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German Pages 195 Year 2018
Schriften zum Völkerrecht Band 229
Die Rolle des Ministerkomitees bei der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Von
Julie-Enni Zastrow
Duncker & Humblot · Berlin
JULIE-ENNI ZASTROW
Die Rolle des Ministerkomitees bei der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Schriften zum Völkerrecht Band 229
Die Rolle des Ministerkomitees bei der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Von
Julie-Enni Zastrow
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-15435-7 (Print) ISBN 978-3-428-55435-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85435-6 (Print & E-Book)
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Vorwort Diese Arbeit wurde im Herbst 2016 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), für die ausgezeichnete Betreuung der Arbeit und die Unterstützung in der Promotionszeit. Herrn Professor Dr. Klein danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts iCourts an der Universität Kopenhagen, insbesondere Herrn Professor Dr. Mikael Rask Madsen, bedanke ich mich für die schöne und inspierierende Zeit während meines Forschungsaufenthaltes. Außerdem danke ich Gabriella Piras, Anne-Katrin Wolf, Alexandra Kahmen und Laura von Vittorelli für die bereichernde Zeit in unserer Doktorandinnengruppe. Der Fazit-Stiftung gebührt mein Dank für die Gewährung des Promotionsstipendiums und großzügigen Druckkostenzuschusses. Bei Gabriella Piras, Nele Lange, Alexandra Kahmen und Anne-Katrin Wolf bedanke ich mich für das Korrekturlesen dieser Arbeit. Darüber hinaus möchte ich meiner Familie und allen weiteren Freundinnen und Freunden danken, die mich während der Arbeit an der Dissertation unterstützt haben. Berlin, im Februar 2018
Julie-Enni Zastrow
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Ein politisiertes Verfahren mit rechtsstaatlicher Bedeutung . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil 1
Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem im Wandel der Zeit
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Justizielle Funktion (Art. 32 EMRK a. F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Überwachungsfunktion (Art. 54 EMRK a. F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Weitere Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 22 23 27 28
§ 2 Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Zusatzprotokoll . . . . . . 29 Teil 2
Handlungsrahmen des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile gemäß Art. 46 EMRK
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK . . . A. Beendigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wiedergutmachungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Verpflichtung, die Konventionsverletzung nicht zu wiederholen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Pflichten und Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Pflichten und Befugnisse des Gremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Pflichten und Befugnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten im Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 33 36 45 51 51 65 101
8 Inhaltsübersicht Teil 3
Überwachung der Umsetzung der Urteile durch das Ministerkomitee in der Praxis
§ 1 Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Meinungs- und Wissensstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Analyse der Berichte des Europarats zur Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2007–2014 . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme . . . A. Überlange Verfahrensdauer in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Nordzypern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Nordkaukasus und Russland (Khashiyev und Akayeva-Gruppe) . . . . . . . D. Wahlregelungen von Bosnien-Herzegowina (Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Wahlrechtsausschluss von Strafgefangenen im Vereinigten Königreich (Hirst / Vereinigtes Königreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 102 102 104 111 111 112 116 123 132 135 141
Teil 4
Einfluss der übrigen Akteure des Europarats auf die Arbeit des Ministerkomitees und die Umsetzung der Urteile des EGMR
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Anordnung von Durchsetzungsmaßnahmen durch den Gerichtshof . . . . B. Kontrolle der Umsetzung eines Urteils durch den Gerichtshof bei Folgebeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143 143 143 158 169
§ 2 Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 A. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 B. Handlungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 C. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 3 Rolle des Generalsekretärs bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . 176 § 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Teil 5
Reformüberlegungen und Handlungsvorschläge
179
§ 1 Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 A. Anordnungen zur Umsetzung in jedem Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Inhaltsübersicht9 B. Verantwortung der Umsetzung an den Gerichtshof abgeben . . . . . . . . . . 180 § 2 Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Finanzielle Sanktionen einführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Beteiligung der Beschwerdepartei und Dritter am Umsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Fonds für Entschädigung und finanzielle Unterstützung . . . . . . . . . . . . .
180 180 182 183
Teil 6 Fazit
184
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Ein politisiertes Verfahren mit rechtsstaatlicher Bedeutung . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil 1
Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem im Wandel der Zeit
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Justizielle Funktion (Art. 32 EMRK a. F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Überwachungsfunktion (Art. 54 EMRK a. F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Weitere Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 22 23 27 28
§ 2 Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Zusatzprotokoll . . . . . . 29 Teil 2
Handlungsrahmen des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile gemäß Art. 46 EMRK
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK . . . A. Beendigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beendigung durch generelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beendigung durch individuelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wiedergutmachungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wiedergutmachung durch individuelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . 1. Wiederaufnahme eines Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere individuelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gerechte Entschädigung (Art. 41 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bemessung und Zahlung der Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . C. Verpflichtung, die Konventionsverletzung nicht zu wiederholen . . . . . . . I. Grundlagen und rechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausführung der Pflicht durch generelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzes- und Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Andere generelle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 33 34 35 36 37 37 40 41 41 43 45 45 48 49 50
12 Inhaltsverzeichnis § 2 Pflichten und Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Pflichten und Befugnisse des Gremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhalt von Art. 46 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung von Art. 46 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensregeln der Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mögliche Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prangerwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss aus dem Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Neue Arbeitshilfen gemäß Art. 46 Abs. 3 bis 5 EMRK . . . . . . . . . . . 1. Auslegung durch den Gerichtshof (Art. 46 Abs. 3 EMRK) . . . . . a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beurteilung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Infringement proceedings (Art. 46 Abs. 4, 5 EMRK) . . . . . . . . . . a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Voraussetzungen (Art. 46 Abs. 4 EMRK) . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsfolge (Art. 46 Abs. 5 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beurteilung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Pflichten und Befugnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten im Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorfrage: Anwendbarkeit allgemeiner völkerrechtlicher Regeln . . . . 1. EMRK als self-contained régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff des self-contained régimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendung auf die EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rekurs auf allgemeines Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Pflicht zur Kooperation im Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 3 der Satzung des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Präambel der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 41 § 1 ILC-Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktive Mitarbeit im Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK initiieren . . . . . . . . . . . c) Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenarbeit mit der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . aa) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfahren potentieller Beitrittskandidaten: Loizidou / Türkei und Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 51 51 52 55 55 56 58 58 59 59 60 61 61 62 63 64 65 66 67 67 68 70 70 72 73 73 73 73 75 75 76 76 77 78 78 79 79
Inhaltsverzeichnis13 (2) Ilaşcu u. a. / Moldau und Russland . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 III. Pflicht, von dem Verletzerstaat Abstand zu nehmen . . . . . . . . . . . . . 84 1. Pflicht, den rechtswidrigen Zustand nicht anzuerkennen . . . . . . . 85 2. Pflicht, den Staat bei der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands nicht zu unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Gegenmaßnahmen als ultima ratio? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen zur Umsetzung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Argumente gegen die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 aa) Fehlende Reziprozität der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . 89 bb) Wirtschaftliches und politisches Ungleichgewicht der Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Argumente für die Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen . . . . . 91 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Rechtsgrundlage für Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Inhalt von Art. 54 ILC-Artikel und Gewohnheitsrecht . . . . . . 93 b) Voraussetzungen von Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Rekurs auf Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Voraussetzungen der Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . 96 (1) Erga-omnes-Verpflichtung aus Art. 48 ILC-Artikel . 96 (2) Vorliegen einer besonders schweren Rechtsverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (3) Übrige Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Mögliche Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Teil 3
Überwachung der Umsetzung der Urteile durch das Ministerkomitee in der Praxis
§ 1 Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Meinungs- und Wissensstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Analyse der Berichte des Europarats zur Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2007–2014 . . . . . . . . . . I. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungstechnik: Dokumentenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 102 102 104 104 104 105
14 Inhaltsverzeichnis a) Beschreibung der Untersuchungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Probleme bei der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Fallgruppen der Umsetzungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Umsetzungsrubriken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Access to and efficient functioning of justice . . . . . . . . . . . . . 107 b) Right to life and protection against torture and ill-treatment . 109 c) Protection of Rights in Detention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 § 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme . . . 111 A. Überlange Verfahrensdauer in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Gang der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 B. Nordzypern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Gang der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Verschwundene Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Häuser und unbewegliches Eigentum vertriebener griechischer Zyprioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Blockade im Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Implizite Beurteilung des Ministerkomitees in Zypern / Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Eigentumsrechte der im Nordteil lebenden griechischen Zyprioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4. Entschädigungszahlungen aus dem Urteil Zypern / Türkei . . . . . . 121 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 C. Nordkaukasus und Russland (Khashiyev und Akayeva-Gruppe) . . . . . . . 123 I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 II. Gang und Gegenstand der Überwachung der Umsetzung durch das Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Ermittlungen der russischen Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Kontrolle der polizeilichen Ermittlungen und der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Art und Weise der polizeilichen Ermittlungen . . . . . . . . . . . . 125 c) Verjährungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 d) Begnadigung / Straflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Situation der Opfer und ihrer Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Suche nach verschwundenen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Beteiligung der Opfer an den Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Entschädigungszahlungen an die Opfer und ihre Familien . 129 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Inhaltsverzeichnis15 1. Die Umsetzung der Tschetschenien-Urteile durch Russland . . . . 2. Reaktionen des Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wahlregelungen von Bosnien-Herzegowina (Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Wahlrechtsausschluss von Strafgefangenen im Vereinigten Königreich (Hirst / Vereinigtes Königreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gang der Überwachung der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 131 132 132 132 134 135 135 139 141
Teil 4
Einfluss der übrigen Akteure des Europarats auf die Arbeit des Ministerkomitees und die Umsetzung der Urteile des EGMR
143
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 A. Anordnung von Durchsetzungsmaßnahmen durch den Gerichtshof . . . . 143 I. Anordnung individueller Maßnahmen durch den Gerichtshof . . . . . . 144 1. Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Maßnahmen zur Beendigung der Konventionsverletzung . . . 145 b) Maßnahmen zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Wiederaufnahme innerstaatlicher Gerichtsverfahren . . . . 148 bb) Rückgabe des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Konventionsrechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3. Bedeutung für die Umsetzung der Urteile und die Kontrollaufgabe des Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Anordnung genereller Maßnahmen durch den Gerichtshof: Piloturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Entwicklung und Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Bedeutung für die Kontrollfunktion des Ministerkomitees . . . . 156 a) Eingriff in die Kompetenz des Ministerkomitees . . . . . . . . . . 156 b) Vereinfachung der Überwachung der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 B. Kontrolle der Umsetzung eines Urteils durch den Gerichtshof bei Folgebeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 I. Beispiele aus der Spruchpraxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Olsson / Schweden (Nr. 2), 27.11.1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Mehemi / Frankreich (Nr. 2), 10.04.2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Lyons / Vereinigtes Königreich, 08.07.2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), 30.06.2009 . 162
16 Inhaltsverzeichnis 5. Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Emre / Schweiz (Nr. 2), 10.11.2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kompetenzkonflikt mit dem Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164 167 168 169
§ 2 Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 A. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 B. Handlungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 I. Vorschläge zur Verbesserung des Umsetzungsverfahrens . . . . . . . . . 171 II. Staatenberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Fragen an das Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 C. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 3 Rolle des Generalsekretärs bei der Umsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . 176 § 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Teil 5
Reformüberlegungen und Handlungsvorschläge
179
§ 1 Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 A. Anordnungen zur Umsetzung in jedem Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 B. Verantwortung der Umsetzung an den Gerichtshof abgeben . . . . . . . . . . 180 § 2 Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Finanzielle Sanktionen einführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anpassung der Beitragszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Beteiligung der Beschwerdepartei und Dritter am Umsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Fonds für Entschädigung und finanzielle Unterstützung . . . . . . . . . . . . .
180 180 181 182 182 183
Teil 6 Fazit
184
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Abkürzungsverzeichnis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AJIL American Journal of International Law Abs. Absatz Art. Artikel Aufl. Auflage BDGV Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht BYIL British Yearbook of International Law EG Europäische Gemeinschaft EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EHRLR European Human Rights Law Review EJIL European Journal of International Law EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EU Europäische Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift FS Festschrift HRLJ Human Rights Law journal Hrsg. Herausgeber ILC International Law Commission ILC-Artikel Artikel der ILC zur Staatenverantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Handeln (Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts) JZ JuristenZeitung LJIL Leiden Journal of International Law MRM MenschenRechtsMagazin NQHR Netherlands Quarterly of Human Rights NYIL Netherlands Yearbook of International Law RdC Recueil des Cours Rec. Recommendation Res. Resolution S. Satz SR Sicherheitsrat StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof
18 Abkürzungsverzeichnis UN United Nations (Vereinte Nationen) VerfO Verfahrensordnung WVK Wiener Vertragsrechtskonvention ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Einleitung „Most frequently the real problem is not in arriving in an answer at law, but in enforcing an answer in law. In the final analysis, law is not only, as the Legal Realists contend, what the Court says, but also what the sheriff does.“1 W. Michael Reisman
A. Ein politisiertes Verfahren mit rechtsstaatlicher Bedeutung Die Durchsetzung der Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist nicht mit der Verkündung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abgeschlossen, sondern erst mit der vollständigen Umsetzung2 des Urteils im innerstaatlichen Recht des verurteilten Mitgliedsstaats. Die Umsetzung der Urteile durch die Mitgliedstaaten wird dabei durch das Ministerkomitee des Europarats, neben der Parlamentarischen Versammlung das Hauptorgan des Europarats, kontrolliert. Das Ministerkomitee setzt sich aus den Außenministern der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats zusammen (Art. 14 Satzung des Europarats). In der Praxis besteht das Komitee aus den Ständigen Vertreterinnen und Vertretern der Regierungen in Straßburg. Es ist folglich ein aus Diplomatinnen und Diplomaten zusammengesetztes politisches Organ. Die Kontrolle der Umsetzung der Urteile des EGMR ist die Hauptaufgabe des Ministerkomitees, der es sich in viermal jährlich stattfindenden human rights meetings ausschließlich widmet. Warum ist die Umsetzung der Urteile des EGMR von Bedeutung? Zum einen kann erst mit der richtigen Umsetzung eines Urteils der wirksame Schutz der Menschenrechte des Einzelnen erreicht werden.3 Die Umsetzung des Urteils sorgt dafür, dass Entschädigungen gezahlt, die Konventionsverletzung abgestellt, die individuelle Situation des Beschwerdeführers oder der 1 Reisman,
AJIL 1969, 1 (1). der deutschen Fassung der EMRK werden die in den Originaltexten verwendeten Begriffe „execution“ / „exécution“ mit „Durchführung“ der Urteile übersetzt. Während es in der schweizerischen Übersetzung „Vollzug“ heißt, hat sich in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur und im deutschen Sprachgebrauch der Begriff „Umsetzung“ durchgesetzt, der auch dem Original am Nächsten kommt. 3 Okresek, EuGRZ 2003, 168 (168). 2 In
20 Einleitung
Beschwerdeführerin wieder so hergestellt wird, wie sie vor der Konventionsverletzung bestand und sich die Verletzung nicht wiederholt. Damit trägt eine rasche und umfassende Umsetzung von Urteilen zu einer Reduzierung der Arbeitsbelastung des Gerichtshofes bei, da so Wiederholungsfälle vermieden werden.4 Darüber hinaus schadet die Nichtumsetzung eines Urteils aber nicht nur dem Individuum, sondern auch dem Ansehen der Justiz und der Verwaltung eines Mitgliedstaates. Ebenso ist die Vorbildfunktion gegenüber anderen Mitgliedstaaten ernst zu nehmen. Wenn ein Staat Urteile des EGMR nicht richtig umsetzt, stellt das ein schlechtes Beispiel für die übrigen Mitgliedstaaten des Europarates dar, die in der Folge möglicherweise ebenfalls nicht mehr die ihnen gegenüber ergehenden Urteile beachten. Zusätzlich ist auch die Vorbildfunktion über den Europarat hinaus zu beachten und ein Beispiel für die übrigen regionalen Menschenrechtsinstrumente und die Durchsetzung des Völkerrechts im Allgemeinen zu setzen. Zuletzt geht es auch darum, den etwa 820 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern der Europaratsstaaten die Sicherheit zu geben, dass wenigstens in Straßburg ihre Situation nach rechtsstaatlichen Maßstäben aufgearbeitet und infolge des Urteils auch so wieder hergestellt wird, wie sie vor der Konventionsverletzung war. Das Ministerkomitee nimmt sich diesen Belangen an, indem es gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK die innerstaatliche Umsetzung der Urteile des EGMR überwacht. Es stellt sich dabei zum einen die Frage, welche Pflichten und Befugnisse das Ministerkomitee bei dieser Überwachungsarbeit hat. Darunter fällt, ob nur das Komitee als solches oder auch die einzelnen Mitgliedstaaten als Drittstaaten gefordert sind, die Umsetzung der Urteile zu befördern. Außerdem ist zu erörtern, welche Möglichkeiten dem Ministerkomitee zur Verfügung stehen, um auf die Mitgliedstaaten einzuwirken, die ein Urteil nicht umsetzen. Zum anderen ist zu analysieren, wie das Komitee in der Praxis mit seinen Pflichten und Befugnissen umgeht. Darüber hinaus sind auch der EGMR und die Parlamentarische Versammlung immer stärker in den Umsetzungsvorgang involviert, sodass der Einfluss dieser Organe auf die Arbeit und Stellung des Ministerkomitees zu untersuchen ist. Über alledem steht die Frage, ob ein politisches Gremium überhaupt geeignet ist, diese verfahrensrechtliche Aufgabe wahrzunehmen. Die Beantwortung dieser Fragen stellt den Gegenstand dieser Arbeit dar. 4 Protocol No. 14 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, amending the control system of the Convention, 13.05.2005, CETS no.194 (in der Folge: 14. Zusatzprotokoll zur EMRK), Explanatory Report, Ziff. 96.
Einleitung21
B. Gang der Untersuchung Im ersten Teil wird anhand eines historischen Überblicks die Fortentwicklung der Funktionen des Ministerkomitees seit Inkrafttreten der EMRK im Jahr 1953 dargestellt. Der zweite Teil ist dem Handlungsrahmen des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR gewidmet. Die Beurteilung der Umsetzung eines Urteils setzt die Kenntnis der staatlichen Pflichten infolge einer Verurteilung voraus, weshalb zunächst auf diese Pflichten eingegangen wird. In der Folge werden die Pflichten und Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK untersucht. Dabei wird unterschieden zwischen den Pflichten und Befugnissen des Komitees und denen der einzelnen Mitglieder des Ministerkomitees als Drittstaaten im Umsetzungsverfahren. Aufbauend auf diesen Grundlagen wird im dritten Teil die Praxis des Ministerkomitees bei der Umsetzungsüberwachung überprüft. Es werden Fallgruppen gebildet, um die Umsetzungsprobleme herauszufiltern. Anhand der Ergebnisse wird in Fallstudien untersucht und kritisch beurteilt, wie das Ministerkomitee konkret auf einige dieser Umsetzungsprobleme reagiert hat. Der vierte Teil behandelt die übrigen Akteure des Europarats und ihren Einfluss auf die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs. Neben der Rechtsprechung des EGMR werden die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung im Bereich der Urteilsumsetzung und die Einflussmöglichkeiten des Generalsekretärs des Europarats vorgestellt und auf Kompetenzkonflikte mit dem Ministerkomitee überprüft. Im fünften Teil werden bisherige Reformüberlegungen hinterfragt und eigene Vorschläge zur Verbesserung des Umsetzungssystems gemacht. Teil sechs fasst die Forschungsergebnisse in einem Fazit zusammen und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der Rolle des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR. Die Kontrolle der Umsetzung der Urteile schließt die Urteile des Gerichtshofes infolge von Individual- und Staatenbeschwerden mit ein, wobei die Urteile zu Individualbeschwerden die wenigen Urteile zu Staatenbeschwerden in ihrer Anzahl weit überwiegen, weshalb erstere im Vordergrund stehen. Ebenfalls umfasst die Kontrolle des Ministerkomitees zwar die gütliche Einigung zwischen den Parteien nach Art. 39 EMRK, deren Kontrolle sich aber nach Art. 39 Abs. 4 EMRK richtet und in der Arbeit aufgrund der geringen praktischen und rechtswissenschaftlichen Bedeutung nicht weiter behandelt wird.
Teil 1
Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem im Wandel der Zeit Nachstehend werden die von der EMRK vorgeschriebenen Aufgaben des Ministerkomitees vorgestellt (§ 1), die sich mit dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK am 1. November 1998 grundlegend änderten (§ 2).
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 1998 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs rückte der Menschenrechtsschutz auf internationaler Ebene in den Vordergrund. In den Resolutionen des Haager Europakongresses im Mai 1948, organisiert vom Internationalen Komitee zur Koordinierung der Bewegung für die Einheit Europas,1 wurde von den anwesenden Organisationen eine Menschenrechtskonvention2 und ein Gerichtshof zur Durchsetzung dieser Konvention3 gefordert. Der Kongress beauftragte eine Kommission, diese Menschenrechtskonvention zu erarbeiten. Noch vor der Gründung des Europarats legte die Kommission dem Internationalen Rat der Europäischen Bewegung auf einer Konferenz in Brüssel im Februar 1949 ein Positionspapier vor.4 Auf der Grundlage des Konferenzbeschlusses erstellte der internationale Rechtsausschuss der Europäischen Bewegung einen Entwurf der Europäischen Menschenrechtskonvention, den sie dem Ministerkomitee des zwischenzeitlich gegründeten Europarats5 am 12. Juli 1949 vorlegte.6 1 Janis / Kay / Bradley, European human rights law, 3. Aufl. 2008, S. 12; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 1; Partsch, ZaöRV 1954, 631 (633). 2 Punkt 9 der Politischen Resolutionen des Europakongresses, Mai 1948, abrufbar unter https: / / www.cvce.eu / content / publication / 1997 / 10 / 13 / 15869906-97dd-4c54-a d85-a19f2115728b / publishable_en.pdf (Stand: 28.02.18). 3 Punkt 13 der Politischen Resolutionen des Europakongresses, Mai 1948, abrufbar unter https: / / www.cvce.eu / content / publication / 1997 / 10 / 13 / 15869906-97dd-4c 54-ad85-a19f2115728b / publishable_en.pdf (Stand: 28.02.18). 4 Partsch, ZaöRV 1954, 631 (635); das Positionspapier findet sich bei Loth / Lipgens, Transnational organizations of political parties and pressure groups in the struggle for European Union, 1945–1950, 1991, Dok. Nr. 92.
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 199823
Die Erarbeitung der Konvention wurde im Europarat fortgesetzt. Nach den Zusammenkünften der Beratenden Versammlung7 wurde die Konvention durch das Ministerkomitee ausgearbeitet.8 Nach Billigung der Beratenden Versammlung unterzeichneten die Gründungsmitglieder die EMRK am 4. November 1950;9 sie trat am 3. September 1953 in Kraft.10 Das Ministerkomitee hatte laut der EMRK in der Fassung vom 3. September 1953 vorrangig eine justizielle Funktion (A.) und eine Überwachungsfunktion (B.) neben den weiteren Aufgaben (C.).
A. Justizielle Funktion (Art. 32 EMRK a. F.) Die EMRK sah nach ihrem Inkrafttreten folgenden Kontrollmechanismus vor: Hatte die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) eine Beschwerde zur Entscheidung angenommen, so hatte sie sich nach Ermittlung der Tatsachen zunächst um eine gütliche Einigung zwischen den Parteien zu bemühen (Art. 28 EMRK a. F.). Konnte eine Einigung nicht erzielt werden, erstellte die Kommission einen Bericht, in der sie Tatsachen darlegte und eine Einschätzung abgab, ob die Konvention verletzt worden sei oder nicht (Art. 31 Abs. 1 EMRK a. F.). Im Anschluss wurde der Bericht dem Ministerkomitee übersandt (Art. 31 Abs. 2 EMRK a. F.). Dann bestanden zwei Möglichkeiten: Zum einen konnte innerhalb von drei Monaten (Art. 47 EMRK a. F.) der Gerichtshof von der Kommission oder einem beteiligten Mitgliedstaat angerufen werden (Art. 48 EMRK a. F.), der ein endgültiges (Art. 52 EMRK a. F.) und verbindliches (Art. 53 EMRK a. F.) Urteil fällte. Wurde der Gerichtshof nicht angerufen, oblag es gemäß Art. 32 Abs. 1 EMRK a. F. dem Ministerkomitee, mit einer Zweidrittelmehrheit über eine Konventionsverletzung zu entscheiden. Die Entscheidung des Ministerkomi5 Der Europarat wurde am 5. Mai 1949 gegründet. Die Gründungsmitglieder waren Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden. 6 Weiss, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, S. 4. 7 Partsch, ZaöRV 1954, 631 (640 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 2; Die Beratende Versammlung ist heute die Parlamentarische Versammlung des Europarats. 8 Partsch, ZaöRV 1954, 631 (646 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 2. 9 Partsch, ZaöRV 1954, 631 (655); Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Einführung Rdnr. 1. 10 „Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms“, http: / / www.coe.int / de / web / conventions / full-list / - / conventions / treaty / 005 (Stand: 28.02.2018).
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Teil 1: Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem
tees war für die betroffenen Staaten gemäß Art. 32 Abs. 4 EMRK a. F. bindend. Diese Beteiligung des Ministerkomitees ging darauf zurück, dass die Errichtung eines Gerichtshofs mit obligatorischer Zuständigkeit in den Vorarbeiten der Konvention keine Mehrheit unter den Staaten gefunden hatte. Daraufhin einigten sich die Regierungsvertreter im Juni 1950, dass das Gericht nur fakultativ, also nach Ratifizierung einer entsprechenden Fakultativerklärung zuständig sein sollte.11 Um diese Schwächung des Kontrollsystems abzufedern, wurde das Ministerkomitee als alternativer Entscheidungsträger eingesetzt:12 Das Ministerkomitee sollte mit einer Zweidrittelmehrheit bindend über die Folgen des an sich unverbindlichen Berichts der Kommission entscheiden können,13 wobei ihm vollständige Entscheidungsfreiheit gewährt wurde.14 Damit wurde zum einen auch bei fehlender Zuständigkeit des Gerichtshofs eine verbindliche Entscheidung gewährleistet.15 Zum anderen würde so auch der Bericht der Kommission nicht wirkungslos bleiben.16 Gleichzeitig wurde so aber ein politisches Gremium mit justiziellen Aufgaben betraut.17 Das Ministerkomitee übte diese Funktion 1959 zum ersten Mal aus.18 Die Entscheidungen des Ministerkomitees sorgten zunächst für wenig Aufsehen, weil es nur so wenige gab: Das Ministerkomitee hatte bis Ende 1974 nur in 17 Fällen zu entscheiden und bejahte davon nur in einem einzigen Fall eine Konventionsverletzung.19 Die Kritik an der Arbeit des Ministerkomitees nahm aber mit der Zeit zu, denn im Gegensatz zum Gerichtshof räumte das 11 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 4, S. 250 / 251 f. 12 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 4, S. 254 / 255. 13 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 4, S. 254 / 255. 14 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, S. 256 / 257. 15 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 92; Grote, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 1 Rn. 26; Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 62. 16 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 4, S. 254 / 255. 17 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 4, S. 256 / 257. 18 Committee of Ministers, Beschluss vom 20.04.1959 – No. 176 / 56, Griechenland / Vereinigtes Königreich; siehe auch Dijk / Arai, Theory and practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2006, S. 293. 19 Robertson, Human rights in Europe, 1977, S. 258.
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 199825
Ministerkomitee Einzelpersonen keine Verfahrensrechte ein.20 Ein weiteres Problem stellten die sogenannten „non-decisons“ dar, bei denen das Ministerkomitee es einfach unterließ, eine Entscheidung über eine Konventionsverletzung zu treffen,21 weil die nötige Zweidrittelmehrheit der Entscheidung für oder wider einer Konventionsverletzung nicht erreicht werden konnte.22 Zudem wurde in der Literatur kritisiert, dass so ein politisches Organ Teil eines justiziellen Verfahrens war. Da die Mitglieder keine unabhängigen Richterinnen und Richter, sondern Regierungsvertreter waren,23 bestand stets die Gefahr, dass sie ihre Entscheidung letztendlich von politischen und nicht von rechtlichen Erwägungen leiten lassen würden.24 Außerdem konnten die vom Fall betroffenen Staaten im Komitee ebenfalls abstimmen und so Einfluss auf die Entscheidung nehmen,25 was mit zu der problematischen Erscheinung der „non-decisions“ führte.26
20 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 411; Ravaud, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 645 (653); Robertson, Human rights in Europe, 1977 S. 250 ff; Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (619 f.); Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (30 f.). 21 Drzemczewski, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 733 (738 ff.); Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (604 f.); Ravaud, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 645 (652 f.). 22 Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (604); Drzemczewski, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 733 (738 ff.); Ravaud, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 645 (652); Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 32 Rdnr. 4. 23 Ravaud, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 645 (653). 24 Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (618); Higgins, Revue Hellenique de Droit International 1978, 1 (35). 25 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 14; Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (618); Drzemczewski, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 733 (737). 26 Robertson / Merrills, Human rights in Europe, 3. Aufl. 1993, S. 335.
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Teil 1: Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem
Schließlich war die Entscheidungsfunktion des Ministerkomitees auch mit der Zeit obsolet geworden: Im Januar 1990 hatten alle damaligen Europaratsstaaten die Zuständigkeit des EGMR anerkannt.27 Nunmehr konnte der Gerichtshof in allen Verfahren bindend entscheiden und die Einschaltung des Ministerkomitees nach Art. 32 EMRK a. F. war nicht mehr notwendig. Hinzu kam, dass das Ministerkomitee ohnehin in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Berichte der Kommission übernommen und deren Empfehlungen entsprechend entschieden hatte,28 sodass den Entscheidungen des Ministerkomitees kein rechtlicher Mehrwert zukam. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren entwickelte sich dann die Praxis, dass die Fälle, die noch ungeklärte Rechtsfragen aufwarfen, dem Gerichtshof überwiesen wurden und die weniger bedeutsamen Fälle zum Ministerkomitee gingen, wohl auch um die steigende Arbeitsbelastung des Gerichtshofs abzumildern.29 Der Kontrollmechanismus hatte sich mit der Anerkennung der Individualbeschwerde und der Zuständigkeit des Gerichtshofs durch alle Mitgliedstaaten so weit fortentwickelt, dass die Beteiligung des Ministerkomitees am Verfahren vierzig Jahre nach Inkrafttreten der EMRK nicht nur überflüssig, sondern auch nicht mehr zeitgemäß war. Bemerkenswert ist, dass das Ministerkomitee die Umsetzung seiner gemäß Art. 32 EMRK a. F. getroffenen Entscheidungen auch selbst überwacht hat. Gemäß Art. 32 Abs. 2 EMRK a. F. folgte der Feststellung einer Konventionsverletzung eine zweite Entscheidung, in der das Ministerkomitee einen Zeitraum festsetzen konnte, in dem der betroffene Staat die notwendigen Umsetzungsmaßnahmen auszuführen hatte. In der Praxis hat das Ministerkomitee jedoch so gut wie nie eine Zeitspanne vorgegeben.30 Sollte ein Staat innerhalb der vorgeschriebenen Zeit keine angemessenen Maßnahmen getroffen haben, stand dem Ministerkomitee als Sanktion die Veröffentlichung des Berichts nach Art. 32 Abs. 3 EMRK a. F. zu. 27 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, Appendix 7. 28 Merrills / Robertson, Human rights in Europe, 2004, S. 293; Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (32). 29 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 415 f., Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (33). 30 Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (606 ff.); Drzemczewski, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 733 (741); Ravaud, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 645 (652).
§ 1 Das Ministerkomitee zwischen 1953 und 199827
B. Überwachungsfunktion (Art. 54 EMRK a. F.) Bereits in dem Positionspapier der Konferenz des Internationalen Rats der Europäischen Bewegung war vorgesehen, dass nicht der Gerichtshof selbst, sondern die Organe des Europarats die Umsetzung der Urteile kontrollieren sollten.31 Sowohl die Vertreter der Europäischen Bewegung als auch die Beratende Versammlung sprachen sich gegen die Möglichkeit von Sanktionsmaßnahmen bei der Umsetzung der Urteile aus. Überwiegend trugen die Beteiligten die Auffassung vor, dass das moralische Gewicht einer Entscheidung des Gerichtshofs32 und der Druck der Öffentlichkeit33 genügen würden, um den betroffenen Staat zur Umsetzung eines Urteils zu bewegen. Die von der Beratenden Versammlung vorgeschlagene Klausel war dementsprechend vage formuliert: Urteile sollen dem Ministerkomitee übermittelt werden.34 Das Sachverständigengremium präzisierte die Vorschrift nach weiteren Zwischenschritten noch dahingehend, dass das Ministerkomitee nach Übermittlung die Umsetzung der Urteile überwacht.35 Die Formulierung des Sachverständigengremiums wurde in den anschließenden Vorarbeiten nicht mehr geändert und fand schließlich in Art. 54 EMRK a. F. Eingang in den Konventionstext. In den ersten Jahren folgte die Vorgehensweise des Ministerkomitees keinen Verfahrensregeln und unterschied sich je nach dem einzelnen Fall.36 Dementsprechend milde fielen zu Beginn die Überwachungsbestrebungen des Ministerkomitees aus; oftmals nahm das Komitee Umsetzungsmaßnahmen nur zur Kenntnis, ohne sie zu überprüfen.37 1976 gab sich das Ministerkomitee zum ersten Mal einen Katalog von vier Verfahrensregeln, die den 31 Loth / Lipgens, Transnational organizations of political parties and pressure groups in the struggle for European Union, 1945–1950, 1991, Dok. Nr. 92. 32 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 1, S. 72 / 73, 122 / 125, 132 / 133, 136 / 137. 33 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 1, S. 34 / 35. 34 „The findings of the Court shall be transmitted to the Committee of Ministers.“ Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, S. 82 / 83. 35 Council of Europe (Hrsg.), Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, 1975, Bd. 3, S. 246 / 247. 36 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 255. 37 Siehe Überblick bei Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 255; Robertson, Human rights in Europe, 2. Aufl. 1977, S. 126 f.; Higgins, Revue Hellenique de Droit International 1978, 1 (37 ff.); Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 163 f.
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Teil 1: Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem
Ablauf der Überwachung organisierten.38 Seitdem waren die Staaten verpflichtet, das Ministerkomitee über ihre Maßnahmen zur Implementierung des Urteils zu informieren (Regel 2). Außerdem wurde jede Überwachung mit einer formalen Resolution abgeschlossen.39 Jedoch geht aus den Resolutionen von Ende der siebziger bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Regel nur hervor, dass das Komitee von dem betroffenen Staat Informationen zu Umsetzungsmaßnahmen erhalten und zur Kenntnis genommen hat. Sie geben jedoch nicht darüber Aufschluss, ob das Komitee die Maßnahmen auch inhaltlich überprüft hat.40 Daher ist der Erfolg des Ministerkomitees bei der Umsetzungsüberwachung in dieser Zeitspanne umstritten: Einerseits werden die im Vergleich zu heute wenigen Urteile allesamt als erfolgreich umgesetzt angesehen;41 andererseits gab es auch damals in einzelnen Fällen Anzeichen für überlange Umsetzungsdauer42 und einen nachsichtigen Umgang des Ministerkomitees mit den Mitgliedsstaaten.43
C. Weitere Funktionen Das 2. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 6. Mai 196344 erweiterte die Zuständigkeiten des Ministerkomitees. Seit dessen Inkrafttreten am 21. September 1970 konnte das Komitee beim Gerichtshof Rechtsgutachten zur Auslegung der Konvention und der Protokolle erbitten. Zudem oblag es gemäß Art. 21 EMRK a. F. dem Komitee, die Mitglieder der Kommission zu wählen. Darüber hinaus stellte es auch die Liste der nominierten Richterinnen und 38 Rules adopted by the Committe of Ministers concerning the application of Article 54 of the European Convention of Human Rights (in der Folge: Committee of Ministers, VerfO 1976), abgedruckt in Pabel / Schmahl / Karl, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1986; siehe auch Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 417 f. 39 Committee of Ministers, VerfO 1976, Regel 4; Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 418. 40 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 418. 41 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 420; siehe auch Teil 3 § 1 A. 42 Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (46 f.); Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 420. 43 Siehe Übersicht bei Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (43 ff.); Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 421. 44 Protocol No. 2 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, conferring upon the European Court of Human Rights competence to give advisory opinions, 06.05.1963, CETS No. 044.
§ 2 Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Zusatzprotokoll 29
Richter des Gerichtshofs zusammen, die dann von der Parlamentarischen Versammlung nach Art. 39 EMRK a. F. gewählt wurden.45
§ 2 Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Zusatzprotokoll Die Idee, den Kontrollmechanismus der EMRK zu reformieren, stand bereits seit den achtziger Jahren im Raum.46 Nach 1990 wurde aus dieser Idee eine drängende Notwendigkeit: Bei der Einlegung von Individualbeschwerden war ein ständiger Anstieg zu beobachten. Während 1981 nur 404 Beschwerden bei der Kommission eingingen, waren es im Jahr 1993 bereits 2037.47 Gleichzeitig nahm infolge des Ende des Kalten Krieges auch die Zahl der Mitglieder des Europarates zu und das Kontrollsystem der EMRK erfuhr eine wachsende Bekanntheit. Daher war von einem noch stärkeren Anstieg der Individualbeschwerden auszugehen.48 Die daraus resultierende Arbeitsbelastung drohte die Funktionsfähigkeit des Kontrollmechanismus zu gefährden. Bereits 1994 musste für einen Fall mit einer Verfahrensdauer von fünf Jahren gerechnet werden.49 Die Reformbemühungen, die daraufhin aufgenommen wurden, schlugen sich in dem 11. Zusatzprotokoll zur EMRK nieder, das am 1. November 1998 in Kraft trat. Ziel der Reform war, das System neu zu strukturieren, um so die Verfahrensdauer zu verkürzen.50 Es sollte ein Kontrollmechanismus geschaffen werden, der auch bei damals 40 Mitgliedsstaaten bei akzeptablen Kosten arbeiten würde und gleichzeitig die Autorität („authority“) und Qualität beibehalten könne.51 Mit dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls ersetzte der neue ständige Gerichtshof den zuvor dreigeteilten Kontrollmechanismus, das Ministerkomitee verlor seine Zuständigkeit zur Entscheidung über Beschwerden gemäß Art. 32 EMRK a. F. und die Kommission wurde abgeschafft.52 Die Zuständigkeit des Ministerkomitees zur Überwachung der 45 Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (28). 46 Protocol No. 11 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, restructuring the control machinery established thereby, 11.05.1994, CETS No. 155 (in der Folge: 11. Zusatzprotokoll zur EMRK), Explanatory Report, Ziff. 10 ff. 47 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 19. 48 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 20. 49 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 21. 50 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 23. 51 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 23. 52 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 26.
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Teil 1: Die Aufgaben des Ministerkomitees im Konventionssystem
Urteile blieb im selben Wortlaut erhalten und war von nun an in Art. 46 Abs. 2 EMRK geregelt. Die Befugnis, Rechtsgutachten zu erbitten, ist seither in Art. 47 EMRK festgelegt, hat jedoch keine Praxisrelevanz. Somit ist das Ministerkomitee ein Relikt aus einer Zeit als Regierungen noch nicht gewillt waren, sich vollständig einem internationalen Spruchkörper zu unterwerfen, sondern einen politisierten Prozess bevorzugten.53 Die Mitgliedstaaten reagierten auf den Wandel, indem sie das Ministerkomitee aus dem Gerichtsverfahren herausnahmen und sich seine Aufgabe nach der EMRK heute auf die Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR beschränkt.
53 Frowein / Peukert, Rdnr. 1.
Europäische
Menschenrechtskonvention,
1985,
Art. 32
Teil 2
Handlungsrahmen des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile gemäß Art. 46 EMRK Zunächst werden die Verpflichtungen untersucht, die sich für einen Staat aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK ergeben (§ 1). Darauf aufbauend werden die Verpflichtungen des Ministerkomitees bei der Überwachung der Umsetzung dieser Urteile betrachtet (§ 2). Denn das Ministerkomitee kann von einem Staat nur Umsetzungsmaßnahmen verlangen, zu denen der Staat auch verpflichtet ist.
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK Grundsätzlich ist ein Urteil des EGMR nichts anderes als die Feststellung, ob ein Staat seine völkerrechtliche Verpflichtung aus der EMRK verletzt und sich so völkerrechtlich verantwortlich gemacht hat.1 In einem Urteil stellt der Gerichtshof fest, ob ein Mitgliedstaat der EMRK sich konventionswidrig verhalten hat.2 Gegebenenfalls wird dem Beschwerdeführer oder der Beschwerdeführerin darüber hinaus eine Entschädigung im Sinne von Art. 41 EMRK (just satisfaction) zugesprochen. Gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK ist der betroffene Staat verpflichtet, das Urteil zu befolgen. Das heißt, dass der Staat bei einem Urteil, in dem keine Konventionsverletzung festgestellt wird, wie bisher verfahren darf und bei einem Urteil, in dem eine Konventionsverletzung festgestellt wird, das Urteil umsetzen muss. Das Urteil selbst hat keine unmittelbare Wirkung in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betroffenen Staats3 und kann einen kon-
1 Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 47. 2 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 2. 3 Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 232.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
ventionswidrigen nationalen Hoheitsakt nicht aufheben.4 Auch kann der Gerichtshof dem verurteilten Staat grundsätzlich nicht vorschreiben, wie er das Urteil im innerstaatlichen Recht umzusetzen hat, die einzelnen Umsetzungsmaßnahmen liegen im staatlichen Ermessen.5 Insofern handelt es sich bei der Verpflichtung, das Urteil zu befolgen, um eine „obligation of result“:6 Das „ob“ einer innerstaatlichen Urteilsumsetzung ist klar vorgeschrieben, das „wie“ liegt aber im Ermessen des betroffenen Staats, solange damit das Urteil umgesetzt wird. Diese Arbeitsteilung zwischen EGMR und Mitgliedstaaten ist auf das Subsidiaritätsprinzip zurückzuführen, das besagt, dass zunächst die Mitgliedstaaten für die Einhaltung der EMRK zuständig sind und der EGMR erst subsidiär zum Zug kommt, sofern die Mitgliedstaaten die Aufgabe nicht erfüllen.7 Daraus folgt einerseits, dass die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen zunächst gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK den innerstaatlichen Rechtsweg ausschöpfen müssen, bevor sie den EGMR anrufen können.8 Andererseits obliegt nach einem Urteil dessen Umsetzung wieder dem jeweiligen Mitgliedstaat und die notwendigen Maßnahmen zu Umsetzung stehen in dessen Ermessen.9 Um die Bindungswirkung des Urteils zu bestimmen, ist nicht nur auf den Urteilstenor, sondern auch auf die Entscheidungsgründe abzustellen.10 4 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 3. 5 EGMR, Urteil vom 13.07.2000 – No. 39221 / 98, 41963 / 98, Scozzari und Giunta / Italien, § 249; zu der neuen Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR, Umsetzungsmaßnahmen gelegentlich direkt anzuordnen, u. a. in Piloturteilen, siehe Teil 4 § 1 A. 6 Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S 7; Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, 532 (570); Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (793); Polakiewicz, ZaöRV 1992, 149 (165). 7 EGMR, Urteil vom 29.03.2006 – No. 36813 / 97, Scordino / Italien (No. 1), § 140; European Court of Human Rights, Interlaken Follow-Op, Principle of Subsidiarity, Note by the Jurisconsult, Ziff. 1, http: / / www.echr.coe.int / Documents / 2010_In terlaken_Follow-up_ENG.pdf (Stand: 28.02.2018). 8 EGMR, Urteil vom 29.03.2006 – No. 36813 / 97, Scordino / Italien (No. 1), § 140; European Court of Human Rights, Interlaken Follow-Op, Principle of Subsidiarity, Note by the Jurisconsult, Ziff. 18 ff., http: / / www.echr.coe.int / Documents / 2010_ Interlaken_Follow-up_ENG.pdf (Stand: 28.02.2018). 9 European Court of Human Rights, Interlaken Follow-Op, Principle of Subsidiarity, Note by the Jurisconsult, Ziff. 24 f., http: / / www.echr.coe.int / Documents / 2010_ Interlaken_Follow-up_ENG.pdf (Stand: 28.02.2018); Lambert-Abdelgawad, The exe cution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 7. 10 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 37 f.; Okresek, EuGRZ 2003, 168 (171);
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 33
Nur die Parteien des Verfahrens sind gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK zur Befolgung des Urteils verpflichtet.11 Das Urteil entfaltet folglich keine Wirkung gegenüber den übrigen Mitgliedsstaaten, abgesehen von einer „Orientierungswirkung“ bei der Auslegung der EMRK.12 Selbstverständlich steht es den Mitgliedsstaaten aber offen, infolge der Verurteilung eines anderen Staates durch den EGMR freiwillig ihre Rechtsordnung anzupassen.13 Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung entwickelt, welche Pflichten sich im Sinne des Art. 46 Abs. 1 EMRK für den betroffenen Staat aus dem Urteil genau ergeben. Es sind die Beendigungspflicht (A.), die Pflicht zur Wiedergutmachung (B.) und die Pflicht, die Konventionsverletzung nicht zu wiederholen (C.).
A. Beendigungspflicht Zunächst ist der Staat verpflichtet, sein rechtswidriges Verhalten zu beenden. Diese bereits im allgemeinen Völkerrecht verankerte Pflicht14 hat auch der EGMR ausdrücklich in seiner Rechtsprechung anerkannt.15 Die Funktion der Beendigungspflicht besteht darin, die fortwährende Geltung und Wirkung der verletzten Rechtsnorm zu sichern.16
a. A. Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 69. 11 Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 258 ff.; Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 70. 12 Okresek, EuGRZ 2003, 168 (169). 13 Wie es zum Beispiel die Niederlande infolge des Urteils Marckx / Belgien gemacht haben, Okresek, EuGRZ 2003, 168 (170); s. auch European Court of Human Rights, High-level Conference on the future of the European Court of Human Rights, Interlaken Declaration, 19. February 2010, Ziff. 4 c), http: / / www.echr.coe.int / Documents / 2010_Interlaken_FinalDeclaration_ENG.pdf (Stand: 28.02.2018). 14 Dazu ausführlich Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 52 ff.; zudem ist die Beendigungspflicht auch in den Artikeln der International Law Commission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Handeln (Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, im Folgenden: ILC-Artikel) in Art. 30 lit. a (cessation) festgeschrieben. 15 „[…] [A] judgment in which the Court finds a breach imposes on the respondent State a legal obligation to put an end to the breach […]“, EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), § 34. 16 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 30 Rdnr. 5.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Die Pflicht, eine Rechtsverletzung zu beenden, setzt voraus, dass die Verletzung noch andauert.17 Andauernde Verletzungen können immer abgestellt werden, weshalb die Erfüllung der Beendigungspflicht grundsätzlich immer möglich ist.18 Eine andauernde Verletzung liegt jedoch nur vor, wenn das konventionswidrige Verhalten selbst fortbesteht; die Auswirkungen des konventionswidrigen Verhaltens stellen dagegen keine andauernde Verletzung dar.19 Wann eine Verletzung noch andauert und wie sie beendet werden kann, ist eine Frage des Einzelfalls. Bei den notwendigen Beendigungsmaßnahmen lässt sich zwischen generellen (I.) und individuellen Maßnahmen (II.) unterscheiden. I. Beendigung durch generelle Maßnahmen Generelle Maßnahmen sind solche, die über den Einzelfall hinausgehen. Im Rahmen der Pflicht, eine Konventionsverletzung zu beenden, greifen generelle Maßnahmen dann ein, wenn eine gesetzliche Bestimmung allein durch ihre Existenz gegen die Konvention verstößt.20 Dann muss in der Regel das zugrunde liegende nationale Gesetz geändert werden.21 Zwar wird im Individualbeschwerdeverfahren nur über einen konkreten Fall entschieden und mit der Änderung der Rechtsnorm die Wirkung des Urteils automatisch über den Einzelfall hinaus ausgeweitet. Wenn aber eine gesetzliche Bestimmung und nicht deren Vollzugsakt für die Beschwerdebefugnis ausreicht,22 dann stellt auf der anderen Seite die fortdauernde Geltung dieser konven tionswidrigen Norm eine andauernde Verletzung des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin dar, die von dem verantwortlichen Staat beendet werden muss;23 die Ausweitung der individuellen Situation auf die Allge-
17 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 6; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 63. 18 Corten, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 545 (548). 19 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 64. 20 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 6; Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 139. 21 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 7. 22 EGMR, Urteil vom 13.06.1977 – No. 6833 / 74, Marckx / Belgien, § 27, Tenor Ziff. 1; EGMR, Urteil vom 22.10.1981 – No. 7525 / 76, Dudgeon / Vereinigtes Königreich, § 41; EGMR, Urteil vom 26.10.1988 – No. 10581 / 83, Norris / Irland, § 34, Tenor Ziff. 1.
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 35
meinheit ist lediglich ein unvermeidbarer Nebeneffekt.24 So hatte beispielsweise im Fall Marckx / Belgien der EGMR einige Vorschriften des belgischen Code Civil, die das uneheliche Kind gegenüber dem ehelichen Kind benachteiligten, für unvereinbar mit Art. 8 und Art. 14 EMRK erklärt.25 Zur Beendigung der andauernden Konventionsverletzung der Beschwerdeführerinnen wurden dann die entsprechenden Vorschriften des belgischen Code Civil geändert.26 II. Beendigung durch individuelle Maßnahmen Individuelle Maßnahmen sind auf die durch die Konventionsverletzung verursachte Situation des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin beschränkt. Individuelle Maßnahmen werden notwendig, wenn die andauernde Verletzung auf Maßnahmen der Exekutive, also Vollzugsakten, beruht. So sind beispielsweise Strafgefangene, deren Haft gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstößt, freizulassen.27 Denn wenn die Freiheitsentziehung selbst gegen die Konvention verstößt, ist die Freilassung der Gefangenen die einzige Möglichkeit, den konventionswidrigen Zustand zu beenden.28 Anders sieht es aus, wenn die Inhaftierung auf einem gegen Art. 6 EMRK verstoßenden Verfahrensfehler beruht. In dem Fall kann von dem konventionswidrigen Verfahren nicht automatisch auf eine konventionswidrige Haft geschlossen werden, da nicht abzusehen ist, wie der Ausgang eines rechtmäßigen Verfahrens gewesen wäre.29 Die Beendigungspflicht kann lediglich vorsehen, dass der Verfahrensfehler selbst abgestellt werden muss; mit Abschluss des Verfahrens
23 Im Ergebnis so auch Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 139 f. 24 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 66. 25 EGMR, Urteil vom 16.06.1979 – No. 6833 / 74, Marckx / Belgien. 26 Committee of Ministers, Final Resolution DH (88) 3, 04.03.1988; Polakiewicz, ZaöRV 1992, 149 (154). 27 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 203; EGMR, Urteil vom 08.07.2004 – No. 48787 / 99, Ilașcu u. a. / Moldau und Russland, § 490; Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 9; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 71 f.; siehe auch Teil 4 § 1 A. I. 1. a). 28 EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 202; EGMR, Urteil vom 08.07.2004 – No. 48787 / 99, Ilașcu u. a. / Moldau und Russland, § 490; Grabenwarter, JZ 2010, 857 (860). 29 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 83 f.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
dauert der Verfahrensfehler jedoch nicht mehr an und fällt damit nicht unter die Beendigungspflicht.30 Stellt der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, weil einem Elternteil der Kindesumgang verwehrt wird, muss beispielsweise der Staat zur Beendigung der Konventionsverletzung dafür sorgen, dass dem Elternteil der Umgang mit seinem Kind ermöglicht wird.31 Wurde ein Urteil, das auf einer konventionswidrigen Rechtsgrundlage beruht, noch nicht vollstreckt, so ist von der Vollstreckung abzusehen.32
B. Wiedergutmachungspflicht Neben der Pflicht zur Beendigung der Konventionsverletzung ist der Staat zudem zur Wiedergutmachung verpflichtet. Diese Pflicht geht auf das Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofes (StIGH) aus dem Jahr 1928 im Fall Chorzow Factory zurück, in dem der Gerichtshof entschied, dass eine Entschädigung den Zustand wieder herzustellen hat, der bestehen würde, wenn das rechtswidrige Verhalten nicht stattgefunden hätte.33 Die Wiedergutmachungspflicht ist ferner in Art. 35 ILC-Artikel (restitution) niedergelegt. Der EGMR wiederum hat die Formulierung des StIGH übernommen und entschieden, dass ein Staat die Folgen seiner Konventionsverletzung wieder gutzumachen hat, indem so weit wie möglich die Situation wieder herzu stellen ist, wie sie vor der Konventionsverletzung bestand (restitutio in integrum).34 Es geht also darum, den Beschwerdeführer oder die Beschwerdeführerin rückwirkend wieder in eine rechtmäßige Position zu versetzen. Dies geschieht durch individuelle Maßnahmen (I.). Ist eine Wiedergutmachung gegenüber der betroffenen Person durch individuelle Maßnahmen nicht möglich, kann der EGMR gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigungszahlung (just satisfaction) anordnen (II.).
30 Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 142. 31 EGMR, Urteil vom 26.02.2004 – No. 74969 / 01, Görgülü / Deutschland, § 64. 32 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 81. 33 „[…] [R]eparation must, as far as possible, wipe out all the consequences of the illegal act and reestablish the situation which would, in all probability, have existed if that act had not been comitted.“ StIGH, Urteil vom 13.09.1928, Factory at Chorzów (Merits) (Deutschland / Polen), Series A No. 17, 47. 34 „[…] [M]ake reparation for its consequences in such a way as to restore as far as possible the situation existing before the breach“, EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), § 34.
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I. Wiedergutmachung durch individuelle Maßnahmen Die bedeutsamste individuelle Maßnahme zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung ist die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens der betroffenen Person (1.). Darüber hinaus sind noch weitere individuelle Maßnahmen denkbar (2.). 1. Wiederaufnahme eines Verfahrens
Eine Möglichkeit der Wiedergutmachung ist die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Gerichtsverfahrens, das Gegenstand der festgestellten Konventionsverletzung war. Bedeutsam ist, dass dadurch Verfahren, in denen bereits ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist, infolge eines EGMR-Urteils wieder aufgerollt werden. Um diese Maßnahme mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren, wurden in vielen Mitgliedsstaaten erst entsprechende Wiederaufnahmetatbestände geschaffen. So hat das Ministerkomitee im Jahr 2000 in einer Empfehlung hervorgehoben, dass die EMRK zwar keine völkerrechtliche Pflicht zur Einführung solcher Vorschriften vorsehe.35 Die Wiederaufnahme des Verfahrens sei aber zuweilen die wichtigste und in einigen Fällen sogar die einzige Möglichkeit, restitutio in integrum zu erreichen.36 Daher hat das Ministerkomitee die Mitgliedsstaaten ermuntert, im innerstaatlichen Recht Vorschriften zu schaffen, um die Wiederaufnahme von Verfahren nach Urteilen des EGMR zu ermöglichen.37 Das Ministerkomitee bezog sich ausdrücklich auf Fälle, in denen die verletzte Partei aufgrund der inländischen Gerichtsentscheidung weiterhin sehr schwere Folgen erleidet, die nicht ausreichend durch eine Entschädigung beseitigt und nur durch die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens behoben werden können.38 Das betrifft insbesondere Personen, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind.39 Zusätzlich muss das Urteil des EGMR zu dem Schluss gekommen sein, dass die angefochtene innerstaat liche Entscheidung in der Sache der Konvention widerspricht und die gefundene Rechtsverletzung auf so gewichtigen Verfahrensfehlern oder Verfah35 Committee of Ministers, Recommendation No. R (2000) 2 of the Committee of Ministers to member states on the re-examination or reopening of certain cases at domestic level following judgments of the European Court of Human Rights, 19.01.2000 (im Folgenden: Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2), Explanatory Memorandum, Ziff. 3. 36 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Abs. 5. 37 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Ziff. II. 38 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Ziff. II (i). 39 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Explanatory Memorandum, Ziff. 10.
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rensmängeln beruht, dass das Ergebnis des beanstandeten nationalen Verfahrens ernsthaft in Zweifel gezogen wird.40 Die Empfehlung zielt zwar in erster Linie auf Strafverfahren ab,41 ist aber ausdrücklich nicht auf die Wiederaufnahme von Strafverfahren beschränkt.42 Der Gerichtshof wiederum hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens im Prinzip die bestgeeignete Maßnahme zur Wiedergutmachung einer Verletzung von Art. 6 EMRK darstellt43 und in Ausnahmefällen auch die Wiederaufnahme des Verfahrens im Urteilstenor angeordnet.44 Vereinzelt hat der Gerichtshof sich dabei ausdrücklich auf die Empfehlung des Ministerkomitees bezogen.45 Zudem sei die Wiederaufnahme auch nur angebracht, wenn sie auf Verlangen der Betroffenen erfolge.46 Auch die Einführung von Wiederaufnahmetatbeständen hat der EGMR einem Staat schon vereinzelt nahegelegt.47 Grundsätzlich stehen die Mitgliedsstaaten in der Pflicht, entsprechende Wiederaufnahmetatbestände in ihren nationalen Rechtsordnungen zu schaffen, um zukünftig Verfahren infolge einer Verurteilung durch den EGMR wieder aufnehmen zu können.48 Denn der Sinn und Zweck von Art. 46 Abs. 1 40 Committee 41 Committee
of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Ziff. II (ii). of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Explanatory Memorandum,
Ziff. 10, 12. 42 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Explanatory Memorandum, Ziff. 5 f., 10. 43 EGMR, Urteil vom 23.10.2003 – No. 53431 / 99, Gençel / Türkei, § 27; EGMR, Urteil vom 18.05.2004 – No. 67972 / 01, Somogyi / Italien, § 86; EGMR, Urteil vom 12.05.2005 – No. 46221 / 99, Öcalan / Türkei; § 210; EGMR, Urteil vom 01.03.2006 – No. 56581 / 00, Sejdovic / Italien, § 126; EGMR, Urteil vom 08.10.2009 – No. 38228 / 05, Maksimov / Aserbaidschan, § 46; EGMR, Urteil vom 13.11.2011 – No. 20883 / 09, Ajdaric / Kroatien, § 58. 44 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 26.01.2006 – No. 62710 / 00, Lungoci / Rumänien, Tenor Ziff. 3 a); siehe dazu Teil 4 § 1 A. I. 1. b) aa). 45 EGMR, Urteil vom 01.03.2006 – No. 56581 / 00, Sejdovic / Italien, § 126; EGMR, Urteil vom 23.05.2006 – No. 24379 / 02, Kounov / Bulgarien, § 59. 46 EGMR, Urteil vom 12.05.2005 – No. 46221 / 99, Öcalan / Türkei; § ̑210; EGMR, Urteil vom 01.03.2006 – No. 56581 / 00, Sejdovic / Italien, § 126; EGMR, Urteil vom 19. Oktober 2006 – No. 66354 / 01, Abdullah Altun / Türkei, § 38; LambertAbdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 22; Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (480 f.). 47 EGMR, Urteil vom 20.04.2010 – No. 12315 / 04, Laska und Lika / Albanien, § 74 ff.; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (152). 48 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 15; a. A. Blackburn / Polakiewicz, Fundamental rights in Europe: the European Convention on Human Rights and its member states, 1950–2000, 2001, S. 61.
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EMRK gebietet eine effektive Durchsetzung der Urteile des EGMR, also eine vollumfängliche Wiedergutmachung der Verletzung, die in vielen Fällen nur durch die Einführung von Wiederaufnahmetatbeständen gewährleistet werden kann.49 Wann eine Wiederaufnahme des Verfahrens in der Praxis dann tatsächlich zur Umsetzung eines Urteils notwendig ist, bleibt jedoch eine Frage des Einzelfalls, die grundsätzlich im Ermessen des Mitgliedsstaats liegt und vom Ministerkomitee während der Überwachung der Umsetzung kontrolliert wird.50 Denn die Wiederaufnahme eines Verfahrens ist nicht immer angebracht: So ist eine Wiederaufnahme problematisch, sobald sie zu Lasten Dritter gehen könnte.51 Ein weiteres Problem stellt der zeitliche Aspekt dar. Zum einen droht Beweismittelverlust bis zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme, zum anderen wird das ohnehin schon langwierige Verfahren verlängert.52 Daher ist es im Einzelfall möglich, dass die Wiederaufnahme nach einem langen Zeitraum nicht mehr geeignet ist, die Konventionsverletzung wieder gutzumachen. Ebenso ist von der Wiederaufnahme abzusehen, wenn nicht sichergestellt ist, dass dabei die in Art. 6 EMRK garantierten Rechte respektiert werden.53 Nach Angaben des Europarats verfügten im Jahr 2008 etwa 70 % der Mitgliedstaaten in ihren Rechtsordnungen über Tatbestände, die die Wiederaufnahme von Strafverfahren nach einem Urteil des EGMR vorsehen,54 wäh49 Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2008, S. 53. 50 EGMR, Urteil vom 01.03.2006 – No. 56581 / 00, Sejdovic / Italien, § 126 f.; EGMR, Urteil vom 23.05.2006 – No. 24379 / 02, Kounov / Bulgarien, § 59. 51 Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 18; Barkhuysen / van Emmerik, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 1 (6, 8 f.); siehe auch Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Explanatory Memorandum, Ziff. 15. 52 Werwie-Haas, Die Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des Euro päischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Deutschland, Österreich, der Schweiz und im Vereinigten Königreich, 2008, S. 69; Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 18. 53 EGMR, Urteil vom 09.01.2013 – No. 21722 / 11, Oleksandr Volkov / Ukraine, § 207. 54 Council of Europe, Steering Committee for Human Rights, Activity Report: Sustained action to ensure the effectiveness of the implementation of the ECHR at national and European levels, 03.04.2008, CDDH(2008)008 Add. I, S. 28; siehe auch Keller / Stone Sweet, in: Keller / Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of rights, 2008, S. 677 (704), die aber nicht alle Mitgliedstaaten in ihre Untersuchung miteinbeziehen; in Deutschland ist die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens infolge einer Verurteilung durch den EGMR in § 359 Nr. 6 StPO vorgesehen.
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rend nur etwa 42 % der Mitgliedstaaten auch Wiederaufnahmetatbestände in Zivilsachen vorsahen.55 2. Weitere individuelle Maßnahmen
Neben der Wiederaufnahme eines Verfahrens sind noch weitere individuelle Maßnahmen zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung möglich. Darunter fällt zum Beispiel die Streichung des Eintrags aus dem Vorstrafenregister.56 Zudem werden Personen infolge eines EGMR-Urteils zuweilen begnadigt.57 Die Begnadigung ist zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung jedoch ungeeignet: Die Begnadigung stellt einen Akt der Vergebung gegenüber der verurteilten Person dar, wobei es im Falle einer Verurteilung durch den EGMR der Staat ist, der die Rechtsverletzung begangen hat und zur Wiedergutmachung verpflichtet ist.58 Außerdem wird in der Regel vom Staat keine Schadensersatzzahlung für die bereits verbüßte Freiheitsstrafe geleistet.59 Eine weitere Möglichkeit stellt die Aufhebung eines konventionswidrig entstandenen Verwaltungsaktes, zum Beispiel einer Ausweisungsverfügung, dar.60 Zudem ist Land, das unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Zusatzprotokoll zur EMRK (1. ZP) enteignet wurde, zurückzugeben.61 55 Council of Europe, Steering Committee for Human Rights, Activity Report: Sustained action to ensure the effectiveness of the implementation of the ECHR at national and European levels, 03.04.2008, CDDH(2008)008 Add. I, S. 30; s. auch Keller / Stone Sweet, in: Keller / Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of rights, 2008, S. 677 (704), die aber nicht alle Mitgliedstaaten in ihre Untersuchung miteinbeziehen; in Deutschland sieht § 580 Nr. 8 ZPO die Wiederaufnahme eines Zivilverfahrens infolge eines EGMR-Urteils vor. 56 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)73, 08.06.2011, Appendix, Ziff. I. b) 2) ff.; Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH (2009)108, 30.09.2009, Appendix, Ziff. I. b); Commitee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2008)77, 08.10.2008, Appendix, Ziff. I. b); Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2004)3, 24.02.2004, Appendix. 57 Commitee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)260, 02.12.2011, Appendix; Commitee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2010)13, 04.03.2010, Appendix, Ziff. I. b). 58 Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 25 f. 59 Barkhuysen / van Emmerik, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 1 (6), am Beispiel der niederländischen Rechtsordnung. 60 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)200, 02.12.2011, Appendix, Ziff. I.; Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)183, 06.12.2012, Appendix, Ziff. I. b); Barkhuysen / van Emmerik, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 1 (5).
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 41
II. Gerechte Entschädigung (Art. 41 EMRK) Die gerechte Entschädigung wird dem Beschwerdeführer zugesprochen, wenn die Voraussetzungen des Art. 41 EMRK erfüllt sind (1.), zudem sind die Regeln zur Bemessung und Zahlung der Entschädigung zu beachten (2.). 1. Voraussetzungen
Art. 41 EMRK setzt voraus, dass eine Konventionsverletzung durch den Gerichtshof festgestellt wurde und dass das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzung vorsieht. Dann kann der verletzten Partei, sofern notwendig, eine Entschädigung zugesprochen werden. Wird eine Entschädigungszahlung angeordnet, ist der betroffene Staat nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet, die Zahlung zu leisten.62 Zunächst ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof dem Individuum direkt eine Entschädigung zusprechen kann, obwohl es sich um ein völkerrechtliches Verfahren handelt.63 Denn die EMRK sieht gerade vor, dass die Betroffenen selbst Inhaber der Konventionsrechte sind64 und folgerichtig auch als „verletzte Partei“ im Sinne des Art. 41 EMRK die Entschädigung erhalten.65 In Bezug auf die Voraussetzungen von Art. 41 EMRK ist die festgestellte Konventionsverletzung unproblematisch, die Bedingung der unvollkommenen Wiedergutmachung in der Rechtsordnung des betroffenen Staates jedoch weniger klar. Der EGMR hat im Urteil Papamichalopoulos / Griechenland konkretisiert, dass eine Entschädigung nur dann vom Gerichtshof angeordnet werden kann, wenn Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht nicht oder nur teilweise möglich ist und sich dabei wiederum auf das Urteil des 61 EGMR, Urteil vom 13.11.2007 – No. 33771 / 02, Driza / Albanien, § 135; EGMR, Urteil vom 23.01.2001 – No. 28342 / 95, Brumarescu / Rumänien (Art. 41), § 22, Tenor Ziff. 1 f.; EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), § 38, Tenor Ziff. 1, 2; siehe auch Teil 4 § 1 A. I. 1. b) bb). 62 Okresek, EuGRZ 2003, 168 (169). 63 Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 53. 64 Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 35. 65 EGMR, Urteil vom 10.03.1972 – No. 2832 / 66 u. a., De Wilde, Ooms und Versyp (Landstreicherei) / Belgien (Art. 50), § 23; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993 S. 188 f.; Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 34.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
StIGH im Fall Chorzow Factory bezogen.66 Demnach soll zunächst der Mitgliedstaat für Wiedergutmachung sorgen und erst wenn dem Mitgliedstaat eine vollkommene Wiedergutmachung, sprich restitutio in integrum, nicht gelingt, greift der Gerichtshof subsidiär mit einer Entschädigung ein.67 Dieses Konzept hat sich jedoch nicht durchgesetzt. In der Praxis spricht der EGMR schon allein wegen der Konventionsverletzung Entschädigungen zu, ohne die innerstaatlichen Wiedergutmachungsmöglichkeiten zu prüfen68 und geht so weiter als die Chorzow-FactoryFormel.69 Der EGMR selbst begründet diese Praxis damit, dass den Betroffenen nicht zugemutet werden könne, nochmals den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen, um vom Gerichtshof in einem weiteren Urteil eine Entschädigung zugesprochen zu bekommen.70 Aber es dürfte auch eine Rolle spielen, dass der EGMR kein Interesse daran hat, innerstaatliche Reparationsmöglichkeiten umfassend zu prüfen.71 Insgesamt ist diese Praxis jedoch zu kritisieren, da sie den Eindruck erweckt, der Staat könne sich von seiner Verpflichtung zur Wiedergutmachung „freikaufen“.72 Durch seine Tendenz, immer öfter Maßnahmen zur Umsetzung seines Urteils direkt zu empfehlen, scheint der Gerichtshof aber wieder mehr die Notwendigkeit individueller Wiedergutmachungsmaßnahmen zu betonen.73 66 EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), § 34; eine ähnliche Regelung findet sich auch in Art. 36 Abs. 1 der ILC-Artikel unter dem Begriff „compensation“ und nicht „satisfaction“ wieder, dazu Breuer, EuGRZ 2004, 257 (260). 67 Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 13. 68 St. Rspr., z. B. EGMR, Urteil vom 10.03.1972 – No. 2832 / 66 u. a., De Wilde, Ooms und Versyp (Landstreicherei) / Belgien (Art. 50), § 16; EGMR, Urteil vom 13.06.1994 – No. 10588 / 83 u. a., Barberà, Messegué und Jabardo / Spanien (Art. 50), § 16; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 101; Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 14 f.; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258). 69 Gray, in: Romano / Alter / Shany (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Adjudication, 2014, S. 871 (892). 70 EGMR, Urteil vom 10.03.1972 – No. 2832 / 66 u. a., De Wilde, Ooms und Versyp (Landstreicherei) / Belgien (Art. 50), § 16; EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), § 40; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 101 f. 71 Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 15. 72 Loucaides, EHRLR 2008, 182 (186); Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (490). 73 Breuer, EuGRZ 2004, 257 (259).
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 43
Festzuhalten ist, dass angesichts des weiten Verständnisses des Gerichtshofs von Entschädigung die Anordnung einer Entschädigung nicht bedeutet, dass Wiedergutmachung unmöglich ist. Denn das wird vom Gerichtshof nicht geprüft. Ziel ist es gerade, die Situation der Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen aus Gründen des effektiven Menschenrechtsschutzes zu erleichtern. Daher ist es auch bei Anordnung einer Entschädigung grundsätzlich weiterhin notwendig, individuelle Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu ergreifen.74 Generelle und individuelle Maßnahmen zum Zweck der Beendigung oder Nichtwiederholung der Konventionsverletzung sind neben der Zahlung einer Entschädigung ohnehin zu berücksichtigen,75 da sie von der Pflicht zur Wiedergutmachung und der Entschädigungszahlung nicht betroffen sind.76 Folglich ist die Argumentation, dass sich aus der Entschädigungspraxis des EGMR eine Genehmigung der unvollkommenen Wiedergutmachung ergebe, und beispielsweise die Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens aufgrund der geleisteten Entschädigungszahlung nicht mehr notwendig sei,77 nicht sachgerecht.78 2. Bemessung und Zahlung der Entschädigung
Die Entschädigung hat zwei Komponenten: Erstens kann der Gerichtshof eine Entschädigung für den erlittenen materiellen oder immateriellen Schaden anordnen.79 Das setzt neben dem Nachweis des Schadens auch einen Kausalzusammenhang zwischen Konventionsverletzung und Schaden voraus, die Konventionsverletzung muss also ursächlich für den Schaden gewesen 74 „[…] [N]ot just to pay those concerned the sums awarded by way of just satisfaction, but also to choose, subject to supervision by the Committee of Ministers, the general and / or if appropriate, individual measures […].“ EGMR, Urteil vom 13.07.2000 – Nos. 39221 / 98, 41963 / 98, Scozzari und Giunta / Italien, § 249; Nicolaou, HRLJ 2011, 269 (272); Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 181; Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 115 f. 75 EGMR, Urteil vom 13.07.2000 – Nos. 39221 / 98, 41963 / 98, Scozzari und Giunta / Italien, § 249; Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (51). 76 So bzgl. der Abgrenzung von Wiedergutmachung und Beendigung auch Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 111. 77 Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 77. 78 Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2008, S. 56 f. 79 EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 6 (a), (b); Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 41 Rdnr. 6.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
sein.80 Bei Verletzungen von Verfahrensfehlern wird beispielsweise selten eine Entschädigung zugesprochen, weil der Gerichtshof nicht abschätzen kann, wie das innerstaatliche Verfahren bei Einhaltung der Verfahrensgarantien ausgegangen wäre.81 Zweitens kann der EGMR den Ersatz der Kosten des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin für das innerstaatliche und auch für das Verfahren vor dem EGMR vorschreiben.82 Die Anordnung des Kostenersatzes setzt voraus, dass die Kosten tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sind.83 Der Gerichtshof setzt eine Frist zur Zahlung der Entschädigung fest, die in der Regel bei drei Monaten liegt.84 Wenn die Entschädigung bis dahin nicht entrichtet wird, werden Zinsen fällig.85
80 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 13.10.2012 – No. 22689, De Souza Ribeiro / Frankreich, § 106; EGMR, Urteil vom 01.03.2006 – No. 56581 / 99, Sejdovic / Italien, § 133; EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 7; Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 28. 81 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 26.02.2002 – No. 38784 / 97, Morris / Vereinigtes Königreich, § 98; EGMR, Urteil vom 26.07.2002 – No. 32911 / 96 u. a., Meftah u. a. / Frankreich, § 56; EGMR, Urteil vom 12.06.2000 – No. 32492 / 96 u. a., Coëme u. a. / Belgien, § 155; Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 41 Rdnr. 11 ff.; Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 29; Hunt, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 25 (31 f.). 82 EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 6 (c); Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 41 Rdnr. 85 ff. 83 St. Rechtsprechung, z. B. EGMR, Urteil vom 19.12.2013 – No. 19010 / 07, X u. a. / Österreich, § 163; EGMR, Urteil vom 12.05.2005 – No. 46221 / 99, Öcalan / Türkei, § 215; EGMR, Urteil vom 06.11.1980 – No. 6538 / 74, Sunday Times / Vereinigtes Königreich (Art. 50), § 23; EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 16 ff.; Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 41 Rdnr. 85; Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 81. 84 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 22.12.2005 – No. 46347 / 99, Xenides-Arestis / Türkei, Tenor Ziff. 7 a); EGMR, Urteil vom 07.11.2011 – No. 55721 / 07, Al-Skeini u. a. / Vereinigtes Königreich, Tenor Ziff. 7 a); EGMR, Urteil vom 28.02.2008 – No. 37201 / 06, Saadi / Italien, Tenor Ziff. 5 (a); EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 25. 85 EGMR, Rules of Court, 01.07.2014, Practice Directions, Just Satisfaction Claims, § 25.
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 45
C. Verpflichtung, die Konventionsverletzung nicht zu wiederholen Eine weitere mögliche Pflicht, die sich für den betroffenen Staat aus einem Urteil des EGMR ergeben kann, ist die Pflicht, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit sich die Konventionsverletzung in der Zukunft nicht wiederholt. Nach der Darstellung der Grundlagen und rechtlichen Einordnung (I.) wird die Ausführung dieser Pflicht betrachtet (II.). I. Grundlagen und rechtliche Einordnung Der betroffene Mitgliedstaat kann in der Pflicht stehen, seine Rechtsordnung infolge einer Verurteilung durch den EGMR anzupassen, um die Konventionsverletzung bei vergleichbarer Sachlage zukünftig nicht zu wiederholen.86 Das beinhaltet die Pflicht, generelle Maßnahmen zu ergreifen.87 Die Verpflichtung, eine Konventionsverletzung nicht zu wiederholen, ist völkerrechtlich anerkannt und in Art. 30 lit. b ILC-Artikel (non-repetition) geregelt. Auch der Gerichtshof bezieht sich immer ausdrücklicher auf diese Pflicht, indem er in ständiger Rechtsprechung darauf verweist, dass grundsätzlich generelle Maßnahmen zur Umsetzung eines Urteils notwendig sein können,88 und auch vereinzelt konkrete generelle Maßnahmen – außerhalb von Pilot
86 Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 233; Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 7; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 153 ff.; Okresek, EuGRZ 2003, 168 (170); Dijk / Arai, Theory and practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2006, S. 298; Grabenwarter, JZ 2010, 857 (861); Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (106); Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (794); Matscher, EuGRZ 1982, 517 (525); Frowein / Villiger, HRLJ 1988, 23 (50); siehe auch Barbier, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 551 (555). 87 St. Rechtsprechung, z. B. EGMR, Urteil vom 10.05.2012 – No. 45237 / 08, Madah u. a. / Bulgarien, § 53; EGMR, Urteil vom 23.02.2012 – No. 27765 / 09, Hirsi Jamaa u. a. / Italien, § 210; Committee of Ministers, Rules of the Committee of Ministers on the supervision of the execution of judgments and the terms of friendly settlements, 10.05.2006 (in der Folge: Committee of Ministers, VerfO 2006), Regel 6 § 2 b ii.; Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 11; Klerk, NILR 1998, 65 (70). 88 EGMR, Urteil vom 17.01.2012 – No. 36760 / 97, Stanev / Bulgarien, § 254; EGMR, Urteil vom 13.07.2000 – Nos. 39221 / 98, 41963 / 98, Scozzari und Giunta / Italien, § 249.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
urteilsverfahren – empfiehlt.89 Denn erstens würde das Urteil sonst wirkungslos bleiben, dieselben Rechtsverletzungen würden immer wieder vorkommen und Art. 46 Abs. 1 EMRK würde seinen Zweck nicht erfüllen.90 Zweitens widerspricht es dem Sinn der EMRK, wenn der Gerichtshof wiederholt wegen der gleichen Konventionsverletzungen im selben Mitgliedsstaat angerufen91 und so die Arbeitsfähigkeit des Gerichtshofes beeinträchtigt werde.92 Drittens wird damit auch dem Schutzzweck der EMRK Rechnung getragen, der sich gerade nicht nur auf den Individualrechtsschutz beschränkt.93 Zudem wird diese Pflicht durch die Praxis bestätigt, dass entsprechende Maßnahmen von den Mitgliedstaaten durchgeführt und vom Ministerkomitee überwacht werden.94 Im Übrigen steht auch die inter-partes-Wirkung eines Urteils der Nichtwiederholungspflicht nicht entgegen, da sich die Pflicht nicht aus der Rechtskraft des Urteils, sondern aus dem Recht der Staatenverantwortlichkeit ergibt.95 Fraglich ist, wie die „Nichtwiederholungspflicht“96 rechtlich einzuordnen ist. Die Einordnung ist insofern relevant, da sich daraus möglicherweise Folgen für die Überwachungspraxis ergeben können. Während die Pflicht einerseits wohl als Teil der Beendigungspflicht gesehen wird,97 wird die Nichtwiederholungspflicht andererseits auch im Zusammenhang mit der Pflicht 89 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 17.12.2013 – No. 35729 / 12, Barta und Drajkó / Ungarn, § 47 ff.; EGMR, Urteil vom 10.05.2012 – No. 45237 / 08, Madah u. a. / Bulgarien, § 53; EGMR, Urteil vom 06.10.2005 – 23032 / 02, Lukenda / Slowenien, § 98. 90 Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (52 f.). 91 Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 233. 92 EGMR, Urteil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen, § 193; EGMR, Urteil vom 13.11.2007 – No. 33771 / 02, Driza / Albanien, § 122; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 – No. 31122 / 05, Ghigo / Malta, § 25 f.; Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 115. 93 Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 58; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 153 ff. 94 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 6 § 2 b. ii.; Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 418 f.; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 155. 95 Peters / Altwicker, in: Leible / Terhechte / Altwicker (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 13 Rdnr. 56. 96 Grabenwarter, JZ 2010, 857 (860); Peters / Altwicker, in: Leible / Terhechte / Altwicker (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 13 Rdnr. 57. 97 Klein, in: FS Ryssdal, 705 (708).
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 47
zur Wiedergutmachung genannt.98 Beide Einordnungen können jedoch nicht überzeugen: Zweck der Beendigungspflicht ist es, die Ursache der noch andauernden Konventionsverletzung zu beseitigen,99 wohingegen die Pflicht zur Nichtwiederholung zukünftige Konventionsverletzungen verhindern soll.100 Die Beendigungspflicht ist auf die individuelle Situation des Beschwerdeführers gerichtet und wird daher meist mit individuellen Maßnahmen erfüllt. Liegt die Verletzung direkt in einem Gesetz, muss zudem das Gesetz geändert werden, sodass die Beendigung nebenbei auch eine allgemeine Wirkung haben kann. Bei der Pflicht zur Nichtwiederholung liegt der Fokus jedoch allein dort, dass Konventionsverletzungen im generellen Fall, das heißt auch für andere Personen als die Beschwerdepartei, nicht wiederholt werden dürfen.101 Hier ist es andersherum: Zwar kann dadurch ebenso die Situation des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin verbessert werden, sodass auch sie nicht erneut in die konventionswidrige Situation gerät und wieder Beschwerde einlegt, jedoch ist das als positiver Nebeneffekt zu sehen. Die Wiedergutmachung wiederum bezweckt, durch individuelle Maßnahmen einen Ausgleich für die Folgen der Rechtsverletzung zu schaffen. Während die Nichtwiederholungspflicht auf die Zukunft gerichtet ist und durch generelle Maßnahmen zukünftige Rechtsverletzungen verhindern soll, ist die Pflicht zur Wiedergutmachung auf die Vergangenheit gerichtet.102 Stattdessen stellt die Nichtwiederholungspflicht – wie im allgemeinen Völkerrecht auch103 – eine eigenständige Pflicht gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK dar.104 Zudem geht die Pflicht zur Nichtwiederholung auch weiter als die 98 Grabenwarter,
JZ 2010, 857 (860 f.). EuGRZ 2004, 257 (260) m. w. N. 100 Crawford, The International Law Commission’s Articles on State Responsibility, 2002, Art. 30 Rdnr. 1; Barbier, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 551 (556). 101 Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 229. 102 Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 229; Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 57. 103 Siehe Art. 30 lit. b ILC-Artikel; Barbier, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 551 (555 f.). 104 Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 11; Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 60, die aber von einer „Pflicht zur Vorbeugung“ spricht; Ruedin, Exécution des arrêts de la Cour Européenne des Droits de l’homme, 2009, S. 204 ff.; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 149 ff. 99 Breuer,
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Beendigungspflicht, da sie beinhaltet, dass auch in Zukunft keine Regelungen mit dem Inhalt erlassen werden dürfen.105 Die Ansicht, die Nichtwiederholungspflicht aus Art. 1 EMRK herzuleiten,106 kann nicht überzeugen: Die Zuständigkeit zur Überwachung gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK kann sich aus systematischen Gesichtspunkten nur auf die in Art. 46 Abs. 1 EMRK enthaltenen Pflichten beziehen. In dem Fall wäre nicht das Ministerkomitee für die Überwachung der Umsetzung dieser Pflicht zuständig.107 Damit ist diese Herleitung aus Effektivitätsgründen nicht sachgerecht.108 Dazu steht ebenso im Widerspruch, dass das Ministerkomitee seit langem die Umsetzungsmaßnahmen der Staaten zwecks Nichtwiederholung unter Art. 46 Abs. 1 EMRK überwacht109 und dies auch in seiner Verfahrensordnung ausdrücklich festgelegt hat.110 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Pflicht, eine Konventionsverletzung nicht zu wiederholen in Art. 46 Abs. 1 EMRK enthalten ist und das Ministerkomitee dementsprechend auch gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK für die Überwachung der Umsetzung zuständig ist.111 II. Ausführung der Pflicht durch generelle Maßnahmen Maßnahmen zur Nichtwiederholung der Konventionsverletzung sind zu ergreifen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Verletzung sonst wiederholen würde. Die Nichtwiederholungspflicht bezieht sich auf die Allgemeinheit und wird durch generelle Maßnahmen erfüllt (2.). Die bedeutendste generelle Maßnahme ist die Gesetzesreform (1.).
Bleckmann, EuGRZ 1995, 387 (388). EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 46 Rdnr. 39 f. 107 Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 60. 108 Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (52 f.); Breuer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rdnr. 35. 109 Zum Beispiel Committee of Ministers, Final Resolution DH (96) 21, 09.02.1996, Appendix; Committee of Ministers, Final Resolution DH (98) 86, 22.04.1998, Appendix; Committee of Ministers, Final Resolution DH (99) 26, 18.01.1999, Appendix; Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (798). 110 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 6 § 2 b. ii. 111 So auch Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, 2007, S. 60. 105 Ähnlich
106 Meyer-Ladewig,
§ 1 Pflichten des Staates aus einem Urteil gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK 49 1. Gesetzes- und Verfassungsänderungen
Es ist heute in der Rechtsprechung des EGMR,112 der Literatur113 und der Praxis des Ministerkomitees114 und der Mitgliedsstaaten115 grundsätzlich anerkannt, dass der Staat infolge einer Verurteilung auch zu Gesetzesänderungen verpflichtet sein kann, um eine Wiederholung der Konventionsverletzung zu vermeiden. Unter Umständen kann auch eine Änderung der Verfassung nötig sein.116 Aus Gründen der Rechtssicherheit genügt es auf keinen Fall, lediglich auf die Anwendung der betroffenen Norm zu verzichten.117 Fraglich ist aber, in welchem Fall eine Gesetzesänderung notwendig ist. Zum einen wird sie in der Regel notwendig sein, wenn der EGMR im Rahmen einer Staatenbeschwerde eine Vorschrift abstrakt prüft118 und deren Konventionswidrigkeit im Urteil feststellt.119 Gleiches gilt, wenn der EGMR im Individualbeschwerdeverfahren geurteilt hat, dass eine Konventionsverletzung in einer Rechtsnorm selbst besteht;120 in dem Fall gehen Beendigungspflicht und Nichtwiederholungspflicht dann Hand in Hand. Aber auch Urteil vom 13.11.2007 – No. 33771 / 02, Driza / Albanien, § 126. in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 114 f.; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 156; Ress, EuGRZ 1996, 350 (352). 114 Committee of Ministers, VerfO 2006, Fn. 2. 115 Zum Beispiel Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2013)223, 06.11.2013, Action Report Ziff. 4; Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)187, 02.12.2011, Appendix Ziff. II; Committee of Ministers, Final Resoluton CM / ResDH(2010)17, 04.03.2010, Appendix Ziff. II. 116 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 159 ff.; Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 29 f. 117 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 162 f.; Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 114; Klein, in: FS Ryssdal, 705 (707). 118 EGMR, Urteil vom 18.01.1978 – No. 5310 / 71, Irland / Vereinigtes Königreich, § 240; Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 10. 119 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 165 ff.; Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (574). 120 Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (576); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 166 ff.; Frowein / Peukert, Europäische Menschen112 EGMR,
113 Cremer,
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
wenn die Rechtsverletzung im Vollzug des Gesetzes zu finden ist, sind die gesetzlichen Vorschriften aus Gründen der Rechtsicherheit und der effektiven Vermeidung von Folgebeschwerden zu ändern, wenn ohne eine Gesetzesänderung weitere Rechtsverletzungen zu erwarten sind.121 2. Andere generelle Maßnahmen
Die Wiederholung einer Konventionsverletzung kann aber statt oder neben der Gesetzesreform auch noch durch andere generelle Maßnahmen vermieden werden. Das Ministerkomitee gibt in seinen Verfahrensregeln als Möglichkeit die Änderung einer behördlichen Anordnung, einer Rechtsprechung oder einer Verwaltungspraxis oder die Übersetzung des Urteils in die Landessprache und Verbreitung unter den betroffenen Behörden an.122 Auch Maßnahmen wie die Neuorganisation der Gerichte123 oder die Einstellung von mehr Richterinnen und Richtern124 sind denkbar. Zu beachten ist, dass es auch bei der Durchführung von generellen Maßnahmen immer auf den Einzelfall ankommt und die Maßnahmen grundsätzlich im Ermessen des Mitgliedstaats stehen, solange der Staat seiner obligation of result nachkommt; die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer selbst haben keinen Anspruch auf die Durchführung genereller Maßnahmen.125
rechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 7; Okresek, EuGRZ 2003, 168 (171); Klein, in: FS Ryssdal, 705 (707). 121 Okresek, EuGRZ 2003, 168 (171); Klein, in: FS Ryssdal, 705 (707); Grabenwarter, JZ 2010, 857 (860 f.); dazu ausführlich Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 68 ff.; Velu, in: Council of Europe (Hrsg.), Proceedings of the Sixth International Colloquy about the European Convention on Human Rights, 1988, S. 532 (574 ff.). 122 Committee of Ministers, VerfO 2006, Fn. 2. 123 Zum Beispiel Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)224, 02.12.2011, Appendix; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 151. 124 Zum Beispiel Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2007)28, 04.04.2007, Appendix Ziff. I, II. A. 3.; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2006)29, 21.06.2006, Appendix, Ziff. II. 2; Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 31. 125 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 155 f.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK51
§ 2 Pflichten und Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK Das Ministerkomitee überwacht gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK die Durchführung der Urteile. Aus dieser Vorschrift ergeben sich Pflichten für das Ministerkomitee als Einheit (A.) und für jeden einzelnen im Komitee vertretenen Mitgliedsstaat (B.).
A. Pflichten und Befugnisse des Gremiums Fraglich ist, welche Pflichten und Befugnisse Art. 46 Abs. 2 EMRK genau für das Ministerkomitee vorsieht. Nachfolgend werden die Pflichten dargestellt, die sich aus Art. 46 Abs. 2 EMRK ergeben (I.), sowie die neuen in Art. 46 Abs. 3 bis 5 EMRK enthaltenen Arbeitshilfen (II.). I. Inhalt von Art. 46 Abs. 2 EMRK Um den Inhalt von Art. 46 Abs. 2 EMRK zu bestimmen, ist die Vorschrift auszulegen (1.). Im Anschluss wird auf die Verfahrensregeln eingegangen, die sich das Ministerkomitee zur weiteren Ausgestaltung seiner Aufgabe selbst auferlegt hat (2.). Weiterhin wird untersucht, welche Druckmittel und Sanktionen dem Ministerkomitee zur Verfügung stehen (3.). 1. Auslegung von Art. 46 Abs. 2 EMRK
Der Wortlaut der Vorschrift lautet „The final judgment of the Court shall be transmitted to the Committee of Ministers, which shall supervise its execution.“ „L’arrêt définitif de la Cour est transmis au Comité des Ministres qui en surveille l’exécution.“
Die Formulierung ist vage. Daraus lässt sich zuerst einmal nur schließen, dass endgültige Urteile dem Ministerkomitee übermittelt werden und das Ministerkomitee deren Umsetzung dann überwacht. Folglich soll sich das Ministerkomitee auf die Überwachung der Urteile beschränken und nicht die Urteile vollstrecken.126 Das Wort „supervise“ / „surveiller“ lässt darauf schließen, dass diese Überwachung darin besteht, den Staat bei der Umsetzung des 126 Vasak, La Convention européene des droits de l’homme, 1964, S. 196; Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 148 f.; Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (49).
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Urteils zu beaufsichtigen und zu kontrollieren. Zum genauen Inhalt und Ablauf der Überwachung gibt die Vorschrift keine Auskunft. Allerdings ist die Vorschrift auch so auszulegen, dass sie dem Zweck der EMRK als wirksames Schutzinstrument gerecht wird. In dem Sinne hat das Ministerkomitee für eine umfassende Umsetzung der Urteile zu sorgen. Daher genügt es nicht, die Maßnahmen der Staaten nur zu beobachten und zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr muss das Ministerkomitee eine aktive Rolle spielen, indem es auf regelmäßige Berichterstattung über Umsetzungsmaßnahmen besteht und diese auch genau prüft.127 Zwar kann das Ministerkomitee keine konkreten Maßnahmen vorschreiben. Das widerspräche der Ermessensfreiheit des Staates. Allerdings sind Vorschläge durchaus möglich. Es würde keinen Sinn machen, wenn das Ministerkomitee für die Überwachung zuständig ist, aber dem betroffenen Staat keine Unterstützung bei der Umsetzung leisten dürfte. Dies würde den Umsetzungsprozess unnötig kompliziert gestalten und somit dem Zweck der EMRK entgegenstehen. Zudem darf das Ministerkomitee die Überwachung erst abschließen, wenn sich das Ministerkomitee von der vollständigen Umsetzung des Urteils überzeugt hat. Insgesamt ist die Vorschrift unbestimmt128 und lässt den genauen Ablauf der Überwachung offen.129 Art. 46 Abs. 2 EMRK wurde aber durch weitere Regeln ausgestaltet, die sich das Ministerkomitee selbst auferlegt hat. Dazu gehören zum einen die Verfahrensregeln und zum anderen die Regeln zur twin-track-supervision. 2. Verfahrensregeln der Ministerkomitees
Die Verfahrensordnung des Ministerkomitees datiert von 2006 und gibt in 17 Regeln den Ablauf der Überwachung der Urteilsumsetzungen vor.130 Das Ministerkomitee beschäftigt sich mit den Urteilsumsetzungen in den human rights meetings (Regel 2 § 1), die viermal jährlich stattfinden,131 und tagt grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 21 lit. a. i. Satzung des Europarats). Lediglich die Tagesordnung ist bekannt (Regel 2 § 1). Im 127 Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (53); Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 149 f.; so im Ergebnis auch Leup recht, in: FS Ermacora, 95 (106); Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (797 f.). 128 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 148. 129 Ryssdal, in: FS Schermers, S. 49 (63); siehe auch Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 132. 130 Committee of Ministers, VerfO 2006. 131 Leach, Taking a case to the European Court of Human Rights, 2011, Rdnr. 3.62.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK53
Anschluss an das Treffen werden die Entscheidungen des Ministerkomitees veröffentlicht (Regel 8 § 4). Nach Übermittlung eines Urteils an das Ministerkomitee wird das Urteil auf die Tagesordnung gesetzt (Regel 3) und der betroffene Staat hat über die Maßnahmen zu berichten, die infolge des Urteils gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK ergriffen worden sind oder noch ergriffen werden sollen (Regel 6 § 1). Ein Fall bleibt grundsätzlich auf der Tagesordnung, bis der Staat die Entschädigung bezahlt und über gegebenenfalls notwendige individuelle Maßnahmen berichtet hat (Regel 7 § 1); zudem steht ein Fall alle sechs Monate auf der Tagesordnung, bis Informationen zu generellen Maßnahmen vorliegen (Regel 7 § 3). Das Überwachungsverfahren endet mit einer Schlussresolution, wenn der betroffene Mitgliedsstaat den Nachweis erbracht hat, dass alle zur Umsetzung notwendigen Maßnahmen erfolgt sind. Nach Art. 20 lit. d. der Satzung des Europarates ist eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden und eine Mehrheit aller Vertreter notwendig, um eine Schussresolution zu erlassen. Laut dem in Regel 6 § 2 festgeschriebenen Prüfungsinhalt soll das Komitee überprüfen, ob Entschädigung und gegebenenfalls Zinsen bezahlt worden (Regel 6 § 2 lit. a) und ob eventuell erforderliche weitere Maßnahmen erfolgt sind (Regel 6 § 2 lit. b). Dazu gehören zum einen individuelle Maßnahmen zur Beendigung und Wiedergutmachung der Konventionsverletzung (Regel 6 § 2 lit b. i.) und zum anderen generelle Maßnahmen, um weitere Konven tionsverletzungen zu verhindern und andauernde Verletzungen zu beenden (Regel 6 § 2 lit. b. ii.). Um den Überwachungsprozess effektiver zu gestalten, wendet das Ministerkomitee seit 2011 das twin-track-system132 an, bei dem zwischen der standard procedure und der enhanced procedure unterschieden133 und so die Urteile bei der Überwachung priorisiert werden. Die enhanced procedure ist einschlägig bei Urteilen, die dringende individuelle Maßnahmen erfordern, Piloturteilen, Urteilen, bei denen wesentliche strukturelle oder komplexe Probleme durch Gerichtshof oder Ministerkomitee identifiziert worden sind oder Staatenbeschwerden.134
132 Committee of Ministers, Implementation of the Interlaken Action Plan – Outstanding issues concerning the practical modalities of implementation of the new twin track supervision system, CM / Inf / DH(2010)45 final, 07.12.2010; Committee of Ministers, Implementaion of the Interlaken Action Plan Modalities for a twin-track supervision system, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010. 133 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)45 final, 07.12.2010, passim. 134 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 8; Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)45 final, 07.12.2010, Ziff. 10.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Die betroffenen Staaten müssen bei beiden Verfahren innerhalb von sechs Monaten nach Endgültigkeit des Urteils einen action plan (wenn der Staat noch dabei ist, die zur Umsetzung notwendigen Maßnahmen zu identifizieren und durchzuführen135) oder einen action report (wenn der Staat nach eigener Ansicht bereits alle notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung getroffen hat136) vorlegen.137 Während die standard procedure nur im schriftlichen Verfahren abläuft, wird ein Fall in der enhanced supervision ausdrücklich in der Sitzung behandelt, indem entweder über den Fall diskutiert138 oder der Stand der Umsetzung ohne weitere Diskussion zur Kenntnis genommen wird.139 In der Regel soll die Umsetzung eines Urteils der standard procedure unterfallen.140 Über die Einordnung entscheidet das Ministerkomitee,141 wobei ein Fall auch im Laufe des Überwachungsverfahrens in die jeweils andere Kategorie verschoben werden kann.142 Generell sollen die Angaben des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin zu Entschädigungszahlungen und individuellen Maßnahmen vom Ministerkomitee berücksichtigt werden (Regel 9 § 1). Auch kann das Komitee Benachrichtigungen von Nichtregierungsorganisationen und nationalen Menschenrechtsinstitutionen einbeziehen (Regel 9 § 2). Vor 2006 war die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen und nationalen Menschenrechtsinstitutionen an diesem Prozess nicht ausdrücklich geregelt; die neue Regelung stärkt die Rolle der Zivilgesellschaft.143 Insbesondere in Fällen, die keine mediale Beachtung finden, können von Nichtregierungsorganisationen eingereichte Unterlagen auf wichtige Probleme aufmerksam machen und eine Perspektive bieten, die dem Ministerkomitee sonst nicht vorläge. Zusammengefasst verfügt das Ministerkomitee zwar inzwischen über ein umfassendes Regelwerk. Viel hat sich seit der alten Verfahrensordnung von 1976 mit nur vier Regeln144 jedoch nicht geändert: Das Verfahren ist genauer skizziert und es genügt nicht mehr die bloße Kenntnisnahme der staatlichen Maßnahmen,145 sondern das Ministerkomitee hat diese Maßnahmen inzwi135 Committee
of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 14, 16 ff. of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 14, 15. 137 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 12. 138 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 22 f. 139 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 21. 140 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 8. 141 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 10. 142 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)37, 06.09.2010, Ziff. 11, 24 ff. 143 Leach, Taking a case to the European Court of Human Rights, 2011, Rdnr. 3.74. 144 Committee of Ministers, VerfO 1976, siehe Teil I § 1 B. 145 „Taken note“, Committee of Ministers, VerfO 1976, Regel 3. 136 Committee
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK55
schen ausdrücklich zu überprüfen.146 So hat sich das Ministerkomitee von der ehemals passiven Rolle der Kenntnisnahme zumindest von dem Wortlaut der Verfahrensregeln zu einem aktiveren Akteur gewandelt. Allerdings kann das Ministerkomitee noch immer nicht selbst Maßnahmen verlangen, sondern soll abwarten, bis der Staat zufriedenstellend umgesetzt hat.147 3. Mögliche Mittel
In Art. 46 Abs. 2 EMRK sind Druckmittel und Sanktionen nicht vorgesehen. Jedoch ergeben sich aus Verfahrensregeln und der Satzung des Europarats zwei Möglichkeiten, nämlich die Prangerwirkung [a)] und der Ausschluss aus dem Europarat [b)]. a) Prangerwirkung Eine Möglichkeit der Druckausübung ist die Prangerwirkung. Bereits während der Vorarbeiten an der Konvention wurde die Meinung vertreten, dass der öffentliche Druck infolge einer Verurteilung allein ausreichend sei, um die Umsetzung des Urteils herbeizuführen.148 Der Pranger durch das Ministerkomitee soll an die Moral des betroffenen Staates appellieren, das Urteil umzusetzen, ohne den Staat jedoch zu sanktionieren. Die Verfahrensregeln des Ministerkomitees sehen Möglichkeiten vor, die durch das Anprangern des betroffenen Staates das Umsetzungsverfahren in Gang setzen oder beschleunigen sollen. Dazu gehört zum einen die regelmäßige Befassung mit dem Fall in den human rights meetings. Wird über einen Fall bei jeder Sitzung gesprochen, rückt es die Probleme der Umsetzung in den Mittelpunkt. So wird dem jeweiligen Vertreter im Ministerkomitee regelmäßig durch „peer pressure“149 das Unvermögen des eigenen Staates bei der Umsetzung eines Urteils vorgehalten. Zum anderen sieht Regel 16 der Verfahrensregeln des Ministerkomitees die Möglichkeit vor, Interim-Resolutionen zu beschließen. Nach dem Wortlaut der Regel ist der Zweck dieser Resolutionen, Informationen über den Stand des Umsetzungsverfahrens zu erlangen, Besorgnis auszudrücken oder Vorschläge zur Umsetzung zu machen. Die Abstimmung erfolgt wie bei der Schlussresolution nach Art. 20 lit. d. der Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 6 § 2. EuGRZ 2003, 168 (172). 148 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 151 f.; siehe Teil I § 1 B. 149 Jacobs / White / Ovey, The European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2010, S. 61 f. 146 „Examine“, 147 Okresek,
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Satzung des Europarates bei einer Mehrheit von mindestens Zweidrittel der Anwesenden und der Hälfte aller Vertreterinnen und Vertreter.150 Diese Möglichkeiten zur Anprangerung üben einen politischen Druck aus, der Einfluss auf das Umsetzungsverhalten eines verurteilten Staats haben kann, sie reichen allein jedoch nicht aus, um unwillige Staaten zur Umsetzung zu bewegen.151 Das wird schon dadurch deutlich, dass einige Urteile trotz der regelmäßigen Diskussion im Ministerkomitee und ergangenen Interim-Resolutionen nicht152 oder erst nach vielen Jahren153 umgesetzt werden. b) Ausschluss aus dem Europarat Als ultima ratio kann das Ministerkomitee einen Staat aus dem Europarat ausschließen oder mit einem Ausschluss drohen, Art. 8 in Verbindung mit Art. 3 Satzung des Europarats.154 Das setzt voraus, dass sich der Mitgliedstaat eines schweren Verstoßes gegen Art. 3 Satzung schuldig gemacht hat, sprich den Grundsatz vom Vorrang des Rechts und der Teilhaftigkeit an Menschenrechten und Grundfreiheiten der ihm in seiner Jurisdiktion unterstehenden Personen nicht anerkannt oder nicht an der Verfolgung der Ziele des Europarats, wie sie in Art. 2 der Satzung niedergelegt sind, mitgearbeitet hat. Es ist allgemein anerkannt, dass die beharrliche Weigerung, ein Urteil umzusetzen einen solchen schweren Verstoß darstellen kann.155 Zunächst wird dem betroffenen Staat sein Recht auf Vertretung im Komitee vorläufig abgesprochen und er kann aufgefordert werden, aus dem Europarat auszutreten, Art. 8 S. 1 Satzung. Geschieht dies nicht, kann das Ministerkomitee beschließen, den Staat aus dem Europarat auszuschließen, Art. 8 S. 2 Satzung. 150 Siehe auch Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 182 f. 151 Oellers-Frahm, ZaöRV 1976, 654 (655); Reisman, AJIL 1969, 1 (2). 152 Zum Beispiel Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)34, 04.03.2010; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)224, 02.12.2010; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)222, 30.11.2010. 153 Zum Beispiel Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2011)122, 14.09.2011; Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2009)75, 30.09.2009; Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2009)128, 03.12.2001. 154 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 152 m. w. N. 155 Okresek, EuGRZ 2003, 168 (172); Ryssdal, in: FS Schermers, S. 49 (65); Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (492); Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 44 f.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK57
Der Ausschluss eines Staates aus dem Europarat ist bisher allerdings reine Theorie geblieben. Zwar hat das Ministerkomitee 1969 zu Zeiten der griechischen Militärdiktatur einen Ausschluss Griechenlands angestrebt. Dem ist Griechenland aber mit dem Austritt aus dem Europarat zuvorgekommen.156 Die Kommission hatte damals in dem Staatenbeschwerdeverfahren „Greek Case“ mehrere Konventionsverletzungen, unter anderem auch des Folterverbots, festgestellt.157 Nach dem Öffentlichwerden des Kommissionsberichts machte die griechische Regierung dem Generalsekretär gegenüber deutlich, dass die Ermittlungen der Kommission von Unregelmäßigkeiten und Befangenheit begleitet worden wären und es den Kommissionsbericht als nichtig betrachte.158 Gleichzeitig hatte die Parlamentarische Versammlung infolge eigener Ermittlungen der Situation den Ausschluss Griechenlands aus dem Europarat gefordert.159 Einerseits kann der Austritt Griechenlands als Rettung des Europarats vor einer politisch ausweglosen Situation gesehen werden.160 Andererseits ist das Ministerkomitee zu kritisieren, dass es die Situation überhaupt so weit hat kommen lassen, anstatt die Menschenrechtslage in Griechenland durch politischen Druck entsprechend der Empfehlungen der Kommission zu verbessern.161 Griechenland trat dem Europarat 1974 wieder bei162 und ratifizierte im selben Jahr erneut die EMRK.163 Darüber hinaus hat das Ministerkomitee in zwei Interim-Resolutionen im Fall Ilașcu u. a. / Moldau und Russland164 und einer solchen Resolution zu Loizidou / Türkei165 die verantwortlichen Staaten daran erinnert, dass die Umsetzung der Urteile des EGMR eine Bedingung der Mitgliedschaft im Euro-
156 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 267 f.; Robertson, Human rights in Europe, 2. Aufl. 1977, S. 255 f. 157 EKMR, Bericht vom 05.11.1969 – Nos. 3321 / 67 u. a., Dänemark, Norwegen, Schweden, Niederlande / Griechenland. 158 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 268; Jacobs / White / Ovey, The European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2010, S. 62. 159 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 267; Robertson, Human rights in Europe, 2. Aufl. 1977, S. 255. 160 Marmo, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 2008, 235 (246). 161 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 268 f. 162 Brummer, Der Europarat, 2008, S. 83. 163 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, Appendix 1. 164 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2006)26, 10.05.2006; Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2007)106, 12.07.2007. 165 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2001)80, 26.06.2001.
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parat ist und so die mögliche Anwendung von Art. 8 des Statuts implizit in den Raum gestellt.166 Generell ist der Ausschluss eines Mitgliedsstaates für die menschenrecht liche Situation in dem Staat immer kontraproduktiv.167 Erstens bricht dadurch die Kommunikation ab und der Europarat verliert jeglichen Einfluss auf den ausscheidenden Staat.168 Zweitens wird das Urteil dann erst Recht nicht umgesetzt, wodurch sich die konventionswidrigen Verhältnisse nicht ändern. Daher ist Schmid beizupflichten, dass der Ausschluss eines Staates mehr ein „Zeichen der Resignation und der Ohnmacht darstellt“.169 II. Neue Arbeitshilfen gemäß Art. 46 Abs. 3 bis 5 EMRK Das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK wurde 2004 beschlossen und trat 2010 in Kraft. Zweck dieses Protokolls war es, die Effizienz des Kontrollsystems zu erhalten und zu steigern und so die wachsende Arbeitsbelastung des Gerichtshofs und des Ministerkomitees einzudämmen.170 Durch das Protokoll wurden drei neue Absätze in Art. 46 EMRK eingefügt, die dem Ministerkomitees zwei weitere Befugnisse zusprechen. Zum einen kann das Komitee gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage vorlegen (1.), zum anderen kann das Ministerkomitee gemäß Art. 46 Abs. 4, 5 EMRK den Gerichtshof anrufen, damit dieser entscheidet, ob ein Staat seiner Umsetzungsverpflichtung nachkommt (2.). Beide Maßnahmen binden den Gerichtshof in das Umsetzungsverfahren ein, obwohl die Umsetzung eines Urteils entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich im Ermessen des betroffenen Staates steht und die Kontrolle der Umsetzung nach der EMRK allein dem Ministerkomitee zukommt. 1. Auslegung durch den Gerichtshof (Art. 46 Abs. 3 EMRK)
Wird die Umsetzung eines Urteils nach Auffassung des Ministerkomitees durch eine Frage betreffend der Auslegung dieses Urteils behindert, kann das Komitee gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK den Gerichtshof anrufen, damit er über diese Auslegungsfrage entscheidet. Nach der Darlegung der Voraussetzungen [a)] wird die Norm beurteilt [b)]. 166 Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (492); Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 45. 167 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 100; Leach, Public Law 2006, 443 (448). 168 Brummer, Der Europarat, 2008, S. 84. 169 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 152. 170 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Preambel.
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a) Voraussetzungen Der Wortlaut der Vorschrift bindet die Anrufung des Gerichtshofs an zwei Voraussetzungen: Erstens muss die Überwachung durch das Ministerkomitee durch eine Auslegungsfrage des Urteils behindert werden. Fraglich ist, wann das der Fall ist. Der Explanatory Report geht von Situationen aus, in denen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Ministerkomitee und dem frag lichen Staat über die Auslegung eines Urteils bestehen und vom Gerichtshof endgültig beigelegt werden sollen.171 Demzufolge muss eine Meinungsverschiedenheit zwischen Ministerkomitee und Mitgliedstaat vorliegen und der Punkt, über den die beiden Akteure sich uneinig sind, muss auch für die Umsetzung des Urteils relevant sein, sonst wäre die Überwachung der Umsetzung nicht erschwert. Zweitens muss das Ministerkomitee über die Anrufung des Gerichtshofs mit einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen der zur Teilnahme berechtigten Mitglieder beschließen. Eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder reicht folglich nicht aus. Eine Befristung gibt es nicht, sodass die Aus legungsfrage von dem endgültigen Urteil bis zum Abschluss des Überwachungsverfahrens vorgelegt werden kann.172 Die Anrufung des Gerichtshofs erfolgt in Form einer Interim-Resolution, aus der die unterschiedlichen Ansichten der Mitglieder des Ministerkomitees – darunter insbesondere auch des betroffenen Staates – hervorgehen sollen.173 b) Beurteilung der Norm Der Zweck der Einführung der Norm war es, die Überwachung der Umsetzung der Urteile zu vereinfachen174 und so eine schnelle und umfassende Umsetzung zu versichern, insbesondere in Hinsicht auf strukturelle Probleme und die Gefahr der Arbeitsbelastung des Gerichts durch Wiederholungs fälle.175 Insgesamt war die Auslegung gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK Teil der Maßnahmen, die dazu beitragen sollten, die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Konvention zu erhalten.176 In der Literatur wurden wiederum Vermutungen angestellt, dass die Einführung von Art. 46 Abs. 3 EMRK zukünftig dafür sorgen würde, dass der EGMR von allein klarere Anweisungen zu 171 14. Zusatzprotokoll
zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 96. zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 97; Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 10 § 2. 173 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 10 § 3. 174 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 96. 175 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 98. 176 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 98. 172 14. Zusatzprotokoll
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Umsetzungsmaßnahmen geben würde, um eine Anrufung zur Auslegung zu vermeiden.177 Fraglich ist, ob Art. 46 Abs. 3 EMRK die in die Vorschrift gesetzten Hoffnungen erfüllt hat. Tatsächlich ist es bisher noch zu keiner Auslegungsanfrage durch das Ministerkomitee gekommen. Angesichts der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Ministerkomitee ist es auch unwahrscheinlich, dass von Art. 46 Abs. 3 EMRK in Zukunft häufig Gebrauch gemacht werden wird. Bei aktuell 47 Mitgliedstaaten müssten sich mindestens 31 Staaten für eine Auslegung durch das Gericht aussprechen; das heißt, es müssten sich 31 Staaten offiziell gegen die Ansicht des betroffenen Staates stellen. Zudem wurde bereits im Explanatory Report zum 14. Zusatzprotokoll erklärt, dass die Voraussetzung der Zweidrittelmehrheit bewusst gewählt wurde, damit das Ministerkomitee die Möglichkeit der Auslegungsanfrage nur „sparsam“ nutze, um den Gerichtshof nicht zu überlasten.178 Folglich hat die Norm keine Praxisrelevanz. Das ist aber auch darauf zurückzuführen, dass der Gerichtshof inzwischen in seinen Urteilen deutlicher auf die Umsetzung eingeht,179 wodurch Meinungsverschiedenheiten über die notwendigen Maßnahmen seltener entstehen und eine Anrufung des Gerichtshofs gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK heute weniger wahrscheinlich ist.180 Das Problem, dass gemäß Art. 46 Abs. 3 EMRK nur das Ministerkomitee das Gericht anrufen kann, wird dadurch gemildert, dass die Parteien des Rechtsstreits innerhalb eines Jahres nach Verkündung des Urteils gemäß Regel 79 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs (im Folgenden: VerfO EGMR) selbst die Auslegung des Urteils beantragen können. 2. Infringement proceedings (Art. 46 Abs. 4, 5 EMRK)
Mit dem 14. Zusatzprotokoll wurde weiterhin das neue sogenannte in fringement proceeding in Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK eingeführt. Kommt ein Staat nach Ansicht des Ministerkomitees seiner Umsetzungsverpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK nicht nach, kann das Ministerkomitee nun den Gerichtshof anrufen (Art. 46 Abs. 4 EMRK). Stellt der Gerichtshof fest, dass eine Verletzung vorliegt, weist er den Fall zur weiteren Prüfung an das Ministerkomitee zurück; wird keine Verletzung festgestellt, wird der Fall ebenso wieder an das Ministerkomitee verwiesen, das die Einstellung seiner Prüfung beschließen sollte (Art. 46 Abs. 5 EMRK). 177 Keller / Bertschi, EuGRZ 2005, 204 (224); Bychawska-Siniarska, European yearbook on human rights 2013, 313 (320). 178 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 96. 179 Siehe Teil 4 § 1. 180 Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (496).
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK61
Das infringement proceeding wird im deutschen Rechtsraum auch als Versäumnisverfahren bezeichnet.181 Das Verfahren dient ausdrücklich weder dazu, das Verfahren über die Rechtsverletzung noch einmal aufzurollen, noch dazu, Geldbußen zu verhängen.182 Allein der politische Druck, der durch das Verfahren und das anschließende Urteil der Großen Kammer entsteht, soll ausreichen, um die Umsetzung des fraglichen Urteils zu garantieren.183 Zweck der Einführung dieses Verfahrens ist es, dem Ministerkomitee neben den ungeeigneten Möglichkeiten nach Art. 8 der Satzung des Europarats weitere Mittel in die Hand zu geben, um Druck auf einen Staat auszuüben.184 Nach der genauen Betrachtung des Inhals der Vorschriften [a)], folgt deren Beurteilung [b)]. a) Inhalt Fraglich ist, was die Voraussetzungen des infringement proceedings sind [aa)] und welche Folge sich aus der Einleitung des Versäumnisverfahrens ergeben [bb)]. aa) Voraussetzungen (Art. 46 Abs. 4 EMRK) Die Verweisung des Falles an den Gerichtshof ist an drei Voraussetzungen gebunden. Zunächst muss ein Staat sich weigern, ein ihn verpflichtendes Urteil zu befolgen. Unklar ist, wann von einer solchen Weigerung gesprochen werden kann. Einerseits weist der Explanatory Report darauf hin, dass sowohl ausdrückliche als auch konkludente Weigerungen des betroffenen Staates gemeint sind.185 Andererseits soll allein die Möglichkeit, das Versäumnisverfahren durchzuführen, den Staaten als Anreiz dienen, ihre Urteile umzusetzen;186 wirklich durchgeführt werden, soll das Verfahren nur bei Vorliegen von „außergewöhnlichen Umständen“.187 Das spricht wiederum für eine enge Auslegung. Gleichzeitig stellt der Explanatory Report fest, dass infringement proceedings eine Alternative zu den Maßnahmen gemäß Art. 8 der Satzung des Europarats darstellen.188 Folglich ist Art. 46 Abs. 4 EMRK 181 Egli, ZaöRV 2004, 759 (788 ff.); Karper, Reformen des europäischen Gerichtsund Rechtsschutzsystems, 2. Aufl. 2011, S. 187 ff. 182 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 99. 183 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 99. 184 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 100. 185 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 98. 186 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 100. 187 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 100. 188 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 100.
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auf Situationen anwendbar, die auch eine Grundlage für die Suspendierung der Mitgliedsrechte oder den Ausschluss aus dem Europarat sein könnten. Das bedeutet, dass sich ein Staat – ausdrücklich oder konkludent – beharrlich weigern muss, ein Urteil umzusetzen, obwohl er dazu imstande ist.189 Darunter fallen auch die Fälle, bei denen Staaten absichtlich die Umsetzung blockieren.190 Wann ein Staat diese Voraussetzung im Einzelfall erfüllt, steht im Ermessen des Ministerkomitees. Zudem muss das Ministerkomitee den Staat gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK gemahnt haben, bevor es das Verfahren einleiten kann. Diese Mahnung ergeht in Form einer Interim-Resolution, über die mit einer Zweidrittelmehrheit der zur Teilnahme berechtigten Mitglieder abgestimmt wird.191 Die Mahnung soll in der Regel sechs Monate vor Beginn des Versäumnisverfahrens erfolgen.192 Zuletzt muss über den eigentlichen Beschluss, das Versäumnisverfahren einzuleiten gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK mit einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen der zur Teilnahme berechtigten Mitglieder abgestimmt werden. Auch dieser Beschluss ergeht in Form einer substantiierten Interim-Resolution, aus der auch die Ansicht des betroffenen Staates hervorgeht.193 Fristen sind nicht vorgesehen, sodass das Versäumnisverfahren theoretisch während der gesamten Zeitspanne des Umsetzungsverfahrens angestrebt werden kann. In der Praxis könnten also mehrere Jahre vergehen, bis das Ministerkomitee annimmt, dass ein Staat sich weigert, ein Urteil zu befolgen. bb) Rechtsfolge (Art. 46 Abs. 5 EMRK) Infolge des Beschlusses des Ministerkomitees urteilt der Gerichtshof, ob eine Verletzung der Pflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK vorliegt (Regel 99 S. 1 VerfO EGMR). Stellt er keine Rechtsverletzung fest, wird die Sache zurück an das Ministerkomitee verwiesen, das die Einstellung der Prüfung der Umsetzung beschließt (Art. 46 Abs. 5 S. 1 EMRK). Stellt das Gericht in seinem Urteil eine Verletzung fest, wird der Fall ebenso wieder an das Ministerkomitee zurückverwiesen, das die zu treffenden Maßnahmen prüft (Art. 46 Abs. 5 S. 2 EMRK). Denkbar sind allerdings nur die üblichen Maßnahmen, 189 Lemmens / Vandenhole, Protocol No. 14 and the reform of the European Court of Human Rights, 2005, S. 120. 190 Lemmens / Vandenhole, Protocol No. 14 and the reform of the European Court of Human Rights, 2005, S. 120. 191 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 11 § 2. 192 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 11 § 2. 193 Committee of Ministers, VerfO 2006, Regel 11 § 3.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK63
die dem Ministerkomitee im Umsetzungsverfahren zur Verfügung stehen.194 Kurz gesagt steht das Ministerkomitee nach Abschluss des Versäumnisverfahrens wieder an demselben Punkt wie zu dessen Beginn. Das Versäumnisverfahren orientiert sich zwar an Art. 260 Abs. 2 AEUV,195 verzichtet aber ausdrücklich auf die Möglichkeit, Geldbußen zu verhängen.196 b) Beurteilung der Norm Zum einen sind die Voraussetzungen, die an die Anwendung der Norm gestellt werden, sehr hoch. Ein Staat muss sich immerhin beharrlich weigern, ein Urteil umzusetzen. Die notwendige Zweidrittelmehrheit stellt ein zusätzliches Hindernis dar. Beide Voraussetzungen erschweren eine Anwendung in der Praxis. So hat das Ministerkomitee bis Herbst 2017 trotz Forderungen der Zivilgesellschaft197 die Möglichkeit öffentlich nicht einmal in Erwägung gezogen.198 Neben den hohen Anforderungen an das Versäumnisverfahren spielt dabei eine Rolle, dass die zurückhaltenden Formulierungen im Explanatory Protocol das Ministerkomitee nicht zur Anwendung des Verfahrens ermutigen199 und sich überdies auch die Richterinnen und Richter des EGMR gegen die Einführung des Verfahrens ausgesprochen haben.200
194 Siehe
dazu Teil 2 § 2 A. I. 3. ZaöRV 2004, 759 (789); Karper, Reformen des europäischen Gerichtsund Rechtsschutzsystems, 2. Aufl. 2011, S. 187, 189. 196 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 99; Egli, ZaöRV 2004, 759 (789); zum Sinn von Geldbußen in diesem Kontext siehe Teil 5 § 2 A. I. 197 European Human Rights Advocacy Centre, Memorial Human Rights Centre, „Request for initiation of infringement proceedings by the Committee of Ministers in relation to the judgment of the European Court of Human Rights in Isayeva v Russia, No. 57950 / 00, 24 February 2005“, 27.07.2012, http: / / www.ehrac.org.uk / wp-content / uploads / 2014 / 10 / EHRAC-Memorial-Infringement-Proceedings-Request-FINAL25.07.2012.pdf (Stand: 28.02.2018); Committee of Ministers, Communication from NGOs (EHRAC and Memorial HRC) (19 / 02 / 2015) in the Khashiyev and Akayeva group of cases against Russian Federation (Application No. 57942 / 00) – Rule 9.2 of the Rules of the Committee of Ministers, DH-DD(2015)257E, 04.03.2015; siehe auch Bychawska-Siniarska, European yearbook on human rights 2013, 313 (320). 198 Bei den Informationen des Ministerkomitees zur Überwachung der Fälle in der Gruppe „Khashiyev und Akayeva“, wozu auch Isayeva u. a. / Russland gehört, werden infringement proceedings nicht erwähnt, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / exe cution / Reports / pendingCases_en.asp?CaseTitleOrNumber=Khashiyev&StateCode= &SectionCode= (Stand: 13.04.2015). 199 Siehe Teil 2 § 2 A. II. 2. a) aa). 200 Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 57 f. m. w. N.; s. auch Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (280). 195 Egli,
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Zum anderen hat das Versäumnisverfahren keine Rechtsfolgen. Die Sanktionswirkung besteht nämlich allein in der von dem Verfahren ausgehenden Prangerwirkung: Präventiv soll bereits die Drohung mit dem Versäumnisverfahren genügen, um einen Staat zur Umsetzung zu bewegen; kommt es dann zu einem Versäumnisverfahren, kann allein der öffentliche Druck etwas ausrichten,201 denn die Sache wird nach dem Urteil ohne weitere Konsequenzen lediglich wieder an das Ministerkomitee zurückverwiesen. Das Verfahren ist somit als zahnlose Sanktion ohne Zwangsmittel konzipiert.202 Daher ist zweifelhaft, ob sich Staaten, die sich bereits beharrlich einer Umsetzung widersetzen, vom Versäumnisverfahren einschüchtern lassen würden.203 Wenn der politische Wille, ein Urteil nicht umzusetzen, nicht besteht, wird der Wille auch nach dem Verfahren nicht vorliegen. Ebenso wird das Versäumnisverfahren nichts bewegen, wenn die Umsetzung in dem betroffenen Staat an dem parlamentarischen Verfahren oder fehlenden finanziellen Kapazitäten scheitert.204 III. Fazit Erstens sind die Möglichkeiten des Ministerkomitees unzureichend, um umsetzungsunwillige Staaten zur Umsetzung von Urteilen zu bewegen. Art. 46 Abs. 2 EMRK besteht als vage Vorschrift weitgehend unverändert seit 1953 und beinhaltet letztlich nur eine „Überwachungspflicht“, die zwar in der Praxis durch das ausführliche Regelwerk des Ministerkomitees ausgestaltet wurde und den Ablauf der Umsetzungsüberwachung straff durchorganisiert. Es sehen jedoch weder Art. 46 Abs. 2 EMRK noch die Verfahrensregeln wirkliche Maßnahmen vor, einen Staat zur Umsetzung zu bewegen. Gleiches gilt für die neuen, durch das 14. Zusatzprotokoll eingeführten Möglichkeiten. Die zur Verfügung stehenden Mittel erzielen nicht die gewünschte Wirkung (wie im Fall der Prangerwirung), sind sogar kontraproduktiv (Ausschluss nach Art. 8 Statut des Europarats) und werden gar nicht erst angewendet (infringement proceedings). Das Umsetzungsverfahren bleibt so ein freiwilliges System; kein Staat kann gezwungen werden, ein Urteil umzusetzen. 201 Keller / Bertschi,
EuGRZ 2005, 204 (224). Taking a Case to the European Court of Human Rights, 3. Aufl. 2011, Rdnr. 3.77; Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (280). 203 Marmo, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 2008, 235 (250); Lemmens / Vandenhole, Protocol No. 14 and the reform of the European Court of Human Rights, 2005, S. 120. 204 Egli, ZaöRV 2004, 759 (790). 202 Leach,
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK65
Zweitens unterstreichen die zur Verfügung stehenden Mittel den politischen Charakter des Ministerkomitees. Maßnahmen wie die Prangerwirkung und der Ausschluss aus dem Europarat sind politischer Natur, das Versäumnisverfahren ist wiederum ein Rechtsmittel, das – vermutlich – aufgrund von politischen Erwägungen nicht angewendet wird. Das ist nicht verwunderlich, da die Vertreter und Vertreterinnen im Ministerkomitee im Gegensatz zum Gerichtshof ihre Regierungen und damit die diplomatischen Interessen ihres Staates repräsentieren.205 Das hat den Vorteil, dass ein politisches Organ die Möglichkeit hat, politischen Druck auf den Mitgliedstaat auszuüben, der ein Urteil nicht oder nicht ausreichend umsetzt,206 birgt aber auch die Gefahr, dass in der Ermessenausübung politischen Erwägungen gegenüber den rechtlichen, vom Sekretariat des Ministerkomitees vorgebrachten, Erwägungen eine höhere Bedeutung zugemessen wird.207 Jedenfalls lasten auf diese Weise wichtige Entscheidungen, die einen großen Einfluss auf die Durchsetzung der EMRK haben, auf den Schultern von Diplomaten.208 Drittens ist das Verfahren des Ministerkomitees zwar durch die Dokumentation auf der Website des Europarats209 transparenter geworden.210 Dort finden sich jedoch nur die Beschlüsse des Ministerkomitees. Die Treffen des Ministerkomitees werden weiterhin unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten (Art. 21 lit. a ii. Satzung des Europarates) und die Inhalte der Diskussionen werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Auch das unterstreicht noch einmal die politische Natur des Verfahrens.
B. Pflichten und Befugnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten im Ministerkomitee Fraglich ist aber, ob nicht nur das Ministerkomitee als Gremium, sondern auch jedes einzelne Mitglied verpflichtet sein könnte, auf den betroffenen Staat einzuwirken, um die Umsetzung eines Urteils zu gewährleisten. Denn 205 Leuprecht,
in: FS Eramcora, 95 (96). EuGRZ 2003, 168 (172). 207 Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (98, 106); Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (798). 208 Kritisch dazu Okresek, EuGRZ 2003, 168 (173); Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, 1974, S. 149 f. 209 Council of Europe, Pending cases: current state of execution, http: / / www.coe. int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp (Stand 04.09.2014). 210 Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 182; Lambert-Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2. Aufl. 2008, S. 33 f; Jacobs / White / Ovey, The European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2010, S. 53. 206 Okresek,
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das Ministerkomitee ist zwar das Exekutivorgan des Europarats und spricht für die Organisation als solche, es ist aber ebenso ein Kreis, in dem die Vertreter und Vertreterinnen der Mitgliedstaaten die Ansichten und Positionen ihres Staats vorbringen.211 Das Ministerkomitee ist also auch die Summe seiner Teile. Nacheinander werden die Pflicht zur Kooperation (II.), die Pflicht zur Enthaltung (III.) und die Möglichkeit von Gegenmaßnahmen als ultima ratio (IV.) betrachtet. Zuvor ist allerdings zu klären, inwieweit allgemeine völkerrechtliche Regeln, insbesondere die ILC-Artikel, neben der EMRK überhaupt zur Anwendung kommen können (I.). I. Vorfrage: Anwendbarkeit allgemeiner völkerrechtlicher Regeln Bei der Herausarbeitung der Rechte und Pflichten der Drittstaaten im Durchsetzungsverfahren muss möglicherweise auf völkerrechtliche Rechtsgrundlagen außerhalb der EMRK, nämlich die in den ILC-Artikeln niedergelegten gewohnheitsrechtlichen Normen der Staatenverantwortlichkeit, zurückgegriffen werden. Daher ist zu klären, ob die allgemeinen völkerrecht lichen Regeln zwischen den Mitgliedstaaten der EMRK überhaupt zur Anwendung kommen können. Gemäß Art. 55 ILC-Artikel sind die Artikel der ILC nur dann anwendbar, wenn nicht bereits spezielle Regelungen vorliegen. Die Vorschrift nimmt damit Bezug zu dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali.212 Die EMRK sieht selbst umfangreiche Regeln zur Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten vor, sodass ein Rückgriff auf die ILC-Artikel ausgeschlossen sein könnte. Art. 55 ILC-Artikel unterscheidet zwischen „starken“ und „schwachen“ Formen des lex specialis-Gebot, wobei ein self-contained régime eine starke und eine einzelne spezielle Vertragsregel eine schwache Form bilden können.213 Die EMRK könnte ein self-contained régime darstellen, sodass die Anwendung allgemeiner völkerrechtlicher Regeln von vornherein ausgeschlossen wäre (1.). Wenn nicht, kann unter bestimmten Bedingungen ein Rekurs auf die allgemeinen Regeln möglich sein (2.).
211 Hondius,
in: FS Wiarda, 245 (248 f.). The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 55 Rdnr. 2. 213 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 55 Rdnr. 5. 212 Crawford,
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK67 1. EMRK als self-contained régime
Bevor die Voraussetzungen eines self-contained régimes auf das Vertragssystem der EMRK angewendet werden können [b)], ist der Begriff zu definieren [a)]. a) Begriff des self-contained régimes Art. 55 ILC-Artikel erwähnt zwar das Konzept des self-contained régimes,214 definiert aber nicht, was darunter zu verstehen ist und legt auch nicht fest, welche Rechtssysteme nach Meinung des ILC als self-contained régime gelten.215 Stattdessen verweist die Kommentierung auf die Urteile Wimbledon des StIGH und den Teheraner Geiselfall des IGH.216 In diesen beiden Urteilen wurde das Konzept des self-contained régimes jedoch unterschiedlich gebraucht: Während der IGH im Teheraner Geiselfall mit dem Begriff eine Reihe von speziellen Sekundärregeln zusätzlich zu eigenen Primärregeln umschrieb,217 meinte das Urteil Wimbledon mit self-contained régime einen Korpus an speziellen Primärregeln.218 Allerdings hat sich die wissenschaftliche Diskussion zu self-contained régimes seit dem Urteil im Teheraner Geiselfall auf die Frage der Vollständigkeit spezieller Sekundärregeln eines Subsystems fokussiert, sodass die Ausführungen im Urteil Wimbledon insoweit heute überholt sind.219 Die Frage dreht sich darum, ob die Sekundärregeln, also die Durchsetzungsnormen eines 214 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 55 Rdnr. 5. 215 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (145). 216 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 55 Rdnr. 5. 217 IGH, Urteil vom 24.05.1980, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA / Iran), ICJ Reports 1980, 3 (41); ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 124 f.; Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (142 f.). 218 StIGH, Urteil vom 17.08.1923, S.S. „Wimbledon“ (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Japan / Deutschland), Series A No. 1, 23 f.; ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 126 f.; Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (142 f.). 219 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (143).
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völkerrechtlichen Regimes, so umfassend festgelegt sind, dass die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln nicht mehr notwendig und deshalb nicht anwendbar sind. Fraglich ist allerdings, wie umfassend die Regeln gestaltet sein müssen, damit von einem self-contained régime gesprochen werden kann. Einerseits kann es sich um eine Rechtsordnung handeln, die komplett unabhängig vom allgemeinen Völkerrecht existiert.220 Dagegen spricht jedoch, dass bezweifelt werden darf, ob solche Systeme in der Praxis überhaupt existieren; kein Rechtskomplex ist komplett unabhängig von den allgemeinen Regeln des Völkerrechts.221 Simma und Pulkowski definieren den Begriff präziser und bezeichnen damit ein Subsystem, das die Anwendung der allgemeinen Rechtsfolgen von rechtswidrigen Handlungen, so wie sie in den ILC-Artikeln niedergelegt sind, gänzlich ausschließen will; insbesondere die Gegenmaßnahmen, die der verletzten Partei normalerweise zur Verfügung stehen.222 Da die heutige Diskussion um self-contained régimes vorrangig auf die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen zielt, ist davon auszugehen, dass sich auch das „starke“ lex specialis in Art. 55 ILC-Artikel auf einen speziellen Satz an Sekundärregeln bezieht, der allgemeine Durchsetzungsmaßnahmen und dabei insbesondere Gegenmaßnahmen ausschließen will, so wie es von Simma und Pulkowski vorgebracht worden ist.223 In der Folge wird anhand dieser Definition herausgearbeitet, ob die EMRK ein self-contained régime ist. b) Anwendung auf die EMRK Wäre die EMRK ein self-contained régime, dann würde sich das EMRKSystem selbst genügen und die Anwendung allgemeiner völkerrechtlicher Regeln wie der ILC-Artikel wäre ausgeschlossen. Die Befürworter dieses Ausschlusses begründen ihre Ansicht zusammengefasst mit zwei Argu 220 Klein, „Self-Contained Regime“, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Ency clopedia of Public International Law, 2012, Rdnr. 1; Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 254. 221 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (143); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (492); ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, §§ 120, 152; Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 254. 222 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (143 f.); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (492 f.); eine frühere Version der Definition findet sich bei Simma, NYIL 1985, 111 (117). 223 Im Ergebnis so auch ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 153.
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menten:224 Erstens beinhalte die EMRK einen eigenen, effektiven Durchsetzungsmechanismus (beispielsweise die obligatorische Staatenbeschwerde, die mit einem rechtsverbindlichen Urteil abgeschlossen wird,225 und die Überwachung der Urteilsumsetzung durch das Ministerkomitee226), das den Rückgriff auf die allgemeinen Regeln ausschließe.227 Dagegen ist zu sagen, dass das nur einzelne Aspekte der Staatenverantwortlichkeit sind, die mög licherweise der Anwendbarkeit einiger Vorschriften der ILC-Artikel ob ihrer Spezialität entgegenstehen können. Es sind Zeugnisse eines eigenen durch organisierten Durchsetzungsapparats. Jedoch lässt sich daraus nicht darauf schließen, dass von den Mitgliedstaaten der Ausschluss der Anwendung aller allgemeinen Rechtsfolgen von rechtswidrigen Handlungen intendiert war. Zweitens lege die EMRK selbst in Art. 55 EMRK fest, dass das System geschlossen und andere Durchsetzungsmechanismen ausgeklammert seien.228 Art. 55 EMRK schließt jedoch lediglich anderweitige zwischenstaatliche Streitbeilegung bezüglich der Auslegung und Anwendung der EMRK aus. Alleiniger Zweck dieser Vorschrift war, zu vermeiden, dass der IGH ein Urteil des EGMR revidiert.229 Zudem kann von dieser Regel laut Art. 55 EMRK auch „durch besondere Vereinbarung“ abgewichen werden.230 Folglich schließt Art. 55 EMRK als lex specialis eventuell die Nutzung einer anderen Form der Staatenbeschwerde als die in Art. 33 EMRK aus, jedoch nicht die allgemeinen Durchsetzungsmöglichkeiten infolge einer konventionswidrigen Handlung. Jedenfalls kann aus diesem einen Punkt nicht auf eine geschlossene völkerrechtliche Ordnung gefolgert werden. Wäre die EMRK andererseits kein self-contained régime, wäre die Anwendung der allgemeinen völkerrechtlichen Regeln, wie auch der ILC-Artikel, nicht ausgeschlossen. Die EMRK könnte durch die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln ergänzt werden („complementarity“231). Für diese Ansicht spricht die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der Mitgliedstaaten: 224 Zusammenfassung von Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 56. 225 Kooijmans, LJIL 1990, 87 (93, Fn. 9). 226 Dörr, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33 Rdnr. 114. 227 Bryde, Verpflichtungen Erga Omnes aus Menschenrechten, BDGV 33 (1994), 165 (182 f.). 228 Kooijmans, LJIL 1990, 87 (93, Fn. 9); Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (399); Geck, in: FS Carstens, Band 1, S. 339 (359). 229 Klein, „Self-Contained Regime“, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Ency clopedia of Public International Law, 2012, Rdnr. 14. 230 Dazu Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 283 ff. 231 Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 253.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Erstens hat der EGMR selbst festgestellt, dass die EMRK auf die Staatenverantwortlichkeit bezogen nicht in einem „Vakuum“ interpretiert werden kann232 und verweist in seinen Urteilen regelmäßig auf die ILC-Artikel.233 Das zeigt, dass die EMRK nicht als self-contained régime erdacht worden ist. Im Gegenteil misst der EGMR die EMRK an den allgemeinen Sekundärregeln und geht nicht davon aus, dass die Konventionsrechte die allgemeinen Rechte außer Kraft setzen.234 Zweitens spricht auch die Praxis der Mitgliedstaaten dagegen, dass es sich bei der EMRK um ein self-contained régime handelt. So ergriff beispielsweise die Europäische Gemeinschaft anlässlich der Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Militärdiktatur Sanktionen gegen Griechenland, obwohl den damaligen EG-Staaten auch das Staatenbeschwerdeverfahren der EMRK zur Verfügung stand, von dem nur die Niederlande gemeinsam mit den skandinavischen Staaten Gebrauch machte.235 c) Zwischenergebnis Die EMRK ist kein self-contained régime, denn es hat nicht die Intention, die Anwendung der allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsfolgen von rechtswidrigen Handlungen auszuschließen. Im Gegenteil beziehen sich die Organe der EMRK immer wieder auf die allgemeinen Regen zur Staatenverantwortlichkeit. 2. Rekurs auf allgemeines Völkerrecht
Zwar stellt die EMRK kein self-contained régime dar, sie enthält aber eigene Regeln zur Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten. Fraglich ist, wann anstelle oder zusätzlich zu diesen Regeln auf die in den ILC-Artikeln festgeschriebenen allgemeinen Vorschriften zur Staatenverantwortlichkeit zurückgegriffen werden kann. Dabei sind zwei Schritte zu beachten. 232 EGMR, Beschluss vom 12.12.2001 – No. 52207 / 99, Banković u. a. / Belgien u. a., § 57; ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 163. 233 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 19.10.2012 – No. 43370 / 2004 u. a., Catan u. a. / Moldau und Russland, § 74; EGMR, Urteil vom 14.01.2014 – No. 34356 / 06 u. a., Jones u. a. / Vereinigtes Königreich, § 107 ff.; EGMR, Urteil 24.07.2014 – No. 28761 / 11, Al Nashiri / Polen, § 207. 234 ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 164. 235 Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 56 f.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK71
Zunächst ist immer dann, wenn eine Norm der EMRK mit einer Norm der ILC-Artikel im Konflikt steht, dieser Konflikt nach den allgemeinen Konfliktregeln aufzulösen. So gilt die Regel lex specialis derogat legi generali: Sieht die EMRK eine eigene, spezielle Regelung vor, ist die allgemeine Regel damit ausgeschlossen.236 Das entspricht einer „schwachen“ lex specialis, wie sie Art. 55 ILC-Artikel vorsieht.237 Folglich ist die Anwendung einer Vorschrift der ILC-Artikel ausgeschlossen, wenn die EMRK eine vergleichbare eigene Regelung beinhaltet. Von diesem Prinzip kann jedoch eine Ausnahme gemacht werden, wenn ein Rekurs auf die Regeln der ILC-Artikel notwendig wird („fallback“238). Wenn Staaten spezielle Verpflichtungen wie die EMRK eingehen, dann sind deren Durchsetzungsmöglichkeiten nur anwendbar, soweit und solange sie einen effektiven Schutz bieten.239 Erst sobald dies nicht mehr gewährleistet ist, kann auf die allgemeinen Regeln zurückgegriffen werden.240 Denn aus teleologischer Sicht muss der Vertrag seinen Schutzzweck (im Fall der EMRK die Bewahrung der Konventionsrechte) erfüllen und um dies zu erreichen, kann auch auf externe Maßnahmen wie zum Beispiel Gegenmaßnahmen zurückgegriffen werden.241 Speziell zu den Verträgen zum Schutz der Menschenrechte hat der IGH im Nicaragua-Urteil ausgeführt, dass die in den Verträgen vorgesehenen Durchsetzungsmechanismen anderen Mechanismen vorgehen und hat präzisiert, dass der einschlägige Durchsetzungsapparat in dem Fall auch funktioniert hat.242 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Durchsetzungsmaßnahmen spezieller Menschenrechtsregime vorrangig sind, solange sie effizient funk 236 Es gibt noch weitere Konfliktregeln, z. B. dass ein neueres Gesetz dem älteren vorgeht (lex posterior derogat legi prior), Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 253. 237 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 55 Rdnr. 5. 238 ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 186 ff.; Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (507 ff.); zurückgehend auf Arangio-Ruiz, U.N.Y.B. Int’l L. Comm’n 1992, 1 (40 f.). 239 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (149); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (508 f.); Crawford, State responsibility, 2013, S. 105. 240 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (149); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (508 f.); Cassese, International law, 2. Aufl. 2005, S. 274, 276. 241 Crawford, State responsibility, 2013, S. 105. 242 IGH, Urteil vom 27. Juni 1986, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua / United States of America), ICJ Reports 1986, S. 14 (134).
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tionieren; wenn dies nicht mehr der Fall ist, kann wieder auf die allgemeinen Regeln zurückgegriffen werden.243 Simma und Pulkowski nennen drei Beispiele für Situationen, in denen ein solcher Rekurs denkbar wird: Es besteht eine Pflichtverletzung trotz eines Gerichtsurteils durch den zuständigen Spruchkörper fort; die Wiedergutmachung erfolgt trotz eines entsprechenden Urteils nicht oder eine einseitige Handlung ist als Verteidigungsmaßnahme notwendig.244 Auch Koskenniemi, der zwar statt von einem nicht funktionierenden von einem gescheiterten System spricht245 und so begrifflich höhere Maßstäbe an den Rekurs anlegt, nennt als Beispiel den Fall, dass Organe einer Rechtsordnung eine Wiedergutmachung vorsehen, diese aber nicht erbracht wird.246 Letztendlich müssen die miteinander im Konflikt stehenden Normen genau ausgelegt werden.247 Eine schematische Lösung ist nicht möglich, sondern der Einzelfall entscheidend. Daher muss bei jeder der möglichen Pflichten der Mitgliedstaaten, sollte diese auf einer Vorschrift der ILC-Artikel beruhen, untersucht werden, ob die EMRK diese Regel nicht bereits selbst durch eine eigene lex specialis genügend ausgestaltet hat. Wenn eine solche lex specialis vorliegt, ist im Anschluss zu überprüfen, ob die Norm auch effizient funk tioniert, da ansonsten wieder ein Rückgriff auf die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln möglich ist. 3. Ergebnis
Ein Rückgriff auf die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln ist möglich, sofern die EMRK keine lex specialis vorsieht oder die betroffene Konven tionsregel nicht mehr funktioniert.
243 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson (Hrsg.), The Law of Interna tional Responsibility, 2010, S. 139 (159); Simma, in: FS Neuhold, 359 (362 f.); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (524 f.). 244 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (149); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (509). 245 ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 186. 246 ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 189; zurückgehend auf Arangio-Ruiz, U.N.Y.B. Int’l L. Comm’n 1992, 1 (40 f.). 247 Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 253.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK73
II. Pflicht zur Kooperation im Ministerkomitee Nach der Identifizierung der Pflicht zur Kooperation (1.) werden Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt (2.) 1. Rechtsgrundlage
Der Wortlaut von Art. 46 Abs. 2 EMRK gibt keine Auskunft zu möglichen Drittstaatpflichten, weshalb der Artikel weiter ausgelegt und dazu der Kontext der Vorschrift im Sinne des Art. 31 Abs. 1 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) herangezogen wird; es wird also ergänzend auf weitere Vorschriften zurückgegriffen. Zur Kontextauslegung werden die Präambel der EMRK [b)], Art. 3 der Satzung des Europarats [a)] und Art. 41 § 1 ILC-Artikel [c)] herangezogen. a) Art. 3 der Satzung des Europarats Alle Mitgliedstaaten der EMRK sind ebenso Mitglieder des Europarats und daher auch an dessen Satzung gebunden. Zudem ist auch das Ministerkomitee ein Organ des Europarats und seine Pflichten und Aufgaben werden in erster Linie von der Satzung des Europarats geregelt. Laut Art. 3 der Satzung ist jedes Mitglied dazu verpflichtet, aufrichtig und tatkräftig an der Verfolgung der in Kapitel I gekennzeichneten Ziele mitzuarbeiten, wobei die Verfolgung der Ziele des Europarats auch in dem Schutz und der Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bestehen (Art. 1 lit. b Satzung des Europarats). Daraus ist abzuleiten, dass alle Mitgliedstaaten des Europarats sich ernsthaft an der Durchsetzung der Menschenrechte beteiligen müssen. Diese Pflicht schließt auch das Umsetzungsverfahren ein. So besteht eine allgemeine Verpflichtung aller Mitgliedstaaten daran mitzuwirken, dass sämtliche Urteile des EGMR vollständig umgesetzt werden. b) Präambel der EMRK In der Präambel der EMRK wurde das Prinzip des collective enforcement,248 der kollektiven Garantie der Menschenrechte, niedergelegt. Es bezieht sich auf die collective responsibility, also die kollektive Sicherung der Men schenrechte,249 die den Mitgliedstaaten des Europarats obliegt und durch die 248 Der Begriff des collective enforcement wird auch zur Bezeichnung des Sank tionsregimes der UN gebraucht. Das ist hier nicht gemeint. 249 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rdnr. 16.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Organe des Europarats ausgeübt wird.250 Dieses Prinzip ist eine der Grundideen der EMRK251 und stellt keine leere Floskel dar, sondern drückt die besondere Bindung der EMRK zur Rechtsstaatlichkeit aus.252 Eine Ausprägung der kollektiven Sicherung ist die Staatenbeschwerde,253 die jedem Mitgliedstaat das Recht zuspricht, jeden anderen Mitgliedstaat vor dem EGMR zur Verantwortung zu ziehen (Art. 33 EMRK), wodurch Staaten zu Garanten der öffentlichen Ordnung in Europa werden.254 Das Gebot, sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen, wird auf diese Weise verdrängt und die Wahrung der Menschenrechte wird zum berechtigten Anliegen aller Mitgliedstaaten.255 Das Gleiche muss erst recht für die Phase nach der Verurteilung gelten: So ist ein weiterer Aspekt der kollektiven Sicherung der Rechte der EMRK durch die Mitgliedstaaten die Überwachungsfunktion des Ministerkomitees gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK, nach der die Mitgliedstaaten im Ministerkomitee gemeinsam für eine umfassende Umsetzung der Urteile des EGMR sorgen.256 In diesem Fall besteht die Aufgabe nicht darin, den Staat vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, sondern ihn dazu zu bringen, die vorab durch ein Urteil des EGMR festgestellte Menschenrechtsverletzung abzustellen. Denn auch hier dürfen die übrigen Mitgliedstaaten nicht die Augen verschließen, sondern müssen – dem Prinzip der kollektiven Verantwortung entsprechend – dafür Sorge tragen, dass das Urteil umgesetzt und dadurch das fragliche Menschenrecht geschützt wird. Frowein nennt Art. 46 Abs. 2 EMRK so auch folgerichtig eine „kollektive Sicherung“ der Verpflichtung des verurteilten Staates aus Art. 46 Abs. 1 EMRK.257 Der kollektive Aspekt der Umsetzung der Urteile wurde auch im 250 Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (391); Frowein, Collected Courses of the Academy of European Law 1992, 267 (280); Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (97). 251 Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (97). 252 Mayer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Präambel Rdnr. 8. 253 EGMR, Urteil vom 18.01.1978 – No. 5310 / 71, Irland / Vereinigtes Königreich, § 239; Frowein, Collected Courses of the Academy of European Law 1992, 267 (280 f.); Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (360, 392); Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (97); Frowein, ZaöRV 1987, 67 (67). 254 Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (392); Frowein, Collected Courses of the Academy of European Law 1992, 267 (280). 255 Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (97). 256 Leuprecht, in: FS Ermacora, 95 (106); Boillat, in: Council of Europe (Hrsg.), Reforming the European Convention of Human Rights – a work in progress, 2009, S. 376 (378), http: / / www.echr.coe.int / librarydocs / dg2 / isbn / coe-2009-en-9789287166 043.pdf (Stand: 28.02.2018). 257 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46 Rn. 16.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK75
Rahmen aktueller Reformbestrebungen deutlich betont.258 So spricht beispielsweise der Explanatory Report zum 14. Zusatzprotokoll als Text der travaux préparatoires von einer „collective duty“ der Mitgliedstaaten, die Autorität des EGMR zu bewahren, wenn das Ministerkomitee befindet, dass ein anderer Mitgliedstaat ein ihn betreffendes Urteil nicht umsetzt.259 So ergibt sich aus der Präambel der EMRK eine Pflicht der Staaten zur Kooperation bei der Umsetzung der Urteile des EGMR, auch wenn der Inhalt der Präambel den Staaten keine rechtlich verbindlichen Pflichten auferlegt.260 Die verbindliche Pflicht zur Kooperation bei der Umsetzung der Urteile ergibt sich aus einer Zusammenschau von Art. 46 Abs. 2 EMRK in Verbindung mit der Präambel. c) Art. 41 § 1 ILC-Artikel Gemäß Art. 41 § 1 ILC-Artikel müssen die Staaten zusammenarbeiten, um schwerwiegende Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 40 ILC-Artikel durch rechtmäßige Mittel zu beenden. Diese Kooperationspflicht könnte ebenfalls herangezogen werden, um den kooperativen Durchsetzungsmechanismus der EMRK weiter zu verstärken.261 Art. 41 § 1 ILC-Artikel ist jedoch nur anwendbar, wenn die EMRK keine eigene Kooperationspflicht vorsieht oder ein Rekurs auf das allgemeine Recht gerechtfertigt ist. Die EMRK sieht in ihrer Präambel selbst eine kollektive Sicherung der Konventionsrechte vor, in deren Licht Art. 46 Abs. 2 EMRK auszulegen ist. Daher besteht keine Notwendigkeit, auf den Tatbestand von Art. 41 § 1 ILC-Artikel zurückzugreifen, zumal dieser auch enger ist als die von der EMRK vorgesehene Kooperationspflicht. Denn die Kooperation im Sinne von Art. 42 § 1 ILC-Artikel greift nur bei schweren Verletzungen von zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts (Art. 40 ILC-Artikel), während die Grundlage in der Präambel sich auf jede vom EGMR festgestellte Verletzung eines Konventionsrechts bezieht. d) Zwischenergebnis Die Pflicht der Mitgliedstaaten im Ministerkomitee als Drittstaaten im Umsetzungsprozess ergibt sich aus Art. 46 Abs. 2 EMRK in Verbindung mit 258 Leach,
Public Law 2006, 443 (445, 453). zur EMRK, Explanatory Report, Ziff. 98. 260 Bird, EJIL 2010, 883 (887). 261 Siehe auch Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 3. 259 14. Zusatzprotokoll
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
der Präambel der EMRK. Infolgedessen müssen die Mitgliedstaaten alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtmäßigen Möglichkeiten ausschöpfen, um einen anderen Mitgliedstaat zur Umsetzung eines Urteils zu bewegen. In welcher Form sie ihrer Kooperationspflicht nachkommen, hängt vom Einzelfall ab. Bei manchen Umsetzungsproblemen werden eher moderate Bemühungen, bei anderen ernstgemeinte Drohungen zum Erfolg führen. Pauschal ist zu sagen, dass je größer der Unwillen des Staates ist, und je dramatischer der durch die Konventionsverletzung geschaffene Zustand für die Beschwerdeführerin oder den Beschwerdeführer, und je länger sich die Umsetzung hinzieht, desto mehr Engagement von den Drittstaaten notwendig ist. Kurz gesagt sollte zwischen der rechtswidrigen Situation und dem Handeln der Drittstaaten Verhältnismäßigkeit bestehen. Die Handlungspflicht der Drittstaaten besteht unabhängig davon, ob das Ministerkomitee die Nichtumsetzung ausdrücklich festgestellt hat. Die Staaten müssen den säumigen Staat zur Umsetzung bewegen, sobald dieser sich ihrer Ansicht nach im Verzug befindet. 2. Handlungsmöglichkeiten
Als Maßnahmen zur Kooperation kommen die aktive Mitarbeit im Ministerkomitee [a)], die Einleitung von infringement proceedings im Minister komitee [b)] und die Durchführung von Staatenbeschwerden [c)] sowie die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union [d)] in Frage. a) Aktive Mitarbeit im Ministerkomitee Alle Mitgliedstaaten müssen im Ministerkomitee ernsthaft mitarbeiten. Das heißt, dass die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aus Art. 46 Abs. 2 EMRK nicht nur anwesend sein, sondern diese kollektive Verantwortung auch ernsthaft erfüllen müssen. Wenn Zweifel daran bestehen, ob von einem Staat getroffene Maßnahmen ein Urteil umfassend umsetzen, müssen diese Zweifel zum Beispiel deutlich ausgedrückt werden.262 Es genügt nicht, nur an den Sitzungen teilzunehmen. Wenn ein Staat sich nicht oder nicht ausreichend bemüht, ein Urteil in die innerstaatliche Rechtsordnung zu implementieren, muss von diesem Staat eine Rechtfertigung verlangt und deutlich gemacht werden, dass dessen Untätigkeit inakzeptabel ist.263 262 Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (798). 263 Karl, Besonderheiten der internationalen Kontrollverfahren zum Schutz der Menschenrechte, BDGV 33 (1994), 83 (89).
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Die aktive Mitarbeit sollte zwar eine Selbstverständlichkeit sein, derzeit beteiligen sich jedoch nur etwa 12 der 47 Staaten aktiv an der Umsetzungskontrolle.264 Das ist auch insofern relevant, als dass 12 Staaten nicht die Zweidrittelmehrheit herstellen können, die für sämtliche Beschlüsse des Ministerkomitees notwendig sind. Außerdem können der Generalsekretär oder die Parlamentarische Versammlung eingeschaltet werden. Die Mitgliedstaaten können die Probleme auch bei den übrigen Treffen des Ministerkomitees zur Sprache bringen und ihre Besorgnis bezüglich der konventionswidrigen Verhältnisse in einem Mitgliedstaat ausdrücken, um den Druck auf den betroffenen Staat zu erhöhen. Zudem können Briefe an die betroffenen Regierungen geschrieben265 oder zuständige Ministerinnen und Minister vorgeladen werden.266 b) Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK initiieren Wenn die Voraussetzungen für infringement proceedings gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK vorliegen, dann sind die Drittstaaten verpflichtet, das Verfahren zu initiieren. Es ist bedeutsam, dass die Umsetzung eines Urteils in der Verantwortung aller Mitglieder des Ministerkomitees steht. Das Versäumnisverfahren, als weiteres Druckmittel, sollte auch angewandt werden. Die Drittstaaten müssen in den Treffen für das Verfahren werben und bei der Abstimmung dafür oder wenigstens nicht dagegen stimmen.
264 Ehrenkrona, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the long-term future of the European Court of Human Rights, Proceedings, 07.–08.04.2014, S. 171, https: / / edoc.coe.int / en / conferences-on-the-future-of-the-european-court-of-humanrights / 7307-conference-on-the-long-term-future-of-the-european-court-of-humanrights-oslo-7-8-april-2014.html (Stand: 28.02.2018). 265 Wie zum es zum Beispiel bei der Überwachung der Umsetzung des Urteils Ilașcu u. a. / Moldau und Russland gemacht wurde, Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2006)52rev2E, 07.05.2007, https: / / wcd.coe.int / ViewDoc.jsp?id=107392 3&Site=COE (Stand: 28.02.2018); zu Loizidou / Türkei s. auch Wittling-Vogel, in: Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2014, S. 103 (108). 266 Wittling-Vogel, in: Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2014, S. 103 (113) m. w. N.; Lambert-Abdelgawad, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the long-term future of the European Court of Human Rights, Proceedings, 07.–08.04.2014, S. 152 m. w. N., https: / / edoc.coe.int / en / confe rences-on-the-future-of-the-european-court-of-human-rights / 7307-conference-on-thelong-term-future-of-the-european-court-of-human-rights-oslo-7-8-april-2014.html (Stand: 28.02.2018).
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c) Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) Gemäß Art. 33 EMRK kann jeder Mitgliedstaat den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung der EMRK durch einen anderen Mitgliedstaat anrufen. Fraglich ist, ob dies auch für eine Verletzung von Art. 46 Abs. 1 EMRK gilt. Zum einen ist zu beachten, dass Art. 46 Abs. 1 EMRK keinen individualrechtlichen Charakter hat.267 Allerdings kann die Staatenbeschwerde wegen jeder behaupteten Verletzung der EMRK durchgeführt werden; der beschwerdeführende Staat muss gerade nicht wie bei der Individualbeschwerde behaupten, in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein.268 Folglich steht der Anwendung von Art. 33 EMRK nicht entgegen, dass Art. 46 Abs. 1 EMRK den Mitgliedstaaten kein individuelles Recht zuspricht.269 Zudem wird die Staatenbeschwerde wegen Art. 46 Abs. 1 EMRK auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass dem Ministerkomitee die Kontrolle der Umsetzung obliegt, da die Überwachung des Ministerkomitees keine einem Urteil vergleichbare rechtsverbindliche Wirkung hat.270 Die Einlegung einer Staatenbeschwerde wegen Nichtumsetzung eines Urteils durch einen oder mehrere der übrigen Mitgliedstaaten kann den Druck auf den verantwortlichen Staat erhöhen und so ein wirksames Mittel sein, um den Staat zur Umsetzung zu bewegen.271 d) Zusammenarbeit mit der Europäischen Union Eine weitere Möglichkeit, einen Mitgliedstaat zur Umsetzung eines Urteils zu drängen, besteht in der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU). Alle Mitgliedstaaten der EU sind auch Mitglieder des Europarats und so der EMRK, wodurch ein Problem mit der EMRK auch immer indirekt ein Problem aller Mitgliedstaaten der EU ist. 267 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 33 Rdnr. 7. 268 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 33 Rdnr. 7; Cohen Jonathan, La convention européenne des droits de l’homme, 1989, S. 81; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 271. 269 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 33 Rdnr. 7. 270 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 271. 271 Borelli, The Impact of the Jurisprudence of the European Court of Human Rights on Domestic Investigations and Prosecutions of Serious Human Rights Violations by State Agents, DOMAC / 7, 05 / 2010, S. 88, https: / / en.ru.is / media / domac / DOMAC_7-ECHR-SB.pdf (Stand: 28.02.2018),
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aa) Beispiele In der Vergangenheit haben die Drittstaaten im Ministerkomitee bereits über die EU Druck auf potentielle Beitrittskandidaten in den Fällen Loizidou / Türkei und Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina [(1)] sowie in Ilașcu u. a. / Moldau und Russland [(2)] ausgeübt. (1) V erfahren potentieller Beitrittskandidaten: Loizidou / Türkei und Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina Einerseits kann an den Beitrittswillen von potentiellen Mitgliedstaaten der EU appelliert werden: Für Mitgliedsstaaten des Europarates, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, kann der zukünftige EU-Beitritt deshalb eine Motivation sein, Urteile zu implementieren, da Beitrittsabkommen zuweilen ausdrücklich die Einhaltung der EMRK vorsehen.272 So rief im Fall der Türkei das Ministerkomitee 2001 in einer Interim-Resolution die Mitgliedstaaten der EMRK dazu auf, die Maßnahmen zu ergreifen, die sie für geeignet erachteten, damit die Türkei das damals drei Jahre alte Urteil Loizidou / Türkei endlich umsetze.273 In dem Urteil war der Beschwerdeführerin für die konventionswidrige Enteignung ihres nordzypriotischen Grundstücks eine Entschädigung von 320.000 Zypern-Pfund plus 137.084,34 ZypernPfund Kostenersatz zugesprochen worden.274 Die Türkei stand im Jahr 2003 kurz vor Beginn der Beitrittsverhandlungen275 und infolge der Interim-Resolution wurde die Umsetzung von EGMR-Urteilen als eine der Prioritäten in das Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und der Türkei276 aufgenommen.277 Auch durch das Ministerkomitee meldete sich die EU zu Wort, indem beispielsweise am 19. März 2003 bei einem regulären Treffen des Ministerkomitees außerhalb der human rights meetings Griechenland im Namen der 272 Leach, Taking a case to the European Court of Human Rights, 2011, Rdnr. 3.80 am Beispiel Türkei; Jacobs / White / Ovey, The European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2010, S. 61. 273 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2001)80, 26.06.2001. 274 EGMR, Urteil vom 28.07.1998 – No. 15318 / 89, Loizidou / Türkei (Art. 50), Tenor Ziff. 2 ff. 275 Auswärtiges Amt, EU-Erweiterung: Türkei, http: / / www.auswaertiges-amt.de / DE / Europa / Erweiterung / Tuerkei_node.html. 276 Council of the European Union, Council Decision of 19 May 2003 on the principles, priorities, intermediate objectives and conditions contained in the Accession Partnership with Turkey, 2003 / 398 / EC, 19.05.2003. 277 Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (502); Lambert Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2008, S. 41.
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EU die Türkei daran erinnerte, dass die Implementierung der Urteile des EGMR und speziell des Urteils Loizidou / Türkei eine Bedingung für die Aufnahme in die Europäische Union seien; die Erklärung wurde von Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, der Slowakei, Slowenien und den damals assoziierten Ländern Bulgarien und Rumänien mitgetragen.278 Die Entschädigung wurde Ende 2003 schließlich gezahlt,279 die individuellen und generellen Umsetzungsmaßnahmen werden im Rahmen der Umsetzung des Urteils Zypern / Türkei geprüft, das Urteil Loizidou / Türkei ist also noch nicht vollständig umgesetzt worden.280 Im Fall von Bosnien und Herzegowina hat die EU die Änderung des bosnischen Wahlrechts zur Bedingung für das Inkrafttreten des gemeinsamen Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens gemacht.281 Seit dem Urteil Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina, in dem das aus den DaytonAbkommen hervorgehende Wahlrecht für konventionswidrig erklärt wurde,282 ist das Inkrafttreten an die Umsetzung des Urteils geknüpft; aufgrund der fehlenden Bemühungen, das Urteil umzusetzen, ist der Beitrittsprozess zum Erliegen gekommen.283 Im Jahr 2012 hat sich auch der damalige Vorsitzende des Ministerkomitees in seinem Appell an Bosnien und Herzegowina unter anderem auf die Erklärungen des Europäischen Rats der EU bezogen, wonach die EU das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen erst in Kraft setzen wird, wenn ernsthafte Bemühungen seitens Bosnien und Herzegowina zu erkennen sind, das Urteil umzusetzen.284
278 Council of Europe, Committee of Ministers, 832. Treffen der Ministervertreter am 19. März 2003, CM / Del / Act(2003)832 / H54-1E, https: / / wcd.coe.int / ViewDoc. jsp?id=49959&Site=COE#P26_181 (Stand: 28.02.2018). 279 Committee of Ministers, Resolution ResDH(2003)190, 02.12.2003. 280 Council of Europe, Pending cases: current state of execution, Loizidou v. Turkey, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp ?CaseTitleOrNumber=Loizidou&StateCode=&SectionCode= (Stand: 14.05.2015). 281 Beschluss des Rates vom 18.02.2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Bosnien und Herzegowina und zur Aufhebung des Beschlusses 2006 / 55 / EG (2008 / 211 / EKG), Anhang, Abl. L. 80 / 18 vom 19.03.2008. 282 EGMR, Urteil vom 22.12.2009 – No. 27996 / 03, 34836 / 06, Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina, Tenor Ziff. 5, 7. 283 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2013– 2014, 19.11.2013, COM(2013) 700 final / 2, S. 42, https: / / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents / 2013 / package / strategy_paper_2013_en.pdf (Stand: 28.02.2018). 284 Council of Europe, Comittee of Ministers, Declaration of the Chairman of the Committee of Ministers of the Council of Europe on the Sejdic & Finci case, Decl25.05.2012, 25.04.2012.
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2012 hat zudem das Ministerkomitee in einer Interim-Resolution die Bedeutung der Umsetzung dieses Urteils für die Aussicht des Landes auf europäische Integration betont285 und in einer weiteren Interim-Resolution von 2013 auch an die wiederholten Appelle seitens der Europäischen Union erinnert, das Urteil umzusetzen.286 Auch haben 2012 der Generalsekretär des Europarats und der Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik der EU in einer gemeinsamen Erklärung bedauert, dass es noch zu keiner Einigung gekommen ist und ein Entwurf einer Verfassungsänderung noch nicht vorgelegt worden ist.287 Ende 2014 änderte der Rat für Auswärtige Angelegenheiten der EU seinen Umgang mit Bosnien und Herzegowina; dabei verlangte der Rat zwar weiter die Einhaltung der Beitrittsvoraussetzungen, eingeschlossen die Umsetzung des Sejdić und Finci-Urteils, zeigte sich aber bereit, bereits über das Inkrafttreten des Abkommens zu entscheiden, sobald Bosnien und Herzegowina eine unwiderrufliche schriftliche Verpflichtung unterzeichnet hat, die notwendigen Reformen durchzuführen.288 Wie vom Rat gefordert, einigte sich das Staatspräsidium über die Verpflichtung am 29.01.2015, die Unterzeichnung der politischen Führung und die Zustimmung des Parlaments erfolgten im Anschluss am 23.02.2015.289 Daraufhin kündigte der Rat an, das Abkommen in Kraft zu setzen.290 Bisher sind jedoch keine weiteren Bestrebungen seitens Bosnien erkennbar, das Urteil umzusetzen.291 Da die einseitige Aussetzung von Vertragsverhandlungen eine Retorsion darstellt,292 haben sich die Mitgliedstaaten durch die EU
285 Committee
of Ministers, Interim Resolution ResDH(2012)233, 06.12.2012. of Ministers, Interim Resolution ResDH(2013)259, 05.12.2013. 287 Council of Europe, Press release – DC088 (2012), Joint Statement by Commissioner Füle and Secretary General Jagland on Bosnia and Herzegovina, 04.09.2012. 288 Council of the European Union, Press release, 3361st Council meeting, Foreign affairs, 15.12.2014, https: / / www.consilium.europa.eu / uedocs / cms_data / docs / pressdata / EN / foraff / 146293.pdf (Stand: 28.02.2018), S. 2. 289 Council of the European Union, Press release, 3379th Council meeting, Foreign affairs, 16.03.2015, http: / / www.consilium.europa.eu / media / 23360 / outcome-ofthe-council-meeeting-fac-16-march-en.pdf (Stand: 28.02.2018), S. 14. 290 Council of the European Union, Press release, 3379th Council meeting, Foreign affairs, 16.03.2015, http: / / www.consilium.europa.eu / media / 23360 / outcome-ofthe-council-meeeting-fac-16-march-en.pdf (Stand: 28.02.2018), S. 14. 291 Council of Europe, Pending cases: current state of execution, Sejdic v. Bos nia and Herzegovina, https: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp?CaseTitleOrNumber=sejdic&StateCode=&SectionCode= (Stand: 10.02.2016); s. ausführlich zu der Überwachung des Urteils durch das Ministerkomitee Teil 3 § 2 D. 292 Klein, Gegenmaßnahmen, BDGV 37 (1998), 39 (44). 286 Committee
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
im Fall Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina einer Retorsionsmaßnahme bedient und im Fall Loizidou / Türkei zumindest damit gedroht. (2) Ilaşcu u. a. / Moldau und Russland Andererseits kann sich die EU auch unabhängig von Beitrittsbemühungen wie im Fall von Moldau und Russland in das Umsetzungsverfahren einschalten. In dem Urteil Ilașcu u. a. / Moldau und Russland hatte der Gerichtshof 2004 Russland und Moldau verpflichtet, die inhaftierten Beschwerdeführer unmittelbar zu entlassen.293 Da dies nicht geschah, ergingen zwischen 2005 und 2006 vier Interim-Resolutionen.294 Parallel dazu wurde in 58 der regulären Treffen des Ministerkomitees zwischen Dezember 2004 und April 2007 jeweils abwechselnd durch die damaligen Ratspräsidenten Niederlande, Luxemburg, Vereinigtes Königreich, Österreich, Finnland und Deutschland im Namen der EU mit Unterstützung von insgesamt fünfzehn Nicht-EU-Staaten vorrangig an Russland appelliert, die Beschwerdeführer aus der konventionswidrigen Haft zu entlassen;295 ferner haben die jeweiligen EU-Vertreter auf den Beschluss der vier Interim-Resolutionen hingewirkt,296 das Problem auch bei mehreren EU-Treffen mit Russ-
293 EGMR, Urteil vom 08.07.2004 – No. 48787 / 99, Ilașcu u. a. / Moldau und Russland, Tenor Ziff. 22. 294 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2005)42, 22.04.2005; Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2005)84, 13.07.2005; Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2006)11, 01.03.2006; Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2006)26, 10.05.2006. 295 Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Notes / 924 / H46-1, 14.04.05; Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Notes / 935 / H46-1, 11.07.2005; Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Inf / DH(2006)17 rev33, 29.06.2007; Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2006)52 revised, 07.05.2007; s. auch Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (502 f.). 296 Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Notes / 924 / H46-1, 14.04.05, Ziff. 60, Appendix V; Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Notes / 935 / H46-1, 11.07.2005, Ziff. 38; Committee of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Inf / DH(2006)17 rev33, 29.07.2007, Ziff. 108, 112, 176, 182; Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2006)52 revised, 07.05.2007, Ziff. 2.1.1.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK83
land angebracht297 und informelle Kontakte zwischen Moldau und Russland zur Lösung des Problems angeregt.298 Bemerkenswert ist, dass in einer der Interim-Resolutionen des Minister komitees299 ebenso wie im Fall Loizidou / Türkei ausdrücklich die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen wurden, die Maßnahmen zu ergreifen, die sie für geeignet erachteten, damit das Urteil umgesetzt werde;300 daraufhin haben auch einige Mitgliedstaaten außerhalb des Europaratsrahmens Russland bilateral zur Umsetzung aufgefordert.301 Es kam folglich zum intensiven Einsatz vieler Kräfte, der letztlich jedoch keine erkennbare Wirkung gezeigt hat, da die Betroffenen erst nach Ablauf der vorgesehenen Haftstrafe im Juni 2007 freigelassen wurden.302 Die Überwachung der Umsetzung wurde endgültig 2014 abgeschlossen.303 bb) Zwischenfazit Bezüglich der bisherigen Kooperation mit der EU sind vier Aspekte hervorzustellen: Erstens hat sich die EU bisher nur in Fälle eingeschaltet, denen bedeutende politische Konflikte zugrunde liegen und zudem seitens der betroffenen Staaten kein Wille erkennbar war, die jeweiligen Urteile umzusetzen. Es handelte sich also um Fälle, bei denen eine beharrliche Weigerung der Staaten vorlag. Zweitens kann die Zusammenarbeit mit der EU in den Fällen Loizidou / Türkei und Ilașcu u. a. / Moldau und Russland, in denen schließlich die Entschädigung gezahlt beziehungsweise die Betroffenen aus der Haft entlassen wurden, einerseits als erfolgreiche Kooperation zwischen Ministerkomitee und EU gesehen werden, anderseits aber als Zeugnis dafür, dass das Mi-
297 Committee
of Ministers, CM / Inf / DH(2006)52 revised, 07.05.2007, Ziff. 2.2. of Ministers, H 46-1 Case of Ilașcu and others against Moldovan and Russian Federation – Judgment of 08 / 07 / 2004 (Grand Chamber), CM / Inf / DH(2006)17 rev33, 29.07.2007, Ziff. 102. 299 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2006)26, 10.05.2006. 300 Siehe auch Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (502). 301 Es waren Irland, Großbritannien, Niederlande, Rumänien, Island, Schweiz und die Ukraine, Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2006)52 revised, 07.05.2007, Ziff. 2.2. 302 EHRAC, Execution of the Ilașcu judgment – further developments, EHRAC Bulletin, Summer 2008, Issue 3, http: / / www.ehrac.org.uk / wp-content / uploads / 2014 / 10 / EHRAC-Bulletin-9-ENG-ONLINE.pdf (Stand: 28.02.2018), S. 3; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2007)106, 12.07.2007. 303 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2014)37, 06.03.2014. 298 Committee
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
nisterkomitee es nicht allein schafft, die Staaten zur Umsetzung ihrer Urteile und so zur Bewahrung der Konventionsrechte zu bewegen.304 Drittens stellt die Einmischung der EU auch ein wirtschaftliches Druckmittel dar. Im Fall von Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina bedeutete der stagnierende Beitrittsprozess beispielsweise, dass Bosnien und Herzegowina nun auf Zahlungen aus dem Instrument für Heranführungshilfe verzichten mussten.305 Viertens ist zu beachten, dass in den drei genannten Fällen nur Staaten betroffen waren, die nicht Mitglieder der EU sind und die Kooperation so auch zu einer Konfrontation zwischen EU- und Nicht-EU-Staaten im Ministerkomitee führen kann. Insgesamt ist diese Zusammenarbeit aber zu begrüßen, denn sie kann das Repertoire an Druckmitteln des Ministerkomitees erweitern.306 Über die bisherige Praxis hinaus sind auch noch weitere Maßnahmen denkbar, wie diplomatische und wirtschaftliche Retorsionen. e) Fazit Festzuhalten ist, dass die Mitgliedstaaten über eine ganze Reihe von Möglichkeiten verfügen, Druck auf die Staaten auszuüben, die sich im Umsetzungsverzug befinden. Neben der aktiven Mitarbeit im Komitee, von der das Umsetzungsverfahren lebt und von der daher auch ernsthaft Gebrauch gemacht werden sollte, stehen den Mitgliedstaaten auch noch stärkere Druckmittel offen; diese Maßnahmen schöpfen die Staaten jedoch entweder überhaupt nicht (Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK, Staatenbeschwerde) oder nur in politisch aufgeladenen Einzelfällen (Zusammenarbeit mit der EU) aus. III. Pflicht, von dem Verletzerstaat Abstand zu nehmen Die Mitgliedstaaten könnten ebenso verpflichtet sein, von dem die Konvention verletzenden Staat Abstand zu nehmen.307 Diese Pflicht besteht, so 304 Marmo,
Maastricht J. Eur. & Comp. L. 2008, 235 (239 f.). Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Erweiterungsstartegie und wichtigste Herausforderungen 2013– 2014, 19.11.2013, COM(2013) 700 final / 2, S. 43, https: / / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents / 2013 / package / strategy_paper_2013_en.pdf (Stand: 28.02.2018). 306 So auch Committee of Ministers, CM / AS(2006)Rec1764, 31.01.2007, § 6. 307 Crawford fasst die beiden in Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel enthaltenen Pflichten unter dem Begriff „duty of abstention“ zusammen, Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 4. 305 Europäische
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK85
wie sie in Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel niedergelegt ist, aus der Pflicht, die rechtswidrige Situation nicht anzuerkennen (1.), und der Pflicht, auf Hilfe und Unterstützung bei der Beibehaltung der rechtswidrigen Situation zu verzichten (2.). 1. Pflicht, den rechtswidrigen Zustand nicht anzuerkennen
Gemäß Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel darf kein Staat einen Zustand als rechtmäßig anerkennen, der sich direkt aus einer schwerwiegenden Verletzung im Sinne von Art. 40 ILC-Artikel ergibt. Schwerwiegende Verletzungen im Sinne von Art. 40 ILC-Artikel sind schwere Verletzungen von zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts.308 Die Pflicht war Gegenstand von Resolutionen des Sicherheitsrats309 und der Generalversammlung der Vereinten Nationen,310 denen die Staatengemeinschaft auch größtenteils Folge leistete,311 sowie von Gutachten des IGH,312 weshalb die Pflicht zur Nichtanerkennung eines rechtswidrigen Zustands im Völkerrecht auch gewohnheitsrechtlich anerkannt ist.313 Die Pflicht ist zudem in der EMRK nicht geregelt, sodass einem Rekurs auf Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel grundsätzlich nichts entgegensteht. Allerdings kann sich diese Pflicht nur auf Zustände beziehen, die von einer Anerkennung durch andere Staaten abhängen, sodass eine Nichtanerkennung den Auswirkungen der Rechtsverletzung auch tatsächlich entgegentritt.314 Solche Zustände liegen in der Regel bei unrechtmäßigen Gebietskontrollen315 und der Weigerung eines Staates das Selbstbestimmungsrecht eines 308 Zu den genauen Voraussetzungen des Art. 40 ILC-Artikel siehe Teil 2 § 2 B. IV. 2. b) bb) (2). 309 Zum Beispiel SR-Res. 216 (1965), 217 (1965), 277 (1970) zu Südrhodesien; SR-Res. 283 (1970) zu Namibia; SR-Res. 402 (1976) zu Lesotho / Südafrika. 310 Zum Beispiel GV-Res. 2022(XX), 1965 zu Südrhodesien. 311 Siehe zum Beispiel SR-Res 277 (1970); Dawidowicz, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 677 (680 ff.) m. w. N. 312 IGH, Gutachten vom 21.06.1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1979), ICJ Reports 1971, 16 (55); IGH, Gutachten vom 09.07.2004, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, ILC Reports 2004, 136 (200). 313 Dawidowicz, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 677 (684). 314 Tomuschat, in: FS Suy, 253 (259), der sich aber auf einen Vorentwurf (Art. 19) bezieht. 315 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 6 f. m. w. N.; Tomuschat, in: FS Suy, 253 (259).
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Volkes anzuerkennen316 vor. In diesen Fällen kann die Verweigerung der Anerkennung eine tatsächliche Wirkung für den rechtlichen Status haben. Art. 40 ILC-Artikel bezieht sich zwar auf Zustände infolge aller zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts, jedoch kann die Nichtanerkennung eines Zustands nur einen rechtlichen Mehrwert bieten, wenn der Zustand letztlich territoriale Auswirkungen hat.317 Es bleibt unklar, wie bei einem durch Genozid oder Folter hervorgerufenen Zustand ohne Gebietsveränderung die Nichtanerkennung eine sinnvolle Antwort auf eine schwere Verletzung einer jus-cogens-Norm darstellen kann.318 In diesen Fällen könnte vielmehr die Pflicht, auf Hilfe und Unterstützung bei der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands zu verzichten (Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel) eingreifen.319 Die Verletzungen der EMRK können sich zwar innerhalb einer der oben genannten Situationen abspielen, wie die Urteile bezüglich des NordzypernKonflikts bezeugen, es sind jedoch keine Fälle, die einer Anerkennung bedürfen. Der EGMR entscheidet nicht über territoriale Konflikte, sondern über Menschenrechtsverletzungen, die aus diesen Konflikten folgen. Daher existiert diese Pflicht zwar, sie kann aber nicht eine effektivere Umsetzung der EGMR-Urteile bewirken und ist daher in diesem Bereich nicht von Relevanz. 2. Pflicht, den Staat bei der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands nicht zu unterstützen
Art. 41 Abs. 2 ILC-Artikel normiert die Pflicht, auf Hilfe und Unterstützung bei der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands zu verzichten, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Art. 40 ILC-Artikel geschaffen wurde. Es muss also auch hier zunächst die hohe Schwelle der von Art. 40 Abs. 1 ILC-Artikel geforderten besonders schweren Verletzung einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts erreicht sein.320 Diese 316 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 8 m. w. N.; Tomuschat, in: FS Suy, 253 (259). 317 Dawidowicz, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 677 (683); Zimmermann / Teichmann, in: Nollkaemper / van der Wilt (Hrsg.), System Criminality in International Law, 2009, S. 298 (308). 318 Dawidowicz, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 677 (683); Zimmermann / Teichmann, in: Nollkaemper / van der Wilt (Hrsg.), System Criminality in International Law, 2009, S. 298 (308); Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 332. 319 Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 335; Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 12. 320 Zu den genauen Voraussetzungen des Art. 40 ILC-Artikel siehe Teil 2 § 2 B. IV. 2. b) bb) (2).
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Pflicht war bereits Teil von Resolutionen des Sicherheitsrats321 und ihre Existenz wurde auch im Mauer-Gutachten des IGH bestätigt.322 Grundsätzlich steht der Anwendbarkeit dieser Pflicht im EMRK-System nichts entgegen, denn die EMRK sieht keine eigene speziellere Regelung vor. Die Pflicht, einen anderen Staat nicht dabei zu unterstützen, einen konventionswidrigen Zustand aufrechtzuerhalten, geht mit dem Prinzip der kollektiven Garantie der Konventionsrechte einher. Auch wenn die Pflicht davon nicht erfasst wird, so steht sie doch im Einklang mit dem Gedanken, dass gemeinsam darauf hingewirkt wird, dass eine Rechtsverletzung beendet und wieder gutgemacht wird und nicht erneut vorkommt. Daher ist eine Anwendung von Art. 41 Abs. 2 2. Fall ILC-Artikel möglich. Im Übrigen macht es nur dann Sinn, den Verzicht auf Hilfe und Unterstützung bei der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands zu verlangen, wenn sonst konkrete Unterstützungsmaßnahmen erfolgen würden, die eine direkte Auswirkung auf die Aufrechterhaltung des Zustands hätten.323 Dabei muss die Rechtsverletzung nicht zwingend andauern.324 Beispiele für eine solche Unterstützung sind die Lieferung von Waffen325 oder die Weitergabe von Informationen. Es muss eine tatsächliche und kausale Verbindung zwischen der Unterstützung und der Rechtsverletzung bestehen;326 dagegen steht es den Drittstaaten frei, den betroffenen Staat in anderen Bereichen zu unterstützen, die von der Rechtsverletzung nicht betroffen sind.327 Eine Anwendung dieser Pflicht im Rahmen der Umsetzung von EGMRUrteilen ist jedoch nur in Einzelfällen denkbar, wie beispielsweise, wenn ein Staat trotz eines Urteils Personen weiter foltert und dabei von einem anderen Staat unterstützt wird oder wenn Waffenlieferungen es einem Mitgliedstaat ermöglichen nach Verurteilung durch den EGMR damit weiter Konventions321 Zum Beispiel SR-Res. 218 (165) zu Portugals Kolonien; SR-Res. 418 (1977), 569 (1985) zu Südafrika; Jørgensen, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility (2010), S. 687 (690 f.). 322 IGH, Gutachten vom 09.07.2004, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, ICJ Reports 2004, 136 (200). 323 Jørgensen, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 687 (691); Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 337; Tomuschat, in: FS Suy, 253 (259). 324 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 41 Rdnr. 11. 325 SR-Res. 218 (1965). 326 Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 336; zurückgehend auf Riphagen, Third report on the content, forms and degrees of international responsibility, A / CN.4 / 354 and Add. 1 & 2, S. 49. 327 Jørgensen, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 687 (691).
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rechte zu verletzen. In solchen Fällen sind die Drittstaaten dazu verpflichtet, dem verantwortlichen Staat nicht zu helfen oder ihn dabei zu unterstützen, die Situation aufrechtzuerhalten, sofern die Rechtsverletzung die Schwelle von Art. 40 ILC-Artikel erreicht. IV. Gegenmaßnahmen als ultima ratio? Eine weitere Möglichkeit, um einen anderen Mitgliedstaat zur Umsetzung eines Urteils zu bewegen, könnten Gegenmaßnahmen sein. Nach der Frage, ob Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten im Kontext der EMRK überhaupt anwendbar sind (1.), wird auf Art. 54 ILC-Artikel als Rechtsgrundlage eingegangen (2.) und es werden mögliche Gegenmaßnahmen dargestellt (3.). 1. Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen zur Umsetzung der Urteile des EGMR
Streit besteht darüber, ob Gegenmaßnahmen überhaupt zur Durchsetzung von Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und speziell zur Umsetzung der Urteile des EGMR zulässig sind. Die EMRK sieht als Konsequenz für die gescheiterte Umsetzung von Urteilen keine Gegenmaßnahmen vor, sondern vertraut auf die Überwachung durch das Ministerkomitee. Innerhalb der EMRK gibt es somit ein eigenes Kontrollsystem. Die Frage, ob dennoch zur Durchsetzung der Urteile des EGMR auf Gegenmaßnahmen zurückgegriffen werden „kann“, ist in erster Linie eine Frage nach dem „sollte“: Gegenmaßnahmen sind nicht automatisch sinnvoll.328 In der Literatur bestehen Befürchtungen, dass Gegenmaßnahmen im Kontext der Verträge zum Schutz der Menschenrechte mehr Schaden anrichten können als sie tatsächlich der Umsetzung von Urteilen nutzen würden. Fraglich ist an dieser Stelle daher, ob die Natur der Konvention der Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen entgegensteht, kurz gesagt, ob Gegenmaßnahmen der Durchsetzung der Konventionsrechte einen Mehrwert bieten. Dafür werden Argumente für [a)] und gegen die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen [b)] dargestellt. a) Argumente gegen die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen Die Stimmen in der Literatur, die Gegenmaßnahmen in diesem Kontext ablehnen, verweisen auf die mangelnde Reziprozität der in den Menschen328 Dazu Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (148 f.); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (507).
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rechtsschutzverträgen enthaltenen Pflichten [aa)] und das wirtschaftliche und politische Ungleichgewicht der Mitgliedstaaten [bb)]. aa) Fehlende Reziprozität der Verpflichtungen Verträge zum Schutz der Menschenrechte sind keine klassischen völkerrechtlichen Verträge, die bilaterale Rechte und Pflichten vorsehen und bei denen sich bei Rechtsverletzungen Verletzter- und Opferstaat klar identifizierbar gegenüber stehen. Stattdessen vereinbaren Staaten Rechte, die sie Einzelpersonen zugestehen. Verletzt ein Staat eines dieser Rechte, ist zunächst einmal die betroffene Person verletzt. Bei der EMRK sind das im Individualbeschwerdeverfahren der Beschwerdeführer oder die Beschwerdeführerin, die vor dem EGMR ihre Beschwerde einlegen. Im Staatenbeschwerdeverfahren wiederum stehen sich zwar zwei Staaten gegenüber, jedoch ist nicht zwingend der beschwerdeführende Staat B verletzt, wenn Staat A wegen einer Konventionsverletzung verurteilt wird. Denn die Konventionsverletzung betrifft weiterhin in erster Linie die Personen, die der Hoheitsgewalt des verletzenden Staats – hier Staat A – unterliegen. Jeder Mitgliedstaat der EMRK kann im Rahmen der Staatenbeschwerde Konventionsverletzungen eines anderen Staats rügen. Auch in diesem Fall ergibt sich also keine klassische bilaterale Durchsetzungssituation. Einige Autorinnen und Autoren sind deshalb der Meinung, dass die Normen in Verträgen zum Schutz der Menschenrechte keine gegenseitigen Verpflichtungen enthalten und zwischenstaatliche Durchsetzungsmaßnahmen wie Gegenmaßnahmen nicht anwendbar seien.329 Sie beziehen sich dabei zum einen auf den Bericht der Kommission in Österreich / Italien („Pfunders“)330 und zum anderen auf das Urteil Irland / Vereinigtes Königreich.331 Im Berichts des Falls Österreich / Italien („Pfunders“) spricht die Kommission nämlich davon, dass die Pflichten der EMRK eher objektiver als reziproker Natur seien.332 In Irland / Vereinigtes Königreich stellt der Ge329 So wohl auch Frowein, in: FS Mosler, S. 241 (256); Cremer, in: EMRK / GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 32 Rdnr. 74, der sich in Fn. 150 auf Irland / Vereinigtes Königreich bezieht; Katselli Proukaki, The problem of enforcement in international law, 2010, S. 225; ausführlich zu dem Streit zwischen der Theorie der objektiven Vertragspflichten und der Gegenseitigkeitstheorie, Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 64 ff.; Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, S. 161 ff. 330 EKMR, Bericht vom 11.01.1961 – No. 788 / 60, Österreich / Italien („Pfunders“). 331 EGMR, Urteil vom 18.01.1978 – No. 5310 / 71, Irland / Vereinigtes Königreich. 332 EKMR, Bericht vom 11.01.1961 – No. 788 / 60, Österreich / Italien („Pfunders“), S. 19.
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richtshof dann aber klar, dass die Konvention zwar objektive Verpflichtungen enthalte, verweist aber ausdrücklich auf die reziproken und bilateralen Verpflichtungen aus der Konvention, wenn er feststellt: […] the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between contracting States. It creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations […].“333 Daraus folgt, dass der EMRK gegenseitige Verpflichtungen zugrunde liegen und es daher grundsätzlich keinen Grund dafür gibt, dass Staaten sich nicht auch – die Erschöpfung der von der EMRK vorhergesehenen Durchsetzungsmöglichkeiten vorausgesetzt – auf die zwischenstaatlichen Durchsetzungsmaßnahmen berufen können sollten.334 Festzuhalten ist, dass die EMRK zwar ein Vertrag zum Schutz der Menschenrechte ist und Rechte zugunsten von Individuen enthält, es sich aber dennoch um einen regulären multilateralen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der wechselseitige Verpflichtungen zwischen Staaten vorsieht. Gegenmaßnahmen sind daher durch die Natur des Vertrags nicht ausgeschlossen. bb) Wirtschaftliches und politisches Ungleichgewicht der Staaten Einen weiteren Einwand stellt das wirtschaftliche und politische Ungleichgewicht der Staaten untereinander dar. Gegenmaßnahmen könnten ausschließlich politischen Zwang zu Lasten der weniger entwickelten Länder ausüben, andersherum hätten die weniger entwickelten Länder aber keine Druckmöglichkeit gegenüber den weiter entwickelten Ländern.335 Einzelne Staaten könnten so ohne Rücksicht auf andere ihre Interessen durchsetzen. Auf globaler Ebene spricht dem aber entgegen, dass auch wirtschaftlich weniger entwickelte Staaten selbst zu Gegenmaßnahmen greifen336 und nicht gegen Gegenmaßnahmen von weiter entwickelten Staaten protestieren.337 In Bezug auf die EMRK ist überdies zu beachten, dass zwischen den Mitglied333 EGMR,
§ 239.
Urteil vom 18.01.1978 – No. 5310 / 71, Irland / Vereinigtes Königreich,
334 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility (2010), S. 139 (160 f.); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (527); Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 70. 335 Z. B. Crawford, Third report on State responsibility, Doc. A / CN.4 / 507 / Add.4, § 396; Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (161); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (527 f.). 336 Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 236; Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1147 f.); Dawidowicz, BYIL 2006, 333 (410 f.). 337 Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 236 f.; Dawidowicz, BYIL 2006, 333 (411).
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK91
staaten der EMRK ein geringeres wirtschaftliches und politisches Ungleichgewicht herrscht als in der gesamten internationalen Gemeinschaft. Außerdem nutzen die Mitgliedstaaten nicht einmal das Staatenbeschwerdeverfahren, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass Drittstaaten zügellos Gegenmaßnahmen ergreifen, die mit erheblich höheren politischen und juristischen Hürden einhergehen, gering ist.338 Zudem handelt es sich um Kritik, anhand der die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen in jeder Situation und nicht nur im Zusammenhang mit Verletzungen von Verträgen zum Schutz der Menschenrechte in Frage gestellt wird.339 Der Möglichkeit von Gegenmaßnahmen stehen diese Bedenken jedoch nicht per se entgegen, sondern sie unterstützen vielmehr die Bedenken, dass Gegenmaßnahmen nur in Ausnahmesituationen angewendet werden sollten. b) Argumente für die Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen Für die Anwendbarkeit von Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten im Rahmen der EMRK spricht dagegen das teleologische Argument der wirksamen Durchsetzung der Konventionsrechte: Zum einen würde eine kategorische Ablehnung von Gegenmaßnahmen bedeuten, dass bei einem Scheitern des Umsetzungsmechanismus die Nichtdurchsetzung der verletzten Konventionsrechte akzeptiert würde; das Ergebnis widerspricht dem Schutzzweck der Konvention.340 Außerdem würden Verträge zum Schutz der Menschenrechte so einen schwächeren Schutz bieten als übrige völkerrechtliche Verträge, bei denen grundsätzlich Gegenmaßnahmen möglich sind.341 Dieser Schluss kann nicht in der Intention der Mitgliedstaaten liegen, haben sie sich doch einem besonderen System zum Schutz der Menschenrechte unterworfen.342 Zum anderen bezwecken Gegenmaßnahmen nicht die Sanktionierung, sondern die Durchsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen des anderen Staats.343 Dabei kann bereits die Drohung mit Gegenmaßnahmen einen posi338 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility (2010), S. 139 (162); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (528 f.); Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 370; Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 230. 339 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Part III, Chapter II, Rdnr. 2. 340 Klein, „Self-Contained Regime“, in: Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Rdnr. 14. 341 Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (400); Karl, Besonderheiten der internationalen Kontrollverfahren zum Schutz der Menschenrechte, BDGV 33 (1994), 83 (89). 342 Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (507). 343 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 49 Rdnr. 1; Crawford, State responsibility, 2013, S. 677; Delbrück / Wolf-
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
tiven Einfluss auf die säumigen Mitgliedstaaten haben, da sie allein schon dazu motivieren kann, ein Urteil schließlich doch umzusetzen.344 Allein die theoretische Möglichkeit, auf Gegenmaßnahmen zurückzugreifen, kann präventiv eine Urteilsumsetzung bewirken.345 Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Retorsionen im Gegensatz zu Gegenmaßnahmen unbegrenzt durchführbar sind und dabei durchaus einen sanktionierenden Charakter haben können.346 Insofern ist es widersprüchlich, dass Gegenmaßnahmen, deren Durchführung völkerrechtlich im Gegensatz zu Retorsionen an hohe Hindernisse gebunden ist und die keine Sanktion bezwecken, von Vornherein bei Verträgen zum Schutz der Menschenrechte nicht anwendbar sein sollen. c) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Argumente, dass Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung der Urteile des EGMR grundsätzlich ausgeschlossen seien, widerlegt werden können. Folglich sind Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung grundsätzlich möglich,347 wenn auch in der Literatur davon ausgegangen wird, dass die Notwendigkeit eines solchen Rückgriffs auf Gegenmaßnahmen in der Praxis der EMRK nur in Ausnahmefällen wahrscheinlich sei.348
rum, Die Formen des völkerrechtlichen Handelns. Die inhaltliche Ordnung der internationalen Gemeinschaft, 2. Aufl. 2002, S. 985. 344 Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (509). 345 Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (509). 346 Crawford, State responsibility, 2013, S. 677; Giegerich, „Retorsion“, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Rdnr. 8. 347 So auch Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (162); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (528); Klein, Gegenmaßnahmen, BDGV 37 (1998), 39 (49 f.); Frowein, RdC 1994-IV (vol. 248), 345 (400); Karl, Besonderheiten der internationalen Kon trollverfahren zum Schutz der Menschenrechte, BDGV 33 (1994), 83 (89 f.); Stein, ZaöRV 1987, 95 (106 f.); Simma, NYIL 1985, 111 (133); siehe auch Katselli Proukaki, The problem of enforcement in international law, 2010, S. 227; Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 299; Frowein, ZaöRV 1987, 67 (76 f.); Zemanek, ZaÖRV 1987, 32 (40 f.); a. A. Hillgruber, in: Tomuschat / Thouvenin (Hrsg.), The Fundamental Rules of the International Legal Order, 2006, S. 265 (275). 348 Klein, Gegenmaßnahmen, BDGV 37 (1998), 39 (49); so auch Simma, NYIL 1985, 111 (133); Geck, in: FS Carstens, Band 1, S. 339 (359 f.).
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK93 2. Rechtsgrundlage für Gegenmaßnahmen
Als Rechtsgrundlage kommt Art. 54 ILC-Artikel als möglicher Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht in Betracht. Zunächst ist zu klären, ob Art. 54 ILC-Artikel Drittstaaten überhaupt zu Gegenmaßnahmen berechtigt [a)]. Im Anschluss wird auf die Voraussetzungen von Gegenmaßnahmen eingegangen [b)]. a) Inhalt von Art. 54 ILC-Artikel und Gewohnheitsrecht Fraglich ist, ob Art. 54 ILC-Entwurf als Rechtsgrundlage für Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten herangezogen werden kann. Einerseits sprechen der Begriff „measures“ statt „countermeasures“ im Titel und der Bezug auf „lawful measures“ im Artikeltext gegen eine Ermächtigung zu Gegenmaßnahmen von nicht verletzten Staaten, denn Gegenmaßnahmen seien gerade keine rechtmäßigen Maßnahmen, folglich könne Art. 54 ILC-Artikel nur Retorsionen meinen.349 Andererseits wird argumentiert, dass zum einen Retorsionen ausdrücklich nicht von den ILC-Artikeln erfasst werden350 und zum anderen Gegenmaßnahmen nicht rechtswidrig seien, sofern sie gemäß den Vorschriften der ILC-Artikel ergehen (Art. 22 ILC-Artikel).351 Darüber hinaus ist Art. 54 ILC-Artikel Teil des mit „countermeasures“ betitelten Kapitels; insofern könne der Artikel nur auf die Anwendung von Gegenmaßnahmen zielen, ansonsten würde ein systematischer Widerspruch bestehen.352 Jedoch widerspricht diese Interpretation wiederum der Entstehungsgeschichte von Art. 54 ILC-Artikel: Demnach sollten kollektive Gegenmaßnahmen nicht kategorisch ausgeschlossen werden, die spärliche Staatenpraxis hätte aber auch nicht für eine Kodifizierung ausgereicht.353 Art. 54 ILC-Artikel sei deshalb ausdrücklich darauf ausgelegt, alle Optionen offen zu lassen.354 Damit verbiete Art. 54 ILC-Artikel Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten nicht, sondern ermuntere die Drittstaaten lediglich, die Durchsetzung 349 Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1145). 350 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Part III, Chaper II, Rdnr. 3; Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1145). 351 Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1145). 352 Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1145). 353 Crawford, State responsibility, 2013, S. 705; Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 6. 354 Crawford, State responsibility, 2013, S. 706.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
von Menschenrechtsverletzungen eher durch „lawful measures“, sprich Retorsionen, zu erreichen.355 Damit stellt Art. 54 ILC-Artikel eine „savings clause“ dar, die keine direkte Aussage trifft und gleichzeitig den Weg für eine zukünftige Staatenpraxis offen lässt.356 Letzterer Ansicht ist zu folgen. Damit bildet Art. 54 ILC-Entwurf keine geeignete Rechtsgrundlage für die Durchführung von Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten. Der Artikel verbietet solche Maßnahmen aber auch nicht, sondern stellt es den Staaten frei, eine entsprechende Praxis zu entwickeln. Dementsprechend ist zu hinterfragen, ob es inzwischen völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, dass Drittstaaten Gegenmaßnahmen anwenden, um so die Rechtsgrundlage aus dem Gewohnheitsrecht heranziehen zu können. Die ILC selbst hielt die entsprechende Staatenpraxis für „limited and rather embryonic“357, sodass im derzeitigen Stand des Völkerrechts Gegenmaßnahmen von Drittstaaten nicht anerkannt seien und diese Durchsetzungsmöglichkeit daher auch durch die ILC nicht kodifiziert werden konnte.358 Gleichzeitig werden aber sechs Beispiele aufgezählt, in denen Drittstaaten Gegenmaßnahmen ergriffen haben,359 darunter vier Fälle zur Durchsetzung von Menschenrechten.360 Darüber hinaus wurden in anderen Untersuchungen noch weitere Beispiele von Drittgegenmaßnahmen herausgearbeitet, mit weiteren Reaktionen auf Menschenrechtsverletzungen.361 Das legt nahe, dass die Praxis doch nicht so unausgereift ist, wie die ILC behauptet,362 und die 355 Simma,
in: FS Eitel, S. 423 (446 f.). in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (161 f.); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (528); siehe auch Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 6. 357 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 3. 358 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 6. 359 USA / Uganda (1978), Westliche Staaten / Polen und Sowjetunion (1981), kollektive Maßnahmen gegen Argentinien (1982), USA / Südafrika (1986), kollektive Maßnahmen gegen den Irak (1990), kollektive Maßnahmen gegen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1998), Crawford, The International Law Com mission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 3. 360 USA / Uganda (1978), Westliche Staaten / Polen und Sowjetunion (1981), USA / Südafrika (1986), kollektive Maßnahmen gegen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 3; Simma, in: FS Neuhold, S. 359 (377). 361 Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 207 ff.; Dawidowicz, BYIL 2006, 333 (350 ff.); s. auch Simma, in: FS Neuhold, S. 359 (378 f.). 362 Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1147); Tams, Enforcing obligations erga omnes 356 Simma / Pulkowski,
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Grundlage ausgereicht hätte, um Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten zu kodifizieren363 und jedenfalls heute eine gewohnheitsrechtliche Grundlage für nicht direkt verletzte Drittstaaten besteht, um Gegenmaßnahmen durchzuführen.364 b) Voraussetzungen von Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung der Urteile des EGMR Es gibt zwei Voraussetzungen, die im Einzelfall zur Durchführung von Gegenmaßnahmen im Kontext der EMRK kumulativ vorliegen müssen: Zum einen muss die Notwendigkeit eines Rekurses auf Gegenmaßnahmen gerechtfertigt [aa)], zum anderen müssen die Voraussetzungen von Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten gegeben sein [bb)]. aa) Rekurs auf Gegenmaßnahmen Die EMRK betraut das Ministerkomitee in Art. 46 Abs. 2 EMRK mit der Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR. Es wurde also eine Spezialregelung geschaffen, um die Umsetzung der Urteile sicherzustellen. Damit sind Abweichungen von diesem Mechanismus zunächst einmal ausgeschlossen. Denn die Mitgliedstaaten haben sich dem Durchsetzungsregime der EMRK gerade aus dem Grund unterworfen, dass dessen Regeln vorrangig anwendbar sind. Ein Rekurs auf die allgemeinen völkerrechtlichen Durchsetzungsmechanismen in Form von Gegenmaßnahmen wird aber dann möglich, wenn die Überwachung im Sinne des Art. 46 Abs. 2 EMRK keinen wirksamen Schutz gewährleisten kann.365 Simma und Pulkowski nennen als Grundlage eines solchen Rekurses ausdrücklich den Fall einer fortbestehenden Pflichtverletin international law, 2005, S. 231; Simma, in: FS Neuhold, S. 359 (379); O’Connell, The power and purpose of international law, 2008, S. 247; Dawidowicz, BYIL 2006, 333 (417). 363 Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of Interna tional Responsibility, 2010, S. 1137 (1148); Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 249. 364 Aust, Complicity and the Law of State Responsibility, 2011, S. 369. 365 In dem Sinne auch angedeutet in IGH, Urteil vom 27.06.1986, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua / USA), ICJ Reports 1986, 14 (124); Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (149); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (508 f.); Klein, „Self-Contained Regime“, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, S. 97 (101 f.).
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zung trotz eines Gerichtsurteils und die fehlende Wiedergutmachung trotz eines entsprechenden Urteils.366 Ein Rekurs auf Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung eines Urteils ist daher unter folgenden Voraussetzungen möglich: Erstens muss der EGMR einen Mitgliedstaat wegen der Verletzung der Konventionsrechte verurteilt haben.367 Zweitens muss aus Sicht des Ministerkomitees feststehen, dass der betroffene Staat das Urteil nicht umgesetzt, also Art. 46 Abs. 1 nicht erfüllt hat. Drittens muss die kollektive Kontrolle des Ministerkomitees gescheitert sein; das heißt, dass die Kontrolle des Ministerkomitees mit all den ihm zur Verfügung stehenden geeigneten Maßnahmen es nicht geschafft hat, den Staat zur Umsetzung des Urteils zu bewegen und ein Einlenken des Staats aussichtslos erscheint.368 bb) Voraussetzungen der Rechtsgrundlage Fraglich ist, welche Voraussetzungen zur Anwendung von Gegenmaßnahmen erfüllt sein müssen. (1) Erga-omnes-Verpflichtung aus Art. 48 ILC-Artikel Zunächst muss der Verletzerstaat eine erga-omnes-Verpflichtung im Sinne von Art. 48 ILC-Artikel missachtet haben. Die Umsetzungsverpflichtung aus Art. 46 Abs. 2 EMRK ist eine Pflicht im Sinne von Art. 48 Abs. 1 lit. a ILCArtikel. Denn die Umsetzungspflicht ist den anderen Mitgliedsstaaten der EMRK als Vertragspartnern geschuldet und dient der Gewährleistung der Konventionsrechte und damit dem Schutz des kollektiven Interesses der Gruppe.
366 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (149); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (509); so auch ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law (finalized by Martti Koskenniemi), A / CN.4 / L.682, 13.04.2006, § 189. 367 Stein, ZaöRV 1987, 95 (106 f.). 368 Simma / Pulkowski, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 139 (162); Simma / Pulkowski, EJIL 2006, 483 (528); Klein, Gegenmaßnahmen, BDGV 37 (1998), 39 (49 f.); Stein, ZaöRV 1987, 95 (106); Cassese, International law, 2. Aufl. 2005, S. 276.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK97
(2) Vorliegen einer besonders schweren Rechtsverletzung? Die Staatenpraxis bestätigt, dass sich die gewohnheitsrechtlich begründete Befugnis eines Drittstaates, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, nur auf schwere Verletzungen von zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts bezieht.369 Diese Ansicht wird ebenso auch von der Literatur vertreten370 und ist auch deshalb sinnvoll, weil die Durchsetzungsmaßnahmen in Art. 41 ILCEntwurf für das Eingreifen von Drittstaaten ebenfalls besonders schwere Rechtsverletzungen verlangen; diese Voraussetzung muss dann erst Recht bei den schwerer wirkenden Gegenmaßnahmen gelten. Daraus folgt, dass zur Anwendung von Drittgegenmaßnahmen eine Rechtsverletzung im Sinne des Art. 40 ILC-Entwurf, nämlich eine schwere Verletzung einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts (jus cogens), vorliegen muss. Zur Definition einer zwingenden Norm verweist die Kommentierung von Art. 40 ILC-Entwurf auf Art. 53 WVK.371 Demnach liegt eine solche Norm vor, wenn sie von der internationalen Staatengemeinschaft als in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann. Als Beispiele werden das Aggressionsverbot,372 das Verbot von Sklaverei, Sklavenhandel, Völkermord, Rassendiskriminierung und Apartheid,373 sowie das Folterverbot374 und das Gebot, das Recht auf Selbstbestimmung zu respek tieren,375 genannt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.376 Damit 369 Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 125; Tams, Enforcing obligations erga omnes in international law, 2005, S. 230, 233; Sicilianos, in: Crawford / Pellet / Olleson / Parlett (Hrsg.), The Law of International Responsibility, 2010, S. 1137 (1139). 370 Stein, ZaöRV 1987, 95 (106 f.); Frowein, ZaöRV 1987, 67 (77); Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (400); Simma, NYIL 1985, 111 (134); a. A. Hillgruber, in: Tomuschat / Thouvenin (Hrsg.), The Fundamental Rules of the International Legal Order: Jus Cogens and Obligations Erga Omnes, 2006, S. 265 (277 f.). 371 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 2. 372 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 4. 373 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 4. 374 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 5. 375 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 5. 376 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 6.
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Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
korrespondierend enthält die EMRK das Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK), das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) und allgemein das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK). Urteile, die Verletzungen dieser Rechte feststellen, können folglich Grundlage für eine Durchsetzung durch Gegenmaßnahmen sein. Eine Verletzung ist wiederum schwer, wenn der betroffene Staat bei der Erfüllung der Pflicht grob oder systematisch scheitert („if it involves a gross or systematic failure by the responsible State to fulfill the obligation.“) (Art. 40 Abs. 2 ILC-Entwurf). Die Verletzung ist als systematisch einzustufen, wenn sie auf organisierte und durchdachte Weise durchgeführt wird.377 Zeugt die Verletzung oder ihre Wirkung von Intensität, ist von einer groben Verletzung auszugehen.378 Für eine schwere Verletzung sprechen die Absicht, die Norm zu verletzen, der Umfang und die Anzahl individueller Verletzungen, sowie die Schwere der Folgen der Verletzung für die Opfer.379 Im EMRK-Kontext deutet eine hohe Anzahl von Fällen bezüglich derselben Rechtsverletzung und bezüglich demselben rechtlichen Kontext auf ein systematisches Scheitern eines Staates hin. So kann beispielsweise ein Pilotverfahren als Indiz für systematische Rechtsverletzungen herangezogen werden. (3) Übrige Voraussetzungen Jedenfalls müssen bei Gegenmaßnahmen durch Drittstaaten mindestens dieselben Voraussetzungen gelten, wie bei Gegenmaßnahmen durch verletzte Staaten:380 Der rechtsbrüchige Staat muss aufgefordert werden, seine Pflichten zu erfüllen (Art. 52 Abs. 1 lit. a ILC-Artikel), also beispielsweise ein Urteil umzusetzen. Zudem muss der betroffene Staat über die geplanten Gegenmaßnahmen informiert und es müssen ihm Verhandlungen angeboten werden (Art. 52 Abs. 1 lit. b ILC-Artikel). Weiterhin müssen die Gegenmaßnahmen verhältnismäßig sein (Art. 51 ILC-Artikel) und beendet werden, sobald der Staat die Rechtsverletzung einstellt (Art. 53 ILC-Artikel).
377 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 8. 378 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 8. 379 Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 40 Rdnr. 8. 380 Cassese, International law, 2. Aufl. 2005, S. 274 f.
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Im Übrigen sieht Art. 52 Abs. 3 lit. b zwar vor, dass Gegenmaßnahmen ausgeschlossen sind, wenn der Fall noch vor einem Gericht oder Tribunal anhängig ist, das bindende Entscheidungen treffen kann. Diese Vorschrift betrifft jedoch nicht die vor dem Ministerkomitee anhängigen Verfahren. Denn das Ministerkomitee kann nicht mit einem Gericht vergleichbare rechtsverbindliche Entscheiungen treffen. Die Ausschlussregelung in Abs. 3 ist im übrigen auch dann nicht einschlägig, wenn der verantwortliche Staat ein Urteil nicht in gutem Glauben umsetzt (Art. 52 Abs. 4 ILC-Artikel). c) Zwischenergebnis Gegenmaßnahmen durch die Drittstaaten der EMRK sind im Einzelfall möglich, sofern die Umsetzungsüberwachung durch das Ministerkomitee gescheitert ist und die Voraussetzungen von Gegenmaßnahmen vorliegen, insbesondere muss es sich bei der durch den EGMR festgestellten Konven tionsverletzung um eine schwere Verletzung einer zwingenden Norm es allgemeinen Völkerrechts handeln. 3. Mögliche Gegenmaßnahmen
Gegenmaßnahmen sind Maßnahmen, die im Gegensatz zur Retorsion an sich rechtswidrig, unter Erfüllung ihrer Voraussetzungen aber zulässig sind.381 Ergriffen werden können also rechtsbrüchige Maßnahmen. Ausdrücklich ausgeschlossen sind militärische Maßnahmen.382 Das legt zum einen Art. 50 Abs. 1 lit. a ILC-Artikel fest und zum anderen widerspräche die Anwendung militärischer Mittel Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta. Denkbar sind insbesondere wirtschaftliche Gegenmaßnahmen, gegen Nicht-EU-Mitglieder auch durch die EU.383 Zu wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen gehören zum
381 Giegerich, „Retorsion“, in: Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Rdnr. 1 f. 382 Azar, L’exécution des décisions de la Cour Internationale de Justice, 2003, Rdnr. 452; Weschke, Internationale Instrumente zur Durchsetzung der Menschenrechte, 2001, S. 91 m. w. N.; a. A. Denecke, Die humanitäre Intervention und ihr Verhältnis zum Rechtschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1972, S. 151 ff. 383 Zu EU-Sanktionen siehe Crawford, State responsibility, 2013, S. 710, Fn. 222; Delbrück / Wolfrum, Die Formen des völkerrechtlichen Handelns. Die inhaltliche Ordnung der internationalen Gemeinschaft, 2. Aufl. 2002, S. 986; Cassese, International law, 2. Aufl. 2005, S. 263 f.; Schneider, Wirtschaftssanktionen, 1999, S. 122 ff.; Neumann, Internationale Handelsembargos und privatrechtliche Verträge, 2000.
100 Teil 2: Handlungsrahmen bei Überwachung der Umsetzung der Urteile
Beispiel Handelsembargos,384 Einfrieren von Konten,385 Beschlagnahmung ausländischen Staatsvermögens386 und die Ablehnung oder die Einstellung finanzieller Hilfe.387 4. Fazit
Auch wenn eine rechtliche Grundlage für die Durchführung von Gegenmaßnahmen durch die Drittstaaten im Ministerkomitee zur Durchsetzung der Urteile des EGMR besteht, gehen damit jedoch eine Reihe von praktischen Problemen einher: Erstens muss eine hohe Schwelle überwunden werden, da Gegenmaßnahmen nur bei schwerwiegenden Verletzungen von zwingenden Normen des Völkerrechts im Sinne von Art. 40 ILC-Artikel anwendbar sind. Eine solche Verletzung wird nur in Ausnahmefällen überhaupt vorliegen. Zweitens ist es schwer festzulegen, wann die Kontrolle des Ministerkomitees gescheitert ist. In der Regel geben Staaten weiterhin vor, ein Urteil umsetzen zu wollen, auch wenn sie es nicht vorhaben oder signifikant andere Vorstellungen von einer umfassenden Umsetzung haben. Drittens muss auch ein politischer Wille bestehen, Gegenmaßnahmen durchzuführen. Die spärlichen Staatenbeschwerden sowie die fehlende Initiative für infringement proceedings bezeugen jedoch, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung der Konventionsrechte kein Interesse an Zwangsmaßnahmen haben. Daher sollte die Praxisrelevanz von Gegenmaßnahmen nicht überschätzt werden. Viertens ist fraglich, welchen Nutzen Gegenmaßnahmen erbringen können. In Fällen, in denen der betroffene Staat ein Urteil nach eigener Ansicht nicht umsetzen kann, wird auch die Gegenmaßnahme nichts ausrichten, sondern enge diplomatische Zusammenarbeit und Geduld. Gleiches gilt in Fällen, in denen eine Regierung ein Urteil auf keinen Fall umsetzen will. In dem Fall könnten Gegenmaßnahmen sogar noch zu einer weiteren Verhärtung der Position führen.
384 Wie zum Beispiel bei den kollektiven Maßnahmen gegen Argentinien (1982) und den Irak (1990), Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 3. 385 Wie zum Beispiel bei den kollektiven Maßnahmen gegen den Irak (1990) und die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1998), Crawford, The International Law Commission’s articles on state responsibility, 2002, Art. 54 Rdnr. 3. 386 Schröder, in: Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, Rdnr. 119. 387 Schröder, in: Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, Rdnr. 119.
§ 2 Pflichten / Befugnisse des Ministerkomitees aus Art. 46 Abs. 2 EMRK101
C. Ergebnis Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das Ministerkomitee als Gremium dazu verpflichtet ist, auf die Mitgliedstaaten einzuwirken, sodass sie die Urteile des EGMR vollumfänglich umsetzen. Daneben haben aber auch die einzelnen Mitgliedstaaten im Ministerkomitee als Drittstaaten im Umsetzungsprozess eine eigene Verpflichtung, die Durchsetzung der Urteile zu bewirken, wozu ihnen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Welche Möglichkeiten zum Einsatz kommen sollten, ist jedoch eine Frage des Einzelfalls.
Teil 3
Überwachung der Umsetzung der Urteile durch das Ministerkomitee in der Praxis Nach der Darstellung des Stands der Umsetzung der Urteile des EGMR (§ 1) wird anhand ausgewählter Fälle dargestellt, wie das Ministerkomitee im Einzelnen die Umsetzung von Urteilen kontrolliert (§ 2).
§ 1 Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR Der Vorstellung des Wissens- und Meinungsstandes in der Literatur zum Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR (A.) folgt eine Analyse der Berichte des Europarats zur Umsetzung der Urteile in den Jahren 2007 bis 2014 (B.).
A. Meinungs- und Wissensstand in der Literatur In der Literatur herrscht die Meinung vor, dass die Umsetzungsrate von Urteilen des EGMR gut sei,1 wobei die Abstufungen von „befriedigend“2 bis „nahezu perfekt“3 reichen. Gerade in den vergangenen Jahren wird aber verstärkt darauf hingewiesen, dass es auch bedeutende Probleme bei der Umsetzung von Urteilen des EGMR gebe.4 Bei der Beurteilung der Literaturmei1 Zum Beispiel Leuprecht, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 791 (800); Lambert Abdelgawad, The execution of judgments of the European Court of Human Rights, 2008, S. 71. 2 Martens, in: FS Schermers, S. 71 (73); Ryssdal, in: FS Schermers, S. 49 (55); Blackburn / Polakiewicz, Fundamental rights in Europe: the European Convention on Human Rights and its member states, 1950–2000, 2001, S. 73 f. 3 Helfer, Cornell Int’l L.J. 1993, 133 (133 f.); Helfer / Slaughter, Yale law journal 1997, 273 (296); s. auch Sims, 2004, 639 (640); Warbrick, in: Butler (Hrsg.), Control over compliance with international law, 1991, S. 139 (140). 4 Blackburn / Polakiewicz, Fundamental rights in Europe: the European Convention on Human Rights and its member states, 1950– 2000, 2001, S. 73 f.; Barkhuysen / van Emmerik, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 1 (20); Tomuschat, „International Courts and Tribunals“, in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public
§ 1 Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR103
nungen ist gleichfalls der historische Kontext zu beachten. War bei den ersten Urteilen des Gerichtshofes schon die Tatsache, dass Staaten sich der Gerichtsbarkeit des EGMR unterwarfen und dann infolge einer Verurteilung überhaupt Schritte zur Umsetzung eines Urteils ergriffen, eine Sensation, werden heute andere Maßstäbe an die Urteilsumsetzung angelegt und von vornherein eine vollumfängliche und rasche Umsetzung erwartet. Außerdem stellen die Aussagen, die zu dem Stand der Umsetzung der Urteile bisher getroffen worden sind, nur Einschätzungen dar, für die es keine empirischen Belege gibt. So gibt es keine Studie, anhand der die Lage der Umsetzung komplett untersucht wird.5 Die wenige Literatur, die sich empirisch mit dem Thema auseinandersetzt, nimmt jeweils eine spezielle Perspektive ein: Hawkins’ und Jacobys Artikel entwickelt das Konzept der „partial compliance“ und plädiert dafür, statt nur in den Kategorien „Urteil umgesetzt“ und „Urteil nicht umgesetzt“ auch in der Kategorie „Urteil teilweise umgesetzt“ (also partial compliance) zu denken und stützt diese Kategorie mit empirischen Belegen.6 Die umfassende empirische Untersuchung von Hillebrecht wiederum sucht nach den Gründen, weshalb Mitgliedstaaten Urteile umsetzen beziehungsweise nicht umsetzen. Sie stellt einen Bezug zwischen den innerstaatlichen Institutionen eines Landes und seinem Umsetzungsverhalten dar und konzentriert sich auf einzelne Staaten mit problematischer Umsetzungsbilanz.7 Ähnlich gehen Anagnostou und Mungiu-Pippidi vor, die sich in ihrem Artikel mit der Umsetzungsbilanz von neun Mitgliedstaaten befassen, gegen die Urteile wegen Verletzungen von Art. 8 bis 11 EMRK ergangen sind, und die Umsetzungsbilanz in Zusammenhang mit innerstaatlichen Faktoren wie rechtlicher Infrastruktur und der Effektivität des Regierungshandelns setzen.8 Churchill und Young beschäftigen sich mit der Umsetzungsrate des Vereinigten Königreichs und analysieren die Umsetzung in den 30 Urteilen, die bis 1987 gegen das Land ergangen sind.9 Diese speziellen Herangehens International Law, 2011, Rdnr. 69; Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights, 2010, S. 493 f. 5 Dazu Anagnostou, in: Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights, 2013, S. 1 (2); Posner / Yoo, California law review 2005, 1 (65 f.); Krisch, The Modern Law Review 2008, 183 (197); Janis, CJIL 2000, 39 (46); Dothan, Reputation and judicial tactics, 2015, S. 218. 6 Hawkins / Jacoby, J. Int’l L & Int’l Rel. 2010, 35 (66 ff.). 7 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014. 8 Anagnostou / Mungiu-Pippidi, EJIL 2014, 205; siehe auch Voeten, EJIL 2014, 229. 9 Churchill / Young, BYIL 1991, 283.
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
weisen gehen auch auf die Schwierigkeiten zurück, eine umfassende Beurteilung der Umsetzung aller Urteile des EGMR anzustellen, da dafür spezielle Kenntnisse der innerstaatlichen Rechtsordnung und der politischen Entscheidungen aller Mitgliedstaates nötig wären.10 Es mangelt folglich an einer allgemein gehaltenen problemorientierten Analyse, die auf Umsetzungshindernisse in allen Mitgliedstaaten bezüglich aller Konventionsverletzungen eingeht.
B. Analyse der Berichte des Europarats zur Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2007–2014 Aufgrund des Mangels an aussagekräftigen Erkenntnissen in der bisherigen Literatur, werden Probleme bei der Umsetzung der Urteile des EGMR anhand einer rechtstatsächlichen Untersuchung erforscht. Zunächst wird die Methode dargestellt (I.), anschließend die Ergebnisse in Fallgruppen aufbereitet (II.). I. Methode Die verwendete Methode wird anhand der zwei Elemente Untersuchungsgegenstand (1.) und Untersuchungstechnik (2.) dargestellt.11 1. Untersuchungsgegenstand
Untersucht wird die Umsetzung der Urteile des EGMR durch die Mitgliedstaaten, damit die Anwendung von Art. 46 Abs. 1 EMRK in der Praxis. Es stellen sich zwei Fragen: Ob sich bei der Umsetzung der Urteile Hindernisse ergeben und in welchen Fällen diese Hindernisse auftauchen. Indikator für Hindernisse bei der Umsetzung sind Urteile, deren Umsetzung seit mindestens fünf Jahren anhängig ist.12 Der Zeitraum wurde festgelegt, weil fünf Jahre eine ausreichende Zeitspanne sind, um ein Urteil umzusetzen. Selbst bei zeitintensiven Umsetzungsmaßnahmen, die eine Beteiligung des Parlaments voraussetzen, sollte innerhalb von fünf Jahren ein Abschluss möglich sein. Ein Beispiel dafür ist das Urteil M. / Deutschland13 zur 10 Tomkins, in: Gearty (Hrsg.), European Civil Liberties and the European Convention on Human Rights, 1997, S. 1 (43). 11 Aufbau übernommen von Rehbinder, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2007, S. 45 ff. 12 So auch Hawkins / Jacoby, J. Int’l L & Int’l Rel. 2010, 35 (69). 13 EGMR, Urteil vom 17.12.2009 – No. 19359 / 04, M. / Deutschland.
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nachträglichen Sicherheitsverwahrung, dessen Umsetzung trotz einer komplexen Gesetzesänderung und gesellschaftspolitischen Debatten14 weniger als fünf Jahren dauerte.15 Hinzu kommt, dass in den meisten europäischen Regierungen nach fünf Jahren die Legislaturperiode abgelaufen ist.16 2. Untersuchungstechnik: Dokumentenanalyse
Zunächst wird die Untersuchungstechnik genau beschrieben [a)], im Anschluss wird auf die bei der Datenerhebung aufgetretenen Probleme eingegangen [b)]. a) Beschreibung der Untersuchungstechnik Als Methode der Datenerhebung wurde die Dokumentenanalyse gewählt. Grundlage bilden die jährlichen Berichte des Europarats zur Umsetzungsüberwachung durch das Ministerkomitee mit der Auflistung der „major developments“ aus der Kontrollpraxis und Statistiken.17 Es handelt sich also um eine Sekundäranalyse.18 Die jährlichen Berichte stellen die bestmögliche Datengrundlage dar; eine Primäranalyse auf Basis der Datenbank des Ministerkomitees ist nicht unter vertretbarem Aufwand zu bewältigen, da der Status der nicht umgesetzten Urteile zum Zeitpunkt der Bearbeitung nur anhand des Namens des Urteils und des betroffenen Staates abrufbar war, sodass die derzeit über 10.000 anhängigen Urteile hätten einzeln durchgegangen werden müssen.19 Anhand der Datenbank HUDOC des EGMR sind nur die Interimund Schlussresolutionen des Ministerkomitees separat abrufbar, die alleine nur wenig Aufschluss über die Umsetzung eines Urteils geben und ebenfalls nur bei der Suche nach den Resolutionen zu bestimmten Urteilen dienlich sind.20 Als Zeitraum wurden die Jahre 2007 bis einschließlich 2014 gewählt. Das hat zum einen den praktischen Grund, dass die Berichte erst seit 2008 für das 14 Siehe z. B. Zeit, „Jetzt entscheiden die deutschen Gerichte“, 14.11.2011, http:// www.zeit.de / gesellschaft / zeitgeschehen / 2011-01 / sicherungsverwahrung-europa-ge richtshof (Stand: 10.04.2016). 15 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2014)290, 17.12.2014. 16 Hawkins / Jacoby, J. Int’l L & Int’l Rel. 2010, 35 (69). 17 Die Berichte (Annual Reports) können von der Website des Europarats heruntergeladen werden, https: / / www.coe.int / en / web / execution / annual-reports (Stand: 28.02.2018). 18 Dazu Rehbinder, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2007, § 4 Rdnr. 63. 19 Die Datenbank ist unter https: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp abrufbar (Stand: 19.02.2016). 20 Die Datenbank HUDOC ist unter http: / / hudoc.echr.coe.int abrufbar (Stand: 28.02.2018).
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Jahr 2007 erscheinen. Zum anderen ist dieser Zeitraum aufgrund von den folgenden Merkmalen aber auch besonders interessant: Nachdem 1998 das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK in Kraft getreten ist, wurde zukünftig über Beschwerden in dem neuen Kontrollsystem entschieden. Außerdem erging 2004 das erste Piloturteil (Broniowski / Polen21), das eine neue Ära im Umgang mit strukturellen Konventionsverletzungen einläutete. Darüber hinaus traten in den neunziger Jahren eine Reihe ehemaliger Ostblockstaaten der EMRK bei, die den EGMR vor neue Herausforderungen stellten. Diese bedeutenden Entwicklungen können von den Berichten aufgegriffen werden. Die durchgeführte Dokumentenanalyse orientiert sich an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring, genauer gesagt der strukturierenden Inhaltsanalyse.22 Vorgegangen wurde dementsprechend wie folgt. Anhand von Kategorien wurden Fallgruppen von Umsetzungsproblemen herausgearbeitet. Die Kategorien entsprechen den Einteilungen der Berichte, die Urteile bereits erst nach Rubriken und dann nach Mitgliedstaaten geordnet auflisten und in der Regel Angaben zu Konventionsverletzungen, Interim- und Schlussresolutionen machen. Es wird also die formale Struktur der Berichte übernommen und das Textmaterial anhand thematischer Kriterien herausgearbeitet. Die vier Kategorien sind das verletzte Konventionsrecht (zum Beispiel Art. 6 Abs. 1 EMRK); die Rubrik und Unterrubrik, unter der das Urteil in dem jährlichen Bericht eingeordnet wurde (zum Beispiel die Rubrik „Access to and efficient functioning of justice“ und Unterrubrik „Excessive length of proceedings“); beschlossene Interim-Resolutionen und die Schlussresolution, an der die Beendigung der Überwachung der Umsetzung des Urteils festgemacht wird. Auf der Basis der Kategorien wurden dann Strukturen herausgearbeitet und die Ergebnisse aufbereitet. b) Probleme bei der Datenerhebung Bei der Auswertung der Daten sind die bei der Datenerhebung aufgetauchten Probleme zu beachten, die sich vorrangig daraus ergeben, dass es sich um eine Sekundäranalyse handelt, der eine Vorauswahl der Fälle zugrunde liegt. Zum einen werden von allen nicht umgesetzten Urteilen nur einige in den human rights meetings des Ministerkomitees auch besprochen. Die jährlichen Berichte stellen von diesen Urteilen wiederum nur eine Auswahl, nämlich die „major developments“ dar. Zum anderen ist zu beachten, dass ein „Fall“ 21 EGMR, Urteil vom 28.09.2005 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen; zu Pilot urteilen siehe Teil 4 § 1 A. II. 22 Mayring, in: Flick / von Kardoff / Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Aufl. 2012, S. 468 ff.
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in den Berichten aus mehreren Urteilen bestehen kann. Diese Fälle werden in den früheren Berichten durch „and others“ und im Bericht von 2014 mit „group“ gekennzeichnet. Manchmal werden schon mehrere Urteilsgruppen zu einem „Fall“ zusammengefasst. Zum Beispiel legt der Bericht von 2014 die Urteilsgruppen Ceteroni / Italien, Luordo / Italien und Mostacciuolo / Italien zu einem „Fall“ zusammen; allein die Ceteroni-Gruppe besteht aber bereits aus mehr als 2000 Urteilen. Dadurch wird die zahlenmäßige Vergleichbarkeit der „Fälle“ eingeschränkt. Im Übrigen kann die absolute Zahl an Fällen aus einem bevölkerungsreichen Staat nicht direkt mit der absoluten Zahl an Fällen aus einem bevölkerungsarmen Staat verglichen werden, sondern es ist das Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu berücksichtigt (so hat Moldau etwa 3,5 Mio. Einwohner, Russland aber 143,5 Mio.). Neben den Fällen, verwendet der Europarat für seine Statistiken den Begriff „leading cases“, dadurch wird nur der einzelne Problemfall berücksichtigt und nicht, wie viele vergleichbare Urteile darunter gefasst werden. Zum anderen wird die Einteilung der Fälle in die Rubriken zuweilen gewechselt; so wird Hirst / Vereinigtes Königreich zum Beispiel seit 2012 unter „Detention Rights“ geführt, zuvor noch unter „Electoral Rights“. Im Übrigen unterscheiden die Statistiken der in den jährlichen Berichten nicht zwischen lange nicht umgesetzten und umgesetzten Urteilen, sondern zwischen Urteilen, die sich in der enhanced procedure oder der standard procedure befinden. II. Fallgruppen der Umsetzungsprobleme Auf der Basis der vier Kategorien werden die auftauchenden Rubriken (1.) und außerdem die auffälligen Mitgliedstaaten (2.) herausgearbeitet. 1. Umsetzungsrubriken
Die meisten problematischen Urteile betreffen die Komplexe Zugang zu und Arbeitsweise der Justiz („Access to and functioning of justice“) [a)], Recht auf Leben und Schutz gegen Folter und Misshandlung („Right to life and protection against torture and ill-treatment“) [b)] und Schutz der Rechte in Haft („Protection of rights in detention“) [c)]. a) Access to and efficient functioning of justice Die Rubrik „Access to and functioning of justice“ betrifft in der Regel Verletzungen von Art. 6 EMRK. In dieser Rubrik sammlen sich die meisten Fälle und zwar sowohl unter denjenigen, die fünf Jahre oder länger in der
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Umsetzung anhängig sind, als auch die problematischen Fälle, die über einen sehr langen Zeitraum nicht umgesetzt sind. Die Rubrik besteht aus mehreren Unterrubriken („Excessive length of judicial proceedings“, „Lack of access to a court“, „No or delayed enforcement of domestic judicial proceedings“, „Non-respect of the final character of court judgments“, „Unfair judicial proceedings“ in Straf- oder Zivilfällen; seit dem Bericht von 2013 „Limitation of use on restriction on rights“ und „Organisation of judiciary“). Jedoch sind selbst in den einzelnen Unterrubriken die meisten der anhängigen Urteilen zu finden. Zwischen 2011 und 2014 machte allein die Unterrubrik „Excessive length of judicial proceedings“ zwischen 11 und 21,61 % der Fälle (bezogen auf „leading cases“) unter enhanced supervision aus und lag damit stets auf den vorderen Plätzen; die Unterrubrik „No or delayed enforcement of domestic judicial proceedings“ lag in denselben Jahren dahinter bei 7 bis 9,52 %.23 Zum Beispiel machten 2012 die Unterrubriken „Excessive length of judicial proceedings“, „No or delayed enforcement of domestic judicial proceedings“, „Unfair judicial proceedings, criminal charges“ zusammengenommen schon 30 % der leading cases unter enhanced supervision aus.24 Unter den betroffenen Staaten fällt besonders Italien auf, das mit über 2000 Fällen vertreten ist. Diese Fälle sind teilweise auch noch aus den neunziger Jahren anhängig und machen den weit überwiegenden Anteil der derzeit anhängigen 2635 italienischen Fälle aus. Im Übrigen sind die Fälle gegen Griechenland,25 Ukraine,26 Türkei,27 Polen28 und Rumänien29 auffällig, unter denen sich ebenfalls jeweils über zehn Jahre alte Fälle befinden. Frankreich hatte ebenfalls einige anhängige Fälle, die jedoch in der Regel im fünften Jahr abgeschlossen werden. 23 Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 5th Annual Report of the Committee of Ministers, 2011, S. 49 (im Folgenden: Annual Report 2011); Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 6th Annual Report of the Committee of Ministers, 2012, S. 63 (im Folgenden: Annual Report 2012); Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 7th Annual Report of the Committee of Ministers, 2013, S. 61 (im Folgenden: Annual Report 2013); Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 8th Annual Report of the Committee of Ministers, 2014, 2014, S. 40 (im Folgenden: Annual Report 2014); in den Berichten zwischen 2007 und 2010 wurden keine Angaben zur Art der Konventionsverletzung in den Statistiken gemacht. 24 Annual Report 2012, S. 63. 25 Diamantides (Nr. 2) / Griechenland, Manios / Griechenland: ca. 10 Jahre alt. 26 Zhovner / Ukraine, Svetlana Naumenko / Ukraine, ca. 10 Jahre alt. 27 Hulki Güneş / Türkei: 13 Jahre. 28 Fuchs / Polen, Kudła / Polen, Podbielski / Polen: 13–18 Jahre alt. 29 Sacaleanu / Rumänien, Nicolau / Rumänien: ca. 10 Jahre alt.
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b) Right to life and protection against torture and ill-treatment Die Rubrik „Right to life and protection against torture and ill-treatment“ (Recht auf Leben und Schutz gegen Folter und Misshandlung) betrifft Verletzungen von Art. 2 und 3 EMRK. In dieser Rubrik sammeln die die zweithöchste Anzahl von Fällen. Auffällig ist, dass sich darunter sich auch zahlreiche Fälle finden, die über einen langen Zeitraum beziehungsweise bis heute nicht umgesetzt worden sind. Ausnahmen davon sind A. / UK (2009, nach 11 Jahren), Labita / Italien (2009, nach neun Jahren), M.C. / Bulgarien (2011, nach sieben Jahren), Daytan / Georgien und Danelia / Georgien (2014, nach acht beziehungsweise sieben Jahren, allerdings stehen die generellen Maßnahmen weiter offen und werden in einer anderen Gruppe von Fällen kon trolliert.). Die Rubrik besteht aus den Unterrubriken „Action of security forces“, „Positive obligation to protect the right to life“ und „Ill-treatment – specific situations“. Fälle zu „Actions of security forces“ machten zwischen 2011 und 2014 zwischen 13 und 20 % der „leading cases“ in enhanced supervision aus. Damit war „Actions of security forces“ stets die Unterrubrik mit den meisten oder zweitmeisten Fällen. Die Unterrubrik „Positive obligation to protect the right to life“ lag in den Jahren bei 3 bis 4 % im hinteren Feld und „Ill-treatment – specific situations“ mit 3 bis 6 % im Mittelfeld. In den genannten Jahren machte die gesamte Rubrik zwischen 21 und 27 % der Fälle in enhanced supervision aus. Bei den Staaten sind Bulgarien,30 Rumänien,31 Russland,32 die Türkei,33 das Vereinigte Königreich34 und die Ukraine35 mit mehreren, teilweise lange zurückliegenden Fällen sichtbar vertreten. Seit 2013 erscheinen auch Aserbaidschan und Moldau erkennbar in der Kodierung. Bei diesen Staaten muss noch abgewartet werden, wie sich die Fallzahlen weiter entwickeln.
30 Velikova u. a. / Bulgarien, Nachova u. a. / Bulgarien (jetzt eine Gruppe): 10–16 Jahre, insgesamt 27 Urteile. 31 Pantea / Rumänien, Barbu Anghelescu / Rumänien: 12–13 Jahre, insgesamt ca. 27 Urteile. 32 Khashiyev und Akayeva / Russland-Gruppe, Mikheyev / Russland-Gruppe: 10–11 Jahre, insgesamt 283 Urteile. 33 Batı u. a. / Türkei, Erdoğan u. a. / Türkei, Aksoy / Türkei, Ülke / Türkei: 10–20 Jahre, mind. 324 Fälle. 34 McKerr / Vereinigtes Königreich (A. / Vereinigtes Königreich ist inzwischen umgesetzt): 15 Jahre, 8 Fälle. 35 Afanasyev / Ukraine-Gruppe, Gongadze / Ukraine: 11 Jahre alt, mind. 38 Fälle.
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c) Protection of Rights in Detention Die Rubrik „Protection of Rights in Detention“ (Schutz der Rechte in Haft) betrifft in der Regel Verletzungen von Art. 5 EMRK. Diese Rubrik gestaltet sich von den absoluten Zahlen her ähnlich wie „Right to life and protection against torture and ill-treatment“. Die Rubrik besteht aus den Unterrubriken „Poor detention conditions“, „Unjustified detention and related issues“ sowie „Detention and other rights“. Dazu gehören nicht die Fälle bezüglich Abschiebehaft, die sich sich in einer eigenen Rubrik zu der Ausweisung und Abschiebung von Ausländern befinden („Issues related to expulsion / extradition“), obwohl es sich ebenfalls regelmäßig um Verletzungen von Art. 5 EMRK handelt. Auch hier sind die Unterrubriken unter den bei der enhanced supervision am häufigsten vertretenen Unterrubriken: Die Fälle „Poor detention conditions“ machen in den Jahren 2011–2014 zwischen 11 und 16 % der „leading cases“ in enhanced supervisison aus – eine der größten Unterrubriken. „Unjustified detention and related issues“ steht dahinter mit 5 bis 10 %. Beide Unterrubriken zusammengerechnet stellen damit bereits um die 20 % der Fälle in enhanced supervision in den genannten Jahren. Bei den betroffenen Mitgliedstaaten sind die zahlreichen Fälle gegen Bulgarien,36 Polen,37 Moldau,38 Rumänien39 und das Vereinigte Königreich40 auffällig. 2. Mitgliedstaaten
Die neuen, nach 1990 beigetretenen Mitgliedstaaten tauchten in den ersten untersuchten Jahren nur ausnahmsweise in der Kodierung auf (Rumänien 2007, Polen 2008). Deutlich nahm deren Präsenz ab 2011 mit einer Reihe von Fällen zu (Polen, Bulgarien, Rumänien, Russland, Ukraine); um 2013 waren auch Tschechien und Moldau, ab 2014 Aserbaidschan, Georgien und Albanien sichtbar vertreten. Bei den neuen Mitgliedstaaten ist somit ein stetiger Anstieg an Nichtumsetzungen zu verzeichnen. 36 Kehayov / Bulgarien-Gruppe: 11 Jahre, 22 Urteile; sowie alte inzwischen umgesetzte Fälle. 37 Kaprykowski / Polen-Gruppe, Orchowski / Polen-Gruppe: 7 Jahre, 17 Urteile; so wie alte inzwischen umgesetzte Fälle. 38 Becciev / Moldau-Gruppe, Sarban / Moldau-Gruppe: 11 Jahre, 28 Urteile. 39 Bragadireanu / Rumänien: 9 Jahre, 94 Urteile; sowie alte inzwischen umgesetzte Urteile. 40 Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr. 2): 10 Jahre, 2 Urteile; sowie alte inzwischen umgesetzte Urteile.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme111
Bei den alten Mitgliedstaaten sind Frankreich, Belgien, Niederlande, Portugal und Griechenland immer wieder mit Fällen vertreten, teilweise auch mit langjährig vor dem Ministerkomitee anhängigen Urteilen. Besonders auffällig sind aber Italien, die Türkei und das Vereinigte Königreich. Diese Mitgliedstaaten tauchen häufig auf; zudem mit Fällen, die schwerwiegende Umsetzungsprobleme beinhalten, da sie seit weit über fünf Jahren nicht umgesetzt worden sind. Insgesamt sind Italien, Polen, Russland, Bulgarien, Rumänien, Türkei, Vereinigtes Königreich, Ukraine, Albanien und Moldau als Mitgliedstaaten mit auffälligen Umsetzungsproblemen einzustufen.
C. Ergebnis Die Analyse der Berichte kann aufgrund der genannten Probleme bei der Datenerhebung nur einen Eindruck vermitteln. Deutlich ist aber, dass die drei Rubriken „Justice“, „Life“ und „Detention“ sowohl in der enhanced procedure als auch unter den Urteilen, die fünf Jahre oder länger anhängig sind, häufig auftreten. In den jeweiligen Rubriken stechen insbesondere die Unterrubriken „Excessive length“, „Action of security forces“ und „Poor detention conditions“ hervor. Während bei den Fällen der überlangen Verfahrensdauern das Problem in der Anhäufung von sich wiederholenden Fällen liegt, bei denen eine komplexe und kostenintensive Umorganisation der Justiz notwendig sein kann, geht die Rubrik „Action of security forces“ eher auf politische Konflikte und damit einhergehenden politischen Unwillen zur Umsetzung zurück, bei denen diplomatische Vermittlung gefragt ist. Bei Betrachtung der auffälligen Mitgliedstaaten ist erkennbar, dass Vor urteile gegenüber den neuen Mitgliedstaaten fehl am Platz sind. Sowohl alte als auch neue Mitgliedstaaten sind von signifikanten Umsetzungsschwierigkeiten betroffen.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme Fraglich ist, wie das Ministerkomitee mit Umsetzungsproblemen bisher umgegangen ist. Dazu werden fünf Fallbeispiele vorgestellt, die eine Mischung verschiedener Umsetzungsprobleme darstellen. Vertreten sind sowohl alte als auch neue Mitgliedstaaten, Piloturteile und reguläre Urteile, Indivi dualbeschwerden und Staatenbeschwerden, lang zurückliegende und neuere Urteile, Umsetzung durch individuelle und generelle Maßnahmen, politische und organisatorische Hindernisse bei der Umsetzung. Die Umsetzung eines
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Urteils ist ein laufender Prozess, daher kann die Darstellung dieses Prozesses gerade bei den hier gezeigten langjährigen Verfahren nur ein bestimmtes Zeitfenster abbilden. Von Bedeutung sind vielmehr die Reaktionen des Ministerkomitees in den einzelnen Fällen, die exemplarisch den Handlungswillen und die Handlungsfähigkeit des Ministerkomitees in problematischen Umsetzungsfällen illustrieren. Gegenstand der Fallbeispiele sind die überlange Verfahrensdauer in Italien (A.), Nordzypern (B.), Nordkaukasus und Russland (C.), die Wahlregelungen von Bosnien-Herzegowina (C.) und der Wahlrechtsausschluss Strafgefangener in Großbritannien (D.).
A. Überlange Verfahrensdauer in Italien Die Probleme Italiens mit überlangen Verfahrensdauern sind ein Beispiel dafür, wie ein alter Mitgliedstaat notwendige generelle Maßnahmen zur Lösung eines strukturellen Problems seit vielen Jahren nicht oder nur ungenügend ergreift. Nach der Problemstellung (I.), wird die Überwachung durch das Ministerkomitee vorgestellt (II.) und ein Fazit gezogen (III.). I. Problemstellung Italien wird seit Ende der achtziger Jahre regelmäßig wegen überlanger Verfahrensdauer verurteilt41 und ist aufgrund der Vielzahl der in dieser Sache gegen sich ergangen Urteile der am häufigsten verurteilte Mitgliedstaat im Europarat.42 Dabei sind in erster Linie Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen. Das Problem der überlangen Verfahrensdauer umfasst Zivil-, Strafund Verwaltungsverfahren sowie Insolvenzverfahren. Hinzu kommen die im Zusammenhang mit dem 2001 eingeführten Pinto-Gesetz auftretenden Konventionsverletzungen. Dieses Gesetz war ursprünglich als Lösung des Umsetzungsproblems gedacht.43 Es führte die Möglichkeit ein, vor den italienischen Gerichten eine Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer einzureichen und eine Entschädigung zu erhalten.44 Das Beschwerdeverfahren wurde jedoch wiederum zu einem Beispiel von überlanger Verfahrensdauer 41 Bates, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 49 (81); Haider, The pilot-judgment procedure of the European Court of Human Rights, 2013, S. 16. 42 Breuer, EuGRZ 2004, 445 (446). 43 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014. S. 123; Sileoni, in: Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights, 2013, S. 49 (59). 44 Die relevanten Stellen des Gesetzes finden sich in englischer Übersetzung in EGMR, Urteil vom 29.03.2006 – No. 64886 / 01, Cocchiarella / Italien, § 23.
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und hat zu häufigen Verurteilungen durch den EGMR geführt.45 Derzeit sind etwa 6.800 Fälle vor dem EGMR anhängig, in denen es um die Konventionswidrigkeit des Pinto-Gesetzes geht.46 II. Gang der Überwachung Der Komplex umfasst drei thematisch separate Urteilsgruppen: Ceteroni zu Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren, Luordo zu Insolvenzverfahren und Mostacciulo und Gaglione zu den Verfahrensverletzungen infolge des Pinto-Gesetzes. Insgesamt umfassen diese Urteilsgruppen 2255 Urteile, die teilweise bereits 1992 vom EGMR entschieden worden sind. Gleichzeitig stellen diese Fälle auch den weit überwiegenden Anteil der gegen Italien ergangenen und beim Ministerkomitee anhängigen insgesamt 2637 Urteile dar und machen damit fast ein Viertel aller im Ministerkomitee derzeit anhängigen Urteile aus. Zwar sind es drei Urteilsgruppen, in der Kontrolle der Umsetzung durch das Ministerkomitee werden die Gruppen jedoch wegen der Vergleichbarkeit der zugrunde liegenden Probleme gemeinsam behandelt. Die Umsetzungskontrolle durch das Ministerkomitee bestand in erster Linie darin, zwischen 1997 und 2010 acht Interim-Resolutionen zu erlassen. Der Ton der Interim-Resolutionen wurde mit der Zeit schärfer: Während zu Beginn nur darauf hingewiesen wurde, dass überlange Verfahrensdauern für den Rechtsstaat eine „bedeutende Gefahr“ darstellen können,47 stellten überlange Verfahren in der letzten Interim-Resolution von 2010 schon eine „ernste Gefahr“ dar, die eine Verweigerung der in der EMRK niedergelegten Rechte zur Folge habe.48 Ab 2000 hat das Ministerkomitee an die italienischen Behörden „appelliert“ („call upon“),49 verschiedene Maßnahmen zu ergreifen, ab 2005 dann auch „gedrängt“ („urges“);50 2010 wurde Italien nicht nur „aufgefordert“ („invites“), interdisziplinär vorzugehen,51 sondern „nachdrücklich aufgefordert“ („firmly invites“).52 Ebenso ist auffällig, dass 45 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 21.12.2010 – Nos. 45867 / 07 u. a., Gaglione u. a. / Italien; s. dazu auch Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 123. 46 European Court of Human Rights, Press country profile, Italy, June 2015, S. 11, http: / / www.echr.coe.int / Pages / home.aspx?p=press / factsheets&c=#n13479515 47702_pointer (Stand: 30.06.2015). 47 Committee of Ministers, Interim Resolution DH(97) 336, 11.07.1997. 48 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010) 224, 02.12.2010. 49 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2000) 135, 25.10.2000. 50 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2005) 114, 30.11.2005. 51 Wie zum Beispiel Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH (2009)42, 19.03.2009. 52 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)224, 02.12.2010.
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die Interim-Resolutionen nur allgemein gehaltene Handlungsempfehlungen und -aufforderungen enthalten. Eine Ausnahme hiervon stellt die Resolution von 2009 dar, in der sehr detailliert auf die einzelnen Verfahrensprobleme eingegangen wird und einige konkrete, nach den Verfahrensarten aufgegliederte, Maßnahmen vorgeschlagen und auch vorgegeben werden.53 Im Übrigen hat das Ministerkomitee wiederholt die Dringlichkeit unterstrichen, die Flut von weiteren Wiederholungsfällen vor dem EGMR im Zusammenhang mit dem Pinto-Gesetz zu stoppen.54 Die Handlungsempfehlungen des Ministerkomitees, um das strukturelle Problem der überlangen Verfahrensdauer zu lösen, reichten von Gesetzes änderungen,55 Erstellung von Zeitplänen,56 Informationsverbreitung unter Richterinnen und Richtern57 und Einführung eines innerstaatlichen Monitoring-Mechanismus.58 Auch wurde stets betont, dass das Problem auf höchster politischer Ebene gelöst werden59 und alle Akteure der Justiz einbezogen werden sollten.60 Das Ministerkomitee hat jedoch nicht nur regelmäßig die italienischen Behörden angeregt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, sondern sah sich auch damit konfrontiert, dass keine oder nur unvollständige Unterlagen vorgelegt wurden: So kritisierte das Komitee 2010, dass es mangels Daten nicht möglich sei, den Stand der Umsetzung überhaupt korrekt zu beurteilen.61 2011 wurden dann zwar action plans vorgelegt, die sich aber auf Lösungen für die Probleme bei Zivilverfahren beschränkten,62 woraufhin das Ministerkomitee die italienischen Behörden wiederholt aufforderte, einen 53 Committee
of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2009)42, 19.03.2009. of Ministers, CM / Del / DC(2012)1136 / 14, 08.03.2012, Ziff. 3; Committee of Ministers, CM / Del / DC(2012)1144 / 12, 06.06.2012, Ziff. 4; Commitee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2013)1172 / 14, 06.06.2013, Ziff. 8. 55 Zum Beispiel in Bezug auf das Pinto-Gesetz, Annual Report 2009, S. 124. 56 Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 2nd Annual Report of the Committee of Ministers, 2008, S. 129 (im Folgenden: Annual Report 2008); Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 3rd Annual Report of the Committee of Ministers, 2009, S. 124 (im Folgenden: Annual Report 2009). 57 Annual Report 2009, S. 124. 58 Annual Report 2013, S. 116. 59 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2007)2, 14.02.2007; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)224, 02.12.2010. 60 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2007)2, 14.02.2007; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2010)224, 02.12.2010. 61 Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 4th Annual Report of the Committee of Ministers, 2010, S. 124 (im Folgenden: Annual Report 2011). 62 Committee of Ministers, Plan d’action / Bilan d’action – Communication de l’Italie relative au groupe d’affaires Ceteroni contre l’Italie (Requête no. 22451 / 93) – 54 Committee
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umfassenden action plan vorzulegen.63 Dieser wird derzeit ausgearbeitet.64 Auch kann der Vorhalt der italienischen Regierung, die Probleme mit der Durchsetzung des Pinto-Gesetzes lägen an einem Mangel an Ressourcen,65 nicht die fehlende Kooperationsbereitschaft Italiens erklären. Auch ist das Ministerkomitee durchgehend mit dem Problem beschäftigt gewesen. Zwischen 2007 und 2013 wurde das Thema mindestens einmal jährlich bei den human rights meetings besprochen, lediglich im Jahr 2014 fanden ausschließlich „reguläre Kontakte“ zwischen den italienischen Behörden und dem Sekretariat statt.66 Zudem gab es 2007 und 2008 Treffen zwischen dem Sekretariat und den italienischen Behörden.67 III. Fazit Festzuhalten ist, dass trotz jahrelanger regelmäßiger und intensiver Beobachtung und acht Interim-Resolutionen die Kontrolle des Ministerkomitees nicht für eine Umsetzung der Urteile gesorgt hat.68 Letztlich fehlte in Italien bisher der politische Wille, umfassende Reformen durchzuführen.69 derzeit entwickelt sich ein neues Bewusstsein für die Lösung des Problems, zumindest wurde das von italienischer Seite im Ministerkomitee zum Ausdruck gebracht.70 Affaires de durée de procédures judiciaires, DH-DD(2011)898F, 25.10.2011; s. auch Annual Report 2011, S. 69. 63 Annual Report 2011, S. 69; Committee of Ministers, Decision cases No. 14, Italian groups of length of judicial proceedings against Italy, 1157th meeting, 06.12.2012, Ziff. 8; Committee of Ministers, Pending cases: current state of execution, Ceteroni v. Italy, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en. asp (Stand: 30.06.2015); Annual Report 2013, 116. 64 Annual Report 2014, S. 140. 65 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1128 / 13, 02.12.2011, Ziff. 4; Leach / Hardman / Stephenson, Responding to systemic human rights violations, 2010, S. 129 f. m. w. N. 66 Annual Report 2014, S. 140. 67 Council of Europe, Supervision of the execution of judgments and decisions of the Eurpean Court of Human Rights, 1st Annual Report of the Committee of Ministers, 2007, S. 88 (im Folgenden: Annual Report 2007); Annual Report 2008, S. 129. 68 Siehe auch Bates, in: Christou / Raymond (Hrsg.), European Court of Human Rights: Remedies and Execution of Judgments, 2005, S. 49 (83). 69 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 124 f. 70 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1136 / 14, 08.03.2012, Ziff. 4; Commitee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2013)1172 / 14, 06.06.2013, Ziff. 1; siehe auch Sileoni, in: Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights, 2013, S. 49 (61 ff.)
116
Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
B. Nordzypern Die Umsetzung der aus dem Nordzypernkonflikt resultierenden Urteile des EGMR illustriert die Probleme, die mit dem politischen Widerstand eines Mitgliedsstaats einhergehen können. In diesem Beispiel geht es mit der Türkei um einen alten Mitgliedstaat und den Umgang des Ministerkomitees mit einem strukturellen Problem, in dem wenig Aussicht auf vollumfängliche Umsetzung besteht. Nach der Problemstellung (I.), wird der Gang der Überwachung durch das Ministerkomitee vorgestellt (II.) und ein Fazit gezogen (III.). I. Problemstellung Der Nordzypernkonflikt, eine Folge der militärischen Besatzung des Nordteils der Insel durch die Türkei, war Gegenstand mehrerer bis in die neunziger Jahre zurückgehenden Verfahren71 vor dem EGMR, in deren Zentrum das letzte Staatenbeschwerdeverfahren Zypern / Türkei steht. Nachdem der EGMR in diesem Verfahren zunächst im Jahr 2001 vierzehn Konventionsverletzungen festgestellt hatte,72 folgte 2014 das Urteil zur Entschädigung, in dem der EGMR der Türkei die Zahlung 90 Mio. Euro an Zypern auferlegte.73 II. Gang der Überwachung Die Überwachung der Umsetzung unterteilt sich in drei Hauptbereiche: Verschwundene Personen (1.), Häuser und unbewegliches Eigentum von vertriebenen griechischen Zyprioten (2.) und die Eigentumsrechte von griechischen Zyprioten, die im Nordteil von Zypern leben (3.). Im Übrigen muss die Türkei die Entschädigungen aus dem Urteil Zypern / Türkei zahlen, sowohl an die Verwandten der verschwundenen Personen als auch an die in Nordzypern lebenden griechischen Zyprioten (4.). Weitere Umsetzungsbereiche wurden entweder vom Ministerkomitee noch nicht in die Überprüfung aufgenommen74 oder bereits abgeschlossen.75 71 Zum
kei.
Beispiel EGMR, Urteil vom 18.12.1996 – No. 15318 / 89, Loizidou / Tür-
Urteil vom 10.05.2001 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Merits. Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Tenor Ziff. 4 (a), 5 (a). 74 Verletzungen von Art. 8 EMRK wegen der Einschränkungen der im Nordteil lebenden griechischen Zyprioten bei Familienbesuchen und der Überwachung ihrer Kontakte und Bewegungen; Verletzungen von Art. 3 EMRK wegen Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit, Überwachung u. a.; Verletzungen von Art. 13 EMRK wegen fehlenden Rechtsbehelfen der griechischen Zyprioten bei Behinderung ihrer 72 EGMR, 73 EGMR,
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme117 1. Verschwundene Personen
Der EGMR hat entschieden, dass in den fehlenden Ermittlungen zu dem Verbleib der infolge des Konflikts verschwundenen griechischen Zyprioten Verletzungen von Art. 2 und 5 EMRK und bezüglich deren Verwandten eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu sehen sind.76 Der Komplex der verschwundenen Personen stellt auch den Hauptgegenstand der Überwachung des Ministerkomitees dar: Die Türkei hat sich bisher darauf beschränkt, die Arbeit des Committee on Missing Persons in Cyprus (CMP) zu unterstützen, anstatt die vom EGMR als ausdrücklich notwendig erachtet77 und auch vom Ministerkomitee regelmäßig geforderten78 strafrechtlichen Ermittlungen durchzuführen. Auch in den bisherigen zwei Interim-Resolutionen wird die Türkei vorrangig dazu ermahnt, Ermittlungen zu den verschwundenen Personen durchzuführen.79 2015 gab die Türkei an, strafrechtliche Ermittlungen zu befördern und bereits 48 Akten von insgesamt 429 Strafermittlungen von den sterblichen Überresten von 959 vermissten Personen an die Generalstaatsanwaltschaft übergeben zu haben;80 die zypriotische Regierung bezweifelt jedoch die Rechte durch die Behörde, Pending cases: current state of execution, Cyprus v. Turkey, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp (Stand: 11.03.2016). 75 Verletzung von Art. 6 EMRK wegen der Zuständigkeiten von Militärgerichten, Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2005)44, 07.06.2005; Lebensbedingungen der griechischen Zyprioten im Nordteil bzgl. fehlender höherer Schulbildung, zensierter Schulbücher und Religionsfreihiet, Art. 9, 10 EMRK und Art. 2 des 1. ZP zur EMRK, Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2007)25, 04.04.2007. 76 EGMR, Urteil vom 10.05.2001 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Merits, §§ 130 ff., Tenor Ziff. II. 77 EGMR, Urteil vom 18.09.2009 – Nos. 16064 / 90 u. a., Varnava u. a. / Türkei, Ziff. 189 ff.; s. auch Borelli, The Impact of the Jurisprudence of the European Court of Human Rights on Domestic Investigations and Prosecutions of Serious Human Rights Violations by State Agents, DOMAC / 7, 05 / 2010, Annex S. 132, http: / / www. domac.is / media / domac-skjol / DOMAC_7-ECHR-SB.pdf (Stand: 15.07.2015). 78 Annual Report 2007, S. 194 f.; Annual Report 2008, S. 203; Annual Report, S. 183; Annual Report 2010, S. 196; Annual Report 2011, S. 97; Annual Report 2012, S. 135; Annual Report 2013, S. 165 f.; Committee of Ministers, Pending cases: current state of execution, Cyprus v. Turkey, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execu tion / Reports / pendingCases_en.asp (Stand: 15.07.2015). 79 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2005)44, 07.06.2005; Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2007)25, 04.04.2007. 80 Committee of Ministers, Comunication from Turkey (question of missing persons) (09 / 04 / 2015) concerning the cases of Cyprus against Turkey and Varnava against Turkey, DH-DD(2015)395, 10.04.2015, Ziff. 24 f.; Committee of Ministers,
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
Ernsthaftigkeit der türkischen Behörden, tatsächlich eine vollumfängliche Strafverfolgung durchzuführen.81 Im Übrigen stellen die 48 Akten nur einen Bruchteil der insgesamt vermissten Personen dar, sodass für die Türkei noch erheblicher weiterer Handlungsbedarf besteht. Das Ministerkomitee begrüßte die Fortschritte und bezeichnete 2014 in dieser Hinsicht als Meilenstein („landmark year“),82 erinnerte die Türkei aber gleichzeitig daran, Eigeninitiative zu zeigen, damit das CMP schnell greifbare Erfolge erzielen kann.83 2. Häuser und unbewegliches Eigentum vertriebener griechischer Zyprioten
Bei diesem Komplex geht es darum, dass die vertriebenen griechischen Zyprioten nicht mehr auf ihr Eigentum im Nordteil zugreifen können. Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 8, 13 EMRK und Art. 1 des 1. ZP zur EMRK fest.84 a) Blockade im Ministerkomitee Um in diesem Komplex Abhilfe zu schaffen, hatte die „Türkische Republik Nordzypern“ (TRNZ) 2005 infolge der Verurteilung im Piloturteil Xenides-Arestis / Türkei85 einen Entschädigungs- und Rückgabemechanismus in Gestalt der Immovable Property Commission eingerichtet.86 Das Ministerkomitee nahm die Einrichtung der Kommission in der zweiten Interim-Resolution von 2007 zur Kenntnis und drängte die türkischen Behörden, Informationen zu der Grundstücksentwicklung im Nordteil zu liefern.87 Im Beschluss Demopoulos u. a. / Türkei verwarf der EGMR dann 2010 die Beschwerde mehrerer griechischer Zyprioten, die nicht auf ihr Eigentum im Nordteil zurückgreifen konnten, unter anderem mit der Begründung, dass sie Pending cases: current state of execution, Cyprus v. Turkey, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / execution / Reports / pendingCases_en.asp (Stand: 15.07.2015). 81 Committee of Ministers, Comunication from Cyprus on the question of missing persons (18 / 05 / 2015) concerning the case Cyprus against Turkey, DH-DD(2015)524E, 20.05.2015, Ziff. 8. 82 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 23+24, 12.06.2015, Ziff. 1. 83 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 23+24, 12.06.2015, Ziff. 2. 84 EGMR, Urteil vom 10.05.2001 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Merits, §§ 165 ff., Tenor Ziff. III. 85 EGMR, Urteil vom 22.12.2005 – No. 46347 / 99, Xenides-Arestis / Türkei. 86 EGMR, Beschluss vom 01.03.2010 – No. 46113 / 99 u. a., Demopoulos u. a. / Türkei, § 35 ff., 50. 87 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH(2007)25, 04.04.2007.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme119
nicht zunächst die Immovable Property Commission angerufen und damit nicht den innerstaatlichen Rechtsweg im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EMRK ausgeschöpft hätten.88 Aus diesem Argument schlossen sowohl die Türkei89 als auch das Sekretariat des Ministerkomitees90 unter dem Protest Zyperns, dass mit der Einrichtung der Immovable Property Commission der in dem Urteil Zypern / Türkei in diesem Zusammenhang festgestellten Konventionsverletzungen abgeholfen sei.91 Das führte zu Meinungsverschiedenheiten und Unsicherheit unter den Vertreterinnen und Vertretern im Ministerkomitee, wie mit Demopoulos u. a. / Türkei umzugehen sei.92 Hinzu kam die Ankündigung der Türkei im September 2011, nicht weiter im Ministerkomitee in allen Fragen zu Nordzypern zu kooperieren, wenn die Überwachung des Komitees zu dem Komplex Häuser und unbewegliches Eigentum nicht abgeschlossen werde.93 Damit wurde das Ministerkomitee in dieser Frage praktisch handlungsunfähig.94 Zypern entschied, den EGMR erneut wegen der Entschädigung anzurufen und bat das Ministerkomitee im Dezember 2011, die Überprüfung dieses Komplexes bis zu einer Entscheidung zu unterbrechen.95 Gleichzeitig forderte das Ministerkomitee die türkische Vertretung im Komitee ausdrücklich auf, vollständig mit dem Komitee zu kooperieren.96 In seinem Entschädigungsurteil zu Zypern / Türkei machte der EGMR jedoch klar, dass er sich in Demopoulos u. a. / Türkei nicht dazu positioniert hatte, ob der Mechanismus diesen Komplex des Haupturteils Zypern / Türkei umsetze, sondern sich nur dahingehend ausgesprochen habe, dass vor der 88 EGMR, Beschluss vom 01.03.2010 – No. 46113 / 99 u. a., Demopoulos u. a. / Türkei, § 127. 89 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, § 13. 90 Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)21, 17.05.2010; Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2010)36, 02.09.2010. 91 So auch Wittling-Vogel, in: Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2014, S. 103 (110). 92 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, § 13; Committee of Ministers, DH-DD(2011)1075E, Communication from the government of Cyprus in the case of Cyprus against Turkey, 25.11.2011. 93 Committee of Ministers, DH-DD(2011)1075E, Communication from the government of Cyprus in the case of Cyprus against Turkey, 25.11.2011; EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque, joined by Judge Vučinić, § 22. 94 Committee of Ministers, DH-DD(2011)1075E, Communication from the government of Cyprus in the case of Cyprus against Turkey, 25.11.2011; EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque, joined by Judge Vučinić, § 22. 95 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1128 / 20, 06.12.2011, Ziff. 1. 96 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1128 / 20, 06.12.2011, Ziff. 4.
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
Einlegung einer Beschwerde beim EGMR zunächst die Immovable Property Commission angerufen werden müsse.97 Daraufhin wurde der Komplex des Eigentums der vertriebenen griechischen Zyprioten zwar wieder Gegenstand der Überwachung durch das Ministerkomitee, jedoch noch nicht wieder vom Ministerkomitee behandelt.98 b) Implizite Beurteilung des Ministerkomitees in Zypern / Türkei Mit dem Urteil wurde zwar de jure über die Entschädigungsfragen von Zypern / Türkei entschieden, de facto ähnelt das Urteil aber einer Entscheidung in einer Folgebeschwerde bei unterlassener Umsetzung des Ersturteils.99 Mit dem Urteil und seiner hohen zugesprochenen Entschädigungssumme rügt der EGMR die fehlende Umsetzung des Urteils in der Hauptsache. In dem konkreten Verweis auf Demopoulos u. a. / Türkei kritisiert er zudem die mangelnde Überwachung des Komplexes Häuser und unbewegliches Eigentum durch das Ministerkomitee. Die Entschädigung geht auch auf das Scheitern des Ministerkomitees zurück, in den 13 Jahren zwischen den beiden Urteilen die Umsetzung des Hauptsacheurteils herbeizuführen. So bringt die zypriotische Regierung in dem Verfahren vor, dass das Verfahren auf der Einsicht beruhe, von der Arbeit des Ministerkomitees keinen Erfolg mehr zu erwarten.100 Richter Pinto de Albuquerque stimmt dem zu und spricht in seiner gesonderten Stellungnahme von der „Impotenz“ des Ministerkomitees.101 3. Eigentumsrechte der im Nordteil lebenden griechischen Zyprioten
Darin, dass das Eigentum der im Nordteil lebenden griechischen Zyprioten bei dauerhaftem Verlassen des Gebiets nicht gesichert ist und im Todesfall auch nicht das Erbrecht der im Südteil lebenden Verwandten anerkannt ist, liegt nach dem EGMR eine Verletzung von Art. 1 des 1. ZP zur EMRK.102 97 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, § 63. 98 Die Diskussion des Komplexes bei den Treffen im März 2015 hat das Ministerkomitee noch im Dezember 2014 angekündigt, dem wurde jedoch keine Folge geleistet, Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1214 / 23, 05.12.2014. 99 Zu Folgebeschwerden siehe Teil 4 § 1 B. 100 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, § 13. 101 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque, joined by Judge Vučinić, § 9. 102 EGMR, Urteil vom 10.05.2001 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Merits, § 269 f., Tenor Ziff. IV 9.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme121
Das Ministerkomitee hat die Frage infolge des Hauptsacheurteils Zypern / Türkei regelmäßig besprochen.103 Zur Umsetzung dieses Komplexes sind sich Zypern und die Türkei jedoch uneinig. Während die Türkei davon ausgeht, dass dieser Teil des Urteils umgesetzt sei und die Überwachung durch das Ministerkomitee abgeschlossen werden sollte, meint Zypern, dass die bisherigen Umsetzungsmaßnahmen nicht ausreichend seien.104 Das Ministerkomitee hat die Widersprüche zuletzt 2013 zur Kenntnis genommen und die Parteien gebeten, weitere Informationen vorzulegen.105 Die Parteien leisteten der Aufforderung zwar Folge,106 das Komitee hat die Diskussion des Komplexes jedoch wiederholt vertagt.107 4. Entschädigungszahlungen aus dem Urteil Zypern / Türkei
In dem Entschädigungs-Urteil von 12.05.2014 sprach der Gerichtshof den Betroffenen insgesamt 90 Mio. Euro zu, davon 30 Mio. Euro für die Verwandten verschwundener Personen108 und 60 Mio. Euro für den erlittenen Schaden der im Nordteil lebenden griechischen Zyprioten.109 Die Türkei sollte die Zahlung innerhalb von drei Monaten leisten,110 hat jedoch ihre Verpflichtung bislang nicht erfüllt.111 Der türkische Außenminister hatte am Tag nach dem Urteil bereits angekündigt, dass die Türkei die Entschädigung nicht zahlen würde.112 Die Reaktion des Ministerkomitees bestand bislang 103 Übersicht der Überwachung durch das Ministerkomitee bis 2008 in Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2008)6, 05.09.2008, Ziff. C. 104 Übersicht der Positionen in der Übersicht des Sekretariats des Ministerkomitees von 2013 in Committee of Ministers, CM / Inf / DH(2013)23, 13.05.2013. 105 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2013)1172 / 22, 06.06.2013; Ziff. 2 f. 106 Committee of Ministers, DH-DD(2014)697E, Communication from Cyprus concerning the case Cyprus against Turkey, 22.05.2014; Committee of Ministers, DHDD(2014)722E, Communication from Turkey concerning the case Cyprus against Turkey, 02.06.2014; Committee of Ministers, DH-DD(2014)1414E, Communication from Cyprus (18 / 11 / 2014) concerning the case Cyprus against Turkey, 19.11.2014; Committee of Ministers, DH-DD(2014)1446E, Communication from Turkey (25 / 11 / 2014) concerning the case Cyprus against Turkey, 26.11.2014. 107 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 21, 24.09.2015, Ziff. 2; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1243 / H46-20, 08.–09.12.2015. 108 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Tenor Ziff. 4 (a). 109 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Tenor Ziff. 5 (a). 110 EGMR, Urteil vom 12.05.2014 – No. 25781 / 94, Zypern / Türkei, Just Satisfaction, Tenor Ziff. 4 (a), 5 (a). 111 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 21, 24.09.2015, Ziff. 4. 112 Hürriyet Daily News, „Turkey will ignore ECHR ruling to pay compensation to Greek Cyprus“, 13.05.2015, http: / / www.hurriyetdailynews.com / turkey-will-not-
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
darin, die Türkei im Juni und September 2015 an ihre „bedingungslose Verpflichtung“ zur Zahlung zu erinnern und sie aufzufordern, der Zahlung nachzukommen.113 III. Fazit Das Ministerkomitee hat sich regelmäßig in den vergangenen fünfzehn Jahren mit der Umsetzung des Urteils ausführlich auseinandergesetzt, die Türkei immer wieder angemahnt, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und sich immerhin nicht mit den unzureichenden Maßnahmen der Türkei zufrieden gegeben, zudem sind 2005 und 2007 Interim-Resolutionen ergangen. Dabei ist es dem Ministerkomitee jedoch nicht gelungen, die Türkei zu einer vollumfänglichen Umsetzung zu bewegen. Die Türkei hat sich Umsetzungsmaßnahmen immer wieder widersetzt und auch auf die Interim-Resolutionen nicht reagiert. Das Ministerkomitee hat aber auch kein über das übliche Maß hinausgehendes Engagement gezeigt.114 Gerade in dem vorliegenden Fall, der systematische, schwerwiegende Konventionsverletzungen zum Gegenstand hat, ist die Anwendung weitergehender Druckmittel erforderlich. Der Fall illustriert im Übrigen die Unterschiede bei der Umsetzung einer Staatenbeschwerde im Gegensatz zu einer Individualbeschwerde: Bei einer Staatenbeschwerde ist der Beschwerdeführer ebenfalls im Ministerkomitee vertreten und kann Einfluss auf das Umsetzungsverfahren ausüben. Die Fortschritte bei der Umsetzung sind mehr auf den Druck Zyperns, unterstützt durch das Engagement von Nichtregierungsorganisationen, zurückzuführen als auf die Arbeit des Ministerkomitees.
C. Nordkaukasus und Russland (Khashiyev und Akayeva-Gruppe) Die Urteile rund um den Nordkaukasus und Russland zeigen, wie einer der neuen Mitgliedstaaten durch politischen Widerstand die Behebung eines strukturellen Problems verhindert. Nach der Problemstellung (I.), wird der Gang der Überwachung durch das Ministerkomitee vorgestellt (II.) und ein Fazit gezogen (III.). pay-compensation-to-greek-cyprus-fm-davutoglu.aspx?pageID=238&nID=66395&Ne wsCatID=510 (Stand: 28.02.2018). 113 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 23+24, 12.06.2015, Ziff. 8; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 21, 24.09.2015, Ziff. 4. 114 Zu dem Druck der EU, der zu der Entschädigungszahlung bei Loizidou / Türkei geführt hat, siehe Teil 2 § 2 B. II. 2. d) aa) (1).
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme123
I. Problemstellung Grundlage der Khashiyev- und Akayeva-Fallgruppe sind hauptsächlich Fallkonstellationen, die auf Konventionsverletzungen durch russische Sicherheitskräfte in Tschetschenien im Zeitraum zwischen 1996 und 2006 zurückgehen. Insgesamt hat der EGMR bisher 250 Urteile gefällt, in denen Konventionsverletzungen im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt festgestellt worden sind.115 Die Khashiyev- und Akayeva-Gruppe umfasst 221 dieser Urteile.116 Das Lead-Urteil Khashiyev und Akayeva / Russland erging 2005,117 die übrigen Urteile der Gruppe zwischen 2005 und 2013.118 Die Urteile haben ein breites Spektrum von Konventionsverlet zungen zum Gegenstand. Sie reichen von unrechtmäßiger Gewaltanwendung, Verschwindenlassen, unbestätigter Inhaftierung, Folter und Misshandlung zu unrechtmäßigen Fahndungs- und Festnahmehandlungen, Zerstörung von Eigentum, fehlenden Ermittlungen der mutmaßlichen Rechtsverletzungen und in dieser Hinsicht fehlenden wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfen (Art. 2, 3, 5, 6, 8, 13 EMRK und Art. 1 des 1. ZP zur EMRK). II. Gang und Gegenstand der Überwachung der Umsetzung durch das Ministerkomitee Während das Ministerkomitee sich zunächst auch mit der Ausbildung von Sicherheitskräften und dem 2006 erlassenen Gesetz „zur Unterdrückung des Terrorismus“ beschäftigte,119 stehen seit 2008 die Fortschritte bezüglich der Durchführung effektiver polizeilicher Ermittlungen im Zentrum der Urteilsüberwachung.120 In seiner Interim-Resolution von 2011 äußerte sich das Komitee besorgt über die mangelnden Fortschritte bei den Ermittlungen und drängte die russischen Behörden, ihre Bemühungen bei der Durchführung von unabhängigen und sorgfältigen Ermittlungen zu steigern sowie die not-
115 European Court of Human Rights, Factsheet – Armed Conflict, S. 7, http: / / www.echr.coe.int / Documents / FS_Armed_conflicts_ENG.pdf (Stand: 08.10.2015). 116 Committee of Ministers, Khashiyev and Akayeva group against the Russian federation, 1222nd meeting (March 2015), CM / Del / OJ / DH(2015)1222list2. 117 EGMR, Urteil vom 24.02.2005 – No. 57942 / 00 u. a., Kashiyev und Akayeva / Russland. 118 Committee of Ministers, Khashiyev and Akayeva group against the Russian federation, 1222nd meeting (March 2015), CM / Del / OJ / DH(2015)1222list2. 119 Annual Report 2007, S. 34. 120 Siehe auch Annual Report 2011, S. 54; Annual Report 2012, S. 73.
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wendigen Maßnahmen zur Intensivierung der Suche nach verschwundenen Personen zu ergreifen.121 Der EGMR stellte 2012 in dem Urteil Aslakhanova u. a. / Russland fest, dass die wirkungslosen polizeilichen Ermittlungen der russischen Behörden zu den Umständen des Verschwindens von Personen in der Region ein „systemisches Problem“ darstellen122 und machte deutlich, dass bei den Fällen, in denen vermutet wird, dass Entführungen von staatlichen Soldaten durchgeführt worden sind, eine fristgebundene Strategie oder ein action plan notwendig seien.123 Das Ministerkomitee drängte Russland, die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs bei der Neugestaltung seiner Umsetzungsstrategie zu berücksichtigen124 und richtete seine Kontrolle nach den Vorgaben des Gerichtshofs aus, aufgeteilt in die Komplexe Ermittlungstätigkeit der russischen Behörden (1.) und die Situation der Opfer und ihrer Angehörigen (2.). 1. Ermittlungen der russischen Behörden
Bei dem Umsetzungskomplex „Ermittlungen der russischen Behörden“ sind Maßnahmen bezüglich der Kontrolle polizeilicher Ermittlungen und der Staatsanwaltschaft [a)], der Art und Weise der polizeilichen Ermittlungen [b)] sowie der Probleme mit den Verjährungsfristen [c)] und der Begnadigung / Straflosigkeit [d)] notwendig. a) Kontrolle der polizeilichen Ermittlungen und der Staatsanwaltschaft In den Jahren 2009 und 2010 hat das Ministerkomitee eine Reihe von organisatorischen Maßnahmen positiv zur Kenntnis genommen, die von russischer Seite zwecks einer besseren Kontrolle der Polizei und Staatsanwaltschaft eingeführt worden waren. Darunter fallen die Einführung einer „special investigation unit“,125 ein Rundschreiben, wonach alle Staatsanwältinnen und Staatsanwälte den Vorgaben des EGMR bei der Überwachung innerstaat-
121 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)292, 02.11.2011, Ziff. 4 b. 122 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 216 ff. 123 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 232. 124 Annual Report 2014, S. 102. 125 Annual Report 2009, S. 104; Annual Report 2010, S. 113.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme125
licher Ermittlungen direkte Wirkung zukommen lassen sollen,126 sowie Änderungen der staatsanwaltschaftlichen Befugnisse, wodurch die Ermittlungsbehörden von der für die Überwachung der Rechtmäßigkeit der Ermittlungen zuständigen Staatsanwaltschaft getrennt wurden.127 b) Art und Weise der polizeilichen Ermittlungen Die Art und Weise, nach denen die polizeilichen Ermittlungen zu den Fällen des Verschwindenlassens durchgeführt werden, wurden vom EGMR nicht nur in den ursprünglichen Beschwerden, sondern auch in Folgefällen gerügt. So stellte der EGMR 2010 im Urteil Abuyeva u. a. / Russland fest, dass die Umsetzung des Urteils Isayeva / Russland128 erfolglos geblieben sei, da auch die erneuten Ermittlungen infolge der Verurteilung durch den EGMR nicht den Konventionsstandards entsprechen würden.129 Zwar wurden auch die Ermittlungen infolge des Abuyeva-Urteils wieder eingestellt, jedoch wurde diese Entscheidung aufgehoben und der Fall zwecks zusätzlicher Ermittlungen zurückgeschickt.130 Das Ministerkomitee rief die russischen Behörden dazu auf, sicherzustellen, dass sich diese Ermittlungen nunmehr mit den mehrmals vom Gerichtshof ermittelten Mängeln befassen.131 Das Urteil Aslakhanova u. a. / Russland präzisierte die notwendigen Maßnahmen (auf die sich das Ministerkomitee auch nunmehr beruft132): Zwar werden eine Reihe von Militär- und Sicherheitsdienste verdächtigt, an den Einsätzen beteiligt gewesen zu sein, es war jedoch aus einer Vielfalt von Organisations- und Vertraulichkeitsgründen sehr schwer, spezifische Informationen zu erhalten.133 Daher müsste, um wirkungsvolle polizeiliche Ermittlungen durchführen zu können, die ermittelnde Behörde die maßgeb lichen Dienste und die befehlshabenden Offiziere der Spezialeinsätze identi-
126 Annual
Report 2009, S. 104. Report 2010, S. 113. 128 EGMR, Urteil vom 24.02.2005 – No. 57950 / 00, Isayeva / Russland; das Urteil wird innerhalb der Khashiyev und Akayeva-Gruppe umgesetzt, s. Pending cases: current state of execution: Isayeva v. Russia, http: / / www.coe.int / t / dghl / monitoring / exe cution / Reports / pendingCases_en.asp (Stand: 11.03.2016). 129 EGMR, Urteil vom 12.10.2010 – No. 27065 / 05, Abuyeva u. a. / Russland, § 210. 130 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1150 / 19, 26.09.2012, Ziff. 10. 131 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1150 / 19, 26.09.2012, Ziff. 11. 132 Annual Report 2014, S. 102. 133 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 233. 127 Annual
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fizieren.134 Zudem sei ein ungehinderter Zugang der Ermittler zu den maßgeblichen Unterlagen der Militär- und Sicherheitsdienste nötig.135 Ebenfalls müsse sichergestellt sein, dass erstens die Ermittlungen und deren Über wachung nicht denjenigen anvertraut werden, die verdächtigt werden, in die fraglichen Vorkommnissen verwickelt zu sein,136 und zweitens, dass die Angehörigen der Opfer bei vertagten Ermittlungen Zugang zu den Fallakten erhielten.137 In den darauffolgenden Jahren bedauerte das Ministerkomitee zu dieser neuen Ermittlung keine Informationen erhalten zu haben und forderte die russischen Behörden wiederholt auf, detaillierte Informationen zu liefern.138 c) Verjährungsfristen 2011 begann das Ministerkomitee sich mit Verjährungsfristen zu beschäftigen: In seiner ersten Interim-Resolution ermunterte das Komitee die russischen Behörden, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um abzusichern, dass die Verjährungsfristen keine negative Auswirkung auf die vollständige Umsetzung der Urteile des EGMR haben würden.139 Auch 2012 erinnerte das Ministerkomitee an das Risiko, dass mit der Zeit die Straftäter wegen Verjährung nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könnten;140 das Ministerkomitee ging insbesondere bei dem Treffen im September 2012 darauf ein, dass sich eine Strategie zur Vermeidung von Straflosigkeit notwendigerweise auch mit Auswirkung der Verjährungen auf die innerstaatlichen Ermittlungen befassen müsste.141 Danach hat auch der Gerichtshof im Urteil Aslakhanova u. a. / Russland noch einmal das Problem der Verjährungsfristen hingewiesen; die Einstellung von laufenden Ermittlungen zu Entführungen allein wegen der Verjährung hält er aufgrund der Ernsthaftigkeit der Straf taten, der großen Anzahl der betroffenen Personen und der anwendbaren 134 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 233. 135 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 234. 136 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 235. 137 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 236. 138 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1193 / 17, 06.03.2014, Ziff. 9; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1222 / 14, 12.03.2015, Ziff. 6. 139 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)292, 02.12.2011. 140 Annual Report 2012, S. 73 f. 141 Committee of Ministers, CM / Del / DC(2012)1150 / 19, 26.09.2012, Ziff. 5; Annual Report 2012, S. 74.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme127
rechtsstaatlichen Prinzipien für unvereinbar mit Art. 2 EMRK.142 Daraufhin erinnerte das Ministerkomitee Russland 2014 und 2015 erneut an die Problematik mit den Verjährungsfristen.143 d) Begnadigung / Straflosigkeit 2012 drückte das Komitee tiefe Besorgnis über erteilte Begnadigungen aus und forderte die Behörden auf, eine umfassende Strategie gegen Straflosigkeit zu entwickeln, wobei sie sich neben der Auswirkung des Ablaufs von Verjährungsfristen (s. o.) unter anderem auch mit der Anwendung des Gesetzes zur Begnadigung befassen müssten.144 Bei dem human rights meeting im März 2014 wiederholte das Ministerkomitee seine Besorgnis bezüglich der Anwendung von Begnadigungsgesetzen.145 2. Situation der Opfer und ihrer Angehörigen
Zu dem Bereich der Situation der Opfer und ihrer Angehörigen gehören die Suche nach den verschwundenen Personen [a)], die Beteiligung der Opfer an den Ermittlungen [b)] und die Entschädigungszahlungen an die Opfer und ihre Familien [c)]. a) Suche nach verschwundenen Personen Das Ministerkomitee blieb in seiner Interim-Resolution von 2011 vage, indem es die russischen Behörden lediglich drängte, schnell die „notwendigen Maßnahmen“ zur verstärkten Suche nach verschwundenen Personen zu ergreifen.146 Zusätzlich forderte das Ministerkomitee im Juni 2012 von den Behörden, Informationen zur Nutzung von DNA-Tests in diesen Ermittlungen vorzulegen.147 2014 wurde das Ministerkomitee in seinen Forderungen sowohl konkreter als auch nachdrücklicher, indem es die russischen Behörden dazu drängte, zu erwägen, eine einzelne, mit der Suche nach verschwundenen Personen beauftragte, Institution auf höchster Ebene zu schaffen und 142 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 237. 143 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1193 / 17, 06.03.2014, Ziff. 6; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1222 / 14, 12.03.2015, Ziff. 4. 144 Committee of Ministers, CM / Del / DC(2012)1150 / 19, 26.09.2012, Ziff. 4 f.; Annual Report 2012, S. 74. 145 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1193 / 17, 06.03.2014, Ziff. 6. 146 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)292, 02.12.2011. 147 Committee of Ministers, CM / Del / DC(2012)1144 / 19, 06.06.2012, Ziff. 5.
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die für eine großangelegte forensische und wissenschaftliche Arbeit in einem zentralisierten und unabhängigen Apparat erforderlichen Mittel bereitzustellen.148 Die Idee einer solchen Institution war 2012 vom EGMR im Urteil Aslakhanova u. a. / Russland aufgebracht worden,149 der den Vorschlag wiederum vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes aufgegriffen hatte.150 Das Gremium soll uneingeschränkten Zugang zu allen relevanten Informationen erhalten und mit dem Vertrauen und unter der Mitbeteiligung der Verwandten der Verschwundenen arbeiten,151 zudem eine Datenbank aller verschwundenen Personen erstellen und pflegen, die so bisher nicht existierte.152 Im September wurde das Ministerkomitee in seiner Sprache sogar unüblich deutlich, indem es darauf bestand, dass die Behörden unverzüglich die notwendigen Maßnahmen zur Schaffung dieser Institution ergreifen.153 2015 erließ das Ministerkomitee dann eine zweite Interim-Resolution, mit der es Russland nachdrücklich dazu aufrief („strongly urges“), die geforderte Institution zu schaffen.154 Die russische Regierung ignorierte die Forderung jedoch, was ihr wiederum Kritik vom Ministerkomitee einbrachte.155 Auch die verstärkte Hinwirkung auf forensische und wissenschaftliche Untersuchungen geht auf das Urteil Aslakhanova u. a. / Russland zurück: Darin stellte der EGMR fest, dass zu den notwendigen Maßnahmen die Zuweisung von Ressourcen gehöre, um die großräumigen forensischen und wissenschaftlichen Arbeiten (darunter den Standortbestimmung und die Exhumierung von vermuteten Grabstätten; die Erfassung, Lagerung und Identifizierung der sterblichen Überreste, und wenn notwendig die systematische Abgleichung mit aktuellen genetischen Datenbanken) vor Ort durchführen zu können.156 Russland legte im Juli 2015 einen aktualisierten action plan vor,
148 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1193 / 17, 06.03.2014, Ziff. 5; Annual Report 2014, S. 102. 149 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 225. 150 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 77. 151 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 225. 152 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 225. 153 „[…] [T]he CM insisted that the authorities take, without delay […] the necessary measures to create the single and high level body called for“, Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1208 / 17, 25.09.2014, Ziff. 2. 154 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2015)45, 12.03.2015. 155 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 15, 24.09.2015, Ziff. 4. 156 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 226.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme129
in dem es auf die bereits bestehenden Institutionen mit diesem Zuständigkeitsbereich einging.157 b) Beteiligung der Opfer an den Ermittlungen Das Ministerkomitee wies wiederholt darauf hin, dass den Opfern Rechtsmittel bei uneffektiven innerstaatlichen Ermittlungen zwar zur Verfügung stünden, es jedoch von deren Praxiswirkung nicht überzeugt sei.158 So „ermunterte“ das Komitee auch die russischen Behörden in seiner ersten Interim-Resolution, die den Opfern zustehenden Rechtsmittel im nationalen Recht zu erweitern.159 Im Urteil Aslakhanova u. a. / Russland ging das Gericht ebenfalls auf die Beteiligung der Opfer ein und schlug vor, dass die Regierung den Angehörigen zumindest zugestehen müsste, neben einer Entschädigung auch den Konventionsstandards entsprechende Ermittlungen durchzuführen.160 c) Entschädigungszahlungen an die Opfer und ihre Familien Das Ministerkomitee nahm in den Jahren 2007161 und 2008162 positive Entwicklungen im Fallrecht zur Entschädigung von Opfern bezüglich der Zerstörung von Eigentum und des Verschwindens von Verwandten zur Kenntnis. Infolge des Urteils Aslakhanova u. a. / Russland von 2012, in dem der Gerichtshof finanzielle Entschädigungen für die Familien von Verschwundenen anmahnte,163 drängte das Ministerkomitee die russischen Behörden 2014, ihre Bemühungen bei der Verbesserung der Verfahren bei Entschädigungszahlung des Staates an die Familien der Opfer zu verbessern.164
157 Committee of Ministers, DH-DD(2015)773E, Updated Action plan (17 / 07 / 2015) – Communication from the Russian Federation concerning the case of Khashiyev and Akayeva Group and others against the Russian Federation, 24.07.2015. 158 Annual Report 2009, S. 104; Annual Report 2010, S. 113. 159 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)292, 02.11.2011. 160 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 228. 161 Annual Report 2007, S. 34. 162 Annual Report 2008, S. 101. 163 EGMR, Urteil vom 18.12.2012 – No. 2944 / 06 u. a., Aslakhanova u. a. / Russland, § 227. 164 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014) / 1193 / 17, 06.03.2014, Ziff. 5.
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
III. Bewertung Bei der Bewertung sind zum einen das Verhalten Russlands (1.) und zum anderen die Reaktionen des Ministerkomitees (2.) zu betrachten. 1. Die Umsetzung der Tschetschenien-Urteile durch Russland
Das Verhältnis zwischen Russland und dem Europarat war wegen der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien schon seit Beginn der Mitgliedschaft angespannt, als die Parlamentarische Versammlung dem Ministerkomitee gegenüber anregte, Russland wieder aus dem Europarat auszuschließen.165 Grundsätzlich bestehen in Russland bei der Umsetzung der Urteile des EGMR einige strukturelle Hindernisse. Russland betreibt im Allgemeinen eine sogenannte „A-la-carte“- Umsetzung166 der EGMR-Urteile. Das heißt, dass die Regierung den Opfern die Entschädigung zahlt, aber nicht die notwendigen individuellen und generellen Maßnahmen durchführt, um die konventionswidrige Situation nachhaltig zu ändern.167 Die Opfer sind oftmals mit der Entschädigungszahlung zufriedengestellt und wagen nicht, bei den russischen Behörden auf die Durchführung von generellen Maßnahmen zu drängen.168 Die „A-la-carte“- Umsetzung zeigt sich auch dadurch, dass sich Russland bei den Tschetschenien-Fällen im Ministerkomitee zwar nicht verweigert und action plans vorlegt, dann aber nicht die notwendigen Umsetzungsschritte ergreift. Hinzu kommt, dass auf innerstaatlicher Ebene die Institutionen fehlen, die sich der Exekutive widersetzen.169 Erstens werden die Richterinnen und Richter an den russischen Gerichten nicht ausreichend auf Inhalt und Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung aufmerksam gemacht170 und ermuntert, mit Menschenrechtsverletzungen auf innerstaatlicher Ebene umzugehen statt den 165 Parliamentary Assembly, Rec. 1456, 06.04.2000, Ziff. 24.2; Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 114 f. 166 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 115. 167 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 115 m. w. N. 168 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 120. 169 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 116. 170 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 117.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme131
Vorgaben des EGMR zu folgen.171 Zweitens hat der Gesetzgeber kaum Möglichkeiten, die Exekutive wegen fehlender Umsetzung der EGMR-Urteile zur Verantwortung zu ziehen.172 Drittens werden Nichtregierungsorganisationen und Journalisten direkt oder indirekt davon abgehalten, Einfluss zu nehmen.173 Nichtregierungsorganisationen bilden jedoch trotzdem noch eine wichtige Gegenkraft im Ministerkomitee, da sie durch die regelmäßige Vorlage von Berichten eine weitere Informationsquelle liefern. Viertens wird zukünftig auch zum Tragen kommen, dass infolge einer Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 14. Juli 2015 und einem inhaltsgleichen Gesetz vom 15. Dezember 2015 Urteile des EGMR nur noch umgesetzt werden müssen, wenn sie nicht gegen russisches Verfassungsrecht verstoßen.174 2. Reaktionen des Ministerkomitees
Einerseits ist festzustellen, dass das Ministerkomitee die Umsetzung der Tschetschenien-Fälle ernst nimmt, da es sich regelmäßig sehr ausführlich mit der Umsetzung dieser Urteilsgruppen beschäftigt, stets bei den russischen Behörden nachgehakt und vergleichsweise umfangreiche Entscheidungen getroffen hat. Andererseits sind die Forderungen des Ministerkomitees zunächst vage ausgefallen; erst seit Aslakhanova u. a. / Russland stellt das Komitee präzise, aus dem Urteil hervorgehende Forderungen. Des Weiteren sind zwei Interim-Resolutionen im Licht der Schwere und Fortdauer der Konventionsverletzungen zu wenig. Zudem haben die Interim-Resolutionen bei den russischen Behörden auch keine erkennbare Wirkung gezeigt. Weitere Druckmittel sind dringend notwendig, um die Umsetzung der Urteile sicherzustellen.
171 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 117. 172 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 117. 173 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 118 f. 174 EJIL: Talk!, „Russia Defies Strasbourg: Is Contagion Spreading?“, 19.12.2015, http: / / www.ejiltalk.org / russia-defies-strasbourg-is-contagion-spreading / (Stand: 28.02.2018); Bundeszentrale für politische Bildung, „Analyse: Russland und der EGMR: Mitgliedschaft mit eigenen Regeln“, 06.11.2015, http: / / www.bpb.de / interna tionales / europa / russland / 215139 / analyse-russland-und-der-egmr-mitgliedschaft-miteigenen-regeln (Stand: 28.02.2018).
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D. Wahlregelungen von Bosnien-Herzegowina (Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina) Die Umsetzung des Urteils Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina betrifft die Wahlregelungen in einem neuen Mitgliedstaat. Nach der Problemstellung (I.), wird der Gang der Überwachung durch das Ministerkomitee vorgestellt (II.) und ein Fazit gezogen (III.). I. Problemstellung Das Verfahren beruhte auf den Individualbeschwerden der Herren Sejdić und Finci. Die Beschwerdeführer rügten, dass sie als Roma beziehungsweise Jude nicht für die Volksgruppenkammer und die Präsidentschaft kandidieren können, da dies gemäß der bosnischen Verfassung nur Bosniaken, Serben und Kroaten vorbehalten ist. In dem Urteil vom 22. Dezember 2009 gab der EGMR den Beschwerdeführern Recht und stellte Verletzungen von Art. 14 EMRK mit Art. 3 des 1. ZP zur EMRK und Art. 1 des 12. ZP zur EMRK fest. Zur Umsetzung des Urteils ist eine Änderung der Verfassung insofern notwendig, dass das passive Wahlrecht allen Bevölkerungsgruppen zugesprochen wird. Bereits vor dem Urteil des EGMR hatte sich der Staat gegenüber der Venedig-Kommission175 und der EU176 verpflichtet, sein Wahlrecht zu ändern. Bedeutsam ist, dass die Verfassung und die Aufteilung des politischen Lebens zugunsten der Bosniaken, Serben und Kroaten auf dem Abkommen von Dayton beruht, mit dem 1995 der Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet wurde. Die Umsetzung des Urteils bedeutet also gleichzeitig, einen Eingriff in die sensiblen Fragen des Friedensprozesses vorzunehmen. II. Gang der Überwachung Die Vertreterinnen und Vertreter der einzelnen Bevölkerungsgruppen konnten sich bisher nicht auf neue, mit der EMRK vereinbare Regelungen einigen. So wurde zwar nach wiederholter Aufforderung durch das Ministerkomitee 2011 eine „Joint Interim Commission for the Implementation of the 175 EGMR, Urteil vom 22.12.2009 – Nos. 27996 / 06 u. a., Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina, § 21 f. 176 Beschluss des Rates vom 18.02.2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Europäischen Partnerschaft mit Bosnien und Herzegowina und zur Aufhebung des Beschlusses 2006 / 55 / EG (2008 / 211 / EKG), Anhang, Abl. L. 80 / 18 vom 19.03.2008; EGMR, Urteil vom 22.12.2009 – Nos. 27996 / 06 u. a., Sejdić und Finci / Bosnien und Herzegowina, § 25.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme133
Sejdić and Finci judgment of the Parliamentary Assembly of the Bosnia and Herzegovina“ eingesetzt.177 Die Fristen, zu denen Gesetzes- und Verfassungsänderungen präsentiert werden sollten, wurden jedoch nicht eingehalten, weil zwischen den Parteien keine Einigung erzielt werden konnte.178 Nachdem nach Ablauf der Fristen im Juni 2012 eine Einigung zustande kam und beschlossen wurde, bis zum 31. August 2012 einen Entwurf vorzulegen und die Verfassung zum 30. November 2012 zu ändern,179 folgten wiederum keine Taten.180 Ein Entwurf für die nötigen Gesetzes- und Verfassungsänderungen liegt immer noch nicht vor. Das Ministerkomitee hat in den Jahren 2011, 2012 und 2013 jeweils eine Interim-Resolution erlassen, in denen Bosnien-Herzegowina in einem stets schärfer werdenden Ton zur Umsetzung des Urteils aufgefordert181 und an die Verpflichtungen erinnert wurde, die es mit dem Beitritt zum Europarat eingegangen war.182 Ziel war, für eine konventionsgemäße Anpassung des Wahlrechts bis zu den Wahlen 2014 zu sorgen, nachdem bereits die Wahlen 2010 konventionswidrig abgehalten worden waren. Die Wahlen im Jahr 2014 entsprachen jedoch erneut nicht den Standards der EMRK.183 Neue Bewegung kam Ende 2014 in den Umsetzungsprozess, als Bosnien und Herzegowina mit Zustimmung des Staatspräsidiums, der politischen Führung und des Parlaments im Rahmen der EU-Beitrittsbestrebungen eine schriftliche Verpflichtung unterzeichnete, die notwendigen Reformen zur Umsetzung des Sejdić und Finci-Urteils durchzuführen.184 Die Unterzeichnung wurde auch vom Ministerkomitee positiv aufgegriffen;185 das Komitee ermunterte die Behörden und die politische Führung, dem Verpflichtungs erklärung konkrete Ergebnisse folgen zu lassen186 und forderte regelmäßige Informationen über die nächsten Schritte sowie einen Zeitplan.187 Das Minis177 Committee
of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)291, 02.12.2011. of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1136, B. No. 2, 13.03.2012. 179 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1147, Item H46-1, 10.07.2012. 180 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1150, B. No. 7, 28.09.2012; Annual Report 2012, S. 127. 181 So zum Beispiel von „reiterates ist call“, „encourages“, „invites“ im Jahr 2011 zu „firmly recalls“ und „strongly urges“ im Jahr 2012, siehe Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)291, 02.12.2011; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2012)233, 06.12.2012. 182 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2011)291, 02.12.2011. 183 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1214 / 4, 04.12.2104, Ziff. 1. 184 Siehe ausführlich zu dem Einfluss der EU auf das Umsetzungsverfahren Teil 2 § 2 B. II. 2. d). 185 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 7, 11.06.2015, Ziff. 1. 186 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 7, 11.06.2015, Ziff. 2. 187 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1230 / 7, 11.06.2015, Ziff. 3. 178 Committee
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terkomitee hatte das Land bereits in zwei der Interim-Resolutionen an seine Verpflichtungen in Hinsicht eines zukünftigen EU-Beitritts erinnert.188 Im Übrigen hatte das Ministerkomitee 2012 beschlossen, die Umsetzung des Urteils zukünftig bei jedem human rights meeting zu behandeln.189 Dabei war stets ein drängender Ton angeschlagen und die fehlenden Fortschritte bedauert.190 Zudem war sogar der bosnische Justizminister in das Ministerkomitee geladen worden.191 Darüber hinaus ergingen zwei Erklärungen des jeweiligen Vorsitzes des Ministerkomitees, in denen die jeweiligen Vorsitzenden Bosnien und Herzegowina ermahnten, die Reform rasch durchzusetzen.192 Auch seitens der Parlamentarischen Versammlung wurde appelliert, das Urteil umzusetzen.193 III. Fazit In Bosnien und Herzegowina ist zwar bisher keine Einigung zustande gekommen, die Parteien versuchen aber immerhin offiziell, ein Einverständnis herzustellen. Im Übrigen haben die bosnischen Behörden zwei action plans 188 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2012)233, 06.12.2012; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2013)259, 05.12.2013. 189 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2012)233, 06.12.2012. 190 Zum Beispiel „deeply regretted“, „strongly urged“, Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1137 / H46-1, 14.03.2012, Ziff. 2 f.; „regretted“, „once again urged“ Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1144 / 6, 06.06.2012, Ziff. 1 f.; „noted with deep regret“, „reiterated their call“ Committee of Ministers, CM / Del / Dec (2012)1150 / 7, 26.09.2012, Ziff. 2 f.; „expressed serious concern“, „firmly recalled“, „strongly urged“ Committee of Ministers, CM / Noted / 1170 / H46-2, 07.05.2013, Ziff. 4 ff.; „deeply deplored“, „firmly urged“ Committee of Ministers, CM / Del / OJ / D H(2013)1172 / 6, 06.06.2013, Ziff. 2 ff.; „expressed […] deep concern“, „strongly urged“ Committee of Ministers CM / Del / OJ / DH(2013)1179 / 4, 26.09.2013, Ziff. 2 f.; „noted with grave concern“, „[…] strongly urged, once again“ Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1193 / 5, 06.03.2014, Ziff. 2 ff.; „noted with profound concern and disappointment“ Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2014)1214 / , 04.12.2014, Ziff. 1. 191 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2013)1172 / 6, 06.06.2013, Ziff. 7; Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2013)1179 / 4, 26.09.2013, Ziff. 1. 192 Committee of Ministers, Decalaration on Bosnia and Herzegovina by Micheline Calmy-Rey, outgoing Chair of the Committee of Ministers, and Antonio Miloshoski, incoming Chair of the Committee of Ministers, CM(2010)59-rev, 11.05.2010; Committee of Ministers, Declaration of the Chairman of the Committee of Ministers of the Council of Europe on the Sejdic & Finci case, Decl(25.04.2012), 25.04.2012. 193 Zum Beispiel Parliamentary Assembly, Res. 1383, 23.06.2004; Parliamentary Assembly, Res. 1513, 29.06.2006; Parliamentary Assembly, Res. 1626, 30.09.2008; Parliamentary Assembly, Res. 1701, 26.01.2010; Parliamentary Assembly, Res. 1725, 29.04.2010; Parliamentary Assembly, Rec. 2025, 02.10.2013.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme135
vorgelegt.194 Es ist folglich eine Bereitschaft seitens des Staates erkennbar, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.195 Bisher standen jedoch Machterhalt und Machtausbau der drei Parteien im Zentrum der Verhandlungen, die eine Einigung unmöglich machten.196 Das Ministerkomitee hat sich regelmäßig mit dem Fall auseinandergesetzt und eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um Bosnien und Herzegowina zur Umsetzung zu bewegen. Unter anderem hat es innerhalb von zwei Jahren drei Interim-Resolutionen erlassen und sich bei der Umsetzung auch ungewöhnlicher Mittel bedient wie der Vorladung des Justizministers und den Erklärungen der Vorsitzenden. Dieses Interesse des Komitees ist positiv hervorzuheben.
E. Wahlrechtsausschluss von Strafgefangenen im Vereinigten Königreich (Hirst / Vereinigtes Königreich) Bei der Umsetzung der Urteile zum Wahlrechtssausschluss Strafgefangener in Großbritannien geht es ebenfalls um die Wahlgesetzgebung jedoch in Abgrenzung zur vorangegangen Betrachtung in einem alten Mitgliedstaat. Zudem ist in diesem Beispiel auch ein Piloturteil ergangen. Der Gang der Überwachung durch das Ministerkomitee wird vorgestellt (I.) und im Anschluss beurteilt (II.). I. Gang der Überwachung der Umsetzung 2005 erging das Urteil Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr.2), in dem das in Großbritannien geltende generelle Wahlverbot für Strafgefangene für konventionswidrig erklärt wurde.197 Zur Umsetzung ist eine Änderung des gel194 Committee of Ministers, Updated Information on the Action plan / action report – communication from Bosnia and Herzegovina concerning the case of Sejdic and Finci against Bosnia and Herzegovina, DH-DD(2011)403, 27.05.2011; Committee of Ministers, Updated Action plan – Communication from Bosnia and Herzegovina concerning the case of Sejdic and Finci against Bosnia and Herzegovina, DHDD(2012)774, 07.09.2012. 195 Siehe auch Committee of Ministers, Communication from the authorities (19 / 05 / 2015) concerning the case of Sejdić and Finci against Bosnia and Herzegovina, DH-DD(2015)541E, 22.05.2015. 196 Wölkner, Bosnien und Herzegowina, die EU und das Urteil „Sejdic-Finci“, Länderbericht Konrad-Adenauer-Stiftung, 04.04.2013, S. 5 ff., http: / / www.kas.de / bos nien-herzegowina / de / publications / 33984 / (Stand: 28.02.2018). 197 EGMR, Urteil vom 06.10.2005 – No. 74025 / 01, Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr. 2).
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
tenden Rechts (Section 3 (1) des Representation of the People Act198), das den Wahlrechtsausschluss vorsieht, nötig. 2006 legte Großbritannien einen action plan vor, in dem ein zweistufiger Beratungsprozess mit dem Ziel, im Mai 2008 ein Gesetz in das Parlament einzubringen, angekündigt wurde.199 2007 nahm das Ministerkomitee lediglich kurz zur Kenntnis, dass seit 2006 Beratungen zur Umsetzung des Urteils stattgefunden hatten,200 2008 wurde das Urteil nicht behandelt.201 Im Dezember 2009 folgte eine Interim-Resolution, nachdem zuvor die Beratungsphase im September 2009 zwar beendet worden war, jedoch immer noch kein Gesetzesvorschlag vorlag.202 Die Resolution erging mit Blick auf die Unterhauswahlen 2010. Ein neues Wahlrecht sollte bis dahin in Kraft sein, um konventionswidrige Wahlen und damit einhergehende Wiederholungsfälle zu vermeiden.203 Hinsichtlich der Möglichkeit von konventionswidrigen Wahlen drückt das Ministerkomitee „ernsthafte Sorge“ („serious concern“) aus.204 Der Staat wird gedrängt, schnell die notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung des Urteils zu ergreifen, und das Komitee beschloss, den Fall bei seinem nächsten human rights meeting wieder auf die Tagesordnung zu setzen.205 Dem folgten jedoch keine Umsetzungsmaßnahmen, sodass die Gefangenen in den britischen Gefängnissen an den Wahlen im Mai 2010 erneut nicht teilnehmen konnten, was zu über 2500 neuen am EGMR anhängigen Fällen und dem Piloturteil Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich führte.206 In Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich legte der EGMR dem Staat eine Sechs-Monats-Frist ab Endgültigkeit des Urteils auf, um Gesetzesvorschläge zur Umsetzung des Urteils einzureichen.207 Das Ministerkomitee nahm diese Entwicklungen in einer Entscheidung im Dezember 2010 zur Kenntnis, drückte aber die Hoffnung aus, dass die Wahlen 2011 in Schottland, Wales und Nordirland konventionsgemäß durchgeführt würden könnten, da der damalige Premierminister David Cameron im November im Parlament angekündigt hatte, einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung des Urteils vorzule198 Online abrufbar unter http: / / www.legislation.gov.uk / ukpga / 1983 / 2 / section / 3 (Stand: 28.02.2018). 199 Annual Report 2009, S. 178. 200 Annual Report 2007, S. 187. 201 Im Annual Report 2008 taucht das Urteil Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr. 2) zumindest nicht auf. 202 Annual Report 2009, S. 178. 203 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2009)160, 03.12.2009. 204 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2009)160, 03.12.2009. 205 Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2009)160, 03.12.2009. 206 Annual Report 2010, S. 190. 207 EGMR, Urteil vom 23.11.2010 – No. 60041 / 08, Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich, Tenor Ziff. 6 (a).
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme137
gen.208 Die britischen Behörden wurden aufgefordert, ohne weitere Verzögerung einen action plan mit einem klaren Zeitplan für die angestrebten Maßnahmen zu präsentieren.209 2011 beschäftigte sich das Ministerkomitee in der ersten Jahreshälfte mit der Umsetzung der Urteile210 und verlängerte im September die Umsetzungsfrist, um das Urteil Scoppola / Italien (Nr. 3) abzuwarten.211 Das Ministerkomitee erinnerte im September 2012 an die Einhaltung der Frist.212 Einen Tag vor Ablauf der Deadline legten die Behörden im November 2012 Gesetzesvorschläge mit einer Reihe von Optionen („Voting Eligibility (Prisoners) Draft Bill“) vor, die vom Justizminister im Parlament präsentiert wurden, wobei er die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs bekräftigt hat, das Urteil umzusetzen.213 Jedoch sieht der dritte Vorschlag die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage, das generelle Wahlverbot für Strafgefangene, vor; dieser Vorschlag wurde folgerichtig vom Ministerkomitee als konventionswidrig eingestuft.214 An der Ernsthaftigkeit der damaligen Worte des Justizministers, die Reform tatsächlich durchzuführen, muss folglich gezweifelt werden. Im September 2013 nahm das Ministerkomitee mit Interesse die Überprüfung der Regierungsvorschläge durch eine parlamentarische Kommission („Joint Select Committee“) zur Kenntnis, die bis Ende Oktober beendet sein sollte215 und unterstrich den dringenden Handlungsbedarf, um weitere Wiederholungsfälle infolge der Europawahl 2014 zu vermeiden.216 Auf Wunsch des Ministerkomitees wurde ein aktualisierter action plan vorgelegt, aus dem hervorging, dass die Kommission doch noch bis Mitte Dezember 2013 tagen würde.217 Im Dezember äußerte sich das Ministerkomitee schließlich besorgt 208 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2010)100-immediat, Hirst no. 2, Ziff. 4 ff.; Annual Report 2010, S. 190. 209 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2010)100-immediat, Hirst no. 2, Ziff. 7; Annual Report 2010, S. 190. 210 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2010)1108 / 06, 10.03.2011; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2010)1115 / 28, 08.06.2011. 211 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1120 / 16, 14.09.2011, Ziff. 3; Annual Report 2011, S. 92 f. 212 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2012)1150 / 27, 26.09.2012, Ziff. 5. 213 Annual Report 2012, S. 87 f. 214 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1157 / 30, 06.12.2102, Ziff. 6; Annual Report 2012, S. 88. 215 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2013)1179 / 25, 26.09.2013, Ziff. 1; Annual Report 2013, S. 101. 216 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2013)1179 / 25, 26.09.2013, Ziff. 2; Annual Report 2013, S. 101. 217 Committee of Ministers, Communication from the United Kingdom concerning the cases Hirst no. 2 and Greens & MT. against the United Kingdom, DHDD(2013)1164, 29.10.2013; Annual Report 2013, S. 101.
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
über die Verspätung des Gesetzgebungsvorganges, zumal der EGMR inzwischen entschieden hatte, die Wiederholungsfälle nicht mehr aufzuschieben,218 und drängte das Vereinigte Königreich, die Wahlen 2014 konventionsgemäß abzuhalten, um weitere Wiederholungsfälle zu vermeiden.219 Am 18. Dezember 2013 schloss die parlamentarische Kommission ihre Arbeit ab und veröffentlichte einen Abschlussbericht.220 Darin wird empfohlen, ein Wahlrecht für Strafgefangene mit Haftstrafen von unter zwölf Monaten und für Gefangene in den letzten 6 Monaten vor ihrer Entlassung einzuführen und einen Gesetzesvorschlag zu Beginn der Sitzungsperiode 2014 / 2015 in das Parlament einzubringen.221 Das Ministerkomitee hielt bei seinem Treffen im März 2014 fest, dass mit Abschluss der Arbeit der Kommission „ein bedeutender Schritt vorwärts“ gemacht worden sei, begrüßte die Empfehlungen der Kommission und ermahnte die Behörden, die Empfehlungen so umzusetzen.222 Beim übernächsten human rights meeting im September 2014 begrüßte es die Anwesenheit eines Staatsministers aus dem Justizministerium und die vorgebrachten Versicherungen, dass das Vereinigte Königreich bemüht sei, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen,223 stellte aber mit tiefer Sorge und Enttäuschung fest, dass die Behörden das Gesetz nicht zu Beginn der Sitzungsperiode ins Parlament eingebracht hatten und legte den Behörden eindringlich nahe, dies zu tun.224 Im September 2015 nahm der Parlamentarische Staatssekretär und Minister für Menschenrechte an dem human rights meeting teil und sicherte zu, dass Großbritannien die EMRK unterstütze.225 Bei dem selben Treffen wiederholte das Ministerkomitee seine ernste Besorgnis darüber, dass immer noch kein Gesetz in das Parlament eingebracht worden sei und es inzwischen erneute Verurteilungen durch den EGMR gegeben habe (Firth u. a. / Vereinigtes Königreich und McHugh u. a. / Vereinigtes Königreich).226 218 Committee
of Ministers, CM / Del / Dec(2013)1179 / 25, 05.12.2013, Ziff. 2. of Ministers, CM / Del / Dec(2013)1179 / 25, 05.12.2013, Ziff. 4; Annual Report 2013, S. 101. 220 Annual Report 2013, S. 101. 221 Committee of Ministers, Communication from the United Kingdom concerning the case of Hirst No. 2 and Greens and MT against United Kingdom, Draft Voting Eligibility (Prisoners) Bill, DH-DD(2013)1366, 18.12.2013, Ziff. 239. 222 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1193 / 28, 06.03.2014, Ziff. 4; Annual Report 2014, S. 126. 223 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1208 / 27, 25.09.2014, Ziff. 1; Annual Report 2014, S. 126. 224 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1208 / 27, 25.09.2014, Ziff. 3; Annual Report 2014, S. 126. 225 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 25, 24.09.2015, Ziff. 1. 219 Committee
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme139
Im Dezember 2015 erging dann eine zweite Interim-Resolution, in der das Ministerkomitee seine tiefe Besorgnis über die Fortgeltung der konven tionswidrigen Rechtslage ausdrückte („profound concern“), den Generalsekretär aufforderte, das Umsetzungsproblem in seinen Treffen mit den britischen Behörden anzubringen, und sie aufzurufen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, und appellierte („called upon“) an die britischen Behörden, konkrete Informationen mitzuteilen, wie Großbritannien das Urteil umsetzen wolle.227 II. Beurteilung Auffallend ist, dass sich bei Vergleich der Berichte und der medialen Berichterstattung der innenpolitischen Situation in Großbritannien Widersprüche ergeben. Erstens versichert Großbritannien einerseits im Ministerkomitee regelmäßig, dass es die Urteile umsetzen werde, zeigt Fortschritte auf, legt angefragte Informationen (zum Beispiel action plans) vor und hält Zeitpläne ein. Andererseits hat David Cameron im innerstaatlichen Rahmen immer wieder klar gesagt, dass unter seiner Regierung kein Wahlrecht für Strafgefangene eingeführt werde.228 Dieses Verhalten lässt sich anhand des Phänomens der „begrudging compliance“229 erklären: Die Regierung setzt gegen den Willen und Widerstand der öffentlichen Meinung ein Urteil um, um die internationale Verpflichtung einzuhalten und das traditionelle Bewusstsein für Menschenrechte fortzuführen. Dabei schiebt die Regierung die Schuld auf die jeweilige internationale Institution, die sie zur Umsetzung zwingen würde, und die Institution (zum Beispiel der EGMR) wird zum Sündenbock für unbeliebte politische Kurswechsel.230 In den Fällen Hirst und Greens M. T., die schnell hätten umgesetzt werden können, entspann sich jedoch eine jahrelange emotional aufgeladene Diskussion231 mit den weitreichenden politi226 Committee
of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 25, 24.09.2015, Ziff. 2. of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2015)251, 09.12.2015. 228 Zum Beispiel BBC News, „Prisoners will not get the vote, says Cameron“, 24.10.2012, http: / / www.bbc.com / news / uk-politics-20053244 (Stand: 28.02.2018); The Guardian, „Prisoners ‚damn well shouldn’t‘ be given the vote, says Cameron“, 13.12.2013, http: / / www.theguardian.com / politics / 2013 / dec / 13 / prisoners-right-tovote-david-cameron (Stand: 28.02.2018). 229 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 102. 230 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 102. 231 Hillebrecht, Domestic politics and international human rights tribunals, 2014, S. 110 f. 227 Committee
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
schen Ideen, den Human Rights Act durch eine British Bill of Rights zu ersetzen oder die EMRK gleich ganz zu verlassen. Hier hatte sich die Debatte so aufgeheizt, dass die britischen Politiker und Politikerinnen mit der Umsetzung der Urteile nichts gewinnen können und die Umsetzung blockieren. Zweitens spielt auch das Ministerkomitee das Spiel der „begrudging compliance“ mit. Das Komitee zieht in seiner Überwachung über Jahre hoffnungsvolle Schlüsse aus den angeblichen Fortschritten im Umsetzungsprozess, die von britischer Seite präsentiert werden, während in Großbritannien selbst lautstark Beschwerden über das Urteil und die Einmischung des EGMR erhoben werden, die an einer fortschreitenden Umsetzung zweifeln lassen. Ein Beispiel hierfür ist die Antwort, die David Cameron im Unterhaus am 3. November 2010 gab. Auf die Frage, ob er die Meinung teile, dass es falsch sei, Strafgefangene wählen zu lassen, antwortete der damalige Premierminister, dass die Vorstellung eines Wahlrechts für Inhaftierte ihn „körperlich krank“ mache, ihm aber durch die Vorgaben des EGMR die Hände gebunden seien; das Urteil müsse umgesetzt werden um den Steuerzahlern die Ausgaben von 160 Mio. Pfund in Entschädigungssummen zu sparen.232 Das Ministerkomitee bezweifelte daraufhin jedoch nicht den Willen der britischen Regierung, eine vollumfängliche Umsetzung durchzuführen, sondern schloss aus der Aussage, dass die britischen Behörden in naher Zukunft einen Gesetzesvorschlag einreichen würden und drückte die Hoffnung aus, dass die Wahlen im darauffolgenden Jahr konventionsgemäß abgehalten werden könnten.233 Auch hat das Unterhaus im Februar 2011 gegen eine Änderung des für Strafgefangene geltenden Wahlrechtsverbots gestimmt,234 und damit ein klares Signal nach Straßburg gesendet; diese Abstimmung wurde aber vom Ministerkomitee lediglich ohne weitere Folgen zur Kenntnis genommen.235 Im September 2015 nahm der Parlamentarische Staatssekretär und Minister für Menschenrechte, Dominic Raab, an dem human rights meeting teil 232 Parliament, House of Commons, Oral Answers to Questions, 03.11.2010, http: / / www.publications.parliament.uk / pa / cm201011 / cmhansrd / cm101103 / debtext / 101103-0001.htm (Stand: 28.02.2018). 233 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2010)1100 Section / Rubrique 4.3 PUBLIC, 74025 / 01 Hirst No. 2, judgment of 06 / 10 / 2005 – Grand Chamber, Ziff. 5, 17.12.2010. 234 BBC News, „MPs reject prisoner votes plans“, 10.02.2011, http: / / www.bbc. com / news / uk-politics-12409426 (Stand: 28.02.2018); Breuer, „Demokratieprinzip versus Rechtsstaatsprinzip? UK strebt nach ‚democratic override‘ des EGMR“, VerfBlog, 21.07.2014, http: / / www.verfassungsblog.de / demokratieprinzip-versus-rechts staatsprinzip-uk-plant-democratic-override-des-egmr / #.VdiGrM6yw7B (Stand: 28.02. 2018). 235 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2011)1108E, 11.03.2011, Ziff. 3.
§ 2 Reaktionen des Ministerkomitees auf einzelne Umsetzungsprobleme141
und versicherte dem Komitee, dass Großbritannien die EMRK unterstütze.236 Die britische Presse aber informierte er in dem Zusammenhang, dass an dem geltenden generellen Wahlverbot für Strafgefangene nichts geändert werde.237 Das Ministerkomitee hält dem britischen Protest jedoch insofern Stand, als dass es weiterhin insistiert, dass zur Umsetzung Gesetzesänderungen notwendig seien. Der Fokus liegt auf der Sorge vor Wiederholungsfällen, die kommende, nach bisherigem Recht und damit im Widerspruch zur EMRK abgehaltene Wahlen mit sich bringen könnten. Es begrüßt zwar hoffnungsvolle positive Entwicklungen, drückt aber auch Bedauern aus und drängt, wenn nichts passiert. Diesbezüglich ist ab 2013 eine Wende in der Wortwahl des Ministerkomitees erkennbar. Während zuvor ein gemäßigter Ton angeschlagen worden war, drängte das Komitee Großbritannien zum einen ab 2013 regelmäßig zur Umsetzung („urge“)238 und drückte zum anderen ab 2014 stets seine tiefe Sorge über den Stillstand der Umsetzung aus („profound concern“, „serious concern“).239
F. Fazit Die Fallbeispiele zeigen die unterschiedlichen Reaktionen des Ministerkomitees auf. Allen Fällen ist gemein, dass sie regelmäßig auf die Tagesordnung gesetzt werden. In den Verfahrensdauer-Fällen Italiens, Zypern / Türkei und den Tschetschenien-Fällen werden abgesehen von gelegentlichen Interim-Resolutionen, die keine Wirkung bei den Mitgliedstaaten zeigen, jedoch keine weiteren Druckmittel verwendet. Im Vergleich dazu fällt die Überwachung des Falles Sejdić und Finci heraus. Zwar ist positiv hervorzuheben, wie ernst das Ministerkomitee die Überwachung in diesem Fall nimmt. Jedoch ist auffällig, wie intensiv die Überwachung ausfällt. In Fällen mit schwerwiegenderen und länger andauernden Menschenrechtsverletzungen wie Zypern / Türkei und den Tschetschenien-Fällen zeigt das Ministerkomitee bei der Überwachung weniger Engagement. Daraus lässt sich schließen, dass 236 Committee
of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 25, 24.09.2015, Ziff. 1. Telegraph, „David Cameron on verge of landmark victory over prisoner voting as ministers shelve reforms“, 10.12.2015, http: / / www.telegraph.co.uk / news / worldnews / europe / 12045076 / David-Cameron-on-verge-of-landmark-victory-overprisoner-voting-as-ministers-shelve-reforms.html (Stand: 28.02.2018). 238 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2013)1179 / 25, 26.09.2013, Ziff. 3; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1186 / 24, 05.12.2013, Ziff. 4; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1193 / 28, 06.03.2014, Ziff. 4. 239 Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2014)1208 / 27, 25.09.2014, Ziff. 3; Committee of Ministers, CM / Del / Dec(2015)1236 / 25, 24.09.2015, Ziff. 2; Committee of Ministers, Interim Resolution CM / ResDH(2015)251, 09.12.2015. 237 The
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Teil 3: Überwachung der Umsetzung der Urteile in der Praxis
das Komitee mit der Türkei und Russland im Vergleich zu Bosnien und Herzegowina absichtlich nachsichtiger umgeht. Es ist denkbar, dass das Komitee in diesen Fällen keine Aussicht mehr auf eine Umsetzung sieht und sich bei der Überwachung nur noch auf das Notwendigste beschränkt. Gerade in den Fällen mit strukturellen und schwerwiegenden Konventionsverletzungen muss das Komitee jedoch alle zur Verfügung stehenden Werkzeuge einsetzen, um die Umsetzung herbeizuführen. Dazu gehören diplomatische Wege wie die Einladung von Regierungsmitgliedern in die Sitzung, die Zusammenarbeit mit der EU als auch rechtliche Wege wie die Einleitung von infringement proceedings und Gegenmaßnahmen. Eine Besonderheit stellt auch das Umsetzungsverfahren des Urteils Hirst / Vereinigtes Königreich dar, in dem das Ministerkomitee ebenfalls nicht locker lässt. In dem Verfahren kommen zwei Aspekte zusammen. Zum einen sollen Wiederholungsfälle vermieden werden. Zum anderen steht die Vorbildfunktion Großbritanniens als langjähriger und rechtsstaatsbewusster Mitgliedstaat in Frage. Es besteht die Sorge, dass andere Mitgliedstaaten das Verhalten des vermeintlich vorbildlichen Großbritanniens nachahmen und sich nicht mehr bemühen, alle Urteile vollumfänglich umzusetzen. Russland ist mit seiner neuen Rechtslage ein Beispiel für ein solches Verhalten.240 Diese Entwicklung stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Fortwirkung des Konventionssystems dar. Die Fallbeispiele illustrieren auch die Bedeutung einer Art kontradiktorisches Verfahren in der Umsetzung. Bei Staatenbeschwerden können die beschwerdeführenden Staaten diese Rolle ausfüllen. Bei Urteilen zu Individualbeschwerden sind die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer jedoch nicht selbst im Ministerkomitee vertreten. In diesen Fällen spielen Unterlagen von Nichtregierungsorganisationen und Hinweise der Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen eine wichtige Rolle. Der zusätzliche Einblick, den diese Informationen liefern, stellt einen Ausgleich zu der sonst einseitigen, ausschließlich durch den verurteilten Staat präsentierten Faktenlage dar.
240 EJIL: Talk!, „Russia Defies Strasbourg: Is Contagion Spreading?“, 19.12.2015, http: / / www.ejiltalk.org / russia-defies-strasbourg-is-contagion-spreading / (Stand: 28.02.2018); s. auch UK Human Rights Blog, „Hostility to the European Court and the risks of contagion“, 21.11.2013, http: / / ukhumanrightsblog.com / 2013 / 11 / 21 / hos tility-to-the-european-court-and-the-risks-of-contagion-philip-leach-and-alice-donald / (Stand: 28.02.2018).
Teil 4
Einfluss der übrigen Akteure des Europarats auf die Arbeit des Ministerkomitees und die Umsetzung der Urteile des EGMR Das Ministerkomitee beschäftigt sich nicht allein mit der Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs. Seine Kontrollfunktion wird beeinflusst von der Rechtsprechung des EGMR (§ 1) und der Arbeit der Parlamentarischen Versammlung (§ 2) und des Generalsekretärs des Europarats (§ 3).
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile Der EGMR schaltet sich an zwei Punkten in die Umsetzung eines Urteils ein. Zum einen ordnet er verstärkt direkt Maßnahmen im Tenor an, wie ein Urteil umgesetzt werden sollte (A.); zum anderen beteiligt sich der Gerichtshof am Umsetzungsprozess, wenn er wegen Folgebeschwerden angerufen wird (B.).
A. Anordnung von Durchsetzungsmaßnahmen durch den Gerichtshof Der Gerichtshof ordnet immer häufiger direkt an, durch welche individuellen Maßnahmen das Urteil in die innerstaatliche Rechtsordnung implementiert werden soll (I.). Daneben hat der EGMR das Piloturteilsverfahren eingeführt, in dem er systemische Probleme und generelle Maßnahmen zu deren Behebung anordnet (II.). Auf sogenannte „Art. 46-Urteile“1 oder „SemiPiloturteile“,2 in denen der Gerichtshof zwar Angaben zu den notwendigen individuellen oder generellen Maßnahmen zur Umsetzung eines Urteils macht, jedoch in der Regel keine verbindlichen Anordnungen im Tenor trifft, wird nicht weiter eingegangen. 1 Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (166 f.). 2 Sicilianos, in: Seibert-Fohr / Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, 2014, S. 285 (289 f.); Jahn, ZaöRV 2014, 1 (19).
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
I. Anordnung individueller Maßnahmen durch den Gerichtshof Der Gerichtshof hat in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen, auf die zur Umsetzung notwendigen individuellen Durchsetzungsmaßnahmen aufmerksam zu machen und sie später auch direkt anzuordnen. Diese Urteile lassen sich in bestimmte Fallgruppen einteilen (1.). Ferner werden die rechtlichen Grundlagen dieser neuen Rechtsprechung diskutiert (2.). Zudem wird untersucht, welche Bedeutung die Anordnung individueller Maßnahmen für die Kontrollfunktion des Ministerkomitees hat (3.). 1. Entwicklung der Rechtsprechung
Ausgangspunkt ist das Urteil Marckx / Belgien, in dem der Gerichtshof festhielt, dass seine Urteile nur feststellenden Charakter hätten und er die Wahl der Durchsetzungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten überlasse.3 Zwar schließt das eine das andere nicht aus,4 jedoch wurde unter Hinweis auf das Urteil in der Folge stets die Anordnung von konkreten Durchsetzungsmaßnahmen wegen Unzuständigkeit abgelehnt.5 Ausnahmsweise kam es in vereinzelten Urteilen zu Hinweisen zur Durchsetzung des Urteils,6 bis der EGMR dann in den neunziger Jahren begann, deutlicher zu werden: Er nahm im Urteil Hentrich / Frankreich Stellung, dass er als bestgeeignete Wiedergutmachungsmaßnahme angesichts der Verletzung von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK die Rückgabe des Landes ansah7 und ordnete ein Jahr später im Urteil Papamichalopoulos u. a. / Griechenland schließlich die Rückgabe eines Grundstücks an, wobei er aber Griechenland freistellte, stattdessen eine Entschädigung zu zahlen, wenn die Rückgabe scheitern sollte.8 Zum ersten Mal ordnete der EGMR im Jahr 2004 im Urteil Assanidze / Georgien eine Maßnahme bedingungslos an.9 Darin stellte der Gerichtshof fest, dass sich der Beschwerdeführer konventionswidrig in Haft befinde und dass der einzige Weg, die Konventionsverletzung zu beenden, in der schnellst 3 Breuer,
EuGRZ 2004, 257 (257). EuGRZ 2004, 257 (257). 5 Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258). 6 Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258). 7 EGMR, Urteil vom 22.09.1994 – No. 13616 / 88, Hentrich / Frankreich, § 71; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (258 f.). 8 EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), Tenor Ziff. 1, 2; Jahn, ZaöRV 2014, 1 (5); Breuer, EuGRZ 2004, 257 (259); siehe auch Breuer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rdnr. 7. 9 Jahn, ZaöRV 2014, 1 (5). 4 Breuer,
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile145
möglichen Freilassung des Beschwerdeführers liege.10 Der Gerichtshof betonte dabei, dass die Durchsetzung eines Urteils zwar grundsätzlich Sache des betroffenen Staats unter Überwachung des Ministerkomitees sei, in diesem speziellen Fall die Art der Konventionsverletzung aber den Akteuren bei der Umsetzung des Urteils keine Wahl lasse.11 In deutsche Rechtsterminologie übersetzt, ging der Gerichtshof also von einer „Ermessensreduzierung auf Null“ aus.12 Individuelle Maßnahmen können nur Maßnahmen zur Beendigung oder zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung sein. Die Urteile, in denen der EGMR Anordnungen zu Durchsetzungsmaßnahmen traf, betreffen vorrangig die Beendigung von Konventionsverletzungen [a)]. Wiedergutmachungsanordnungen kamen nur in vereinzelten Fällen vor [b)]. Die klassische Anordnung einer Wiedergutmachung, die gerechte Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK, ist von der EMRK normiert und wird vom EGMR seit Beginn seiner Spruchpraxis gebraucht. Sie ist daher nicht Gegenstand dieses Kapitels. a) Maßnahmen zur Beendigung der Konventionsverletzung Die Anordnungen zur Beendigung der Konventionsverletzung lassen sich in die Fallgruppen Freilassung von Gefangenen, Änderung der Haftbedingungen und die Wiedereinstellung eines Richters zum Zweck der Beendigung aufteilen. In einzelnen Fällen hat der Gerichtshof die Freilassung einer konventionswidrig inhaftierten Person angeordnet, um die jeweilige Konventionsverletzung zu beenden. Startschuss war der bereits erwähnte Fall Assanidze / Georgien,13 in dem der EGMR die schnellstmögliche Freilassung des Inhaftierten anordnete,14 weil dies die einzige Möglichkeit sei, die Verletzungen von Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beenden.15 Drei Monate später ordnete das Gericht im Urteil Ilaşcu u. a. / Moldau und Russland bereits die „unmittelbare“ Freilassung der Inhaftierten an.16 Diese beiden Urteile bezogen sich allerdings auf Ausnahmefälle, in denen Separatisten die De-factoUrteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 203. Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 202. 12 Breuer, EuGRZ 2004, 257 (259). 13 Siehe Teil 2 § 1 A. I. 1. 14 EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, Tenor Ziff. 14 (a). 15 EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 202. 16 EGMR, Urteil vom 08.07.2004 – No. 48787 / 99, Ilaşcu u. a. / Republik Moldau und Russland, Tenor Ziff. 22; siehe auch Jahn, ZaöRV 2014, 1 (5). 10 EGMR,
11 EGMR,
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Kontrolle über ein Gebiet übernommen hatten.17 In weiteren Urteilen begründete der Gerichtshof die Anordnung der Freilassung mit den besonderen Umständen des Falles, der Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK und der „dringenden Notwendigkeit“, die Konventionsverletzung zu beenden18 und wiederholte damit, dass dem Staat ausnahmsweise keine Freiheit bei der Umsetzung des Urteils zustehe, da die Konventionsverletzung nur durch die Freilassung der Betroffenen beendet werden könne. In dem Urteil Fatullayev / Aserbaidschan wurde eine Freilassung zum ersten Mal nicht infolge einer Verletzung von Art. 5 EMRK, sondern der Verletzung von Art. 10 EMRK angeordnet,19 da die Gründe der Inhaftierung des Beschwerdeführers im Widerspruch zu dem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK gestanden hätten,20 wobei sich das Gericht wiederum auch auf die besonderen Umstände des Falles und die „dringende Notwendigkeit“ der Beendigung der Verletzung stützte.21 Im Urteil Aleksanyan / Russland ordnete der Gerichtshof an, die Untersuchungshaft des Betroffenen zu beenden,22 wobei neben der fortdauernden konventionswidrigen Haft für die Entscheidung der Anordnung die schweren Krankheiten des Beschwerdeführers, die in der U-Haft nicht behandelt werden konnten, eine hervorgehobene Rolle spielten.23 Zusammengefasst handelte es sich also um dringende Ausnahmefälle, denen in der Regel Verletzungen von Art. 5 EMRK zugrunde lagen. Des Weiteren hat der Gerichtshof in zwei Fällen von Verletzungen von Art. 3 EMRK die Änderung der Haftbedingungen angeordnet. Die ernsthaft erkrankten Inhaftierten müssten schnellstmöglich in einer Einrichtung untergebracht werden, in der sie angemessen medizinisch versorgt werden kön-
17 Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (157). 18 EGMR, Urteil vom 13.04.2010 – No. 46605 / 07, Charahili / Türkei, § 85, Tenor Ziff. 7 (a); EGMR, Urteil vom 13.04.2010 – No. 32940 / 08, 41626 / 08, 43616 / 08, Tehrani u. a. / Türkei, § 107, Tenor Ziff. 10 (a). 19 EGMR, Urteil vom 22.04.2010 – No. 40984 / 07, Fatullayev / Aserbaidschan, § 176 ff., Tenor Ziff. 6 (a); Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (159 f.). 20 EGMR, Urteil vom 22.04.2010 – No. 40984 / 07, Fatullayev / Aserbaidschan, § 175. 21 EGMR, Urteil vom 22.04.2010 – No. 40984 / 07, Fatullayev / Aserbaidschan, § 177. 22 EGMR, Urteil vom 22.12.2008 – No. 46468 / 08, Aleksanyan / Russland, Tenor Ziff. 9. 23 EGMR, Urteil vom 22.12.2008 – No. 46468 / 08, Aleksanyan / Russland, § 240; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (158).
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile147
nen.24 In beiden Urteilen folgerte das Gericht wie bei der Freilassung von Gefangenen, dass die Art der Verletzung dem Staat keine Wahl lasse, wie das Urteil umzusetzen sei, und bezog sich auf die besonderen Umstände des Falles.25 Zudem kam es in Fällen, in denen Staaten ihre innerstaatlichen Gerichtsurteile nicht umgesetzt hatten, zu der Anordnung, diese Urteile innerhalb von drei Monaten umzusetzen.26 Und mit dem Urteil Oleksandr Volkov / Ukraine forderte der Gerichtshof die Ukraine auf, schnellstmöglich den Beschwerdeführer wieder als Richter am Obersten Gerichtshof einzusetzen, um die Verletzungen von Art. 6 und Art. 8 EMRK zu beenden.27 Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass die systemischen Probleme in der ukrainischen Justiz einer Wiederaufnahme des Verfahrens entgegenstünden, sodass die Wiedereinstellung die einzige Maßnahme darstelle, um die Situation des Beschwerdeführers wieder konventionsgemäß herzustellen.28 b) Maßnahmen zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung Zudem hat der EGMR auch bereits Maßnahmen zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung angeordnet. Diese Anordnungen lassen sich in die zwei Kategorien Wiederaufnahme nationaler Gerichtsverfahren [aa)] und Rückgabe von Eigentum [bb)] einteilen.
24 EGMR, Urteil vom 20.01.2009 – No. 28300 / 06, Sławomir Musiał / Polen, Tenor Ziff. 4 (a); EGMR, Urteil vom 03.03.2009 – No. 23204 / 07, Ghavtadze / Georgien, Tenor Ziff. 3 a); Breuer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rdnr. 12. 25 EGMR, Urteil vom 20.01.2009 – No. 28300 / 06, Sławomir Musiał / Polen, § 107 f.; EGMR, Urteil vom 03.03.2009 – No. 23204 / 07, Ghavtadze / Georgien, § 106. 26 EGMR, Urteil vom 24.02.2005 – No. 25964 / 02, Poznakhirina / Polen, § 33, Tenor Ziff. 4 a); EGMR, Urteil vom 28.11.2006 – No. 40765 / 02, Apostol / Georgien, § 73, Tenor Ziff. 3; EGMR, Urteil vom 21.06.2007 – No. 27790 / 03, Kudrina / Russland, § 36, Tenor Ziff. 4 a); EGMR, Urteil vom 16.01.2014 – No. 69037 / 10, Pelipenko / Russland, Tenor Ziff. 1; Breuer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rdnr. 13; Jahn, ZaöRV 2014, 1 (6); Keller / Marti, EJIL 2015, 829 (837). 27 EGMR, Urteil vom 09.01.2013 – No. 21722 / 11, Oleksandr Volkov / Ukraine, § 208, Tenor Ziff. 9. 28 EGMR, Urteil vom 09.01.2013 – No. 21722 / 11, Oleksandr Volkov / Ukraine, § 208.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
aa) Wiederaufnahme innerstaatlicher Gerichtsverfahren Eine Methode, Verletzungen von Art. 6 EMRK wieder gutzumachen, ist das innerstaatliche Gerichtsverfahren wieder aufzunehmen. Nachdem sich sowohl der Gerichtshof als auch das Ministerkomitee für die Einführung von Wiederaufnahmetatbeständen in den Mitgliedstaaten eingesetzt haben, verfügen inzwischen die meisten der Mitgliedstaaten des Europarats über entsprechende Tatbestände.29 Der Gerichtshof legt Staaten, deren nationale Rechtsordnungen keine Wiederaufnahmetatbestände vorsehen, die Einführung von Tatbeständen nahe;30 im Übrigen macht das Gericht verstärkt darauf aufmerksam, dass bei Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK die Wiederaufnahme eines Verfahren im Prinzip die geeignetste Form der Wiedergutmachung darstelle.31 Letzteres auch dadurch, dass auf die im innerstaatlichen Recht bestehenden Wiederaufnahmetatbestände im Urteil ausdrücklich Bezug genommen wird.32 In der Regel ordnet der Gerichtshof die Wiederaufnahme eines Verfahrens jedoch nicht direkt an. In dem Urteil Verein gegen Tierfabriken / Schweiz (Nr. 2) machte der Gerichtshof klar, dass er keine Zuständigkeit habe, die Wiederaufnahme anzuordnen, sondern lediglich darauf hinweisen könne, dass ein neues Verfahren oder die Wiederaufnahme eines Verfahrens bei Verletzungen von Art. 6 EMRK im Prinzip die geeignete Maßnahme zur Wiedergutmachung darstelle.33 Einzelne Ausnahmen stellt die Rechtsprechung in den Fällen Lungoci / Rumänien34 und Maksimov / Aserbaidschan35 29 Siehe
Teil 2 § 1 B. I. 1. Urteil vom 20.04.2010 – No. 12315 / 04, Laska und Lika / Albanien, § 74 ff.; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (152). 31 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 23.10.2003 – No. 53431 / 99, Gençel / Türkei, § 27; EGMR, Urteil vom 29.01.2004 – No. 40997 / 98, Tahir Duran / Türkei, § 23; EGMR, Urteil vom 18.05.2004 – No. 67972 / 01, Somogyi / Italien, § 86; EGMR, Urteil vom 17.07.2007 – No. 52658 / 99, Mehmet und Suna Yiğit / Türkei, § 47; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (152). 32 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 02.06.2005 – Nos. 46825 / 99, 49716 / 99, 49104 / 99, 47132 / 99, 47502 / 99, 49010 / 99, 49195 / 99, Claes u. a. / Belgien, § 53; EGMR, Urteil vom 24.07.2008 – No. 41461 / 02, Vladimir Romanov / Russland, § 118. 33 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schwez (Nr. 2), § 89; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (153); so auch bereits EGMR, Urteil vom 20.09.1993 – No. 14647 / 89, Saïdi / Frankreich, § 47. 34 EGMR, Urteil vom 26.01.2006 – No. 62710 / 00, Lungoci / Rumänien, Tenor Ziff. 3 a). 35 EGMR, Urteil vom 08.10.2009 – No. 38228 / 05, Maksomov / Aserbaidschan, Tenor Ziff. 3; Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (154 f.). 30 EGMR,
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile149
dar; damit wurde bisher sowohl die Wiederaufnahme von strafrechtlichen (Maksimov / Aserbaidschan) als auch von zivilrechtlichen Verfahren (Lungoci / Rumänien) angeordnet. Besonders hervorzuheben ist darüber hinaus das Urteil Scoppola / Italien (Nr. 2), in dem das Gericht nicht nur die Wiederaufnahme des Verfahrens anordnete, sondern auch urteilte, dass die lebenslängliche Haftstrafe des Beschwerdeführers durch eine Haftstrafe von höchstens 30 Jahren ersetzt werden müsse36 und somit sogar den Ausgang des wiederaufzunehmenden Verfahrens vorgab.37 Die widersprüchliche Haltung des EGMR bezüglich der Anordnung von Wiederaufnahmeverfahren geht auf die Uneinigkeit unter den Richterinnen und Richtern zurück, ob individuelle Anordnungen in den Tenor übernommen werden sollen, wie an den zahlreichen Sondervoten in den einschlägigen Fällen zu erkennen ist.38 bb) Rückgabe des Eigentums Bei Verletzungen gegen den Schutz des Eigentums im Sinne des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls hat der EGMR gelegentlich die Rückgabe des betroffenen Eigentums gefordert. Wie im Urteil Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50)39 beschränkte der Gerichtshof sich aber darauf, zwar die Rückgabe des Lands oder die Änderung des Grundbuchs anzuordnen, dem Staat aber gleichzeitig freizustellen, bei einem Scheitern der Rückgabe oder der Grundbuchänderung stattdessen eine Entschädigung zu zahlen.40
36 EGMR, Urteil vom 17.09.2009 – No. 10249 / 03, Scoppola / Italien (Nr. 2), Tenor Ziff. 6 a), § 154. 37 Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (156 f.); Jahn, ZaöRV 2014, 1 (8). 38 Unter den Richtern, die sich für Anordnungen im Tenor der Urteile einsetzen, bilden die Richter Spielmann und Malinverni die Vorhut, dazu ausführlich Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe 2013, S. 142 (153 ff.). 39 EGMR, Urteil vom 31.10.1995 – No. 14556 / 89, Papamichalopoulos u. a. / Griechenland (Art. 50), Tenor Ziff. 1, 2. 40 So auch in EGMR, Urteil vom 23.01.2001 – No. 28342 / 95, Brumarescu / Rumänien (Art. 41), Tenor Ziff. 1 f.; EGMR, Urteil vom 24.02.2009 – No. 3052 / 04, Dacia S.R.L. / Republik Moldau, Tenor Ziff. 1 (a) f.; EGMR, Urteil vom 27.05.2010 – No. 18768 / 05, Saghinadze u. a. / Georgien, Tenor Ziff. 8 (a); EGMR, Urteil vom 03.03.2009 – No. 37639 / 03, 37655 / 03, 26736 / 04, 42670 / 04, Bozcaada Kimisis Teodoku Rum Ortodoks Kilisesi Vakfı / Türkei, Tenor Ziff. 5 a) f.; siehe dazu auch Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (149 ff.).
150
Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees 2. Konventionsrechtliche Grundlage
Fraglich ist, ob es in der EMRK eine Grundlage für die Anordnung individueller Durchsetzungsmaßnahmen durch den EGMR gibt oder der EGMR sich ohne entsprechende Ermächtigung in den Bereich der Urteilsumsetzung einmischt. Die EMRK sieht keine ausdrückliche Befugnis des Gerichtshofs vor, individuelle Maßnahmen anzuordnen. Indes ist eine Rechtsgrundlage notwendig, weicht der Gerichtshof mit den Anordnungen doch von seinem Arbeitsbereich ab und beschäftigt sich mit den politischen Fragen der Urteils umsetzung, die nach dem Subsidiaritätsgrundsatz den Mitgliedstaaten vorbehalten ist und vom Ministerkomitee überprüft wird. Möglicherweise kann eine solche Rechtsgrundlage in die bestehenden Konventionsnormen hineingelesen werden. Zum einen wird vertreten, dass sich die Grundlage aus einer Gesamtschau der Art. 41, 46 und 19 EMRK ergebe: Erstens werden die infringement proceedings herangezogen; es wird angeführt, dass sich sich die Mitgliedstaaten mit der Einführung von Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK für eine Justiziabilisierung des Umsetzungsverfahrens ausgesprochen hätten.41 Dieses Argument kann wegen der fehlenden Umsetzung in der Praxis der Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK jedoch nicht überzeugen. Wenn sich die Mitgliedstaaten mit der Reformierung des Art. 46 EMRK für eine Verrechtlichung des Umsetzungsprozesses ausgesprochen haben, dann nur auf dem Papier. Zudem schreiben Art. 46 Abs. 3 bis 5 EMRK dem Gericht auch eine andere Rolle zu. Das Gericht soll durch Auslegung des Urteils die Umsetzung unterstützen (Art. 46 Abs. 3 EMRK) oder durch ein weiteres Urteil (indirekt) Druck auf den Staat ausüben (Art. 46 Abs. 4 und 5). Bei der Anordnung individueller Maßnahmen geht es dagegen darum, aktiv und präventiv in den Umsetzungsprozess einzugreifen.42 Zweitens wird Art. 19 EMRK miteinbezogen, demnach es die Aufgabe des Gerichtshofes ist, die Einhaltung der Konventionsverpflichtungen sicherzustellen. Zu den Konventionsverpflichtungen gehört auch, die konventionsgemäße Situation wiederherzustellen43 und daher sei der EGMR dazu berechtigt, Maßnahmen zur Wiederherstellung dieses Zustandes anzuordnen.44 Dagegen lässt sich jedoch sagen, dass Inhalt des Art. 19 EMRK allein die 41 Peters / Altwicker, in: Leible / Terhechte / Altwicker (Hrsg.), Europäisches Rechts schutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 13 Rdnr. 50. 42 Jahn, ZaöRV 2014, 1 (32). 43 Siehe Teil 2 § 1 B. 44 Peters / Altwicker, in: Leible / Terhechte / Altwicker (Hrsg.), Europäisches Rechts schutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 13 Rdnr. 50; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (261); Sicilianos, in: Seibert-Fohr / Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, 2014, S. 285 (307).
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile151
Errichtung des EGMR sei und dass die Aufgabenbeschreibung der „Einhaltung von Konventionsverpflichtungen“ letztlich nur beinhalte, dass der EGMR nicht befugt sei, über andere völkerrechtliche Rechtssätze oder innerstaatliches Recht zu entscheiden.45 Jedoch können aus Art. 19 EMRK keine Verpflichtungen zu Umfang und Art der Kontrolle der Konventionsverpflichtungen abgeleitet werden. Drittens wird der in der Präambel der EMRK niedergelegte Effektivitätsgrundsatz herangezogen, wonach eine wirksame Durchsetzung der Konven tionsrechte gewährleistet werden muss.46 Dieses Argument überzeugt grundsätzlich, aber auch der Effektivitätsgrundsatz allein kann keine fehlende Rechtsgrundlage ausgleichen: Nur weil eine wirksame Durchsetzung der Konventionsrechte gewährleistet werden muss, heißt das noch nicht, dass der Gerichtshof direkte Anordnungen treffen kann. Eine dahingehende ergebnisorientierte Auslegung ist konstruiert und fernliegend. Zum anderen wird vertreten, dass sich der EGMR auf seine Annexkompetenz / „Implied powers“ aus Art. 46 Abs. 1 EMRK stützen könne.47 Diese Auslegung deckt sich zwar mit der Praxis des EGMR, der tatsächlich inzwischen die Anordnung oder Empfehlung individueller Maßnahmen unter Art. 46 EMRK subsumiert;48 sie ist jedoch dennoch falsch. Art. 46 Abs. 1 EMRK schreibt den Mitgliedstaaten Umsetzungsverpflichtungen vor, enthält jedoch keine Befugnisse zugunsten des Gerichtshofes. Daher kann sich der EGMR mangels Kompetenz auch nicht auf eine Annexkompetenz aus Art. 46 Abs. 1 EMRK berufen. Im Übrigen hatte das Gericht in der Vergangenheit die Anordnungen zunächst unter Art. 41 EMRK subsumiert,49 Art. 41 EMRK sieht jedoch nur die Gewährung einer Entschädigung vor, wovon die Anordnung individueller Maßnahmen nicht umfasst werde.50 Diese Auslegung wird auch durch die Heranziehung der travaux préparatoires von Art. 41 EMRK bestätigt.51 Zusammengefasst besteht daher keine Rechtsgrundlage zur Anordnung individueller Umsetzungsmaßnahmen. Damit hat der Gerichtshof keine Befugnis, solche Maßnahmen ausdrücklich anzuordnen, kann aber in den Urteils45 Meyer-Ladewig,
EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 19 Rdnr. 1. in: Leible / Terhechte / Altwicker (Hrsg.), Europäisches Rechts schutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 13 Rdnr. 50. 47 Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (278 f.). 48 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 17.07.2014 – No. 44260 / 13, Kim / Russland, § 69. 49 EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, § 196 ff. 50 Breuer, EuGRZ 2004, 257 (261); Jahn, ZaöRV 2014, 1 (31 f.). 51 Jahn, ZaöRV 2014, 1 (32) m. w. N.; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (261). 46 Peters / Altwicker,
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gründen unverbindliche Empfehlungen bezüglich der gebotenen Umsetzungshandlungen aussprechen. Zusätzlich sind Anordnungen auch nicht notwendig. Zum einen besteht ohnehin unabhängig von diesbezüglichen Angaben des EGMR die Pflicht zur Beendigung und Wiedergutmachung der Konventionsverletzung. Eine Anordnung ist nur eine Klarstellung dieser Pflicht. Der EGMR geht davon aus, dass, wenn keine Handlungsalternative besteht, das Gericht die einzig richtige Umsetzungsmaßnahme auch benennen dürfe. Wenn dem so ist, kann auch das Ministerkomitee dem Staat die notwendigen Maßnahmen mitteilen, ohne dass es der Worte des Gerichtes bedarf. Es besteht keine Notwendigkeit für den Gerichtshof, sich auf das Feld der Umsetzung zu begeben. Das Gericht scheint auch weniger an dogmatisch sauberen Lösungen, sondern vielmehr an deutlichen Worten in dringenden Angelegenheiten interessiert zu sein. Das ist jedoch nicht das Aufgabenfeld des Gerichtes. 3. Bedeutung für die Umsetzung der Urteile und die Kontrollaufgabe des Ministerkomitees
Mit der Anordnung individueller Maßnahmen hat sich der Gerichtshof unter die für die Umsetzung zuständigen Akteure gemischt. Es wird sogar angeführt, dass der EGMR mittlerweile für die Umsetzung seiner Urteile hauptverantwortlich sei und das Ministerkomitee und die Mitgliedstaaten dieser Position verwiesen habe.52 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass der Gerichtshof bisher nur in Ausnahmefällen individuelle Anordnungen getroffen hat und selbst in diesen Fällen die Urteile von den Mitgliedstaaten umgesetzt und die Umsetzung durch das Ministerkomitee kontrolliert werden. Dabei wurde der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten und des Ministerkomitees de facto auch nicht eingeschränkt, da kein Ermessenspielraum bestand: Laut des EGMR waren es die jeweils einzig möglichen Maßnahmen, um die Konventionsverletzung zu beenden oder wiedergutzumachen. Daher ist auch fraglich, inwieweit die Anordnungen des Gerichtshofes die Arbeit des Ministerkomitees tatsächlich vereinfachen.53 Das Ministerkomitee ist gewiss auch allein dazu in der Lage, mit Unterstützung des Sekretariats die juristisch korrekten Umsetzungsmaßnahmen herauszuarbeiten. Wohl eher wird dem Ministerkomitee politischer Spielraum genommen, indem eine Maßnahme als notwendig vorgegeben und entweder umgesetzt wird oder nicht; auf diese Weise können Blockadesituationen entstehen.54 Zumindest 52 Jahn,
ZaöRV 2014, 1 (10). ZaöRV 2014, 1 (11 f.); Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (160). 54 EGMR, Urteil vom 08.04.2004 – No. 71503 / 01, Assanidze / Georgien, Partly concurring opinion of judge Costa, Ziff. 7; s. auch Breuer, EuGRZ 2004, 257 (261 f.); Keller / Marti, EJIL 2015, 829 (840). 53 Jahn,
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile153
aber wird es durch die Anordnung individueller Maßnahmen der Zivilgesellschaft leichter gemacht, die Umsetzung zu kontrollieren.55 II. Anordnung genereller Maßnahmen durch den Gerichtshof: Piloturteile Neben den individuellen Maßnahmen ordnet der EGMR in der Form von Piloturteilen auch generelle Maßnahmen an. 1. Entwicklung und Kriterien
Nachdem das Gericht 2003 in einem Positionspapier die Idee entwickelt hatte56 und das Ministerkomitee 2004 den EGMR in einer Resolution einlud, in den Fällen, denen systemische Probleme zugrunde liegen, diese Probleme deutlich kenntlich zu machen, um die Staaten bei der Umsetzung und das Ministerkomitee bei deren Überwachung zu unterstützen,57 folgte im selben Jahr mit Broniowski / Polen58 das erste Piloturteil. Die Einführung basierte auf der rechtspolitischen Entscheidung, durch die Konzentration auf strukturelle innerstaatliche Probleme die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs einzudämmen.59 Zunächst gab es keine festgelegten Kriterien. Zur Klarstellung wurden solche 2011 in Regel 61 der VerfO EGMR eingeführt. Demnach unterscheiden sich Piloturteile grundsätzlich durch zwei Kriterien von den üblichen Urteilen: Erstens entscheidet das Gericht nicht nur über die Konventionsverletzung, sondern identifiziert auch das zugrundeliegende strukturelle oder systemische Problem der Konventionsverletzung und gibt dem Staat vor, durch welche Maßnahmen das Problem zu beseitigen ist (Regel 61 § 3). Zweitens kann der Gerichtshof die Parallelfälle für einen bestimmten Zeitraum aussetzen, in dem der Staat die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung des systemischen Problems zu ergreifen hat (Regel 61 § 6 [a]). Werden die Maßnahmen in dem Zeitraum nicht umgesetzt, werden die eingefrorenen Verfahren wiederaufgenommen (Regel 61 § 8). 55 Keller / Marti,
EJIL 2015, 829 (840); siehe auch Jahn, ZaöRV 2014, 1 (12). Responding to systemic human rights violations, 2010, S. 10 m. w. N. 57 Committee of Ministers, Resolution Res(2004)3 of the Committee of Ministers on judgments revealing an underlying systemic problem, 12.05.2004, https: / / wcd. coe.int / ViewDoc.jsp?id=743257&Lang=fr (Stand: 28.02.2018); siehe auch Leach / Hardman / Stephenson, Responding to systemic human rights violations, 2010, S. 10 f. 58 EGMR, Urteil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen. 59 EGMR, Urteiil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen, § 34 f. 56 Leach / Hardman / Stephenson,
154
Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Die bisher ergangenen Piloturteile lassen sich in vier Kategorien einteilen: Überlange Verfahrensdauer, Nichtumsetzung nationaler Gerichtsentschei dungen, Enteignungen ohne Entschädigungen, konventionswidrige Haftbedingungen und die übrigen Fälle.60 Die Piloturteile zu überlangen Verfahrensdauern betrafen Deutschland,61 Griechenland,62 Slowenien,63 Bulgarien,64 die Türkei,65 Polen66 und Ungarn.67 In der Regel forderte der Gerichtshof die Staaten dazu auf, innerhalb eines Jahres nach dem endgültigen Urteil einen wirksamen Rechtsbehelf einzuführen, um die Konventionsverletzung abzustellen.68 Die Piloturteile bezüglich der Nichtvollstreckung innerstaatlicher Gerichtsentscheidungen ergingen gegenüber der Ukraine,69 Russland70 und Moldau71. Der Gerichtshof forderte die Einführung geeigneter Rechtsmittel innerhalb eines72 beziehungsweise eines halben Jahres73 sowie in der Regel Entschädigungen innerhalb eines Jahres für alle Opfer.74 60 Siehe auch die Fallgruppen bei Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (163 ff.); Breuer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rdnr. 29; European Court of Human Rights, Fact Sheet-Pilot Judgments, July 2015, http: / / www.echr.coe.int / Documents / FS_Pilot_judgments_ENG.pdf (Stand: 30.12.2015); Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Juli 2014, http: / / www.echr.coe.int / Documents / FS_Pilot_judgments_DEU.pdf (Stand: 30.12.2015). 61 EGMR, Urteil vom 02.09.2010 – No. 46344 / 06, Rumpf / Deutschland. 62 EGMR, Urteil vom 21.12.2010 – No. 50973 / 08, Vassilios Athanasiou u. a. / Griechenland; EGMR, Urteil vom 03.04.2012 – No. 54447 / 10, Michelioudakis / Griechenland; EGMR, Urteil vom 30.10.2012 – No. 401502 / 09, Glykantzi / Griechenland. 63 EGMR, Urteil vom 06.10.2005 – No. 23032 / 02, Lukenda / Slowenien. 64 EGMR, Urteil vom 10.05.2011 – No. 48059 / 06 u. a., Dimitrov und Hamanov / Bulgarien; EGMR, Urteil vom 10.05.2011 – No. 37346 / 05, Finger / Bulgarien. 65 EGMR, Urteil vom 20.03.2012 – No. 24240 / 07, Ümmühan Kaplan / Türkei. 66 EGMR, Urteil vom 07.07.2015 – No. 72287 / 10 u. a., Rutkowski / Polen. 67 EGMR, Urteil vom 16.07.2015 – No. 48322 / 12, Gazsó / Ungarn. 68 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 02.09.2010 – No. 46344 / 06, Rumpf / Deutschland, Tenor Ziff. 5; siehe auch Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Consti tuting Europe, 2013, S. 142 (163). 69 EGMR, Urteil vom 15.10.2009 – No. 40450 / 04, Yuriy Nikolayevich Ivanov / Ukraine. 70 EGMR, Urteil vom 15.01.2009 – No. 33509 / 04, Burdov / Russland (Nr. 2); EGMR, Urteil vom 06.07.2014 – Nos. 29920 / 05, 3553 / 06 u. a., Gerasimov u. a. / Russland. 71 EGMR, Urteil vom 28.07.2009 – Nos. 476 / 07, 22539 / 05, Olaru u. a. / Moldau. 72 EGMR, Urteil vom 15.10.2009 – No. 40450 / 04, Yuriy Nikolayevich Ivanov / Ukraine, Tenor Ziff. 5; EGMR, Urteil vom 06.07.2014 – Nos. 29920 / 05, 3553 / 06 u. a., Gerasimov u. a. / Russland, Tenor Ziff. 12.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile155
Unübersichtlicher gestaltet sich die Fallgruppe der Piloturteile zu der Verletzung von Eigentumsrechten, der beispielsweise Fälle von fehlenden Entschädigungen bei Eigentumsentzug,75 Mängel bei der gesetzlichen Mietpreisbindung76 bis zu Problemen im Zusammenhang mit den Rückzahlungs programmen für Ersparnisse in Fremdwährungen77 zugrunde liegen. Dementsprechend unterschiedlich fielen auch die Anordnungen des Gerichtes aus, denen gemein ist, ohne78 beziehungsweise innerhalb einer Frist von sechs79 bis zu 18 Monaten80 geeignete Maßnahmen zur Abstellung der Eigentumsrechtsverletzung zu ergreifen. Betroffene Mitgliedstaaten sind Rumänien,81 Polen,82 Albanien,83 Italien84 und Bosnien und Herzegowina85 sowie Kroa tien, Serbien, Slowenien, Mazedonien86 und die Türkei.87 73 EGMR, Urteil vom 15.01.2009 – No. 33509 / 04, Burdov / Russland (Nr. 2), Tenor Ziff. 6; EGMR, Urteil vom 28.07.2009 – Nos. 476 / 07, 22539 / 05, Olaru u. a. / Moldau, Tenor Ziff. 4. 74 EGMR, Urteil vom 28.07.2009 – Nos. 476 / 07, 22539 / 05, Olaru u. a. / Moldau, Tenor Ziff. 5; EGMR, Urteil vom 15.01.2009 – No. 33509 / 04, Burdov / Russland (Nr. 2), Tenor Ziff. 7; EGMR, Urteil vom 15.10.2009 – No. 40450 / 04, Yuriy Nikolayevich Ivanov / Ukraine, Tenor Ziff. 6; siehe auch Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (163). 75 Zum Beispiel EGMR, Urteil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen. 76 EGMR, Urteil vom 19.06.2006 – No. 35014 / 97, Hutten-Czapska / Polen. 77 EGMR, Urteil vom 03.11.2009 – No. 27912 / 02, Suljagić / Bosnien und Herzegowina; EGMR, Urteil vom 16.07.2014 – No. 60642 / 08, Ališić u. a. / Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Serbien und Slowenien. 78 EGMR, Urteil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen, Tenor Ziff. 4; EGMR, Urteil vom 19.06.2006 – No. 35014 / 97, Hutten-Czapska / Polen, Tenor Ziff. 4. 79 EGMR, Urteil vom 03.11.2009 – No. 27912 / 02, Suljagić / Bosnien und Herzegowina, Tenor Ziff. 4; EGMR, Urteil vom 03.09.2013 – No. 5376 / 11, M.C. u. a. / Italien, Tenor Ziff. 11. 80 EGMR, Urteil vom 12.10.2010 – Nos. 30767 / 05 u. a., Maria Atanasiu u. a. / Rumänien, Tenor Ziff. 7; EGMR, Urteil vom 31.07.2012 – Nos. 604 / 07 u. a., Manu shaqe Puto u. a. / Albanien, Tenor Ziff. 8. 81 EGMR, Urteil vom 12.10.2010 – Nos. 30767 / 05 u. a., Maria Atanasiu u. a. / Rumänien. 82 EGMR, Urteil vom 22.06.2004 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen; EGMR, Urteil vom 19.06.2006 – No. 35014 / 97, Hutten-Czapska / Polen. 83 EGMR, Urteil vom 31.07.2012 – Nos. 604 / 07 u. a., Manushaqe Puto u. a. / Albanien. 84 EGMR, Urteil vom 03.09.2013 – No. 5376 / 11, M.C. u. a. / Italien. 85 EGMR, Urteil vom 03.11.2009 – No. 27912 / 02, Suljagić / Bosnien und Herzegowina. 86 EGMR, Urteil vom 16.07.2014 – No. 60642 / 08, Ališić u. a. / Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Serbien und Slowenien. 87 EGMR, Urteil vom 22.12.2005 – No. 46347 / 99, Xenides-Arestis / Türkei.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
In den Piloturteilen zu unmenschlichen oder erniedrigenden Haftbedingungen ordnete der Gerichtshof entweder die Vorlage eines Zeitplans innerhalb von sechs Monaten zu den geplanten Abhilfemaßnahmen88 oder die Einführung von Rechtsmitteln zur Abhilfe der Haftbedingungen innerhalb von 1289 beziehungsweise 18 Monaten90 an. Betroffene Staaten sind Russ land,91 Italien,92 Bulgarien93 und Ungarn.94 Die letzte Fallgruppe der sonstigen Fälle besteht aus zwei Einzelfällen. Im Fall Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich zum Wahlrecht von Strafgefangenen forderte das Gericht Großbritannien dazu auf, innerhalb von sechs Monaten einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit dem das Wahlrecht konventionsgemäß ausgestaltet werden sollte.95 Einen weiteren Einzelfall bildet Kurić u. a. / Slowenien, in dem das Gericht die Einrichtung eines ad hoc Entschädigungssystems für die von den slowenischen Behörden unrechtmäßig aus dem Einwohnerregister gelöschten Personen anordnete.96 2. Bedeutung für die Kontrollfunktion des Ministerkomitees
Fraglich ist, inwiefern Piloturteile Einfluss auf die Arbeit des Minister komitees nehmen, insbesondere ob in die Überwachungskompetenz des Ministerkomitees eingegriffen wird [a)] oder ob die Überwachung durch das Ministerkomitee durch Piloturteile vereinfacht wird [b)]. a) Eingriff in die Kompetenz des Ministerkomitees Der Gerichtshof identifiziert in seinen Urteilen die grundsätzlichen Pro bleme und gibt Vorgaben, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Dabei bleibt 88 EGMR, Urteil vom 10.01.2012 – Nos. 42525 / 07 u. a., Ananyev u. a. / Russland, Tenor Ziff. 7; EGMR, Urteil vom 10.03.2015, Varga u. a. / Ungarn, Tenor Ziff. 9. 89 EGMR, Urteil vom 08.01.2013 – Nos. 43517 / 09 u. a., Torreggiani u. a. / Italien, Tenor Ziff. 4. 90 EGMR, Urteil vom 27.01.2105 – Nos. 36925 / 10 u. a., Neshkov u. a. / Bulgarien, Tenor Ziff. 7 (a). 91 EGMR, Urteil vom 10.01.2012 – Nos. 42525 / 07 u. a., Ananyev u. a. / Russland. 92 EGMR, Urteil vom 08.01.2013 – Nos. 43517 / 09 u. a., Torreggiani u. a. / Italien. 93 EGMR, Urteil vom 27.01.2105 – Nos. 36925 / 10 u. a., Neshkov u. a. / Bulgarien. 94 EGMR, Urteil vom 10.03.2015, Varga u. a. / Ungarn. 95 EGMR, Urteil vom 23.11.2010 – No. 60041 / 08 u. a., Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich, Tenor Ziff. 6 (a). 96 EGMR, Urteil vom 26.06.2012 – No. 26828 / 06, Kurić u. a. / Slowenien, Tenor Ziff. 9.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile157
er jedoch vage. Es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, zu entscheiden, was die „geeigneten Maßnahmen“ (Verletzung von Eigentumsrechten) oder eine „konventionsgemäße Gesetzesreform“ (Greens and M.T. / Vereinigtes Königreich) beinhalten und wie ein „wirksamer Rechtsbehelf“ (Nichtvollstreckung innerstaatlicher Gerichtsurteile) aussieht. Damit ist zwar eine Richtung vorgegeben, es bleibt aber noch ein erheblicher Spielraum, der vom Minister komitee kontrolliert wird.97 Ein Kompetenzkonflikt wird nur bei der Entscheidung über die eingefrorenen Parallelfälle möglich, bei denen der Gerichtshof festlegen muss, ob sie im Register gestrichen oder abgeurteilt werden. Dafür muss das Gericht die infolge des Piloturteils ergangenen Umsetzungsmaßnahmen berücksichtigen. Jedoch überprüft der EGMR nicht die Umsetzungsmaßnahmen, sondern ob die dem Piloturteil zugrunde liegende Konventionsverletzung noch fortbesteht, und tritt dabei auch nicht in einen Dialog mit dem Staat ein.98 Das Ministerkomitee entscheidet weiterhin separat über die Umsetzung des Piloturteils.99 Damit haben das Ministerkomitee und der EGMR an diesem Punkt zwar ähnliche, aber trotzdem differenzierte Funktionen. In der Praxis sind dennoch Konflikte denkbar, wenn zum Beispiel ein Staat mit Verweis auf die Entscheidung des EGMR, die Parallelfälle zu streichen, weitere Umsetzungsmaßnahmen verweigert, die das Ministerkomitee wiederum für notwendig hält. b) Vereinfachung der Überwachung der Umsetzung der Urteile Zwar war eine Idee des Pilotverfahrens, den Umsetzungsprozess zu vereinfachen, eine solche Vereinfachung kann jedoch nur bei einem umsetzungswilligen Staat eintreten, der eine Richtungsvorgabe benötigt, oder bei einem umsetzungsunwilligen Staat, auf den durch das Pilotverfahren erfolgreich Druck ausgeübt wird. Denn wenn der Staat sich nicht den Parallelfällen und den eventuell damit verbundenen Entschädigungszahlungen ausgesetzt sehen will, muss er fristgerecht das Piloturteil umsetzen.100 Der zusätzliche Druck kann für das Ministerkomitee insbesondere in den Fällen hilfreich sein, wenn bereits ein Urteil in der Sache ergangen ist und mangels Umsetzung durch ein Piloturteil zusätzliche Aufmerksamkeit auf das Problem ge97 Colandrea, Human Rights Law Review 2007, 396 (411); Sicilianos, in: Seibert-Fohr / Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, 2014, S. 285 (305); Haider, The pilot-judgment procedure of the European Court of Human Rights, 2013, S. 248. 98 Haider, The pilot-judgment procedure of the European Court of Human Rights, 2013, S. 283. 99 EGMR, Urteil vom 28.09.2005 – No. 31443 / 96, Broniowski / Polen, § 42. 100 Wittling-Vogel, in: Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2014, S. 103 (118 f.).
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
lenkt wird.101 Wenn ein Staat jedoch nicht zur Umsetzung gewillt ist, wie im Fall von Greens und M.T. / Vereinigtes Königreich, kann das Pilotverfahren zu einer Blockadehaltung des Staates führen und die Arbeit des Komitees erschweren.102
B. Kontrolle der Umsetzung eines Urteils durch den Gerichtshof bei Folgebeschwerden Eine weitere Möglichkeit für den EGMR, sich am Umsetzungsprozess zu beteiligen, besteht darin, in Folgeverfahren auf die Umsetzung des ersten Urteils einzugehen. Nach Darstellung der diesbezüglichen bisherigen Spruchpraxis des EGMR (I.) stellt sich die Frage, ob durch die Folgeurteile Schwierigkeiten mit der Kompetenzabgrenzung zum Ministerkomitee entstehen (II.). I. Beispiele aus der Spruchpraxis des EGMR Wird mit einer Individualbeschwerde gerügt, dass ein Mitgliedstaat ein vorangehendes Urteil nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, ist der EGMR grundsätzlich ratione materiae unzuständig, es sei denn, der Beschwerde liegen neue Tatsachen und damit eine neue Konventionsverletzung zugrunde, Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK.103 Vereinzelt hat der EGMR solche Folgebeschwerden für zulässig erklärt.104 Die folgenden Urteile sind für ihre Kompetenzüberschneidungen mit dem Ministerkomitee besonders hervorzuheben: Olsson / Schweden (1.), Mehemi / Frankreich (Nr. 2) (2.), Lyons / Vereinigtes Königreich (3.), Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2) (4.), Emre / Schweiz (Nr. 2) (5.) und Liu / Russland (Nr. 2) (6.).
101 Wie zum Beispiel in Rumpf / Deutschland infolge Sürmeli / Deutschland und Greens and M.T. / Vereinigtes Königreich infolge von Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr. 2). 102 Leach, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 142 (179); siehe auch Teil 3 § 2 E. 103 Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 96; vgl. Schäfer, in: Karpenstein / Mayer / Arndt, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2015, Art. 35 Rdnr. 106. 104 Siehe dazu Cremer, EuGRZ 2012, 493 (501 ff.); Malinverni, in: FS Rozakis, S. 361 (365 ff.).
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile159 1. Olsson / Schweden (Nr. 2), 27.11.1992
1992 befasste der Gerichtshof sich erstmalig105 in einem Folgeverfahren mit einer neuen Verletzung durch die Nichtumsetzung des ersten Urteils: In Olsson / Schweden hatte das Gericht festgestellt, dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK in der Durchführung der Unterbringung der drei Kinder der Beschwerdeführer bei Pflegeeltern zu sehen ist.106 1987 wurde die staatliche Fürsorge aller Kinder beendet.107 Zwei der Kinder durften nach statlicher Anordnung jedoch nicht aus den Pflegefamilien entfernt werden.108 In der Folgebeschwerde Olsson / Schweden (Nr. 2) rügten die Beschwerdeführer zwar sogar direkt eine Verletzung von Art. 53 EMRK a. F. (Art. 46 Abs. 1 EMRK).109 Tatsächlich lag der Beschwerde laut EGMR aber ein anderer Sachverhalt zugrunde als in der Erstbeschwerde, sodass der Gerichtshof da raufhin nicht weiter auf Art. 53 EMRK a. F. einging.110 Das Ministerkomitee hatte das Überwachungsverfahren 1988 bereits ein halbes Jahr nach dem Ersturteil abgeschlossen, nachdem es sich davon überzeugt hatte, dass die Entschädgung gezahlt worden war.111 2. Mehemi / Frankreich (Nr. 2), 10.04.2003
Infolge der Verurteilung wegen eines mit Art. 8 EMRK unvereinbaren dauerhaften Aufenthaltsverbots112 wandelten die französischen Behörden das dauerhafte Aufenthaltsverbot in ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot um,113 sprachen dem Beschwerdeführer Mehemi aber im selben Jahr auch noch eine befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis allerdings mit festgelegtem 105 Zu der Spruchpraxis der Kommission bei Folgebeschwerden siehe Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 272 ff. 106 EGMR, Urteil vom 24.03.1988 – No. 10465 / 83, Olsson / Schweden (Nr. 1), § 78 ff., Tenor Ziff. 3. 107 EGMR, Urteil vom 27.11.1992 – No. 13441 / 87, Olsson / Schweden (Nr. 2), § 10. 108 EGMR, Urteil vom 27.11.1992 – No. 13441 / 87, Olsson / Schweden (Nr. 2), § 12. 109 EGMR, Urteil vom 27.11.1992 – No. 13441 / 87, Olsson / Schweden (Nr. 2), § 72. 110 EGMR, Urteil vom 27.11.1992 – No. 13441 / 87, Olsson / Schweden (Nr. 2), § 94; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 275 f. 111 Committee of Ministers, Final Resolution Olsson / Schweden, 26.10.1988. 112 EGMR, Urteil vom 26.09.1997 – No. 25017 / 94, Mehemi / Frankreich. 113 EGMR, Urteil vom 10.04.2003 – No. 53470 / 99, Mehemi / Frankreich (Nr. 2), § 16.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Wohnsitz zu.114 In diesen neuen Aufenthaltsregelungen sah das Gericht neue Tatsachen.115 Das Verfahren war zum Zeitpunkt des zweiten Urteils noch in der Phase der Überwachung durch das Ministerkomitee, die Schlussresolution erfolgte erst 2009.116 Der Beschwerdeführer lebte seit 1998 wieder in Frankreich.117 Ferner war die Entschädigung fristgerecht an ihn gezahlt worden.118 Die französische Vertretung im Ministerkomitee erachtete die Umsetzung des Urteils damit als abgeschlossen und drang in der Folge auf den Erlass der Schlussresolution.119 Das Ministerkomitee stand in der Zeit vor der Folge beschwerde in Kontakt mit dem Anwalt des Beschwerdeführers, der darauf hinwies, dass Herr Mehemi rechtlich gegen das zehnjährige Aufenthaltsverbot vorgehen würde und aufgrund seiner Wohnsitzauflage ein Arbeitsangebot nicht habe annehmen können.120 Das Ministerkomitee entschied, mit der Schlussresolution bis zu einer Entscheidung in dem Rechtsstreit zu warten,121 der in dem Folgeverfahren Mehemi / Frankreich (Nr. 2) mündete.122 Folglich hat das Ministerkomitee in diesem Umsetzungsverfahren korrekt gehandelt, indem es dem Drängen von französischer Seite nicht nachgab und die Kontrolle fortsetzte. Aufgrund der von Frankreich getroffenen Aufenthaltsregelung konnte das Ministerkomitee die Folgebeschwerde auch nicht vermeiden. Besonders positiv ist hervorzuheben, dass der Anwalt des Beschwerdeführers sich direkt an das Ministerkomitee wandte und seine Briefe auch einen Einfluss auf die Umsetzungskontrolle hatten; daher resultierte die Folgebeschwerde auch nicht aus fehlender Kommunikation zwischen den Beteiligten. 3. Lyons / Vereinigtes Königreich, 08.07.2003
Der EGMR hatte in seinem Urteil IJL, GMR und AKP / Vereinigtes Königreich das Gerichtsverfahren der Beschwerdeführer für unvereinbar mit Art. 6 114 EGMR, Urteil vom 10.04.2003 – No. 53470 / 99, Mehemi / Frankreich (Nr. 2), § 28; s. auch Cremer, EuGRZ 2012, 493 (502). 115 EGMR, Urteil vom 10.04.2003 – No. 53470 / 99, Mehemi / Frankreich (Nr. 2), § 44. 116 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2009)1, 09.01.2009. 117 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / OT(2000)732 Addendum 4, 20.11.2000, Section 4.1. 118 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2009)1, 09.01.2009, Appendix I. a). 119 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / OT(2000)732 Addendum 4, 20.11.2000, Section 4.1. 120 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / OT(2000)732 Addendum 4, Section 4.1. 121 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / OT(2000)732 Addendum 4, Section 4.1. 122 EGMR, Urteil vom 10.04.2003 – No. 53470 / 99, Mehemi / Frankreich (Nr. 2).
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile161
Abs. 1 EMRK erklärt.123 Mit der Folgebeschwerde Lyons / Vereingtes Königreich wandten sich die Beschwerdeführer erneut an den EGMR und rügten diesmal, dass die britische Justiz ihr Verfahren infolge der Verurteilung durch den EGMR nicht wiederaufgenommen beziehungsweise ihr Urteil nicht aufgehoben hatte, worin sie einen erneuten Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK sahen.124 Der Gerichtshof verwies jedoch auf das Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Urteile und die Zuständigkeit des Ministerkomitees bei der Kontrolle der Umsetzung und erklärte das Verfahren daraufhin gemäß Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK für unzulässig ratione materiae.125 Der Gerichtshof ging aber nicht näher auf die Voraussetzung der „neuen Tatsachen“ ein, sondern stützte sich auf Art. 35 Abs. 3 EMRK.126 Das Ministerkomitee schloss die Überwachung der Umsetzung des Urteils am 21. Dezember 2004 ab.127 In der Schlussresolution ging das Ministerkomitee ebenfalls darauf ein, dass die Beschwerdeführer infolge des Urteils eine Wiederaufnahme oder eine Aufhebung ihrer Verurteilung wünschten, solche individuelle Maßnahmen aber auch bei Berücksichtigung der Empfehlung zur Wiederaufnahme128 nicht notwendig gewesen seien und verwies auf die geleisteten Entschädigungszahlungen und die erfolgten generellen Maßnahmen.129 Diese Einschätzung des Komitees war richtig, denn nach der Sachlage war eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht erforderlich, um das Urteil umzusetzen: Die höchste verhängte Haftstrafe betrug zweieinhalb Jahre.130 Damit erreichten die einzelnen verhängten Geld- und Haftstrafen nicht die Schwelle sehr schwerer Folgen, welche die Parteien weiterhin erleiden müssen und die nicht ausreichend durch eine Entschädigung beseitigt und nur durch die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens behoben werden können (Recommendation No. R (2000) 2, Ziff. II [i]). 123 EGMR, Urteil vom 19.09.2000 – Nos. 29522 / 95, 30056 / 96 u. a., IJL, GMR und AKP / Vereingtes Königreich. 124 EGMR, Entscheidung vom 08.07.2003 – No. 15227 / 03, Lyons u. a. / Vereinigtes Königreich. 125 EGMR, Entscheidung vom 08.07.2003 – No. 15227 / 03, Lyons u. a. / Vereinigtes Königreich. 126 EGMR, Entscheidung vom 08.07.2003 – No. 15227 / 03, Lyons u. a. / Vereinigtes Königreich. 127 Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2004)88, 21.12.2004. 128 Committee of Ministers, Rec. No. R (2000) 2, Explanatory Memorandum, Ziff. 3; s. dazu ausführlich Teil 2 § 1 B. I. 1. 129 Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2004)88, 21.12.2004, Appendix I, II. 130 EGMR, Urteil vom 19.09.2000 – Nos. 29522 / 95, 30056 / 96 u. a., IJL, GMR und AKP / Vereingtes Königreich, § 40; Ernest Saunders war in dem separaten Verfahren Saunders / Vereinigtes Königreich zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, hatte jedoch keine Folgebeschwerde eingelegt.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Zudem war das Urteil auch nicht zu dem Schluss gekommen, dass die gefundene Rechtsverletzung auf so gewichtigen Verfahrensfehlern oder Verfahrensmängeln beruhe, dass das Ergebnis des beanstandeten nationalen Verfahrens ernsthaft in Zweifel gezogen werden könne (Recommendation No. R (2000) 2, Ziff. II [ii]). Im Gegenteil: Der EGMR unterstrich in IJL, GMR und AKP / Vereingtes Königreich im Zusammenhang mit der Prüfung von Art. 41 EMRK, dass nicht spekuliert werden könne, wie das Verfahren ausgegangen wäre, wenn die streitgegenständlichen Beweismaterialien nicht genutzt worden wären.131 So entschied auch der Court of Appeal im weiteren Streit über die Wiederaufnahme des Verfahrens und verwies dabei auch auf die hinreichenden weiteren Beweismittel gegen die Beschwerdeführer.132 Im Übrigen ist auch dem Einwand des nachfolgend angerufenen House of Lords zuzustimmen, dass eine Wiederaufnahme wegen des großen Zeitabstandes zu den Geschehnissen und dem ersten Verfahren sowie des Alters und Gesundheitszustandes der Beschwerdeführer nicht mehr sachgerecht sei.133 4. Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), 30.06.2009
Im ersten Urteil Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz hatte der EGMR entschieden, dass die Weigerung der schweizerischen Behörden im Jahr 1994, den Tierschutz-Werbespot des Beschwerdeführers auszustrahlen, eine Verletzung gegen Art. 10 EMRK darstellte.134 Kurz darauf bemühte sich der Verein erneut um die Ausstrahlung des Films,135 die wieder abgelehnt wurde.136 Der Verein beantragte daraufhin beim Bundesgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens;137 das Gericht wies die Wiederaufnahme jedoch im
131 EGMR, Urteil vom 19.09.2000 – Nos. 29522 / 95, 30056 / 96 u. a., IJL, GMR und AKP / Vereingtes Königreich, § 146. 132 EGMR, Entscheidung vom 08.07.2003 – No. 15227 / 03, Lyons u. a. / Vereinigtes Königreich, Ziff. A; Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2004)88, 21.12.2004, Appendix I. 133 EGMR, Entscheidung vom 08.07.2003 – No. 15227 / 03, Lyons u. a. / Vereinigtes Königreich, Ziff. A; Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2004)88, 21.12.2004, Appendix I. 134 EGMR, Urteil vom 28.06.2001 – No. 24699 / 94, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz, § 35 ff., Tenor Ziff. 2. 135 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 19. 136 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 20. 137 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 21.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile163
April 2002 ab.138 Daraufhin reichte der Verein im Juli 2002 erneut wegen einer Verletzung von Art. 10 EMRK eine Beschwerde beim EGMR ein139 und erhielt im Juni 2009 erneut Recht.140 Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung entschied der Gerichtshof, dass das Bundesgericht seine Entscheidung auf neue Entwicklungen gestützt habe und der Beschwerde daher neue Tat sachen zugrunde lägen.141 Zudem wies das Gericht darauf hin, dass es erstens gemäß Art. 32 Abs. 1 EMRK für die Auslegung aller Konventionsrechte eingeschlossen Art. 46 Abs. 1 EMRK zuständig sei.142 Zweitens greife der Gerichtshof auch nicht in die Kompetenz des Ministerkomitees ein, wenn er sich mit Folgebeschwerden befasse, zumal die Überwachung der Umsetzung im vorliegenden Fall bereits abgeschlossen war.143 Das ist in diesem Verfahren auch der entscheidende Punkt: Das Ministerkomitee hatte die Überwachung des ersten Urteils im Juli 2003 bereits abgeschlossen.144 Das Komitee begründete die Entscheidung mit den ergangenen generellen Maßnahmen (der Verbreitung und Veröffentlichung des Urteils) und mit der Möglichkeit einer individuellen Maßnahme, nämlich beim Bundesgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen.145 Weder der Beschwerdeführer noch die Regierung hatten das Ministerkomitee informiert, dass die Wiederaufnahme bereits ein Jahr zuvor erfolglos beantragt worden war.146 Auch darin hat laut EGMR eine neue Tatsache gelegen: Hätte nicht der EGMR sich mit der Entscheidung des Bundesgerichts auseinandergesetzt,
138 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 23. 139 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), §§ 1, 3. 140 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 77 ff., Tenor Ziff. 3. 141 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 65; kritisch Cremer, EuGRZ 2012, 493 (504); siehe auch das Sondervotum des Richters Malinverni (zusammen mit Richter Bîrsan, Richter Myjer und Richterin Berro-Lefèvre), § 13 f., sowie das Sondervotum von Richterin Power. 142 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 66. 143 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 67. 144 Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2003)125, 22.07.2003. 145 Committee of Ministers, Final Resolution ResDH(2003)125, 22.07.2003, Appendix; EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 25. 146 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 25.
164
Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
wäre eine Kontrolle der EMRK-Konformität der Entscheidung nicht möglich gewesen.147 Damit hat das Ministerkomitee falsch gehandelt. Zwar hätte die Regierung das Komitee informieren müssen,148 denn die Pficht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK beinhaltet auch, dass der Staat im Gremium bei der Umsetzung ernsthaft mitwirken muss.149 Ferner hätte auch der Beschwerdeführer durch eine Kommunikation mit dem Komitee möglicherweise die Folgebeschwerde verhindern können. Jedoch lag es am Ministerkomitee zu kontrollieren, also auch Fragen zu stellen und die Wiederaufnahme eines Verfahrens – wenn sie vom Beschwerdeführer gewünscht ist – abzuwarten. Die Folgebeschwerde hätte durch eine tiefergehende Kontrolle des Ersturteils verhindert werden können.150 5. Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011
In Liu / Russland (Nr. 2) wurde ein Verfahren vom EGMR erneut aufgenommen, bei dem die Überwachung der Erstbeschwerde durch das Ministerkomitee bereits begonnen hatte (anders als im nachfolgenden Urteil Emre / Schweiz [Nr. 2]) und auch noch nicht beendet worden war (anders als in Verein gegen Tierfabriken / Schweiz [Nr. 2]). Gegenständlich waren die Verfahren des Herrn Liu, einem mit einer Russin verheirateten chinesischen Staatsbürger mit zwei gemeinsamen Kindern mit russischer Staatsangehörigkeit, demgegenüber eine Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und anschließend die Ausweisung mit der Begründung angeordnet worden war, es lägen Informationen vor, dass er eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle.151 Im ersten Verfahren Liu / Russland stellte der Gerichtshof fest, dass die Abschiebung einen Eingriff in das Recht auf Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellte und führte aus, dass der Eingriff zwar auf einer gesetzlichen Regelung beruhte,152 für die russischen Gerichte aber keine Möglichkeit bestanden habe, die An147 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 67; kritisch dazu das Sondervotum des Richters Malinverni, § 7. 148 So auch Cremer, EuGRZ 2012, 493 (504, Fn. 149). 149 Siehe auch EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 87. 150 So auch Cremer, EuGRZ 2012, 493 (504 f.), der von einem „institutionelle[n] Versagen“ spricht. 151 EGMR, Urteil vom 06.12.2007 – No. 42086 / 05, Liu / Russland, § 5 ff. 152 Nämlich der Regel, dass eine Aufenthaltserlaubnis u. a. dann verweigert werden kann, wenn der Ausländer eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands oder seiner Bürger darstellt, Art. 7 Abs. 1 Ausländergesetz, s. EGMR, Urteil vom 06.12. 2007 – No. 42086 / 05, Liu / Russland, § 33.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile165
wendbarkeit der Gesetzesgrundlage korrekt zu beurteilen, weil es sich bei den zugrunde liegenden Informationen um Verschlusssachen handelte.153 Infolge der Verurteilung durch den EGMR beantragten die Beschwerdeführer eine erneute Betrachtung des russischen Urteils.154 Diesmal wurden die Verschlusssachen in der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Das russische Gericht bejahte eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und erachtete die Ablehnung der Aufenthaltsgenehmigung daraufhin für rechtmäßig.155 Die Entscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt156 und der Erstbeschwerdeführer im November 2009 abgeschoben.157 Die Beschwerdeführer rügten daraufhin beim EGMR erneut eine Verletzung von Art. 8 EMRK158 und der EGMR gab ihnen erneut mit der Begründung Recht, dass in dem neuen Verfahren nicht die notwendigen Verfahrensgarantien eingehalten worden seien. Zum einen hatten die Gerichte nicht überprüft, ob der Beschwerdeführer tatsächlich die nationale Sicherheit bedroht habe, sondern gestanden den Sicherheitsbehörden uneingeschränktes Ermessen in dieser Frage zu.159 Außerdem waren die russischen Gerichte nicht auf die dem Verfahren zugrunde liegenden Tatsachen eingegangen und die Entscheidungen hatten allein auf unbestätigten Berichten der Sicherheitsbehörden basiert.160 Im Übrigen hatten die Beschwerdeführer keinen ausreichenden Zugang zu den Akten.161 Zuvor hatte der Gerichtshof seine Zuständigkeit mit dem Verweis auf neue Tatsachen durch die Geschehnisse nach dem vorigen Urteil bejaht.162 Aufbauend auf Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2) hatte der EGMR festgestellt, dass auch die laufende Überwachung von Liu / Russland durch das Ministerkomitee dem Urteil in der Folgebeschwerde nicht entgegen stehe, da der Gerichtshof erstens gemäß Art. 32 Abs. 1 EMRK für die Auslegung aller Konventionsrechte eingeschlossen Art. 46 Abs. 1 EMRK zuständig sei.163 Zweitens greife der Gerichtshof auch nicht in die Kompetenz des Ministerkomitees ein, wenn er sich mit Folgebeschwerden befasst, wenn infolge der Umsetzungsmaßnahmen neue konventionsrechtlich relevante Fragen auftreten.164 153 EGMR, 154 EGMR, 155 EGMR, 156 EGMR, 157 EGMR, 158 EGMR, 159 EGMR, 160 EGMR, 161 EGMR, 162 EGMR, 163 EGMR, 164 EGMR,
Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil
vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom
06.12.2007 – No. 42086 / 05, Liu / Russland, § 61. 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2),
§ 23. § 28. § 34. § 44. § 54. § 88. § 89. § 90. § 63. § 64. § 65.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Fraglich ist, inwiefern die Folgebeschwerde auf einer unzureichenden Umsetzungskontrolle durch das Ministerkomitee beruhte. Das Urteil Liu / Russland wurde im September 2008 zum ersten Mal auf die Tagesordnung des Ministerkomitees gesetzt, wobei das Komitee zur Kenntnis nahm, dass der Ausweisungsbeschluss aufgehoben worden war und der Erstbeschwerdeführer erneut eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt hatte; das Ministerkomitee wartete auf weitere Informationen zur Situation des Erstbeschwerdeführers.165 Im Dezember 2008 wurde ein drängenderer Ton angeschlagen. Während die russischen Behörden zuvor dargelegt hatten, dass der Erstbeschwerdeführer entweder eine Aufenthaltsgenehmigung oder die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne, hatte nun der Verteidiger der Beschwerdeführer darauf aufmerksam gemacht, dass dem Erstbeschwerdeführer die Aufenthaltsgenehmigung mit der Begründung verweigert worden sei, dass er sich unrechtmäßig im Land aufhalte. Zudem wurde ihm auch mitgeteilt, dass eine Wiederaufnahme des ursprünglichen Verfahrens nicht möglich sei, da das EGMR-Urteil dafür keine Grundlage biete.166 Das Ministerkomitee betonte, dass es angesichts des derzeitigen unrechtmäßigen und daher ungesicherten Aufenthalts des Erstbeschwerdeführers in Russland dringend weitere Informationen der russischen Behörden zu der Situation des Erstbeschwerdeführers und dem Stand des Rechtsstreits erwarte und forderte die Behörden auf, dem Erstbeschwerdeführer während des Verfahrens einen gesicherten Aufenthalt zu ermöglichen.167 Beim darauffolgenden human rights meeting im März 2009 nahm das Komitee zur Kenntnis, dass das Verfahren wiederaufgenommen worden war und der zuständige Richter die Ausländerbehörde gebeten hatte, den Aufenthalt des Erstbeschwerdeführers in Russland während des Verfahrens sicherzustellen; das Ministerkomitee erwartete Informationen zu den konkreten Maßnahmen der Ausländerbehörde und den Fortschritten des Gerichtsverfahrens.168 Bei dem Treffen im Juni 2009 wurde festgehalten, dass das Landgericht den Antrag inzwischen abgelehnt hatte und das Oberste Gericht vom Erstbeschwerdeführer im Wege der Berufung angerufen worden war; das Ministerkomitee erwartete mehr Details der Ausländerbehörde zu den konkreten Maßnahmen, um den rechtmäßigen Aufenthalt des Erstbeschwerdeführers. während des laufenden Gerichtsverfahrens zu gewährleisten, sowie Informationen zu den Fortschritten des Verfahrens am Obersten Gerichtshof.169
165 Committee
of of 167 Committee of 168 Committee of 169 Committee of 166 Committee
Ministers, Ministers, Ministers, Ministers, Ministers,
CM / Del / OJ / DH(2008)1035, CM / Del / OJ / DH(2008)1043, CM / Del / OJ / DH(2008)1043, CM / Del / OJ / DH(2009)1051, CM / Del / OJ / DH(2009)1059,
08.10.2008, 09.01.2009, 09.01.2009, 02.04.2009, 19.06.2009,
Section Section Section Section Section
2.1. 4.1. 4.1. 4.1. 4.2.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile167
Im September 2009 nahm das Ministerkomitee zur Kenntnis, dass der Oberste Gerichtshof das Urteil im Mai bestätigt und der Erstbeschwerdeführer Revision eingelegt hatte; das Ministerkomitee verlangte Informationen zu der aktuellen Situation des Beschwerdeführers.170 In der Folge beschäftigte sich das Komitee nicht mehr im Detail mit dem Fall. Es wartete entweder noch auf weitere Informationen171 oder der Fall stand zwar auf der Tagesordnung, wurde aber nicht besprochen172 oder vertagt.173 Aber die reduzierte Aktivität lässt sich durch die Einlegung der Folgebeschwerde beim EGMR im Juni 2009174 infolge des Urteils des Obersten Gerichtshofes erklären. Im Ergebnis kann dem Ministerkomitee daher kein Fehlverhalten vorgehalten werden. Jedenfalls in dem Zeitraum bis zur Einlegung der Folgebeschwerde wurde das Urteil bei jedem Treffen behandelt und das Ministerkomitee hat immer wieder auf Russland eingewirkt. Im Übrigen gab es auch Kommunikation mit dem Verteidiger der Beschwerdeführer. 6. Emre / Schweiz (Nr. 2), 10.11.2011
Nachdem der EGMR im Jahr 2008 das unbefristete Aufenthaltsverbot des Beschwerdeführers für unvereinbar mit Art. 8 EMRK erklärt hatte,175 wurde das Verbot von den schweizerischen Behörden infolge des Revisionsantrags des Beschwerdeführers auf 10 Jahre beschränkt. Dagegen ging Herr Emre mit einer erneuten EGMR-Beschwerde vor, in der er wieder eine Verletzung von Art. 8 EMRK und zudem von Art. 46 EMRK rügte.176 Das Ministerkomitee hatte die Überwachung der Umsetzung zum Zeitpunkt des Urteils im Folgeverfahren noch nicht begonnen.177 In Anbetracht einer Zeitspanne von dreieinhalb Jahren zwischen den beiden Urteilen und aufgrund der psychischen Erkrankungen des Beschwerdeführers besonderen Dringlichkeit einer Rückkehr in die Schweiz, liegt in diesem Fall ein Versagen des Ministerkomitees vor.178 Das Komitee hätte zumindest – wie im Fall 170 Committee
of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2009)1065, 30.09.2009, Section 4.1. of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2009)1072, 21.12.2009, Section 4.1.; Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2010)1078, 18.03.2010, Section 4.1. 172 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2010)1092-Add, 10.09.2010, SubSection 4.1. 173 Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2010)1086, 17.06.2010, Section 4.1. Committee of Ministers, CM / Del / OJ / DH(2010)1100, 17.12.2010, Section 4.2. 174 EGMR, Urteil vom 26.07.2011 – No. 29157 / 09, Liu / Russland (Nr. 2), § 1. 175 EGMR, Urteil vom 22.05.2008 – No. 42034 / 04, Emre / Schweiz, § 35 ff., Tenor Ziff. 2. 176 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 26. 177 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 42. 178 Cremer, EuGRZ 2012, 493 (505). 171 Committee
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Mehemi / Frankreich – stärker auf die schweizerischen Behörden einwirken müssen, um eine rechtmäßige Rückkehr des Beschwerdeführers in die Schweiz zu ermöglichen. Dieser Aspekt war neben der neuen Interessenabwägung des Schweizerischen Bundesgerichts bei der Entscheidung über den Revisionsantrag179 auch der Grund für die Bejahung der Zulässigkeit der Folgebeschwerde.180 Damit hat das Ministerkomitee nicht nur versagt, indem es seiner Kontrollpflicht aus Art. 46 Abs. 2 EMRK nicht nachgekommen ist, es hat auch die Folgebeschwerde direkt mitverursacht und so die Arbeitsbelastung des Gerichtshofes gesteigert. 2012 hob das Bundesgericht das Aufenthaltsverbot auf,181 das Ministerkomitee schloss die Überwachung im selben Jahr ab.182 Bedeutsam ist zudem, dass der EGMR im Folgeverfahren eine Verletzung von Art. 46 Abs. 1 EMRK (in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 EMRK) festgestellt183 und ausdrücklich ausgesprochen hat, dass die bestgeeignete Umsetzung des ersten Urteils in der Aufhebung des ersten Aufenthaltsverbot bestanden hätte184 und das stattdessen ergangene, auf 10 Jahre befristete Aufenthaltsverbot nicht verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK gewesen sei.185 II. Kompetenzkonflikt mit dem Ministerkomitee Erstens ist dem Gerichtshof Recht zu geben, dass kein Kompetenzkonflikt mit dem Ministerkomitee bestehen kann, da eine zulässige Beschwerde neue Tatsachen voraussetzt und das Gericht dafür zuständig ist, die Konvention auszulegen.186 Daraus folgt: Sobald ein neues, konventionsrelevantes Geschehen eintritt, ist der Aufgabenbereich des Gerichtshofs wiedereröffnet. Ein Konflikt mit dem Ministerkomitee kann auch dann nicht bestehen, wenn die Überwachung durch das Komitee noch fortdauert (siehe Liu / Russland [Nr. 2]). In dem Fall hat das Ministerkomitee die Überwachung fortzusetzen und gleichzeitig das nächste Urteil abzuwarten. 179 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 40 f.; Cremer, EuGRZ 2012, 493 (502). 180 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 42 f. 181 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2012)139, 26.09.2012, III. B. 182 Committee of Ministers, Final Resolution CM / ResDH(2012)139, 26.09.2012. 183 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 75; Keller / Marti, EJIL 2015, 829 (847). 184 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 75. 185 EGMR, Urteil vom 11.10.2011 – No. 5056 / 10, Emre / Schweiz (Nr. 2), § 76. 186 EGMR, Urteil vom 30.06.2009 – No. 32772 / 02, Verein gegen Tierfabriken (VgT) / Schweiz (Nr. 2), § 66 f.
§ 1 Rolle des EGMR bei der Umsetzung der Urteile169
Zweitens ist es aber Aufgabe des Ministerkomitees, Folgebeschwerden zu vermeiden, um den EGMR nicht unnötig mit Arbeit zu belasten. Das Komitee muss seine Kontrollfunktion ernst nehmen, eine fehlende oder verspätete Überprüfung von Umsetzungsmaßnahmen (Emre / Schweiz) ist ebenso problematisch wie ein verfrühter Abschluss (Verein gegen Tierfabriken / Schweiz). Drittens ist auffällig, dass die Folgebeschwerden vorrangig Verletzungen von Art. 8 EMRK betrafen und dabei mehrheitlich Ausweisungsfälle. Viertens ist es bemerkenswert, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit in Verein gegen Tierfabriken / Schweiz (Nr. 2) unter anderem damit begründete, dass diese schweizerischen Umsetzungsmaßnahmen angesichts der bereits ergangenen Schlussresolution des Ministerkomitees ansonsten nicht mehr auf ihre Konventionsmäßigkeit überprüft werden könnten. Mit diesem Ausspruch betont der EGMR die Bedeutung, die er einer Kontrollmöglichkeit verfehlter Umsetzungen beimisst. Fünftens besteht mit den Folgebeschwerden eine Möglichkeit, die Urteils umsetzung des Staates und dessen Überwachung durch das Ministerkomitee auf Initiative der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gerichtlich kontrollieren zu lassen. Denn eine solche Kompetenz sieht die Konvention allein zugunsten des Ministerkomitees in Form der infringement proceedings in Art. 46 Abs. 4, 5 EMRK vor.187 Diese Hintertür ist jedoch zu begrüßen. Sie eröffnet bei einem Scheitern des Ministerkomitees eine weitere Möglichkeit, die Einhaltung der EMRK zu gewährleisten;188 die Folgebeschwerden sind gleichzeitig ein Mittel für die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, Einfluss auf ihre Situation zu nehmen und ein Druckmittel, dass die Mitgliedstaaten die Urteile des EGMR umfassend und im Sinne der Konvention umzusetzen.
C. Ergebnis Bei der Beurteilung des Einflusses des Gerichtshofs auf das Umsetzungsverfahren und die Arbeit des Ministerkomitees ist zwischen den einzelnen Maßnahmen und der Art der Einflussnahme zu differenzieren. Bei der Anordnung individueller Maßnahmen handelt es sich um Einzelfälle, zumeist dringende Situationen (zum Beispiel Haft), in denen der EGMR dem Mitgliedstaat zwar genaue Vorgaben macht, jedoch handelte es sich dabei nach Ansicht des Gerichtshofes auch um die einzige Maßnahme, um 187 Cremer,
EuGRZ 2012, 493 (505). auch Cremer, EuGRZ 2012, 493 (505); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 278. 188 Siehe
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
restitutio in integrum herzustellen. Damit gibt es also im Umsetzungsprozess ohnehin keinen Entscheidungsspielraum und es besteht auch kein Konflikt wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes mit dem Mitgliedstaat. Und da im Übrigen die Wahl der korrekten Umsetzungsmaßnahme wegen der Subsidiarität ohnehin immer beim Mitgliedstaat selbst und nicht beim Ministerkomitee liegt, können die Anordnungen individueller Maßnahmen auch nicht in die Kompetenz des Ministerkomitees eingreifen. Bei der Anordnung genereller Maßnahmen in Piloturteilen macht der Gerichtshof dagegen nur vage Anordnungen, die den Mitgliedstaaten noch erheblichen Spielraum lassen. Daher besteht zunächst einmal ebenfalls kein Konflikt mit dem Mitgliedstaat. Auch ein Kompetenzkonflikt mit dem Ministerkomitee liegt aus denselben Gründen wie bei den individuellen Anordnungen nicht vor. Wenn der Gerichtshof über Folgebeschwerden urteilt, kommt es ebenfalls nicht zu einem Kompetenzkonflikt mit dem Ministerkomitee, da die Zuständigkeit des Gerichtshofes einen auf neuen Tasachen beruhenden Rechtsstreit voraussetzt, der noch nicht Gegenstand der Überwachung durch das Ministerkomitee ist. Stattdessen kann das Gericht das Ministerkomitee durch die Folgebeschwerden kontrollieren. Im Ergebnis bleibt es trotz der stärkeren Einflussnahme des Gerichtshofs auf das Umsetzungsverfahren bei der üblichen Rollenverteilung zwischen dem Gericht und dem Ministerkomitee. Der Gerichtshof hat das Minister komitee weder ersetzt noch überflüssig gemacht.
§ 2 Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei der Umsetzung der Urteile Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat 318 stimmberechtigte Mitglieder, die von den nationalen Parlamenten gewählt und gestellt werden, und trifft sich viermal jährlich in Straßburg.189 Die Versammlung beteiligt sich ebenfalls zunehmend an der Umsetzung der Urteile des EGMR. Nach Darstellung der Rechtsgrundlage (A.) und des Handlungsrahmens (B.) wird die Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung bewertet (C.).
A. Rechtsgrundlage Die Versammlung, neben dem Ministerkomitee gemäß Art. 10 lit. ii Satzung des Europarats ein Hauptorgan des Europarats, soll gemäß Art. 22 Satzung des Europarats als beratendes Organ die Belange im Rahmen der Sat189 Brummer,
Der Europarat, 2008, S. 93 f.
§ 2 Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei Umsetzung der Urteile171
zung diskutieren und die Ergebnisse in Form von Empfehlungen dem Ministerkomitee vorstellen. Die Parlamentarische Versammlung kann sich dabei mit allen Angelegenheiten beschäftigen, die mit dem Ziel und Zweck des Europarats übereinstimmen (Art. 23 lit. a S. 1 Satzung des Europarats) und dementsprechend ihre Tagesordnung aufstellen (Art. 23 lit. b Satzung des Europarats). Zu dem Ziel und Zweck gehören auch der Schutz und die Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 1 lit. b Satzung des Europarats). Somit hat die Parlamentarische Versammlung thematisch einen weiten Handlungsspielraum, sich zu der Umsetzung von Urteilen des EGMR zu äußern. Der Arbeitsablauf der Parlamentarischen Versammlung ist zusätzlich in den Verfahrensregeln der Versammlung geregelt.190
B. Handlungsrahmen Die Parlamentarische Versammlung beteiligt sich an der Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR auf drei Wegen. Sie macht Vorschläge zu Änderungen im Umsetzungsverfahrens (I.), erstellt Staatenberichte (II.) und stellt dem Ministerkomitee Fragen zu dem Stand einzelner Umsetzungsverfahren (III.). I. Vorschläge zur Verbesserung des Umsetzungsverfahrens Schon 1972 hatte die Parlamentarische Versammlung vorgeschlagen, „[to] draw up a European agreement rendering the decisions pronounced by the European Court of Human Rights enforceable in internal law“191 und hat auch in den folgenden Jahren immer wieder ein generelles Interesse an dem Thema gezeigt.192 Startschuss für die verstärkte Einflussnahme der Parlamentarischen Versammlung auf den Umsetzungsprozess war die Resolution 1226 (2000), in der die Parlamentarische Versammlung ihre Besorgnis darüber ausdrückte, dass sich die Umsetzung von Urteilen in einigen Fällen problematisch gestalte und dadurch die Errungenschaften der EMRK gefährdet werden würden.193 Zudem wurden eine Reihe von Empfehlungen in Richtung der Akteure auf nationaler Ebene, des Ministerkomitees und des Gerichtshofs abgegeben.194 Bemerkenswert ist, dass sich unter den Vorschlägen für die 190 Parliamentary Assembly, Rules of Procedure of the Assembly, 04.11.1999, http: / / www.assembly.coe.int / nw / xml / RoP / Rules-EN.pdf (Stand: 28.02.2018). 191 Parliamentary Assembly, Rec. 683 (1972), 23.10.1972, Ziff. C. 2.; Bartsch, in: FS Wiarda, 47 (48). 192 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (169). 193 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 5. 194 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 10 f.
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
Mitgliedstaaten die Wiederaufnahme von Verfahren,195 für das Ministerkomitee die Einführung eines Auslegungsverfahrens,196 wie es heute in Art. 46 Abs. 3 EMRK vorgesehen ist197 und bei den Vorschlägen für den Gerichtshof die Anordnung von Umsetzungsmaßnahmen befinden.198 All diese Vorschläge gehören heute entweder zur Praxis bei der Umsetzung bei den Urteilen des EGMR oder sind, wie im Falle des Auslegungsverfahrens, inzwischen ausdrücklich in der EMRK vorgesehen. Darüber hinaus wurde auch vorgeschlagen, Strafzahlungen für säumige Staaten einzuführen.199 Die Versammlung selbst gibt sich ferner einen umfangreichen Aufgabenkatalog. Der Katalog setzt sich aus Maßnahmen zusammen, die einerseits als logische Fortführung der parlamentarischen Arbeit der Versammlung gesehen werden können, wie Aufmerksamkeit auf die Umsetzung von Urteilen zu lenken,200 dauerhaft Protokoll zum aktuellen Stand der Umsetzung der Urteile des EGMR zu führen,201 regelmäßige Debatten dazu abzuhalten,202 Empfehlungen an das Ministerkomitee hinsichtlich der Implementierung einzelner Urteile abzugeben203 und die Delegierten aus den betroffenen Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, mit allen Kräften eine schnelle und effiziente Umsetzung der Urteile herbeizuführen.204 Andererseits sind auch ungewöhnliche Maßnahmen dabei, mit denen die Parlamentarische Versammlung ini tiativ in den Umsetzungsprozess eingreifen will. Dazu gehört, den Justizminister oder die Justizministerin eines säumigen Mitgliedstaats einzuladen, um vor der Parlamentarischen Versammlung eine Erklärung für die übermäßige Verzögerung der Urteilsumsetzung abzugeben.205 Außerdem wurde erwogen, einen Mitgliedstaat in das Monitoring-Verfahren der Parlamentarischen Versammlung aufzunehmen, sollte er sich weigern, eine Entscheidung des EGMR durchzusetzen.206 Schließlich werden auch andere Möglichkeiten, wie die Suspendierung und der Ausschluss eines Staats nach Art. 8 Satzung des Europarats für den Fall ins Auge gefasst, dass alle anderen Maßnahmen 195 Parliamentary
Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 10.3. Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.1.1. 197 Siehe Teil 2 § 2 A. II. 1. 198 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.2.2. 199 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.1.2.; siehe auch Leach, Public Law 2006, 443 (449); Lambert-Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (494 f.). 200 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.1. 201 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.2. 202 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.3. 203 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.4. 204 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.5. 205 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.6. 206 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.7. 196 Parliamentary
§ 2 Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei Umsetzung der Urteile173
scheitern.207 Die Parlamentarische Versammlung ist grundsätzlich der Anwendung von Art. 8 Satzung des Europarats gegenüber aufgeschlossener als das Ministerkomitee und hat bereits die Anwendung dieser Maßnahme gegenüber dem Ministerkomitee angeregt.208 II. Staatenberichte In der Folge der Resolution wurde 2001 begonnen, unter der Schirmherrschaft des Committee on Legal Affairs and Human Rights, einem der aus Parlamentariern zusammengesetzten Unterausschüsse der Parlamentarischen Versammlung, die Vorschläge der Resolution umzusetzen. Das Committee hat seitdem sieben Berichte vorgelegt,209 denen in der Regel Debatten und Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung210 und Empfehlungen an das Ministerkomitee211 folgten. Davon ergingen zwei Berichte speziell zur Situation der Umsetzung von Urteilen in der Türkei.212 Die Berichte identifizieren Land für Land Umsetzungsprobleme, wobei die Kriterien mit der Zeit wechselten. In den ersten Berichten wurde auf die abgelaufene Zeit seit der EGMR-Entscheidung, eine vorliegende Interim-Resolution des Minister komitees und die Bedeutung des Problems abgestellt.213 Für die Berichte aus den Jahren 2006 und 2010 wurde die Vorgehensweise geändert. Der Ausschuss konzentrierte sich nun auf jeweils zwei Fallgruppen: auf Urteile, die fünf Jahre nach ihrer Verkündung noch nicht voll umgesetzt waren, oder Urteile mit wichtigen Umsetzungsproblemen;214 im Bericht 207 Parliamentary
Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 11.3.9. Beispiel Parliamentary Assembly, Rec. 1456, 06.04.2000, Ziff. 24.2; Brummer, Der Europarat, 2008, S. 84. 209 Parliamentary Assembly, Doc. 9307, 21.12.2001; Parliamentary Assembly, Doc. 9537, 05.09.2002; Parliamentary Assembly, Doc. 10192, 01.06.2004; Parliamentary Assembly, Doc. 10351, 21.10.2004; Parliamentary Assembly, Doc. 11020, 18.09.2006; Parliamentary Assembly, Doc. 12455, 20.12.2010; Parliamentary Assembly, Doc. 13864, 09.09.2015. 210 Parliamentary Assembly, Res. 1268, 22.01.2002; Parliamentary Assembly, Res. 1381, 22.06.2004; Parliamentary Assembly, Res. 1411, 23.11.2004; Parliamentary Assembly, Res. 1516, 02.10.2006; Parliamentary Assembly, Res. 1787, 26.11. 2011; Parliamentary Assembly, Res. 2075, 30.09.2015. 211 Parliamentary Assembly, Rec. 1546, 22.01.2002; Parliamentary Assembly, Rec. 1381, 22.06.2004; Parliamentary Assembly, Rec. 1684, 23.11.2004; Parliamentary Assembly, Res. 1764, 02.10.2006; Parliamentary Assembly, Rec. 1955, 26.01. 2011; Parliamentary Assembly, Rec. 2079, 30.09.2015. 212 Parliamentary Assembly, Doc. 9537, 05.09.2002; Parliamentary Assembly, Doc. 10192, 01.06.2004. 213 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (170). 214 Parliamentary Assembly, Doc. 11020, 18.09.2006, Ziff. C. 6.; Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (171). 208 Zum
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Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
von 2010 dann auf Urteile mit bedeutenden Umsetzungsproblemen, die zum Beispiel durch Interim-Resolutionen hervorgehoben worden waren, oder Urteile betreffend Konventionsverletzungen einer besonders ernsthaften Natur.215 Der Bericht von 2015 schließlich bezieht sich auf die Staaten mit den meisten vor dem Ministerkomitee anhängigen Urteilen laut des Berichts des Ministerkomitees aus dem Jahr 2014.216 Zudem wurden Besuche in einzelnen Staaten durchgeführt.217 III. Fragen an das Ministerkomitee Eine weitere Handlungsoption der Parlamentarischen Versammlung besteht darin, gemäß Regel 59 seiner Verfahrensordnung, dem Ministerkomitee schriftlich Fragen bezüglich der Umsetzungssituation in einzelnen Mitgliedstaaten vorzulegen.218 Von diesem Fragerecht macht die Versammlung auch gelegentlich Gebrauch, so zum Beispiel in den Fällen Hirst / Vereinigtes Königreich (Nr. 2),219 Zypern / Türkei220 und Ilaşcu u. a. / Moldau und Russland.221 Das Ministerkomitee liefert jedoch in der Regel nur unbefriedigende Antworten mit Verweis auf seine aktuellen Entscheidungen im Umset zungsverfahren,222 die ohnehin öffentlich zugänglich sind.
C. Bewertung Es besteht kein Kompetenzkonflikt zwischen der Parlamentarischen Versammlung und dem Ministerkomitee. Die Parlamentarische Versammlung kann das Komitee lediglich durch politischen Druck unterstützen. Fraglich ist jedoch, welche Bedeutung die Unterstützung der Parlamentarischen Versammlung für die Umsetzung der Urteile des EGMR tatsächlich hat. Unbe215 Parliamentary
Assembly, Doc. 12455, 20.12.2010, Ziff. C. 5. Assembly, Doc. 13864, 09.09.2015, Ziff. C. 11. 217 Parliamentary Assembly, Doc. 11020, 18.09.2006, Summary; Parliamentary Assembly, Doc. 12455, 20.12.2010, 20.12.2010, Ziff. C. 5; Parliamentary Assembly, Doc. 13864, 09.09.2015, Ziff. C. 3. 218 Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (283). 219 Parliamentary Assembly, Written question no. 581, Doc. 12133, 26.01.2010. 220 Parliamentary Assembly, Written question no. 575, Doc. 12082, 18.11.2009. 221 Parliamentary Assembly, Written question no. 465, Doc. 10450, 01.02.2005. 222 Parliamentary Assembly, Reply, Doc. 12209, 16.04.2010; Parliamentary Assembly, Reply, Doc. 12259, 11.05.2010; Parliamentary Assembly, Reply, Doc. 10693, 01.10.2005. 216 Parliamentary
§ 2 Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei Umsetzung der Urteile175
stritten ist, dass durch die veröffentlichten Berichte eine Menge Informationen zugänglich geworden sind.223 Zudem werden die Parlamentarier nun mit den Umsetzungsproblemen ihrer Heimatstaaten direkt konfrontiert. Die Besonderheit an der Einflussnahme der Parlamentarischen Versammlung liegt darin, dass die Überwachung der Umsetzung der Urteile eine Verlagerung von der Exekutive – dem Ministerkomitee – auf die Legislative erfährt. Zweck ist es, dass die Delegierten sich in ihren Heimatstaaten und in ihren Parlamenten für die vollständige Durchsetzung der Urteile des EGMR einsetzen und so eine zusätzliche (dem Ministerkomitee komplementäre224) Kraft im Umsetzungsprozess bilden. Die These: Je größer das Interesse der Parlamentarischen Versammlung an der Umsetzung der Urteile ist, desto größer die Wirkung in den nationalen Parlamenten und andersherum.225 Denn die Parlamentarier haben eine Doppelfunktion:226 Sie sind einerseits Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung, andererseits und vorrangig aber Mitglieder ihrer Heimatparlamente. Deren Beteiligung macht auch insofern Sinn, als dass die Parlamentarische Versammlung selbst in Resolution 1226 (2000) die Mitgliedstaaten als die Hauptschuldigen für die unzureichenden Urteilsumsetzungen erklärt haben.227 Gerade wenn zur Umsetzung eines Urteils Gesetzesänderungen notwendig sind, sitzen die Abgeordneten an der entsprechenden Schaltstelle.228 Zudem ist es das Parlament, das die Exekutive kontrolliert und so Druck ausüben kann, damit die Regierung sich mit der Umsetzung der Urteile auseinandersetzt.229 Auch haben die Parlamentsvertreter nicht nur sachlich, sondern auch örtlich einen näheren Bezug zu ihrem Staat, da sie tatsächlich hauptsächlich in ihren Heimatparlamenten sitzen, während die ständigen Vertreterinnen und Vertreter im Ministerkomitee sich dauerhaft in Straßburg aufhalten. Darüber hinaus nutzt die Parlamentarische Versammlung eine Reihe von Maßnahmen, wie Besuche in den Mitgliedstaaten, welche die Arbeit des Ministerkomitees ergänzen und den Wissensstand über den Stand von Urteilsumsetzungen seitens des Europarats erweitern können. Das Ministerkomitee ist auf die Informationen angewiesen, die ihm von den jeweiligen anderen Regierungsvertretern und Vertreterinnen im Ministerkomitee mitgeteilt wer223 Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 195; Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (172). 224 Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 195. 225 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (177). 226 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (173). 227 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 6. 228 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (178). 229 Drzemczewski, NQHR 2010, 164 (178).
176
Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
den, die Parlamentarische Versammlung dagegen versucht, sich ein eigenes Bild zu machen und sucht den Dialog auf parlamentarischer Seite.230 So können die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung von innen auf die Umsetzung einwirken. Im Übrigen hat die Parlamentarische Versammlung auch einen weniger diplomatischen als einen pragmatischen Blick auf die Umsetzung der Urteile. Das zeigt sich darin, dass die Versammlung der Einführung von Strafzahlungen gegenüber offen ist231 und auch die Anwendung von Sanktionen wie der Suspendierung eines Mitgliedstaats in den Raum stellt.232 Diese Perspektive bildet einen Gegenpol zum Ministerkomitee, indem es den Umsetzungsmechanismus infrage stellt, und bringt auf diese Weise Dynamik in das Umsetzungsverfahren. Daher sollte die Parlamentarische Versammlung ihren Einsatz im Bereich der Umsetzung unbedingt fortsetzen und gerade in problematischen Umsetzungsverfahren alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um das Ministerkomitee zu unterstützen und einen Staat zur Umsetzung des Urteils zu bewegen.
§ 3 Rolle des Generalsekretärs bei der Umsetzung der Urteile Die Mitgliedstaaten müssen gemäß Art. 52 EMRK auf Anfrage des Generalsekretärs des Europarates erläutern, auf welche Weise sie die Umsetzung der Bestimmungen der EMRK in ihrem innerstaatlichen Recht gewährleisten. Das kann auch eine Maßnahme sein, um die Umsetzung eines Urteils zu befördern.233 Die bisherigen Generalsekretäre des Europarats haben fünfmal von Anfragen nach Art. 52 EMRK Gebrauch gemacht; dabei ging es jedoch in keinem Fall um die Umsetzung von Urteilen des EGMR.234 Zudem können sich die jeweiligen Generalsekretäre auch auf einem weniger formellen Weg für die Umsetzung von Urteilen einsetzen, indem sie im diplomatischen Austausch darauf hinwirken. So hat beispielsweise der ehe230 Drzemczewski,
NQHR 2010, 164 (177 f.). Teil 5 § 2 A. I. 232 Parliamentary Assembly, Doc. 10351, 21.10.2004, Summary; Parliamentary Assembly, Doc. 11020, 18.09.2006, Summary. 233 Parliamentary Assembly, Res. 1226, 28.09.2000, Ziff. 4. 234 Council of Europe, Human Rights Law and Policy, Art. 52 ECHR, http: / / www. coe.int / t / dghl / standardsetting / hrpolicy / Others_issues / Article_52 / Article_52_en.asp (Stand: 02.04.2016); Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 52 Rdnr. 2. 231 Siehe
§ 4 Fazit177
malige Generalsekretär Walter Schwimmer 2003 im Rahmen seines offiziellen Besuchs in Ankara die dringende Notwendigkeit betont, das Urteil Loizidou / Türkei umzusetzen, damit anhängige vergleichbare Fälle sich nicht zu einem politischen Hindernis bei der Beilegung des Konflikts mit Zypern entwickeln.235 Zu einem Interessenkonflikt mit dem Ministerkomitee würde es bei solch einem Vorgehen des Generalsekretärs nur kommen, wenn der Generalsekretär über seine Kompetenz hinaus handelnd eigene Vorgaben zur Umsetzung eines Urteils macht, die von der Position des Ministerkomitees abweichen. Grundsätzlich wäre die Rolle des Generalsekretärs bezüglich der Umsetzung der Urteile des EGMR aber komplementär zu dem Aufgabenbereich des Ministerkomitees; der Generalsekretär würde das Komitee durch seine diplomatische Einflussnahme auf den betroffenen Mitgliedstaat lediglich unterstützen. Zusammengefasst gibt es begrenzte Möglichkeiten für den Generalsekretär bei Problemen mit der Durchsetzung von Urteilen des EGMR aktiv zu werden. Aufgrund der bisher seltenen Einmischung ist nicht davon auszugehen, dass der Generalsekretär in Zukunft eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit Urteilsumsetzungen einnehmen wird.236
§ 4 Fazit Im Ergebnis gibt es zwischen den einzelnen Organen des Europarates bei der Überwachung der Umsetzung der Urteile keine Kompetenzkonflikte. Dem Ministerkomitee fällt die Hauptverantwortlichkeit bei der Überwachung der Umsetzung zu. Der EGMR kann einerseits einschreiten, bevor das Ministerkomitee die Arbeit aufnimmt, indem er in dem Urteil Umsetzungsmaßnahmen tenoriert. Andererseits kann das Gericht die Umsetzung des Staates und deren Überwachung durch das Ministerkomitee während des laufenden Umsetungsverfahrens oder im Anschluss daran in Folgebeschwerden kontrollieren. Die Parlamentarische Versammlung kann dagegen nur politisch einwirken. Zum einen kann sie durch Fragen an das Ministerkomitee dessen Arbeit überprüfen. Zum anderen kann die Parlamentarische Versammlung durch Berichte zu den innerstaatlichen Verhältnissen der nichtumsetzenden Staaten Aufmerksamkeit auf das Problem lenken und so den Druck auf diese Staaten erhöhen. Letztlich beteiligt sich die Versammlung auch durch rechtspolistische Vorschläge zur Verbesserung des Umsetzungssystems. Der Generalsekretär wiederum kann auf hoher diplomatischer Ebene anhand von Anfragen 235 Council
of Europe, Secretary General, SG / Com(2003)838, 30.04.2003, Ziff. 4. auch Leach, Taking a Case to the European Court of Human Rights, 3. Aufl. 2011, Rdnr. 3.79. 236 Siehe
178
Teil 4: Einfluss des Europarats auf Arbeit des Ministerkomitees
nach Art. 52 EMRK und bei Treffen mit Staatsoberhäuptern ein Bewusstsein für Umsetzungsprobleme schaffen. Es ist wichtig, dass die Europaratsorgane synergetisch zusammenarbeiten und so die Umsetzung der Urteile befördern.237 Das Engagement der einzelnen Akteure kann nur dann Erfolg zeigen, wenn sie auch alle an einem Strang ziehen. Dazu gehört auch, dass das Ministerkomitee der Parlamentarischen Versammlung ausführlicher auf ihre Fragen antwortet.238 Zudem sollten die Parlamentarische Versammlung und der Generalsekretär ihre Unterstützung der Arbeit des Ministerkomitees intensivieren. Gerade bei den sich viele Jahre hinziehenden Umsetzungsproblemen besteht noch Spielraum für mehr politischen Druck. Die Parlamentarische Versammlung kann beispielsweise noch mehr Berichte veröffentlichen, von denen auch das Ministerkomitee profitieren würde, und der Generalsekretär die Gewohnheit entwickeln, bei sich hinziehenden Urteilsumsetzungen regelmäßig das Gespräch mit den Vertreterinnen und Vertretern des Staates zu suchen und darüber auch transparent Auskunft zu geben. Der EGMR sollte jedoch nicht zu aktivistisch in seinen Urteilen vorgehen, um aus den Urteilen kein Politikum zu machen.239 Darunter fällt ein vorsichtiger Umgang mit Anordnungen und eine genaue Prüfung der Zulässigkeit von Folgebeschwerden. Für die Ak zeptanz der Urteile durch die Mitgliedstaaten und in der Folge deren vollständige Umsetzung ist wesentlich, dass die Urteile auf solider rechtlicher Grundlage stehen.
237 Siehe auch Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (288). 238 Siehe Teil 4 § 2 B. III. 239 Lambert-Abdelgawad, in: Føllesdal / Peters / Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe, 2013, S. 263 (291).
Teil 5
Reformüberlegungen und Handlungsvorschläge Fraglich ist, welche weiteren Maßnahmen eingeführt werden sollten, um die Umsetzung der Urteile des EGMR sicherzustellen. Denkbar ist die Neugestaltung des Aufgabenbereichs des Gerichtshofes (§ 1) und des Minister komitees (§ 2), die in der Regel Änderungen der EMRK voraussetzt.
§ 1 Gerichtshof Der Gerichtshof könnte stärker auf dem Umsetzungsprozess einwirken, indem er in jedem Urteil Umsetzungsmaßnahmen anordnet (A.) oder komplett die Verantwortung der Umsetzung der Urteile übernimmt (B.).
A. Anordnungen zur Umsetzung in jedem Urteil Bisher hat der EGMR nur in vereinzelten Urteilen individuelle Maßnahmen und in den Piloturteilen generelle Maßnahmen angeordnet. Denkbar ist, daraus eine ständige Praxis zu machen und den EGMR in allen Gerichtsurteilen Anordnungen zu ihrer Umsetzung treffen zu lassen. Jedoch ist bereits die bisherige Praxis nicht nur positiv aufgenommen worden. Während einige Staaten die Entwicklung begrüßten, da sie für mehr Klarheit bezüglich der nötigen Umsetzungsmaßnahmen sorge und das Umsetzungsverfahren vereinfache, kristisierten andere, dass der Gerichtshof seine Kompetenzen überschreite und die Rollenverteilung zwischen Gericht und Mitgliedstaaten auflöse.1 Neben dieser Kritik, die zu einem Problem der politischen Akzeptanz der Rechtsprechung des EGMR führen könnte, wären Anordnungen in jedem Urteil auch nicht notwendig. Eine direkte Anordnung durch den EGMR garantiert allein nicht die Umsetzung eines Urteils.2 Die Mitgliedstaaten, die sich eine Hilfestellung zu den notwendigen Umsetzungsmaßnahmen wünschen, können dies dem EGMR im Verfahren kommunizieren und zusätzlich im Umsetzungsverfahren auf das Ministerkomitee zurückgreifen. 1 Steering Committee for Human Rights, CDDH(2013) R79 Addendum I, 29.11. 2013, Ziff. 13. 2 Keller / Marti, EJIL 2015, 829 (840).
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Teil 5: Reformüberlegungen und Handlungsvorschläge
B. Verantwortung der Umsetzung an den Gerichtshof abgeben Eine Möglichkeit wäre, die Umsetzung nicht mehr in dem aus Diplomatinnen und Diplomaten zusammengesetzten Ministerkomitee zu kontrollieren, sondern dem EGMR diese Aufgabe zu übertragen. Dann würden nicht mehr die Personen entscheiden, deren Interessen sich an den politischen Erwägungen ihrer Heimatstaaten orientieren, sondern unabhängige Richterinnen und Richter. Gegen eine solche Kompetenzänderung sprechen jedoch folgende Argumente: Erstens kann die diplomatische Zusammensetzung des Ministerkomitees auch von Vorteil sein, da sie eine politische Einflussnahme ermöglicht. Zweitens wäre eine Übertragung der Kontrollfunktion an den EGMR angesichts der bereits hohen Arbeitsbelastung des Gerichtes nicht praktisch umsetzbar. Drittens dient das interamerikanische Menschenrechtssystem, in dem der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) selbst die Umsetzung seiner Urteile überwacht, nicht als Vorbild. Zum einen geht die Überwachungsrolle des IAGMR allein darauf zurück, dass ein dem Ministerkomitee vergleichbares Überwachungsorgan dem interamerikanischen Menschenrechtssystem gerade fehlt und der Gerichtshof die Lücke füllen muss.3 Zum anderen gibt es auch im interamerikanischen System Umsetzungsprobleme.4 Daraus folgt, dass die Überwachung durch ein Gericht nicht zwangsläufig mehr Erfolg verspricht als die Überwachung durch ein politisches Organ.
§ 2 Ministerkomitee Im Bereich der Kontrolle durch das Ministerkomitee könnten finanzielle Sanktionen (A.), eine stärkere Beteiligungsmöglichkeiten der Beschwerdepartei und der Zivilgesellschaft (B.) oder eine finanzielle Unterstützung (C.) eingeführt werden.
A. Finanzielle Sanktionen einführen Finanzielle Sanktionen können Strafzahlungen (I.) oder eine Budgetzahlung in Abhängigkeit der Umsetzungsrate (II.) sein.
3 Blome, 4 Blome,
MRM 2012, 81 (95). MRM 2012, 81 (93) m. w. N.
§ 2 Ministerkomitee181
I. Strafzahlungen Die Einführung einer Konventionsgrundlage für tägliche Strafzahlungen nach dem Vorbild des Art. 260 Abs. 2 AEUV5 bei sich beharrlich der Umsetzung eines Urteils widersetzenden Staates wurde im Jahr 2000 von der Parlamentarischen Versammlung vorgeschlagen,6 jedoch nicht weiter verfolgt.7 Bei den Strafzahlungen stellen sich vorrangig zwei Probleme. Erstens können Strafzahlungen zwar eine Wirkung bei leichten Verzögerungen zeigen, nicht jedoch bei einer „beharrlichen Weigerung“, die in der Regel auf politische Hindernisse zurückzuführen ist.8 Daher würde die Einführung von Strafzahlungen nicht den Umsetzungsprozess beschleunigen, sondern für mehr Widerstand bei dem sich bereits beharrlich weigernden Mitgliedstaat sorgen. Zweitens würde die Entscheidung über die Erhebung von Strafzahlungen im Einzelfall dem Ministerkomitee als für die Umsetzungskontrolle zuständiges Organ obliegen,9 wobei sich ähnliche Probleme stellen wie bei der Durchführung des Versäumnisverfahrens.10 Insbesondere würde das Ministerkomitee die Zahlung von Strafgeldern voraussichtlich nicht anordnen, da es derzeit schon nicht bereit ist, das mildere Versäumnisverfahren durchzuführen. Daher wäre die Implementierung einer Rechtsgrundlage für Strafzahlungen in die EMRK nicht geeignet, um für eine bessere Umsetzung der Urteile des EGMR zu sorgen.
5 Venice Commission, CDL-AD(2002)34, Opinion No. 209 / 2002, 18.12.2002. Ziff. 79. 6 Parliamentary Assembly, Resolution 1226 (2000), 28.09.2000, Ziff. 11.1.2.; Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (494 f.); Leach, Public Law 2006, 443 (449). 7 Venice Commission, CDL-AD(2002)34, Opinion No. 209 / 2002, 18.12.2002. Ziff. 85; Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (494); Leach, Public Law 2006, 443 (449). 8 Vgl. Venice Commission, CDL-AD(2002)34, Opinion No. 209 / 2002, 18.12. 2002. Ziff. 82; Lambert Abdelgawad, ZaöRV 2009, 471 (494 f.); Leach, Public Law 2006, 443 (449). 9 Karper, Reformen des europäischen Gerichts- und Rechtsschutzsystems, 2. Aufl. 2011, S. 226; Oder es würde dem Ministerkomitee zufallen, ein Verfahren mit dem Ziel der Anordnung von Strafzahlungen vor dem EGMR zu initiieren, Venice Commission, CDL-AD(2002)34, Opinion No. 209 / 2002, 18.12.2002. Ziff. 83. 10 Siehe Teil 2 § 2 A. II. 2.
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Teil 5: Reformüberlegungen und Handlungsvorschläge
II. Anpassung der Beitragszahlungen Eine sinnvollere Idee stellt die Berücksichtigung der Anzahl anhängiger Verfahren vor dem EGMR und dem Ministerkomitee bei der Beitragszahlung dar.11 Auf diese Weise würden die Mitgliedstaaten benachteiligt werden, die ihre innerstaatliche Rechtsordnung nicht konventionsgemäß ausgestalten, und würden die vorbildlich handelnden Staaten belohnt.12 Neben Fragen der praktischen Ausgestaltung würde die Anpassung der Zahlungen von den Mitgliedstaaten jedoch als doppelte Bestrafung neben der Zahlung einer Entschädigung aufgefasst werden und ein Risiko für eine Blockadehaltung und Austrittsbestrebungen darstellen. Allerdings ist gerade die Ausgewogenheit dieses Vorschlags reizvoll, da nicht nur eine finanzielle Bestrafung, sondern gleichzeitig ein finanzieller Anreiz geschaffen werden würde. Die Beitrags reduzierung wäre auch eine offizielle Feststellung des Europarates, dass ein Staat eine vorbildliche menschenrechtliche Bilanz vorweisen kann, womit wiederum eine positive Reputation einhergeht.
B. Beteiligung der Beschwerdepartei und Dritter am Umsetzungsverfahren Ebenfalls sinnvoll ist, die Verfahrensordnung des Ministerkomitees zu ändern, um die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sowie ihre Interessenvertreter (zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Verbände) stärker in den Umsetzungsprozess einzubinden.13 Bisher ist nur in Regel 9 der Verfahrensordnung des Ministerkomitees geregelt, dass das Ministerkomitee Vorbringen der betroffenen Person bezüglich der Entschädigungszahlung und dem Ergreifen individueller Maßnahmen (Regel 9 § 1) und von Nichtregierungsorganisationen und nationalen Menschrechtsinstitutionen (Regel 9 § 2) berücksichtigen soll. Darüber hinaus ist jedoch notwendig, dass die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer und ihre Interessenvertretung bei Umsetzungsproblemen im Ministerkomitee anwesend sein und die Probleme aus ihrer Perspektive darlegen kön-
11 Lambert-Abdelgawad, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the longterm future of the European Court of Human Rights, 07. –08.04.2014, H / Inf(2014)1, S. 149 (162 f.) m. w. N. 12 Lambert-Abdelgawad, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the longterm future of the European Court of Human Rights, 07. –08.04.2014, H / Inf(2014)1, S. 149 (163). 13 Lambert-Abdelgawad, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the longterm future of the European Court of Human Rights, 07.–08.04.2014, H / Inf(2014)1, S. 149 (162).
§ 2 Ministerkomitee183
nen.14 Zudem muss sich die Beteiligung auf alle notwendigen Maßnahmen, also Entschädigung, individuelle und generelle Maßnahmen, erstrecken. Es überzeugt nicht, dass dem Staat, der den Rechtsstreit verloren hat, mehr Raum gegeben wird als den betroffenen Individuen. Außerdem hat sich gezeigt, dass auch bei der Umsetzung eine kontradiktorische Situation notwendig ist, um verlässliche Informationen zu erhalten und das Umsetzungsproblem nicht aus den Augen zu verlieren.15 Darüber hinaus ist erforderlich, dass das Ministerkomitee aus Eigeninitiative auf die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte der Beschwerdepartei zugeht, um sich ein Bild von der Umsetzung zu machen. Es ist auf keinen Fall ausreichend, allein mit dem Mitgliedstaat im Dialog zu stehen.
C. Fonds für Entschädigung und finanzielle Unterstützung Einen Fonds einzurichten, um Entschädigungszahlung vorzustrecken, ist nicht erforderlich. In der Regel sind es die Entschädigungen, die von den Staaten freiwillig gezahlt werden, aber die tatsächlichen Umsetzungsmaßnahmen, an denen es fehlt.16 Finanzielle Unterstützung bei der Umsetzung von solchen Maßnahmen können die Staaten aus dem Human Rights Trust Fund17 erhalten, der jedoch mit mehr Mitteln ausgestattet werden muss. Ende 2012 enthielt der Fonds lediglich € 9 Mio.18 Diese Summe genügt nicht, um mehrere Staaten gleichzeitig bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Behebung von strukturellen innerstaatlichen Problemen zu unterstützen.
14 Lambert-Abdelgawad, in: Council of Europe (Hrsg.), Conference on the longterm future of the European Court of Human Rights, 07. –08.04.2014, H / Inf(2014)1, S. 149 (163 f.) m. w. N. 15 Siehe Teil 3. 16 Zum Beispiel Loizidou / Türkei s. Teil 2 § 2 B. II. 2. d) aa) (1), die Tschetschenienfälle siehe Teil 3 § 2 C. III. 1. 17 Council of Europe, The Human Rights Trust Fund, http: / / www.coe.int / t / dghl / humanrightstrustfund (Stand: 28.02.2018). 18 Council of Europe, The Human Rights Trust Fund, Financing and operating principles, http: / / www.coe.int / t / dghl / humanrightstrustfund / financing_en.asp (Stand: 28.02.2018).
Teil 6
Fazit Die Untersuchung hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Die Rolle des Ministerkomitees besteht darin, darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedstaaten vollumfänglich und zeitnah ihre Urteile umsetzen. Bei Auslegung von Art. 46 Abs. 2 bis 5 EMRK ergeben sich für das Komitee eine Reihe von Maßnahmen, um Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben. Die Überwachung der Urteilsumsetzungen obliegt nicht allein dem Ministerkomitee als Gremium, sondern auch den einzelnen Mitgliedstaaten als Drittstaaten im Ministerkomitee. Den Mitgliedstaaten stehen innerhalb der EMRK noch weitere Möglichkeiten zur Verfügung, um auf andere säumige Staaten einzuwirken. Damit sind die rechtlichen Möglichkeiten zur Kontrolle der Umsetzung der Urteile ausreichend. Die theoretisch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten werden jedoch nicht genutzt. Es fehlt nicht nur der politische Wille, Zwangsmaßnahmen durchzuführen, sondern auch, sich regelmäßig aktiv im Ministerkomitee zu beteiligen. Das Ministerkomitee und die Mitgliedstaaten im Ministerkomitee müssen alle rechtmäßigen Werkzeuge nutzen, um die Umsetzung der Urteile herbeizuführen. Im Übrigen zeigt die Praxis die bedenkliche Entwicklung, dass das Ministerkomitee die Mitgliedstaaten bei der Überwachung unterschiedlich behandelt. Die Beteiligung des EGMR und der Parlamentarischen Versammlung an der Kontrolle der Überwachung der Urteile ist zu begrüßen. Der Gerichtshof ordnet Umsetzungsmaßnahmen im Tenor an und kontrolliert in Folgebeschwerden indirekt das Ministerkomitee. Kompetenzüberschneidungen mit dem Ministerkomitee entstehen dabei nicht. Zur Klarstellung der Rechtmäßigkeit individueller Anordnungen sollte eine ausdrückliche konventionsrechtlichen Grundlage geschaffen werden. Die Parlamentarische Versammlung wird zum parlamentarischen Kontrollgremium, indem sie zusätzlichen Druck auf die Mitgliedstaaten ausübt und ebenfalls das Ministerkomitee kontrolliert. Die Abgeordneten tragen das Bewusstsein für Umsetzungsprobleme in ihre Parlamente und können sich dort für die Umsetzung der gegenüber ihren Heimatstaaten ergangenen Urteile einsetzen. Das Ministerkomitee bleibt aber hauptverantwortlich für die Überwachung der Umsetzung der Urteile.
Teil 6: Fazit185
Die Zukunft des EMRK-Systems und der Rolle des Ministerkomitees ist ungewiss. Zum einen mehren sich umfangreiche politisierte Verfahren. Beispielhaft dafür stehen die gegen Russland anhängigen zahlreichen Indivi dualbeschwerden und die von der Ukraine eingelegten Staatenbeschwerden im Zusammenhang mit dem territorialen und militärischen Konflikt der beiden Staaten.1 Die Urteile in diesen Verfahren werden das Ministerkomitee wieder vor die großen Herausforderungen bei der Umsetzungskontrolle stellen, die das Komitee bereits aus anderen Konflikten kennt. Zum anderen ist eine Veränderung in dem Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der EMRK eingetreten. Einige Staaten wie Großbritannien, Russland und die Schweiz erkennen nicht mehr anstandslos die Urteile des EGMR an und beginnen, sich aus dem Konventionssystem zurückzuziehen. In beiden Punkten ist das Ministerkomitee angehalten, auf die in der EMRK enthaltenen Garantien zu bestehen und keine Kompromisse bei der Umsetzung von Urteilen zuzulassen. Gleichzeitig muss das Komitee die europäische Wertegemeinschaft zusammenhalten. Weder der Ausschluss eines Staates noch dessen Austritt nutzen dem Europarat und den Bürgerinnen und Bürgern. Die Balance zwischen dem Fortbestand der Konvention als wirksames Instrument zum Schutz der Menschenrechte einerseits und den Interessen aller Mitgliedstaaten andererseits zu halten, wird die Herausforderung des nächsten Kapitels in der Geschichte der EMRK und des Ministerkomitees sein.
1 Überblick in ECHR, Press country profile, Ukraine, January 2016, S. 8 f., http: / / www.echr.coe.int / Documents / CP_Ukraine_ENG.pdf (Stand: 02.04.2016).
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Sachverzeichnis Bosnien und Herzegowina 155 –– Sejdić und Finci/Bosnien und Herzegowina 81–82, 84, 132–135 Europäische Bewegung 22, 27 Europäische Kommission für Menschenrechte 23, 24 Europäische Union 78, 133, 134, 142
Russland 107, 109–111, 142, 146, 154, 156, 185 –– Ilaşcu u.a. / Moldau und Russland 57, 82–83, 145, 174 –– Liu/Russland 167 –– Nordkaukasus 122–131
Haager Europakongress 22
Ständiger Internationaler Gerichtshof –– Chorzow Factory 36, 42 –– Wimbledon 67
Internationaler Gerichtshof 69, 85 –– Mauer-Gutachten 87 –– Nicaragua 71 –– Teheraner Geiselfall 67
Türkei 108, 109, 111, 154, 155, 173 –– Loizidou / Türkei 57, 79–80, 82, 83, 177 –– Zypern / Türkei 116–122, 174
Generalsekretär 57, 77, 81, 139, 178
Italien 108, 111, 112–115, 155, 156 Parlamentarische Versammlung 29, 57, 77, 130, 134, 170–176
Vereinigtes Königreich 82, 103, 109–111 –– Hirst 107, 135–141, 142, 174