursula Männle (Bayern) in der 689. Sitz. des BR. 192 689. Sitz. des Bundesrats am 13.10.1995, Prot. S. 456 ff.; Günter Bannas, Die neue Diäten-Regelung im Bundesrat gescheitert, FAZ, 14.10.1995. 11*
164 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Kernpunkt juristischer Kritik an der geplanten Reform war die mögliche Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen von demokratischen Rechtsstaats und damit eine Unzulässigkeit der Grundgesetzänderung l93 . Ob diese Kritik zutraf, ist zu untersuchen. Zum Kernbereich der Verfassung gehören die Gewaltenteilung und das Rechtsstaatsprinzipl94. Das unabänderliche Prinzip der Volkssouveränität bedeutet, daß Errichtung und Organisation der politischen Herrschaftsgewalt auf das Volk zurückgeführt werden kann l95 . Gegen das Demokratieprinzip verstoßen würde daher eine Regelung, bei der die Entschädigungsregelung der Abgeordneten vom volksgewählten Bundestag vollständig entfernt worden wäre. Sinn des Gesetzesvorbehalts in Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG in der bisherigen und nach wie vor geltenden Fassung war und ist die Gewährleistung, daß die Entschädigungsregelung vom Bundestag beschlossen und kontrolliert und in einem öffentlichen Verfahren festgesetzt wird. Solange diese aufhebbar und kontrollierbar ist, verstößt eine Ankoppelung oder Indexierung nicht gegen den Gesetzesvorbehalt. Ein Verstoß gegen das Demokratiegebot und gegen Art. 79 Abs. 3 GG wäre weder durch die Neufassung von Art. 48 Abs. 3 GG noch durch die einfachrechtliche Umsetzung des Gewollten verwirklicht worden l96 . Die Umsetzung des Satzteils "oder aufgrund eines Gesetzes" hätte sich allerdings in verfassungskonformer Weise nur vollziehen können, wenn eine Festsetzung so erfolgt wäre, daß alle wesentlichen Kriterien im Gesetz festgelegt worden wären. Im übrigen erschien die Ankoppelung an die Bundesrichterinnen und -richter als sachlich wenig zwingend, weil Status, Aufgaben und Arbeitsweise von Abgeordneten und Bundesrichtern und -richterinnen sich in vielem unterscheiden 197 . Die starke öffentliche Kritik an der Neuregelung des Abgeordnetenrechts im Herbst 1995 läßt sich nicht aus deren rechtlichen Einzelheiten oder einer massenhaften Zustimmung zur juristischen These vom "Verfassungsbruch durch Verfassungsänderung" erklären. Die Skandalierungsfähigkeit ergab sich vielmehr aus dem politischen Kontext des Jahres 1995, in dem große Teile der Bevölkerung sehr gerin~e Einkommenszuwächse oder reale Einkommensverluste zu gewärtigen hatten I 8, soziale Leistungen eingeschränkt worden waren 199 und 193 Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 1 und 3 GG. 194 Vgl. Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: Jsensee/ Kirchhof, HStR I (1987), § 19, S. 775 (805). 195 Kirchhof, S. 806. 196 Ebenso: Linck, ZParl 1995, S. 687. Lemke-Müller, S. 10. 197 H.-i. Vogel, Nachsichten, S. 454 f. 198 Vgl. Helmut Lolhöffel, Auf der Diäten-Autobahn, FR, 24.11.1995 und verschärft, Wie die Clowns, FR, 23.5.1996: "Eine Erhöhung der Diäten (.. ) wäre unsozial. Was sollen junge Leute denken, die künftig für Zahnersatz zahlen müssen,? W~ sollen Frauen denken, in deren Rentenansprüche eingegriffen wird? Was sollen
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einige der an der Neuregelung des Abgeordnetenrechts beteiligte Politiker die Bevölkerung aufgerufen hatten, zum Verzicht und zu Einschränkungen bereit zu sein. Weiterhin entstand der Eindruck, daß die in einer komplizierten politischen Konstellation befindlichen Verfassungsorgane Handlungsfähigkeit in dem Moment gewönnen, in dem damit persönliche Vorteile für die handelnden Personen verknüpft waren. Der Eindruck einer homogenen, mit Eigeninteressen versehenen und diese gemeinsam durchsetzenden "politischen Klasse" kam ,.200
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Angesichts der Sonderrolle der Politik und ihrer professionellen Akteure im gesellschaftlichen System ist hier zunächst sicher die besondere Aufmerksamkeit zu nennen, die auf sie gerichtet wird, und die - auch zur Ablenkung - andere Maßstäbe an sie legt als sie sonst zur Bewertung von Handeln benutzt werden 20I • Zugleich registrierten aber Politikwissenschaftler bereits seit einigen Jahren eine generell höhere "Skandalanfälligkeit" politischen Handeins aufgrund eines gewachsenen materialen Legitimationsbedarfs staatlicher Politik202 • Dieser sei von einem rein prozeduralen Legitimationsbedarf abzugrenzen und erkläre sich aus dem Umgang staatlicher Politik mit den anstehenden ökonomischen, technisch-sozialen und kulturellen Entwicklungsproblemen fortgeschrittener kapitalistischer Industriegesellschaften und der sukzessiven Aufkündigung sozialstaatlicher Grundlagen des Verfassungskonsenses 203 • Wegen der (teils mehr symbolischen) Nähe des Entschädigungsrechts der Abgeordneten zu den umkämpften sozialen Verteilungsfragen der Gesellschaft focussieren an ihm die Probleme der politischen Legitimationsbeschaffung204. Dazu kommt, daß die Krankenschwestern, Müllmänner und Polizeibeamte denken, denen Verzicht abverlangt wird?" 199 Vgl. das G. zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 26.6.1993 (BGBI. I, S. 944), das Erste G. zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs.. und Wachstumsprogramms (SKWPG) vom 21.12.1993 (BGBI. I, S. 2353) und das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 vom 26.7.1994 (BGBI. I, S. 1786). Abg. Dagmar Enkelmann (PDS), XIII. WP., 75. Sitz., 1.12.1995, S. 7602. 200 Vgl. bereits Walter Euchner, Diskussionsbeitrag in FS Fijalkowski (1993), S. 140 (142). 201 Hans Maier, Verteidigung der Politik (1990), S. 61 ff. 202 Vgl. Rol! Ebbighausen, Die Massierung politischer Skandale, in: FS Fijalkowski (1993), S. 127 (132). 203 Ebbighausen, S. 133 f. Vgl. Kurt Sontheimer, Das politische System der neuen Bundesrepublik Deutschland (1995), S. 264, der die Legitimation des Parlaments "auf schwachen Füßen" sieht und im wesentlichen als von der wirtschaftlichen Lage abhängig einschätzt. Zu Ursachen u.a. Glotl! Süssmuthl Seitz, S. 173 ff. ("Der Abstieg der politischen Klasse in Deutschland"). Ähnlich auch Wolfgang Fach, Vom Preis der Politik, Blätter für deutsche und internationale Politik 1995, S.1290 (1292 f.). Vgl. zur gesunkenen Steuerungsfähigkeit insbesondere der Parlamente Grimm, Krisensymptome, S. 3 ff. 204 Ebbighausen, S. 134: "Wer aufgefordert und bald gezwungen ist, den Gürtel enger zu schnallen und sich gleichzeitig stärker ins Ruder zu legen, fragt sich an ge-
·166 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Legitimationsprobleme von Parlamenten und Abgeordneten höher sind als diejenigen der anderen staatlichen und politischen Instanzen. ·Dies ist nicht nur auf tradierte autoritäre und etatistische Anschauungen zurückzuführen, sondern auch auf die größere Enttäuschbarkeit des höheren demokratischen Anspruchs, gemessen an den Erwartungen zu geringe Einwirkungsmöglichkeiten des kommunikativen Prozesses der zivilen Gesellschaft gegenüber lediglich von Experten oder Interessenten geführten Diskursen, das Ungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative und eine gegenüber ökonomischen Mächten, Eigendynamik von Massenmedien und gesellschaftlicher sowie institutioneller Ausdifferenzierung immer stärker manifest werdende Machtlosigkeit der Politik205 • Ökonomische Globalisierung führt zu Steuerungsproblemen nationalstaatlicher Politik und einem unbewältigten Dualismus von Integration und Desintegration, der sich in Zynismus und Distanzierung zur Politik niederschläg 06 • Nur ergänzend ist in diesem Kontext zu nennen, daß vielen Bürgerinnen und Bürgern die tatsächliche Höhe der Entschädigung nicht bekannt ist und ein höherer Betrag vermutet wird207
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Auf einer anderen Ebene war das Scheitern der Verfassungsänderung im Bundesrat nicht nur Ausdruck einer deutlichen Ablehnung durch große Teile der Bevölkerung, sondern auch einer speziellen politischen Konstellation, in der einerseits die Bundestagsmehrheit der CDU/ CSU und FDP gegen eine Bundesratsmehrheit SPD-geführter Regierungen stand, sondern auch ein latenter Machtkampf innerhalb der SPD zwischen der Bundestagsfraktion und den Landespolitikern manifest wurde. So zeigte sich auch hier, daß mit der Entschädigungsfrage der Parlamente Machtfragen innerhalb des politischen Systems verknüpft sind. Wenn andere Gewalten in die Entscheidung über die Entschädigung einbezogen sind, neigen diese zu einer restriktiven Haltung, um in der Auseinandersetzung mit dem Parlament einen - zumeist öffentlich populären -
sichts mancher ans Licht gebrachten Bereicherungen von Politikern und Bevorteilungen des großen Geldes, ob wirklich alle im gleichen Boot sitzen, das da flott gemacht werden soll für die Weltmeere." 205 Scheer, Zurück, S. 112 ff.; Wolf-Dieter Narr, Jenseits der gegenwärtigen Verfassungsdebatte, Blätter 1991, S.462 (466 ff.); llse Staff, Überlegungen zur Neukonstituierung einer Bürgergesellschaft, Blätter 1993, S. 917 ff; Reinhardt, APuZ Nr. 47/1996, S. 9. 206 Benhabib, FR, 12.10.1996. 207 Vgl. Bernhard Honnigfort, Der deutsche Parlamentarier, das unbekannte Wesen, FR, 12.10.1995 und o.V., Politiker und das Volk: Zwei getrennte Welten?, MoPo, 12.10.1995, beide Artikel beschreiben nicht nur das Phänomen der Unkenntnis der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch der Journalistinnen und Journalisten, indem sie die "richtige" Entschädigungshöhe falsch angeben.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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Erfolg zu erringen 208 . Dies gilt für den Bundesrat noch stärker als für das Bundesverfassungsgericht. In diesem Fall hatte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Spielraum des Bundestags in Bezug auf die gebotene Gesetzgebungstechnik derart eingeschränkt, daß der Bundestag sich veranlaßt sah, durch Grundgesetzänderung das gewünschte Ergebnis zu ermöglichen. Damit wurde jedoch das Zustimmungserfordernis des Bundesrats ausgelöst. Da sich die Ergebnisse des Bundesverfassungsgerichts nicht mit der Auslegung des Entschädigungsgebots alleine hatten begründen lassen, hatte dieses das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip herangezogen und damit wiederum die Prüfung heraufbeschworen, ob eine Änderung überhaupt zulässig war. Damit war das Handeln der Akteure in hohem Maße von formellen und kompetenziellen Kriterien bestimmt. Die politische Debatte im materiellen Bereich über die Frage der Angemessenheit von Entschädigungsregelungen wurde hierdurch überlagert und verformt. Die gescheiterte Neufassung von Art. 48 Abs.3 GG war der Versuch, ein Problem der Machtverteilung zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgeriche 09 und der politischen Konsensbildung in einer schwierigen Frage mit verfassungsrechtlichen Implikationen durch die detaillierte Festschreibung eines aktuellen politischen Kompromisses im Grundgesetz zu lösen. Darin erinnerte sie an die Einfügung des Art. 16a GG zur Einschränkung des Rechts auf politisches Asyl210 oder an die ständige Übung im Bereich der bundesstaatlichen Finanzverfassunl ll . Die Schwäche dieser Methode ist, daß sie die Offenheit der Verfassung zur Aufnahme zukünftiger Entwicklungen schwächt und einen Verfassungskonsens in der Bevölkerung über derart zustandegekommene Regeln kaum hervorbringt. Sie wird selbst von maßgeblich beteiligten Politikern als bedenkliche "Konstitutionalisierung der Tagespolitik" bewertet212 .
208 Vgl. Linck, ZParl 1995, S. 687, zur Behauptung im Staatsrechtslehrerappell, der Bundesrat solle aufgrund seiner Distanz und Unbefangenheit entscheiden: "Über die politologische Blindheit der appellierenden Staatsrechtslehrer dürften die Mitglieder des Bundesrats nur schmunzeln." Linck verweist auf die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der SPD, die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 22.10.1995 und die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein am 24.3.1996 als wesentliche Motivation der handelnden Länderpolitiker. 209 Dazu unten (B.lX) ausführlicher. 210 G. vom 28.6.1993 (BGBI. I S. 1002). Auch hier war der Abg. Klose an der Formulierung beteiligt gewesen. Kritisch zur Normierungstechnik etwa BerUt, JöR 1996, S. 17 (86 f.). 211 Art. 104a-l08 GG; vgl. dazu Hans Peter Bull! Felix Welti, Schwachstellen der geltenden Finanzverfassung, NVwZ 1996, S. 838. 212 Vgl. Wolfgang Schäuble, Weniger Demokratie wagen?, FAZ, 13.9.1996.
168 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Problematisch erschien das Instrument der Verfassungsänderung zur Veränderung der Entschädigungsregelungen allerdings auch deshalb, weil es an ein uneingelöstes Problem des deutschen Verfassungsstaates erinnerte: die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Vorbedingung demokratischer Repräsentation 213 • Die Disposition über die Regeln einer demokratischen Repräsentation kann nicht allein dem Parlament zustehen, sie muß zunächst dem Volk zukommen 214 • Das Verfahren der Verfassungsänderung durch Bundestag und Bundesrat 5 löst hier den Anspruch von Präambel und Schlußbestimmung216 des Grundgesetzes gerade nicht ein, die von einer unmittelbaren Volkssouveränität über die Verfassung ausgehen. Da die vorgeschlagene Änderung aber gerade im Bereich der Funktionsbedingungen der Repräsentation angesiedelt war, wurde diese Schwäche des Grundgesetzes bei der Ausformung der Gewaltenteilung offenbar und ließ Kritiker gar von der "Gefahr eines neuen Absolutismus" sprechen 217 , ohne allerdings das zugrunde liegende Verfassungsproblem zu nennen.
7. Landtage Repräsentative politische Demokratie und bundesstaatliche Ordnung sind zwei fundamentale Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes, die auch im Zusammenhang zu betrachten sind 21s • Der Grundsatz der angemessenen Entschädigung der Abgeordneten hat wie die anderen Sätze der Art. 38 und 48 GG teil an der Garantie des demokratischen und sozialen Rechtsstaates für die Länder219 • Er ist auch in den meisten Landesverfassungen explizit verankert. Die Wandlung der Parlamentsarbeit hin zu einem hohen Professionalisierungsgrad und hoher Arbeitsbelastung hat in den meisten Bundesländern ohne Verfassungsänderung stattgefunden, so daß in einigen Nachkriegsverfassungen noch die Begriffe 213
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isenseel Kirchhof, HStR I (1987), § 22, S. 887 (890 ff.); Kirchhof, S. 782, 787; Kriele, §§ 61,71; Preuß, Revolution, S. 42 ff.; Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, H., S. 92 ff.; Marx, Kritik, S. 201 (231): "Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt." Zur Situation nach der deutschen Einheit Walter Boehlich, Schweigen im Walde oder: Vom Recht des Volkes auf eine Verfassung, Blätter für deutsche und internationale Politik 1993, S. 1428. 214 Gusy, ZfP 1989, S. 264 (274); Böckenförde, S. 891. 215 Art. 79 Abs. 2 GG 216
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,,( .. ) hat Sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."; vgl. Art. 146 GG. 217 Von Arnim, NJW 1996, S. 1233 (1237). 218 Hartmut Klatt, Die Rolle der Parlamente im föderalen Entscheidungsprozeß in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1989, S. 119. 219 Art. 28 Abs. 1 S. 1 und 2 GG; Trute in von Münchl Kunig, GG, RN 16 zu Art. 48.
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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"Aufwandsentschädigung " oder gar "Sitzungsgeld" erscheinen. Ebenso wie der Begriff der" Entschädigung" bedingen diese Begriffe aber nicht eine Verfassungsentscheidung für den unbezahlten ehrenamtlichen Landtagsabgeordneten. Die bisherige Entwicklung hat hier also nicht contra constitutionem stattgefunden 220 • Eine Neufassung wäre allerdings der Verständlichkeit der Verfassungen förderlich. Umstritten ist aber, ob die Grundsätze der Ausrichtung des Entschädigungsanspruchs am "Full-time-Job" auch für die Landtage anwendbar bzw. zwingend anzuwenden sind oder ob für diese aufgrund anderer rechtlicher und tatsächlicher Verhältnisse der Maßstab qualitativ anders ist22l • In sieben Bundesländern ganz unterschiedlicher Größe wird laut Selbstzeugnissen der Landtage und mehr oder weniger sichtbar in den Normen der Abgeordnetengesetze das Selbstverständnis formuliert, daß neben der Landtagstätigkeit eine Berufstätigkeit möglich sein solle222 • In Hamburg hat der Anspruch der Vereinbarkeit Verfassungsrang. In Baden-Württemberg, Berlin, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein äußert sich dies vor allem in Normen für Abgeordnete aus dem öffentlichen Dienst, denen durch Arbeitszeitreduzierung die Gleichzeitigkeit von Beruf und Mandat ermöglicht werden soU m . Die Abgeordnetengesetze von Berlin, Sachsen und Hamburg enthalten Regelungen, die Rahmenbedingungen für eine Vereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und einer zeitlich reduziert fortbestehenden Berufstätigkeit vorsehen 224. In Schleswig-Holstein kam die Enquete-Kommission Verfassungs- und Parlamentsreform 1989 zu dem Schluß, daß trotz der im Abgeordnetengesetz eröffneten Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Mandats- und Berufsausübung eine 220 So aber Hans Meyer, Warum brauchen wir und wie kommen wir zu einer modernen Verfassung?, KritV 1996, S. 145 (149) für Hessen. 22\ Im Sinne eines qualitativen Unterschieds zuletzt: Fischer, S. 26; Deu., Pappkamerad Bundestag, Süddeutsche Zeitung, 26.4.1996: "Mindestens in den 16 Landtagen gibt es schon längst nicht mehr genug zu entscheiden, als daß dies Vollzeitabgeordnete rechtfertigte." Alexander Gauland, Gedanken über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit, Blätter für deutsche und internationale Politik 1992, S. 1332 (1338). 222 Vgl. z.B. in Mecklenburg-Vorpommern Abg. Buske (CDU), I. WP/4. Sitz., 29.11.1990, S. 70; Horst Nauber, Das Berliner Parlament, 5.A. (1986), S. 353 f.; Ot10 Behrend, Auf der Suche nach dem Teilzeitabgeordneten, DÖV 1982, S.774; Kloepfer, DVBI. 1979, S. 378 (379). 223 Von Arnim, Die Partei, S. 158, nennt Hamburg, Bremen, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen "und wohl auch Rheinland-Pfalz". Er orientiert sich dabei allein am Gebrauch des Wortes "Aufwandsentschädigung" in den Verfassungstexten, weniger an den materiellen Regelungen. Seiner Einteilung kann hier nicht gefolgt werden. 224 § 2 Abs. 4 Gesetz über die RechtsverhäItnisse der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin (BerILAbgG) vom 21.7.1978 (GVBI. S. 1497), zuletzt geändert durch G. v.. 12.7.1995 (GVBI. S.444); § 2 Abs. 4 SächsAbgG. § 8 Hamburgisches Abgeordnetengesetz (HbgAbgG) vom 21.6.1996 (GVBI. S. 141).
170 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder starke infonnelle Regelung zugunsten des Vollzeitmandats bestehe 225 • Dies wurde nach einer Zeitbudget-Studie des Soziologen Franz U. Pappi für die Kommission und einer Befragung zum Selbstverständnis der Parlamentarier auf die zeitliche Belastung zurückgeführt, die bei einem engen Verständnis (Gesetzgebung, Regierungskontrolle, Wahlen) auf 35 Wochenstunden und bei Einbeziehung der kommunikativen Funktionen auf 54 Wochenstunden beziffert wurde226 • Neuere sozialwissenschaftliche Untersuchungen über das Tätigkeitsbild der Abgeordneten in den Landesparlamenten kommen durchgehend zu dem Ergebnis, daß die zeitliche Beanspruchung der Abgeordneten durch Gesetzgebungsarbeit im Parlamentsplenum, den Ausschüssen und in der Rezeption wissenschaftlicher Politikberatung, die Kontrolle der jeweiligen Regierungen sowie die kommunikative Arbeit in Wahlkreis 227 , Partei und Verbänden 228 so erheblich ist, daß nicht vorausgesetzt werden kann, daß alle Abgeordneten zum Erwerb aktuellen Einkommens einer Erwerbstätigkeit nachgehen können und davon abgeleitet Ansprüche auf soziale Sicherung erlangen. Eine Studie zum Zeitaufwand der niedersächsischen Landtagsabgeordneten kam zu einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 77 Wochenstunden im besonders arbeitsintensiven Monat November in einer Spannbreite zwischen 40 und 116 Wochenstunden 229 • In Baden-Württemberg, wo der Landtag nach eigenem Selbstverständnis eine Gleichzeitigkeit von Beruf und Mandat fördern Will 230 , ist nur eine Minderheit von Abgeordneten mehr als 20 Wochenstunden berufstätig und bescheinigt die Untersuchung von Holl die Entwicklung zum Vollzeitparlament231 • Dies ist auch auf diejenigen Bundesländer übertragbar, in denen von ihrer Größe her am ehesten ein Nebeneinander von Abgeordneten- und Erwerbstätigkeit vorstellbar wäre 212 • In den Landtagen der neuen Bundesländern setzte sich die Tätigkeit als Vollzeitabgeordneter gegen die Ansprüche und Erwartungen vieler Abgeordneter
Bericht, S. 18l. Bericht, S. 182. 227 Dazu detailliert: Patzelt, Beruf, S. 76 ff. 228 Patzelt, Beruf, S. 134 ff. 229 Eckart Spoo, Viele Landtagsabgeordnete fühlen sich als bloßes Stimmvieh, Frankfurter Rundschau, 3.7.1995; vgl. den Bericht des bayerischen MdL Paul Wilhelm (CSU) in Das Parlament, Nr. 33-34,11.118.8.1995, S. Il. 230 Vergleiche noch Herbert Schneider, Teil- oder Vollzeitabgeordnete in den Landtagen? Ist das 'Stuttgarter Modell' verallgemeinerungsfähig, ZParl 1978, 225
226
S.456.
231 Verallgemeinernd: Stefan Holl, Landespolitiker: eine weitgehend unbeachtete Elite, in Hoffmann-Lange (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland (1990), S. 76 (94 f.). 232 Zum Berliner Abgeordnetenhaus z.B. Reinhold Amonal, Meine Forderung: Ganztags-Abgeordnete! in Nauber, 3.A. (1980), S. 300; durchschnittlicher Zeitaufwand in Nauber, 5.A. (1986), S. 323 ff ..
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
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aufgrund der Arbeitslast schon in der ersten Wahlperiode weitgehend durch 23J • Auch in Hambur wuchs die Kritik am "Feierabendparlament" angesichts seiner Arbeitsbelastung 34 und daraus folgender Chancen ungleichheit der Abgeordneten 235 , so daß die Enquete-Kommission "Parlamentsreform" eine Neuregelung vorgeschlagen hat, bei der kein Leitbild einer Ehrenamtlichkeit mehr bestehen soll236. Mit dem Hamburger Abgeordnetengesetz wurde dies nach langen Beratungen nachvollzogen 237 • Auch bei den gelegentlich als Gegenbild genannten Parlamenten der US-Bundesstaaten bestehen erhebliche Probleme der Vereinbarkeit VOn Mandat und Beruf, die dazu führen, daß der Anteil der Rechtsanwälte, Rentner und Vollzeitparlamentarier steig 38 • Die Untersuchungen über die Arbeitszeit der Abgeordneten stimmen nicht nur in der Feststellung einer hohen Arbeitsbelastung überein, sondern auch darin, daß eine präzise Bestimmung der Arbeitszeit und eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bei den Abgeordneten kaum möglich ist. Dies liegt im besonderen Tätigkeitsprofil der Abgeordneten begründet, die gerade ihre kommunikative Tätigkeit nicht einfach zu einem festen Feierabend beenden können.
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Für die Landtage ist bestritten worden, daß es notwendig und sinnvoll sei, die Möglichkeit der alleinigen Mandatsausübung durch entsprechende Besoldung und soziale Sicherung zu eröffnen. Manfred Friedrich führte hierzu 1977 aus, die Landesgesetzgebung habe gegenüber der Bundesgesetzgebung derart an Umfang und Einflußmöglichkeit verloren, daß sie geradezu brachgelegt seim. Diese Tendenz ist heute noch im Zusammenhang mit dem Zugewinn von Kompetenzen durch die EU verschärft worden 24 °.Von Arnim spitzt dies zu der These zu, die Bundesländer hätten vornehmlich exekutivische Aufgaben 241 • Weiter stellt er einen Defekt bei der Kontrolle der Landesregierungen fest, da diese weder bei der Ausführung der Bundesgesetze noch beim Verhalten im Bundesrat
Patzeltl Schirmer, S. 20 (22 f.). Beziffert mit bis zu 49 Wochenstunden. m Vgl. Herbert Schneider, Zum Abgeordnetenbild in den Landtagen, APuZ 5/1990, S. 3 (8 f.); Wischermann, S. 321. A.M: Detlef Gottschalck, Die Hamburgische Bürgerschaft (1993), S. 168. Als besonders problematisch wurde die Belastung von vielen weiblichen Abgeordneten empfunden, vgl. z.B . Ute Pape in Grolle! Bake, S. 185. 236 Hoffmann-Riem, S. 27,173 ff.; 237 Hamburgisches Abgeordnetengesetz vom 21.6.1996 (GVoBI. S. 141). 238 Gretz, S. 99. 239 Manfred Friedrich, Der Landtag als Berufsparlament? (1977) S. 26 ff. 240 H. Meyer, KritV 1996, S.145 (150). 241 Von Arnim, ZRP 1995, S. 340 (351). 233
234
172 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen 242 • Heute wird hier als zusätzliches Argument die geringe freie Finanzmasse der Bundesländer angeführt243 • Es ist zu fragen, ob dem Problem schwacher Landtage beizukommen ist, indem ihnen als Teilzeit- oder Nebenamtsparlamente Arbeitskapazitäten entzogen werden oder ob auf diese Weise die auch durch mangelnde Information, Qualifikation und Arbeitskapazität bedingte Schwächung244 festgeschrieben wird. Bereits unter den stadtstaatlichen Bedingungen Hamburgs wurde klar, daß das nur nebenamtliche Abgeordnetenmandat Kontrolldefizite und erhebliche Chancenungleichheit unter den Abgeordneten begünstigte245 • Zumindest bei von Amim scheint die Schwächung der Landesparlamente auch politisch gewollt zu sein 246 • Er strebt auch eine Direktwahl der Ministerpräsidenten an 247 , Hier handelt es sich also weniger um Vorschläge zur effektiven Umsetzung der geltenden Landesverfassungen und der Stellung von Abgeordneten und Parlamenten in ihnen als um das Plädoyer für eine Veränderung der Landesverfassungen weg vom parlamentarischen System. Dagegen entwickelte Hermann Eicher248 Reformvorschläge, die eher eine erhöhte Arbeitsbelastung der Landtagsabgeordneten mit sich ziehen würden. Dies sind gesteigerte Beteiligungsrechte an Staatsverträgen, Verwaltungsabkommen, Gemeinschaftsaufgaben, Fachministerkonferenzen und Bundesratsangelegenheiten 249 sowie eine Revision des Gesetzgebungskatalogs des Gd 50 : Ein weiterer Vorschlag von Rupert Scholz ist die Beteiligung der Landtage an staatsleitenden Entscheidungen z.B. bei Großprojekten 251 , Hans-Peter Schneider fordert zu242 Friedrich, S. 30 ff. Aktuell: Heiderose Kilper/ Roland Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland (1996), S. 198 ff. 243 Deu., SZ, 26.4.1996. 244 Klatt, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1989, S. 119 (123). 245 Ho//mann-Riem, S. 177 f. 246 Vgl. die Rezension von Jörn Ipsen, DVBl. 1994, S. 654 f.: Er bescheinigt von Arnim "anti parlamentarische Stoßrichtung" in einer "populistisch gefärbten Streitschrift"; ebenfalls skeptisch gegen die Direktwahl der Ministerpräsidenten Ernst Benda, Rezension, ZRP 1994, S. 366 f. Vgl. auch die Rezension von Wol/gang Renzsch, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander, Das Parlament, 16.12.1994 und die Reaktionen auf von Amims Pressekonferenz vom 30.5.1996, so Helmut Lolhöffel, FR, 31.5.1996: "Wer die Parlamente in Frage stellt, das Parteiensystem als verrottet darstellt und den Föderalismus abschaffen will, liefert jenen, die gewählte Politiker verachten und mit dieser Republik nichts mehr am Hut haben, billige Argumente." 247 Von Arnim, Staat ohne Diener (1993), S. 157. 248 • Hermann EIcher, Der Machtverlust der Landesparlamente (1988). 249 Eicher, S. 113 ff. 250 Eicher, S. 129 ff. 251 Rupert Scholz, Gesetzgebung und Politikgestaltung aus der Mitte der Landesparlamente, ZG 1991, S. 26 (35 f.).
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sätzlich zu den genannten Maßnahmen gesteigerte Infonnationsrechte und die öffentliche Erörterung umstrittener Vorhaben mit regionalem und lokalem Bezug252 • Eine Veränderung der Finanzverfassung mit dem Abbau von Mischfinanzierungen, einem eigenen Hebesatzrecht und der Verknüpfung von Gesetzgebungs- und Ausführungskompetenzen könnte das Etat- und Entscheidungsrecht der Landtage wesentlich stärken253. Friedrich und von Arnim billigen oder akzeptieren die von ihnen konstatierte geringe Bedeutung der Landesparlamente und meinen, bei einer verbesserten internen Arbeitsorganisation könne das Mandat nicht nur problemlos, sondern auch zweckmäßiger neben einer fortgesetzten Berufstätigkeit ausgeübt werden 254. Weiterhin sehen sie in der Entwicklung der Landtagsabgeordneten zu Berufspolitikerinnen und -politikern eine Gefahr für die innerparteiliche Demokratie und Innovationsfähigkeit, da diese als Amtsinhabende über Zeit und finanzielle Ressourcen verfügen, um den innerparteilichen Diskussionsprozeß zu dominieren und ihre mehrmalige Wiederaufstellung abzusichern255 • Von Amim führt aus, es solle nicht eine Verpflichtung der Abgeordneten zur Erwerbstätigkeit festgeschrieben, sondern diese als" typische Zuordnung ,,256 verstanden werden. Diese könne dann aber für Entschädigung und soziale Sicherung der Abgeordneten keine großen Folgen haben könne, da es auch im "Teilzeitparlament" Abgeordnete geben werde, die - jedenfalls unter Geltung des Diäten-Urteils von 1975 - allein von der Entschädigung leben müssen 257 • Im weiteren plädiert von Amim aber dafür, Anreize dafür zu schaffen, daß Abgeordnete sich neben dem Mandat beruflich betätigen und nicht ihre politischen Aktivitäten in Partei und Gesellschaft ausweiteten 258 • Er begründet dies mit der dadurch erreichbaren größeren Offenheit und Durchlässigkeit im Rekrutierungsverfahren 259 und damit, daß die Bezahlung eines Parlamentariers, der Zeit für Partei arbeit aufwenden könne, verdeckte Parteienfinanzierung sei 260 • Die Kritiker der "Full-time "-Landtage gehen also nicht von der empirisch feststellbaren Tätigkeit der Mehrzahl der heutigen Landtagsabgeordneten aus, sondern machen geltend, deren Tätigkeit H.-P. Schneider, HdbVertR (1994), § I3 RN 56. Klaus-Dirk Henke, Möglichkeiten zur Stärkung der Länderautonomie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, S. 643; KlaU, S. I 19 (132). 254 Friedrich, S. 37. Ähnlich Fischer, S. 27. 255 Friedrich, S. 65 f.; ebenso von Arnim, Die Partei, S. 150 ff; ders., ZRP 1995, S.340, 348. Hans Meyer, Das fehlfinanzierte Parlament, KritV 1995, S.217, 247. Fischer, S. 45. 256 Von Arnim, Die Partei, S. 15l. 257 Von Arnim, Die Partei, S. 152. 258 Von Arnim, Die Partei, S. 153 f. 259 Von Arnim, Die Partei, S. 154. 260 Von Arnim, Die Partei, S. 158 f. 252 253
174 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
sei zum Teil nicht diejenige, für die die Entschädigung gedacht sei 261 • Der Besuch von Veranstaltungen, Bürgersprechstunden, Informationsgespräche, Medienarbeit, Partei- und Verbandsarbeit gehörten nur im weitesten Sinne zur Abgeordnetentätigkeit und dürften bei der Bemessung der Entschädigung nicht berücksichtigt werden 262. Nach dem oben gesagten zur Kommunikationsfunktion der Parlamente erscheint die Ausgliederung der kommunikativen Aktivitäten aus der legitimen Tätigkeit der Abgeordneten nicht gerechtfertigt und möglich. Demokratische Repräsentation ist ohne sie nicht realisierbar. Die hamburgische Kommission konstatiert einen Funktionswandel der Landesparlamente mit einer Verschiebung von den Gesetzgebungs- zu den Öffentlichkeitsfunktionen263 • Herbert Schneider analysiert, daß die Landtage vor allem durch die Ausübung der Kontroll- und Artikulationsfunktionen den Bundestag aufgrund ihrer größeren Bevölkerungsnähe entlasten und zur Lebensfähigkeit des föderativen Systems in der Bundesrepublik beitragen können 264 • Die These vom zwangsläufigen Funktions- und Machtverlust hält nicht nur normativ, sondern auch empirisch einer Nachprüfung nicht stand265 • Die Kommunikation mit der Gesellschaft ist in den Ländern nicht minder notwendig als im Bund. Auch die Landtage verhandeln Materien, die in der Bevölkerung und zwischen den Parteien strittig waren und sind wie die Schul- und Kulturpolitik. Dazu kommt, daß auch Materien, die lange unumstritten waren, der demokratischen Anfechtung offen sein müssen. Die Raumordnung und Landesplanung unter z.B. ökologischen Aspekten kann hier als Beispiel angeführt werden 266 • Die diskutierten Veränderungen der Finanzverfassung und die Reform des kooperativen Föderalismus sind nur mit Landtagen zu haben, die auch eine entsprechende Arbeitskapazität aufbringen können. Unter diesen Bedingungen ist die vollzeitige Wahrnehmung des Landtagsmandats als ein mögliches und teilweise notwendiges Konzept zur gewissenhaften Erfüllung der Funktionen des Mandats anzusehen 267 • Vor allem aber ist es nicht möglich, Abgeordnete ohne Ansehen ihres Berufs und ihrer Möglichkeiten der anderweitigen Einkommenserzielung auf eine Berufstätigkeit zu verwei261 262 263
Fischer, S. 43 ff. Fischer, S. 44 f. Hoffmann-Riem, S. 23 f.; Vgl. beim Selbstverständnis der Abgeordneten Pat-
zelt, Beruf, S. 25. f. 264 Herbert Schneider, APuZ 5/1990, S. 3 (12). 265 Klatt, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1989, S. 119 (149 f.). 266 Scholz, ZG 1991, S. 34. 267 Lianne Paulina-Mürl, Abgeordnete sind keine Arbeitnehmer, ZParl 1989, 450 (452).
VI. Entschädigungsanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG)
175
sen 268 , da die Realbedingungen hierfür zu ungleich sind. Dies gilt erst recht unter den Bedingungen andauernder Massenarbeitslosigkeit: Wenn von Landtagsabgeordneten gleichzeitige Berufstätigkeit verlangt würde, könnte noch lange nicht davon ausgegangen werden, daß sie auch Arbeit haben oder finden. Gegen das Argument Friedrichs von der relativen Bedeutungslosigkeit der Landesparlamente kann auch empirisch vorgebracht werden, daß diese seit Mitte der achtziger Jahre fast durchgehend eine gesteigerte Gesetzgebungstätigkeit entfaltet haben. Dies lag zum einen daran, daß neue Felder der gesetzgeberischen Tätigkeit erschlossen wurden, es in vielen Ländern zu Regierungswechseln kam und im Zuge der politischen Konstellation unterschiedlicher Parteimehrheiten in Bundestag und Bundesrat Regelungen so ausgestaltet wurden, daß den Ländern wieder ein stärkerer Spielraum zur Ausfüllung von Bundesgesetzen gelassen wurde. Weiterhin wurde bei der 1994 erfolgten Grundgesetznovellierung die Gesetzgebungskompetenz der Landtage wieder gestärke 69 • In den Ländern haben mehrere Landtage ihre Rechte zur Kontrolle der Regierung gestärkt oder sind dabei, entsprechende Reformen zu diskutieren und zu verankern 270 • Damit ist auch das Argument Friedrichs vom Kontrolldefizit relativiert, zumal der Weg der Beseitigung des Defizits plausibler erscheint als der seiner normativen Festschreibung. Der Föderalismus in Politik, Verwaltung und Gesetzgebung erfreut sich in der politischen, politologischen und juristischen Diskussion wieder stärkerer Aufmerksamkeit271 • Die staatliche Qualität der Bundesländer ist nicht minderen Ranges als die des Bundes, sie ist nach der Auf~abenverteilung des Grundgesetzes anders und mit anderen Aufgaben verbunden 72. Die Länder bedürfen als selbständige politische Zentren der eigenständigen Volksvertretung, die substantielle EntscheiA.M.: Trute in von Münclll Kunig, GG, RN 23 zu Art. 48. Neufassung von Art. 72 Abs. 2, 75 Abs. 2, 80 Abs.4 und 93 Abs. I Nr. 2a GG durch G. vom 27.10.1994 (BGB!. I S. 3146). Vg!. dazu Uwe Berlit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 1996, S. 18 (36 ff., 44 f., 81 f.). Arndt Schmehl, Die erneuerte Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG; DÖV 1996, S. 724. 270 Vg!. Schlußbericht Schleswig-Holstein, S. ~6 ff; Christoph Gusy/ Andreas Müller, Verfassungsreform in Rheinland-Pfalz, DOV 1995, S.257 (263 f.); Hoffmann-Riem, "Thesen 50-63; Peter Unruh, Zum Stand der Verfassungsreform in Hamburg, DOV 1995, S. 265 (270 f.). 271 Vg!. die Beiträge von Eicher und Scholz. Weiterhin: Manfred Zeller, Föderalismus ohne Föderalisten in: Guggenberger/ Meier (Hrsg.): Der Souverän auf der Nebenbühne (1994), S. 147 ff.; Kilper/ Lhotta. 272 Dabei ist die Frage der eigenständigen Staatsqualität der Länder nicht entscheidend, da sie die Aufgaben innerhalb des föderalen Systems nicht determiniert; vg!. zuletzt Dietmar Keller, Die Staatsqualität der Bundesländer, Recht und Politik 1995, S. 165 ff.; andererseits losef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, HStR IV (1990), RN 64 ff. 268 269
176 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder dungskompetenzen in das System demokratischer und föderativer Gewaltenteilung einbringen muß 27J • Ebenso ist aufgrund des Homogenitätsgebotes und der zahlreichen Normen der Landesverfassungen kein geringerer Anspruch an die demokratische Legitimität und Qualität der Parlaments- und Staatstätigkeit in den Ländern zu stellen. Insofern geht auch die Behauptung fehl, wegen der geringeren Verantwortung und Belastung der Landtagsabgeordneten sei zwingend ein "Achtungsabstand" der Entschädigungen zu denen der Bundestagsabgeordneten geboten 274 • Ein solches Denken in hierarchischen Kategorien läßt sich aus den Verfassungsvorgaben zur Abgeordnetenentschädigung nicht begründen, wenn es auch erlaubt ist, sich politisch so auszurichten. Die Landtage sind im arbeitsteiligen Staatsaufbau der Bundesrepublik275 von zentraler Bedeutung für die Verwirklichung des Demokratieprinzips in den Ländern mit einer aus Wahlen abgeleiteten Legitimation, einer Öffentlichkeits-, Artikulations- und Kontrollfunktion 276. Ihre funktionsfähige Existenz unterliegt der Gewährleistung der demokratischen bundesstaatlichen Ordnung nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG 277 • Im Ergebnis ist festzuhalten, daß auch für die Landtagsabgeordneten gilt: Eine Berufs- und Erwerbstätigkeit neben dem gleichzeitigen Mandat darf nicht vorausgesetzt oder verlangt werden. Der Entschädigungsanspruch und daraus abgeleitete soziale Sicherung sind darauf auszurichten.
Isensee, HStR IV, RN 269, 264 ff. So Fischer, S. 47. 275 Isensee, HStR IV, RN 81 ff: "duplex regimen". 276 Eicher, S. 64 ff; Scholz, ZG 1991, S. 26 (29). Paulina-Mürl, ZParl 1989, 450 (452). Vgl. Kilper/ Lhotta, S. 198 ff. Klatt, Jahrbuch 1989, S. 119 (136 ff., 148 f.). 271 Eicher, S. 74 f. Vgl. Wol/gang Löwer in von Münch! Kunig, GG. RN 21 zu Art. 28. 273
274
VII. Gebot der Geschlechtergleichstellung Weiterhin ist die Einwirkung des Geschlechtergleichstellungsgebotes auf die soziale Sicherung der Abgeordneten zu untersuchen. Art. 3 Abs. 2 GG als Gebot der Geschlechtergleichstellung ist eine Norm, an der das positive Recht und die Rechtswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu messen sind. Es ist daher möglich, daß seine Anwendung zu Ergebnissen führt, die für die soziale Sicherung weiblicher wie männlicher Abgeordneter von Bedeutung sind. Die Norm ist entstanden aus dem Emanzipationskampf der Frauen im politischen und sozialen Bereich und vor dem Hintergrund dieser historischen Motive auszulegen l • Das 1994 eingefügte Förderungsgebot des zweiten Satzes2 schreibt die in der Rechtsprechung des BundesverfassungsgerichtsJ - auch in Anknüpfung an den Europäischen Gerichtshof - entwickelte Linie fest', daß aus dem Gebot der Geschlechtergleichstellung nicht nur die Herstellung formaler Rechtsgleichheit, sondern auch ein objektiv-rechtliches Gleichstellungspostulae abzuleiten ist. Dabei wird es nach seinem Normzweck zum kollektiven Teilhaberecht, das sich auf die Geschlechter als soziale Gruppen bezieht6 und zum Auftrag zur Veränderung der sozialen Wirklichkeit mit rechtlichen Mitteln 7 • Das Gebot der Geschlechtergleichstellung ist heute ein universeller Rechtssatz, der neben Art. 3 Abs. 2 GG eine ebenfalls unmittelbar geltende Ausprägung für den Bereich des Erwerbslebens und der sozialen Sicherung im Lohngleichheitsgebot des Europäischen Gemeinschaftsvertrags8 gefunden hat. Seine politische und BAGE I, S. 52 (53); Pfarr/ Fuchsloch, Quoten, S. 36 ff.; Vera Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis (1989), S. 78; H.P. Schneider, Mitwirkungsgremien, S. 26 f.; Sacksofsky, S. 324 ff. 2 Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, eingefügt durch G. vom 27.10.1994 (BGBI. I, S. 3146). J BVerfG vom 16.11.1993 - I BvR 258/86 - BVerfGE 89, S. 276 (285); BVerfG vom 28.1.1992 - I BvR 1025/82 u.a., BVerfGE 85, S.191 (207) = NZA 1992, S.270. , Heide M. Pfarr/ Knut Haack, Frauenförderung in den Hochschulen Schleswig-Holsteins (1996), S. 15; BerUt, JöR 1996, S. 17 (58). 5 Heide M. Pfarr/ Klaus Bertelsmann, Diskriminierung im Erwerbsleben (1989), S. 97 f.; Sybille Raasch, Frauenquoten und Männerrechte (1991), S. 237 f. 6 Sybille RaaschI Bettina Sokol, Emanzipation nach vierzig Jahren Grundgesetz, DuR-Sonderheft 1989, S.56 (600; H.-P. Schneider, Mitwirkungsgremien, S. 24 ff., 37. 7 Sacksofsky, S. 399. 8 Art. 119 EWGV. 12 Wclli
178 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
seine soziale Durchsetzung stehen in einem ständigen Wechselverhältnis, da eine für die Rechte der Frauen angemessene sozialpolitische Rechtssetzung auf die Präsenz von Frauen in den gesetzgebenden Körperschaften und im politischen Diskurs angewiesen ist". Damit wirkt das Gebot der Geschlechtergleichstellung sowohl auf die politischen wie auf die sozialen Aspekte der sozialen Sicherung der Abgeordneten ein. Der deutliche Unterschied im Maß der Vertretung von Frauen und Männern in den Parlamenten lO läßt es naheliegend erscheinen, die Verwirklichung des Gleichstellungsgebots kritisch zu untersuchen. 1. Gleichstellungsgebot und demokratische Repräsentation
Das Wahlgleichheitsgebot wird als Ausprägung der staatsbürgerlichen Gleichheit und des Demokratiegebotes durch Art. 3 Abs. 2 GG mitgeprägt . Nichts anderes gilt für den Bereich der Gleichheit der Mandatsausübung, zu dem die Verbürgungen des Wahlvorbereitungsurlaubs, des Behinderungs-, Kündigungs- und Entlassungsverbots und des Entschädigungsgebots gehören. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bei der Ausgestaltung der Regelungen der Mandatsausübung - und dazu gehört die soziale Sicherung der Abgeordneten - das Gebot der Geschlechtergleichstellung zu beachten. Er ist durch das Staatsziel zu Förder- und Ausgleichsrnaßnahmen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen verpflichtet. Dabei darf er nicht nur gleiche Ausgangsbedingungen als Ziel nehmen, sondern muß den gesamten Prozeß in den Blick nehmen mit dem Ziel einer Parität im Ergebnis l2 • Demokratische Repräsentation bedarf der Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen und den parlamentarischen Diskurs, der hierdurch - gerade aufgrund fortbestehender sozialer Ungleichheit der Geschlechter - verändert wird und lJ • Die soziale Gruppe der Frauen ist durch Art. 3 Abs. 2 GG aus der Vielzahl der gesellschaftlichen Gruppen herausgehoben, ihre Gleichstellung und deren Durchsetzung ist dem Gesetzgeber besonders aufgegeben l4 • Fraglich ist, ob • Habermas, Einbeziehung, S. 303 ff.; Sacksofsky, S. 417. 10 Vgl. B.1.4.b.bb. II Kathrin Eulers, Frauen im Wahlrecht (1991) S. 49f. 12 Uwe BerUt, Keine Verfassungsreform für Arbeitnehmer, ArbuR 1995, S.19 (20). Vgl. bereits Pfarr/ Bertelsmann, S. 459 f. 13 Vgl. empirisch Eva Brinkmann to Broxen, Frauenpolitik im Hessischen Landtag (1970-1995), STREIT 1996, S. 15 (19); weiter Hildegard Hamm-Brücher. Seit 70 Jahren Abschied vom Männerwahlrecht in Barbara Schaeffer-Hegel (Hrsg.), Vater Staat und seine Frauen (1990), S. 33 ff.; Gisela Böhrk, Frauen eine Chance für die Politik, ebd. S. 79 ff.; Anke Martiny, Männliche und weibliche Politik - Thesen zum Unterschied, ebd., S. 91 ff. 14 Eulers, S. 94 ff.
VII. Gebot der Geschlechtergleichstellung
179
dieser Grund dazu berechtigt, den strengen Gleichheitssatz zu durchbrechen und Frauen zu bevorzugen. Diskutiert wird dies im Zusammenhang mit den Frauenquoten bei der Aufstellung von Wahlbewerberinnen und -bewerbern, wie sie bei der SPD und bei Bündnis 90/ Die Grünen praktiziert werden ls . In Quotenregelungen wird teilweise eine zulässige Modifikation der Wahlrechtsgrundsätze aufgrund des Gleichstellungsgebots gesehen. Auch die Einführung von Doppelwahlkreisen mit Frauen- und Männerkandidaturen wird von Freytag als zulässiger Eingriff in die Wahlrechts grundsätze bewertee 6 • Der strenge Gleichheitssatz und das Gleichstellungsgebot der Geschlechter stehen nicht unvermittelt nebeneinander. Vielmehr ist - wie anderswo auch - für eine Durchbrechung des strengen Gleichheitssatzes der Beleg zu liefern, daß rechtliche Gleichheit soziale Ungleichheit verstärkt, indem die ungleichen Ausgangsbedingungen reproduziert werden. Der individualschützende strenge Gleichheitssatz der Abgeordneten steht zum auch kollektiv ausgerichteten Gleichstellungsgebot so, wie die individuellen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG sich zum Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG verhaIten l7 • So durchbricht das Gleichstellungsgebot den formalen Gleichheitssatz auch für gruppenbezogene Maßnahmen, soweit diese belegbar zur Verwirklichung der Gleichstellung erforderlich sind l8 • Der strenge Gleichheitssatz findet daher Anwendung in einer Form, bei der zu prüfen ist, ob eine strikte Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu einer faktischen Schlechterstellung von Frauen führt, die deren schwächere Vertretung in den Parlamenten fortschreibt und mitverursacht. Ist dies der Fall, ist die Regelung so auszugestalten, daß der benachteiligende Effekt für die Frauen entfällt oder gemindert wird.
2. Gleichstellungsgebot und soziale Sicherung In der sozialwissenschaftIichen Forschung ist die rechtliche Ausgestaltung der Familien- und Arbeitsbeziehungen sowie der sozialen Sicherung als eine wesentliche Ursache bestehender Ungleichheiten und Diskriminierungen im Ge-
IS
•.
Vgl. § 4 der Wahlordnung der SPD vom 1.1.1972, zuletzt geandert durch Beschluß des Parteitages von Wiesbaden am 19.11.1993. Vom Europäischen Parlament wurde mit Entschließung vom 16.9.1988 Nr. C 262/188, Ziff. 12 ein solches Quotensystem für alle Parteien der Gemeinschaft einzuführen, abgedruckt in Europarat (Hrsg.), Das demokratische Prinzip gleicher Repräsentativität (1989), S. 93 ff. 16 Freytag, S.I44 ff. A.M. z. B. Bernd von Nieding, Politische Wahlen und Frauenquote, NVwZ 1994, S. 1171. 17 Zu deren Verhältnis Sacksofsky, S. 372 ff.; Pfarr/ Haack, S.14. 18 H.-P. Schneider, Mitwirkungsgremien, S. 72 f., läßt diese Frage für die Parlamente offen, bejaht aber die Zulässigkeit der Durchbrechung strenger Wahlgleichheit für die von ihm untersuchten Mitwirkungsgremien. 12*
180 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
schlechterverhältnis erkannt worden l9 , deren Auswirkungen auch im politischen Raum deutlich werden 20 • Die Staatszielbestimmung nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG erlegt dem Gesetzgeber den Abbau der durch Recht (mit-)verursachten Gleichstellungshindernisse auf 1 • Damit stellt sich die Frage, ob auch in der sozialen Sicherung der Abgeordneten das Gleichstellungsgebot strukturelle Folgen fiir ihre Ausgestaltung hat. Im gesamten Bereich der sozialen Sicherung ist das Gebot der Geschlechtergleichstellung auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 GG sowie des spezielleren Lohngleichheitsgebotes aus Art. 119 EWGV Gegenstand rechtlicher und rechtspolitischer Konflikte gewesen, in deren Verlauf nicht nur das Gebot gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit, sondern auch gleicher von Erwerbsarbeit abgeleiteter sozialer Sicherung und schließlich auch das Verbot der mittelbaren Diskriminierung entwickelt worden sind22 • Das Verbot mittelbarer Diskriminierung bedeutet, daß eine Regelung, die an ein Merkmal anknüpft, z.B. die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder die Teilzeitbeschäftigung, bei dem Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage faktisch häufiger vertreten sind, verboten ist, wenn durch sie Frauen tatsächlich benachteiligt werden 23 • Fraglich ist, ob Art. 119 EWGV und die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätze des Verbots der mittelbaren Diskriminierung auch auf Abgeordnete anzuwenden sind. Der Europäische Gemeinschaftsvertrag ist unmittelbar geltendes Recht. Fraglich ist aber, ob das Lohngleichheitsgebot sachliche Anwendung findet. In Art. 119 EWGV ist für den Anwendungsbereich vorausgesetzt, daß Entgelt im Rahmen eines Dienstverhältnisses an einen Arbeitnehmer gezahlt wird. Abgeordnete sind nach deutschem Recht keine Arbeitnehmer. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein entscheidendes Indiz für die Einstufung als Arbeitnehmer die Weisungsgebundenheit. Genau das Fehlen einer Weisungsgebundenheit ist aber ein Merkmal der Abge19 Vgl. Ursula Beer, Geschlecht, Struktur, Geschichte (1990), insbes. S. 280 ff.; Barbara Schaejfer-Hegel/ Andrea Leist, Sozialer Wandel und Geschlecht: Für eine Neubestimmung des Privaten, APuZ Nr. 42/1996, S. 31 (35 ff.). 20 Freytag, S. 144. 21 Dies wird auch von denjenigen anerkannt, die den Charakter von Art. 3 Abs.2 S. 1 GG als objektivrechtlichem Satz bestreiten, z.B. Christian Starck, Entscheidungsanmerkung, JZ 1996, S. 197 (199). 22 Vgl. z.B. Pfarr! Bertelsmann, S. 112 ff.; Sibylle Raaseh, Perspektiven für die Gleichberechtigung der Frau im EG-Binnenmarkt 1992, KJ 1990, S. 62 ff; Georgios Kyriazis, Die Sozialpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in bezug auf die Gleichberechtigung männlicher und weiblicher Erwerbstätiger (1990), S. 28; lrmgard Listl-Knopik, Aspekte zur Gleichbehandlung von Mann und Frau als Teil europäischer Sozialpolitik, ZRP 1992, S. 181 (183). 23 Art. 2 Abs. 1 RL 76/207 EWG; EuGH Rs 96/80 (Jenkins), NJW 1981, S.2639; EuP in BT-Drucks. 11/2098; BVerfG NZA 1993, S.213; BVerfG vom 7.7.1992 1 BvL 51/86 u.a., NJW 1992, S. 2213 (2215); Slupik, S. 101.
VII. Gebot der Geschlechtergleichstellung
181
ordneten. Gegen die von den Arbeitsgerichten entwickelte Definition des Arbeitnehmers und das zentrale Merkmal der Weisungsabhängigkeit für die Arbeitnehmereigenschaft wendet sich Rolf Wank. Er fordert eine Ausrichtung des Arbeitnehmerbegriffs am Nonnzweck des Arbeitsrechts durch Abgrenzung vom Selbständigen, der durch Chancen und Risiko der Gewinnerzielung von der Gruppe der wirtschaftlich abhängigen Arbeitnehmer unterschieden sind. Die Abgeordneten sind bezüglich ihrer parlamentarischen Tätigkeit allein von dem dafür erzielten Entgelt abhängig. Wie oben bereits für den sozialrechtlichen Beschäftigtenbegriff ausgeführt, ist auch eine Anwendung von arbeitsrechtlichen Nonnen, die nicht mit dem speziellen verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten kollidieren, möglich und geboten 24. Darüber hinaus ist zu fragen, ob Art. 119 EWGV in seinem Anwendungsbereich überhaupt auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne der deutschen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung begrenzt sein soll. Das Lohngleichheitsgebot ist vielmehr auch auf Beamte anzuwenden. Im Bereich der sozialen Sicherung erstrecken sich die zur Ausfüllung des Lohngleichheitsgebotes ergangenen Richtlinien sogar auf Sicherungssysteme für Selbständige, dort heißt es "Diese Richtlinie findet Anwendung auf die Erwerbsbevälkerung - einschließlich der selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden - sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen. ,,25 Gehören die Abgeordneten zur Erwerbsbevölkerung? Sie gehen, wie oben gezeigt, einer bezahlten Tätigkeit nach, aus der sie ihren Lebensunterhalt decken. Es spricht nichts dafür, die Abgeordneten von dem sehr weiten Begriff der "Erwerbsbevälkerung" auszunehmen. Der Anwendungsbereich der genannten Rich!1inie ist auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen die Risiken der Krankheit, der Invalidität, des Alters, von Arbeitsunfall und Berufskrankheit und der Arbeitslosigkeit bieten, begrenze 6 • Ausgenommen sind die Hinterbliebenenversorgung und Familienleistungen27. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß Anfang 1996 ein Arbeitsgericht in Leeds entschied, daß die Reservierung von Unterhauswahlkreisen für Frauen durch die Labour Party gegen den Sex Discrimination Act verstoße, ein im Zusammenhang mit Art. I 19 EWGV 1975 erlassenes Gesetz gegen DiskriDazu B.VI.3.a. Art. 2 Richtlinie 79/7 EWG zur schrittweisen Verwirklichling des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit vom 19.12.1978 (ABI. Nr. L 6/24). 26 Art. 3 RL 79/7 EWG. 27 Art. 3 Abs. 2 RL 79/7 EWG. 24
25
182 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder minierung am Arbeitsplatz28 • Das Gebot der Geschlechtergleichstellung findet also auf die soziale Sicherung der Abgeordneten auch An.wendung als Ausformung des Europäischen Lohngleichheitsgebotes. Das Verbot der mittelbaren Frauendiskriminierung findet im übrigen nicht nur aufgrund Art. 119 EWGV Anwendung, sondern ist eine Methode der Anwendung und Durchsetzung des Gleichstellungsgebots als allgemeinem Rechtsgrundsatz. Sie ist auch vom Bundesverfassungsgericht in wichtigen Grundzügen als Maßstab von Art. 3 Abs. 2 GG angewandt worden. Auch wer also die Abgeordneten nicht zur Erwerbsbevölkerung im Sinne des Lohngleichheitsgebots zählt, kommt zu keinem anderen Ergebnis. Die Regelungen zur sozialen Sicherung der Abgeordneten sind daher nicht nur mit der Zielrichtung einer verbesserten, möglichst gleichen Repräsentanz von Frauen in den Parlamenten am Gleichstellungsgebot und Verbot der mittelbaren Diskriminierung zu messen, sondern auch im Rahmen der allgemeinen, für die gesamte Erwerbsbevölkerung geltenden Regelungen zur Lohngleichheit, die verhindern sollen, daß rollen- und traditions bestimmte sowie erwerbsbiographische Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern sich verfestigen.
28 Kr.: "Abfuhr für Frauenpolitik der Labour Party", Süddeutsche Zeitung, 10.1.1996.
VID. Besondere Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 GG Art. 3 Abs. 3 GG enthält spezielle Diskriminierungsverbote wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, religiösen und politischen Anschauungen sowie wegen einer Behinderungi. Sie gelten auch für Abgeordnete und die Ausgestaltung der Normen über ihre soziale Sicherung. Das Verbot der Diskriminierung wegen der politischen Anschauung erfaßt auch deren Äußerung als politische Betätigung. Diese liegt einer Wahlbewerbung oftmals bevor. Eine Wahlbewerbung und Mandatsausübung setzen eine politische Anschauung geradezu voraus, so daß Art. 48 Abs. 2 GG und Art. 3 Abs. 3 GG einen sich überschneidenden Anwendungsbereich haben 2 • Die Regelungen der sozialen Sicherung der Abgeordneten sind im übrigen daraufhin zu betrachten, ob sie wegen eines der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale diskriminierende Wirkungen im Hinblick auf Mandatsbewerbung, übernahme und -ausübung entfalten könnten. Dies ist insbesondere für Menschen mit Behinderungen relevant, die auf Unterstützung durch Maßnahmen der sozialen Sicherung regelmäßig besonders oder in anderer Weise angewiesen sind als Menschen ohne oder mit wenigen Behinderungen. Art. 3 Abs. 3 GG enthält strikte Diskriminierungsverbote, an deren Einhaltung strenge Maßstäbe angelegt werden können. Sie wirken als Differenzierungsverbote in der ohnehin nach dem strengen Gleichheitssatz differenzierungsfeindlich auszugestaltenden sozialen Sicherung der Abgeordneten. Sie können zugleich erfordern, eine sich diskriminierend auswirkende Gleichbehandlung nicht vorzunehmen, so zum Beispiel wenn von einem Rollstuhlfahrer stets die - für alle gleiche - Treppenbenutzung verlangt würde. Das Benachteiligungsverbot des zweiten Satzes ist so ausgestaltet, daß Bevorzugungen zur Förderung der gesellschaftlichen Integration gerade nicht ausgeschlossen sind). Objektivrechtlich zeigt das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen den sozialstaatlichen Auftrag auf, eine gleichberechtigte Teilhabe in Gesellschaft und Staat zu erreichen 4 •
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG angefügt durch G. vorn 27.10.1994 (BGBI. I S. 3146). Vgl. Plüm, S. 223. Berlit, JöR 1996, S. 17 (60 f.). Berlit, ArbuR 1995, S. 19 (20 f.).
IX. Die Gesetzgebungskompetenz Zu untersuchen ist schließlich, wer für die Gesetzgebung zur sozialen Sicherung der Abgeordneten im Bundestag, im Europäischen Parlament und den Landtagen zuständig ist. Wer nach welchen Grundregeln über die soziale Sicherung der Abgeordneten entscheiden kann, ist angesichts von deren Bedeutung für die demokratische Repräsentation eine wichtige Frage. Im Grundgesetz ist hier zunächst Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG zu beachten, der eine Regelung der Entschädigung durch Bundesgesetz vorsieht. Weitere Normen fallen in das materielle Statusrecht der Abgeordneten, für das eine Gesetzgebungskompetenz der jeweiligen Parlamente als Annex zu Art. 38 Abs. 3 GG oder aus einer ungeschriebenen Kompetenz heraus angenommen wird. Mögliche Überschneidungen ergeben sich für die Gesetzgebungskompetenz des Arbeitsrechts, der Sozialversicherung und des Beamtenrechts, die im Grundgesetz jeweils als von Bund und Ländern konkurrierend wahrzunehmen geregelt sind) . Die Regelungen zur sozialen Sicherung der Abgeordneten finden sich überwiegend in den Abgeordnetengesetzen von Bund und Ländern. Eine Ausnahme hiervon bilden Sozialleistungen, die Abgeordnete erhalten, die aber nicht in den Abgeordnetengesetzen ihre Stütze finden. Hierzu gehören z.B. Kindergeldleistungen. Weiterhin ist zu beachten, daß die soziale Sicherung der Abgeordneten zu den Rechtsbereichen gehört, in denen das Bundesverfassungsgericht in Urteilsform weit in die Gesetzgebungskompetenz des Bundestags und der Landtage eingegriffen hat und Vorgaben gemacht hat, die zumindest partiell gesetzgeberische Funktionen ersetzen 2 • Neben der Frage der Gesetzgebungskompetenzverteilung ist an diesem Punkt auch grundsätzliche Kritik zu diskutieren, die an der Gesetzgebung "in eigener Sache" geäußert wird. Aus dieser Kritik folgen eine Reihe realisierter und vorgeschlagener Besonderheiten bei der Gesetzgebung zur sozialen Sicherung der Abgeordneten.
) Art. 74 Abs. I Nr. 12, Art. 74a GG. Kritisch dazu z.B. Claus Arndt, Parlamentarische Gesetzgebung und Bundesverfassungsgericht in Hans-Jochen Vogel/ Helmut Simon/ Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen, Festschrift für Martin Hirsch, S. 423 (428). 2
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
185
1. Kompetenz der Parlamente Wie kein anderer Bereich sowohl der Grundregeln der demokratischen Repräsentation wie der sozialen Sicherung wird die Gesetzgebungskompetenz für die Entschädigungsregelungen und die daran anknüpfenden Sozialleistungen der Abgeordneten prinzipiell kritisiert. Diese Kritik konzentriert sich auf die Geldleistungen, während sie für die arbeitsrechtlichen Regelungen zur Sicherung des Behinderungs- und Kündigungsverbots kaum, die Statusregelungen der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst zumindest gelegentlich geäußert wird. Für parlamentsrechtliche Regelungen, die keine Geldzahlungen betreffen, so für das Geschäftsordnungsrecht, wie für allgemeine Steuer- und Sozialgesetze, welche die Abgeordneten nur im Rahmen ihrer allgemeinen Gesetzesunterworfenheit betreffen, ist diese Kritik ebenfalls kaum zu hören. Kernpunkt ist die Entscheidung "in eigener Sache": Verschiedentlich wird vorgebracht, die Kompetenz der Parlamente zur Gesetzgebung auf dem Feld der sozialen Sicherung ihrer Mitglieder führe geradezu zwangsläufig zu Ergebnissen, die dem Gebot der Angemessenheit der Entschädigung und ihrer Annexleistungen entgegenlaufen müsse. Andererseits wird aber im Gegenteil behauptet, der Zwang zur Entscheidung in eigener Angelegenheit zwinge die Abgeordneten zu unangemessen niedrigen Sätzen, da sie öffentlicher Kritik aus dem Weg gehen wollten l . Anhand der Ergebnisse läßt sich die Frage der Gesetzgebungskompetenz nur schwerlich beantworten. Zu untersuchen ist, ob dem Gesetzgebungsauftrag des Grundgesetzes höherrangige Rechtsgrundsätze entgegenstehen und ob es überhaupt andere Möglichkeiten gibt. Die Entscheidung "in eigener Sache" könnte als Fall der Befangenheit angesehen werden 4 • Die Befangenheit ist eine Rechtsfigur des Prozeß- und Verfahrensrechts 5 und des Kommunalverfassungsrechts6 • Sie führt zum Ausschluß von in besonderem Maße selbstbetroffenen Mitgliedern eines Gerichts oder einer Vertretungskörperschaft, z.B. beim Beschluß eines Bebauungsplanes, wenn ein Gemeindevertreter Vorteile davon zu erwarten hat. Die Befangenheitsregelungen des Verwaltungs- und Kommunalrechts sind nicht ohne weiteres übertragbar, da sie den unmittelbaren Schutz erheblicher Interessen Dritter vor eigennützigen Entscheidungen im Einzelfall bei Gerichtsurteilen, Genehmigungsverfahren, Be-
Rausch, Idee und Wirklichkeit, S. 50. Z.B. bei Franz-Josej Peine, Der befangene Abgeordnete, 1Z 1985, S.914 (916); Michael Menz, Selbstbedienungsladen Bundestag, Forum Recht 1/1994, S. 15 (16). 5 "Nemo iudex in sua causa"; Vgl. § 54 Abs. I VwGO, § 41 ZPO, 20 Abs.l VwVfG; zum Zusammenhang Hans-Peter Schneider, Gesetzgeber in eigener Sache, 1fRR 1988, S. 327 (342). o Z.B. § 22 GO SH.
186 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder bauungsplänen usw. bezwecken 7 • Eine vergleichbare Situation kann im Parlamentsrecht im Bereich des Haushalts, der Zustimmungsentscheidungen zu Veräußerungen oder Subventionsvergaben entstehen8 • Dagegen sind auf soziale Gruppen bezogene Interessen gerade nicht in Befangenheitsregeln einbezogen 9 • Eine der Befangenheit vergleichbare Situation besteht auch deshalb nicht, weil das materielle Statusrecht der Abgeordneten nicht nur dem Angemessenheitsgebot, sondern auch dem strengen Gleichheitsgebot unterliegt und somit - anders als bei den Fällen der Befangenheit - ein Verstoß gegen die zu erfüllenden Normzwecke nicht zu besorgen ist. Die anführbare Drittbetroffenheit besteht wie bei letztlich allen Parlamentsgesetzen mit Kostenwirkung - in der Verwendung von Steuergeldern, so daß auch auf die allgemeinen Kontrollinstrumente der Öffentlichkeit und des Begründungszwangs verwiesen werden kann. Teilweise wird auch ohne Bezugnahme auf den Begriff der Befangenheit ein allgemeines Rechtsprinzip des Verbots der Entscheidung "in eigener Sache" gerade für den Entschädigungsbereich als einschlägig angesehen. Überwiegend wird ein solches Prinzip aber als nicht einschlägig für Parlamente betrachteeo. Die Regeln der gesetzgebenden Körperschaft sind anders: Mitwirkungsverbote wegen Befangenheit kann es wegen des universellen Charakters des Gesetzes im Gegensatz zum partikularen Charakter eines Gerichtsurteils, eines VerwaItungsakts oder einer Bauleitplanung gerade nicht geben, da tendenziell alle Abgeordneten mehr oder weniger selbst betroffen sein könnten und dies als Vertreter der gesetzes betroffenen Gesellschaft auch sein sollen 11. Mitwirkungsverbote wegen wirtschaftlicher Betroffenheit werden teilweise gefordert, unter Verweis auf das freie Mandat aber zu Recht abgelehne 2 • In Politik, Publizistik und Wissenschaft wird immer wieder vorgeschlagen, die Entscheidung über die Fragen der Abgeordnetenentschädigung und versorgung ganz oder teilweise "unabhängigen Sachverständigen" zu übertragen. Zur Begründung führt Wilhelm Henke an, das Rechtsstaatsgebot gebiete
7
Vgl. Christine Knebel-Pfuhl, Mitwirkungsverbot wegen Befangenheit für Parlamentarier? (1978), S.36 f. und 62, wonach die Entscheidungen über Diäten schon deswegen nicht zu den Fällen der Befangenheit gehören, weil eine Ersatzzuständigkeit nicht in Betracht kommt. 8 Knebel-Pfuhl, S. 42 ff. 9 Art. 84 S. 3 BremVerf; § 22 Abs. 3 Nr. I GO SH. 10 Achterberg, Das Bonner Grundgesetz, Art. 38 RN 60. 11 H.-P. Schneider, JfRR 1988, S. 327 (331); Norbert Achterberg, Die Abstimmungsbefugnis des Abgeordneten bei Betroffenheit in eigener Sache, AöR I 09 (1984), S.505 (528); dagegen negiert beispielsweise Peine, JZ 1985, S. 914 (918) diesen Unterschied. 12 Wefelmeier, S. 196.
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
187
die Uneigennützigkeit von Amtsausübung l1 • Das Abgeordnetenmandat sei ein öffentliches Amt, das an diesen Grundsatz gebunden sei. Die Regelung der Abgeordnetenentschädigung und -versorgung müsse daher der Kontrolle einer unabhängigen Einrichtung unterworfen werden, der ein Vetorecht gegen als unmäßig erachtete Vorhaben einzuräumen sei. Diese Aufgabe solle eine vom Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin zu berufende Kommission unabhängiger Sachverständiger übernehmen. Hans-Jochen Vogel brachte in der Gemeinsamen Verfassungskornrnission von Bundestag und Bundesrat den Vorschlag ein, Art. 48 Abs. 3 GG dahingehend zu ändern, daß die Höhe der Leistungen an Abgeordnete durch eine unabhängige Kommission, die Struktur der Leistungen vom Parlament festgelegt werden sollte 14 • Im Einklang mit der vom Ältestenrat des Bundestags berufenen Kommission zur Überprüfung des Abgeordnetenrechts kam die Gemeinsame Verfassungskommission zu der Auffassung, daß eine solche Änderung wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip keinen Bestand haben werde 15. Kommissionen als nicht in der Verfassung vorgesehene, nicht demokratisch legitimierte und verantwortliche Organe können keine Entscheidungs befugnis über Grundfragen des demokratischen Prozesses beanspruchen 16 • Diese sind politische, nicht primär rechtliche Fragen, für die es keine "neutralen" Sachverständigen gibt l7 Die soziale Sicherung der Abgeordneten ist eine politische Entscheidung, die nicht nur die Abgeordneten selbst und ihre Angehörigen betrifft, sondern auch Rückwirkungen auf den gesamten politischen Prozeß eines Staates und die darin bestehende Materialisierung politischer Chancengleichheit hat. Die Angemessenheit der Entschädigung ist eine inhaltliche und prozedurale Vorgabe, die unabhängig davon beurteilt werden kann, wer sie ausfüllt. Das Grundgesetz hat aber in Art. 48 Abs. 3 GG die Beurteilung der Angemessenheit dem Bundestag aufgegeben; aus dem einen Satz kann nicht die Ungültigkeit des anderen geschlossen werden. Abgeordnete setzen abstrakt-generelle Normen, denen sie auch selbst unterworfen sind. Dies ist bei Gesetzgebung notwendig der Fall und führt in einer Vielzahl von Fällen zu einem mehr oder weniger starken In-
13 Wilhelm Henke in BoK, RNn 321 ff zu Art. 21; ders., Geld, Parteien, Parlamente, Der Staat 1992, S. 98 (104). 14 Hans-Jochen Vogel, Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, ZG 1992, S. 293 (300f). Vgl. ders., Nachsichten, S. 454. 15 Andreas Meyer, Parlamentsverfassungsrecht - Anstöße für eine Reform, Aus Politik und Zeitgeschichte, 24.12.1993, S.44 (45). Bedauernd: Hans-Hugo Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, HStR Bd. VIII (1995), S. 557 (597). 16 Fischer, S. 231 f. 17 Hans-Heinrich Rupp, Legitimation des Parlaments zur Entscheidung in eigener Sache, ZG 1992, S. 285 (291).
188 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder teresse des Abgeordneten als Einzelnem oder als Teil einer Gruppel8. Im politischen Prozeß ist eine neutrale Instanz unmöglich l9 . Wer sich für "über den Parteien" stehend hält, ist selbst Partei, nur bomierter20 . Theoretische Grundlagen parlamentarischer Repräsentation, die dies negieren, wecken Erwartungen, die in der Wirklichkeit des politischen Interessenkampfes enttäuscht werden müssen 21 . Gerade die deutsche politische Kultur hat aber ausgeprägte etatistische, autoritäre und antidemokratische Traditionen, aus denen die Erwartung an die staatlichen Organe folgt, über den Interessen zu stehen. Zugleich werden Konflikte und ihre Träger, Parteien und Abgeordnete, prinzipiell und pauschal negativ bewertet22 • Diese Traditionen werden in jüngster Zeit wieder verstärkt aufgegriffen und spielen im geistigen und politischen Leben wieder eine größere Rolle 23. Das Problem der unmöglichen Interesselosigkeit focussiert auf die Diäten- und Sicherungsfrage der Abgeordneten, weil es dort symbolisch offenbar wird. Auch so erklärt sich die hohe öffentliche Aufmerksamkeit, die diesen Normen zuteil wird. Dazu kommt, daß Unbehagen und Unzufriedenheit über die aktuelle politische Mehrheit oder über die Problemlösungskompetenz des politischen Systems 18 Vgl. Klatt, APuZ 4011980, S. 25 (40): "Partikulare Interessen im Parlament zu verfolgen ist nicht systemwidrig". Beklagt hingegen für Abgeordnete aus dem öf. fentlichen Dienst bei Freytag, S. 99. 19 Kriele, §§ 26, 79: " Im politischen Prozeß sind Plädierende und Entscheidende immer identisch. Es gibt keinen 'pouvoir neutre'''. Vgl. aber z.B. die Positition Rousseaus, dargestellt bei Caspar, S. 138 f. 20 Gustav Radbruchl Konrad Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, 11. A. (1964), S. 74 f. 21 Vgl. Ernst Fraenkel, Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit: in Deutschland und die westlichen Demokratien, 5.A., (1973), S. 101 ff.; Uwe Thaysen, Die Volksvertretungen der Bundesrepublik und das Bundesverfassungsgericht: uneins in ihrem Demokratie- und Parlamentsverständnis, ZParl 1976, S. 3 (14). 22 Ausführlich: Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik, Anhang zu ders., Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1968), S. 317 (338 ff); Scheer, Parteien, S. 163 ff. Fraenkel, S. 54ff; Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923/ 1979), S. 11. 23 Vgl. Friedbert Pflüger, Deutschland driftet - die konservative Revolution entdeckt ihre Kinder (1994), S. 26 ff, nennt auch von Arnim und Scheuch als "großartig zu instrumentalisieren" für diese Richtung; Barteis, S. 11 ff.; Bernd Faulenbach, Den Gegensatz von Nation und Demokratie überwinden, Blätter für deutsche und internationale Politik 1993, S. 690 f.; Sontheimer, Politisches System, S. 160 ff.; Ulrich von Alemann, Müssen wir die Politik neu erfinden?, Blätter für deutsche und internationale Politik 1994, S. 10; Patzelt, Beruf, S. 193 ff.; Ein neueres Beispiel: Schachtschneider, S. 1155, "Das rechtsstaatIiche Prinzip, von der Entscheidung auszuschließen, wer befangen ist, muß gerade bei denen beachtet werden, deren Habsucht, Ehrsucht und Machtsucht ihren Opportunismus bestimmen, wie keinen Amtswalter sonst, den parteilichen Parlamentariern." Konsequenterweise beschimpft Schachtschneider eine Seite später Bürger, die ihr Wahlverhalten von Interessen leiten lassen als "käufliche Untertanen".
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
189
im ganzen auf die Diätenfrage und die soziale Sicherung der Abgeordneten projiziert werden, obwohl weder Ursache noch Lösung an dieser Stelle zu verorten sind 24 • Das Parlament und die Abgeordneten im Einzelnen werden für vom Parlament beschlossene Kürzungen sozialer Leistungen verantwortlich gemacht. Auch werden von einzelnen Abgeordneten oder ihrer Mehrheit abgegebene Stellungnahmen zu Tarifverhandlungen, in denen diese sich für Einkommensbeschränkungen aussprechen, aufmerksam verfolgt. Beides kann dazu führen, daß die Betroffenen bei Gelegenheit einer Entschädigungserhöhung ihrerseits Einkommensbeschränkung der Abgeordneten fordern und Unwillen darüber formulieren, daß jene der selbst erlittenen Fremdbestimmung des Einkommens nicht unterliegen. Weiterhin ist das Demokratiegebot zu beachten, das bei einer echten Verlagerung der Entscheidungskompetenz aus dem Bereich der Gesetzgebung heraus unterlaufen werden könnte. Das Gebot der Regelung wesentlicher Parlamentsmaterien durch den Gesetzgeber selbst ergibt sich als Verfassungsauftrag aus Art. 48 Abs. 3 GG sowie aus dem Demokratiegebot nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers 25. Im Landesverfassungsentwurf sächsischer Hochschullehrer war eine zweite Kammer ("Landesforum") mit konstitutiven Zustimmungskompetenzen bei Entschädigungsregelungen vorgesehen. Bei fehlender Volkswahl einer solchen zweiten Kammer wäre diese Kompetenz aber ein Verstoß gegen das Demokratiegebot und durch das Homogenitätsgebot in einem Land unzulässig 26. Eine Fremdkompetenz zur sozialen Sicherung der Abgeordneten würde diese in Abhängigkeit vom Träger der Fremdkompetenz bringen und somit den Unabhängigkeitsschutz des Parlaments im ganzen wie der einzelnen Abgeordneten gefahrden 27 • Die Alternativen zur Regelung durch Gesetz überzeugen nicht und sind verfassungsrechtlich vor dem Demokratiegebot nicht haltbar. 2. Alternativen und Schranken in der Parlamentskompetenz Nach einer in der Rechtsprechung und -lehre häufigen Meinung ist die Kompetenz der Abgeordneten zur Regelung ihrer eigenen sozialen Sicherung ein aus 24
Von Beyme, Politische Klasse, S. 202: "Mit dem Handfeuerläscher der Diätenbegrenzung soll der Waldbrand der Staatsverdrossenheit bekämpft werden.", sowie auf den folgenden Seiten. 25 Art. 20 Abs. 1, Art. 79 Abs.3 GG; Zuletzt z.B. VerfGH NW vom 16.5.1995 VerfGH 20/93 -, DVBI. 1995, S.921 zur Aufwandsentschädigung; Bericht der Unabhängigen Kommission, BT-Drucks. 12/5020, S. 21; Burkhard Thiele, Die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (1995), RN 7 zu Art. 22. A.M.: Kunig in von Münch! Kunig, RN 37 zu Art. 48. 26 Löwer in von Münch/ Kunig, GG, RN 17 zu Art. 28. 27 Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 507.
190 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
der Kompetenzordnung des Grundgesetzes folgendes notwendiges Übel. Dieses könne durch besondere Verfahrensregeln begrenzt, die Gefahr unangemessener Regelungen verringert werden. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde hierzu ein besonderes Transparenzgebot entwickelt, aus dem ein Kopplungsverbot folge. Weiterhin wird die Befassung von Kommissionen außerhalb des Parlaments mit einem öffentlichen Bewertungs- und Vorschlagsrecht als Mittel der Gesetzgebungstechnik angesehen. a) Transparenzgebot und Kopplung Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich des Abgeordnetenrechts das parlamentarische Öffentlichkeitsgebot besonders beton Daraus entwickelte es den Grundsatz, jede Veränderung und Erhöhung der Entschädigung müsse "unter den Augen der Öffentlichkeit" beschlossen und im Gesetz beziffert werden. Eine Kopplung, die bis 1977 darin bestand, daß die Entschädigung in Prozentsätzen der Ministerbesoldung ausgedrückt wurde, sei mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar29 •
es.
Dem Bundesverfassungsgericht ist insoweit zuzustimmen als die konsequente Anwendung des Öffentlichkeits gebots im Gesetzgebungsverfahren den materiellen und prozeduralen Charakter des Angemessenheitsgebots für die Entschädigung und die Sozialleistungen der Abgeordneten betonen und sichern kann. Nicht zutreffend ist aber, daß es sich hier um einen besonderen Grundsatz des Abgeordnetenrechts handelt. Die allgemeinen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts sind vielmehr rechtsstaatliche Forderungen an jeglichen Gesetzgebungsprozeß3o , deren Mißachtung nicht gerechtfertigt würde, wenn Nutznießer oder Leidtragende andere Gruppen als die Abgeordneten wären. Die konkrete Ausformung als Kopplungsverbot hingegen ist zweifelhaft. Ein solches Prinzip ist dem sozialen Leistungsrecht des Staates fremd. Das gesamte Recht der Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitsförderung und Beamtenbesoldung ist an tragenden Stellen der Kodifizierung auf teilweise dynamischen Verweisungssystemen gegründd l . Diese haben den Zweck, einmal fixierte Prinzipien den konkreten ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft und Einzelner anzupassen. Trotz teilweise problematischer Kompliziertheit der Gesetzgebung ist es hier nicht unbedingt die Gesetzgebungstechnik dynamischer Verweisungen, die kritisiert wird. Die Rentenformel drückt beispielsweise einen politisch gewollten Zusammenhang nachvollziehbarer aus als eine Rentenanpassung in abBVerfGE 40,296 (Ls. 6, 316 f.). BVerfGE 40, 296 (317). JO Vgl. Trute in von Münch! Kunig, GG, RN 28 zu Art. 48: Das legitimationsbewirkende, öffentlichkeitssichernde Verfahren der Gesetzgebung wird als Kontrollelement aktiviert. Weiterhin ausführlich: Lücke, S. 94 ff. 31 Vgl. § 18 SGB IV; §§ 64, 65, 68 SGB VI. 2S
29
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
191
soluten Zahlen. Einen solchen Zusammenhang beschreibt auch die Verfassung des Freistaates Thüringen: "Die Höhe der Entschädigung verändert sich jährlich auf der Grundlage der jeweils letzten Festlegung nach Maßgabe der allgemeinen Einkommens-, die der Aufwandsentschädigung nach der allgemeinen Preisentwicklung im Freistaat. ,,32 Diese Verfassungsnonn drückt den gesetzgeberischen Willen aus, einen einmal gefundenen Platz der Abgeordnetenentschädigung im Einkommensgefüge möglichst exakt zu erhalten, wobei dieser Platz als solcher der Veränderung weiter zugänglich ist. Die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit den rechtsstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes nach den Maßstäben des Urteils von 1975 wird bestritten. Dieser Kritik kann aber nicht zugestimmt werden 33 • Ein Mangel an Transparenz gegenüber der sonst üblichen Regelungstechnik besteht nicht34 • Ein Zugewinn an praktischer Konkordanz von Demokratie und RechtsstaatIichkeie s durch die FestIegung des Anpassungsverfahrens in der Verfassung erscheint durch das Thüringer Anpassungsverfahren allerdings nicht erreiche 6 • Der einfache Gesetzgeber wird durch die Verfassungsnonn zusätzlich gebunden. Ein Verlust an Demokratie ist aber nicht zu besorgen, da es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, den Grundbetrag der nur im Anpassungsverfahren gebundenen Entschädigung stärker zu erhöhen oder abzusenken 37 • Dazu kommt, daß die Verfassungsnorm selbst durch Volksabstimmung legitimiert ise s. Lincks Begründung aus dem Prinzip der praktischen Konkordanz zwischen Demokratie und RechtsstaatIichkeit setzt voraus, daß das Indexverfahren ein Mehr an RechtsstaatIichkeit verwirklicht. Dies ist aber ebensowenig zu erkennen wie das von den Gegnern behaupte Minus. Kopplungen der Abgeordnetenentschädigung an verschiedene Indizes bestehen im übrigen auch in zahlreichen anderen Staaten39. Im Meinungsstreit um das Thüringer Modell der indexierten Abgeordnetenentschädigung und die Kopplung der Bundestagsabgeordnetenentschädigung Art. 54 Abs. 2 ThürVerf. Ebenso: Peter M. Huber, Zur Diätenregelung in Thüringen, ThürVBl. 1995, S. 80; Linck, ThürVerf, RN 10 zu Art. 54. 34 Vgl. die Ausweisung der absoluten Summe im Gesetz, § 5 Abs. 1 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordnete des Thüringer Landtags (ThürAbgG) vom 9.3.1995 (GVBI. S. 121). 3S SO Linck, ThürVerf, RN 10 zu Art. 54 und ders., ZParl 1995, S. 372 (377). 36 Ebenso Fischer, S. 238. 37 So auch Fischer, S. 239 f. 38 Art. 106 Abs.4 ThürVerf, Volksentscheid vom 16.10.1994; P.M. Huber, ThürVBl. 1995, S. 81. 39 BT-Drucks. 13/2339, 19.9.1995, S.5: Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden, Portugal, Großbritannien; Lemke-Müller, S. 10. Nonnenmacherl Bremer, FR, 25.9.1995. J2 33
192 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
an die Besoldung der Bundesrichter erwiesen sich die Argumente nur scheinbar als durchschlagend, die auf ein abstraktes Kopplungsverbot abstellten. Überzeugendere Wirkung im Streit des Herbstes 1995 hatten vielmehr diejenigen Argumente, die der Erhöhung die materielle Angemessenheit absprachen oder den Maßstab der Kopplung als falsch betrachteten40. Es kann nicht daran festgehalten werden, daß jede Kopplung einer Leistung an Abgeordnete ein Verstoß gegen das gesetzgeberische Transparenzgebot sei. Eine Verknüpfung und Dynamisierung kann den angelegten Maßstab der Angemessenheit transparenter machen als der schlichte Ausdruck der Summe ,,11.825 DM" im Gesetz, der nichts darüber aussagt, wie es zu dieser Summe gekommen ist. Vor dem Hintergrund einer Auslegung des Angemessenheitsgebots als eng mit dem allgemeinen Gleichheitssatz korrespondierende Nonn kann das Kopplungsverbot sogar die Findung einer angemessenen Entschädigung behindern, da es streng genommen Gleichbehandlungen und Anknüpfungen an andere soziale Sicherungssysteme verbietet und somit die Entwicklung des Sondersicherungssystems befördert hat, das für Abgeordnete heute besteht. In der Hinterbliebenen-, Unfall- und Krankenversicherung knüpfen die Abgeordnetengesetze allerdings an andere Sicherungssysteme an, ohne daß dies bislang als Verstoß gegen das Kopplungs- und Transparenzgebot größere Kritik gefunden hätte. b) Kommissionen und Beiräte
Eine vollständige Übertragung der Entscheidungen zur Abgeordnetenentschädigung an Kommissionen oder Beiräte ist nicht zulässig. Zu prüfen ist aber, welche Rolle derartige Einrichtungen im gesetzgeberischen Prozeß übernehmen könnten oder sollten. Beratend sind Kommissionen, die zumeist bei den Parlamentspräsidien angesiedelt sind, sowohl im Bund als auch in den meisten Ländern in den Gesetzgebungsprozeß über die soziale Sicherung der Abgeordneten eingebunden 41. Bei grundlegenden Refonnen erhalten sie zum Teil den Charakter von Enquete-Kommissionen. Diese Fonn der Beteiligung von Ratgebern und Sachverständigen greift nicht in die Gesetzgebungskompetenz und Verantwortlichkeit ein. Sie ist eine Materialisierung des Öffentlichkeits gebots des Bundesverfassungsgerichts durch eine institutionalisierte Evaluation der sozialen Sicherung der Abgeordneten 42. Dabei unterscheidet Klaus von Beyme die Expertenkontrolle, die interne Kontrolle im Parlament und die Kontrolle durch Adressaten und Klienten, die in den bisherigen Kommissionen beim Bundestag 40
So der Abg. Häfner (Bündnis 901 Die Grünen), XIII. WP/75. Sitz., 1.12.1995, S. 6600, der eine Kopplung an die allgemeine Einkommensentwicklung vorschlug. 41 Ausdrücklich vorgesehen in § 24 Abs. 1 S. 2 SächsAbgG: "externe unabhängige Diätenkommission"; Vgl. Fischer, S. 224 ff. 42 Vgl. Von Beyme, Parteienstaat, S. 198 ff.
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
193
wegen ihrer jeweiligen Mängel proportionalistisch vennischt wurden 4). Als Vorteil einer vorgeschalteten Befassung von Kommissionen kann gesehen werden, daß diese eine öffentliche Diskussion und Bewertung der Regelungen besser gewährleisten und vorbereiten könne als das "einfache" parlamentarische Verfahren 44. Kommissionen können hier ohne Verletzung des Parlaments vorbehalts eine Entscheidungsvorbereitung leisten, die auch dem Gebot einer funktionsgerechten Organstruktur gerecht wird45 • c) Wirksamkeit erst zur folgenden Wahlperiode
Aus den USA kommt der Vorschlag, die Gesetzgebung über Entgelt und soziale Sicherung der Abgeordneten immer erst mit Wirkung für die kommende Wahlperiode zuzulassen. Dies ist im Mai 1992 in der Verfassung der USA verankert worden, nachdem es von James Madison 1789 dem I. Kongreß im Rahmen der ersten Änderung der Verfassung von 1776 vorgeschlagen worden war40. Diesen schon vorher aufgegriffenen47 Vorschlag machte sich auch Hans-Jochen Vogel zu eigen48. Er wird auch in der parlamentsrechtlichen Literatur unterstützt49 • Er wurde zu einem zentralen Inhalt des Staatsrechtslehrerappells vom Herbst 1995, sein Inhalt als "demokratischer Brauch" bezeichnet5 • Der Appell konnte so verstanden werden, daß die Anwendung dieser Regelung bereits heute verfassungsrechtlich geboten sei. Für diese Regelung wird eine Parallele zur Verlängerung der Wahlperiode angeführt, zu der ein Parlament ebenfalls nicht für die laufende Periode berechtigt sei, weil diese Entscheidung zunächst durch erneute Wahl ihrer Befürworter bestätigt werden müsse 51 • Es geht darum, daß die demokratische Repräsentation jeweils von einer Wahl zur nächsten nach den vorher bekannten Bedingungen Von Beyme, Parteienstaat, S. 199. Czepluch, S. 239 f.; dieses Argument spricht aber zugleich für eine Veränderung des öffentlichen Gesetzgebungsverfahrens insgesamt. Erstaunlich ist, daß Czepluch im Jahre 1991 behauptet, nirgendwo in Bund und Ländern gebe es beratende Diäten-Kommissionen; Rupp, ZG 1992, S. 285 (290); Erich Eyermann, Die ewigen DiätenquerelIen, ZRP 1992, S. 201 (202). 45 Vgl. dazu Thomas von Danwitz, Der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur, Der Staat 1996, S. 329 (341). 46 27. Amendment, Federa1 Register, 19.5.1992, S. 21187; vgl. Winfried Brugger, Ein amerikanischer Vorschlag zur Kontrolle von Diätenerhöhungen, ZRP 1992, S. 321. 47 Hildegard Krüger, Die Diäten der Bundestagsabgeordneten, DVBI. 1964, S.220. 48 H.-i. Vogel, ZG 1992, S. 293 (301). 49 H.-P. Schneider, AK-GG, RN 12 zu Art. 48 GG und ders. JfRR 1988, S. 327 (343); Fischer, S. 234; kritisch: Czepluch, S. 241. 50 Appell und Kritik bei Linck, ZParl 1995, S. 683. 51 Vgl. Knebel-Pfuhl, S. 60. 43 44
13 Welti
194 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder ablaufen soll, damit die Wählerinnen und Wähler nicht nur die Personen der Vertretung, sondern auch deren Amtsdauer, Kompetenzen und Statusrechte kennen. Dem kann entgegengehalten werden, daß Sinn und Motivation der Wahlen nicht primär die Ratifikation parlamentsrechtlicher Einzelentscheidungen sein könne52 • Insgesamt ist der Grundsatz der für eine Wahlperiode möglichst gleichen und vorher bekannten Parlamentsrechte aber anzuerkennen. Er kann aber sicher nicht allen Veränderungen in gleicher Weise entgegenstehen. Bei einer Wahlperiode von vier oder fünf Jahren wird ein Bedürfnis nach Flexibilität und Reaktion auf äußere Veränderungen und innere Erfahrungen ebenfalls zu berücksichtigen sein. Die demokratische Grenze der Veränderbarkeit könnte also in den verfassungsrechtlich fixierten Rahmenbedingungen der Parlamentsarbeit liegen. Diese Grenze sollte aber nicht aufgrund einer ungeschriebenen Ausstrahlung des Demokratiegebots als gegeben betrachtet werden, da sie mit dem ebenfalls demokratiestaatlich begründeten Recht des Parlaments zur Verfassungsänderung kollidiert. Der Ausgleich beider Grundsätze kann wiederum nur im geschriebenen Verfassungsrecht erfolgen, so daß ein inhaltlicher Zusatz zum Recht der Verfassungsänderung in Art. 79 GG erforderlich wäre. Solange dieser nicht existiert, kann der Grundsatz de constitutione lata nur angewandt werden, wenn ein offensichtlicher einfachrechtlicher Verstoß gegen schutzwürdiges Vertrauen der Wählerinnen und Wähler vorliegt. Ein solcher Fall wäre bei einer Verlängerung der Wahlperiode gegeben, bei einer Diätenerhöhung aber wohl nicht. Eine Verweisung auf die kommende Wahlperiode für einfachrechtliche Veränderungen im Entschädigungsrecht der Abgeordneten könnte sowohl verfassungsrechtlich verankert als auch faktisch eingehalten werden. Sie erscheint geeignet, die Unterscheidung zwischen dem Parlament als Gruppe von individuellen Abgeordneten und als gesetzgebender Körperschaft auszudrücken und zu symbolisieren. Praktisch ist allerdings anzumerken, daß aufgrund der Dauer der Mandatsausübung und der hohen Wiederwahlquote das Problem der eigenen Nutznießung nicht stark verringert wird 53 • Nach dem Grundgesetz geboten ist die Verweisung auf die folgende Wahlperiode nicht, die politische Problematik der Entscheidung "in eigener Sache" löst sie nicht, sondern mildert sie nur ab.
3. Beschränkung der Landesparlamente Zu untersuchen ist im Zusammenhang der Kompetenzverteilung auch, welcher Regelungsspielraum den Landesgesetzgebern bei der Regelung des Entschädigungsrechts und der sozialen Sicherung der Landtagsabgeordneten aufgrund des Homogenitätsgebotes der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik zusteht. 52 53
Knebel-Pfuhl, S. 61. Linck, ZParl 1995, S. 688.
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
195
Grundsätzlich machen die Verfassungen der Länder die Vorgaben, nach denen die landesgesetzlichen Regelungen in diesem Bereich auszurichten sind. Sie sind oft nach Wortlaut oder Sinn ähnlich bzw. inhaltsgleich mit Art. 48 GG, so daß schon von daher eine gleiche Auslegung im Rahmen gemein-bundesrepublikanischer Verfassungsbegriffe vorzunehmen ist. Wo die Länderverfassungen abweichen oder keine Vorgaben machen, ist aber ergänzend auf das Homogenitätsgebot zurückzugreifen. Die Grundsätze des Wahlvorbereitungsurlaubs, Behinderungsverbotes, Kündigungs- und Entlassungsverbotes, das Gebot der angemessenen Entschädigung sind dabei auch wegen ihres engen Zusammenhangs mit den im Homogenitätsgebot gesondert aufgeführten Wahlrechtsgrundsätzenl4 bindende Normen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, die auch für die Landtage Gültigkeit haben sl . Eine Abweichung von Wortlaut und Regelungstechnik des Grundgesetzes ist dabei zUlässig l6 , wobei unterschiedliche Realbedingungen, z.B. die Arbeitsbelastung der Abgeordneten, auch eine unterschiedliche Auslegung begründen können, etwa bei der Frage der Angemessenheit der Entschädigung.
4. Gesetzgeber des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung Zu prüfen ist aber weiterhin, ob der Gesetzgeber der Abgeordnetengesetze überhaupt im bisher praktizierten Umfang für die soziale Sicherung der Abgeordneten zuständig ist. Möglich wäre auch, daß die Kompetenz beim Gesetzgeber des Arbeitsrechts und der Sozialversicherungs7 liegt, soweit die Sicherung des Arbeitsverhältnisses der Abgeordneten und deren Einbeziehung in Regelungsbereiche der Sozialversicherung betroffen ist. Die Gesetzgebungskompetenz für das den Status der Abgeordneten betreffende Recht folgt direkt aus Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG, soweit die Sozialleistungen betroffen sind, die sich als Annex aus dem Entschädigungsanspruch ableiten. Sie ist zugleich ein Gesetzgebungsauftrag. Das Parlament ist von Verfassungs wegen gehalten, sein Statusrecht in Gesetzesform zu fassen. Die entsprechenden Normen der Länderverfassungen sagen hier nicht anderes aus. Die einfachgesetzliche Ausformung des Behinderungs- und Kündigungsverbots ist dagegen nicht von Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG erfaßt. Sie liegt an der . Schnittstelle der arbeitsrechtlichen Kompetenz und der verfassungsrechtlichen Statusregelung der Abgeordneten. Das Bundesverfassungsgericht hat für die Beamten das gesamte ihre Rechtsstellung beim Zusammentreffen von Amt und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG. 55 BremStGH, NJW 1975, S. 636; BVerfGE 40, S.296 (319); Wilhelm Kanther, Die neuen Landesverfassungen im Lichte der Bundesverfassung (1993), S. 205. 56 Kanther zu Art 60 BrbVerf; Art 54 Abs. 2 ThürVerf. 57 Art 74 Nr. 12 GG (konkurrierende Kompetenz von Bund und Ländern). 54
13'
196 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder Mandat betreffende Recht zum Statusrecht der Abgeordneten gezählt. Die Kompetenz hierfür liegt stets beim betroffenen Parlament selbst. Entsprechend ist der Begriff des Statusrechts der Abgeordneten auch in Abgrenzung zum Arbeitsund Sozialversicherungsrecht weit zu fassen. Eine Einordnung bei diesem würde aber praktisch zu keinem anderen Ergebnis führen, da der Bund für den Bereich der Landtagsabgeordneten keine Gesetzgebungsbefugnis ausgeübt hae 8 und die Länder somit auch aus ihrer verbliebenen Kompetenz für das Arbeitsund Sozialversicherungsrecht heraus regelungsbefugt sind. Der Gesetzgebungsauftrag zur eigenen Statusregelung ist vorrangig. Da die Abgeordneten aber in dessen Ausgestaltung frei sind, wäre auch ein Verweis auf entsprechende Regelungen des Sozialgesetzbuches möglich, soweit die sonstigen Vorgaben der Verfassung eingehalten sind. Schon das geltende Recht enthält mit den Regelungen über die Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung einen sozialversicherungsrechtlichen Sachverhalt und mit der entsprechendem Anwendung beamtenrechtlicher Vorschriften 59 und entsprechenden Landesregelungen eine Verweisungsnorm. Für den Gesetzgeber des Sozialgesetzbuches wäre es möglich, wie bei den Regelungen der Nachversicherung die Einbeziehung von Landtagsabgeordneten zuzulassen; sie zu beschließen wäre Sache der jeweiligen Landesparlamente. 5. Das Kompetenzproblem beim Europäischen Parlament Das Statusrecht der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament wird zumindest teilweise im Europaabgeordnetengesetz durch den Deutschen Bundestag geregelt. Dies ist gegenüber der bisher betrachteten Kompetenzregelung eine Besonderheit und nur historisch zu erklären: Bis zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 wurden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments auch vom Bundestag entsandt. Da die Europäische Union noch keine volle staatliche Qualität erreicht hat, ist auch das Europäische Parlament noch kein souveränes Parlament. Seine Rechte sind auch nicht durch eine Verfassung, sondern lediglich durch zwischenstaatliche Verträge verbürgt. Robert Fleuter stellt fest, daß das Entschädigungsniveau und das Niveau der sozialen Sicherung der Europaabgeordneten je nach Herkunftsland stark unterschiedlich ist, hält eine einheitliche Regelung für notwendig an und sieht im . Einführungsbeschluß60 eine Kompetenznorm für den Ministerrat eine solche Regelung einzuführen 61. Das Präsidium des Europäischen Parlaments stützte
58 59
Vgl. Plüm, S. 200 ff. § 26 AbgG.
60
Art. 13 EinfA.
61
Fleuter, S. 120 ff.
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
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seine Kompetenz für die Regelung einer eigenen Unfallversicherung und Hinterbliebenenversorgung auf die Geschäftsordnung62 • Zu fragen ist, wie lange der gegenwärtige Zustand vor den Verbürgungen des Grundgesetzes und der Entwicklungstendenz der EU vom Staatenbund zum Bundesstaat noch Bestand haben kann. So sieht Fleuter in Folge des von den Gemeinschaftsorganen zu leistenden Strukturwandels der Gemeinschaft selbst die Aufgabe des Europäischen Parlaments als europäisch an. Nur der Mandatserwerb ist danach national, die Mandatsausübung europäisch63 • Das Präsidium des Europäischen Parlaments hat bereits am 29.9.1983 in Umsetzung eines Auftrags des Plenums dem Rat eine einheitliche europäische Entschädigungsregelung einschließlich Normen der sozialen Sicherung vorgelegt, die bis heute nicht beschlossen ist64 • Daher ist die Regelungskompetenz bis heute bei den Einzelstaaten verblieben. Dieser Zustand ist rechtlich zweifelhaft und politisch bedauerlich, wenn für die EU eine Verfassung gefordert wird, die den Maßstäben demokratischer Repräsentation entspricht. Nach dem Vertrag von Amsterdam soll nun ein eigenständiges Statusrecht der Europaabgeordneten erarbeitet werden66 •
6. Das Bundesverfassungsgericht In zwei Entscheidungen hat sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich, in zahlreichen weiteren am Rande mit dem Recht der sozialen Sicherung der Abgeordneten und seiner Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz befaßt. Insbesondere die Entscheidung von 1975 ging dabei weit über die Prüfung der vorgelegten Norm hinaus und beschäftigte sich in obiter dicta mit nahezu allen seinerzeit strittigen Fragen der materiellen Sicherung der Abgeordneten. Diese Entscheidung führte dazu, daß die Abgeordnetengesetze des Bundes und sämtlicher Länder neu gefaßt wurden. In allen Parlamenten und in der juristischen und politischen Diskussion war die zentrale Frage, das neu zu schaffende Recht an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen 67 • Diese Anknüpfung an das Urteil von 1975 bestimmte noch einen wichtigen Teil der Diäten-Diskussion des Jahres 1995. Pestalozza sieht die Entscheidung als "klassisch" für "beratende Nebengründe" des Gerichts: "Sie informieren den 62
Art. 22 GOEuP auf Grundlage von Art. 142 EGV. Fleuter, S. 102. 64 Zuletzt wieder öffentlich eingefordert vom EuP-Präsidenten Klaus Hänsch (SPEI SPD), vgl. Knut Pries, EU-Parlament verteidigt sich, FR, 8.11.1996. 65 Bieber, S. 201 f. 66 Vgl. Detlev Samland, Die Rechte des Parlaments werden gestärkt, Das Parlament, 11.7.1997. 67 Czepluch, S. 12: ,,( ... ) Gesetzgebungsaufträge, die die jeweiligen Parlamente meinten aus der Entscheidung herauslesen zu können (... )" 63
198 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
Gesetzgeber abschließend oder beispielhaft über Varianten einer Neuregelung, zu der das Gericht ihn (..) auffordert. ,,68 Schlaich führt aus, die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen orientiere sich arn materiellen Verfassungsrecht, das geprüft werde69 • So sei die Kontrolldichte am höchsten, wenn das Grundrecht auf Leben in Rede stehe. Die Hierarchie der Grundrechte ist allerdings wohl nicht in der Lage, eine sehr hohe Kontrolldichte beim Recht auf angemessene Entschädigung der Abgeordneten zu erklären. Zu fragen ist, ob durch diese Form der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die daran anknüpfende Gesetzgebungspraxis dem Verfassungsgericht die Rolle eines Quasi-Rahmen-Gesetzgebers eingeräumt wird und ob dies der Kompetenzordnung des Grundgesetzes entspricht. Christoph Gusy beschäftigt sich kritisch mit der Praxis der obiter dicta des Bundesverfassungsgerichts. Er räumt die Vorteile durch eine antizipierte Rechtssicherheit über künftige Verfassungsrechtsprechung ein, sieht aber überwiegende Nachteile in der Einschränkung der realen Offenheit der Verfassung, der Überschreitung der durch das Antragserfordemis legitimierten Kompetenz des Gerichts und der Lösung der Gründe vom zeitbedingten Verfahren, die gerade nicht zur Rechtssicherheit führt, da die Gründe in neuen Verfahren gar nicht mehr einschlägig sein müssen 70 • Gusy beschreibt: "Die Überbrückung der Kluft zwischen abstrakter Norm und konkretem Sachverhalt geht regelmäßig in der Weise vor sich, daß dieser Abstand durch Zwischensätze und -bergriffe verringert wird, Solche Begriffe enthalten vielfach allgemeine Aussagen, die weit über den jeweiligen Einzelfall hinausreichen, aber auch für die einzelne Entscheidung von Bedeutung sind. Sie sind vielfach durch Leitsätze besonders hervorgehoben, wodurch sich der Einzelfallbezug lockert zugunsten einer quasi normativen Formel, die sich verselbständigt und als gesicherte Auslegungsmaxime in den juristischen Kommunikations- und Argumentationshaushalt einfließt. Diese Verselbständigung löst bereits als solche jenen Kontext, der maßgeblich für die Formulierung der Gründe war. ,,71 Ohne daß Gusy auf die Diäten-Urteile Bezug nimmt, erscheint die Beschreibung genau auf jene und ihre Folgewirkungen passend. Das von ihm angeführte Beispiel der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlkarnpfkostenerstattung72 mit der Entscheidung einer exakten "verfassungsgemäßen" Untergrenze des Einsetzens von Wahlkarnpfkostenerstattung bei 0,5% Wählerstimmen bei der Frage nach Christian Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3.A. (1991), S. 288. Klaus Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht (1991), RN 502. 70 Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 254 ff. 71 Gusy, ztp 1989, S. 264 (257. 72 BVerfGE 24, 300 (342), Gusy, Gesetzgeber, S. 264. 68
69
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
199
der Verfassungsmäßigkeit einer Erstattung bei 2,5% Stimmen ist den DiätenUrteilen vergleichbar73 • Gemeinsam haben diese, daß es sich bei ihnen um Fragen des im engeren Sinne politischen Verfassungsrechts (Parteienfinanzierung) oder um politisch besonders umstrittene Fragen (Abtreibung, Steuerrecht) handelt74 . Diese Form der Normenkontrolle steht gerade wegen ihrer methodischen Beliebigkeit in einem Spannungs verhältnis zum Demokratieprinzip75, der grundsätzlichen Balance von Recht und Politik, von Staat und Gesellschafe 6 und kann sich schlicht als unkontrollierte Machtausübung erweisen 77, die gerade wegen ihrer öffentlichen Akzeptanz gefährliche Wirkungen entfalten kann 78. Die spezifische Funktion des Bundesverfassungsgerichts im politischen Prozeß sollte dagegen zuvörderst im Schutz der Grund- und Freiheitsrechte, gerade für Minderheiten bestehen79 , während die Konkretisierung der Verfassungspostulate im übrigen weitgehend der Selbstregulierung und dem Verständigungszwang des politischen Prozesses überlassen bleiben sollte, um die gebotenen Grenzen zwischen der Zuständigkeit zur Normauslegung und zur Nonngebung nicht zu verwischen 80. Dies gilt auch dann, wenn sich Abgeordnete selbst von einer möglichst detaillierten Vorgabe des Verfassungsgerichts eine" Versachlichung" der Diskus-
73
So auch der Vermögensteuer-Beschluß vom 22.6.1995 - 2 BvL 37/91 - NJW 1995, S. 2615. 74 Vgl. dazu Hasel Ladeur, S. 294 ff. 75 Vgl. die abw. Meinung zum Vermögensteuer-Beschluß von Ernst-Wolfgang Bäckenfärde, NJW 1995, S. 2620 f.: " (00') leistet der Veränderung des vom Gesetzgeber festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und BVerfG weiter Vorschub."; ebenso Hans Peter Bull, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz - ein Irrweg, NJW 1996, S. 281 f.; a.M.: Klaus Vogel, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz - eine Erwiderung, NJW 1996, S. 1257 f., der ausdrücklich auch die "Quantifizierung von Verfassungsprinzipien" anhand "plausibler Prinzipien" bejaht, dazu gehörten "runde Zahlen". Sehr deutliche Kritik auch bei Helmut Ridder, Die Bundesrepublik: Was für eine Demokratie ist das?, Blätter für deutsche und internationale Politik 1985, S.430 (439): ,,(Diese Einrichtung des BVerfG) ist die Institution gewordene Negierung des demokratischen Prinzips. (00) Sie ist die Einrichtung, die den Gesetzgeber von ganzen Sachgebieten aussperren kann. Sie diktiert ihm 'Empfehlungen', die angenommen werden müssen, weil abweichende Entscheidungen unter die Guillotine des Verfassungshüters geraten könnten." 76 Maus, S. 306 f. 77 So Kostas Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung (1987), S. 56 f. 78 Chryssogonos, S. 64 f. 79 Martin Kutscha, Das Bundesverfassungsgericht und der Zeitgeist, NJ 1996, S. 171 (173); Leutheusser-Schnarrenberger, FAZ, 17.10.1996; Habermas, Faktizität, S. 321 f. 80 Helmut Simon, Das Bundesverfassungsgericht - Ersatzgesetzgeber und Superrevisionsinstanz?, NJ 1996, S. 169.
200 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
sion erwarten 81 • Die "Versachlichung" besteht dann darin, daß die Parlamente nicht mehr über die Sache an sich, sondern über die optimale Erfüllung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu entscheiden haben. Dies kann eingeordnet werden in eine politische und rechtsstaatliche Kultur, bei der insgesamt der insgesamt der Versuch gemacht wird, Politik in möglichst vielen Bereichen durch Recht zu ersetzen 82. Gusy führt aus, daß diese Art von Urteilen die demokratische Offenheit des politischen Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozesses abschneiden. Er hält das Eingehen des Gerichts auf die Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidungserheblicher oder hypothetischer Gesetze für unzulässig und hält eine entsprechende Einschränkung der Ausführungen in den obiter dicta und in den Gründen für geboten 8l • Auch Befürworter weiter Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts können die Praxis der obiter dicta nicht verteidigen 84 • Diese führen zu einer Lähmung der Gesetzgebungstätigkeit und deren Beschränkung auf die Umsetzung der obiter dicta und Andeutungen 85 .Christine Landfried kommt aus politikwissenschaftlicher Sicht zu einer ähnlich kritischen Betrachtung wie Gusy. Als Folge der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts, "aus dem GG detaillierte Anweisungen bis hin zu Prozentzahlen ablesen zu können (... ) oder sich durch Ausdehnung der konkreten Streitfrage auf einen Politikbereich ein Initiativrecht (zu) verschaffen ,,86 sieht sie eine "unangemessene Justizialisierung politischer Probleme ,,87 und den Verlust an dynamischer Offenheit der Verfassung88 • Sie analysiert auch das AbgeordnetenUrteil von 1975 und attestiert ihm, wirklichkeitsfremd zu sein89 • Mit dem Urteil habe das Bundesverfassungsgericht die gesamte Rechtsstellung der Abgeordne81 Vgl. z.B. die Abg. Ute Erdsiek-Rave (SPD), SH LT XIII. WP, 37. Sitz., 15.9.1993, Prot., S. 2490f. 82 Vgl. Michael Stolleis, Eine immer gefährdete Errungenschaft, FAZ, 11.9.1996; Schäuble, FAZ, 13.9.1996. Ml Gusy, Gesetzgeber, S. 264. 84 Vgl. Z.B. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, RN 476: "Der Gesetzgeber tut ( .. ), was er sich vornimmt, das Gericht entscheidet über das, was beantragt ist." 85 Ebenso Chryssogonos, S. 68; Bäcken/ärde, abw. M., S. 2621: (... ) Das BVerfG ist nicht als fürsorglicher Praeceptor des Gesetzgebers, sondern als - je nach dem zulässigen Anrufungsbegehren - nachträglich punktuell kontrollierendes Gericht konstituiert und organisiert.". 86 Christine Land/ried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber (1984), speziell für das Abgeordneten-Urteil von 1975, S. 51. 87 Land/ried, Gesetzgeber, S. 148 f. 88 Land/ried, Gesetzgeber, S. 150. Aus konservativer Sicht scheint das Gleiche gemeint zu sein, wenn Schäuble, FAZ, 13.9.1996, fordert, die Verfassung als statisches Element in einer auf Dynamik angelegten Gesellschaft zu sehen. 89 Land/ried, Gesetzgeber, S. 41 f.; 98 f.
IX. Die Gesetzgebungskompetenz
201
ten vorstrukturiert und obiter dicta als Gesetzgebungsaufträge formuliert 90 • "Der ursprüngliche Beschwerdeführer wollte nur geklärt wissen, ob er neuerdings in den saarländischen Landtag gewählt werden kann. Daraus wurde im Ergebnis ein neues Parlamentsrecht für alle Landtage und den Bundestag, ,,91 schrieb Hans-Jochen Vogel. Zur Begründung für die Erweiterung des Prüfumfanges führte das Bundesverfassungsgericht den inneren Zusammenhang der Normen des Abgeordnetenrechts an 92 • Dieses Argument erscheint allerdings zu einer Eingrenzung des Entscheidungsgegenstands grundsätzlich ungeeignet und erklärt nicht die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Erstreckung der Prüfung vom Saarland auf den Rest der Republik93 • Mit den Urteilen zu Art. 48 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht in Überschreitung seiner Kompetenz ein Initiativrecht wahrgenommen und eine Regelungsdichte für sich in Anspruch genommen, die der eines Rahmengesetzgebers gleichkommt. Damit hat das Bundesverfassungsgericht im verfassungsrechtIich sensiblen Bereich der Konflikte zwischen den Gewalten das Gesetzgebungsrecht des Bundestags und der Landtage eingeschränkt und seine Stellung im Verhältnis zu den Parlamenten gestärkt. Man kann dies aufgrund möglicher Zustimmung zu den materiellen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gutheißen oder als einzig mögliche Lösung der Problematik der Entscheidung bei unmittelbarer materieller Eigenbetroffenheit halten. Es handelt sich dennoch und jedenfaIls um einen Verstoß gegen die vom Grundgesetz vorgesehene Kompetenzordnung 94 , dessen schlicht faktische Tolerierung problematisch ist. Einen Rechtsweg gegen Verstöße des Bundesverfassungsgerichts gegen die Verfassung gibt es freilich nicht. AnzuLandfried, Gesetzgeber, S. 99 f. Hans-Jochen Vogel, Videant iudices!, DÖV 1978, S.665 (668), bekräftigend: ders., Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, NJW 1996, S. 1505 (1508 f.); ygl. dazu den Sachverhalt in BVerfGE 40, S. 296 (298); Thaysen, ZParl 1976, S.3; Ahnlich Simon: "exzessive Interpretation"; Pestalozza, S.323, meint allerdings unter Bezug auf BVerfGE 64, S. 301 (318), das Urteil sei wohl eigentlich nicht vorgreiflich für diejenigen Länder gewesen, die eigene verfassungsrechtliche Entschädigungsregelungen haben. Wegen des ähnlichen Wortlauts dieser Normen und der keineswegs Saarland-spezifischen Argumentation des BVerfG scheint aber kein Fall unerklärlichen vorauseilenden Gehorsams vorgelegen zu haben. Anders z.B. Feuchte, BWVerf, RN 4 zu Art. 40, der den tragenden Gründen der Entscheidung Bindungswirkung nach § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) i.d.F.d.B. v. 11.8.1993 (BGBI. I, S. 1473) auch für Baden-Württemberg über Art. 28 Abs. I GG zuspricht. 92 BVerfGE 40, S. 296 (309 0. 93 BVerfGE 40, S. 296 (298 f.). 94 Chryssogonos, S. 73: "Alles, was bei einer Entscheidung dahingestellt bleiben kann, muß (.. ) zugleich dahingestellt bleiben." H.-J. Vogel, NJW 1996, S. 1505 (1510). 90 91
202 B. Die Abgeordneten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder
merken ist im übrigen, daß auch der in jüngster Zeit beklagten Überlastung des Bundesverfassungsgerichts auch durch eine stärkere Fallorientierung bei der Auslegung des Grundgesetzes und eine Beschränkung des Umfangs der Begründungen auf die Fragestellung beizukommen wäre95 •
95 Hans-Peter Schneider, SOS aus KarJsruhe - Das Bundesverfassungsgericht vor dem Untergang?, NJW 1996, S. 2630 (2632).
c. Regelungen und Reformvorschläge I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung Die Entschädigung der Abgeordneten kann ebenso als Arbeitsentgelt eigener Art wie als spezifisch pauschalierte Einkommensersatzleistung für staatsbürgerliche Betätigung verstanden werden. In jedem Fall bildet sie als Ausgangspunkt der Berechnung und Anknüpfungspunkt eine wichtige Voraussetzung für diejenigen Leistungen, die gewöhnlich unter den Begriff der sozialen Sicherung gefaßt werden, weil sie in spezifischen Risikolagen Einkommen aus eigener Arbeit ersetzen oder ergänzen. Wird die Entschädigung nicht als Arbeitseinkommen, sondern nur als Ersatz für anderweitiges Einkommen gesehen, könnte sie sogar selbst als Leistung der sozialen Sicherung definiert werden. Ihre Untersuchung steht hier am Anfang, um die weiteren, die eigentlichen Leistungen und Maßnahmen der sozialen Sicherung, in systemgerechter Weise darstellen und kritisieren zu können. Die Leistungen bei Beendigung des Mandats (Übergangsgeld), im Alter (Altersentschädigung) und für die Hinterbliebenen knüpfen dem Grunde und der Höhe nach an die Entschädigungszahlung an und bauen somit ebenso wie andere Leistungen der sozialen Sicherung für die gleichen Risiken auf dem vorangegangenen Einkommen auf. Die Entschädigung wird heute allgemein in einer monatlichen Geldzahlung gewährt, deren Summe im jeweiligen Abgeordnetengesetz genannt ise. In HamI
Im Bundestag und Europäischen Parlament seit I. Juli 1997 nach § 11 Abs. I S. 2 AbgG 11.825 DM; § 5 Abs. I Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags Baden-Württemberg (BWAbgG) vom 12.9.1978 (GBI. S.473) 6.900 DM; § 5 Abs. I Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Bayerischen Landtags (BayAbgG) Ld.F.d.B.v. 15.11.\990 (GVBI. S.490) 9.965 DM; § 6 Abs. 1 BerlLAbgG 4.980 DM; § 5 Abs. I Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft (BremAbgG) vom 16.10.1978 (BremGBI. S. 209) 4.241 DM; § 5 Abs. 1 BrbAbgG 6.230 DM; § 5 Abs. I Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Hessischen Landtages (HessAbgG) vom 18.10.1989 (GVBI. I S. 261) 11.266 DM; § 6 Abs. I Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern (MV AbgG) vom 20.12.1990 (GVOBI. 1991, S. 3) 6.310 DM; § 6 Abs. I Niedersächsisches Abgeordnetengesetz (NdsAbgG) vom 3.2.1978 (Nds. GVBI. S. 101) 9.500 DM; § 5 Abs. 1 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags Nordrhein-Westfalen (NWAbgG) vom 24.4.1979 (GV NW S. 238) 8.605 DM; § 5 Abs. 1 Landesgesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags Rheinland-Pfalz (RhPfAbgG) vom 21.7.1978 8.779 DM; § 5 Abs. 1 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtages des Saarlandes (SLAbgG) vom 4.7.1979, Gesetz Nr. 1103 (ABI.
204
C. Regelungen und Reformvorschläge
burg wird die Zahlung als "Entgelt" bezeichnet Sie ist von der zur Amtsausstattung dienenden Aufwandsentschädigung 3 abgegrenzt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die pauschalierte Aufwandsentschädigung in einigen Bundesländern bewußt niedriger gehalten ist, weil dort in der früheren Höhe dieser Zahlung ein verdecktes Entgelt zumindest für Abgeordnete mit geringerem Mandatsaufwand gesehen wurde4 • Die Entschädigung unterliegt der Steuerpflicht Eine jährliche Sonderzahlung (dreizehnte Entschädigung)6 oder eine Urlaubssonderzahlung7 - wie in der Beamtenbesoldung oder nach vielen Tarifverträgen gezahlt - werden nicht gewährt. Familienbezogene Entschädigungsbestandueile, die an die Unterhaltspflicht für Kinder oder Ehegatten anknüpfen 8 , bestehen ebenfalls nicht. Die Veränderung der Entschädigung" wird durch Gesetzesänderung vorgenommen. In Thüringen ist hierzu ein Indexierungsverfahren zur Kopplung an die Einkommensentwicklung in den Bereichen des produzierenden Gewerbes, des Handels, des Kredit- und Versicherungsgewerbes, der Arbeiter und AngeS.656) 7.625 DM; § 5 Abs. I SächsAbgG 6.592 DM; § 6 Abs. 1 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtages von Sachsen-Anhalt (LSAAbgG) i.d.F.d.B.v. 21.7.1994 (GVBI. S. 907) 6.680 DM; § 6 Abs. I SHAbgG 6.930 DM; trotz abweichenden Anpassungsverfahren ausgewiesen in § 5 Abs.l ThürAbgG: 7.007 DM. . 2 § 2 Abs. 1 HbgAbgG: 4000 DM. Diese Zahlung blieb deutlich unter der von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Summe von 6.800 DM, vgl. HoffmannRiem, S. 284. Vgl. zur vorangegangenen Diskussion Hans-Herbert von Arnim, Der "Fall Hamburg" (1992). 3 § 12 AbgG. 4 So in Hessen, vgl. § 6 Abs. 1 HessAbgG, so daß der hohe Entschädigungsbetrag nach § 5 Abs. 1 HessAbgG nur bedingt vergleichbar ist. In Hessen beträgt die Pauschale 850 DM, in Bremen 727 DM. In allen anderen Bundesländern liegt sie zwischen 1.400 DM (Schleswig-Holstein) und 4.711 DM (Bayern). 5 § 22 Nr. 4 Einkommensteuergesetz (EStG). Die Abgeordneten müssen selbst eine nachträgliche Versteuerung vornehmen und erhalten im Hinblick auf die Aufwandsentschädigung keinen berufstypischen Steuerfreibetrag, vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Steuerrecht der Abgeordneten (1989), S. 8, 36,45 f. 6 Vgl. § 67 Bundesbesoldungsgesetz i.d.F.d.B.v. 16.5.1997 (BBesG) (BGBI. I S. 1065); G. über die Gewährung einer jährlichen Sonderzuwendung in der Fassung vom 23.5.1975 (BGBI. I, S. 1238). Eine dreizehnte Entschädigung in RheinlandPfalz, Hessen und Thüringen wurde inzwischen wieder abgeschafft. Zu Bedenken gegen eine dreizehnte Entschädigung: Fischer, S. 55 ff. 7 Vgl. § 68a BBesG; G. über die Gewährung eines jährlichen Urlaubsgeldes vom 15.11.1977 (BGBI. I, S. 2120). 8 Vgl. §§ 39-41,62 BBesG (Familienzuschläge; Anwärterverheiratetenzuschlag). 9 Im Regelfall die Erhöhung. Die Bezeichnung von Diätenerhöhungen als "Diätenanpassung" (vgl. § 30 AbgG, § 26 ThürAbgG) wurde von einer Jury unter Vorsitz des Sprachwissenschaftlers Horst Dieter Schlosser zum "Unwort des Jahres 1995" gewählt; dazu kritisch: Axel Wermelskirchen, Als Unding empfunden, als Unwort genannt, FAZ vom 24.l.l996.
I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung
205
stellten des öffentlichen Dienstes, der Beamten und der abhängig Beschäftigten in der Landwirtschaft in Landesverfassung und Abgeordnetengesetz lO verankert. Bedenken, diese Gruppen, die eine Mehrheit der Thüringer Bevölkerung darstellen, seien nicht hinreichend zur Ermittlung der allgemeinen Einkommensentwicklung, sind überzogen 1 I. Eine ähnliche Regelung besteht auch in Bayern l2 . Das Abgeordnetengesetz des Bundes nennt die Besoldungsgruppen R 6 der Richterinnen und Richter an obersten Bundesgerichten und B 6 der kommunalen Wahlbeamten und -beamtinnen auf Zeit als Richtgröße für die Veränderung der Entschädigung l4 . Diese Regelung, die ursprünglich im Grundgesetz und •• 15 durch das achtzehnte Anderungsgesetz hatte verankert werden sollen , wurde durch das neunzehnte Änderungsgesetz im Dezember 1995 eingefügeo. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen hatte alternativ hierzu das Verbleiben auf dem bisherigen Niveau und eine jährliche Anpassung an die allgemeine Einkommensentwicklung der abhängig Beschäftigten und der Sozialhilfeempfanger vorgeschlagen l7 . Die FDP schlug eine gestufte Erhöhung ohne jede Form der Ankopplung sowie eine jährliche Anpassung nach Empfehlung einer unabhängigen Sachverständigenkommission, die durch den Bundespräsidenten oder die Bundespräsidentin berufen werden sollte l8 . Um das Niveau der in Bezug genommenen Besoldungsgruppen zu erreichen, wurde ein Stufenplan von Erhöhungen bis zum Jahr 1998 beschlossenl 9 • Da10
Art. 54 Abs.2 ThürVerf; §§ 5 Abs. I; 26 ThürAbgG. Die Anpassungsregelung wurde eingeführt durch 2. ÄndGThürAbgG vom 28.2.1995 (GVBl., S. 109). Zur Regelung: Joachim Linck, Indexierung der Abgeordnetendiäten, ZParl 1995, S 372 (373 ff.): Die Einkommensentwicklung von 72,6% der abhängig Beschäftigten wird zur Grundlage der Entschädigungsveränderung. 11 Bedenken bei Peter M. Huber, Zur Diätenregelung in Thüringen, ThürVBl. 1995, S. 80 (82). Dagegen Linck, ThürVBl. 1995, S. 104 (105). 12 Art.5 Abs.3 BayAbgG, eingefügt durch G. vom 23.12.1995 (BayGVBl. S.848). 13 Vgl. Bundesbesoldungsordnung B, Anlage I zum BBesG aufgrund §§ 20 BBesG; KommunalbesoldungsVO des Bundes vom 7.4.1978 (BGBl. I, S. 468); Bundesbesoldungsordnung R, Anlage III zum BBesG aufgrund § 37 BBesG. 14 §§ 11 Abs. 1 S. 1,30 AbgG. 15 •. Zum Grundgesetz B.VI. Zum 18. AbgGAndG vgl. BT-Drucks.1311825, 13/2340, S. 4 f., 12. Zur Entschädigungshöhe und zum Entscheidungsverfahren vgl. die Änderungsanträge der FDP, BT-Drucks. 13/2364 vom 20.9.1995 und von Bündnis 901 Die Grünen, BT-Drucks. 13/2372 vom 20.9.1995. 16 Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD, BT-Drucks. 13/3121 vom 28.1 I.I 995, S. 1,4, 8; Ausschußbericht BT-Drucks. 13/3240 vom 6.12.1995, S. 4 f. 17 Gesetzentwurf BT_Drucks. 13/3139 vom 29.1 1.1995. Die PDS-Gruppe forderte im Juni 1996 eine alleinige Ankoppelung an die Steigerung des Sozialhilfesatzes nach § 22 BSHG, BT-Drucks. 13/4884, Ziff. 1 vom 12.6.1996. 18 Gesetzentwurf BT-Drucks. 13/3154 vom 29.11.I 995. 19 § 11 Abs. 1 S. 2 AbgG.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
nach soll über die weitere Veränderung stets zu Beginn der Wahlperiode in Anlehnung an die Richtgröße für die gesamte Wahlperiode entschieden werden 20 • Bei diesem Verfahren handelt es sich nicht um eine Kopplung oder Indexierung. Sowohl die Orientierung an den Besoldungsgruppen R 6/ B 6 als auch die Bestimmung des Anpassungszeitpunktes sind lediglich gesetzgeberische Deklarationen, die durch den konkreten Anpassungsbeschluß nicht eingehalten werden müssen. Da die Besoldung nach R 6 oder B 6 gewöhnlich in kürzeren als vierjährlichen Abständen verändert wird, ist bereits bei Einhaltung des festgelegten Verfahrens nur eine ungefahre Annäherung möglich. Es wurde bereits befürchtet, daß das hier gewählte Verfahren zu einer Präjudizierung der Besoldungspolitik durch die Entschädigungsanpassung führen würde. Es scheint aber, daß die Deklarationen zur Ausrichtung der Entschädigung nicht wesentlich mehr Bedeutung haben werden, als wenn sie nicht in einem Gesetz fixiert wären. Dies zeigte sich im Juni 1996, als mit dem zwanzigsten Änderungsgesetz vom Stufenplan zur Anpassung der Entschädigung an das Niveau von R 6/ B 6 wieder abgewichen wurde und die zum 1. Juli 1996 vorgesehene Erhöhung auf 11.825 DM ebenso wie die folgenden Erhöhungen um ein Jahr verschoben wurden 21 • Zur Begründung wurden hierfür in unterschiedlicher Nuancierung die allgemeine Einkommensentwicklung und die Probleme der öffentlichen Haushalte angeführt. Der Bundestag bescheinigte sich selbst, "ein Signal für Zurückhaltung und Sparsamkeit" gesetzt zu haben und forderte "alle, die im Bund, in den Ländern, in den Gemeinden und öffentlichen Einrichtungen Verantwortung tragen" auf, "durch eigenes Verhalten diesem Beispiel zu jolgen ,,22. Regelungen der Koppelung und Indexierung in den gewählten Formen sind mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes vereinbar2J • Eine Letztentscheidung der Landtage sehen im Ergebnis auch die Thüringischen und Bayerischen Regelungen vor24 , wenn auch insbesondere in Thüringen eine Abweichung vom einmal beschrittenen Weg bewußt erschwert worden ist § 30 AbgG. Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD, Bündnis 901 Die Grünen und FDP, BTDrucks. 13/4840 vorn 11.6.1996, Ausschußbericht BT-Drucks. 13/4872 vorn 12.6.1996. Zustimmung nur zur Aussetzung, nicht zur späteren Erhöhung. durch die PDS-Gruppe, BT-Drucks.13/4884, Ziff. 1 vorn 12.6.1996; 20. AbgGAndG vorn 19.6.1996 (BGB!. I S.843); Kritisch: Günter Bannas, Wider den DiätenPopulismus, SZ, 8.4.1997. 22 Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD, Bündnis 901 Die Grünen und FDP, BT-Drucks. 13/4895 vorn 13.6.1995. Vgl. den auf die Mitglieder der Bundesregierung beschränkten Antrag der SPD, BT-Drucks. 13/4885 vorn 12.6.1995. 23 Vgl. B.lX.2.a. 24 Art. 5 Abs. 5 BayAbgG; § 5 Abs. 1 ThürAbgG; dazu Peter M. Huber, Zur Diätenregelung in Thüringen, ThürVBI. 1995, S. 80 (82). 25 Dazu Linck, ThürVBI. 1995, S. 104 (105). 20 21
I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung
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Die Entschädigungszahlung unterliegt nach den meisten Abgeordnetengesetzen zur Hälfte der Unpfändbarkel 6 • Die Regelung folgt der des Bundes von 1977, die von der vorher geregelten völligen Unpfändbarkeit abrückte27 , weil nach der Erhöhung der Entschädigungssumme die Abwägung mit den Interessen der Gläubiger anders ausfallen kann. Eine solche besondere Regelung besteht nicht in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommem und Schleswig-Holstein. Für die nicht von diesen Regelungen umfaßten Zahlungen und die andere Hälfte gelten die allgemeinen Regeln der ZPO für Arbeitseinkommen. Grund der Sonderregelung ist der besondere Vorrang der unabhängigkeitssichernden Entschädigung auch vor den privatrechtlichen Ansprüchen Dritter28 • Ihr Fehlen gerade in Ländern mit niedrigeren Entschädigungssummen - kann im Extremfall eine Lage zulassen, in der die Unabhängigkeit von verschuldeten Abgeordneten ernsthaft gefährdet ist, weil Gläubiger, die zwischen Stundung oder Zwangsvollstreckung wählen können, ein hohes Druckpotential haben. Ob diese Möglichkeit zugelassen werden soll, ist eine politische Frage. Das Entschädigungsgebot ist nicht verletzt, wenn den Abgeordneten auch nach den zivilprozessualen Regelungen noch eine unterhaltssichernde Summe verbleibt. Ein besonderes Gebot der Chancengleichheit zwischen verschuldeten und nicht-verschuldeten Abgeordneten kann nicht angenommen werden. Differenzierungen der Entschädigungszahlungen zwischen den Abgeordneten des gleichen Parlaments und ihre Vereinbarkeit mit dem Gebot der Gleichheit der Statusrechte sind stark umstritten. Die einzige im Bundestag und den meisten Parlamenten praktizierte Differenzierung ist die Gewährung von Funktionszulagen. In der Diskussion befinden sich auch Anrechnungsregelungen, das Verdienstausfallprinzip und Ausgleichszahlungen.
1. Funktionszulagen Funktionszulagen sind in Vom-Hundert-Sätzen ausgedrückte Erhöhungsbeträge zur Abgeordnetenentschädigung. Sie werden im Bundestag und fast allen Landtagen an Parlamentspräsidenten und -präsidentinnen und ihre Stellvertreter und Stellvertreterinnen29 , in mehreren Landtagen auch an Ausschußvorsitzen26
§ 31 S.3 AbgG; § 23 S.3 BWAbgG; Art.26 S.3 BayAbgG; § 25 S.3 BeriLAbgG; § 26 S. 3 BrbAbgG; § 25 S. 3 HessAbgG; § 27 Abs. 1 S. 2 NdsAbgG; § 27 s. 3 NW AbgG; § 25 S. 3 RhPfAbgG; § 26 S. 3 SLAbgG; § 25 Abs. 1 S. 3 SächsAbgG; § 30a S. 3 LSAAbgG; § 29 S. 2 ThürAbgG. 27 BT-Drucks. 7/5903, S. 15; Im Anschluß an § 25 DiätG 1968 noch enthalten im ersten Entwurf, BT-Drucks. 7/5531, S. 25 f. 28 BT-Drucks. 7/5531, S. 25 f. 29 § 5 Abs.2 BWAbgG 100/50%; Art.5 Abs.2 BayAbgG 100/50%; § 6 Abs.2 BeriLAbgG 100/50%; § 5 Abs. 2 BrbAbgG 100/50%; § 5 Abs. 2 BremAbgG 200/100 %; § 2 Abs.2 HbgAbgG 200/100%; § 5 Abs.2 HessAbgG 100/50%; § 6 Abs.2 Nr. 1 und 2 MVAbgG 100/50 %;§ 6 Abs.2 NdsAbgG 100/50%; § 5 Abs.2
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C. Regelungen und Reformvorschläge
de10 , FraktionsvorsitzendelI und ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter12 , parlamentarische Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen 33 und Arbeitskreisvorsitzende der Fraktionen J4 gezahlt. Eine durch die besondere Belastung von Einzelabgeordneten begründete Zulage erhalten Abgeordnete des SSW35 in Schleswig-Holstein 36 • Mit Ausnahme der Zulagen für die Mitglieder der Präsidien sind die Funktionszulagen erst seit 1988 eingeführt worden 37 • Zahlungen für Funktionsabgeordnete seien vorher aus den Fraktionskassen erfolgt, bzw. würden in den Ländern ohne Funktionszulagen auch heute noch von diesen übernommen. Die sachliche Begründung für Funktionszulagen liegt darin, daß die Funktionsträger im Parlamentspräsidium, den Ausschüssen und Fraktionen eine gesteigerte Arbeitsbelastung im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments im Ganzen und eine geringere Möglichkeit gleichzeitiger Erwerbstätigkeit haben J8 • Das Bundesverfassungsgericht hatte eine solche Begründung nur für das Präsidium der Parlamente akzeptiert. In der Literatur ist strittig, ob daraus ein generelles Verbot weitergehender Funktionszulagen folge 9 • Ein gegen Funktionszulagen gerichtetes Landesorganstreitverfahren aus Thüringen ist seit 1991 beim Bundesverfassungsgericht anhängig40 • Das Hamburgische Verfassungsgericht hat am 11. Juli 1997 eine Klage gegen Funktionszulagen abgewiesen 41. Das aus der Selbstorganisation des Parlaments als arbeitender Körperschaft stammende Argument der höheren Arbeitsbelastung erscheint legitim und plauNW AbgG 100/50%; § 5 Abs.2 RhPfAbgG 100/50%; § 5 Abs. 2 SLAbgG 100/50 %; § 5 Abs. 2 SächsAbgG 100/50 %; § 6 Abs. 2 Nr. I und 2 LSAAbgG 100/50%; § 6 Abs. 2 Nr. I und 2 SHAbgG 100/50%; § 5 Abs. 2 Nr. I und 2 ThürAbgG 100170%. 30 § 6 Abs. 2 Nr. 4 MV AbgG 30%; § 6 Abs. 2 Nr. 3 LSAAbgG 20%; § 6 Abs. 2 Nr. 3 SHAbgG 20%; § 5 Abs. 2 Nr. 3 ThürAbgG 40%. 31 § 2 Abs. 2 HbgAbgG 200%; § 6 Abs. 2 Nr. 3 MV AbgG 100%; § 6 Abs. 2 Nr. 4 LSAAbgG 100%; § 6 Abs. 2 Nr. 4 SHAbgG 125%; § 5 Abs. 2 Nr. I ThürAbgG 100%. 12 § 2 Abs. 2 HbgAbgG 100%; § 6 Abs. 2 Nr. 6 MV AbgG 30%; § 6 Abs. 2 Nr. 6 LSAAbgG 30%; § 6 Abs. 2 Nr. 7 SHAbgG 30%; § 5 Abs. 2 Nr. 3 ThürAbgG 40%: 33 § 6 Abs. 2 Nr. 5 MV AbgG 75%; § 6 Abs. 2 Nr. 5 LSAAbgG 60%; § 6 Abs. 2 Nr. 6 SHAbgG 75%; § 5 Abs. 2 Nr. 2 ThürAbgG 70%. 34 § 6 Abs. 2 Nr. 7 MV AbgG 25%; § 6 Abs. 2 Nr. 7 LSAAbgG 20%; § 6 Abs. 2 Nr. 8 SHAbgG 20%. J5 Südschleswigscher Wählerbund, die Wählervereinigung der dänischen und der friesischen Minderheit in Schieswig-Hoistein. 36 § 6 Abs. 2 Nr. 5 SHAbgG 75%. 37 • Vgl. FIscher, S. 66. J8 SO auch Hoffmann-Riem, S. 194 ff. J9 Dafür: Feuchte, BWVerf, RN 7 zu Art. 40. 40 Az. 2 BvH 3/91 und 4/91. 41 Vgl. Corne/ia Bolesch, Der notorische Nörgler schlägt noch einmal zu, SZ, 27.6.1997; Thomas Wo/gast, Gericht entschied: Hamburger Fraktionschefs dürfen mehr verdienen, ST, 12.7.1997.
I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung
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sibel. Materielle Anreize für die Übernahme einer zusätzlich belastenden Aufgabe sind im Erwerbsleben üblich. Sie sind auch kein Spezifikum der Beamtenbesoldung42 • Das Argument der geringeren Möglichkeit anderweitiger Erwerbstätigkeit ist hingegen insoweit problematisch, da auch von den Abgeordneten, die keine besondere Parlamentsfunktion ausüben, keine Erwerbstätigkeit neben dem Mandat verlangt wirl 3 • Zutreffend ist aber, daß die Möglichkeit anderweitiger Einkommenserzielung und kontinuierlichen Kontakts mit einem Beruf außerhalb des Mandats den Funktionsabgeordneten durch höhere Präsenz- und Vorbereitungsanforderungen erschwert wird44 • Die Funktionszulage stellt sich demgegenüber als Anreiz dar, ein Amt zu übernehmen, das - weil häufig zu Lasten der Wahlkreisarbeit gehend - die Chancen der Wiederaufstellung eher verringert als erhöht. Insofern wäre es nur ein Gleichheit wiederherstellender Ausgleich, wenn mit Hilfe der Funktionszulage zusätzliches Geld für die Wahlkreisbetreuung zur Verfügung steht 5 • Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts gegen Funktionszulagen aus dem strengen Gleichheitssatz46 erscheint nicht zwingend und als verfehlter Versuch, einen richtigen Grundsatz im Detail anzuwenden47 • Der strenge Gleichheitssatz gilt unter den Abgeordneten als Verlängerung der Wahlrechtsgleichheit. Er muß daher auch für den Zugang zu Funktionen und parlamentarischen Rechten gelten 48. Wären also Ausschußvorsitze und ähnliches ein Privileg der Mehrheitsfraktion, so wäre nicht nur diese Tatsache, sondern auch eine damit verbundene Zulage problematisch. Ist die Funktionszulage aber Entschädigung einer besonderen Belastung für das Gesamtparlament, zu deren Ausübung alle Abgeordneten gleichen potentiellen Zugang haben, dann ist sie vom Schutzzweck des strengen Gleichheitssatzes nicht um faßt und als nach willkürfreien und parlamentsimmanenten Gesichtspunkten bestimmte Ausformung des Entschädigungsgrundsatzes zulässig. Wegen der strukturierenden Bedeutung der Fraktionen für die gesamte Parlamentsarbeit kann auch die Zulage für die Übernahme einer Fraktionsfunktion so als zulässig betrachtet werden. 42
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So aber Fischer, S. 82. Fischer, S. 78. So auch Czepluch, S. 130. Fischer, S. 73, sieht in dieser Möglichkeit den Beleg für den Verstoß gegen das
Gleichheitsgebot. 46 BVerfGE 40, S. 296 (318). 47 Vgl. abweichendes Votum von Seuffert, BVerfGE 40, S. 330 (340); H.-i. Vogel, DÖV 1978, S. 665 (667), der in der Stellungnahme des BVerfG ein Beispiel für dafür sieht, daß Verfassungsrecht in "allzu kleine Münze umgewechselt" werde. 48 Grundsatz der Spiegelbildlichkeit: BVerfGE 80, S. 188 (217 f.) (fraktionsloser Abgeordneter Wüppesahl) und BVerfG vom 16.7.1991 - 2 BvE l/91 - BVerfGE 84, S.304 (321 ff.) (PDS-Abgeordnetengruppe); vgl. Christian Rernzen/ Detle! Gottschalck, Abgeordnetenstatus und Repräsentation, ZParl 1990, S. 392. 14 WcIti
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Funktionszulagen sind mit dem Gebot der politischen Chancengleichheit vereinbar, soweit ihre Gewährung aus einem realen Mehraufwand an Arbeitszeit folgt. Eine Begründung alleine aus der "Würde" oder "Bedeutung" eines Amtes wäre nicht zulässig. Gegen Funktionszulagen kann allerdings politisch eingewandt werden, daß die Erreichung der entsprechenden Funktionen meist von innerfraktionellen Beschlüssen abhängt, so daß Zulagen einen materiellen Anreiz zur Konformität innerhalb der Fraktion geben49. Dies ist nicht unbedenklich und wohl das gewichtigste Argument gegen Funktionszulagen. Die Gewährung von Funktionszulagen für Mehraufwand ist nicht verfassungsrechtlich geboten. Anders könnte dies höchstens bei einem Parlament sein, das von seiner Grundbelastung und Entschädigungshöhe her noch voraussetzt, daß gleichzeitige Berufstätigkeit möglich ist und in dem nur besondere Funktionsträger die Schwelle zum Vollzeitmandat überschreiten50 •
2. Anrechnung Eine weitere Frage ist, ob zeitgleich mit dem Mandat erzielte Einkünfte auf die Entschädigung angerechnet werden sollen. Das würde bedeuten, die Entschädigungssumme um die anderweitigen Einkünfte zu kürzen. Eine solche Regelung ist aber nirgendwo verwirklicht und wird weithin für unvereinbar mit dem strengen Gleichheitssatz gehalten 51 • In einer Entscheidung von 1955 hatte das Bundesverfassungsgericht diese Frage noch alleine am allgemeinen Gleichheitssatz gemessen und eine Anrechnung bei Doppelabgeordneten (Landtag und Bundestag) für zulässig gehalten 52 • Die Frage der Anrechnung ist von praktischer Bedeutung53 • Sie betrifft mindestens die 23% der Abgeordneten, die neben dem Mandat einer anderen bezahlten Tätigkeit nachgehen 54. Dazu kommen Abgeordnete, die über ein arbeitsloses Einkommen aus Kapitaleinkünften oder Miete verfügen können und die rentenoder pensionsberechtigt sein könnten. Vom Bundesverfassungsgericht wird die Anrechnung nur für Einkünfte aus weiterhin ausgeübten Beamtenverhältnissen und Beamtenruhegehälter gefordert 49
So auch Fischer, S. 82; Ygl. für SchJeswig-Holstein Ludger Fertmann, In der Sackgasse, HA, 22.11.1996. 50 Fischer, S. 78; auf diesen Gesichtspunkt stellte auch das Hamburgische Yerfassungsgericht ab. 51 BYerfGE 40, S. 296 (318). 52 BYerfGE 5, S. 144 (155 f.); vgl. dazu Friedrich Giese, Yerfassungsrechtlicher Status des Abgeordneten im Yerfassungsstreit - Diätenkürzung bei Doppelmandat, AöR 81 (1956), S. 105. 5' . Ygl B.YI. 54 Patzelt, ZParl 1996, S. 462 (465).
I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung
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und mit dem beamtenrechtlichen Prinzip des Verbotes der Mehrfachalimentation begründd 5. Eine solche Anrechnung findet insbesondere auch bei der Altersversorgung statt. Andere sehen das Entschädigungsgebot so begrenzt, daß nur Entschädigung fordern könne, wer ihrer zum Lebensunterhalt bedürfe oder wer durch das Mandat so beansprucht sei, daß er ein weiteres Einkommen nicht erzielen könne. Ein Vorschlag mehrerer SPD-Abgeordneter unter Federführung von Werner R. Schuster sieht vor, bei Verdiensten neben der Abgeordnetentätigkeit ab 20 % der Jahresentschädigung eine Kürzung der Entschädigung vorzunehmen, die bei Verdiensten ab 200% der Entschädigung 60% betragen soll56. Die PDS-Gruppe schlug eine volle Anrechnung aller Verdienste aus selbständiger, freiberuflicher und abhängiger Tätigkeit mit Ausnahme publizistischer und künstlerischer Tätigkeit sowie von Einkünften aus Vermögen und Eigentum 57 vor. Da es sich bei der Abgeordnetenentschädigung trotz mißverständlicher Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts nicht um eine Alimentation im Sinne des Beamtenrechts handelt und wegen der unterschiedlichen realen und rechtlichen Vorbedingungen eine strikte Trennung von Abgeordnetenentschädigung und Beamtenbesoldung geboten ise 8 , kann das Verbot der Mehrfachalimentation zur Begründung einer Anrechnung alleine beamtenrechtlicher Einkünfte nicht herangezogen werden. Darin würde vielmehr eine gleichheitswidrige Differenzierung zu Abgeordneten mit anderen Einkünften neben dem Mandat liegen, für die sachliche Gründe nicht erkennbar wären 59 . Die Beschränkung der Anrechnung auf Einkommen aus dem öffentlichen Dienst ist aber vom Bundesverwaltungsgericht gebilligt worden, wenn das gesetzgeberische Motiv gerade jene Vermeidung von Doppelalimentation ist60 • Eine Anrechnung sämtlicher Einkünfte außerhalb des Mandats mit der Begrüngung, daß es an der Unterhaltsbedürftigkeit fehle und daß der zu entschädigende Zeitaufwand des auch anderweitig beschäftigten Abgeordneten geringer sei, erscheint dagegen zulässig. Dies würde bedeuten, die Entschädigung eher als Einkommensersatzleistung denn als "echtes" Arbeitseinkommen zu verstehen. Die Vermutung, daß anderweitiges Einkommen nur durch geringeren Arbeitseinsatz im Mandat erzielt werden kann, wird nicht immer zutreffen und ist 55 BVerfGE 40, S. 296 (329 f.). Ablehnend Seuffert, BVerfGE 40, S. 330 (342). 56 Antragsentwurf vom 22.5.1996; "SPD will Nebenverdiener schröpfen", MoPo
vom 23.5.1996. 57 BT-Drucks. 13/4884 vom 12.6.1996, Ziff. 4. 58 So auch BVerfGE 76,256 (342 f.): "Vergleichbarkeiten sind damit grundsätzlich ausgeschlossen." S9 SO Seuffert, BVerfGE 40, S. 330 (342). 60 BVerwG vom 28.7.1989 - 7 C 91/87 - NJW 1990, S.462 zu §§ 21 Abs. I, 26 BerlLAbgG. 14*
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c. Regelungen und Reformvorschläge
zum Beispiel für Miet- und Kapitaleinkünfte offensichtlich nicht einschlägig. Zur Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten wäre allerdings geboten, daß die Entschädigung einsetzt, sobald und soweit die anderen Einkünfte wegfallen. Zur Sicherung der Gleichheit der Abgeordneten müßten nicht nur Erwerbs-, sondern auch Zins-, Miet- und sonstige Einkünfte einbezogen werden. Ein nach diesen Grundgedanken gestaltetes "flexibles Modell" der Abgeordnetenentschädigung mit Anrechnung und einer Option teil zeitiger oder vollzeitiger Mandatsausübung wurde von der Hamburger Enquete-Kommission diskutiert und letztlich verworfen, weil erhebliche Probleme in der Typisierung gesehen wurden 61 • Anrechnungsregelungen wären ein Anreiz, neben dem Mandat nicht zu arbeiten. Sie würden - bei einem Verständnis der Entschädigung als Entgelt - auch dem bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mittlerweile geltenden Grundsatz widersprechen, daß eine anderweitige bezahlte Beschäftigung kein sachlicher Grund für eine niedrigere Bezahlung ist62 • Je nachdem ob zur Rechtfertigung der Anrechnung stärker auf die Unterhaltssicherung oder stärker auf die Arbeitsbelastung abgestellt wird, erschiene es geboten, Einkünfte aus eigener selbständiger oder unselbständiger Erwerbstätigkeit nur teilweise anzurechnen, da diese durch eine zum Mandat zusätzlich getragene Belastung erzielt werden und eine vollständige Anrechnung als Anreiz zur Aufgabe der Erwerbstätigkeit und als Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit erscheinen könnte. Möglicherweise könnten Erträge, die quasi eine Nebenfolge der politischen Tätigkeit sind (Buchhonorare, Vortragstätigkeit) einer stärkeren Anrechnung unterliegen als politikferne Erwerbstätigkeit. Eine Anrechnung ist verfassungsrechtlich weder geboten noch verboten; ihre Ausformung muß den Anforderungen des strengen Gleichheitssatzes genügen, das heißt, sämtliche Einkomrnensarten berücksichtigen oder einen plausiblen Grund aus der Abgeordnetentätigkeit für die Differenzierung liefern.
3. Verdienstausfallprinzip In verschiedenen mehr oder weniger stark ausgeformten Modellen wurde in der deutschen Verfassungsgeschichte vorgeschlagen, die Abgeordnetenentschädigung individuell nach den Verdienstmöglichkeiten zu bemessen, die der Abgeordnete durch sein Mandat nicht wahrnehmen kann. Dieser Vorschlag wurde bereits in den Beratungen des Verfassungsausschusses 1848 geäußert und 1925 von Richard Thoma wieder aufgegriffen 63. In den Hoffmann-Riem, S. 189 ff. BAG vom 1.11.1995 - 5 AZR 84/94 - NJW 1996, S. 2812; BAG vom 9.10.1996 - 5 AZR 338/95. 63 Richard Thoma, Die Reform des Reichstags, Sonderdruck aus der Zeitschrift "Germania" vom 30.4./1.5.1925, S. 7 f. 61
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I. Die Sicherung des Unterhalts durch die Entschädigung
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Bundesländern wurde das Verdienstausfallprinzip teilweise ergänzend zu den Entschädigungsregelungen für die Landtagsabgeordneten angewandt, vom Bundesverfassungsgericht aber 1975 als gleichheitswidrig verworfen 64 • Auch in der Diätendiskussion des Jahres 1995 tauchte es als "völlig neuer" Vorschlag wieder aufs. Eine Erwerbsausfallentschädigung bei Sitzungen und Dienstreisen für bis zu vier Arbeitsstunden und 30 DM/Stunde existiert für Bremer Bürgerschaftsabgeordnete66 • Das Verdienstausfallprinzip wird im übrigen teilweise angewandt bei Aufwandsentschädigungen von Stadt- und Gemeindevertretern in der Bundesrepublik. Pauschal galt diese Regelung auch für die örtlichen Abgeordneten der DDR 67 • Verbunden wird der Vorschlag meist mit einer Obergrenze68 und Untergrenze69 sowie Vorschlägen für das Ermiulungs- und Nachweisverfahren. Als Argumente wurden bereits bei Thoma vorgebracht, daß auf diese Weise Selbständigen und gut verdienenden Angestellten der Weg ins Parlament vereinfacht werde und die Bevorzugung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes verringert würde. Günter EIste meint, auf diese Weise ein materielles Interesse lIl1 Mandat verhindern zu können. Das Verdienstausfallprinzip ist aber mit dem strengen Gleichheitssatz und den Geboten der politischen Chancengleichheit nicht vereinbar. Es würde bei gleicher Arbeitsbelastung Abgeordnete verschiedener Herkunft dauerhaft unterschiedlich stellen und damit für die ohnehin privilegierten und überrepräsentierten höheren Einkommensschichten der Selbständigen, gutverdienenden Angestellten und Beamten einen weiteren Anreiz zur Mandatsübernahme schaffen.
4. Ausgleichszahlungen In' verschiedener Form wurde oder wird eine Differenzierung der Entschädigungssumme auch als Ausgleichszahlung für abstrakte Nachteile der sozialen Sicherung verschiedener Berufsgruppen gewährt. 64
BVerfGE 40, S. 296 (324 ff.). Vgl. Feuchte, RN 6 zu Art. 40. SO Veit Ruppersberg, Elstes Diäten-Vorstoß, HA, 13.10.1995 zu einem diesbezüglichen Vorschlag des SPD-Fraktionsvorsitzenden in der Hamburgischen Bürgerschaft, Günter Eiste. 66 § 6 BremAbgG. 67 § 7 Abs. 1 und 2 des Beschlusses des Staatsrates der DDR zur Verwirklichung der Rechte der Abgeordneten und Nachfolgekandidaten der örtlichen Volksvertretungen sowie von Bürgern, die in Kommissionen berufen werden vom 25.2.1974 (GBI. I Nr. 11 S. 102). 68 Bei Thoma z.B. 1.500 M im Monat. 69 Bei Eiste eine "Mindestentschädigung" für vorher Erwerbslose. 6S
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C. Regelungen und Reformvorschläge
In Baden-Württemberg wird Beamten und Beamtinnen aus unvereinbaren Positionen wegen ihrer Inkompatibilität ein Ausgleichsbetrag in Höhe von 50% des bisher erdienten Ruhegehalts gezahlt, weil davon ausgegangen wird, daß eine weitere teil zeitige Beamtentätigkeit ohne Unvereinbarkeit möglich wäre und regelmäßig auch ausgeübt würde70 • Einen Ausgleichsbetrag in Höhe von 50% der fiktiven Besoldung, begrenzt bis zur Höhe der Entschädigung, gibt es in Bremen, nichtparlamentarische Einkünfte werden auf den Betrag angerechnet. In den anderen Ländern, die das Selbstverständnis eines "Teilzeitparlaments" haben, gibt es keine Ausgleichsbeträge; sie wurden teilweise wieder abgeschafft. In Berlin wurde in der VI. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses eine Ausgleichszahlung für Selbständige und abhängig Beschäftigte aus der Privatwirtschaft wegen deren größeren Probleme der Vereinbarkeit und Berufsrückkehr gezahlt. Diese entfaltete nach der Untersuchung von Horst Nauber aber nur eine Anreizwirkung für freiberuflich Tätige, während der Anteil von Arbeiterinnen und Arbeitern und von Angestellten nicht gesteigert wurden. Sowohl die Ausgleichszahlungen für den öffentlichen Dienst - außer in Baden-Württemberg und Bremen - als auch die Sonderentschädigung in Berlin wurden mittlerweile unter Verweis auf den strengen Gleichheitssatz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht wieder abgeschafft. In beiden Fällen führte die pauschalierte Ungleichbehandlung dazu, daß auch Abgeordnete in den Genuß einer höheren Entschädigung kamen, bei denen persönlich kein Ausgleichsbedarf bestand und die einer nicht unterrepräsentierten Gruppe angehörten. Pauschalierte Ausgleichszahlungen für mögliche Nachteile bestimmter Gruppen sind mit dem strengen Gleichheitssatz unvereinbar. Ausgleichszahlungen für konkret-individuelle Nachteile könnten nur dann zulässig sein, wenn der Nachteil individuell nachgewiesen wird und die Ausgleichsempfangenden einer in ihrer parlamentarischen Repräsentanz benachteiligten Gruppe angehören.
70 § 27 Abs. 2 BWAbgG. VgJ. dazu die als unzulässig verworfene Verfassungsbeschwerde in BVerfGE 64, S. 301. 71 § 30 BremAbgG. 72
Nauber, 3.A. (1980), S. 345.
ll. Krankheit und Pflege bedürftigkeit Die Sicherung vor dem Kostenrisiko von Krankenbehandlung und Krankheitsvorsorge ist in der Bundesrepublik Deutschland als soziales Versicherungssystem mit jeweils unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten und -voraussetzungen über Kranken- und Pflegekassen, Privatversicherungen und Beihilfen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbständige, Beamtinnen und Beamte, nicht arbeitende Familienangehörige von Versicherten, Studierende und Sozialleistungsempfangende ausgestaltet. Die wesentlichen Regelungen hierzu sind im SGB V vorgenommen. Für die Sicherung gegen die Kosten der Pflegebedürftigkeit besteht seit 1995 die an die Krankenversicherung anknüpfende soziale Pflegeversicherung nach dem SGB XI. Das System gewährt gegen einen Beitrag - teilweise auch ohne - einen je nach Versicherungs- und Leistungsbereich mehr oder weniger vollständigen Zuschuß zu den Kosten der Vorsorge, Behandlung oder Pflege sowie bei Mutterschaft. Dazu kommt die Sicherung des Lebensunterhalts während durch Krankheit verursachter Arbeitsunfähigkeit, die durch die Verpflichtung der Arbeitgeber und öffentlichen Dienstherren zur Entgeltfortzahlung sowie durch Krankengeldansprüche gegen die gesetzliche Krankenversicherung geregelt ist. Die Zugehörigkeit zum System der sozialen Kranken- und Pflegeversicherung ist zur Sicherung des Lebensrisikos der Krankheit und Pflegebedürftigkeit und angesichts entwickelter, kostenträchtiger und auf die solidarische Kostenübernahme eingestellter Versorgungsstrukturen der privatärztlichen Praxen, der Kliniken, Pflegedienste und Pflegeheime eine Notwendigkeit. Nicht zuletzt durch die subsidiäre - sozialpolitisch unerwünschte - Kostenübernahme nach dem BSHa' erfaßt die Absicherung gegen die Kosten von Gesundheitsvorsorge, Mutterschaft, Krankheit und Pflegebedürftigkeit nahezu die gesamte Bevölkerung. Da der Zugang zum gesamten Sicherungssystem und in diesem Rahmen teilweise auch der Leistungsumfang und die Beitragshöhe vom Erwerbsstatus abhängen, ist näher zu betrachten, wie der Zugang für Abgeordnete geregelt ist. Das Bestehen eines Zugangs zu Kranken- und Pflegeversicherung für Abgeordnete ist ein Gebot der Sozialstaatlichkeit und der politischen Chancengleichheit. Aus den Geboten politischer Chancengleichheit und freier Mandatskonzeption ergibt sich, daß dieser Zugang möglichst gleichmäßigen bei unterschiedliI
Vgl. §§ 13,37, 37a, 37b, 38, 68 ff. BSHG.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
chem Erwerbsstatus vor und möglicherweise neben dem Mandat auszugestalten ist. Bis zum Abgeordnetengesetz 1977 und den darauffolgenden Ländergesetzen war eine am Abgeordnetenstatus anknüpfende Sicherung nicht vorgesehen. Die Abgeordneten mußten sich durch ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis oder eine voll zu zahlende private Krankenversicherung schützen. Die Abgeordneten, die aus einem Beamtenverhältnis in das Parlament gewählt worden waren, hatten aufgrund ihres Status als Ruhestandsbeamte einen Beihilfeanspruch 2 • Die mit dem Abgeordnetengesetz geschaffene Regelung wurde 1987, 1989 (Gesundheitsreformgesetz) und 1994 (Pflegeversicherungsgesetz) geändert. 1. Beihilferegelungen
Mitglieder des Bundestages) und des Europäischen Parlaments4 erhalten einen Zuschuß zu den notwendigen Kosten in Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfällen in sinngemäßer Anwendung der für Bundesbeamte geltenden Vorschriften. Diese Berechtigung erstreckt sich auch auf Versorgungsempfangende nach dem Abgeordnetengesetz, soweit diese nicht aufgrund anderer Regelungen einen Beihilfeanspruch haben 5 • 80% der Bundestagsabgeordneten wählen die Beihilfeleistungen6 • Die entsprechende Vorschrift nimmt Bezug auf die Regelungen zur Heilfürsorge der Beamten und Beamtinnen, Richterinnen und Richter und Soldaten, die auf Grundlage der Fürsorgepflicht des Staates als Dienstherr7 gewährt wird. Die Beihilfe zur Heilfürsorge ist kein Bestandteil der Besoldung oder Versorgung im Beamtenstatus, sondern deren eigenständige Ergänzung8 • Sie ist nicht durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtenturns vorgeschrieben, zur angemessenen Alimentation der im Beamtenverhältnis Beschäftigten gehört aber, ihnen eine Sicherung gegen Krankheitskosten zu ermöglichen 9 • Der Umfang der Beihilfe ist in einer Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums 10 geVgl. BT-Drucks. 7/5531 vom 30.6.1976, S. 22. § 27 Abs. I S. I AbgG. Nach § 11 EuAbgG entsprechend dem AbgG. § 27 Abs. 1 S. 2 AbgG. BT-Drucks. 12/5262, S. 70. § 79 S. 1 BBG. Peter Krause in: Bullinger/ Igl/ Zacher (Hrsg.), Soziale Sicherung im öffentlichen Dienst (1982), S. 68 f.; Walter Wiese, Beamtenrecht, 3.A. (1988), S. 177 f. 9 BVerfGE 58, S. 68 (76 ff.). 10 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen (Beihilfevorschriften - BhV -) vom 19.4.1985 (GMB!. 370) auf Grund von § 200 BBG.
11. Krankheit und Pflegebedürftigkeit
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regelt, ihre gleichmäßige Gewährung ist ein subjektives Recht der Beamtinnen und Beamten. Die Beihilfe deckt im Regelfall 50% der entstehenden Krankheits- und Pflegekosten ab, für die restlichen Kosten tragen die Beamtinnen und Beamten in der Regel durch eine private Krankenversicherung Vorsorge. Der Leistungsumfang entspricht im wesentlichem dem der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V. Die Verwaltungsvorschrift zur Beihilfe führt die Abgeordneten und versorgungsberechtigten ehemaligen Abgeordneten nicht als Beihilfeberechtigte auf, sondern wird auf sie lediglich entsprechend angewande '. Ein gleichzeitiger Bezug von beamtenrechtlicher und abgeordnetenrechtlicher Beihilfe ist ausgeschlossen 12. Für die Landtagsabgeordneten außer in Berlin, Brandenburg und Hamburg, besteht ebenfalls ein Anspruch auf Beihilfe nach den für Landesbeamten und beamtinnen geltenden Vorschriften l3 , die sich vom Anspruchsinhalt her mit den Beihilfevorschriften des Bundes decken. In Hessen und Thüringen besteht ein Wahlrecht zwischen gleichzeitigen Beihilfeansprüchen der Landtagsabgeordneten. In den meisten anderen Ländern ist der Anspruch aus dem Mandat subsidiär, im Bund wie in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist er vorrangig.
2. Zuschuß zur gesetzlichen Krankenversicherung Die Mitglieder des Bundestags und des Europäischen Parlaments haben alternativ zur Beihilfe einen Anspruch auf einen Zuschuß zu ihren Krankenversicherungsbeiträgen 14. Dieser beträgt die Hälfte eines aus eigenen Mitteln geleisteten Krankenversicherungsbeitrags, höchstens die Hälfte des Höchstbeitrags der im Falle der Versicherungspflicht zuständigen AOK I5 • Er unterliegt nur grundsätzlich der Steuerpflicht l6 , ist aber durch ausdrücklich zugelassene Erstreckung der für Arbeitnehmer geltenden Regeln steuerfrei 17.
11 Vgl. § 2 Abs. 4 Nr. 3 BhV, der Beamte, Richter und Versorgungsempfänger, die zugleich Abgeordnete sind , ausdrücklich als nicht beihilfeberechtigt nennt. 12 § 4 Abs. 1 und 4 BhV. 13 § 19 Abs. I S.1 BWAbgG ; Art. 20 Abs.l S.1 BayAbgG; § 16 Abs. I S.1 HessAbgG; § 13 Abs. 2 S. 1 NdsAbgG; § 20 Abs. 1 S. I NW AbgG ; § 19 Abs. 1 S. 1 RhPfAbgG, § 20 Abs. 1 S. 1 SLAbgG ; § 25 Abs. I S. 1 SHAbgG ; § 20 Abs. 1 BremAbgG; § 25 Abs. 1 S. 1 MVAbgG; § 25 Abs. 1 S. I LSAAbgG ; § 21 Abs. 1 SächsAbgG; § 19 Abs. 1 S. 1 ThürAbgG. 14 § 27 Abs. 2 S. 1 AbgG; § 11 EuAbgG. 15 § 27 Abs. 2 S. 3 und 4 AbgG. 16 § 22 Nr. 4 EStG; Steuerrecht der Abgeordneten, S. 8. 17 §§ 22 Nr. 4 S. 4, 3 Nr. 62, S. 1 EStG, Steuerrecht der Abgeordneten, S. 32.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Die Einführung des Beitragszuschusses war in den ersten Entwürfen des Abgeordnetengesetzes nicht vorgesehen gewesen l8 • Auf Vorschlag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde zusätzlich die Möglichkeit des Zugangs zur Gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen, um Nachteile für Abgeordnete nach Alter, Gesundheit und Familienstand zu vermeiden l9 • Der ZuschuB war zunächst auf maximal 180 DM monatlich beschränkt und wurde dann mit dem dritten Änderungsgesetz auf 50% des Höchstbeitrags der Allgemeinen Ortskrankenkasse am Wohnort der Abgeordneten erhöht und dynamisiert20 • Dabei wurde die Orientierung an der AOK Bonn verworfen 21 • Mit dem Gesundheitsreformgesetz wurden die Verweisungen geändert22 • Mit dem siebzehnten Änderungsgesetz wurde die "zuständige AOK" in Bezug genommen, um ostdeutschen MdB die Behandlung in Bonn mit einer benachteiligungsfreien Mitgliedschaft in der AOK Bonn zu ermöglichen21 • Zuständige Kasse ist entweder die AOK des Wohn- oder des Beschäftigungsorts 24 • Damit kommen ggf. neben Bonn auch Berlin oder der Sitz des Wahlkreisbüros in Betrache 5 •Weiterhin wurden die Mitglieder der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner wegen ihrer nur hälftigen Beitragspfliche 6 vom Recht auf Beitragserstattung ausgenommen 27 • Für die Abgeordneten aller Landtage mit Ausnahme der Brernischen Bürgerschaft ist ein ZuschuB zu den Krankenversicherungsbeiträgen ebenfalls vorgesehen 28 • In Hamburg ist der ZuschuB die einzige Möglichkeie 9 In Bremen ist nur Beihilfe vorgesehen. Der Zu schuB beträgt 50%, in Berlin 40% des Höchstbeitrags der gesetzlichen Krankenkasse. Hierbei wird entweder auf den Beitrag der AOK des Wohnsitzes oder des Parlamentssitzes als Höchstbegrenzung Bezug genommen, in Berlin auf die Betriebskrankenkasse der Stadt. Keine HöchstBT-Drucks. 7/5525 vom 29.6.1976, S. 7. BT-Drucks. 7/5903 vom 30.11.1976, S. 15. .. 7. AbgGAndG vom 16.1.1987 (BGBL I S. 143). 21 Vgl. BT-Drucks. 10/6685 vom 5.12.1986, S. 13. 22 G. v. 18.12.1989 (BGBL I, S. 2210). 21 BT-Drucks. 12/7777 vom 1.6.1994, S. 9 f. Vgl. die Sonderregelungen der §§ 308-314 SGB V. 24 In sinngemäßer Anwendung der §§ 173 Abs.2 Nr. I SGB V; bis 31.12.1995: 185 Abs. 2 Nr. I oder 2 SGB V. 25 Vgl. § 9 Abs. 3 SGB IV: die Abgeordneten können selbst entscheiden, wo sie "überwiegend" beschäftigt sind. 26 §§ 106, 106a SGB VI; qie andere Hälfte wird vom Träger der Rentenversicherung gezahlt. 27 BT-Drucks. 12/7777 vom 1.6.1994, S. 9. 28 Vgl. FN 13. 29 § 5 HbgAbgG. 18
19 20
11. Krankheit und Pflegebedürftigkeit
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grenze besteht in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommem. In Niedersachsen wird der Zuschuß "unter Berücksichtigung ders durchschnittlichen Beihilfeaufwands für Beamte" im Haus30 haltsgesetz festgesetzt .
3. Anderweitige Krankenversicherung Ein Schutz gegen die Kosten von Krankheit und Pflegebedürftigkeit kann auch entstehen, wenn Abgeordnete außer ihrem Mandat noch eine versicherungspflichtige Beschäftigunl l ausüben. Damit sind Abgeordnete nicht von der ansonsten für Beihilfeberechtigte geltenden Versicherungsfreiheit12 erfaßt; die Norm zählt Beihilfeberechtigte ausführlich auf, ist aber so gefaßt, daß Abgeordnete darunter kaum fallen können. Die Möglichkeit, Krankenversicherungsschutz durch eine relativ niedrig bezahlte versicherungspflichtige Beschäftigung neben dem Mandat zu erlangen, erscheint so gegeben. Sie ist aus dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung der Beihilfeberechtigten und dem Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung heraus nicht zu rechtfertigen. Rentnerinnen und Rentner aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten einen Beitragszuschuß zu einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung 13 , der einem Zuschuß nach dem Abgeordnetengesetz vorgehe 4 • Eine Beihilfeberechtigung nach dem Abgeordnetengesetz geht aber einer Beihilfe der Versorgungsempfangenden vorJ5 • Der Krankenversicherungsschutz nach den Abgeordnetengesetzen geht einer Versicherung in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung vor36 •
4. Sicherung bei Pflegebedürftigkeit Die bis dahin nur teilweise durch Leistungen nach dem BSHG und SGB V gegebene Sicherung gegen die Kosten von ambulanter und stationärer Pflegebedürftigkeit wurde 1994 durch das Pflegeversicherungsgesetz37 ergänzt, das neben dem SGB XI als Leistungsgesetz auch eine Reihe weiterer Gesetzesände30
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§ 18 Abs. 1 NdsAbgG. §§ 7 SGB IV, 5 Abs. 1 Nr. 1,249 Abs. 1 oder 2 SGB V.. § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. § 106 Abs. 1 S. 1 SGB VI; § 249a SGB V. § 27 Abs. 2 S. 2 AbgG. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BhV.
36 § 3a Nr. 2 des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KLVG 1989) vom 20.12.1988 (BGBI. I, S. 2477,2557). 37 PflegeVG vom 26.5:1994 (BGBI. I S. 1014). Vgl. dazu z.B. Gerhard [gI, Die soziale Pflegeversicherung, NJW 1994, S. 3185 ff, ders., Das neue Pflegeversicherungsrecht (1995), dort zu den Abgeordneten S. 44 f.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
rungen nach sich zog38, die eine weitgehende Sicherung der Bevölkerung und eine Beteiligung an den Kosten der Pflege sicherstellen sollte. Von einer erweiterten Versicherungspflicht abgesehen, die nun auch die Abgeordneten mit umfaßt, bildet die Pflegeversicherung weithin die Struktur der Krankenversicherung ab. So sind auch hier Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die gesetzliche Versicherung, Beamtinnen und Beamte durch die Beihilfe und Selbständige durch die private Versicherung gesichert. Durch das Pflegeversicherungsgesetz wurde für Bundestags- und Europaabgeordnete und ehemalige Abgeordnete und ihre Hinterbliebenen, die eine Versorgung aufgrund des Mandats erhalten39, die Berechtigung zum Bezug von Beihilfe zu den Pflegekosten in entsprechender Anwendung des Rechts der Bundesbeamtenschaft festgeschrieben4 . Alternativ zum Bezug von Beihilfe können die Abgeordneten einen Zuschuß zu einem aus eigenen Mitteln geleisteten Pflegeversicherungs beitrag, höchstens die Hälfte des Höchstbeitrages der sozialen Pflegeversicherung, erhalten41. Die Abgeordneten unterliegen damit im Regelfall der Versicherungspflicht42 . Sie und die Versorgungsempfangenden nach den Abgeordnetengesetzen sind aber noch einmal eigenständig verpflichtet, gegenüber dem Parlamentspräsidium nachzuweisen, daß sie sich gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit versichert haben43. Das Pflegeversicherungsgesetz sah eine sogenannte Kompensation des Arbeitgeberanteils vor, die von den Ländern mit Ausnahme Sachsens durch die Streichung des Buß- und Bettages als gesetzlicher Feiertag, in Sachsen durch die alleinige Beitragsleistung der Arbeitnehmer umgesetzt wurde. Mit dem Pflegeversicherungs~esetz wurden die Entschädigungen der Bundestags- und Europaabgeordneten 4 einschließlich der Funktionszulagen45 um ein Dreihundertfünfundsechzigstel gekürzt46 . Dies betrifft auch die Versorgungsempfangenden, da sich die Versorgungsleistungen an der aktuellen Entschädigung orientieren. 38 Für die Abgeordneten insbesondere Art. 17d PflegeVG; vgl. BTDrucks. 12/5920, Entwurf des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. 39 Übergangsgeld, Altersversorgung, Invaliditätsversorgung und Hinterbliebenenversorgung nach dem Fünften Abschnitt des Abgeordnetengesetzes (§§ 18-26 AbgG). 40 § 27 Abs. 1 S. 1 AbgG. 41 § 27 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 AbgG. 42 § 23 Abs. 1 oder 3 SGB XI oder § 20 Abs. 3 SGB XI. 43 § 24 SGB XI. 44 Nach § 11 Abs. I AbgG, § 9 EuAbgG. 45 Für Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundestages nach § 10 Abs. 2 AbgG. 46 § 11 Abs. 3 S. 1 und 2 AbgG, § 9 S. 2 EuAbgG.
11. Krankheit und Pflegebedürftigkeit
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Für das Inkrafttreten der zweiten Stufe des Pflegeversicherungsgesetzes (Leistungen bei stationärer Pflegebedürftigkeit) war eine weitere sogenannte Kompensation vorgesehen, falls der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dies für notwendig erachtet und die Bundesregierung durch Rechtsverordnung feststellt hätte, daß die Aufhebung eines weiteren Feiertags notwendig set 7 • Im Abgeordnetengesetz war bereits eine weitere Kürzung um ein Dreihundertfünfundsechzigstel für diesen Fall vorgesehen48. Entsprechende Kürzungen wurden teilweise bei den Abgeordnetenentschädigungen der Landtagsabgeordneten vorgenommen 49. Dies war konsequent, wenn die Abgeordnetenentschädigung nicht für eine Arbeitsleistung, sondern für das Ausfüllen des Status und zur Sicherung der Unabhängigkeit gewährt wird und somit die gewollte Verknüpfung von Pflegeversicherung und Kostenersparnis des Arbeitgebers oder Dienstherrn oder Besoldungsgeber durch die Streichung des Feiertags nicht erreicht worden wäre (zumal diese die Arbeitsbelastung der Abgeordneten kaum beeinflussen wird). Für die Abgeordneten der Landtage gelten inhaltlich entsprechende Normen in den Landesabgeordnetengesetzen, die auf die Beihilfe der Landesbeamten verweisen oder einen Zuschuß zu den Pflegeversicherungsbeiträgen gewähren 50 • In einigen Bundesländern ist die Möglichkeit vorgesehen, daß Landtagsabgeordnete keine Ansprüche haben, weil sie bereits über ein weiterbestehendes Arbeitsverhältnis kranken- und pflegeversichert sind 51 • Diese Abgeordneten sind dann von der Kürzung der Entschädigung ausgenommen 52 , da sie als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Landwirtinnen und Landwirte bereits von der Streichung eines Feiertages betroffen sind53 •
5. Entgeltfortzahlung und Krankengeld Die Zahlung der monatlichen Entschädigung ist nicht an eine bestimmte Arbeitsleistung gebunden. Sie wird daher auch ohne weitere Regelung für Zeiten vorgenommen, in denen Abgeordnete durch Krankheit arbeitsunfähig sind. Eine Kürzung ist allerdings bei der Kostenpauschale vorgesehen 54 , was aufgrund geringerer realer Kosten bei Abwesenheit an Sitzungstagen folgerichtig ist. Der Fall einer grundsätzlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Mandatsaus47 Art. 69 PflegeVG; zur Kritik an diesem Verfahren: Wilhelm Opjermann, Der Sachverständigenrat als Gesetzgeber?, ZG 1995, S. 16 ff. 48 § 11 Abs. 3 S. 3 und 4 AbgG. 8 So in § 7 MVAbgG nach 4. AndG v. 20.12.1994; § 6 Abs. 3 SHAbgG 50 Vgl. FN 13. 51 Z.B. § 25 Abs. 2 SHAbgG. 52 § 6 Abs. 3 S. 3 SHAbgG. 53 LT-Drucks. 13/2330, S. 7. 54 § 14 Abs. I S.4 AbgG: 30 DM pro Tag von Abwesenheit durch Krankheit.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
übung durch Krankheit ist rechtlich nicht geregelt. Solche Fälle werden durch den Druck reguliert, den die Partei auf die von ihr gestellten Abgeordneten faktisch ausüben kann. Eine Regelung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist für Abgeordnete daher nicht erforderlich. Im Rahmen der Debatte über die Einschränkung der Entgeltfortzahlung bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wurde lediglich der Vorschlag gemacht, die Kürzung der Aufwandsentschädigung für die Bundestagsabgeordneten bei Krankheit derjenigen bei unentschuldigtem Fehlen anzugleichen 55 • Dieser Vorschlag wurde nicht realisiert. 6. Vergleich Der Zugang der Abgeordneten zu mindestens einem Sicherungssystem meist die Wahl zwischen Beihilfe und Beitragszuschuß ~ verwirklicht das notwendige Maß an Sicherung gegen die Kosten von Krankheit, Krankheitsvorsorge, Mutterschaft und Pflegebedüftigkeit. Durch die Wahlfreiheit zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Beihilfe können die meisten Abgeordneten das für sie günstigere System aussuchen. Sie haben insofern einen Vorteil gegenüber den auf ein bestimmtes System festgelegten Status gruppen. Diese Bevorzugung ist sachlich dadurch begründet, daß Abgeordnete vor ihrer Mandatszeit einer der drei Gruppen - gesetzlich versichert, privat versichert, beihilfeberechtigt - angehörten und nun zur Vermeidung von Nachteilen die Möglichkeit haben sollten, bei der gewählten und voraussichtlich bei Berufsrückkehr auch zukünftigen Art der Sicherung zu bleiben56 • Gegenüber den Selbständigen, die sich privat versichern, sind Abgeordnete insofern im Vorteil, als sie überhaupt einen Zugang zu einem solidarischen Sicherungssystem haben. Dies ist dadurch zu begründen, daß die Möglichkeit, hohes Einkommens zu erzielen, wie sie bei Selbständigen vorliegt, durch die zeitliche Belastung aufgrund des Mandats regelmäßig gemindert ist. Nach der 1996 vorgenommenen Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes sind Abgeordnete besser gestellt als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nun gesetzlich keinen Anspruch mehr auf die Bezahlung ihres Entgelts am ersten Krankheitstag haben. Begründung für die Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes waren die Entlastung der Arbeitgeber und die Verhinderung von nur fälschlich als krankheitsbedingt bezeichneten Abwesenheiten. Diese Gründe ließen sich auch für die Abgeordneten anführen, zumal die Bundestagsmehrheit - wenn auch bislang vergeblich - versucht hat, eine entsprechende Regelung auch für Beamtinnen und Beamte durchzusetzen. 55 Kürzung um 90 DM pro Tag; FDP-Fraktionsvorsitzender Hermann Otto Solms nach o.V., Diätenerhöhung soll überprüft werden, SZ, 22.5.1996. 56 Vgl. Abg. Spitzmüller (POP), VII. WP. 259. Sitz., S. 18572.
11. Krankheit und Pflegebedürftigkeit
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7. Kritik und Reformvorschläge Die Sicherung der Abgeordneten gegen Krankheits-, Mutterschafts- und Pflegekosten ist weitgehend in das aIlgemeine System der sozialen Sicherung eingepaßt. Reformbedarf wird daher weithin nicht gesehen 57. Kritik am System der Beihilfe richtet sich gegen dieses beamtenrechtliche Institut insgesame 8 • Teilweise wird empfohlen, die Beihilfe strikt auf vorherige Beamtinnen und Beamte zu beschränken59 • Die niedersächsische Besonderheit, den Beitragszuschuß pauschaliert am Beihilfeaufwand auszurichten, ist von der dortigen Kommission kritisiert und eine Anpassung an die Regelungen der übrigen Län60 der empfohlen worden . Kritik an der Regelung zur Pflegeabsicherung äußerte die Diäten-Kommission des Schleswig-Holsteinischen Landtages, die in der Beihilfeberechtigung insbesondere der Versorgungsempfangenden ein zu hohes Risiko sah, da die Versorgungsberechtigung bereits nach achtjähriger Zugehörigkeit zum Landtag erworben wird. Sie schlug daher vor, nur einen Zu schuß zum aus eigenen Mitteln geleisteten Beitrag zu gewähren61 • Dem folgten die Landtagspräsidentin und der Landtag nicht, da sie hierin eine Durchbrechung des Grundsatzes sahen, wonach die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folgt62 , das Vertrauen der bisher teilweise leistungsberechtigten Abgeordneten schützen woIlten und Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden woIlten 63. Eine allein auf ein System ausgerichtete Lösung - wie in einigen Ländern ist sicherlich noch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Entschädigungsgebotes und des Gleichheitssatzes vereinbar, da lediglich UmsteIlungsprobleme beim Wechsel von einem System ins andere zu besorgen sind, nicht jedoch Lücken im Schutz. Dagegen steht die einfachere Handhabung, die durch ein einheitliches System ermöglicht wird. Da im übrigen das Beihilfesystem der Beamtenschaft auf einen im Lebensalter frühen Einstieg - auch in die private Krankenversicherung - gegründet ist, erscheint die Entscheidung für den Beitragszuschuß dann zweckmäßiger, wenn auf die Wahlmöglichkeit verzichtet wird.
BT-Drucks. 1117398, S. 12; BT-Drucks. 12/5020, S. 25. Vgl. Abg. lahn (SPD), VII. WPJ 259. Sitz., S. 18577; Abg. Engelhard (FDP) , VII. WP/ 259. Sitz., S.18580. 59 BW Kommission, LT-Drucks. 1112426, S. 14. 60 Nds Kommission, LT -Drucks. 12/3640, S 13. 61 LT-Drucks. 1312330, S. 30. 62 Vgl. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB Xl. 63 LT-Drucks. 1312330, S. 6. 57 58
Irr. Abgeordnete mit Behinderungen Die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ist eine sozialstaatliche Aufgabe, deren sozialrechtliche Kodifikation noch unzureichend ist. So sind Hilfen des Staates und der Sozialversicherungsträger im Schwerbehindertengesetz, im Recht der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie in landesrechtlichen Normen, etwa der Blindengeldgesetze, zu finden. Verfassungsrechtlich wird das Recht der Menschen mit Behinderungen überformt durch das 1994 neu eingefügte Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Gd. Menschen mit Behinderungen beteiligen sich am öffentlichen und politischen Leben. Die Schwierigkeiten, die sie bei der Sicherung ihres Lebensunterhalts und bei alltäglichen Verrichtungen angesichts einer an einer anderen Normalität ausgerichteten Lebenswirklichkeit haben, schlagen sich auch als Zugangsschwelle bei Bewerbung um und Ausübung von Abgeordnetenmandaten nieder. 1. Regelungen der Abgeordnetengesetze Im Abgeordnetengesetz von Sachsen-Anhalt ist geregele: "Für Abgeordnete, die auf Grund ihrer Behinderung nur unter besonderen Bedingungen das Mandat wahrnehmen können, trifft der Präsident im Einvernehmen mit dem Ältestenrat besondere Regelungen insbesondere für die Erstattung der zum Beispiel durch Begleitpersonen verursachten Kosten. " In den übrigen Abgeordnetengesetzen sind keine besonderen Unterstützungen für Abgeordnete mit Behinderungen vorgesehen. In verschiedenen Einzelfällen wurden Lösungen durch Einstellung besonderer Beträge im Haushalt gefunden. So wurden beispielsweise in Hessen die Kosten für eine zusätzliche Hilfsperson für eine blinde Abgeordnete übernommen 3 und in Thüringen einem stark sehbehinderten Abgeordneten ein Datenverarbeitungsgerät zur Verfügung gestellt Als gesetzliche Grundlage hierfür kommen die in verschiedenen Abgeordnetengesetzen enthaltenen Normen zur Hilfe in besonderen Fällen für Abgeordnete
Vgl. B.VIII. § 13 LSAAbgG.
Lt. Auskunft der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag vom 12.1.1 995. Lt. Auskunft der Landtagsverwaltung vom 21.3.1995.
III. Abgeordnete mit Behinderungen
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und ehemalige Abgeordnete in Betrache. Diese erscheinen aber für diesen Zweck als wenig geeignet, da sie nach Text und Entstehungsgeschichte auf einmalige Hilfe in besonderen Notlagen und nicht auf den dauernden Ausgleich struktureller Benachteiligungen gerichtet sind. 2. Regelungen anderer Gesetze Verschiedene bundes- und landesgesetzliche Normen regeln besondere Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Dazu gehören Regelungen des SGB XI und des BSHG6 , die für Menschen mit schweren Behinderungen die Sicherung des Lebensunterhalts, von Betreuung und Assistenz regeln. Aus dem Landesrecht sind hier insbesondere die Blindengeldgesetze zu nennen. Diese Gesetze geiten grundsätzlich auch für Menschen mit Behinderungen, die ein Abgeordnetenmandat haben. Durch den Subsidiaritätsgrundsatz im BSHG7 und SGB XI ist aber kaum zu erwarten, daß diese Sozialleistungen für Abgeordnete in Betracht kommen. Dies könnte höchstens dann geschehen, wenn die Kosten der Lebensführung beispielsweise für einen schwerbehinderten Abgeordneten so hoch liegen würden, daß der Betrag der Entschädigung überstiegen würde. Ein Anspruch aus der EingIiederungshilfe8 könnte dann in Betracht kommen, um behinderten Abgeordneten Lebens- und Amtsführung zu ermöglichen. Da diese dennoch zunächst einen hohen Teil sowohl der Entschädigung wie auch der Kostenpauschale behinderungsbedingt aufwenden müßten, blieben sie gegenüber Abgeordneten ohne Behinderungen benachteiligt.
3. Refonnvorschläge Die Vertretung von Menschen mit Behinderungen in den Parlamenten ist durch den Verzicht auf kompensatorische Ansprüche im Recht der Entschädigung und der Aufwandsentschädigung gefährdet. Bei der heutigen Rechtslage ist es wahrscheinlich, daß Menschen mit Behinderungen, die einen Assistenzbedarf oder teure Hilfsmittel zur Mandatsausübung benötigen, bei dieser benachteiligt sind. Möglicherweise verzichten sie deshalb bereits auf die Wahlbewerbung.
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§ 13 Abs. 4 !'IdsAbgG; Lt. Auskunft der Niedersächsischen Landtagsverwaltung vom 13.1.1995. AhnIich: § 20 BWAbgG; Art. 21 BayAbgG; § 20 BeriLAbgG; § 20 BrbAbgG; § 21 BremAbgG; § 17 HessAbgG; § 26 MV AbgG, LSA, SH; § 21 NW AbgG; § 20 RhPfAbgG; § 18 SLAbgG (durch eine Hilfskasse); § 22 SächsAbgG; § 20 ThürAbgG. 6 §§ 39-47 BSHG (Eingliederungshilfe für Behinderte); § 67 BSHG (Blindenhilfe) und §§ 68-71 BSHG (Hilfe zur Pflege). 7 § 2 Abs. 1 BSHG. 8 Nach den §§ 39 Abs. 3, 40 Abs. I Nr. 4 und 8 BSHG. 15 Wclli
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Wegen der möglichen Vielfalt der Sachverhalte empfiehlt sich die Aufnahme einer generellen Norm etwa nach dem Vorbild Sachsen-Anhalts in die Abgeordnetengesetze, die für Menschen mit Behinderungen die Erstattung der gesamten Mehrkosten vorsieht, die für die Mandatsausübung behinderungsbedingt entstehen. Die Übernahme von Kosten im Einzelfall durch Haushaltstitel ist zwar eine Hilfe im konkreten Fall, kann aber einen generellen und in den Folgen vorhersehbaren Rechtsanspruch nicht ersetzen.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen Das Risiko der Erwerbs- und Einkommenslosigkeit betrifft in einer von der marktförmigen Verwertung von Arbeitskraft geprägten Gesellschaft fast alle Bevölkerungsschichten. Zu seiner Absicherung sind mit dem gesetzlichen Kündigungsschutz im Arbeitsrecht l und mit der solidarischen Arbeitslosenversicherung2 sowie dem Prinzip der Beschäftigung bis zum Erreichen der Pensionsgrenze bei Beamtinnen und Beamten3 Instrumente gesetzlich garantierter Regulierungen eingeführt worden, deren Ausgangspunkt das einmal innegehabte Arbeitsverhältnis ist. Diese Sicherungsformen sind - von privaten Ersparnissen abgesehen - die einzigen möglichen Instrumente der breiten Bevölkerungsmehrheit gegen Erwerbslosigkeit. Dazu kommen die staatlich finanzierten Sicherungssysteme der Arbeitslosenhilfe4 und Sozialhilfe. Zentrale Bestandteile der Systeme der sozialen Sicherung gegen andere Risiken sind an die Erwerbsarbeit geknüpft: die Alterssicherung durch Rentenversicherung5 , Beamtenruhegehälter6 und betriebliche sowie berufs ständische Altersversorgung, die Sicherung ge en Krankheits- und Pflegekosten durch die gesetzliche Krankenversicherung und soziale Pflegeversicherung8 , die Sicherung gegen Arbeitsunfa1l9 und die Arbeitsförderung. Die Sicherung und rechtliche Einordnung der Erwerbsarbeit hat daher eine zentrale Bedeutung im gesamten System der sozialen Sicherung.
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Der Schutz des Einkommens und damit der Quelle des Lebensunterhalts für den Betroffenen und für diejenigen, denen er Unterhalt schuldee o, ist der wichtigste Zweck rechtlicher Regelungen, die vor Arbeitslosigkeit schützen sollen. KSchG; §§ 620 ff. BGB. AFG, insbes. §§ 100-133 (§§ 116-152 SGB IlI). § 3 Abs. 1 S. 2 BRRG. Das Lebenszeitprinzip wird auf Art. 33 Abs. 5 GG gestützt, vgl. BVerfGE 44,249, Art. 129 Abs. 1 S. 1 WRV. 4 §§ 134-141 AFG (§§ 190-202 SGB II1). 5 SGB VI. 6 § 4-15 G. über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern (BeamtVG) i.d.F.d.B.v. 16.12.1994 (BGBI. I S. 3858). 7 SGB V. SGB XI. SGB VII. 10 §§ 1601-1625 BGB. IS'
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Diese Normen können unterschieden werden in vier Gruppen: Kündigungsschutznormen, die vor dem Verlust eines Arbeitsverhältnisses unmittelbar schützen, Normen der Arbeitsförderung, die dem Entstehen von Kündigungsgründen vorbeugen sollen, insbesondere die Förderung der Fortbildung, Nonnen der Arbeitsförderung, die nach Eintreten der Arbeitslosigkeit die Wiedererlangung eines Arbeitsverhältnisses fördern sollen (Umschulung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Entgeltkostenzuschüsse) und schließlich Regelungen zum Einkommensersatz bei Eintreten von Arbeitslosigkeit, also arbeitsrechtlich die individuelle Abfindung ll und der Sozialplan l2 , sozialrechtIich das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe, das Unterhaltsgeld l3 und die Sozialhilfe. Die sozialen Risiken der Einkommens- und Erwerbslosigkeit bestehen auch für Abgeordnete und ehemalige Abgeordnete. Ihre Sicherung und deren Übereinstimmung mit den allgemeinen Schutzbedürfnissen und Schutzstandards sowie den spezifischen Bedürfnissen, die sich aus der oben untersuchten verfassungsrechtlichen Stellung der Abgeordneten ergeben, sollen hier untersucht werden. Das Abgeordnetenmandat ist auf vier oder fünf Jahre begrenzt. Die Zeit seiner Ausübung ist - wie oben gezeigt - bei den meisten Abgeordneten ein Lebensabschnitt innerhalb einer beruflichen Biographie, dem Zeiten vorausgehen oder nachfolgen, in denen sie anderweitig erwerbstätig sind. Eine gleichzeitig ausgeübte anderweitige Erwerbstätigkeit ist möglich. Auch häufige Wiederwahl und die Entwicklung eines Teils der Abgeordneten zu Berufspolitikerinnen und -politikern, die eine langjährige Tätigkeit als Abgeordnete anstreben und teilweise auch erreichen, ändern nichts an den nonnativen Vorgaben, die das Mandat befristen und seine Erlangung für möglichst viele offen gestalten sollen. Abgeordnete üben ihr Mandat für einige Jahre als Unterbrechung des Berufslebens aus und scheiden vor Erreichen eines zum Bezug von Leistungen wegen Alters berechtigendem Lebensalters wieder aus. Sie haben ein Risiko der Erwerbs- und Einkommenslosigkeit nach ihrer Mandatszeit. Aus der Befristung des Mandats und seiner Eigenheit als mögliche Unterbrechung oder Erschwerung anderweitiger Erwerbstätigkeit ergeben sich spezifische Bedingungen und Schutzbedürfnisse. Die Vereinbarkeit von Beruf und Mandat ist für viele derjenigen, die ihren Beruf - möglicherweise teilzeitig weiterführen wollen, schwierig. Die Dequalifikation - also der Verlust und die Entwertung beruflicher Kenntnisse - ist ein Problem, das sich nach einer oder mehreren Wahlperioden stelle 4 • Kündigungsschutz und die monetäre Absiche11 12 13
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Vgl. §§ 9-10 KSchG. Vgl. §§ 112, 112aBetrVG. §§ 44-46 AFG (§§ 153-159 SGB III). Apel, Deformierte Demokratie, S. 266.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
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rung der verbleibenden Risiken sind zu besorgen. Dieser Problembereich wächst an mit der Erosion eines bei vielen ähnlichen Normalarbeitsverhältnisses, mit zunehmender Flexibilisierung und temporärer Ausdehnung von Arbeitszeiten 15, mit dem Verlust kollektiver Freizeiten l6 , die für politische Betätigung zur Verfügung stehen und mit dem Druck innerhalb der Arbeitswelt aufgrund anhaltender Arbeitslosigkeit l7 • Fehlende Sicherung gegen das Risiko von Erwerbslosigkeit und Qualifikationsverlust nach der Mandatsausübung kann zu einer Vorauswahl möglicher Mandatsbewerberinnen und Mandatsbewerber und damit zu einer Ungleichheit von Chancen im politischen Wettbewerb führen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf politikferne Berufe, bei denen dem Risiko des Arbeitsplatzverlustes und der Dequalifikation keine Chancen für neue Kontakte und Qualifikationen gegenüberstehen, wie auch für Bewerberinnen und Bewerber, die aufgrund ihres Berufs oder ihrer durch das Mandat öffentlich exponierten politischen Anschauungen geradezu damit rechnen müssen, nach ihrer Mandatszeit verschlechterte Arbeitsmarktchancen zu haben l8 • Zugleich geht es darum, in der repräsentativen Demokratie den wirtschaftlich Abhängigen eine Repräsentationsmöglichkeit durch Abgeordnete zu schaffen, die der gleichen Schicht und sozialen Lebenswelt entstammen 19. Fehlende Sicherung gegen Dequalifikation führt zu einem starken persönlichen Interesse der Abgeordneten an einer fortgesetzten langjährigen Mandatsausübung, das der Offenheit der demokratischen Repräsentation entgegenwirken und die Verfestigung einer "politischen Klasse" fördern kann 20 • Die Ausgestaltung der Sicherungsinstrumente ist damit auch relevant für die Frage, ob und wieweit der Wechsel in den Abgeordnetenmandaten gefördert oder behindert wird; eine Behinderung des Wechsels wäre mit dem Offenheitsgebot nicht vereinb3}", eine Förderung des Wechsels ist statthaft, darf aber die Amtsinhaber nicht diskriminierend benachteiligen. Vgl. das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6.6.1994 (BGBI. I, S. 1170). Durch zunehmende Abend- und Nachtarbeit sowie Wochenendarbeit, vgl. §§ 6, 10 und 12 ArbZG und das veränderte LadenschlußG. 17 Benhabib, FR vom 12.10.1996: "Die zunehmende Beschleunigung des Ar1?eitstempos, die durch die neuen und globalen Umwandlungen in der Te~hnik und Okonomie befördert wird, hat tatsächlich dazu geführt, daß die Zit der Okonomie unsere Ökonomie der Zeit zunehmend kaputt macht. Die politische Sphäre leidet unter diesem Tempo der sich zunehmend beschleunigenden Arbeitswelt nicht weniger als die Familie und die Beziehungen in der privaten Intimsphäre. Wir brauchen deswegen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Beziehungen der Hauptinstitutionen unserer Gesellschaften zueinander neu regelt." 18 .• Medding, DOV 1991, S. 494 (499). 19 Plüm, S. 18. 20 Borchertl Goiseh, PVS 1995, S. 609 (621). Czepluch, S. 245. 15
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Es ist möglich, daß nach der vier- oder fünfjährigen Parlamentsperiode Abgeordnete von ihrer Partei oder Wählergruppe nicht wieder aufgestellt werden oder eine nicht mehr ausreichende Listenplazierung bekommen. Bei den Wahlen können sie abgewählt werden. Eine sowohl für den Bundestag wie auch für zahlreiche Landtage diskutierte oder schon beschlossene oder durchgeführte Verkleinerung der Parlamente21 führt vorübergehend dazu, daß mehr Abgeordnete nach einer oder wenigen Wahlperioden ausscheiden. Ähnliches gälte für in der Diskussion befindliche Ländemeugliederungen durch Fusionen22 • Auch kann sich aus inhaltlichen Gründen in der Parlamentsarbeit oder mit der Aufstellung eines neuen Programms ergeben, daß Abgeordnete eine weitere Parlamentstätigkeit von sich aus nicht mehr ausüben möchten. Ebenfalls kommt es vor, daß die Parlamentsarbeit für Abgeordnete zu arbeitsaufwendig und streßbeladen wird oder sie erkennen, daß ihnen diese Art der politischen Betätigung nicht liegt23 • Um die Stärken des parlamentarischen Systems als Methode der Auswahl und der Bestimmung gesetzgebender Körperschaften entfalten zu können, muß es Abgeordneten möglich sein, auch bei Vorliegen von Gründen, aus denen sie aus dem Parlament ausscheiden wollen, diesen Entschluß umzusetzen. Freiheit und Unabhängigkeit der Mandatsausübung können nicht nur durch materielle Abhängigkeiten während der Mandatszeit in Frage gestellt werden, sondern auch durch eine ungenügende Sicherung der Zeit nach dem Mandat, welche die Abgeordneten dazu bringen könnte, Art und Schwerpunkte der Mandatsausübung auf die Interessen möglicher späterer Arbeitgeber oder Erwerbsquellen auszurichten 24 oder ihre Mandatsausübung gegen ihre Überzeugung allein an der Wiederaufstellung und Wiederwahl zu orientieren2l •
21 Für den Bundestag zustimmend: Friedrich Karl Fromme, Nicht nur ums Geld, FAZ vom 10.10.1995; Rita Süssmuth, Das Parlament Nr. 3-411995; Skeptisch: Lolhöffel, FR vom 14.6.1995 und ders., FR vom 7.6.1996; P. Schmitt, Fährt der Zug in die falsche Richtung?, Das Parlament vom 31.5.1996; Burkhard Hirsch, SZ vom 20.9.1995; Kritisch zur niedersächsischen Diskussion und allgemein: Eckart Spoo, Je weniger, desto besser?, FR vom 22.11.1995. Ablehnend wegen der Erschwerung der Wahlkreisarbeit: Patzelt, Beruf, S. 462 (474); Zu den sozialen Folgen in Sachsen: Marcel Braumann, Ex-Parlamentarier: Wir wollen nicht abseits stehen, ND vom 5.12.1994. 22 Nach der gescheiterten Fusion von Berlin und Brandenburg in erster Linie Hamburg und Schleswig-Holstein, vgl. z.B. Henning Voscherau (Interview), HA vom 27.2.1996, S. 19. Zum Verfahren: Art. 29 GG. 23 Nach einer Befragung geben aktuell 7% der Abgeordneten an, ihre Arbeit "liege ihnen doch nicht so richtig", nach Patzelt, ZParl 1996, S. 462 (467). 24 Trute in von Münch, GG, RN 20 zu Art. 48. 2l Lattmann, Einsamkeit, S. 28.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
231
Zu vergleichen sind die Regelungen mit den relevanten Sicherungssystemen der im Arbeitsverhältnis Beschäftigten, der Beamten und Beamtinnen und der Selbständigen. Zugleich sind bei der Suche nach sach- und systemgerechten Lösungen für die speziellen Sicherungsprobleme der Abgeordneten andere Normen in die Betrachtung einzubeziehen, die vergleichbare spezifische Sachverhalte regeln. Es gibt Tätigkeiten, bei denen ebenfalls ein Konflikt zwischen Beruf und Arbeitsverhältnis und einer anderen Beschäftigung auftritt, der die Ausübung des Berufs oder des Arbeitsverhältnisses erschwert. Dies sind die Tätigkeiten der Mitglieder von Betriebs- oder Personalräten26, von Schöffinnen und Schöffen21 und ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern 28, in den Gemeindeund Kreisvertretungen29 und der Dienst der Wehrpflichtigen oder Zivildienstleistenden 30 • Sowohl Abgeordnete als auch die Mitglieder von Stadt-, Gemeindeoder Kreisvertretungen oder von Betriebs- und Personalräten werden in einer freien und geheimen Wahl gewählt, die vom Gesetzgeber geschützt ist und für die Funktionsfähigkeit des jeweiligen Gremiums von Bedeutung ist. Beim Betriebsrat ist es notwendig, bei kommunalen Vertretungen ist es möglich, daß Kandidatur und Wahlamt mit einem fortdauernden Arbeitsverhältnis zusammentreffen. Dies kann in beiden Fällen zu Konflikten führen, weil Arbeitgeber mit Wahl und Mandatsausübung nicht einverstanden sein und ihre Einflußmöglichkeiten im Arbeitsverhältnis nutzen könnten, um die Kandidatur, Mandatsannahme oder -ausübung zu verhindern oder zu beeinflussen. Auch die Schöffinnen und Schöffen der Gerichte in Strafsachen und der Zivilgerichte und die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter der Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichte erfüllen eine Aufgabe im Rahmen der arbeitsteiligen Leitung der Gesellschaft. Sie werden gewählt oder bestimme 2 • Für die Dauer ihres Amtes können Konflikte mit einer gleichzeitig ausgeübten beruflichen Tätigkeit auftreten. Betriebs- und Personalratsmitglieder werden für vier Jahre gewähle J , wobei eine Wiederwahl möglich ist. Die Zeit, in der Beruf und Wahlamt nebeneinan26 §§ 7-25 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vom 15.1.1972 (BGBI. I S. 13) und Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG) vom 15.3.1974 (BGBI. I S. 693) sowie die Personalvertretungsgesetze der Länder. 21 §§ 28-41 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) i.d.F.d.B.v. 9.5.1975 (BGBI. I S. 1077). 28 §§ 19-34 VwGO; § 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Ld.F.d.B.v. 23.9.1975 (BGBI. I S. 2535); §§ 20-31 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) vom 3.9.1953 (BGBI. I, S. 1267). 29 Geregelt nach den Gemeinde- und Kreisordnungen der Länder; vgI. hier z.B. § 24a GO SH. JO Art. 12a Abs. 1 und Abs.2 S. 1 GG; Wehrpflichtgesetz (WPtlG) Ld.F.d.B.v. 14.7.1994 (BGBI. I S. 1505) JI Vgl. § 14 Abs. 1 BetrVG. 32 Nach Gesetzen der Länder. 33 § 21 S. 1 BetrVG; § 26 S. 1 PersVG.
232
C. Regelungen und Reformvorschläge
der stehen, ist vergleichbar lang. Dies gilt auch bei den Kommunalvertretungen und Gerichten, deren Wahlperiode vier oder fünf Jahre beträgt. Oft ist es so, daß der oder die Gewählte die arbeitsvertraglichen Pflichten nicht mehr voll erfüllen kann, weil das Wahlamt zu einer zeitlichen Inanspruchnahme führt, die in der Arbeitszeit stattfindet. Ein Unterschied im Verhältnis der Amtsausübung zum Arbeitsplatz liegt darin, daß das Amt des Betriebsrates und Personalrates betriebsbezogen ist, während Abgeordnete die betriebliche Sphäre zur Mandatsausübung verlassen. hn Falle des Betriebsrats ergibt sich der Konflikt bereits aus den Aufgaben seines Gremiums, beim Abgeordneten sind sehr unterschiedliche Interessenlagen möglich. Weiterhin hat der Betriebsrat ein genauer eingegrenztes Aufgabenfeld als das Parlament. Die zeitliche Belastung des Betriebsratsmitglieds kann zwar ebenfalls hoch sein, sie ist aber besser abzuschätzen als diejenige von Abgeordneten. Anders liegt die Problematik bei Wehr- und Zivildienstleistenden. Diese erfüllen keine politisch-repräsentative Aufgabe. Sie kommen aber befristet einer Aufgabe nach, deren Legitimitation in ihrem Nutzen für den Staat und die Allgemeinheit begründet wird. Sie geraten dadurch in einen Konflikt, weil sie gleichzeitig ihren Beruf oder ihre Ausbildung nicht fortsetzen können und kein Einkommen erzielen. Hierfür wurden gesetzliche Regeln geschaffen 34. Mit in die Betrachtung einzubeziehen ist neben der sozialrechtIichen Sicherung bei Eintritt von Arbeits- und Erwerbslosigkeit auch die im Arbeitsrecht individual- oder tarifvertraglich oder gesetzlich verankerte Abfindung35 • Auch in anderen Bereichen des Erwerbslebens gibt es den politischen Mandaten und Berufen vergleichbare Positionen, bei denen ein regelmäßiger Wechsel aufgrund hoher persönlicher Verantwortung und Präge wirkung für die ausgeübte Position häufiger ist und sein soll als in anderen Bereichen. Hier ist an leitende Angestellte und Management, künstlerische Leitung und Intendanz, Kunst und Sport zu denken. In stärkerem Maße als bei anderen abhängig Beschäftigten besteht hier Wahrscheinlichkeit und Risiko eines raschen Wechsels. Hier wird vom Instrument der Abfindung in besonderem Maße Gebrauch gemacht.
34
G. über den Schutz des Arbeitsplatzes bei Einberufung zum Wehrdienst (Arbeitsplatzschutzgesetz - ArbPISchG) i.d.F.v. 14.4.1980 (BGB!. I S. 425) und das G. zur Sicherung des Unterhalts der zum Wehrdienst einberufenen Wehrpflichtigen und ihrer Angehörigen (Unterhaltssicherungsgesetz - USG) vom 26.7.1957 (BGB!. I S. 1046) i.d.F.d.B.v. 14.12.1987 (BGB!. I S. 2614). 35 §§ 9-11 KSchG, 112, 112a BetrVG; vg!. Schaub, § 141.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
233
1. Vereinbarkeit von Mandat und Beruf
Die Vereinbarkeit von Mandat und Beruf ist geeignet, den Schutz der Abgeordneten vor einem Verlust ihrer erlernten und im Beruf praktizierten Fähigkeiten zu schützen. Sie ist damit der effektivste Schutz vor Dequalifikation und Desintegration und sichert damit die Wirksamkeit der Zwecke des Kündigungsschutzes und die Abgeordneten vor dem Verlust ihrer beruflichen Einkommensbasis 36 • Die normative Grundlage für eine Vereinbarkeit von Mandat und Beruf findet sich nicht nur im Prinzip der freien Mandatsausübung. Sie wurzelt auch im allgemeinen Behinderungsverbot und dem Kündigungs- und Entlassungsverbot. Deren geschriebenem Normgehalt ist nämlich vorausgesetzt, daß die freie Mandatsausübung durch Beruf und Amt sowenig wie möglich beeinträchtigt werden soll und daß die Abgeordneten die Möglichkeit haben sollen, ihrem Beruf weiter nachzugehen. Das Entschädigungsgebot bedeutet nicht, daß ein bestimmtes Leitbild der Mandatsausübung vorgeschrieben wird. Es spricht somit nicht gegen eine gleichzeitige Ausübung anderer Tätigkeiten, auch nicht bezahlter Berufstätigkeit. Es ist also bei der Prüfung der normativen Grundlagen für die Vereinbarkeit von Mandat und Beruf davon auszugehen, daß ein vor der Wahl innegehabtes Arbeitsverhältnis fortbesteht, soweit Abgeordnete dies wollen und daß Abgeordnete auch nicht gehindert sind, ein neues Arbeitsverhältnis zu begründen. Werden Mandat und Beruf nebeneinander ausgeübt, haben Abgeordnete ein Schutzbedürfnis gegen politisch und wirtschaftlich motivierte Kündigun-. gen aufgrund der Mandatsausübung zu Beginn und während der Mandatszeit . Die gleichzeitige Berufs- und Mandatsausübung wird sowohl in unselbständiger wie auch in selbständiger Form vor dem Hintergrund möglicher Interessenkonflikte und Gefährdungen der Unabhängigkeit der Abgeordneten kritisiert. Mehrere Parlamente haben sich Verhaltensregeln gegeben, die durch Anzeigeund Offenlegungspflichten diesen Gefahren entgegensteuern sollen, indem mögliche Interessenkonflikte transparent gemacht werden. Die rechtliche Regelung der Vereinbarkeit von Mandat und Beruf muß den mit ihr verbundenen Gefährdungen der Freiheit und Unabhängigkeit Rechnung tragen. Hier besteht ein Spannungs verhältnis zwischen den Prinzipien der Freiheit der Mandatsausübung, der Unabhängigkeit der Abgeordneten,die sich durch eine Berufsausübung neben dem Mandat in freiwillige Abhängigkeiten begeben, und dem Grundsatz der Öffentlichkeit und Transparenz. Die Lösung dieses Spannungsverhältnisses wird noch zu untersuchen sein.
36
Czepluch, S. 244. Vgl. das Beispiel bei Klemens Kremer, Der Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin (1956), S. 68. 37
234
C. Regelungen und Reformvorschläge
Bei Berufen mit freier Arbeitszeiteinteilung ist eine gleichzeitige Berufs- und Mandatsausübung zumindest teilweise möglich. Dies können abhängige Beschäftigungen sein, bei denen Arbeitgeber ein Nebeneinander von Beruf und Mandat entweder aus politischen Gründen (bei Verbänden oder Gewerkschaften) oder wegen eines erhofften Gewinns an Kompetenz oder Kontakten (z.B. bei einem Forschungsinstitut oder einer Bildungseinrichtung) oder wegen eines möglichen Zuwachses an Renomme bewußt fördem 38 • Die Gleichzeitigkeit von Mandat und Beruf zu ermöglichen, sollte Aufgabe der sozialen Sicherungsinstrumente sein39 • Den empirischen Befunden nach ist eine teilzeitige Berufsausübung neben dem Mandat nur wenigen Berufsgruppen möglich, so daß die politische Forderung nach Abgeordneten, die dem Berufsleben verbunden bleiben, bestehende Chancenungleichheiten noch verschärfen kann40 • Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Politik stellt sich heute vielen politisch Aktiven, vor allem Mandatsträgem41. Ähnliche Aufgaben stellen sich für das Recht der sozialen Sicherung auch bei den oben erwähnten ehrenamtlichen Tätigkeiten, bei der Wohlfahrtspflege oder den Vereinen' 2 aber auch bei der Frage der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit43 • a) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Für die Prüfung der Vereinbarkeit von Mandat und Beruf wird zunächst die rechtliche Situation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer untersucht, die in ein Parlament gewählt wurden. Rechtliche Grundlagen für die Regelung der Vereinbarkeit von Mandat und Beruf sind unmittelbar im Verfassungsrecht, in den Abgeordnetengesetzen und im Arbeitsrecht zu suchen. Als Rechtsquelle kommt auch Art. 160 WRV in Betracht. aa) Fortgeltung von Art. 160 WRV? Eine mögliche Rechtsquelle für die Vereinbarkeit von Mandat und Beruf bei Abgeordneten ist Art. 160 der Weimarer Reichsverfassung44 • Götz Sadtler führt dazu aus, daß Art. 160 WRV als einfaches Recht fortgelte und damit eine zusätzliche Regelung des Verhältnisses von Abgeordnetenmandat und Arbeitsverhältnis im Recht der Bundesrepublik Deutschland darstelle. Sadtler vertritt die38
Willi Geiger, Diskussionsbeitrag in: Politik als Beruf? (1979), S. 125. Czepluch, S. 247. 40 Starke, S. 163. 41 Kaack, in Thaysen/ Davidsonl Livingston, S. 128 (131). 42 Vgl. dazu Gerhard [gi, Rechtsfragen des freiwilligen sozialen Engagements Rahmenbedingungen und Handlungsbedarf (1994). 43 Vgl. dazu die Gutachten von Maximilian Fuchs und Rolf Birk zum 60. Deutschen Juristentag (1994). 44 Vgl B.lII.l.b. 39
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
235
se Meinung im Schrifttum als einziger und beruft sich auf eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Düsseldort"5. Er verzichtet aber auf eine ausführliche Begründung46. Würde Art. 160 WRV weitergelten, wäre er eine grundlegende geschriebene Norm für die Vereinbarkeit von Mandat und Beruf, wie sie ansonsten im Abgeordneten- und Arbeitsrecht nicht z.u finden ist. Die Weimarer Reichsverfassung ist nie außer Kraft getreten. Fraglich ist aber, ob von ihrer Fortgeltung nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ausgegangen werden kann. Sadtler bejaht dies für alle Materien, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind aufgrund der Regelung, wonach Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestags fortgilt, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht47 • Ob diese Verfassungs norm auch auf Verfassungsrecht anwendbar ist oder ob das Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Ausschließlichkeit für Verfassungsnormen impliziert, ist strittig. Mehrheitlich wird die Position vertreten, sie sei von vornherein auf die Weimarer Reichsverfassung nicht anwendbar gewesen48. Dazu kommt, daß der Bundesgesetzgeber durch die Sammlung des Bundesrechts eine abgeschlossene Bereinigung vorgenommen hat49 , nach der nicht aufgenommenes Recht zum 31.12.1968 außer Kraft getreten iseo. Darüber hinaus läßt die oben referierte Entstehungsgeschichte des GG, in deren Verlauf ein mit Art. 160 WRV fast inhaltsgleicher Artikel nicht aufgenommen wurde, weil die Materie als einfachgesetzlich ausreichend geregelt angesehen wurde, nur den Schluß zu, daß der Verfassungsgeber nicht von einer Fortgeltung des Art. 160 WRV ausging. Art. 160 WRV hat heute keine Gültigkeit mehr. Die Norm kann aber wegen ihrer historischen Verbindung zur Entstehung des heutigen Rechts als Auslegungshilfe herangezogen werden. bb) Regelungen nach den Abgeordnetengesetzen Das Abgeordnetengesetz des Bundes und die Abgeordnetengesetze der Länder enthalten - mit den Ausnahmen Berlin, Hamburg und Sachsen - keine ausführlichen Regelungen zur Vereinbarkeit von Mandat und Beruf, sondern setzen eine mögliche Gleichzeitigkeit voraus. Die Normen zum Kündigungsschutz der Abgeordneten und zum Behinderungsverbot durch den Arbeitgeber helfen 45 LAG Düsseldorf, BB 1966, S. 288. Sadtler, S. 96: "Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, auf die spezielle Problematik weiter einzugehen." 47 Art. 123 Abs. 1 GG. 48 Jarass/ Pieroth RN 1 zu Art. 123 GG. 49 Im BGBl. III durch Rechtsbereinigungsgesetz vom 28.12.l968 (BGBl. I, 46
S. 1451).
50 Vgl. Bothe in AK-GG RN 3 zu Art. 123 GG.
236
C. Regelungen und Reformvorschläge
grundsätzlich, Vereinbarkeit zu ermöglichen. Sie konkretisieren die Vorgabe von Art. 48 Abs. 2 GG und den entsprechenden Normen der Landesverfassungen. Die vorherrschende enge Auslegung des verfassungsrechtlichen Behinderungsverbots strahlt aber auch auf die Auslegung der einfachgesetzlichen Normen aus. So erfaßt das Behinderungsverbot nach dem Abgeordnetengesetz das Verbot von Maßregelungen, Entgeltabzug und ähnlichen Maßnahmen aufgrund der Tätigkeit von Abgeordneten. Ein Anspruch auf Veränderung der arbeitsvertraglichen Bedingungen ist dagegen bislang nicht thematisiert worden. Ein Anspruch auf Arbeitsbefreiung für parlamentarische und außerparlamentarische Abgeordnetentätigkeit wurde zwar verschiedentlich anerkannt. Können Abgeordnete daher ihren arbeitsvertraglichen Pflichten - insbesondere der vollen Arbeitszeit- und Leistungspflicht - nicht nachkommen, so ist zwar eine Kündigung unzulässig, die Leistungspflichten werden aber regelmäßig gegenseitig als Ganzes aufgehoben und das Arbeitsverhältnis ruht52 • Hiergegen schützt das Kündigungsverbot alleine niehe 3 • Die Frage, ob das verfassungs- und einfachgesetzliche Behinderungsverbot in das Arbeitsverhältnis hinein wirken und dort die Leistungspflichten im Sinne eines Vereinbarkeitsgebots modifizieren, ist bislang wenig untersucht worden. Normen zur konkreten Regelung dieser Frage enthalten lediglich das Landesabgeordnetengesetz von Berlin: "Für die Dauer der Mandatszeit ist auf Antrag Teilzeitarbeit oder Sonderurlaub ohne Fortzahlung der Bezüge zu gewähren. Nach Beendigung der Mandatszeit muß ein gleichwertiger Arbeitsplatz zur Veifügung gestellt werden. Der Antrag auf Gewährung von Teilzeitarbeit oder Sonderurlaub unter Fortfall der Bezüge kann von dem Arbeitgeber nur abgelehnt werden, wenn zwingende betriebliche Belange der Gewährung entgegenstehen. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn ausgeschlossen erscheint, für die Ausfallzeit des Abgeordneten eine Teilzeitkraft oder eine Ersatzkraft einzustellen, und dem Arbeitgeber der Verzicht auf eine solche Aushilfskraft nicht zugemutet werden kann. ,,54, das sächsische Abgeordnetengesetz: "Das Arbeitsverhältnis eines Mitglieds des Landtags ruht. Auf Antrag des Mitglieds wird es bei Einverständnis des Arbeitgebers im Umfang der dem Mitglied unter Berücksichtigung des Mandats noch zur Veifügung stehenden Arbeitszeit weitergeführt. Der Arbeitgeber kann sein Einverständnis nur aus wichtigem Grunde versagen. Im Fall der Weiteiführung hat das Mandat Vorrang. Auf Antrag des Mitglieds, welcher auf das Ende jedes Kalendermonats zwei Monate im voraus gestellt werden kann, ruht das Arbeitsverhältnis neu5\
52 53 54
Geller/ Kleinrahm, Anm. 2 zu Art. 46; K. Müller, Ziff. 3 zu Art. 42 SächsVerf. § 323 Abs. 1 BGB; Dobberahn, NZA 1994, S. 396 (397). Reich, RN 3 zu Art. 41 LSA Verf. § 2 Abs. 4 BerlLAbgG
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
237
erlich,,55 und das Hamburgische Abgeordnetengesetz: "Soweit zur ordnungsgemäßen Durchführung der Aufgaben eines Mitglieds eine Arbeitsbefreiung eiforderlich ist, ist es in entsprechendem Umfang von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung befreit. Einer Zustimmung der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers zur Arbeitsbefreiung bedaif es nicht. Für die Dauer ihrer Mitgliedschaft können Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer (..) deren Arbeitsverhältnisse ihren Schwerpunkt in Hamburg haben, nach billigem Ermessen während der Mitgliedschaft die zeitliche Dauer ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit herabsetzen (Teilzeitarbeit). Die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer muß die betrieblichen Belange der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers berücksichtigen. Diese können berührt sein, wenn ausgeschlossen erscheint, für die Ausfallzeit einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers eine Teilzeitkraft oder eine Ersatzkraft einzustellen, und der Arbeitgeberin oder dem Arbeitgeber der Verzicht auf eine solche Kraft nicht zugemutet werden kann. Der Anspruch auf Vergütung ermäßigt sich entsprechend der Herabsetzung der Arbeitszeit. ,,56 Diese Normen erfassen den Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und den Vereinbarkeit anstrebenden Abgeordneten und geben letzteren die Möglichkeit, eine individuelle mandatsverträgliche Anpassung der arbeitsvertraglichen Bedingungen zu erreichen. Dabei wird die Interessenabwägung in unterschiedlicher Weise vorgenommen. Der Eingriff in die Grundrechte aus der Berufs- und Eigentumsfreiheit der betroffenen Arbeitgeber ist durch die Sicherung gleichrangiger Verfassungs güter gerechtfertigt, zumal eine Härtefallregelung vorlieg 7 • Berlin hat die Geltung der Regelung auch auf Berliner Bundestagsabgeordnete und auf Landtagsabgeordnete anderer Länder, die in Berlin arbeiten, erweitert58 • Dagegen bezieht sich Hamburg ausdrücklich nur auf Bürgerschaftsabgeordnete mit Arbeitsverhältnissen, die ihren Schwerpunkt in Hamburg haben.
e
Die Gesetzgebungskompetenz für diese arbeitsrechtlichen Normen steht den Landtagen zu. Zum einen sind Vereinbarkeitsnormen für Abgeordnete nicht anders als Unvereinbarkeitsnormen für Abgeordnete und öffentlichen Dienst zum Statusrecht für Abgeordnete zu zählen 59. Zum anderen ist das Arbeitsrecht Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung60 • Da der Bund für das die Landtagsabgeordneten betreffende Arbeitsrecht weder Gebrauch gemacht hat noch ein 55
§ 2 Abs. 4 SächsAbgG. § 8 Abs. 4 und 5 HbgAbgG. 57 Zivier, S. 110. 58 § 5 BerlLAbgG: "Die §§ 2 bis 4 gelten auch zugunsten von Mitgliedern anderer gesetzgebender Körperschaften im Geltungsbereich des Grundgesetzes." Vgl. dazu Zivier, S. 109. 59 Zivier, S. 110; Geller/ Kleinrahm, Anm. 1 zu Art. 46. 60 Art. 74 Nr. 12 GG; vgl. z.B.: BVerfGE 85, S. 226 (234). 56
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Bedarf danach besteht, sind die Landtage auch insofern zur Gesetzgebung berechtigt. Auch die Berliner Erweiterungsregelung ist zulässig, da sie eine Lücke in der Gesetzgebung des Bundes ausfüllt und den Regelungen des Abgeordnetengesetzes des Bundes nicht widerspricht sowie arbeitsrechtliche Sachverhalte in Berlin regelt. cc) Unmittelbare Wirkung von Art. 48 Abs. 2 GG im ArbeitsrechtVereinbarkeitsgebot von Mandat und Beruf Ein Anspruch auf Vereinbarkeit von Beruf und Mandat könnte aufgrund von Art. 48 Abs. 2 GG unmittelbar bestehen. Es würde sich um einen Fall unmittelbarer Drittwirkung von Verfassungsrecht im Arbeitsrecht handeln. Der freie Abschluß von Verträgen gehört zur durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Grundrechtsordnung. Die Regelung des Vertragsrechts durch Gesetzgeber und Rechtsprechung schränkt die Vertragsfreiheit ein, um den Bedürfnissen der Sicherheit des Rechtsverkehrs, des Schutzes faktisch schwächerer Vertragspartner und öffentlichen Interessen Geltung zu verschaffen. Im Arbeitsrecht ist die Schutzbedürftigkeit des schwächeren Vertragspartners Rechtfertigung für erhebliche Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Die Organisationsgewalt im Betrieb liegt beim Arbeitgeber. Wenn dieser nicht auf die zeitliche Beanspruchung von Abgeordneten während der Arbeitszeit Rücksicht nehmen will, wird regelmäßig das Arbeitsverhältnis zum Ruhen kommen, weil Arbeitgeber es vorziehen werden oder sich gezwungen sehen, die Arbeit durch nicht durch ein Mandat belastete Beschäftigte erledigen zu lassen. Möchten sich Abgeordnete in einem solchen Fall für eine Fortführung der abhängigen Berufstätigkeit entscheiden, so werden sie regelmäßig durch den Arbeitgeber daran gehindert werden. Wird das Behinderungsverbot nicht nur auf Behinderungen bezogen, die die Abgeordnetentätigkeit intentional behindern sollen, sondern auch auf solche, die diese Behinderung in Kauf nehmen und einen Bezug zur Mandatsausübung haben, so liegt in einer solchen Nutzung der arbeitsrechtlichen Möglichkeiten durch Arbeitgeber eine Behinderung der Mandatsausübung. Art. 48 Abs. 2 GG könnte zu einem Verbot einer derartigen Behinderung und zu einer Pflicht zur Anpassung der vertraglichen Bedingungen führen. Hierbei ist der arbeitsrechtliche Status der Abgeordneten in ihrem Arbeitsverhältnis zu betrachten, das einen Bestandsschutz hat. Welchen Einfluß aber hat das Mandat auf das fortbestehende Arbeitsverhältnis, wenn Beschäftigte aufgrund des Mandats nicht mehr stets die arbeitsvertraglich geschuldete Leistung erbringen können? Plüm hat die rechtlichen Folgen des Abgeordnetenstatus für das Arbeitsverhältnis näher untersucht. Die 61
Art. 48 Abs. 2 S. 2 GG, § 2 Abs. 1 AbgG.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
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Einnahme eines Mandats führt danach nicht - wie in der arbeitsrechtlichen Literatur und vom Bundesgerichtshof teilweise angenommen - zu einer Nichtigkeit der Arbeitsleistungspflicht 2 • Die Nichtigkeit der Arbeitsleistungspflicht sei vielmehr rechtlich nicht geeignet, die Fälle der trotz Mandat weitergeführten Arbeit einzuordnen. Arbeit würde bei Annahme der Nichtigkeit im vertragslosen Raum geleistet werden, was mit dem Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses gerade nicht vereinbar ist63 Auch die schuldrechtliche Einordnung der mandatsbedingten Arbeitsversäumnis als Fall der Unzumutbarkeit in einer Pflichtenkollision64 lehnt Plüm ab. Die im Institut der Unzumutbarkeit vorzunehmende Interessenabwägung entspricht nämlich nicht dem verfassungsrechtlich begründeten absoluten Vorrang der Mandatstätigkeit vor der Vertragserfüllung6S. Schließlich verwirft Plüm auch die Annahme einer Suspension des Arbeitsverhältnisses kraft Gesetzes entsprechend der Regelung für Wehrpflichtige und Zivildienstleistende66 • Eine solche Suspension lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen; sie mache die Fortführung der Arbeitsleistung unmöglich. Die gesetzliche Suspension sei auf die spezifische Art der Dienstverpflichtung der Wehr- und Zivildienstleistenden zugeschnitten, nicht jedoch auf die anders gearteten Rechte und Pflichten der Abgeordneten. Unberührt bleibe das Recht der Abgeordneten und ihrer Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis auf dem Wege der freiwilligen vereinbarten Suspension ruhen zu lassen67 • Es liegt dann ein Fall des unbezahlten Sonderurlaubs vor68 , in dem das Arbeitsverhältnis ruht. Nach dem Recht der gegenseitigen Schuldverhältnisse werden dann Abgeordnete als Beschäftigte von der Pflicht zur Arbeitsleistung frei wird, die Arbeitgeber von der Pflicht zur Entgeltzahlung69 • Die von Bertermann vorgeschlagene Lösung der Einrede gegen den Arbeitsleistungsanspruch 70 verwirft Plüm, da die Einrede der Durchsetzung und nicht der Verwirklichung von Ansprüchen diene. Der Abgeordnete, der zur Erfüllung von Mandatspflichten der Arbeit fernbleibe, verwirkliche aber seinen Anspruch auf Arbeitsbefreiung bereits71 •
Plüm, S. 36 ff. Plüm, S. 39; Bertermann, BB 1967, S. 271. § 242 BGB; Manfred Läwisch, Rechtswidrigkeit und Rechtfertigung von Forderungsverletzungen, AcP 165 (1965), S.421 (450 f.). 6S Plüm, S. 42 f. 66 § 1 Abs. 1 ArbPISchG. 67 § 305 BGB; Plüm, S. 43 ff. 68 Dieter Kohn, Der unbezahlte Sonderurlaub in arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Sicht (1981), S. 43 f. 69 § 323 Abs. 1 S. 1 BGB; Geiger, Der Abgeordnete und sein Beruf, S. 105 (118). 70 Bertermann, BB 1967, S. 270 ff. 71 Plüm, S. 46 ff. 62
63 64
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C. Regelungen und Reformvorschläge
Als verbleibende Lösungsmöglichkeit sieht Plüm, die Arbeitsbefreiung wegen Mandatspflichten als in das Arbeitsverhältnis hineinwirkenden Anspruch zu betrachten72 • Er sieht darin eine dogmatisch sachgerecht den Inhalt des Behinderungs- und Kündigungsverbots verwirklichende Lösung, die er historisch mit der Anknüpfung an die als Anspruch ausgestaltete Arbeitsbefreiung nach Art. 160 WRV und vergleichend mit den verwandten Vorschriften des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetzes untermauert. Danach sind die Mitglieder des Betriebs- oder Personalrats von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, wenn und soweit es nach Umfang und Art des Betriebs zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist73 • Ist die Betriebsratstätigkeit außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen, so ist ein Freizeitausgleich oder ein Mehrarbeitszuschlag zu gewähren 74 • Das schließt im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten Freistellung für Schulungs- und Bildungsveranstaltungen ein 75 • In Betrieben ab 300 Beschäftigten wird eine gesetzlich festgelegte Zahl von Betriebsratsmitgliedern von der Pflicht zur Arbeitsleistung ganz freigestelle 6 • Der Anspruch der Abgeordneten auf Arbeitsbefreiung wird nicht durch Gewährung des Arbeitgebers, sondern bei Vorliegen seiner Voraussetzungen durch Geltendmachung verwirklicht. Dies begründet Plüm durch den absoluten Vorrang des Verfassungsrechts ·vor dem vertraglichen Direktionsrecht und die höchstpersönliche, nicht vertretbare Abgeordnetentätigkeit77 • Auch das Betriebsverfassungsgesetz sieht keine jeweils vorhergehende Beurlaubung durch den Arbeitgeber vor. Anspruchsvoraussetzung der Arbeitsbefreiung ist die Erforderlichkeit der Arbeitsversäumnis für die Abgeordnetentätigkeit. Angesichts der dargestellten Eigenheiten der Abgeordnetentätigkeit ist die Erforderlichkeit immer gegeben, wenn der Abgeordnete dies nach gewissenhafter Prüfung der an ihn gestellten Anforderungen für erforderlich halten darf78, das heißt auch zur Sitzungsvorbereitung, zur Wahlkreistätigkeit oder zur Ausübung anderer kommunikativer Funktionen. Dabei ist auch der Freizeitverlust zu beachten, das heißt, dem Abgeordneten ist eine hinreichende Regenerationszeit einzuräumen79 • Eine Arbeits-
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Plüm, S. 48 ff. § 37 Abs. 2 BetrVG; § 46 Abs. 2 PersVG. § 37 Abs. 3 BetrVG; § 46 Abs. 2 S. 2 PersVG. § 37 Abs. 6 und 7 BetrVG; § 46 S. 6 und 7 PersVG. § 38 BetrVG; § 46 Abs. 4 PersVG. Plüm, S. 56 f. Plüm, S. 62.
Die aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes bestehende Begrenzung der täglichen Arbeitszeit nach dem ArbZG kann hier nicht außer Acht bleiben.
IV. Die Sicherung von Arbeitskraft und Erwerbseinkommen
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befreiung von Nachtschichten könnte zum Beispiel auch unter VeIWeis auf ausschließlich tagsüber liegende Abgeordnetenpflichten abgelehnt werden80 • Aus dem Behinderungs- und Kündigungsverbot folgt weiter, daß Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung während der Mandatszeit haben, möglichst auch an ihrem bisherigen Arbeitsplatz81 • Die häufigen Fehlzeiten, auf deren Gewährung sie Anspruch haben, führen hier zu erheblichen Problemen, da der Arbeitgeber meist andere Beschäftigte für die Erledigung der Aufgaben des Abgeordneten einsetzen wird. Plüm sieht hier die Lösung in einem abgestuften Recht, das zunächst die Beschäftigung am bisherigen, dann an einem vergleichbaren und schließlich an einem minderqualifizierten Arbeitsplatz, wenn auch ohne Entgeltverlust, garantiert. Diese Lösung entspricht derjenigen für die Mitglieder des Betriebsrates82. Allerdings kann eine Pflicht der Abgeordneten zur Annahme der unterwertigen Tätigkeit dem Gesetz nicht entnommen werden, wohl aber das Recht, dieser nachzugehen, wenn eine gleichwertige Tätigkeit aus betriebsorganisatorischen Gründen nicht angeboten werden kann 83. Für einen Entgeltanspruch der Abgeordneten in der arbeitsfreien Zeit gibt es nach geltender Rechtslage und insbesondere solange diese eine ihren Unterhalt sichernde Entschädigung erhalten, keine rechtliche Begründung84. Die Konzeption von Plüm ist rechtsdogmatisch überzeugend. Es ist aber wohl nicht nur zufällig, daß sie seit ihrer Formulierung kaum Einfluß in der Rechtswirklichkeit gefunden hat. Die häufigste arbeitsrechtliche Gestaltung ist heute die vollständige Suspension des Arbeitsverhältnisses für die Dauer des Mandats. Die auf den Einzelfall der Verhinderung bezogene Konzeption des Rechts auf Arbeitsbefreiung erscheint wenig praktikabel. Wird die Berufstätigkeit nicht in vollem Einvernehmen mit dem Arbeitgeber fortgesetzt, so ist absehbar, daß sie sich nach Einstellung oder Umsetzung einer Ersatzarbeitskraft auf den bisherigen Arbeitsplatz von Abgeordneten mit der Zuweisung einer unterwertigen Tätigkeit oder mit einer gar nicht mehr gegeben Einsetzbarkeit faktisch enden wird. Denn der bei der Bewertung des dogmatischen Modells von Plüm zu befürchtende "ständige Klageweg" müßte sich hier unter Umständen nicht auf das Recht auf Arbeitsbefreiung, sondern auf das Recht auf mögliche gleichwertige Beschäftigung richten.
80 81
82 83 84
16 Wclti
Plüm, S. 64 ff. Plüm, S. 109 f.
§ 37 Abs. 4 BetrVG.
Plüm, S. 113. Plüm, S. 68 ff.
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C. Regelungen und Reformvorschläge
dd) Recht auf Vertragsanpassung zum Teilzeitarbeitsverhältnis Es erscheint notwendig, von einer auf den einzelnen Verhinderungsfall gerichteten Betrachtungsweise zu einem Modell zu gelangen, welches das Arbeitsverhältnis als ganzes betrachtet. Das Arbeitsverhältnis ist ein Dauerschuldverhältnis, bei dem Dauer, Art, Ort und Zeit der Arbeitsleistung im betrieblichen Gesamtkomplex und Entgelt in einem spezifischen Wechselverhältnis stehen, das tarif- oder einzelvertraglich geregelt ist. Wird durch eine viel in Anspruch genommene Arbeitsbefreiung die Arbeitszeit - und in der Folge zwangsläufig auch ein Teil der Arbeitsumstände - wesentlich verändert, ändert sich auch das Arbeitsverhältnis qualitativ. War das Arbeitsverhältnis vorher ein Vollzeitarbeitsverhältnis (Normalarbeitsverhältnis) mit einer Arbeitszeit zwischen 32 und 48 Stunden, so wird es während der Mandatszeit Züge eines Teilzeitarbeitsverhältnisses85 annehmen, bei dem mindestens ein Teil der Arbeitszeit unregelmäßig geleistet wird. Solche Arbeitsverhältnisse sind - mit zunehmender Tendenz - Teil des Arbeitslebens 86 • Auch in verantwortlichen und führenden Positionen findet immer mehr Teilzeitarbeit statt. Ihre Vereinbarung ist Folge betrieblicher, oft aber auch persönlicher Bedürfnisse. Der wohl häufigste Grund ist eine Beanspruchung der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers durch Familien- und Hausarbeit, weitere Gründe sind die' Beanspruchung durch weitere abhängige oder selbständige Berufstätigkeit oder eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung. Neu ist die aus arbeitsmarktpolitischen Gründen vereinbarte geförderte AItersteilzeitarbeit88 • Für Teilzeitarbeit gelten partiell andere tarifliche und gesetzliche Bestimmungen als für Vollzeitarbeit; ihre besondere Schutzwürdigkeit ist in Gesetzgebung und Rechtsprechung durch ein Recht auf Gleichbehandlung anerkannt89 • Ein Recht auf Umwandlung eines Vo\1zeit- in ein Teilzeitarbeitsverhältnis besteht aber regelmäßig nicht, da die 85
§ 2 Abs.2 Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 (BeschFG) vom 26.4.1985 (BGBI. I S.710): "Teilzeitbeschäftigt sind die Arbeitnehmer, deren regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als die regelmäßige Wochenarbeitszeit vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer des Betriebs." Zu Begrifflichkeit und Abgrenzung auch: Wank, S. 205 ff. 86 Vgl. z.B. Peter Schüren in Münchner Handbuch Arbeitsrecht Bd. 2 (1994) § 157: 1992 2,68 Millionen sozial versicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigte, davon 92% Frauen; Günter Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7.A. (1992), § 44. 87 Vgl. Ulrich Battis, Teilzeitbeschäftigung auf höherqualifizierten Dienstposten im öffentlichen Dienst (1990); Ulrike Scheffer, Frau Bankdirektorin arbeitet als Teilzeitkraft, FAZ vom 17.2.1996. 88' .. G. zur Förderung eines gleitenden Ubergangs in den Ruhestand, in Kraft getreten am 1.8.1996 (BGBI. I, S. 1078); vgl. Wilhelm Adamy, Gleitender Übergang in den Ruhestand, AiB 1996, S. 518 89 § 2 Abs. 1 BeschFG.
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Dauer der Arbeitszeit ein wesentliches Bestimmungsmerkmal der Hauptleistungspflicht ist90 • Das Arbeitsverhältnis der Abgeordneten wird aber aufgrund des Mandats bei Nutzung des Kündigungsschutzes und des Rechts zur Arbeitsbefreiung für die Mandatsausübung faktisch zu einem Teilzeitarbeitsverhältnis, wenn es nicht suspendiert wird. Als Folgen einer Verfassungsvorschrift vermögen diese Rechte der Abgeordneten auch auf den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses einzuwirken. Es ist hier das Bedürfnis anzuerkennen, das Arbeitsverhältnis als Ganzes zu modifizieren und den neuen Bedingungen anzupassen. Inhalt des so geänderten Arbeitsverhältnisses müßte ein Teilzeitarbeitsverhältnis mit einer zu vereinbarenden - aufgrund wechselnder Anforderungen teilweise flexiblen - Arbeitszeitlänge und -gestaltung sein, das mit dem Mandat nach der Konzeption des oder der Abgeordneten vereinbar ist. Dieses müßte mit der Zuweisung eines festen Aufgabenbereichs verbunden sein, der dem vorher ausgeübten Arbeitsbereich im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten entspricht. Das Recht auf Teilzeitarbeit für die Abgeordneten des Bundestages, des Europäischen Parlaments und der Landtage ergibt sich aus der Sicherung des verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Kündigungsschutzes, aus dem Recht auf Beschäftigung am Arbeitsplatz und der im Arbeitsrecht anerkannten modifizierenden Wirkung von Schutzvorschriften auf die einzelvertraglichen Bedingungen. So führen auch die Beschäftigungsverbote für werdende Mütter91 zu einem Anspruch auf Beschäftigung unter geänderten Bedingungen für die Zeit der Schwangerschaft92 • Bedingt vergleichbar ist auch die Teilzeitarbeit während des gesetzlichen Erziehungsurlaubs von bis zu neunzehn Wochenstunden 93 • Auf diese Teilzeitarbeit besteht zwar kein Anspruch, allerdings haben die Berechtigten einen Anspruch darauf, auch bei einem anderen Arbeitgeber teilzeitig z!l arbeiten, wenn dem nicht betriebliche Interesse entgegenstehen94 • Sinn auch dieser Regelun~ ist es, den Kontakt zum Beruf zu sichern und Dequalifikation zu verhindern 5. Nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen ist der Anspruch auf Anpassung des Arbeitsvertrags an die Bedingungen der Mandatsausübung auf Schüren, RN 6. 91 §§ 3 und 4 Mutterschutzgesetz (MuSchG) vorn 24.1.1952 i.d.F.v. 18.4.1968 (BGBl. I, S. 315), zuletzt geändert durch G. v. 6.6.1994 (BGBl. I, S. 1170). 92 Johannes Zmarzlik in: Zmarzlikl Zipperer/ Viethen, MuSchGI BErzGG, 7. A. (1994), RN 7 vor § 3. 93 § 15 Abs.4 S. 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) vorn 6.12.1985 (BGBl. I, S. 2154) i.d.F.d.B.v. 25.7.1989 (BGB\. I, S. 1550) seit 1.1.1994 durch G. v. 27.12.1993 (BGBl. I, S. 2378). 94 § 15 Abs. 4 S. 2 und 3 BErzGG. 95 Hans Peter Viethen in: Zmarzlikl Zipperer/ Viethen, RN 37 zu § 15. 90
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C. Regelungen und Refonnvorschläge
Treu und Glauben zu stützen96 • Er würde dann entfallen, wenn sich die Vertragspartner von vornherein auf eine andere Lösung des' Konflikts von Beruf und Mandat geeinigt hätten. Dabei wäre ein vereinbarter Verzicht auf den Kündigungsschutz der Abgeordneten nichtig. Die Änderung der Geschäftsgrundlage kommt hingegen als Grundlage nicht in Betracht, da jeder Arbeitsvertrag mit wählbaren oder nach Wegfall von Wählbarkeitshindernissen potentiell wählbaren Bürgerinnen und Bürgern unter dem Vorbehalt von Art. 48 Abs. 2 GG steht. Angesichts der wachsenden Flexibilität betrieblicher Aufgabenerledigung97 erscheint ein solches Recht der Abgeordneten auf eine geregelte Teilzeittätigkeit in ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis in weiten Bereichen der Wirtschaft realisierbar. Geeignet erscheint beispielsweise die Arbeitsplatzteilung, die engen Kontakt zwischen Abgeordneten und ihrer Vertretung im Betrieb ermöglichte98 • Für die Vereinbarkeit von Beruf und Familientätigkeit wurde ein solches Recht auf Teilzeittätigkeit u.a. von der arbeits- und sozialrechtlichen Abteilung des 60. Deutschen Juristentags gefordert; zur Realisierung für Kleinbetriebe wurden dort Arbeitgeberverbünde nach französischem Vorbild vorgeschlagen 99 • Wegen der unterschiedlichen Situation der Betriebe je nach Größe erscheinen auch für die Realisierung der Abgeordnetenrechte Verbundsysteme oder ein Lastenausgleich lOo angebracht. Insgesamt ist festzustellen, daß sich das Recht auf Teilzeitarbeit für die Abgeordneten zwar unmittelbar aus Art. 48 Abs. 2 GG ergibt, für seine Realisierung jedoch eine gesetzliche Lösung - evtl. unter Anknüpfung an die Regelungen in Berlin und Sachsen - sinnvoll erscheint, um eine gesicherte und geregelte Fortsetzung der Berufstätigkeit für diejenigen, die sie wollen, auch zu erreichen. Die Regelungen in Berlin, Hamburg und Sachsen sind wegen der durch sie gewährleisteten Rechtssicherheit positiv zu bewerten. Durch das Erfordernis der Zustimmung des Arbeitgebers ist die sächsische Regelung aber zu eng gefaßt. Aufgrund der unmittelbaren Geltung von Art. 48 Abs. 2 GG auch in den Ländern lol ist § 2 Abs. 4 SächsAbgG so zu verstehen, daß auf die Zustimmung des Arbeitgebers ein Anspruch besteht, soweit damit kein unverhältnismäßiger § 157 BGB. Zu den Folgen für das Arbeitsrecht vgl. z.B. Däubler, Bd. 2, 10. A. (1995), S. 184 ff., der Fiexibilisierung im Arbeitnehmer- und im Arbeitgeberinteresse registriert. Speziell zu Freistellungsansprüchen Däubler, Bd. 2, S. 188. 98 § 5 BeschFG; Vgl. Däubler, Bd. 2, S. 946 ff. 99 Vgl. hierzu Rolf Birk, Welche Maßnahmen empfehlen sich, um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie zu verbessern? Gutachten E zum 60. DJT, S. 83 ff. unter Bezug auf Art. L 127-1, 127-7, 127-8 CT. 100 Vgl. den Ausgleich von Aufwendungen für Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Mutterschutzlohn nach den §§ 10-19 Lohnfortzahlungsgesetz (LFZG) vom 27.7.1969. 101 Durch Art. 28 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, vgl. unter 1.3.2. 96 97
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Eingriff in dessen Rechtsstellung verbunden ist. Die Berliner und Hamburger Regelungen nehmen die Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen dagegen sachgerecht vor und ermöglichen durch die regelbeispielhafte Fassung auch die Berücksichtigung atypischer Fälle. Kompetenziell problematisch erscheint die Situation beispielsweise für Hamburger Abgeordnete. die in Schleswig-Holstein arbeiten. Für sie kann aber im Rahmen des allgemeinen Vereinbarkeitsgebots von Beruf und Mandat im Zusammenhang mit dem Grundsatz der strengen Gleichheit der Statusrechte davon ausgegangen werden. daß eine richt