Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren: Eine Bestandsaufnahme der Rechtswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [1 ed.] 9783428545827, 9783428145829

Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wendet das Piloturteilsverfahren an, um bei einem strukturellen P

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German Pages 392 Year 2016

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Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren: Eine Bestandsaufnahme der Rechtswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [1 ed.]
 9783428545827, 9783428145829

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Schriften zum Völkerrecht Band 217

Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren Eine Bestandsaufnahme der Rechtswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Von

Jessica Baumann

Duncker & Humblot · Berlin

JESSICA BAUMANN

Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren

Schriften zum Völkerrecht Band 217

Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren Eine Bestandsaufnahme der Rechtswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Von

Jessica Baumann

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-14582-9 (Print) ISBN 978-3-428-54582-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84582-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Vater

Vorwort Diese Arbeit lag der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Februar 2012 als Dissertation vor. Für die Drucklegung konnten die jüngere Rechtsprechung und wissenschaftliche Rezeption bis einschließlich September 2015 berücksichtigt werden. Das Thema der Arbeit geht zurück auf eine Anregung meines Doktorvaters, Prof. Dr. Udo Fink, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes GutenbergUniversität in Mainz. Ich danke ihm herzlich für die Betreuung der Arbeit und die wertvollen Anregungen und Gespräche. Weiterhin gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Matthias Cornils für meine Zeit an seinem Lehrstuhl für Medienrecht, Kulturrecht und Öffentliches Recht in Mainz und für die Übernahme der Zweitkorrektur. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Peter Kempees, der mich während meines dreimonatigen Traineeships am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg betreut hat. Ferner danke ich der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz, die meine Recherchen an dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, an dem European University Institute in Florenz und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg finanziell unterstützt hat. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Rupert Scholz für die fachlichen Diskussionen zum Thema der Arbeit. Von Herzen danke ich meinen Eltern, Dr. med. Jürgen und Ingrid Maria Baumann, die mich bei meinem Werdegang stets unterstützt haben. Gewidmet ist die Arbeit meinem Vater, der den vollständigen Abschluss der Arbeit leider nicht mehr erlebt hat. Frankfurt a. M., im November 2015

Jessica Baumann

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Erster Teil Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

32

A. Die Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . I. Die universellen und europäischen Wurzeln der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entstehung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die schrittweise Entfaltung des Schutzmechanismus der EMRK . . . . . . . . IV. Das Erstarken des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 35 38 40 44

B. Die Bedrohung des Konventionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Osterweiterung als Wendepunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der drohende Kollaps des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Reformbedürftigkeit des Konventionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 45 50 52 66

Zweiter Teil Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

68

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der innerstaatliche Geltungsanspruch der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ranganspruch der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Feststellungsurteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 69 74 75

B. Die Entwicklung der Piloturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das erste Piloturteil Broniowski ./. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Charakteristika eines echten Piloturteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Piloturteilsverfahren – Der Fortgang des Falls Broniowski . . . . . . . . . IV. Zweck, Potential und Risiken des Piloturteilsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . V. Gründe für den anfänglich nur zögerlichen Gebrauch echter Piloturteile . VI. Das gestärkte Selbstbewusstsein des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Kodifizierung des Piloturteilsverfahrens in der EGMR-VerfO . . . . . . . . . .

92 93 96 98 103 107 114 129 130

10

Inhaltsübersicht Dritter Teil Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

132

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 I. Fehlen eines klaren Begründungsansatzes in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . 133 II. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung der Konvention . . . . . . 135 B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen . . . . . I. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Befugnis des EGMR zur Überprüfung genereller Abhilfemaßnahmen: Einführung einer unzulässigen Normenkontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden und der rückwirkenden Anordnung von Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Suspendierung der parallelen Beschwerden, Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK . II. Kompetenz zur rückwirkenden Anordnung der Abhilfemaßnahmen . . . . . III. Folgen der Nichteinführung des Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zur Bindungswirkung der Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegung des Art. 46 EMRK im Sinne einer erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR – ohne Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Derogierende Staatenpraxis zugunsten eines erga omnes-Effekts der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vertragserweiternde Staatenpraxis zugunsten der Anerkennung einer auf echte Piloturteile beschränkten Bindungswirkung der Anordnungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 146 171 191 194 195 197 199 200 201 221

262 279

Vierter Teil Die Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

280

A. Diskussion um eine Neupositionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 I. Verfassungsrechtlicher Schutz versus individueller Schutz . . . . . . . . . . . . . . 281 II. Verwirklichung eines zweigleisigen Schutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 B. Beitrag des Piloturteilsverfahrens zur Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Strukturelle Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 II. Die Bedenken gegen die erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Inhaltsübersicht III.

IV.

11

Idee der Sicherung der Dynamik des Konventionsrechts durch die Kombination eines erga omnes-Effekts mit einem Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Erster Teil Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

32

A. Die Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . I. Die universellen und europäischen Wurzeln der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entstehung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die schrittweise Entfaltung des Schutzmechanismus der EMRK . . . . . . . . 1. Verzögerungen bei der Ratifikation der EMRK und der Anerkennung der Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurückhaltende Politik der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Erstarken des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bewusstseinswandel innerhalb der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausweitung des Konventionsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wachsender Bekanntheitsgrad der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 35 38

B. Die Bedrohung des Konventionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Osterweiterung als Wendepunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Erweiterungsschub ab dem Jahr 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue quantitative und qualitative Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . II. Der drohende Kollaps des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Reformbedürftigkeit des Konventionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Schwächen des ursprünglichen Rechtsschutzsystems und erste Reformansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reform durch das 11. Protokoll zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die vom EGMR getroffenen internen Maßnahmen zur Bewältigung der Arbeitslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das 14. Protokoll zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick über den Reformprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die durch das Protokoll Nr. 14 eingeführten Hauptänderungen der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ratifikation und Protokoll Nr. 14bis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bericht von Lord Woolf und Bericht der Wise Persons . . . . . . . . . . . . . .

44 45 46 50 50 52

38 39 40 41 41 43 44

53 55 56 57 57 61 63 64

14

Inhaltsverzeichnis

IV.

6. Die Konferenzen von Interlaken und Izmir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Zweiter Teil Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

68

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der innerstaatliche Geltungsanspruch der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herrschende Auffassung und Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wortlaut und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ranganspruch der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Feststellungsurteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formelle und materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Rechtskrafterstreckung auf Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Befolgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zurückhaltung des Gerichtshofs, die aus einer Konventionsverletzung resultierenden Verpflichtungen zu konkretisieren . . . . . . b) Präzisierung der zu ergreifenden individuellen Maßnahmen . . . . . . aa) Eigentumsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Achtung des Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wiederaufnahme strafrechtlicher Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Präzisierung der zu ergreifenden generellen Maßnahmen . . . . . . . . . aa) Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Appellentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Betonung des Subsidiaritätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Fall Asanidse als unmittelbare Vorläuferentscheidung . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 69 71 72 73 73 74 75 76 76 77 78

B. Die Entwicklung der Piloturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das erste Piloturteil Broniowski ./. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteil in der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erste Reaktion Polens auf das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Charakteristika eines echten Piloturteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Piloturteilsverfahren – Der Fortgang des Falls Broniowski . . . . . . . . . . 1. Einleitung des Verfahrens und Erlass des Piloturteils . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gütliche Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Behandlung der parallelen Beschwerden: Wolkenberg u. a. ./. Polen . .

92 93 94 94 95 96 98 98 99 101

79 81 81 83 84 85 86 88 89 90 91

Inhaltsverzeichnis a) Prüfung der Entschädigungsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prüfung der effektiven Umsetzung der Entschädigungsregelung . . . c) Effektiver Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zweck, Potential und Risiken des Piloturteilsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entlastung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problematik der Prognoseentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gefahr mangelhafter Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gründe für den anfänglich nur zögerlichen Gebrauch echter Piloturteile . 1. Praktische Gründe – strukturell-spezifische Mängel versus strukturellsystemische Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtliche Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das gestärkte Selbstbewusstsein des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wahlrecht und Privat- und Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Kodifizierung des Piloturteilsverfahrens in der EGMR-VerfO . . . . . . . . . .

15 101 102 102 103 103 104 104 106 107 109 111 113 114 115 118 123 125 126 129 130

Dritter Teil Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fehlen eines klaren Begründungsansatzes in der Literatur . . . . . . . . . . . . . II. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung der Konvention . . . . . 1. Die Auslegungsmethoden des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimation des EGMR zur Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grenzen der Auslegung nach dem deutschen Rechtsverständnis . . . b) Vertragsauslegung und -änderung und Grundsatz der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konventionsimmanente Auslegung innerhalb der Grenzen von Wortlaut und Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 132 133 135 135 135 136 137 137 138 139 140 140 141

16

Inhaltsverzeichnis bb) Keine unbegrenzte Kompetenz zur Lückenschließung . . . . . . . . 142 cc) Staatenpraxis im Grenzbereich zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Judicial activism und judicial self-restraint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen . . . . . I. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt: Gleichklang mit den Regeln des allgemeinen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Wiedergutmachung im allgemeinen Völkerrecht . . . . . a) Völkerrechtliche Wiedergutmachung im Sinne einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes („Wiedergutmachung i. e. S.“) . . aa) Restitutio in integrum („restitution“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schadensersatz („compensation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Genugtuung („satisfaction“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Völkerrechtliche Wiedergutmachung als umfassende Beseitigung begangenen Unrechts („Wiedergutmachung i. w. S.“) . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wiedergutmachungspflichten der Konventionsstaaten nach Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte des Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut: Anknüpfung an die Chorzów-Formulierung . . . . . . . . . . . . aa) Beendigungspflicht als Teil der Wiedergutmachungspflicht der Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Garantien der Nichtwiederholung als Teil der Wiedergutmachungspflicht der Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Frage der Modifizierung der Pflichten durch Art. 41 EMRK („Wiedergutmachung nur insoweit als die innerstaatliche Rechtsordnung dies ermöglicht“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konventionsverletzung durch Gerichtsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kein Einwand rechtlicher Unmöglichkeit im allgemeinen Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zum Einwand rechtlicher Unmöglichkeit im Konventionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zur Verpflichtung der Staaten zur Einräumung von Wiederaufnahmegründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konventionsverletzung durch Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Konventionsverletzung beruht unmittelbar auf einer Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 146 146 147 148 149 150 151 151 153 153 154 156 157 158

159 160 160 161 162 162 163 166 167 167

Inhaltsverzeichnis

17

(2) Konventionsverletzung beruht mittelbar auf einer Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (3) Erstreckung der Anpassungspflicht auf das Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II.

Die Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Begriff „satisfaction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Feststellung der Konventionsverletzung und Geldersatz . . . . . . . . . . 172 b) Befugnis zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen . . . . . . . 173 c) Befugnis zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . 175 2. Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees . . . . . . . . . 176 a) Urteilsüberwachung durch das Ministerkomitee historisch bedingt . 176 b) Verrechtlichung des Urteilsvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3. Kein unzulässiger Eingriff in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Der Beurteilungsspielraum als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Rechtliche Grundlage des Beurteilungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Notwendigkeit einer Präzisierung der obligation of result . . . . . . . . 184 d) Anordnung der Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Reduzierter Beurteilungsspielraum bei strukturellem Mangel . 186 bb) Weite Anordnungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit spezifischen Mängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Reduzierte Anordnungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit systemischen Mängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

III.

Befugnis des EGMR zur Überprüfung genereller Abhilfemaßnahmen: Einführung einer unzulässigen Normenkontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Trennung der Entscheidung über die Hauptsache und die Entschädigung zur Wahrnehmung einer präventiven Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Zulässigkeit einer quasi-abstrakten Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 193

C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden und der rückwirkenden Anordnung von Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Suspendierung der parallelen Beschwerden, Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK . 195

II.

a) Problem der Rechtsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Techniken des EGMR zur Beschleunigung der Entscheidung über die parallelen Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Kompetenz zur rückwirkenden Anordnung der Abhilfemaßnahmen . . . . . 197

III.

Folgen der Nichteinführung des Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

18

Inhaltsverzeichnis

D. Zur Bindungswirkung der Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegung des Art. 46 EMRK im Sinne einer erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR – ohne Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präjudizwirkung im angloamerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur allgemeinen Befolgung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Streitstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Argumente zugunsten einer Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Argumente zugunsten einer bloßen faktischen Wirkung . . . . . . . . . . c) Annäherung der Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der ordre public-Charakter der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verwirklichung eines übergeordneten Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Objektive Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwingender Kernbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergleich zum Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindungswirkung der Auslegungsurteile für letztinstanzliche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Wirkung der Auslegungsurteile auf die unterinstanzlichen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übertragbarkeit auf die EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Problematik fehlender Vorlagemöglichkeit im Konventionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Voraussetzungen der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Derogierende Staatenpraxis zugunsten eines erga omnes-Effekts der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit und Voraussetzungen einer derogierenden Vertragsänderung durch Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsprechung des EGMR zur Derogation des Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung der Praxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Staatenpraxis in ausgewählten Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . a) Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das britische Verfassungsrecht und der Grundsatz der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inkorporation der EMRK durch den Human Rights Act . . . . . . cc) Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR . .

200 201 202 203 205 205 206 207 209 210 210 211 212 214 214 215 216 217 218 218 218 220 221 221 222 222 224 225 226 226 227 229

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dd) Möglichkeit der Abweichung von der EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 ee) Nicht gelöster Rechtsprechungskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 234 bb) Rechtsprechungsdivergenzen zwischen BVerfG und EGMR . . 235 cc) Die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für nationale Gerichte: der Görgülü-Beschluss des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . 237 dd) Die Grenzen der Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 ee) Bestätigung der Berücksichtigungspflicht: Urteil des BVerfG zur Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Das späte Akzept eines Vorrangs der EMRK vor nachfolgenden nationalen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 bb) Autonome Auslegung und Rechtsprechungsdivergenzen . . . . . 244 d) Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 aa) Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . 246 bb) Kontrolle der Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit der Konvention durch das italienische Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . 247 cc) Übertragung der controlimiti-Lehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 e) Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 aa) Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Rang der EMRK im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 bb) Die Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 cc) Die Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR in der Rechtsprechungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 dd) Verfassungsgerichtshof zum Rang der EMRK und der Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR im nationalen Recht . . . . 253 f) Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 aa) Anwendbarkeit der EMRK und Vorrang vor einfachen Gesetzen 255 bb) Verhältnis Völkerrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 256 cc) Die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR in Theorie und Praxis der nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 g) Fazit der Länderanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 III.

3. Ergebnis und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Vertragserweiternde Staatenpraxis zugunsten der Anerkennung einer auf echte Piloturteile beschränkten Bindungswirkung der Anordnungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Erhöhte Pflicht zur Beachtung bei innerstaatlichen Parallelfällen . . . . 262

20

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IV.

2. Voraussetzungen der Vertragserweiterung am Beispiel der Rechtsprechung des EGMR zu den vorläufigen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zu vorläufigen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zum ultra vires-Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übertragung der Grundsätze auf die Rechtsprechung des EGMR zu den Piloturteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kein entgegenstehender Wille der Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . b) Anknüpfungspunkt in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erweiterte Auslegung des Parteibegriffs bei Vorliegen eines spezifischen Mangels (abgrenzbare Personengruppe) . . . . . . . . . bb) Abgrenzung zur Situation beim Vorliegen eines systemischen Mangels (Personengruppe nicht abgrenzbar) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reaktion auf die Piloturteile bezüglich der Eigentumsverletzung (Art. 1 des 1. ZP-EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reaktion auf die Piloturteile wegen Nichtvollzugs der Gerichtsentscheidungen und des Fehlens einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit (Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK) . . . . . . . . . . . . . cc) Reaktion auf die Piloturteile bezüglich des Problems überlanger Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Reaktion auf das Piloturteil Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich wegen Ausschluss der Gefangenen von dem Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Reaktion Sloweniens auf das festgestellte Versäumnis den Status der „Ausradierten“ zu regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Reaktion auf die Feststellung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262 263 264 266 266 267 268 269 269 271

272 273

275 277 277 278 279

Vierter Teil Die Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems A. Diskussion um eine Neupositionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtlicher Schutz versus individueller Schutz . . . . . . . . . . . . . . II. Verwirklichung eines zweigleisigen Schutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Bedeutungszuwachs des Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Piloturteil und Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stärkung der präventiv-objektiven Kontrollfunktion des EGMR . . . 2. Piloturteile als erster Schritt zur Einführung einer Gruppenklage? . . . . 3. Piloturteile und die Bindungswirkung über den Einzelfall . . . . . . . . . . .

280 280 281 282 283 284 285 286 288

Inhaltsverzeichnis B. Beitrag des Piloturteilsverfahrens zur Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strukturelle Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. EGMR als Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teilnahme der EMRK am Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . a) Bindung an die Unionsgrundrechte im Anwendungsbereich des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken und als eigenständige Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine allgemeine Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ansätze einer Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Fall Carpenter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Fall Åkerberg Fransson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Fall Melloni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Reaktionen und Stellungnahme des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme und post-Fransson-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . 3. EGMR als Letztentscheidungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine unmittelbare Kontrolle der Unionsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare Kontrolle bei unionsrechtlich determiniertem Handeln (Urteil Bosphorus ./. Irland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beitritt der EU zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bedenken gegen die erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechte und Verfassungsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kontrollvorbehalt des BVerfG zum europäischen Integrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überwachung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Identitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Relevanz einer Residualkompetenz im Konventionsrecht . . . . . aa) Weitergehender Schutz im nationalen Recht und Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Günstigkeitsprinzip und Grundsatz der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Günstigkeitsprinzip und Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nationaler Schutz bleibt hinter dem Konventionsschutz zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verstoß gegen tragende Verfassungsprinzipien am Beispiel des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Gewaltenteilungsgrundsatz im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

288 289 289 291 292 293 294 295 295 296 298 300 301 303 303 304 306 307 308 308 309 309 310 311 311 311 312 315 315 316

22

Inhaltsverzeichnis

III.

IV.

bb) Beeinflussung der Gewaltenteilung auf nationaler Ebene durch die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verhältnis Verwaltung und Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . (2) Verhältnis Gerichtsbarkeit – Exekutive/Legislative . . . . . . . (a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kein allgemein anerkanntes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rezeptionsprozesse infolge des europäischen Einflusses d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ultra-vires-Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung des EGMR . . . . . . . . . . . . . b) Parallele zur Diskussion im Recht der Europäischen Union . . . . . . . c) Konsequenzen für das Konventionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Beschränkung der Befolgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Forderung nach einer Rücknahme der Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . c) Zurückhaltung gegenüber mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen durch Achtung von Beurteilungsspielräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kein generelles Zurückhaltungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dynamik des Konventionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idee der Sicherung der Dynamik des Konventionsrechts durch die Kombination eines erga omnes-Effekts mit einem Vorabentscheidungsverfahren 1. Vereinbarkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens mit den Grundgedanken der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskussion um die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens anlässlich des 14. Protokolls zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine unveränderte Übernahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Berücksichtigung eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK . . 5. Protokoll Nr. 16 zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gutachten des EuGH zur Vereinbarkeit des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Stellungnahme und Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorlagemechanismus im Verhältnis EuGH – EGMR . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagemechanismus im Verhältnis nationale Gerichte – EGMR . . c) Folge der Verflechtung der Vorlagemechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317 317 318 318 319 320 321 321 322 325 325 326 327 328 329 332 333 334 335 337 338 340 341 342 345 345 346 346 347

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abs. AEMR AEUV a. F. AfP AMRK AöR Art. Aufl. AVR BGBl. BRILL BVerfG BVerfGE BVerfGG BYBIL ca. CDDH CJEL C.L.J. ders. dies. DÖV DVBl. EECR EEHR Rev EGMR EGMR-VerfO EHRLR EIJL EKMR EMRK EuG EuGH EuGRZ

andere Auffassung am angegebenen Ort Absatz Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht Amerikanische Menschenrechtskonvention Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Bundesgesetzblatt Baltic Yearbook of International Law Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz The British Year Book of International Law circa Comité directeur des droits de l’homme (= Lenkungsausschuss für Menschenrechte) Columbia Journal of European Law Cambridge Law Journal derselbe dieselbe(n) Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt East European Constitutional Review East European Human Rights Review Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Verfahrensordnung des EGMR European Human Rights Law Review European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Gericht der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift

24 EuR Eur Law Rev Eur Publ Law EuZW EWCA Civ. f./ff. FAZ Fn. FS GG GK GRCh GS GYIL HRA HRC HRLJ HRLR HRQ Hrsg. IAGMR ICLQ ICLR IGH ILC Int J Constitutional Law i.V. m. JBl JZ KGRE KHRP Legal Review KJ KUG MLR m.w. N. NJW Nr. NVwZ NStZ OER ÖZöR

Abkürzungsverzeichnis Europarecht European Law Review European Public Law Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Decisions folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift Grundgesetz Große Kammer Charta der Grundrechte (der Europäischen Union) Gedächtnisschrift German Yearbook of International Law Human Rights Act Human Rights Committee Human Rights Law Journal Human Rights Law Review Human Rights Quaterly Herausgeber Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte International and Comparative Law Quarterly International Community Law Review Internationaler Gerichtshof (siehe auch: StIGH) International Law Commission International Journal of Constitutional Law in Verbindung mit Juristische Blätter Juristenzeitung Kongress der Gemeinden und Regionen Europas The Kurdish Human Rights Project Legal Review Kritische Justiz Kunsturhebergesetz The Modern Law Review mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht Osteuropa-Recht Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht; ab Jahrgang 28 (1977): Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

Abkürzungsverzeichnis PL R

RdC Rev.trim.dr.europ. Rev.trim.dr.h. RFDC R.G.D.I.P. R.I.A.A. RIDC Rn. Rs. RUDH S. SchweizJbEurR sog. StIGH

StV SZIER u. a. UKHL UN v. VerfRF VRÜ WÜK WVK ZaöRV ZAR ZEuS Ziff. ZÖR ZP ZRP ZSR ZStW

25

Public Law Der Buchstabe R steht für Rex (König) oder Regina (Königin) und wird in England in Fällen verwendet, in denen der Staat Partei des Rechtsstreits ist. Recueil des cours Revue trimestrielle de droit européen Revue trimestrielle des droits de l’homme Revue française de droit constitutionnel Revue Générale de Droit International Public Reports of International Arbitral Awards Revue internationale de droit comparé Randnummer Rechtssache Revue universelle des droits de l’homme Seite Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht sogenannt Ständiger Internationaler Gerichtshof (engl.: Permanent Court of International Justice, PCIJ; franz.: Cour permanente de Justice internationale, CPJI). Der StIGH wurde 1946 vom Internationalen Gerichtshof (IGH) abgelöst. Strafverteidiger Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht unter anderem United Kingdom House of Lords Vereinte Nationen vom Verfassung der Russischen Föderation Verfassung und Recht in Übersee Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Wiener Vertragsrechtkonvention (auch: Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, WÜV) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für europarechtliche Studien Ziffer (im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR verwendet) Zeitschrift für öffentliches Recht Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung „Die Zeit ist der Spiegel, der das Bild des Gerichtshofs wiedergibt und seine Veränderungen reflektiert, doch dieser Spiegel ist von einer besonderen Art: Er spiegelt nicht nur das Geschehen, sondern wir haben es mit einem aktiven Spiegel zu tun, der selbst unaufhörlich auf das Geschehen einwirkt und das Bild selbst mitgestaltet. Der Spiegel – die Zeit – und das Bild im Spiegel – der Gerichtshof – kommunizieren aktiv miteinander und wirken aufeinander ein. Die Zeit prägt den Gerichtshof, seine Struktur, seine Rechtsprechung, und der Gerichtshof beeinflusst den Gang der Ereignisse im Ablauf der Zeit.“ 1

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist eine Bestandsaufnahme der Rechtswirkungen der Urteile des EGMR anhand einer Untersuchung des sog. Piloturteilsverfahrens. Bei dieser Rechtsprechungsinnovation handelt es sich um eine Reaktion des Straßburger Gerichtshofs auf die Belastung durch massenhafte Wiederholungsfälle, die zu den aktuellen Herausforderungen des Konventionssystems gehören. Die Geschichte der EMRK ist eine wandlungsvolle, die schon viele Hürden gemeistert hat. Als die EMRK ins Leben gerufen wurde, waren die Grausamkeiten und Verbrechen des Zweiten Weltkrieges noch allgegenwärtig. Gleichzeitig schien der erst wiedergewonnene Frieden durch den Kalten Krieg ernsthaft bedroht. Mit der Unterzeichnung der EMRK am 4. November 1950 wollten die Gründerstaaten ein klares Zeichen setzen und ihren Glauben an die Trias Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte als Fundament für ein friedliches Zusammenleben bekräftigen. Die Gründungsväter konnten nicht wissen, dass hierdurch der Grundstein für die größte Erfolgsgeschichte des europäischen Menschenrechtsschutzes gelegt wurde.2 1 Bernhardt, in: Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, S. 21 (21 f.). 2 Die Entwicklung des Konventionsschutzes wird allgemein als Erfolgsgeschichte wahrgenommen, siehe beispielshaft Dicke, Vorbedingungen der Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte; Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte. Der ehemalige EGMR-Präsident Jean-Paul Costa bezeichnete die Geschichte der Konvention sogar als wundersam („something of a miracle“ – Costa, Eröffnungsrede v. 30.1.2009, S. 3). Seit dem 1. November 2012 (Stand: 30.9.2015) ist der Luxemburger Dean Spielmann amtierender Präsident des Gerichtshofs.

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Einleitung

Die EMRK beinhaltete einen verbindlichen Katalog an Rechten und Freiheiten, die dem Individuum erstmals Rechte unabhängig von dem Heimatstaat auf der völkerrechtlichen Ebene gewährte. Um diese Rechte hinreichend zu sichern, war die effiziente Ausgestaltung des verfahrensrechtlichen Schutzes von Anfang an ein besonderes Anliegen der Staaten. Mit der Individualbeschwerde wurde den Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich unmittelbar an den EGMR zu wenden. Obwohl die Individualbeschwerde zunächst von der Anerkennung durch die Staaten abhängig gemacht worden war, entwickelte sie sich schnell zum zentralen Element des Konventionsschutzes, die zusammen mit der fundierten Rechtsprechung des EGMR das Vertrauen der Bürger in das Konventionssystem gewann. Durch eine dynamische Interpretation der garantierten Rechte, die Einführung neuer Gewährleistungen durch Zusatzprotokolle und den Beitritt neuer Staaten konnte das Schutzsystem weiter ausgebaut werden. Heute gilt die Konvention in allen europäischen Staaten mit über 800 Millionen Einwohnern, ausgenommem Belarus. Ihr Einfluss reicht sogar über Europa hinaus, denn sie diente als Vorbild für die Errichtung regionaler Schutzsysteme wie die Amerikanische Menschenrechtscharta und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. Die Konvention, die im Herbst 2015 ihr 65-jähriges Bestehen feiert, wird deshalb zu Recht als das erfolgreichste Experiment des transnationalen gerichtlichen Schutzes der Menschenrechte weltweit betrachtet.3 Doch der EGMR droht Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden.4 Die Zahl der eingehenden Beschwerden ist in den letzten Jahren stark angestiegen und damit die Arbeitslast des Gerichtshofs. In den ersten vierzig Jahren seines Bestehens erließ der Gerichtshof ca. 800 Urteile, also ca. 20 Urteile im Jahr. In dieser Zeit trug die Hauptarbeit die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR), die 1998 abgeschafft wurde. Seither hat der Gerichtshof zehntausende Unzulässigkeitsentscheidungen getroffen und über 9.000 Urteile über die Begründetheit erlassen; das bedeutet im Durchschnitt mehr als 1.000 Urteile im Jahr.5 Zwischen der Zahl der erlassenen Urteile und Entscheidungen und der Zahl der eingehenden neuen Beschwerden besteht eine große Kluft, die kontinuierlich wächst. Dieser Rückstau an unerledigten Beschwerden bedroht die Effektivität des Rechtsschutzsystems. Berücksichtigt man weiterhin, dass der Großteil der festgestellten Konventionsverletzungen das Problem der überlangen Verfahrensdauer betrifft, der Gerichtshof aber selbst kaum noch die von ihm aufgestellten

3 So Greer, HRQ 30 (2008), S. 680 (680): „(. . .) the most successful experiment in the transnational, judicial protection of human rights in the world.“ 4 So eine gängige Formulierung, siehe z. B. Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (271); Karper, Reformen, S. 100; Keller, EuGRZ 2008, S. 359 (360); Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (931); Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (100). 5 Costa, Eröffnungsrede v. 30.1.2009, S. 1 (4).

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Anforderungen an ein zügiges Verfahren erfüllt, so stehen Autorität und Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs auf dem Spiel. Reformen wie durch das Protokoll Nr. 14 zur EMRK, das am 1. Juni 2010 in Kraft getreten ist, haben für eine erste Entlastung gesorgt. Die Änderungen sind aber nicht ausreichend, um den Erfolg des Konventionssystems langfristig zu sichern. Neben der großen Zahl an unzulässigen Beschwerden stellen die Wiederholungsfälle das Hauptproblem für den Gerichtshof dar; sie betreffen ca. 65% der von dem Gerichtshof gefällten Urteile.6 Das Piloturteilsverfahren ist eine Selbsthilfemaßnahme des Gerichtshofs, um dieses Phänomen zu bewältigen. Den Ausgangspunkt markierte das Urteil Broniowski ./. Polen aus dem Jahr 2004.7 Hier stellte der EGMR eine Verletzung des Konventionsrechts auf Achtung des Eigentums infolge einer unzureichenden Regelung der Entschädigung der polnischen Bürger für Vermögensverluste in Gebieten jenseits des Flusses Bug fest. Der Gerichtshof deckte die strukturelle Dimension dieses Problems auf, das eine große Zahl von Menschen betraf und zu einer Vielzahl substantiierter Beschwerden geführt hat. Statt jede Beschwerde separat zu behandeln führte der Gerichtshof eine Art Musterverfahren durch und trug dem beklagten Staat auf, generelle Abhilfemaßnahmen in Form von geeigneten gesetzlichen und verwaltungstechnischen Maßnahmen zu ergreifen, die Wirkung über den Einzelfall hinaus entfalten. Gleichzeititg suspendierte er die Entscheidungen über die gerechte Entschädigung und über die parallelen Beschwerden der weiteren von dem strukturellen Mangel betroffenen Beschwerdeführer, um dem beklagten Staat die Gelegenheit einzuräumen, das Problem durch Einleitung der generellen Abhilfemaßnahmen auf nationaler Ebene zu lösen. Diese Form der Behandlung systemischer oder struktureller Probleme in der innerstaatlichen Rechtsordnung durch den EGMR wird als „Piloturteilsverfahren“ bezeichnet.8 Die Einbindung der parallelen Beschwerden in die Falllösung durch das Piloturteilsverfahren birgt großes Entlastungspotential. Nach Maßgabe der EMRK stellt der EGMR aber lediglich eine Konventionsverletzung im Einzelfall fest. Die Rechtsprechung wirft daher zahlreiche dogmatische Fragen auf: Darf der EGMR über die bloße Feststellung der Konventionsverletzung hinausgehen und den Konventionsstaaten Anordnungen erteilen? Wo ist die Kompetenzgrundlage für ein solches Vorgehen? Wird das Feststellungsurteil hierdurch in ein Leistungsurteil verwandelt? Greift der EGMR durch die Anordnung und Kontrolle

6

Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 1 B. II. EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff. 8 Der Begriff „Piloturteilsverfahren“ verwendet der EGMR erstmals ausdrücklich in dem Urteil zur gütlichen Einigung im Fall Broniowski, EGMR (GK), Urteil v. 28.9. 2005 – Broniowski ./. Polen, gütliche Einigung, EuGRZ 2005, S. 563 (566), Ziff. 34. Zu den Merkmalen des Verfahrens im Einzelnen siehe Teil 2 B. II. 7

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genereller Abhilfemaßnahmen unzulässigerweise in den Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten und in die Befugnisse des mit der Überwachung des Urteilsvollzugs betrauten Ministerkomitees ein? Darf der EGMR generelle Abhilfemaßnahmen mit verbindlicher Wirkung in dem Urteilstenor anordnen? Wird durch die Piloturteile ein erga omnes-Effekt der Urteile des EGMR eingeführt? Obwohl die Wirkungen der Urteile des EGMR bereits mehrfach Gegenstand von Untersuchungen waren,9 bleibt das Thema aktuell. Die EMRK ist kein verstaubter Vertrag und der Konventionsschutz entwickelt sich permanent weiter. Der Zeitpunkt für eine erneute Bestandsaufnahme ist günstig. Anlässlich der Konferenz von Interlaken vom 18./19. Februar 2010 wurde das 14. Protokoll zur EMRK ratifiziert. Damit hat eine Phase ihren Abschluss gefunden, die durch schnell wirkende Maßnahmen eine erste Entlastung für den EGMR schafft. Nun geht es um die Neuausrichtung des Konventionssystems und die Frage, wie der Erfolg des Konventionsschutzes langfristig gesichert werden kann und welche Bedeutung die Urteile des EGMR im Verhältnis zu den nationalen Gerichten und EuGH einnehmen. Da allgemeingültige Aussagen gefunden werden sollen, erfolgt die nachfolgende Untersuchung nicht aus der nationalen, sondern aus der konventionsrechtlichen Perspektive. Lediglich ergänzend wird ein Blick in ausgewählte Rechtsordnungen der 47 Konventionsstaaten geworfen. Der erste Teil der Untersuchung behandelt den rechtspolitischen Hintergrund der Piloturteile, der für das Verständnis des Verfahrens unerlässlich ist. Die Entstehung und Ausweitung des europäischen Menschenrechtsschutzes werden skizziert und die Ursachen für den Anstieg der Beschwerden und die aktuelle Bedrohung der Effektivität des Schutzsystems erforscht. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR, die in dem Erlass des ersten Piloturteils des Gerichtshofs mündete. Die Fortentwicklung des Verfahrens wird begutachtet und die Wesensmerkmale der Piloturteile werden herausgearbeitet. Der dritte Teil widmet sich der Kritik und den rechtlichen Problemen, die mit dem Piloturteilsverfahren verbunden sind. Im Zentrum steht die Frage nach der Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen und nach deren Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten. In einem vierten und letzten Teil wird ein Blick auf die Zukunft des Konventionssystems gewagt. Das Piloturteils-

9 Für eine Studie aus Sicht des Völkerrechts statt aller: Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR. Für eine vergleichende Untersuchung aus Sicht des nationalen Rechts siehe: Drzemczewski, European Human Rights Convention in Domestic Law – a comparative study; Blackburn/Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, The European Convention on Human Rights and its Member States 1950–2000; Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, The Impact of the ECHR on National Legal Systems; Ress, Die EMRK und die Vertragsstaaten, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 ff.

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verfahren könnte erstes Anzeichen für eine Verschiebung im Konventionsschutz sein, der sich von der reinen Einzelfallbetrachtung löst, um Leitentscheidungen mit Wirkung über den Einzelfall herauszubilden und die verfassungsrechtliche Dimension des Konventionsschutzes zu stärken. Das Piloturteilsverfahren gibt Hinweise auf die Wichtigkeit und die Defizite im Dialog der Richter im europäischen Mehrebenensystem und lädt dazu ein, Lösungsmöglichkeiten zur verfahrensrechtlichen Stärkung des Konventionsschutzes zu betrachten.

Erster Teil

Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile Das Piloturteilsverfahren ist eine Antwort des EGMR auf massenhafte Wiederholungsfälle1 (auch: Klonfälle,2 repetitive Beschwerden.3). Hierbei handelt es sich um Fälle, die auf dem gleichen strukturellen Problem beruhen.4 Bei den Piloturteilen geht es regelmäßig um innerstaatliche Parallelfälle, das heißt um Wiederholungsfälle, die in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates auftreten, der Partei in dem Straßburger Verfahren war, in welchem der strukturelle Mangel festgestellt worden ist (nachfolgend: Parallelverfahren oder Parallelfälle).5 Denkbar ist aber auch, dass ein vergleichbarer struktureller Mangel in einem anderen Mitgliedstaat auftritt als in dem Mitgliedstaat, der vor dem EGMR verurteilt wurde (nachfolgend: Drittstaatenfälle). Was der EGMR genau unter einem strukturellen Mangel versteht, wird nicht näher präzisiert. Regelmäßig handelt es sich um eine gesetzliche und/oder administrative Fehllage in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Statt jeden Fall separat zu behandeln, greift der EGMR einen Pilotfall aus der Masse heraus und zeigt Abhilfemaßnahmen auf, die ergriffen werden müssen, um den strukturellen Mangel als Quelle einer Vielzahl gleichgelagerter Beschwerden zu beseitigen. Die vom EGMR aufgezeigten Abhilfemaßnahmen, wie zum Beispiel die erforderlichen Gesetzesänderungen, entfalten dabei generelle Wirkung, das heißt Wirkung über den entschiedenen Fall hinaus.6 Inwieweit diese Anordnungen des EGMR in einem Piloturteil verbindliche Wirkung für Parallelfälle oder Drittstaatenfälle entfalten können, ist eine zentrale Frage und Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung. Der EGMR begründet den Erlass eines Piloturteils mit der Überlastung des Gerichtshofs und der Notwendigkeit, das strukturelle Problem auf nationaler 1

Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (207). Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (273); Zagrebelsky, Questions autor de Broniowski, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 521 (534). 3 Egli, ZaöRV 64 (2004), S. 759 (768); Keller/Bertschi, EuGRZ 2007, S. 204 (207); Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (374). 4 Keller/Bertschi, EuGRZ 2007, S. 204 (207). 5 Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (861). 6 Zu den Einzelheiten des Verfahrens siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. 2

A. Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes

33

Ebene zu lösen.7 Für das Verständnis des Verfahrens ist es unerlässlich, den rechtspolitischen Hintergrund der Piloturteile und die Ursachen für die Überlastung des EGMR zu kennen. Der nachfolgende Abschnitt setzt sich daher mit der Entwicklung und anfänglichen Erfolgsgeschichte des Konventionsschutzes auseinander, um sodann auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten in den letzten Jahrzehnten einzugehen, die die Effektivität des Schutzsystems ernsthaft bedrohen.

A. Die Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes „[W]e looked to the European Court with admiration for what it had been able to achieve and as a model for what we hoped the Inter-American Court might one day become.“ 8

Die Geschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes ist eng mit der Geschichte des Europarates verbunden.9 Die systematische Missachtung fundamentaler Menschenrechte während des Zweiten Weltkrieges hatte die Welt erschüttert. Die Wiederholung einer solchen Barbarei sollte unter allen Umständen ausgeschlossen werden.10

I. Die universellen und europäischen Wurzeln der EMRK In diesem Bewusstsein verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Während nach dem klassischen Völkerrecht nur Staaten agieren und das Individuum lediglich über das Medium des Heimatstaates mit dem Völkerrecht in Verbindung treten konnte,11 stellte die AEMR erstmals das Individuum in den 7 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 (481), Ziff. 193; EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005 – Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung), EuGRZ 2005, S. 563 (566), Ziff. 35. 8 Thomas Buergenthal, ehemaliger Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, anlässlich seines Besuchs in Straßburg, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS R. Ryssdal, S. 123 (126). 9 Zur Entstehungsgeschichte der EMRK siehe: Bates, The Birth of the ECHR, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The ECtHR, S. 17 ff.; Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 ff.; Partsch, ZaöRV 15 (1953/ 1954), S. 631 ff.; Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 ff. 10 Cohen-Jonathan, La Convention Européenne des Droits de l’Homme, S. 9; Tarschy, Europa ohne Trennungslinien, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 39. 11 Ipsen, Völkerrecht, § 7, Rn. 1.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Mittelpunkt der völkerrechtlichen Ordnung und stattete es mit eigenen Rechten aus.12 Die AEMR besitzt als Resolution der Generalversammlung aber nur empfehlenden, keinen verbindlichen Charakter. Erst die beiden rechtsverbindlichen Pakte der Vereinten Nationen von 1966 – der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) – haben zur Durchsetzung der in ihr enthaltenen Individualrechte einen Überwachungsmechanismus in Form eines obligatorisches Berichtssystems geschaffen.13 In einem engen Zusammenhang mit diesem universellen Schutz der Menschenrechte stand die Gründung des Europarates. Die Weltorganisation sollte durch die Schaffung regionaler Organisationen unterstützt werden.14 Darüber hinaus war der Gedanke eines Zusammenschlusses der europäischen Staaten schon seit geraumer Zeit fester Bestandteil der europäischen Ideengeschichte. So hat bereits Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ die Föderation der europäischen Staaten und einen Friedensbund als Mittel der Friedenssicherung vorgeschlagen.15 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rief der britische Staatsmann Sir Winston Churchill in seiner berühmten Rede vom 19. September 1946 zur Erneuerung des europäischen Prozesses auf und sprach sich für die Bildung einer Art Vereinigten Staaten von Europa aus.16 Auf der zwischenstaatlichen Ebene waren die europäischen Kleinstaaten stets die ersten Opfer der Machtkämpfe zwischen den Großmächten gewesen und setzten wichtige Impulse für den europäischen Zusammenschluss. Das Beneluxabkommen zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg wurde durch den Beitritt von Großbritannien und Frankreich im März 1948 zu dem ersten europäischen Verteidigungsbündnis nach dem Krieg (sog. Brüsseler Pakt).17 Auf gesellschaftlicher Ebene formten die Vertreter verschiedener Verbände einen Koordinierungsausschuss für die europäische Einheit, welcher im Mai 1948 einen Kongress in Den Haag einberief. An diesem Kongress nahmen führende Politiker aus fast allen europäischen Ländern unter dem Vorsitz von Winston Churchill teil18 12 Dicke, Vorbedingungen der Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 19 (19); Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 218. 13 Vgl. Art. 40 Abs. 1 IPbürgR, Art. 16 Abs. 1 IPwirtR. 14 Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschnitt, Rn. 235 und 236. 15 Vgl. Kant, Zum Ewigen Frieden, Königsberg 1795, verfügbar unter http://philoso phiebuch.de/ewfried.htm (Stand: 30.9.2015), insbesondere zweiter Definitivartikel. 16 Sir Winston Churchill, Rede vom 19.9.1946 in der Universität Zürich, abgedruckt in: Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, Anhang, S. 307 ff. 17 Moder, Europarat und kleine Mitgliedstaaten, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 225 (226). Aus dem Brüsseler Pakt ging mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23.10.1954 und dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und Italien die Westeuropäische Union (WEU) hervor. 18 Grabenwarter, EMRK, § 1, Rn. 2; Beddard, Human Rights and Europe, S. 14 f.

A. Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes

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und bekräftigten die Idee der Neuordnung Europas durch die Schaffung einer internationalen Organisation.19 Am 5. Mai 1949 wurde die Satzung des Europarates von insgesamt zehn Staaten20 in London unterzeichnet. Sie trat am 3. August 1949 in Kraft. Die Organe des Europarates sind das sich aus den Außenministern der Mitgliedstaaten zusammensetzenden Ministerkomitee und die Beratende Versammlung, die sich seit 1974 Parlamentarische Versammlung nennt und sich aus Vertretern der nationalen Parlamente zusammensetzt. Mit der Beratenden Versammlung erhielt erstmals das europäische Volk Einfluss auf eine internationale Organisation. Das Ministerkomitee als Repräsentant der Staaten sollte aber das zentrale Organ sein und die Beratende Versammlung lediglich Konsultativfunktionen wahrnehmen.21 Als zusätzliches beratendes Organ wurde 1994 der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas und 1999 außerdem das Amt eines Kommissars für Menschenrechte eingeführt.22 Außerdem wurde ein permanentes Sekretariat eingerichtet, das von einem Generalsekretär geleitet wird. Dieser wird für fünf Jahre von der Parlamentarischen Versammlung auf Empfehlung des Ministerkomitees gewählt.23 Gemäß Art. 1 lit. a der Satzung des Europarates hat der Europarat die Aufgabe, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutz und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern“. Nach Art. 1 lit. b der Satzung schließen die Europaratsmitglieder zur Erfüllung der satzungsgemäßen Aufgaben Abkommen. Das wichtigste im Rahmen des Europarates abgeschlossene Abkommen ist die EMRK.

II. Die Entstehung der EMRK Die Präambel der EMRK knüpft an das Ziel des Europarates „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen“ und sieht „eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles in der Wahrung und in der Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Bereits in ihrer ersten Sitzung im August 1949 beauftragte die Beratende Versammlung ihren Ausschuss für Rechts- und Verwaltungsfragen, sich der Frage 19 Cohen-Jonathan, La Convention Européenne des Droits de l’Homme, S. 10; Brummer, Der Europarat, S. 22. 20 Neben den fünf Staaten des Brüsseler Paktes unterzeichneten auch Dänemark, Norwegen, Schweden, Irland und Italien die Satzung. 21 Holtz, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Europarat, S. 18 f.; Brummer, Der Europarat, S. 23. 22 Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschnitt, Rn. 239. 23 Derzeit (Stand: 30.9.2015) übt der Norwerger Thorbjørn Jagland das Amt des Generalsekretärs aus.

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der effektiven Gewährleistung des europäischen Menschenrechtsschutzes zu widmen. Zum Berichterstatter des Ausschusses wurde der Vorsitzende des Juristenausschusses der Europäischen Bewegung und frühere französische Justizminister, Pierre-Henri Teitgen, ernannt. Die Ergebnisse wurden in dem sog. Teitgen-Bericht vom 5. September 1949 zusammengefasst und von der Beratenden Versammlung im Wesentlichen unverändert angenommen und an das Ministerkomitee weitergeleitet.24 Das Ministerkomitee bestellte im November 1949 einen Sachverständigenrat, der auf der Grundlage des Teitgen-Berichts einen Konventionsentwurf ausarbeiten sollte. Die Experten nahmen im Februar 1950 ihre Arbeit auf. Im Hinblick auf bestimmte Punkte, etwa das Problem, ob die geschützten Rechte nur aufgelistet oder im Detail definiert werden sollten sowie über die Frage, ob ein Gerichtshof eingerichtet werden soll, konnte keine Einigung erzielt werden. Daher übersandten die Experten dem Ministerkomitee einen Bericht, der verschiedene Textvarianten enthielt. Die Minister beriefen im Juni 1950 ein Komitee Hoher Beamter (Senior Officals) ein, welches einen Konventionsentwurf verabschiedete, der zum großen Teil den Text der Rechtsexperten übernahm. Der Konventionsentwurf wurde dem Ministerkomitee vorgelegt, das ihn nach einigen Änderungen im August 1950 annahm und der Beratenden Versammlung zur Begutachtung zuleitete.25 Der Entwurf listete die garantierten Rechte nicht mehr nur auf, sondern definierte sie auch. Er schützte hauptsächlich elementare Menschenrechte26 und traditionell liberale Freiheitsrechte. 27 Außerdem enthielt der Entwurf umfangreiche prozessuale Rechte und ein Diskriminierungsverbot. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wurden dagegen – anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 22–29 AEMR) – nicht in den Schutzgehalt der EMRK aufgenommen.28 Ein besonderes Anliegen der Konvention war es, den effektiven Schutz der garantierten Rechte sicherzustellen. Die Konvention sah hierzu die Schaffung zweier neuer Organe vor: die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR), die verbindlich bestehen sollte und der EGMR, dessen Errichtung von einer bestimmten Zahl an Fakultativerklärungen abhängig gemacht wurde. Daneben sollte das Ministerkomitee des Europarates eine wesentliche Überwachungsfunktion übernehmen. 24

Partsch, ZaöVR 15 (1954), S. 631 (642 ff.). Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Einführung, Rn. 1; Grabenwarter, EMRK, § 1 Rn. 3; Partsch, ZaöVR 15 (1954), S. 631 (646 ff.). 26 Z. B. das Recht auf Leben und das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung, Art. 2 und 3 EMRK. 27 Z. B. die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK, die Meinungsfreiheit in Art. 10 EMRK. 28 Soziale Rechte wurden später in die Europäische Sozialcharta von 1961 (BGBl. 1964 III S. 1261) aufgenommen, die 1965 in Kraft trat. 25

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Die EMRK von 1950 sah zur Verfahrenseröffnung eine verbindliche Staatenbeschwerde vor, die jedem Vertragsstaat die Möglichkeit gab, die Konventionsorgane mit einer Menschenrechtsverletzung durch einen anderen Mitgliedstaat zu befassen. Während nach dem allgemeinem Völkerrecht die Staaten über die Form der Streitbeilegung frei entscheiden können (vgl. Art. 33 Abs. 1 UNCharta), haben sie sich hier erstmals einem förmlichen Verfahren und einer externen Kontrolle durch die Konventionsorgane unterworfen.29 Jedoch war dies in dem Bewusstsein geschehen, dass sich ein Staat grundsätzlich hinsichtlich der Einleitung eines Konventionsverletzungsverfahrens gegen einen anderen Staat zurückhaltend zeigen wird, da die zwischenstaatlichen Beziehungen hierdurch nachhaltig beeinträchtigt werden können.30 Für die Beratende Versammlung war der Entwurf ernüchternd, denn der Schutz der Menschenrechte blieb in zentralen Fragen hinter ihren Vorstellungen zurück. So hatte die Beratende Versammlung gefordert, die Jurisdiktion des Gerichtshofs verbindlich zu vereinbaren und sich für die Einführung weiterer wichtiger Rechte (z. B. Eigentumsschutz, Recht auf Bildung, Wahlrecht) eingesetzt und für die Aufnahme eines verbindlichen Individualbeschwerderechts plädiert.31 Der Vorschlag, die Jurisdiktion des Gerichtshofs verbindlich zu vereinbaren und ein Individualbeschwerderecht einzuführen, traf jedoch auf energischen Widerstand, da eine so weitreichende internationale Kontrolle nicht von allen akzeptiert wurde.32 Der Entwurf überließ es daher der Verantwortung der Konventionsstaaten, ob sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs und die Individualbeschwerde anerkennen.33 Die Beratende Versammlung zweifelte an der freiwilligen Übernahme des Individualbeschwerderechts durch die Konventionsstaaten.34 Doch schien es ihr vorteilhafter, den gefundenen Konsens in ein festes Fundament zu gießen als ihn durch zu hohe Ansprüche zu gefährden. In diesem Sinne beschwor der Berichterstatter des Rechtsausschusses Teitgen die Beratende Versammlung den Entwurf zu akzeptieren: „We know that the text drawn up by the Ministers includes some proposals on which they will not go back. Let us then bow our heads and accept them.“ 35 29 Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. (4). 30 Tatsächlich gab es seit dem Inkrafttreten der Konvention nur wenige Staatenbeschwerden. Diese standen regelmäßig im Zusammenhang mit einem politischen Konflikt zwischen den Vertragsparteien, vgl. Karpenstein/Johann, in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art. 33 Rn. 2 m.w. N. 31 Beddard, Human Rights and Europe, S. 23 f.; Grabenwarter, EMRK, § 1, Rn. 3; Partsch, ZaöVR 1954, S. 631 (652 ff.). 32 Schlette, JZ 1999, S. 220; Beddard, Human Rights and Europe, S. 22. 33 Grabenwarter, EMRK, § 1, Rn. 3. 34 Beddard, Human Rights and Europe, S. 24. 35 M. Teitgen, anlässlich der Debatte in der Beratenden Versammlung, zitiert in: Beddard, Human Rights and Europe, S. 24.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Auch Robert Schuman betonte die Notwendigkeit des Akzepts: „This Convention which we are signing is not as full or as precise as many of us would have wished. However, we have thought it our duty to subscribe to it as it stands. It provides foundations on which to base the defence of human personality against all tyrannies and against all forms of totalitarianism.“ 36

Am 4. November 1950 – nur 18 Monate nach der Gründung des Europarates – wurde die Konvention unterzeichnet.37

III. Die schrittweise Entfaltung des Schutzmechanismus der EMRK Die Unterzeichnung legt den Wortlaut eines völkerrechtlichen Vertrages verbindlich fest.38 Für seine Wirksamkeit bedarf der Vertrag aber noch der völkerrechtlichen Ratifikation, das heißt der Abgabe einer Erklärung der zuständigen staatlichen Organe, dass der Vertrag als völkerrechtlich verbindlich angesehen wird. Bei einem multilateralen Vertrag wird das Inkrafttreten des Vertrages regelmäßig von der Ratifikation durch eine bestimmte Anzahl von Staaten abhängig gemacht.39 Für das Inkrafttreten der EMRK war die Ratifikation von zehn Mitgliedstaaten erforderlich.40 1. Verzögerungen bei der Ratifikation der EMRK und der Anerkennung der Individualbeschwerde Die Ratifikation der EMRK durch die Staaten erfolgte jedoch nur zögerlich. Auch die erforderliche Zahl von Anerkennungserklärungen und Fakultativerklärungen für das Inkrafttreten des Individualbeschwerdeverfahrens und die Errichtung des EGMR wurden nur schleppend erreicht. Als erster Mitgliedstaat ratifizierte das Vereinigte Königreich die EMRK. Es folgten Dänemark, Deutschland, Griechenland, Irland, Island, Norwegen, das Saarland41 und Schweden. Mit der Ratifikation durch Luxemburg als zehntes Land trat die Konvention am 3. September 1953 in Kraft.42 Viele größere Staaten, darunter auch Gründungsmitglieder des Europarates, zögerten jedoch die EMRK rechtsverbindlich anzuerkennen. Die Niederlande ratifizierten die Konvention 1954, Belgien und Italien erst 1955. 36

M. Robert Schumann, zitiert in: Robertson, Human Rights in Europe, S. 5. Beddard, Human Rights in Europe, S. 24; Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Einführung, Rn. 1. 38 Vgl. Art. 10 WVK. 39 Herdegen, Völkerrecht, 11. Aufl., § 15, Rn. 14. 40 Grabenwarter, EMRK, § 1 Rn. 3. 41 Das Saarland wurde am 1.1.1957 Deutschland wiedereingegliedert. 42 Beddard, Human Rights and Europe, S. 26; Grabenwarter, EMRK, § 1 Rn. 3; Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Einführung, Rn. 2. 37

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Frankreich verzögerte die Ratifizierung über zwei Jahrzehnte bis zum Mai 1974.43 Für das Inkrafttreten des Individualbeschwerdeverfahrens waren sechs Anerkennungserklärungen erforderlich. Irland und die skandinavischen Länder Schweden, Dänemark und Island machten den Anfang. Die Anerkennung der Individualbeschwerde durch Belgien und Deutschland im Juli 1955 ließ das Verfahren zwischen den sechs Staaten in Kraft treten. Das Vereinigte Königreich gab seine Anerkennungserklärung erst am 14. Januar 1966 ab; Italien folgte 1973. Erneut war es Frankreich, welches sich als letzte der großen europäischen Nationen dem Individualbeschwerdeverfahren 1981 unterwarf.44 Die zur Schaffung des Gerichtshofs erforderliche Anzahl von acht Fakultativerklärungen wurde im Januar 1959 erreicht. Die erste Sitzung des EGMR fand im Februar 1959 statt,45 und am 14. November 1960 erließ der EGMR sein erstes Urteil.46 Der Gerichtshof setzte sich aus einem Richter aus jedem Mitgliedstaat des Europarates zusammen, die in Straßburg etwa eine Woche im Monat Teilzeit arbeiteten.47 Mit Inkrafttreten der Individualbeschwerde 1955 war die Basis für die umfassende Wahrnehmung der Rechtsprechungsfunktion durch den EGMR geschaffen worden. Dennoch wurden dem Gerichtshof zunächst nur wenige Fälle vorgelegt.48 Im Jahr 1955 wurden nur 138 Individualbeschwerden registriert. Diese Zahl nahm sogar noch ab: 1956 wurden 104 Beschwerden, 1957 nur 101 und 1958 nicht mehr als 96 Beschwerden registriert.49 2. Zurückhaltende Politik der Kommission Der Rückgang der Beschwerden in den ersten Jahren ist auf die „defensive Haltung“ 50 der Kommission zurückzuführen. In dem 1950 errichteten Rechtsschutzsystem wurde eine Beschwerde zunächst der EKMR zugeleitet, die die Zulässigkeit prüfte. Wurde die Zulässigkeit bejaht, nahm die EKMR in einem von ihr erstellten Bericht zu dem Vorliegen einer Konventionsverletzung Stellung. Im 43 Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (2 f.); Brummer, Der Europarat, S. 144; Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (43). 44 Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (4 f.); Grabenwarter, EMRK, § 1, Rn. 3. 45 Tomuschat, The ECtHR, a. a. O., S. 1 (4). 46 EGMR, Urteil v. 14.11.1960 – Lawless ./. Irland, Nr. 332/57. 47 Ryssdall, EHRLR 1 (1996), S. 18 (19). 48 Ryssdall, EHRLR 1 (1996), S. 18 (20). 49 Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (6 f.). 50 Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (46).

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Unterschied zu der Entscheidung über die Unzulässigkeit war dieser Bericht nicht verbindlich, sondern hatte nur vorbereitenden Charakter. Der Gerichtshof entschied abschließend über das Vorliegen einer Konventionsverletzung unter der Voraussetzung, dass er innerhalb von drei Monaten nach Vorlage des Kommissionsberichts angerufen wurde. Das Recht zur Anrufung oblag nicht dem Beschwerdeführer, sondern der Kommission, dem beklagten Staat und dem Vertragsstaat, dem der Beschwerdeführer angehörte. Unterblieb eine solche Anrufung, übernahm das Ministerkomitee die abschließende Entscheidung.51 Die Kommission lehnte jedoch zahlreiche Beschwerden bereits wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig ab und löste andere Fälle über eine gütliche Einigung. Die Konsequenz war, dass in den fünfziger und sechziger Jahre nur eine geringe Zahl von Fällen vor den Gerichtshof gebracht wurde.52 Zwischen 1960 und 1969 hatte der Gerichtshof in sieben Fällen ein Urteil erlassen.53 Bis Ende der 70er Jahre hat der Gerichtshof im Schnitt drei oder vier Urteile im Jahr erlassen; es gab auch Jahre, in denen gar kein Urteil erging. Die geringe Arbeitslast des EGMR in dieser Zeit spiegelt sich in den Worten des österreichischen Richters Alfred Verdross, der zu seinem jungen Kollegen und Nachfolger, Franz Matscher, anlässlich dessen Wahl zum Richter im Jahr 1976 sprach: „Mon jeune collègue, vous devrez vous attendre à aller quatre fois par an à Strasbourg pour des sessions d’environ trois jours.“ 54

Er konnte nicht wissen, dass sich die Situation bald ändern würde.

IV. Das Erstarken des Gerichtshofs Seit den 80er Jahren nahm die Zahl der Beschwerden vor dem Gerichtshof stark zu. Während in den ersten 15 Jahren im Durchschnitt nur ein Fall per annum dem Gerichtshof zugeleitet wurde, stieg die durchschnittliche Zahl in den nachfolgenden Jahren auf über 60 Fälle im Jahr. Im Jahr 1985 erreichte der Gerichtshof die Zahl von 100 Urteilen.55 Der Bedeutungszuwachs, den der Gerichts51

Grabenwarter, EMRK, § 6, Rn. 1; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (908 ff.). Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (6); Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (47). 53 Neben dem ersten Urteil in der Sache Lawless (a. a. O.) handelte es sich um die folgenden weiteren Urteile: EGMR, Urteil v. 27.3.1962 – De Becker ./. Belgien, Nr. 214/56; EGMR (Plenum), Urteil v. 23.7.1968 – Belgischer Sprachenfall, Nr. 1474/ 62, 1677/62, u. a.; EGMR, Urteil v. 27.6.1968 – Neumeister ./. Österreich, Nr. 1936/62; Urteil v. 27.6.1968 – Wemhoff ./. Deutschland, Nr. 2122/64; EGMR, Urteil v. 10.11. 1969 – Matznetter ./. Österreich, Nr. 2178/64; EGUR, Urteil v. 10.11.1969 – Stögmüller ./. Österreich, Nr. 1602/62. 54 Matscher, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 901 (914). 55 Ryssdal, EHRLR 1 (1996), S. 18 (20). 52

A. Erfolgsgeschichte des Europäischen Menschenrechtsschutzes

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hof erfahren hat, spiegelt sich in seinem Erscheinungsbild wider. Während der EGMR 1959 nur über drei Büros im Europarat verfügte und fünf Büros sowie einen Sitzungssaal 1966 im ersten Menschenrechtspalais besaß,56 sitzt er heute im zweiten Menschenrechtspalais mit insgesamt 420 Büros für 600 Personen und 11 Sitzungsräumen, darunter der Gerichtssaal mit 260 Plätzen plus 49 Sitze für die Richter und 33 für die Beschwerdeführer. Der Bau des Palais, der von Sir Richard Rodgers gestaltet wurde und dessen Fassade aus Glas die Offenheit des Zugangs zum Gerichtshofs symbolisiert, war aufgrund des enormen Anstiegs der Arbeitslast erforderlich geworden.57 1. Bewusstseinswandel innerhalb der Kommission Grund für die Zunahme der Beschwerdezahlen war eine geänderte Haltung der EKMR. Durch ihr vorsichtiges, auf Kompromisslösungen bedachtes Vorgehen war es der Kommission gelungen, das anfängliche Misstrauen der Konventionsstaaten in die Konventionsorgane zu überwinden und den in der EMRK formulierten Konsens zu festigen.58 Doch durch die Zurückweisung einer Vielzahl von Beschwerden als unzulässig drohte der Gerichtshof als eigentliches Rechtsprechungsorgan in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. In den siebziger Jahren begann die Kommission offensiver von den ihr durch das Konventionssystem eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Immer mehr Beschwerden wurden für zulässig erklärt und dem Gerichtshof vorgelegt. Mitte der achtziger Jahre ging die Kommission sogar dazu über, dem Gerichtshof alle Fälle vorzulegen, in denen sie eine Verletzung der EMRK bejahte.59 2. Ausweitung des Konventionsschutzes Neben der geänderten Haltung der Kommission trug vor allem die Erweiterung der Vertragsstaaten zu einer Erhöhung der eingehenden Beschwerden bei. Bis 1989 waren zusätzlich zu den zehn Gründungsmitgliedern dreizehn Staaten dem Europarat beigetreten.60 56

Meyer/Petzold, NJW 2009, S. 3749 (3749). Für nähere Informationen zu dem Gerichtsgebäude, siehe die Internetseite des Gerichtshofs unter www.coe.int (The Court/Human Rights Building), zuletzt abgerufen am 30.9.2015. 58 Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (6); Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (47). 59 Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (47); Tomuschat, The ECtHR, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECtHR Overwhelmed by Applications, S. 1 (7). 60 Es handelte sich um die Länder Griechenland, Island, Türkei, Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Zypern, Schweiz, Malta, Portugal, Spanien, Liechtenstein, San Marino und Finnland. 57

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Ferner wurde der Schutz der Menschenrechte durch Zusatzprotokolle schrittweise ausgebaut. Das erste Zusatzprotokoll vom 20. März 1952 führte das Recht auf Bildung, das Recht auf Eigentum und die Verpflichtung der Staaten, regelmäßig freie und geheime Wahlen abzuhalten, ein. Die Protokolle Nr. 4, Nr. 6, Nr. 7, Nr. 12 und Nr. 13 zur EMRK fügten weitere Garantien hinzu.61 Das 12. Protokoll zur EMRK, das am 1. April 2005 in Kraft getreten ist, enthält in seinem Art. 1 ein allgemeines Diskriminierungsverbot und kann zu einer deutlichen Ausweitung des Konventionsschutzes führen.62 Im Unterschied zu dem Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK fordert das allgemeine Diskriminierungsverbot keine Akzessorietät und bezieht sich nicht nur auf die Konventionsgarantien, sondern auf jedes gesetzlich gewährte Recht.63 Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Staaten das Protokoll noch nicht ratifiziert haben,64 zeigt sich der EGMR bislang eher zurückhaltend, dieses Potential auszuschöpfen.65 Auch die Rechtsprechung des EGMR führte zu einer Ausweitung des materiellen Rechtsschutzes.66 Ein Beispiel ist die Rechtsprechung zu den positiven Handlungspflichten („positive obligations“).67 Im Zusammenhang mit Justizgrundrechten ist der Staat gefordert, durch positive Maßnahmen, etwa die Errichtung von Gerichten und den Erlass von Verfahrensvorschriften, die Grundrechtsausübung zu ermöglichen. Aber auch Freiheitsrechte sind nicht nur Abwehrrechte, sondern haben nach Ansicht des EGMR eine verfahrensrechtliche Dimension, die positive Handlungspflichten des Staates begründen können.68 So fordert der

61 Die Protokolle zur EMRK und der Stand der Unterzeichnung/Ratifikation sind verfügbar unter www.conventions.coe.int (zuletzt aufgerufen am 30.9.2015). 62 Egli, ZaöRV 64 (2004), S. 759 (771): „(. . .) ein zusätzliches Ansteigen der Beschwerdezahl ist zu erwarten.“; Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (206): „Ein derart weitreichendes Recht dürfte in zahlreichen Beschwerden angerufen werden (. . .)“. 63 Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 14, Rn. 4. 64 Derzeit (Stand: 30.9.2015) haben 19 Staaten – darunter auch Deutschland – das Protokoll Nr. 12 zur EMRK unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. In 18 Staaten ist das Protokoll in Kraft getreten. Der Stand der Ratifikation ist verfügbar unter (Full List/Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms – CETS no. 177). 65 In dem Fall Sejdic ´ und Finci ./. Bosnien und Herzegowina stellt der EGMR nach Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 14 EMRK nur mit knappen Worten eine Verletzung des Art. 1 des 12. Protokolls zur EMRK fest – EGMR (GK), Urteil v. 22.12.2009, Nr. 27996/06 und 34836/06, Ziff. 55, 56. In dem Fall Savez Crkava „Rijecˇ Zˇivota“ u. a. ./. Kroatien verzichtet der EGMR nach der Feststellung einer Verletzung des Art. 14 EMRK auf die separate Prüfung des Art. 1 des 12. Protokolls zur EMRK – EGMR, Urteil v. 9.10.2010, Nr. 7798/08, Ziff. 115. Dies ist nach Ansicht Meyer-Ladewigs „schwer verständlich“ (Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 14, Rn. 35 mit Bezug auf das Urteil Sejdic´ und Finci), da das allgemeine Diskriminierungsverbot als nicht-akzessorisches Recht weitergehend sei und daher Art. 14 EMRK vorgehen müsste. 66 Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (52). 67 Hierzu: Bleckmann, FS Rudolf Bernhardt 1995, S. 309–321.

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Schutz des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) die Durchführung effektiver Nachforschungen, wenn eine Person durch den Einsatz von Gewalt durch staatliche Organe getötet wurde.69 Ein weiteres Beispiel für die Ausweitung des Rechtsschutzes ist die Rechtsprechung des EGMR zu der Verantwortung der Konventionsstaaten für das Verhalten ihrer Organe außerhalb ihres Staatsgebietes. Nach Art. 1 EMRK sichern die Konventionsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zu. Daraus folgert der EGMR, dass auch extraterritoriales Handeln in den Anwendungsbereich der EMRK fällt, wenn der Staat über ein bestimmtes Gebiet eine effektive Kontrolle ausübt. Im Fall Loizidou ./. Türkei70 bejahte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK, da die türkischen Truppen in Nordzypern eine solche effektive Kontrolle ausgeübt und den griechisch-zypriotischen Eigentümern den Zugang zu ihren Grundstücken im Nordteil der Insel verhindert hatten. 3. Wachsender Bekanntheitsgrad der EMRK Neben der gezielten Ausweitung des Konventionsschutzes änderte sich seit den sechziger Jahren das Bewusstsein der Menschen, und der Menschenrechtsschutz erlangte nicht zuletzt durch das Engagement nichtstaatlicher Organisationen wie Amnesty International mediale Aufmerksamkeit.71 Die EMRK war in ihren Anfangsjahren innerstaatlich nur wenig bekannt. Als mehr und mehr Vertragsstaaten der Konvention beitraten und das Kontrollsystem der Individualbeschwerde anerkannten, wurden die Konventionsorgane zunehmend in Anspruch genommen mit der Folge, dass auch ihr Bekanntheitsgrad und ihr Ansehen sich vergrößerten.72 Die Beschwerde in Straßburg ist mit wenig Aufwand verbunden, denn der Beschwerdeführer muss sich nicht der Amtssprachen des Europarates (Englisch und Französisch) bedienen, sondern kann die Beschwerde in seiner Muttersprache erheben. Es besteht kein Anwaltszwang. Auch Verfahrenskosten gibt es keine und für die entstehenden Auslagen kann Prozesskostenhilfe bewilligt werden.73 68 Grabenwarter, EMRK, § 19, Rn. 1 und ders., EGMR: Opfer des eigenen Erfolges? in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 81 (86). 69 EGMR, 27.9.1995, McCann u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18984/91, Ziff. 202 ff.; EGMR, 19.2.1998 – Kaya ./. Türkei, Nr. 22729/93, Ziff. 86; EGMR, 6.7.2005 (GK) – Nachova u. a. ./. Bulgarien, Nr. 43577/98, Ziff. 110 ff.; EGMR, 4.5.2001 – Jordan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23746/94, Ziff. 105; EGMR (GK), 15.5.2007, Ramsahai u. a. ./. Niederlande, Nr. 529391/99, Ziff. 333 ff. 70 EGMR (GK), Urteil v. 23.3.1995 – Loizidou ./. Türkei (preliminary objections), Nr. 15318/89, Ziff. 62. 71 Hutter, Die Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 36 (48 ff.). 72 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (930 f.). 73 Die Einführung eines Gebührensystems für den Beschwerdeführer hält der ehemalige Präsident des EGMR, J.-P. Costa, auch in Zukunft für den falschen Weg. Die Ein-

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Zu der Bekanntheit des EGMR trug ferner bei, dass auch andere regionale Schutzsysteme sich an ihr orientierten. Die EMRK stand Pate für die Amerikanische Menschenrechtskonvention und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. Auch auf den Grundrechtsschutz innerhalb der Europäischen Union und die Herausarbeitung der europäischen Grundrechtecharta hat die EMRK großen Einfluss ausgeübt. Sollte die Europäische Union, entsprechend der durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Verpflichtung der EMRK beitreten, ist mit einem zusätzlichen Ansteigen der Beschwerdezahl zu rechnen.74

V. Fazit Die ersten vierzig Jahre nach der Unterzeichnung der EMRK waren durch den kontinuierlichen Ausbau des Konventionsschutzes gekennzeichnet. Das Schutzsystem beruhte ursprünglich auf einem politischen Kompromiss, der hinter den weiterreichenden Forderungen der Beratenden Versammlung des Europarates zurückgeblieben war. Den Konventionsstaaten war es freigestellt worden, ob sie die Jurisdiktion des Gerichtshofs und das Individualbeschwerderecht des Einzelnen verbindlich anerkennen. Das Schutzsystem barg jedoch von Anbeginn einen revolutionären Kern. So räumte die EMRK erstmals auf der völkerrechtlichen Ebene den Einzelpersonen Rechte ein, die unabhängig von den Rechten der Staaten Bestand hatten. Die Konventionsorgane stellten die Einhaltung dieser Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten sicher. Durch den Beitritt neuer Staaten, durch eine dynamische Rechtsprechung der Konventionsorgane und durch den Abschluss von Zusatzprotokollen konnte der gefundene Konsens schrittweise ausgebaut werden. Die Souveränitätsbedenken der Staaten wurden überwunden und das Vertrauen der Bürger gewonnen. Der EGMR entwickelte sich auf diese Weise zum zentralen Wächter der Grund- und Menschenrechte in Europa.

B. Die Bedrohung des Konventionssystems Während der EGMR in den ersten Jahren noch auf den Eingang von Beschwerden warten musste, sieht er sich heute dem umgekehrten Problem ausgesetzt. Bereits vor der Osterweiterung war die Zahl der Beschwerden deutlich angestiegen. Ursache waren insbesondere die Wiederholungsfälle und die Anerkennung des Individualbeschwerderechts durch sämtliche Staaten.75 Der Beitritt neuer Vertragsstaaten zu der EMRK hatte die Situation verschärft. Maßgeblicher führung eines Anwaltszwangs – in Verbindung mit der Möglichkeit der Prozesskostenhilfe auf nationaler Ebene – hält er hingegen für denkbar, siehe: Costa, Rede v. 26.4. 2011 anlässlich der Konferenz in Izmir. 74 Zum Verhältnis des Unionsrechts zum Konventionsrecht siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. I. 75 Grabenwarter, EMRK, § 1, Rn. 4.

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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Wendepunkt war aber die Osterweiterung in den 90er Jahren. Sie gab dem Europarat ein völlig neues Gesicht.

I. Die Osterweiterung als Wendepunkt „Es ist zutreffend, dass der Europarat noch nicht alle europäischen Staaten umfasst. Aber wir wünschen und hoffen, dass diejenigen, die sich uns noch nicht angeschlossen haben, auch Mitglieder werden. Wir (. . .) können (. . .) nicht unser Werk auf längere Sicht ohne sie fortsetzen, und sie müssen wissen, dass wir sie hier erwarten“ 76

Laut der Präambel der Satzung des Europarates ist Ziel des Europarats, „zwischen den europäischen Ländern (. . .) eine engere Verbindung herzustellen“. Voraussetzung für einen Beitritt zum Europarat ist, dass es sich um einen Rechtsstaat handelt, der den Schutz der Menschenrechte gewährleistet, Art. 4 i.V. m. Art. 3 der Satzung des Europarates.77 Darüber hinaus muss es sich um parlamentarische und pluralistische Demokratien handeln. Letzteres Erfordernis findet sich zwar nicht ausdrücklich in der Satzung des Europarates, folgt aber aus der im ersten Zusatzprotokoll gewährleisteten Garantie eines Rechts auf freie und faire Wahlen. Ferner ist Art. 3 der Satzung des Europarates im Zusammenhang mit der Präambel der Satzung des Europarates zu sehen, in der von einem „wahrhaft demokratischen politischem Regime“ gesprochen wird.78 Nach diesen Grundsätzen war der Beitritt von Diktaturen und kommunistischen Staaten nicht möglich, und der Europarat schloss die Kontaktaufnahme mit Osteuropa in den ersten Jahren nach seiner Gründung gänzlich aus. Die damaligen osteuropäischen Länder lehnten ihrerseits den Europarat ab, denn die Konvention und der Schutz individueller Menschenrechte widersprachen dem Ideal eines starken sozialistischen Staates, in dem die Gemeinschaft Vorrang vor dem Individuum hatte.79 76 Konrad Adenauer im Mai 1954 in seiner Eigenschaft als Präsident des Ministerkomitees des Europarats, zitiert von: Haller, Paneuropäisches Mandat, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 51 (51). 77 Art. 4 Satzung Europarat lautet: „Staaten die für fähig und gewillt befunden werden, die Bedingungen des Artikels 3 zu erfüllen, können zur Mitgliedschaft eingeladen werden.“ Art. 3 Satzung Europarat lautet: „Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Es verpflichtet sich, bei der Erfüllung der in Kapitel I bestimmten Aufgaben aufrichtig und tatkräftig mitzuarbeiten.“ Die Satzung des Europarats, amtliche Übersetzung ist abrufbar unter (Treaties of the Council of Europe/Translations/ German/ETS/STE No. 001). 78 Djeric´, ZaöRV 60 (2000), S. 612 (606). 79 Lippert, Europarat und Osteuropa, in: Schmuck (Hrsg.), Europarat, S. 117 (119 f.).

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Erst nach der Überwindung der Kuba-Krise im Oktober 1962, in der der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte, begann die Annäherung von Ost- und Westeuropa.80 Offizielle Besuche des Generalsekretärs des Europarates fanden 1967 in Polen, 1967/1968 in Rumänien und 1968 in Jugoslawien statt.81 Zum Durchbruch in den Beziehungen kam es in den 1980er Jahren. Insbesondere das Jahr 1989 kann als das europäische „Schicksalsjahr“ 82 bezeichnet werden. Im Mai 1989 führte der Europarat einen Sondergaststatus für die Parlamente der ostund mitteleuropäischen Staaten ein, der ihren Abgeordneten ein Rederecht in der Parlamentarischen Versammlung einräumte. Bereits einen Monat später wurde erstmals den Parlamenten von Jugoslawien, Polen, der UdSSR und Ungarn ein solcher Status verliehen.83 Das wichtigste Ereignis war jedoch der Besuch des Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der am 6. Juli 1989 eine Ansprache vor der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg hielt.84 In seiner Rede sprach sich Gorbatschow gegen ein Europa der Konfrontation aus85 und beschwor die „Idee eines gesamteuropäischen Hauses“,86 in dem der Schutz der Menschenrechte eine zentrale Rolle spielen müsse: „Der humanitäre Gehalt des gesamteuropäischen Prozesses ist einer der entscheidenden. Die Welt, in der es gelingen würde, die Kriegsarsenale zu reduzieren, in der aber die Menschenrechte verletzt würden, kann sich nicht sicher fühlen. Zu dieser Schlussfolgerung sind wir gelangt, und sie ist für uns endgültig und unwiderruflich.“ 87

1. Der Erweiterungsschub ab dem Jahr 1990 Die Worte Gorbatschows hatten befreiende Wirkung. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes wurde die Mitgliedschaft im Europarat zum erklärten Ziel der mittel- und osteuropäischen Länder.88 Sie galt als demo80

Lippert, Europarat und Osteuropa, a. a. O., S. 117 (121). Brummer, Europarat, S. 25; Haller, Paneuropäisches Mandat, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 51 (54). 82 Haller, Paneuropäisches Mandat, a. a. O., S. 51 (56 und 57). 83 Haller, Paneuropäisches Mandat, a. a. O., S. 51 (58). 84 Brummer, Der Europarat, S. 26; Haller, Paneuropäisches Mandat, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 51 (58). 85 Rede v. M. Gorbatschow am 6.6.1989, abgedruckt im Anhang von Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, S. 311 (312): „Die Zugehörigkeit der europäischen Staaten zu verschiedenen Gesellschaftssystemen ist eine Realität. Und die Anerkennung dieser historischen Tatsache, die Achtung des souveränen Rechtes eines jeden Volkes sein Gesellschaftssystem nach Belieben zu wählen, ist die wichtigste Voraussetzung des normalen europäischen Prozesses (. . .).“ 86 Rede v. M. Gorbatschow, a. a. O., S. 311 (313). 87 Rede v. M. Gorbatschow, a. a. O., S. 311 (315). 88 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 2. Ähnlich beschreibt Djeric´ die Bedeutung der Mitgliedschaft im Europarat für die osteuropäischen Staaten als „a hallmark of ,European‘ legitimacy“ – Djeric´, ZaöRV 60 (2000), S. 605 (608). 81

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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kratisches „Gütesiegel“,89 das die Rückkehr in die Europäische Staatenfamilie veräußerlichte.90 Der Europarat sah sich in der Folgezeit mit einer Welle von Beitrittsgesuchen aus Ost- und Mitteleuropa konfrontiert.91 Bis zum Jahr 1989 waren dreizehn neue Staaten beigetreten, ohne dass das Vorliegen der Beitrittsvoraussetzungen – die Trias Demokratie, Rechtsstaat, Schutz der Menschenrechte – eingehend geprüft wurde.92 Auch hinsichtlich der ehemaligen Diktaturen Griechenland, Portugal und Spanien erachtete der Europarat es für ausreichend, dass demokratische Wahlen abgehalten wurden und der Schutz der Menschenrechte in der Verfassung garantiert worden war.93 Jedoch war die Bereitschaft der neuen Staaten zur Ratifikation der EMRK und des Individualbeschwerdeverfahrens zu einer wesentlichen Voraussetzung für den Beitritt geworden. Nachdem Frankreich das Individualbeschwerdeverfahren anerkannt hat setzte sich die Überzeugung durch, dass eine Trennung zwischen der Anerkennung der Konventionsgarantien und des Individualbeschwerdeverfahrens nicht mehr akzeptiert werden könne. Die Übernahme der EMRK einschließlich des Individualbeschwerdeverfahrens wurde nach Aussage des ehemaligen Präsidenten des Gerichtshofs, Rolv Ryssdal, zur politisch unumgänglichen „Eintrittskarte“ 94 für die Länder Mittel- und Osteuropas. Um ein schnelle Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder zu ermöglichen, richtete der Europarat Programme zur Unterstützung der Transformationsprozesse in diesen Ländern ein.95 Als erster Staat aus Mittel- und Osteuropa erreichte Ungarn am 6. November 1990 das Ziel der Vollmitgliedschaft im Europarat. Es folgten Polen, die Tschechoslowakei und Bulgarien. Ähnlich wie bei den Beitritten vor 1990 bestanden keine Bedenken hinsichtlich des demokratischen Charakters der Neuzugänge. Lediglich Polens Mitgliedschaft sollte erst nach der Abhaltung freier Wahlen wirksam werden, was ein Jahr später der Fall war.96 Die Aufnahme der Länder Estland, Litauen, Slowenien und der Slowakei erfolgte nicht mehr so reibungslos,97 und die Aufnahme Rumäniens wurde zu einer Herausforderung für den Europarat. Es bestanden Zweifel am Vorliegen grundlegender Anforderungen an den Schutz der Menschenrechte in Rumänien und an 89

Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (171). Tarschys, Europa ohne Trennungslinien, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 39 (42). 91 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 25. 92 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 30. 93 Djeric´, ZaöRV 60 (2000), S. 605 (607). 94 Ryssdal, NZZ Ausland v. 20.1.1997, zitiert in: Bauer, Der Europarat nach der Zeitwende, S. 150. 95 Zu den Unterstützungsprogrammen: Drzemczewski, HRLJ 14 (1993), S. 229 ff. 96 Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (172). 97 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 36; Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (172). 90

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

eine funktionierende Rechtsprechung und Verwaltungsorganisation.98 Der Europarat musste erkennen, dass ein Bestehen auf die vollständige Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten verhindert oder für lange Zeit verzögert hätte.99 Um den Demokratisierungsprozess nicht abzubrechen setzte sich der Beitritt unter Auflagen durch.100 Dieser Ansatz, der mit dem Schlagwort „better to include than to exclude“ 101 zusammengefasst werden kann, basierte auf der Überzeugung, dass sich der Europarat durch die Aufnahme der unsicheren Staaten einen größeren Einfluss auf diese und den begonnenen Demokratisierungsprozess sichern könne als bei einem Ausschluss.102 Rechtlich wurde dieser Ansatz auf den Wortlaut des Art. 4 der Satzung des Europarates gestützt, wonach jeder europäische Staat, der für „fähig und gewillt“ befunden wird, die Voraussetzungen des Art. 3 der Satzung des Europarates zu erfüllen, Mitglied des Europarates werden kann.103 Mit Rumänien wurde zum ersten Mal ein Staat in den Europarat aufgenommen, der die Beitrittsvoraussetzungen offensichtlich nicht erfüllte. Dennoch empfahl die Parlamentarische Versammlung den Beitritt, knüpfte diesen jedoch an bestimmte Bedingungen wie unter anderem an die Sicherung der Unabhängigkeit der Medien und des Minderheitenschutzes, und zeigte konkrete gesetzgeberische Maßnahmen auf, die hierfür erforderlich waren.104 Auch zahlreiche weitere Aufnahmeanträge „unsicherer Staaten“ wie Lettland, Albanien, Moldawien, die Ukraine und Mazedonien konnten auf diese Weise positiv beschieden werden.105 In der Wiener Erklärung von 1993 drückten die Mitgliedstaaten ihre Entschlossenheit aus, die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen durch alle Mitgliedstaaten sicherzustellen.106 Die Order Nr. 488 (1993) schuf ein bei den neuen Mitgliedstaaten sofort greifendes Überwachungssystem (Monitoring).107 Die Order Nr. 508 (1995) ermöglichte die Überwachung auch der übrigen Staaten. Die Resolution Nr. 1115 von 1997 schuf einen für das Monitoring eigens zuständigen Überwachungsausschuss.108 Nach Art. 8 der Satzung des Europa98

Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 40. Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 66. 100 Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (173). 101 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 66. 102 Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (173). 103 Steenbrecker, Monitoring, a. a. O., S. 171 (173). 104 Parlamentarische Versammlung, Opinion 176 (1993), Application by Romania for membership of the Council of Europe, abrufbar unter (Documents/Opinions) – Stand: 30.9.2015. 105 Steenbrecker, Monitoring, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 171 (174). 106 Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa, S. 13. 107 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 38; Steenbrecker, Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, S. 171 (174). 108 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 38; Steenbrecker, Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, S. 171 (175 f.). 99

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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rates kann zudem jedem Mitglied, das sich eines schweren Verstoßes gegen die in Art. 3 der Satzung normierten Beitrittsanforderungen schuldig macht, sein Recht auf Vertretung vorläufig abgesprochen werden. Ferner kann ein Staat von der Mitgliedschaft im Europarat ausgeschlossen werden. Ein einziges Mal griff der Europarat auf diese Sanktionsmöglichkeit zurück. Dies betraf den Fall Russland, dessen Beitritt zur EMRK am 28. Februar 1996 beinahe „die Seele des Europarates“ 109 zerrissen hätte. Russland hatte am 7. Mai 1992 den Aufnahmeantrag gestellt. Die Parlamentarische Versammlung beauftragte eine Gruppe von Rechtsexperten damit, die Vereinbarkeit der Rechtsordnung Russlands mit den Grundwerten des Europarates zu untersuchen. Die Experten reisten zu diesem Zweck im Mai/Juni 1994 nach Russland.110 Die Experten legten im Herbst 1994 ihren abschließenden Bericht vor, der insbesondere Mängel beim Grundrechtsschutz und bei der Gewährleistung des Rechtsstaatsprinzips offenbarte.111 Im Februar 1995 suspendierte die Parlamentarische Versammlung die Entscheidung über den Aufnahmeantrag als Reaktion auf die schwerwiegenden Gewaltanwendungen gegenüber der Zivilbevölkerung durch das russische Militär im Tschetschenienkonflikt.112 Erst die seitens Russlands geäußerte Bereitschaft zur Beilegung des Konfliktes führte zur Wiederaufnahme des Verfahrens im September 1995; der Beitritt Russlands erfolgte fünf Monate später.113 Da es Russland trotz wiederholter Aufforderung114 nicht gelungen war, den Tschetschenienkonflikt friedlich zu lösen, wurde den russischen Abgeordneten das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung am 6. April 2000 vorläufig entzogen115 und erst im Januar 2001 wieder eingeräumt.116 Nachdem zwischen 1990 und 1996 siebzehn neue Staaten aufgenommen worden waren, verlangsamte sich der Erweiterungsprozess. Es mehrten sich Stimmen, die sich für eine Konsolidierung und die Konzentration auf die klassischen Aktivitäten des Europarates aussprachen.117 Seit 1997 sind sieben weitere Staa-

109

Brummer, Der Europarat, S. 27. Bernhardt/Trechsel/Weitzel/Ermacora, HRLJ 15 (1994), S. 240 (250). 111 Hagedorn, Gleiche Maßstäbe für Ost und West?, S. 49. 112 Parlamentarische Versammlung, Resolution Nr. 1065 (1995), abrufbar unter (Documents/Adopted Texts/Resolutions) – Stand: 30.9.2015. 113 Brummer, Der Europarat, S. 28 f. 114 Parlamentarische Versammlung, Resolution Nr. 1201 (1999); Parlamentarische Versammlung Recommendation Nr. 1444 (2000); Parlamentarische Versammlung Recommendation Nr. 1456 (2000), abrufbar unter (Documents/ Adopted Texts/Resolutions bzw. Recommendations) – Stand: 30.9.2015. 115 Europarat Dokumentation, EuGRZ 2000, S. 189. 116 Parlamentarische Versammlung, Resolution Nr. 1241 (2001), abrufbar unter (Documents/Adopted Texts/Resolutions) – Stand: 30.9.2015. 117 Haller, Paneuropäisches Mandat, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 51 (63); Brummer, Der Europarat, S. 30. 110

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ten beigetreten, zuletzt Monaco im Oktober 2004 und Montenegro im Mai 2007. Insgesamt umfasst der Europarat heute 47 Staaten. 2. Neue quantitative und qualitative Herausforderungen Das Kontrollsystem der EMRK war für eine deutlich geringere Mitgliederzahl vorgesehen. Da sich EKMR, EGMR und das Ministerkomitee jeweils aus einem Vertreter pro Mitgliedstaat zusammensetzen, führte der Beitritt neuer Staaten zu einer erheblichen Vergrößerung der Konventionsorgane, wodurch die Entscheidungsprozesse schwerfällig und kostenintensiv wurden.118 Der Grundrechtsschutz in den neuen Mitgliedstaaten war zudem nicht ebenso effizient wie in den alten Staaten ausgestaltet, so dass sich der Grundrechtsschutz in diesen Ländern auf die europäische Ebene verlagerte. Der Konventionsschutz und der EGMR waren für einen solchen Ansturm nicht ausgerüstet.119 Die Rückstände wurden immer größer, und die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug schon seit 1985 circa fünf bis sechs Jahre.120 Diese quantitativen Herausforderungen wurden von qualitativen Herausforderungen begleitet. In den ersten dreißig Jahren seiner Tätigkeit hatte der EGMR in erster Linie Beschwerden gegen Rechtsstaaten zu bearbeiten, deren innerstaatliche Grundrechtsordnungen im Wesentlichen dem europäischen Standard entsprachen. In den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas dagegen musste nach der Ablösung des kommunistischen Regimes noch viel Arbeit geleistet werden, um diesen Standard zu erreichen.121 Der Gerichtshof wurde mit einer neuen Art von Klagen konfrontiert, denen Menschenrechtsverletzungen zugrunde lagen, die auf komplexen, historisch und politisch bedingten Problemen in den neuen Mitgliedstaaten beruhten.122

II. Der drohende Kollaps des Systems „If ,justice delayed is justice denied‘, then a large proportion of the ECtHR’s applicants – even those who are the victims of serious violations – are effectively denied the justice they seek.“ 123

Seit 1990 stieg die Zahl der jährlich registrierten Fälle im Durchschnitt um etwas mehr als 16% pro Jahr an. Das bedeutet, dass sich die Anzahl der in Straß118

Schlette, JZ 1999, S. 219 (221). Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (924 f.); Schlette, JZ 1999, S. 219 (221). 120 Schlette, JZ 1999, S. 219 (222). 121 Grabenwarter, EGMR: Opfer des eigenen Erfolges? in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 81 (82). 122 Keller, EuGRZ 2008, S. 359 (361). 123 Lord Woolf, zitiert in: Keller/Stone, in: dies. (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 696 f. 119

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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burg eingereichten Beschwerden etwa alle fünf Jahre verdoppelt.124 Seit 1994 überschreitet die Zahl der jährlich neu eingehenden Beschwerden die Marke von 10.000 und sie steigt kontinuierlich weiter an.125 Im Jahr 2010 zählte der EGMR ca. 61.300 neue Beschwerden – ein Zuwachs von 7% gegenüber dem Jahr 2009 mit ca. 57.100 neuen Beschwerden.126 Im Jahr 2011 waren es 64.500 neue Beschwerden.127 Bei der Bewältigung der Beschwerdeflut leistet der Gerichtshof ganze Arbeit. Im Jahr 2010 hat der Gerichtshof ca. 41.000 Fälle beendet, das bedeutet 16% mehr als im Jahr 2009 (ca. 45.000), davon wurden über 2.600 Beschwerden mit einem Urteil abgeschlossen – ein Zuwachs von 9% gegenüber dem Jahr 2009.128 Dennoch ließ sich ein Rückstau an nicht erledigten Beschwerden nicht verhindern. Während die Kommission bis 1985 noch eine mit der Zahl der eingehenden neuen Beschwerden nahezu identische Beschwerdezahl erledigen konnte, entstand in den nachfolgenden Jahren eine Kluft zwischen eingehenden und entschiedenen Beschwerden, die sich schnell vergrößerte und die Effektivität des Konventionssystems zunehmend in Frage stellte: So sind in den Jahren 1986, 1987 und 1988 insgesamt 706, 860 bzw. 1.009 Beschwerden eingegangen, aber gleichzeitig wurden nur 511, 590 bzw. 654 Beschwerden entschieden.129 Im Jahr 2010 sind ca. 61.000 Beschwerden neu eingegangen und der EGMR konnte ca. 41.000 Beschwerden beenden. Der Rückstau wurde somit um 20.000 Fälle erhöht und erreichte die Zahl von ca. 140.000 Beschwerden, das bedeutet einen Zuwachs von 17% gegenüber 2009 mit ca. 119.000 Beschwerden.130 Im Jahr 2011 waren insgesamt ca. 151.624 Beschwerden beim Gerichtshof anhängig.131 Verantwortlich für über die Hälfte (d.h. 54,3%) der Beschwerden im Jahr 2011 waren – wie in den vorangegangenen Jahren – vier Staaten: 26,6% der Fälle richten sich gegen Russland, 10,5% der Fälle betrafen die Türkei, 9,1% Italien und 8,1% Rumänien. Fügt man die Ukraine (mit 6,8%) und Serbien (mit 4,5%)

124

Keller/Berschi, EuGRZ 2005, S. 204 (206). Schürmann, SchweizJbEurR 2003, S. 69 (70). 126 Costa, Eröffnungsrede v. 29.1.2010, S. 6. 127 Jahresbericht 2011 des EGMR, XII. Statistische Informationen, S. 151, abrufbar unter (Publications/Reports/Annual Reports) – Stand 30.9. 2015. 128 Jahresbericht 2010 des EGMR, XII. Statistische Informationen, S. 145, abrufbar unter (Publications/Reports/Annual Reports) – Stand 30.9. 2015. 129 Sommermann, Das System des Europäischen Menschenrechtsschutzes, in: Schmuck (Hrsg.), Europarat, S. 221 (230 f.). 130 Costa, Eröffnungsrede v. 29.1.2010, S. 2 (6). 131 Jahresbericht 2011 des EGMR (Fn. 127), XII. Statistische Informationen, S. 152. 125

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

hinzu, so sind sechs Staaten für fast zwei Drittel aller Fälle (d.h. 65,6%) vor dem Gerichtshof verantwortlich.132 Die Hauptlast des EGMR wird durch zwei Phänomene begründet: Zum einen werden ca. 90% aller Beschwerden, über die der Gerichtshof entscheidet, für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erklärt.133 Zum anderen stellen die repetitiven Fälle eine große Herausforderung dar. Sie machen ca. 60% der Fälle aus, die für zulässig erklärt wurden.134 Die größte Anzahl an Verletzungen betrifft dabei Art. 6 EMRK. Alarmierend sind die in ganz Europa bestehenden Defizite, ein Verfahren in angemessener Zeit zu sichern. Auch die Dauer der Verfahren vor dem EGMR hat ein erhebliches Ausmaß angenommen. Nach einer Statistik des Gerichtshofs aus dem Jahr 2006 beträgt die Verfahrenslänge von Kammerfällen in 32% der Fälle ein Jahr, in 20% der Fälle ein bis zwei Jahre, in 41% der Fälle zwei bis fünf Jahre. In 7% der Fälle übersteigt die Verfahrenslänge sogar eine Dauer von fünf Jahren.135 Vor diesem Hintergrund droht die Forderung des Gerichtshofs nach einer Durchführung der Verfahren in angemessener Zeit viel von ihrer Überzeugungskraft einzubüßen. Berücksichtigt man weiterhin, dass die Beschwerdeführer nach Art. 35 Abs. 1 EMRK sich erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges an den Gerichtshof wenden können und sich die Gesamtdauer des Verfahrens auf bis zu fünfzehn oder zwanzig Jahren erhöhen kann, geht für den individuellen Beschwerdeführer das Interesse am Ausgang des Verfahrens verloren.136

III. Die Reformbedürftigkeit des Konventionssystems Verschiedene Rationalisierungsmaßnahmen wurden im Kampf gegen die Beschwerdeflut ergriffen. Das Personal wurde aufgestockt, und die Länge und Anzahl der Sitzungen von Kommission und Gerichtshof wurden erhöht. Die damit einhergehende gesteigerte Arbeitslast war für die bislang nur nebenamtlich tätigen Kommissare und Richter schwer zu bewältigen.137 Eine Verbesserung der Arbeitssituation brachte das 8. Protokoll zur EMRK vom 19. März 1985, das am 1. Januar 1990 in Kraft trat.138 Es sah unter anderem eine Unterteilung der Kommission in kleinere Spruchkörper (d.h. Kammern und Dreierschüsse) zur 132

Jahresbericht 2011 des EGMR, XII. Statistische Informationen, S. 153, a. a. O. Jahresbericht 2010 des EGMR (Fn. 128), XII. Statistische Informationen, S. 13. 134 Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (207). 135 Keller/Stone Sweet, in: dies. (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 677 (696 f.). 136 Fink, in: Bogs (Hrsg.), Urteilsverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, S. 91 (93). 137 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (933); Sommermann, Das System des Europäischen Menschenrechtsschutzes, in: Schmuck (Hrsg.), Europarat, S. 221 (231). 138 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Protokolls Nr. 8 zur EMRK vom 15.11.1983, BGBl. 1989 II, S. 991. 133

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Behandlung der Individualbeschwerde vor, wodurch das Verfahren beschleunigt werden konnte.139 Die Maßnahmen waren aber nicht ausreichend, um der Beschwerdeflut Herr zu werden und der Bildung weiterer Rückstände entgegenzuwirken.140 Eine umfassende Reform des Kontrollmechanismus wurde unumgänglich. 1. Die Schwächen des ursprünglichen Rechtsschutzsystems und erste Reformansätze Die Reform sollte einer Überlastung des Kontrollmechanismus entgegenwirken und die institutionellen Schwächen des Systems beseitigen. Hierzu zählte das komplizierte Zusammenspiel der drei Konventionsorgane, welches zu einem erheblichen Mehraufwand bei der Prüfung der Beschwerden geführt hatte. So prüfte die Kommission zunächst die Zulässigkeit einer Beschwerde und wenn sie diese bejahte, verfasste sie einen Bericht, in dem sie auch zur Begründetheit der Beschwerde Stellung nahm. Der Bericht, der dem Ministerkomitee oder dem Gerichtshof vorgelegt wurde, entfaltete jedoch keine Bindungswirkung. Der Gerichtshof prüfte selbst eingehend die Begründetheit der Klage und war an die Zulässigkeitsentscheidung und die Sachverhaltsfeststellung durch die Kommission nicht gebunden.141 Die sich überschneidenden Kompetenzen sicherten eine besonders gründliche Prüfung der Beschwerden, zogen das Rechtsschutzverfahren aber deutlich in die Länge. Eine weitere Schwachstelle in dem Konventionsschutz bildete die Befugnis des Ministerkomitees als politisches Organ des Europarates über ein Beschwerdeverfahren abschließend zu entscheiden.142 Dem Gerichtshof oblag nur dann die verbindliche Entscheidung, wenn dies von der EKMR oder dem betroffenen Staat beantragt worden war und der jeweilige Vertragsstaat sich seiner Jurisdiktion unterworfen hatte. Nachteilig war auch, dass das Ministerkomitee eine Konventionsverletzung nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit feststellen konnte. Wurde diese nicht erreicht, wurde das Verfahren mit einer non liquet-Entscheidung beendet.143 Auch die schwache Position des individuellen Beschwerdeführers, der keine Möglichkeit hatte, den EGMR unmittelbar anzurufen, stand in der Kritik.144 Schließlich war die obligatorische Ausgestaltung des Individualbeschwerdeverfahrens ein zentrales Anliegen der Reform.145 139 Sommermann, Das System des Europäischen Menschenrechtsschutzes, in: Schmuck (Hrsg.), Europarat, S. 221 (231); Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (933). 140 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (934). 141 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (917). 142 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (918). 143 Karper, Reformen, S. 98; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (912). 144 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (919). 145 Ebenda.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Viele der Restriktionen des Konventionsschutzes existierten nicht mehr absolut. Das Individualbeschwerdeverfahren der EMRK war von allen Mitgliedstaaten anerkannt und für die neuen Staaten zur politischen Bedingung eines Beitritts zum Europarat geworden.146 Dem Beschwerdeführer war durch das 9. Zusatzprotokoll vom 6. November 1990, das am 1. Oktober 1994 in Kraft getreten ist, unter bestimmten Voraussetzungen das Recht eingeräumt worden, seine Sache selbst vor den Gerichtshof zu bringen.147 Durch das 10. Zusatzprotokoll vom 25. März 1992 wurde die bis dahin notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für die Feststellung einer Konventionsverletzung durch das Ministerkomitee abgewandelt in eine einfache Mehrheit.148 Auch das politische Entscheidungsrecht des Ministerkomitees existierte de facto nicht mehr, da das Komitee dazu übergegangen war, in Fällen, in denen es abschließend entscheiden durfte, den Entscheidungsvorschlag der Kommission zu übernehmen.149 Die Berichte der Kommission erlangten hierdurch den „Charakter eines ,Quasi-Urteils‘“.150 Solange diese institutionellen Schwächen jedoch formell fortgalten, bestand die Gefahr, dass die erworbenen Rechtschutzerweiterungen durch eine Änderung der Staatenpraxis wieder verloren gehen könnten.151 Erste Überlegungen einer umfassenden Reform fanden bereits 1982 statt und wurden ab Ende 1990 mit neuer Intensität geführt.152 Im Wesentlichen standen sich zwei Denkmodelle gegenüber. Das erste Modell sah weiterhin zwei Instanzenzüge vor (sog. two-tier-system).153 Die Kommission sollte hierzu in ein Gericht erster Instanz umgewandelt werden, deren Sachentscheidung bindend werden sollte, wenn keine Verweisung an den Gerichtshof stattfindet. Der EGMR sollte als zweite Instanz fungieren, die Möglichkeit der Berufung an den Gerichtshof aber strengen Anforderungen unterliegen.154 Das zweite Modell (sog. Fusionsmodell 155 oder single court system156) sah die Abschaffung der Kommission und die Errichtung eines einheitlichen Gerichtshofs vor, dem zugleich die 146

Siehe die Ausführungen unter Teil 1 B. I. 1. Das Protokoll Nr. 9 zur EMRK ist abrufbar unter (Full list/Protocol no. 9, CETS no. 140) – zuletzt aufgerufen am 30.9.2015. 148 Das Protokoll Nr. 10 zur EMRK ist abrufbar unter (Full list/Protocol no. 10, CETS no. 146) – zuletzt aufgerufen am 30.9.2015. 149 Karper, Reformen, S. 98. 150 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (922). 151 Insbesondere hatten zahlreiche Staaten ihre Anerkenntniserklärung im Hinblick auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Individualbeschwerden nur befristet abgegeben. vgl. Schlette, a. a. O., S. 905 (922). 152 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (935 und 937). 153 Karper, Reformen, S. 134; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (937). 154 Strasser, Menschenrechtsinstitutionen, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 121 (130). 155 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (937). 156 Karper, Reformen, S. 133; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (937); Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (103). 147

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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bisherigen Funktionen der Kommission übertragen werden sollten.157 Der sog. Kompromiss von Stockholm im Mai 1993 fiel zugunsten des Fusionsmodells aus und mündete in der Ausarbeitung des 11. Protokolls zur EMRK.158 2. Die Reform durch das 11. Protokoll zur EMRK Das 11. Protokoll zur EMRK wurde am 11. Mai 1994 zur Unterzeichnung aufgelegt und ist am 1. November 1998 in Kraft getreten.159 Entsprechend dem Fusionsgedanken wurde die Kommission aufgelöst und ein einheitlicher, mit hauptamtlichen Richtern besetzter Gerichtshof geschaffen, der seither allein über das Vorliegen einer Konventionsverletzung entscheidet.160 Die Aufgaben des Ministerkomitees wurden auf die Überwachung der Einhaltung der Urteile des Gerichtshofs beschränkt.161 Das Individualbeschwerdeverfahren wurde obligatorisch ausgestaltet.162 Der Gang einer Individualbeschwerde vor dem neuen ständigen Gerichtshof nach dem Inkrafttreten des 11. Protokolls zur EMRK, stimmt im Wesentlichen mit dem heutigen Verfahrensablauf überein163: Nach ihrer Einreichung wird die Individualbeschwerde von der Kanzlei des Gerichtshofs registriert und einer Sektion zugewiesen. Der jeweilige Sektionspräsident bestimmt einen Richter als Berichterstatter, der entscheidet, ob die Zulässigkeit der Beschwerde durch einen aus drei Richtern bestehenden Ausschuss oder durch eine aus sieben Richtern bestehende Kammer beurteilt werden soll.164 Die Ausschüsse prüfen die Zulässigkeit und übernehmen damit die ehemals der Menschenrechtskommission zukommende Filterfunktion (Art. 28 EMRK).165 Jede von einem Dreierausschuss nicht zurückgewiesene Individualbeschwerde wird einer Kammer des Gerichtshofs zugeleitet. Die Kammer entscheidet über die Zulässigkeit und gegebenenfalls über die Begründetheit, Art. 29 EMRK. 157 Golsong, EuGRZ 1992, S. 249 (249); Strasser, Menschenrechtsinstitutionen, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 121 (130). 158 Fink, in: Bogs (Hrsg.), Urteilsverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, S. 91 (96). 159 Für Deutschland siehe das ändernde Gesetz v. 24.7.1995, BGBl. II S. 578 ff. Eine deutsche Übersetzung des 11. Protokolls zur EMRK und des Erläuternden Berichts sind abgedruckt in EuGRZ 1994, S. 323 ff. und 328 ff. 160 Grabenwarter, EMRK, § 6, Rn. 2; Peters, Einführung in die EMRK, S. 7; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (941). 161 Brummer, Der Europarat, S. 153; Grabenwarter, EMRK, § 6, Rn. 2; Peters, Einführung in die EMRK, S. 7; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (941). 162 Peters, Einführung in die EMRK, S. 6 f. 163 Zu den Änderungen des Verfahrens durch das 14. Protokoll zur EMRK siehe die Ausführungen unter Teil 1 B. III. 4. 164 Egli, ZaöRV 64 (2004), S. 759 (764 f.). 165 Egli, ZaöRV 64 (2004), S. 759 (764 f.).

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

Nach Art. 30 EMRK kann die Kammer vor Erlass des Urteils die anhängige Rechtssache an die aus 17 Richtern bestehende Große Kammer abgeben, wenn die Sache eine schwerwiegende Frage der Auslegung aufwirft oder die Entscheidung zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen kann und die Parteien der Abgabe zustimmen. Die Große Kammer entscheidet dann an Stelle der Kammer.166 Sie kann aber nach Art. 43 EMRK auf Antrag einer Partei ausnahmsweise auch als gerichtsinterne Rechtsmittelinstanz zusätzlich zu der Kammer angerufen werden. Diese Möglichkeit eines Re-Hearings durch die Große Kammer ist ein Zugeständnis an die einen Instanzenzug befürwortende Denkschule.167 Die Reform durch das 11. Protokoll zur EMRK hat wichtige institutionelle Änderungen, aber keine tiefgreifenden organisatorischen Maßnahmen zur Bewältigung der Beschwerdeflut und langfristigen Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzsystems bewirkt.168 Bereits bei Inkrafttreten des Protokolls war klar, dass weitere Reformen erforderlich sein werden. 3. Die vom EGMR getroffenen internen Maßnahmen zur Bewältigung der Arbeitslast Um seine Arbeitsweise zu rationalisieren, setzte der EGMR 1999 die Arbeitsgruppe Working Party on Working Methods (WPWM) ein, die 2002 ihren abschließenden Bericht vorlegte,169 und deren Arbeitsergebnisse in einer Novellierung der Verfahrensordnung mündete.170 Die Praxis eingehende Schreiben zunächst als vorläufige Akte zu führen wurde abgeschafft und jede Beschwerde seither sofort registriert.171 Zur Vereinfachung des Schriftverkehrs wird auf den sog. Warnbrief verzichtet. Dieser hatte auf die mögliche Unzulässigkeit der Beschwerde unter Angabe der Gründe verwiesen.172 Stattdessen wird heute ein Musterbrief verwendet, der den abstrakten Grund der Unzulässigkeit nennt, aber keine individuelle Begründung mehr enthält.173 Neu eingeführt wurde die Mög166

Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (950). Strasser, Menschenrechtsinstitutionen, in: Holtz (Hrsg.), Europarat, S. 121 (130). 168 Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (103). 169 WPWM Abschlussbericht, „Three years work for the future. Final Report of the WPWM of the European Court of Human Rights“, abgedruckt in HRLJ 2003, S. 220 ff. 170 EGMR-VerfO v. 1.10.2002. Derzeit gilt die Verfahrensordnung vom 1.6.2015, die am gleichen Tag in Kraft getreten ist. Sie ist abrufbar unter (Home/Official Texts/Rules/Rules of Court) – Stand 30.9.2015. 171 Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (104). 172 Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (104); Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (214). 173 Art. 53 Abs. 5 EGMR-VerfO (Fn. 170). Der Musterbrief ist abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 180. 167

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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lichkeit, die Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit gemeinsam vorzunehmen,174 obwohl dies nach dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 3 EMRK a. F. nur in Ausnahmefällen gestattet war.175 Die Rationalisierungsmaßnahmen blieben nicht ohne Kritik. Insbesondere der Verzicht auf die individuelle Begründung einer Unzulässigkeitsentscheidung wurde bemängelt,176 letztendlich aber als „Notmaßnahme des überlasteten Gerichtshofs“ 177 akzeptiert. 4. Das 14. Protokoll zur EMRK Die Europäische Ministerkonferenz über Menschenrechte, die anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Konvention vom 3.–4. November 2000 in Rom abgehalten wurde, setzte den Reformprozess zum 14. Protokoll zur EMRK178 in Gang.179 Das Ministerkomitee wurde aufgefordert, durch seinen Lenkungsausschuss für Menschenrechte (Comité directeur des droits de l’homme – CDDH) eine Studie über die Möglichkeiten zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs zu erarbeiten.180 a) Überblick über den Reformprozess Das Ministerkomitee rief in einer ersten Phase des Reformprozesses im Februar 2001 eine Evaluierungsgruppe ein, die sich aus den „drei Weisen Männer“ zusammensetzte: dem Ständigen Vertreter von Irland (J. Harman), dem Präsidenten des Gerichtshofes (L. Wildhaber) und dem Stellvertretenden Generalsekretär 174 Siess-Scherz, EuGRZ 2003, S. 100 (105); Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (215). Vgl. auch Art. 54 A EGMR-VerfO (Fn. 170). 175 Art. 29 Abs. 3 EMRK a. F. („Entscheidungen der Kammern über die Zulässigkeit und Begründetheit“) lautete: „Die Entscheidung über die Zulässigkeit ergeht gesondert, sofern nicht der Gerichtshof in Ausnahmefällen anders entscheidet“. 176 Zur Kritik: Keller/Bertschi, die den Mangel an Transparenz hervorheben; Ohms, EuGRZ 2003, S. 141 (145), die aus rechtsstaatlichen Gründen ein „Minimum an Begründung“ zwecks Nachvollziehbarkeit der Entscheidung für erforderlich hält. 177 Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (214). 178 Protokoll Nr. 14 zur EMRK vom 13.5.2004 und der Erläuternde Bericht sind verfügbar unter: (Treaties of the Council of Europe/Full List/ Protocol no. 14 CETS no. 194. Eine deutsche Übersetzung des Erläuternden Berichts zum 14. Protokoll zur EMRK ist abgedruckt in BT-Drs. 16/42, S. 24 ff. 179 Eingehend zu der Reform durch das Protokoll Nr. 14: Egli, ZaöRV 64 (2004) S. 759–794; Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204–229; Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), S. 1–17; Schokkenbroek, EuGRZ 2003, S. 134–138. 180 Entschließung I über die Institutionelle und funktionelle Umsetzung des Schutzes der Menschenrechte auf nationaler und europäischer Ebene (Resolution I „Institutional and Functional Arrangements on the National and European level“), im Anhang zum Abschlussbericht der 49. Sitzung des Lenkungsausschusses am 3. bis 6.10.2000, CDDH(2002)025 Addendum, abrufbar unter http://www.coe.int/(Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at national and European level/CDDH meeting reports) – Stand 30.9.2015.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

des Europarates (H. C. Krüger).181 Die Evaluierungsgruppe wurde bei ihrer Arbeit von der Reflexionsgruppe zur Verbesserung des Menschenrechtenrechtsschutzes unterstützt, die von dem Lenkungsausschuss für Menschenrechte einberufen worden war und aus Experten auf dem Gebiet der Menschenrechte aus 15 Mitgliedstaaten bestand.182 Am 27. September 2001 beendete die Evaluierungsgruppe ihre Arbeit und legte ihren Bericht vor,183 der von dem Ministerkomitee auf seiner 109. Sitzung vom 8. November 2001 begrüßt wurde.184 Die Evaluierungsgruppe empfahl unter anderem die Konvention zu ändern und dem EGMR die Befugnis zu verleihen, Beschwerden, die keine grundlegenden Fragen zur Konvention aufwerfen, abzulehnen.185 Dieser Vorschlag erinnerte an das certiorari-Verfahren vor dem amerikanischen Supreme Court, das bei seiner Anrufung selbst entscheiden kann, ob es den Fall annimmt.186 Außerdem schlug die Evaluierungsgruppe vor, im Fall von repetitiven Beschwerden ein spezielles Verfahren für das Ministerkomitee einzuführen und die gütliche Einigung zu fördern und die Interaktion zwischen dem EGMR und den nationalen Gerichten zu stärken.187 Auf der Basis des Berichts der Evaluierungsgruppe wurde der Lenkungsausschuss durch das Ministerkomitee beauftragt, Vorschläge zur Änderung der Konvention zu prüfen und gegebenenfalls zu unterbreiten.188 In dieser zweiten Phase des Reformprozesses prüfte der Lenkungsausschuss durch seine Reflexionsgruppe und seinen Sachverständigenausschuss zur Verbesserung der Verfahren zum Schutz der Menschenrechte die Vorschläge der Evaluierungsgruppe und hielt die Ergebnisse im Oktober 2002 in seinem Zwischenbericht fest.189 Der Zwischenbericht stellte für das Ministerkomitee eine Enttäuschung dar, weil er 181 Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (212), Fn. 86; Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26(2005), S. 1 (2). 182 Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), S. 1 (2); Schokkenbroek, EuGRZ 2003, S. 134 (135). 183 Bericht der Evaluierungsgruppe vom 27.9.2001, EG Court(2001)1, abgedruckt in HRLJ 2001, S. 308 ff. 184 Erklärung „Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa – Langfristige Garantie der Effektivität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“, vgl. Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 25. 185 Bericht der Evaluierungsgruppe vom 27.9.2001 (Teil 1 Fn. 183), Ziff. XI E 20. 186 Zur Vereinbarkeit des certiorari-Verfahrens mit den Grundgedanken der Konvention siehe Benoît-Rohmer, RUDH 14 (2002), S. 313 ff. 187 Bericht der Evaluierungsgruppe vom 27.9.2001 (Teil 1 Fn. 183), Ziff. XI A und B 8. 188 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 25. 189 Zwischenbericht des Lenkungsausschusses v. 14.10.2002, CDDH(2002)016 Addendum („Interim Report of the CDDH to be submitted to the Committee of Ministers „Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights“), Rn. 4, verfügbar unter (Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at the national and European level/CDDH/Interim and Activity Reports to the Committee of Ministers/2002/Interim Activity Report).

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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zentrale Vorschläge der Evaluierungsgruppe verwarf. Die Idee einer gesonderten Filterabteilung, die nicht aus gewählten Richtern sondern aus unabhängigen und unparteiischen Personen mit richterlichem Status zusammengesetzt werden sollte (sog. „assessors“),190 wurde abgelehnt, da der Lenkungsausschuss Bedenken im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Übertragung richterlicher Befugnisse von gewählten Richtern auf solche „assessors“ hatte und außerdem einen Widerspruch zu Protokoll Nr. 11 zur EMRK sah, dessen Ziel es ja gerade gewesen war, das Kontrollsystem vollständig gerichtsförmig auszugestalten.191 Auch der Vorschlag der Evaluierungsgruppe, dem EGMR die Befugnis zu verleihen, Fälle die keine grundlegenden Menschenrechtsfragen enthalten abzulehnen, wurde nicht weiter verfolgt, da unter anderem das Kriterium der „grundlegenden Menschenrechtsfrage“ („substantial issue“) als zu unbestimmt erschien und dem EGMR einen zu großen Ermessensspielraum einräumen würde; eine Schwächung des Individualbeschwerderechts wurde befürchtet.192 In seiner Erklärung vom 7. November 2002193 forderte das Ministerkomitee den Lenkungsausschuss auf, ihm bis zu der Ministersitzung im Mai 2003 konkrete Reformvorschläge vorzulegen. Mit der Ausarbeitung konkreter Reformvorschläge begann die dritte Phase des Reformprozesses.194 Der Lenkungsausschuss legte seinen Abschlussbericht im April 2003 vor.195 Hierin machte er siebzehn Vorschläge für die langfristige Sicherung der Effektivität des EGMR, die auf der nationalen Ebene, auf der Ebene der Bearbeitung der Beschwerden durch den EGMR und auf der Ebene der Vollstreckung ergriffen werden sollten. Die meisten Änderungen betrafen die Ebene des Gerichtshofs. Hier wurde insbesondere die Einführung eines neuen Zulässigkeitskriteriums vorgeschlagen, wonach der EGMR entsprechend dem Grundsatz „de minimis non curat praetor“ eine Beschwerde für unzulässig erklären soll, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil erwächst und der Fall keine nennenswerte Auslegungsfrage oder andere Frage von allgemeiner Bedeu-

190 191

Zwischenbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2002)016, a. a. O., Rn. 23. Zwischenbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2002)016, a. a. O., Rn. 28 und

30. 192

Zwischenbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2002)016, a. a. O., Rn. 37, 39. Erklärung des Ministerkomitees „Der Gerichtshof für Menschenrechte für Europa“, angenommen im Anschluss an seine 111. Sitzung, vgl. Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 27. 194 Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), S. 1 (3). 195 Abschlussbericht des Lenkungsausschusses, Guaranteeing the long-term effectiveness of the control system of the European Convention of Human Rights, CDDH (2003)006 Addendum final, verfügbar unter (Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at the national and European level/CDDH/Interim and Activity Reports to the Committee of Ministers/2003/ Final Activity Report), Stand: 30.9.2015. 193

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

tung aufwirft.196 Das neue Zulässigkeitskriterium geht auf einen Vorschlag der deutschen und schweizerischen Delegation zurück.197 Ein anderer Vorschlag betraf die erweiterte Zuständigkeiten der kleineren Spruchkörper und den erleichterten Gebrauch der gütlichen Einigung.198 Auf nationaler Ebene schlug der Bericht vor, dass nach der Feststellung eines strukturellen Problems durch ein Urteil des Gerichtshofs, das zu zahlreichen weiteren Beschwerden geführt hat oder führen kann, der verantwortliche Staat sicherzustellen hat, dass auf nationaler Ebene den betroffenen oder potentiellen Beschwerdeführern ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht bzw. zur Verfügung gestellt wird. Der Gerichtshof soll dann die Beschwerdeführer auf diesen innerstaatlichen Rechtsbehelf verweisen und eine Beschwerde für unzulässig erklären dürfen. Dies soll die Befugnis des Gerichtshofs einschließen, den nationalen Rechtsbehelf auf seine Wirksamkeit zu überprüfen.199 Das Ministerkomitee begrüßte diesen Abschlussbericht des Lenkungsausschusses und beauftragte seine Ministerdelegierten, den Vorschlägen des Lenkungsausschusses durch Fertigung eines Protokollentwurfs zur Änderung der EMRK Wirksamkeit zu verschaffen.200 Hierfür setzte der Lenkungsausschuss die Arbeitsgruppe zur Verbesserung des Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte (Drafting Group on the Reinforcement of the Human Rights Protection Mechanism, nachfolgend: Drafting Group) ein, die im Dezember 2003 einen Zwischenbericht201 und im April 2004 ihren Endbericht veröffentlichte.202 Diese Berichte berücksichtigten ein im September 2003 veröffentlichtes Positionspapier des Ge196 Abschlussbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2003)006 (Teil 1 Fn. 195), Vorschlag B 4. 197 Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), S. 1 (7); Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (212). Das neue Zulässigkeitskriterium erinnert an § 93 a Abs. 2 lit. b) BVerfGG, wonach eine Verfassungsbeschwerde zu Entscheidung anzunehmen ist, wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte oder der in den Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 104 und 104 GG enthaltenen Rechte angezeigt ist, was der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. 198 Abschlussbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2003)006 (Teil 1 Fn. 195), Vorschlag B 1 und Vorschlag B 3. 199 Abschlussbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2003)006, a. a. O., Vorschlag A 1 b. 200 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 28. 201 Zwischenbericht der Drafting Group CM(2003)165 (Interim Activity Report „Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights – Implementation of the Declaration adopted by the Committee of Ministers at its 112th Session, 14–15 May 2003), als Anhang (Addendum I) zu dem Bericht des Ministerkomitees anlässlich der 56. Sitzung am 18.–21.11.2003, abrufbar unter (Stand: 30.9.2015). 202 Abschlussbericht der Drafting Group CM(2004)65 (Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights – Implementation of the Declaration adopted at its 112th Session (14–15 May 2003) Final Activity Report), abrufbar unter (Stand: 30.9.2015).

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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richtshofs zu den Reformvorschlägen.203 Da der Lenkungsausschuss in einigen Fragen keine Einigung erzielen konnte,204 gab die Parlamentarische Versammlung am 28. April 2004 zu dem Protokollentwurf eine Stellungnahme ab.205 Nachdem in den letzten offenen Fragen ein Kompromisstext gefunden worden war, nahm das Ministerkomitee anlässlich seiner 114. Sitzung am 13. Mai 2004 das Protokoll an.206 b) Die durch das Protokoll Nr. 14 eingeführten Hauptänderungen der EMRK Die meisten Neuerungen durch das Protokoll Nr. 14 zur EMRK betreffen das Verfahren vor dem EGMR. Zur Stärkung des Filtermechanismus wurde in Art. 27 EMRK – neben den bereits bestehenden Ausschüssen, Kammern und der Großen Kammer – neu ein Einzelrichter eingeführt, der befugt ist, Individualbeschwerden für unzulässig zu erklären oder im Register zu streichen. Art. 35 Abs. 3 lit.b EMRK enthält das während den Reformarbeiten stark umstrittene neue Zulässigkeitskriterium.207 Es ermächtigt den Gerichtshof, Individualbeschwerden auch dann für unzulässig zu erklären, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil erwächst, die Achtung der Menschenrechte im Sinn der Konvention und der Protokolle keine Prüfung der Begründetheit erfordert und die Rechtssache von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist. Gegenüber dem Vorschlag des Lenkungsausschusses in seinem Abschlussbericht im April 2003 enthält das Zulässigkeitskriterium zwei weitere Schutzklauseln: Der Zusatz der Prüfung durch ein innerstaatliches Gericht trägt dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung, wonach die Kontrolle des EGMR nachrangig zu der Kontrolle durch die nationalen Gerichte ist. Der Zusatz, wonach eine Prüfung auch ohne erheblichen Nachteil für den Beschwerdeführer möglich ist, wenn die Achtung der Menschenrechte dies erfordert, soll sicherstellen, dass Rechtssachen erfasst werden, die trotz ihrer Geringfügigkeit wesentliche Fragen der Auslegung oder Anwendung der Konvention aufwerfen.208 Die Übergangsbe203 Positionspapier des Gerichtshofs CDDH-GDR(2003)024 („Position paper of the European Court of Human Rights on proposals for reform of the European Convention on Human Rights and other measures as set out in the report of the Steering Committee for Human Rights of 4 April 2003 – CDDH(2003)006 final)“, angenommen anlässlich der 43. Sitzung am 12.9.2003, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 204 Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), S. 1 (3). 205 Stellungnahme der Parlamentarischen Versammlung anlässlich der Sitzung v. 28.04.2004, Opinion 151(2004), Draft Protocol No. 14 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, amending the control system of the Convention, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 206 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 33. 207 Zur Kritik der Parlamentarischen Versammlung, siehe Opinion Nr. 125 (2004), Rn. 11. 208 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 39 und Rn. 81–83.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

stimmung in Art. 20 Abs. 2 des 14. Protokolls zur EMRK beschränkte die Anwendung des neuen Zulässigkeitskriteriums in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls auf die Kammern und die Große Kammer. Nach dem neuen Art. 28 EMRK erhalten die Dreierausschüsse, die bislang nur über die Zulässigkeit der Individualbeschwerde entscheiden durften, die Kompetenz, durch einstimmigen Beschluss zugleich ein Urteil über die Begründetheit der Beschwerde zu entscheiden, wenn die der Rechtssache zugrunde liegende Frage Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist. Nach der Neufassung des Art. 29 EMRK entscheidet eine Kammer nunmehr regelmäßig gleichzeitig über die Zulässigkeit und Begründetheit einer Individualbeschwerde. Die als solche bereits existierende Praxis des Gerichtshofs der gleichzeitigen Entscheidung enthält somit eine normative Basis.209 Auf der Ebene des Urteilsvollzugs wurde Art. 46 Abs. 3 EMRK neu eingefügt, der das Ministerkomitee ermächtigt, den Gerichtshof um die Auslegung eines endgültigen Urteils zu ersuchen, wenn Auslegungsschwierigkeiten das Komitee bei der Überwachung des Urteilsvollzugs beeinträchtigen.210 Diese Neuerung ergänzt die bereits bestehende Regelung in Art. 79 EGMR-VerfO, wonach eine Partei innerhalb eines Jahres nach Verkündung die Auslegung eines Urteils beantragen kann. Gegenstand der Auslegung kann danach aber nur der Urteilstenor sein. Die Möglichkeit der Anrufung durch das Ministerkomitee ist dagegen nicht an eine Frist gebunden und Gegenstand der Auslegung kann nicht nur der Tenor, sondern auch die Begründung des Urteils sein. Das Ministerkomitee kann die Anrufung des Gerichtshofs aber nur mit Zweidrittelmehrheit beschließen und soll von dieser Möglichkeit nur mäßig Gebrauch machen, um den Gerichtshof mit Anfragen nicht zu überlasten.211 Die Absätze 4 und 5 des Art. 46 EMRK behandeln das neue Nichtbefolgungsverfahren.212 Weigert sich ein Konventionsstaat seine Verpflichtungen aus dem Urteil zu erfüllen, kann das Ministerkomitee gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK n. F. den Mitgliedstaat nach einer Mahnung erneut vor den Gerichtshof ziehen und den Gerichtshof mit der Frage befassen, ob der Vertragsstaat seine Verpflichtung zur Befolgung des Urteils aus Art. 46 Abs. 1 EMRK verletzt hat. Das Ministerkomitee kann einen solchen Beschluss nur mit Zweidrittelmehrheit entscheiden. Der Gerichtshof fällt hierauf ein Feststellungsurteil. Die Möglichkeit der Festsetzung von Fristen oder der Verhängung einer Geldstrafe wird jedoch nicht vorgesehen.213

209 210 211 212 213

Zu dieser Praxis siehe die Ausführungen unter Teil 1 B. III. 3. Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 96. Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, a. a. O., Rn. 96 . Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, a. a. O., Rn. 99. Siehe hierzu auch die Ausführungen unter Teil 3 C. III.

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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Maßnahmen zur verbesserten Durchsetzung der EMRK wurden nicht ergriffen. Vielmehr hat das Ministerkomitee zu diesem Zweck gleichzeitig mit dem 14. Protokoll zur EMRK anlässlich seiner 114. Sitzung am 12. Mai 2004 drei Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten214 und eine Resolution215 verabschiedet. c) Ratifikation und Protokoll Nr. 14bis Die Konventionsstaaten haben sich anlässlich der 114. Sitzung des Ministerkomitees im Mai 2004 verpflichtet, das Protokoll Nr. 14 zur EMRK innerhalb von zwei Jahren zu ratifizieren.216 Die Russische Staatsduma weigerte sich jedoch im Dezember 2006, das Protokoll zu ratifizieren und zögerte hierdurch das Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 hinaus. Im April 2009 wurde daher zunächst das Protokoll Nr. 14bis verabschiedet, das die Einführung eines Einzelrichters und die Ausweitung der Kompetenzen des aus drei Richtern bestehenden Komitees als Teilelemente des Protokolls Nr. 14 zwischen den ratifizierenden Staaten für vorläufig anwendbar erklärte. Am 15. Januar 2010 schließlich stimmte die Russische Staatsduma der Ratifizierung des 14. Protokolls zur EMRK zu, und die Ratifikationsurkunde wurde am 18. Februar 2010 – anlässlich der Konferenz von Interlaken – beim Europarat hinterlegt. Am 1. Juni 2010 ist das Protokoll Nr. 14 zur EMRK in Kraft getreten. Das Übergangsprotokoll Nr. 14bis hat sich dadurch erledigt.

214 Empfehlung Rec(2004)4 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäische Menschenrechtskonvention in der Hochschulbildung und Berufsausbildung („Recommendation Rec (2004) 4 on the European Convention on Human Rights in university education and professional training“); Empfehlung Rec(2004)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Überprüfung der Vereinbarkeit von Gesetzentwürfen, geltenden Gesetzen und Verwaltungspraktiken mit den in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen („Recommendation Rec (2004) 5 on the verification of the compatibility of draft laws, existing laws and administrative practice with the standards laid down in the European Convention on Human Rights“); Empfehlung Rec(2004)6 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Verbesserung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe („Recommendation Rec (2004) 6 on the improvement of domestic remedies“ – alle Empfehlungen angenommen am 12.5.2004 anlässlich der 114. Sitzung des Ministerkomitees, abrufbar unter: (Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at the national and European level/CDDH/Adopted Texts/Recommendations), Stand: 30.9. 2015. 215 Entschließung des Ministerkomitees Res(2004)3 über Urteile, die ein zugrunde liegendes strukturelles Problem aufzeigen („Resolution Res(2004)3 of the Committee of Ministers on judgments revealing an underlying systemic problem“), angenommen von dem Ministerkomitee am 12.5.2004 anlässlich seiner 114. Sitzung, abrufbar unter: (Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at the national and European level/CDDH/Adopted Texts/Resolutions), Stand: 30.9.2015. 216 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 32.

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

5. Bericht von Lord Woolf und Bericht der Wise Persons Das 14. Protokoll zur EMRK bringt wichtige Entlastungsmaßnahmen, die unmittelbare Wirkung entfalten, wie etwa die Einführung des neuen Einzelrichters. Andere Reformmaßnahmen, wie etwa die Empfehlung des Ministerkomitees, auf nationaler Ebene den Rechtsschutz zu verbessern, können nur auf lange Sicht wirken.217 Den Konventionsstaaten war von Anfang an bewusst, dass das 14. Protokoll zur EMRK nicht das Ende, sondern nur ein weiterer Schritt in einem andauernden Reformprozess sein wird. Der Generalsekretär des Europarates beauftragte daher Lord Woolf mit der Erstellung eines Berichts, der Aufschluss über Maßnahmen geben sollte, die ohne eine Änderung der Konvention getroffen werden können. Der Bericht wurde im Dezember 2005 veröffentlicht.218 Außerdem beauftragten die Staatsoberhäupter und Regierungen des Europarates anlässlich ihres Gipfels in Warschau am 16./ 17. Mai 2005 eine Group of Wise Persons, weitergehende Reformmaßnahmen zur langfristigen Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Konventionssystems zu untersuchen. Die Gruppe unter dem Vorsitz von Rodríguez Iglesias, der unter anderem Jutta Limbach und Lord Woolf angehörten, legte ihren Abschlussbericht am 10. November 2006 vor.219 Der Bericht schlägt unter anderem vor, die Flexibilität des Konventionssystems zu erhöhen, indem das Ministerkomitee ermächtigt wird, bestimmte Reformen im Wege einstimmig angenommener Resolutionen, das heißt ohne Änderung der Konvention und des damit einhergehenden langwierigen Ratifikationsverfahrens vorzunehmen.220 Ferner wird die Einrichtung eines neuen, aus Richtern bestehenden Filterorgans (judicial committee) empfohlen, das dem Gerichtshof zwar angeschlossen, aber selbständig sein soll. Dieses Filterorgan soll über Fälle entscheiden, die unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind und den Gerichtshof hierdurch entlasten.221 Zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den Konventionsstaaten wird die Einrichtung eines Gutachtenverfahrens vorgeschlagen. Letztinstanzliche Gerichte sollen danach die Möglichkeit erhalten, den EGMR zur Auslegung der Konvention anzurufen. Die rechtliche Stellungnahme des EGMR soll aber nicht bindend sein.222 217

Egli, ZaöRV 2004, S. 790 f. Bericht Lord Woolf, „Review of the Working Methods of the European Court of Human Rights“, abgedruckt in HRLJ 26 (2005), S. 447–464. 219 Der Abschlussbericht der Group of Wise Persons, CM(2006)203, v. 15.11.2006 und der Zwischenbericht der Group of Wise Persons, CM(2006)88, v. 19.5.2006 sind vollständig abgedruckt in HRLJ 2006, S. 274 ff. und S. 279 ff. Siehe hierzu auch die Besprechung von Egli, ZaöRV 68 (2008), S. 155–173. 220 Abschlussbericht der Group of Wise Persons, a. a. O., Reformvorschlag A 1. 221 Abschlussbericht der Group of Wise Persons, a. a. O., Reformvorschlag A 2. 222 Abschlussbericht der Group of Wise Persons, a. a. O., Reformvorschlag B 4. Siehe zur Einführung eines Gutachtenverfahrens auch die Ausführungen unter Teil 4 B. III 5. 218

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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6. Die Konferenzen von Interlaken und Izmir „There will be a ,before‘ and an ,after‘ Interlaken.“ 223

Die Wise Persons gingen in ihrem Bericht davon aus, dass das 14. Protokoll zur EMRK bald in Kraft treten würde und ihre Vorschläge für eine langfristige Reform die Entlastungswirkung des 14. Protokolls zur EMRK ergänzen.224 Infolge der Verzögerungen bei dem Ratifikationsverfahren konnten die Überlegungen zur langfristigen Sicherung des Konventionssystems aber erst mit dessen Abschluss anlässlich der Konferenz von Interlaken vom 18./19. Februar 2010 wieder aufgenommen werden. Ziel dieser Konferenz war die Einleitung eines Reformprozesses, der sich auf die langfristigen Reformziele konzentriert und diese bis 2019 feststeckt. Daneben sollten weitere kurz- und mittelfristig verwirklichbare Ziele herausgearbeitet und ein Strategieplan erstellt werden.225 Entsprechend wurde auf der Konferenz von Interlaken eine Erklärung einschließlich eines Aktionsplans verabschiedet.226 Der Plan präsentiert eine Reihe institutioneller Reformen, die auf Ideen zurückgreifen, die in den letzten Jahren bereits ausgearbeitet wurden. Hierzu zählt der Vorschlag, ein neues, dem Gerichtshof angegliedertes Filterorgan zu schaffen, der bald danach realisiert wurde. Die neue Filtersektion hat ihre Arbeit Anfang Januar 2011 aufgenommen und hat die Aufgabe, die Fälle schnell und sorgsam zu sieben, um sicherzustellen, dass alle Beschwerden auf den rechten prozessualen Weg geleitet werden – sei es, dass sie dem Einzelrichter zur sofortigen Entscheidung übergeben werden oder zur weiteren Prüfung an einen mit drei Richtern besetzten Ausschuss oder an eine Kammer im Einklang mit der Prioritätspolitik des Gerichtshofs geleitet werden. Bereits nach den ersten sechs Monaten hat sich gezeigt, dass die Einrichtung der Filterabteilung zur Entwicklung und Verbreitung der besten Praktiken geführt hat, welche den Verwaltungs- und Gerichtsprozess der eingehenden Beschwerden beschleunigt haben.227 Auf der Konferenz von Izmir vom 26./27. April 2011 wurden die Ziele der Interlakenkonferenz und die Einhaltung des Zeitplans bekräftigt.228 Der damalige Präsident des 223

Jean-Paul Costa, Vorwort zum Jahresbericht 2010 des EGMR, S. 5. Abschlussbericht der Group of Wise Persons, CM(2006)203 (Teil 1 Fn. 219), Einleitung: Die Wise Persons erhielten den Auftrag „to consider the long-term effectiveness of the ECHR control mechanism, including the initial effects of Protocol No 14 and the other decisions taken in May 2004“. 225 Costa, Memorandum v. 3.7.2009 zur Interlaken-Konferenz, Abschnitt III, S. 3 ff. 226 Die Erklärung von Interlaken vom 19.2.2010 einschließlich des Aktionsplans ist verfügbar unter (The Court/Reform of the Court/Conferences) – Stand 30.9.2015. Zu der Erklärung von Interlaken, siehe auch den Beitrag von Mowbray, HRLR 10 (2010), S. 519. 227 Bilanz der Filtersektion des EGMR, verfügbar unter (The Court/ How the Court works/Case-processing), zuletzt aufgerufen 30.9.2015. 228 Erklärung von Izmir verfügbar auf der Internetseite (The Court/ Reform of the Court/Conferences) – zuletzt aufgerufen am 30.9.2015. 224

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1. Teil: Der rechtspolitische Hintergrund der Piloturteile

EGMR, Jean-Paul Costa, zog außerdem eine erste Bilanz der mit dem 14. Protokoll zur EMRK eingeleiteten Reformen. Zwanzig Richter üben seither die Funktion als Einzelrichter aus und haben seit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 vom 1. Juni 2010 bis zur Konferenz von Izmir am 1. April 2011 insgesamt 26.500 Entscheidungen erlassen. Die mit drei Richtern besetzten Komitees nehmen ihre neuen Kompetenzen wahr und haben im gleichen Zeitraum 300 Beschwerden behandelt. Das neue Zulässigkeitskriterium hat erwartungsgemäß in dieser Zeit nur eine geringe Zahl der Fälle erfasst.229 Insgesamt zeigte sich aber eine leichte Entlastung des EGMR. Das erste Mal seit vielen Jahren schrumpfte der Abstand zwischen den neu eingegangen und den beendeten Beschwerden.230 Wie der damalige Präsident Costa auf der Konferenz von Izmir betonte, sind die Maßnahmen jedoch nicht ausreichend. Eine Lösung für den Umgang mit den zahlreichen Wiederholungsfällen zu finden, wurde als eine der zentralen Aufgaben hervorgehoben.231

IV. Fazit Das 14. Protokoll zur EMRK hat einige wesentliche Neuerungen im Hinblick auf Wiederholungsfälle eingeführt. Die wichtigste Maßnahme ist die Erweiterung der Kompetenzen der Dreierausschüsse. Nach dem neuen Art. 28 Abs. 1 b EMRK können die mit drei Richtern besetzten Ausschüsse nicht nur über die Zulässigkeit der Beschwerde, sondern auch über die Begründetheit entscheiden, wenn die der Rechtssache zugrunde liegende Frage Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist. Die neuen Befugnisse der Dreierausschüsse nach Art. 28 Abs. 1 b EMRK greifen allerdings nicht den Kern der strukturellen Problematik an und ersparen nicht die Entscheidung im Einzelfall. Eine weitere Neuerung ist das sog. Nichtbefolgungsverfahren, das vermeiden soll, dass der Gerichtshof bei Urteilen, die sich auf strukturelle Probleme beziehen, mit einer großen Anzahl von wiederkehrenden Beschwerden überschwemmt wird.232 Nach bisherigem Recht bestand im Fall der Weigerung eines Vertragsstaates, ein Urteil des Gerichtshofs umzusetzen, nur die Sanktionsmöglichkeit des Art. 8 der Satzung des Europarats, wonach dem Vertragsstaat das Stimmrecht im Europarat vorläufig entzogen oder er sogar zum Austritt aufgefordert werden kann. Diese einschneidenden Maßnahmen haben jedoch häufig kontraproduktiven Charakter und können nur als ultima ratio dienen. Das Nichtbefolgungsverfahren, das sich an Art. 260 AEUV233 orientiert, stellt dem Minister229

Costa, Rede v. 26.4.2011 anlässlich der Konferenz in Izmir, S. 2 (4 f.). Costa, Rede v. 26.4.2011 anlässlich der Konferenz in Izmir, S. 2 (4 f.). 231 Costa, Rede v. 26.4.2011 anlässlich der Konferenz in Izmir, S. 2 (6): „Un autre sujet capital est celui des requêtes répétitives (. . .)“. 232 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 98. 233 Ex-Art. 228 Abs. 1 EG-Vertrag. 230

B. Die Bedrohung des Konventionssystems

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komitee ein neues, flexibleres Druckmittel zur Verfügung. Es kommt jedoch nur zum Einsatz, wenn sich ein Staat weigert, ein endgültiges Urteil des EGMR zu befolgen. Aufgrund seines repressiven Charakters ist es auf Ausnahmefälle zu beschränken,234 da das Konventionsrecht grundsätzlich kooperativ und nicht konfrontativ durchgesetzt werden soll.235 Die reformbedingten Neuerungen sind nicht ausreichend, um das Problem der Wiederholungsfälle zu lösen.

234

Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 100. Daher sieht das neue Nichtbefolgungsverfahren auch nicht die Möglichkeit der Verhängung eines Zwangsgeldes vor, siehe hierzu Teil 3 C. III. 235

Zweiter Teil

Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ 1

Der EGMR genießt eine besondere Autorität2 und nimmt daher eine wichtige Rolle bei der Lösung der Problematik der Wiederholungsfälle ein. Er hat sich seiner Verantwortung gestellt und mit der Entwicklung des Piloturteilsverfahrens ein neues Handlungsinstrument kreiert, das die Lösung des Einzelfalls mit der Lösung ähnlicher Beschwerden verbindet. Hierdurch entfaltet das Verfahren präventiven Schutz. Gleichzeitig wirft es die seit jeher umstrittene Frage neu auf, ob und inwieweit die Wirkungen der Urteile des EGMR über den Einzelfall hinausreichen können. Um den revolutionären Charakter des Piloturteilsverfahrens zu verstehen, erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Urteile des EGMR. Sodann werden die Entwicklung und der Charakter des Piloturteilsverfahrens untersucht.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick Die Konvention enthält nur wenige Aussagen zu den Wirkungen der Urteile des EGMR. Die zentralen Bestimmungen sind Art. 41 und Art. 46 EMRK. Art. 41 EMRK lautet: „Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu.“

Art. 46 EMRK lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Das endgültige Urteil ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seinen Vollzug.“ 1

Das Zitat wird zugeschrieben: Max Frisch (1911–91), schweizerischer Schriftsteller. Die Richter müssen nach Art. 21 EMRK hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein. Sie gehören dem Gerichtshof nur als Einzelpersonen an und dürfen während ihrer Amtszeit keine Stellung innehaben, die mit ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als Mitglieder des Gerichtshofs unvereinbar ist. Zu den weiteren Autoritätsfaktoren: Uerpmann, Die EMRK und die deutsche Rechtsprechung, S. 222 ff. 2

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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Welche Wirkungen sich im Einzelnen aus diesen Bestimmungen ergeben, hängt nicht zuletzt von dem Status der EMRK im innerstaatlichen Recht ab. Die innerstaatlichen Regelungen können sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, da die Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum haben und über den konventionsrechtlichen Mindeststandard hinausgehen können. Denn nach dem sog. Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ist die Konvention nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in der Konvention anerkannt werden.3 Zentrales Anliegen der nachfolgenden Untersuchung ist nicht, die Unterschiede in den einzelnen nationalen Bestimmungen aufzuzeigen, sondern die Mindestanforderungen herauszuarbeiten, die die Konvention selbst hinsichtlich der Stellung der EMRK im nationalen Recht aufstellt. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, ob die EMRK innerstaatliche Geltung entfaltet und, falls ja, welchen Rang die EMRK im nationalen Recht einnimmt. Gemeint ist der Ranganspruch, der unmittelbar aus der EMRK selbst fließt, und nicht der möglicherweise darüber hinausgehenden Rang, welcher der EMRK erst auf der Basis einer nationalen Regelung eingeräumt wird. Würden die innerstaatliche Geltung und der Vorrang der EMRK vor innerstaatlichem Recht bejaht, so wäre die EMRK unmittelbar durch die innerstaatlichen Stellen anzuwenden. Denn die in ihr enthaltenen Rechte und Pflichten sind nach allgemeiner Auffassung hinreichend bestimmt um unmittelbar, d.h. ohne Dazwischentreten eines staatlichen Ausführungsaktes, angewendet werden zu können.4

I. Der innerstaatliche Geltungsanspruch der EMRK Die Frage nach der innerstaatlichen Geltung der EMRK nimmt eine Schlüsselstellung ein. Wird diese verneint, stellt sich die Frage nach dem Ranganspruch und der unmittelbaren Anwendbarkeit der EMRK nicht mehr. Aufgrund der völkerrechtlichen Wurzeln der EMRK ist die Frage der innerstaatlichen Geltung von dem grundsätzlichen Verhältnis des Völkerrechts zum staatlichen Recht abhängig. Traditionell stehen sich hier zwei Ansätze gegenüber: der Monismus und der Dualismus. Der Monismus betrachtet das Völkerrecht und das staatliche Recht als Teil einer einheitlichen Rechtsordnung. Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts sieht das Völkerrecht als Ausfluss des Willens der souveränen Staaten; sein Geltungsgrund liegt im innerstaatlichen Recht mit der Folge, dass sich das innerstaatliche Recht im Kollisionsfall durchsetzt. Der Monismus mit Primat des Völkerrechts geht im Grundsatz von dem Völkerrecht als gültige Rechtsordnung aus, von dem sich das innerstaatliche Recht ableitet. Der Staat ist danach nur eine 3 Grabenwarter, EMRK, § 2, Rn. 14. Zu dem Günstigkeitsprinzip siehe auch die Ausführungen unter Teil 4 B. II. 1. b) aa). 4 Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 3; Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EMRK, S. 26 f.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Teilrechtsordnung mit völkerrechtlich begrenztem territorialem Geltungsbereich. Im Kollisionsfall setzt sich nach diesem Ansatz das Völkerrecht gegenüber dem innerstaatlichen Recht durch.5 Demgegenüber begreift der Dualismus das Völkerrecht und das innerstaatliche Recht als zwei verschiedene Rechtsordnungen. In seiner radikalen Ausprägung bestehen die beiden Rechtsordnungen vollkommen getrennt voneinander wie „zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden“.6 In gemäßigter Form geht der Dualismus von zwei getrennten Rechtsordnungen aus, die sich jedoch überschneiden können.7 Das Völkerrecht kann nach dualistischem Verständnis erst durch eine Norm des innerstaatlichen Rechts Geltung in der nationalen Rechtsordnung erlangen.8 Die Inkorporation des Völkerrechtssatzes, d.h. die Einbindung des Völkerrechts in das staatliche Recht, erfolgt entweder durch Transformation, d.h. der Gesetzgeber wandelt die Völkerrechtsnorm in innerstaatliches Recht mit identischem Inhalt um, oder durch Adoption,9 d.h. die Völkerrechtsnorm wird Bestandteil der nationale Rechtsordnung ohne ihr Wesen als Völkerrecht zu verlieren, oder durch Erteilung eines Vollzugsbefehls, d.h. eines innerstaatlichen Rechtsaktes, der die staatlichen Stellen zur Befolgung der Völkerrechtsnorm verpflichtet, ohne dass diese inhaltlich geändert wird.10 Die Frage, inwieweit die EMRK innerstaatliche Geltung beansprucht und von den innerstaatlichen Behörden unmittelbar anzuwenden ist, steht seit langem in der Diskussion.11

5 Zu dem monistischen Ansatz in seinen beiden Ausprägungen: Kelsen, ZaöRV 19 (1958), S. 234 ff. 6 Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 111. 7 Das BVerfG folgt dem gemäßigten Dualismus, vgl. BVerfG, Beschluss v. 14.10. 2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 (319): „Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zugrunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.“ 8 Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 2. 9 Anstelle des Begriffs Adoption wird zuweilen auch der Begriff Inkorporation verwendet. Um sprachliche Verwirrungen zu vermeiden, wird aber der Terminus „Inkorporation“ in dieser Studie ausschließlich als Oberbegriff für die innerstaatliche Geltung der EMRK in der nationalen Rechtsordnung verwendet. 10 Kunig, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Abschnitt, Rn. 37 ff.; Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 2. 11 Für eine unmittelbare Geltung der EMRK im innerstaatlichen Recht, die aus der EMKR hergeleitet wird: Chryssogonos, EuR 36 (2001), S. 49 (61); Golsong, DVBl. 1958, S. 809 ff.; Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EMRK, S. 29 ff. und wohl auch Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 12.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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1. Herrschende Auffassung und Rechtspraxis Die bislang herrschende Meinung lehnt die unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK ab; vielmehr stehe es den Konventionsstaaten frei, die Konvention in ihrem innerstaatlichen Recht zu inkorporieren.12 Nach Art. 1 EMRK sichern die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu. Die EMRK verpflichte damit lediglich auf ein bestimmtes Ergebnis, nämlich die Sicherung des wesentlichen Gehalts der in der EMRK garantierten Rechte und Freiheiten in der innerstaatlichen Rechtsordnung, mache aber keine Vorgaben auf welche Weise dies zu geschehen hat. Der Verpflichtung werde genügt, wenn die nationale Rechtsordnung die Vorgaben der Konvention erfüllt oder durch Änderung oder Aufhebung einzelner vertragswidriger Bestimmungen des nationalen Rechts entsprechend angepasst wird.13 Der EGMR hat sich bislang hinsichtlich einer Inkorporationsverpflichtung zurückhaltend geäußert und wiederholt formuliert, dass die Konvention den Mitgliedstaaten keinen bestimmten Weg für die Sicherung der effektiven Anwendung der Vorschriften der Konvention innerhalb ihres innerstaatlichen Rechts gebiete14 und dass keine Pflicht zur Inkorporation der Konvention in das innerstaatliche Recht bestehe.15 Gleichzeitig hat er aber in seinem Urteil Irland ./. Vereinigtes Königreich hervorgehoben, dass die Absicht der Verfasser der EMRK besonders treu erfüllt wird, wenn die EMRK in das innerstaatliche Recht inkorporiert wird.16 Die Rechtsprechung muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass einige Länder – insbesondere die skandinavischen Länder, Großbritannien und Irland – lange Zeit an einer strikten dualistischen Betrachtung festhielten und sich geweigert haben, die EMRK in das innerstaatliche Recht zu inkorporie12 Gegen eine unmittelbare Geltung der EMRK: Drzemczewski, European Human Rights Convention in domestic law, S. 55; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl., Art. 1, Rn. 2; Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 1; Mückel, Der Staat 44 (2005), S. 403 (406); Klein, Binding effect, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 705 (709); van Dijk, FS Ermacora 1988, S. 631 (635), der aber einschränkend feststellt: „This is not to say, however, that in the future the Strasbourg organs could not develop the thesis that the purpose and character of the Convention, the rights embodied in it, and the supervisory mechanism provided for imply that the Convention as such (. . .) must be adopted in the legal orders of the contracting States“ – van Dijk, ebenda, S. 635 f.; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (244 ff.); Trechsel, Die EMRK, S. 145 ff. 13 Pache, EuR 2004, S. 393 (397). 14 EGMR, Urteil v. 6.2.1976 – Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden, Nr. 5614/72, Ziff. 50; EGMR, Urteil v. 8.7.1986 – Lithgow u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9006/80 u. a., EuGRZ 1988, S. 350 (364 f.), Ziff. 205. 15 EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1986, James u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8793/79, Ziff. 205. 16 EGMR (Plenum), Urteil v. 18.1.1978 – Irland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5310/71, EuGRZ 1979, S. 49 ff., Ziff. 84.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

ren.17 Inzwischen haben diese Länder aber ihren Widerstand aufgegeben; die EMRK wurde von allen Konventionsstaaten in das innerstaatliche Recht eingeführt.18 Das Problem des innerstaatlichen Geltungsanspruchs der EMRK scheint damit an Bedeutung verloren zu haben. Tatsächlich bleibt die Frage einer Verpflichtung zur innerstaatlichen Inkorporation von aktueller Brisanz, denn die Frage des Ranganspruchs ist eng mit der Frage des Geltungsanspruchs verbunden und wird durch sie entscheidend vorgeprägt. Wird bereits der innerstaatliche Geltungsanspruch der EMRK verneint, so lässt sich nur schwerlich ein Anspruch der EMRK auf vorrangige Stellung gegenüber dem nationalen Recht begründen. 2. Wortlaut und Entstehungsgeschichte Für eine Neubewertung der Frage des innerstaatlichen Geltungsanspruchs werden die Staatenpraxis und der zwischenzeitlich weitgehende Inkorporation der EMRK durch die Konventionsstaaten angeführt.19 Daneben wird auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der EMRK verwiesen. Nach dem Wortlaut des Art. 1 EMRK „sichern“ (d. h. im französischen Originaltext: „reconnaissent à toute personne“) die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK garantierten Rechte. In einem früheren Entwurf war dagegen lediglich vorgesehen, dass die Vertragsstaaten sich dazu verpflichten, die Konventionsrechte zu sichern (d.h. im französischen Originaltext: „les Etats Membres s’engagent à assurer“), was für eine rein völkerrechtliche Ergebnispflicht spricht.20 Die Tatsache, dass die Gründungsväter von dieser Formulierung bewusst abgewichen sind und die heutige, absolute Ausdrucksweise gewählt haben, spricht dafür, dass sie unmittelbare Rechte und Pflichten für die Einzelpersonen in den Vertragsstaaten begründen wollten.21 So begründete Henri Rolin, der dem Ausschuss für Rechts- und Verwaltungsfragen angehörte,22 die Änderung mit folgenden Worten:

17

Chryssogonos, EuR 36 (2001), S. 49 (51 f.). Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 1. Zur Inkorporation der EMRK im Einzelnen unter Berücksichtigung der länderspezifischen Besonderheiten vgl. die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. 19 Chryssogonos, EuR 36 (2001), S. 49 (52): „Demnach scheinen die Verhältnisse reif zu sein, um diesen Vorschriften [Art. 13 und Art. 1 EMRK] ihren vollen normativen Gehalt zuzusprechen, d.h. um anzuerkennen, dass sie eine vertragliche Pflicht der Mitgliedstaaten begründen, die EMRK in ihr innerstaatliches Recht zu inkorporieren.“ Ähnlich auch Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 12: „die Zeit für eine Rechtsprechungsänderung ist eingetreten“. 20 Golsong, DVBl. 1958, S. 809 (809). 21 So auch Golsong, DVBl. 1958, S. 809 (809 f.); Kleeberger, S. 37 f. 22 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 1 A. II. 18

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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„Suivant le nouevau texte . . ., les Hautes Parties Contractantes ne s’engageront pas à reconnaître, elles reconnaîtront, de sorte qu’une fois ratifié par nos Etats, le texte élaboré ne devra plus faire l’objet d’amendements à nos constitutions ou nos législations respectives; il s’introduira massivement, de plein droit, dans la législation de nos quinze Etats.“ 23

3. Art. 13 EMRK Für den innerstaatlichen Geltungsanspruch spricht auch Art. 13 EMRK. Nach dieser Norm hat jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Eine wirksame Beschwerde vor einer nationalen Instanz setzt jedoch voraus, dass diese Instanz die Garantien der EMRK ihrer Entscheidung unmittelbar zugrunde legen darf. Die Norm spricht damit für eine Verpflichtung der Staaten, die EMKR zum unmittelbar anwendbaren innerstaatlichen Recht zu machen.24 Hiergegen wird eingewandt, dass Art. 13 EMRK nur einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Verletzung des materiellen Gehalts eines Konventionsrechts fordere. Wenn das nationale Recht dieselbe oder eine gleichwertige Garantie gewährleiste, sei der Forderung der Konvention Genüge getan. Der Möglichkeit einer auch formellen Berufung auf die EMRK bedürfe es nicht.25 4. Stellungnahme Die noch herrschende Auffassung verneint eine Verpflichtung zur Inkorporation der EMRK. Sie erkennt aber eine Pflicht zur konventionskonformen Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung an. Für diese Ansicht spricht, dass sie den Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum belässt und mithin souveränitätsschonend ist. Durch die Pflicht zur konventionskonformen Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung werden die Konventionsgarantien gemäß Art. 1 EMRK aber nicht gleichermaßen abgesichert wie im Fall der unmittelbar innerstaatlichen Geltung und Anwendbarkeit. Erlässt der nationale Gesetzgeber ein konventionswidriges Gesetz oder unterlässt er es, eine konventionswidrige Bestimmung anzupassen, haben die innerstaatlichen Instanzen bei unmittelbarer Anwendbarkeit der EMRK die Möglichkeit, die Konventionswidrigkeit der gesetzlichen Bestimmung festzustellen. Bei fehlender unmittelbarer innerstaatlicher Verantwortlichkeit kann der Staat dagegen nur völkerrechtlich zur Verantwortung

23 Henri Rolin, zitiert von Trechsel, Die EMRK, S. 145. Hervorhebung durch die Verfasserin. 24 Golsong, DVBl. 1958, S. 809 (810). 25 Trechsel, Die EMRK, S. 155.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

gezogen werden, was nicht gleichermaßen effektiv ist.26 Die überzeugenderen Argumente sprechen daher für die Anerkennung des innerstaatlichen Geltungsanspruchs der EMRK.

II. Der Ranganspruch der EMRK Wird eine Verpflichtung zur Inkorporation der EMRK bejaht, so muss weiter gefragt werden, ob aus der EMRK auch ein Anspruch auf Einräumung einer Vorrangstellung gegenüber nationalem Recht folgt. Für einen Vorrang der EMRK spricht der Charakter der in ihr enthaltenen Garantien als Menschenrechte, welche sich an jegliches staatliche Handeln – einschließlich an das Handeln des Gesetzgebers – richten. Würde der EMRK nur der Rang eines einfachen Gesetzes zuerkannt, hätte dies zur Folge, dass sie im Verhältnis zu sonstigen Bundesgesetzen der lex posterior derogat legi priori-Regel unterworfen wäre und ihre Bestimmungen durch nachfolgende Gesetze abgeändert werden könnten. Der einfache Gesetzgeber könnte sich auf diese Weise über die Vorgaben der EMRK hinwegsetzen.27 In der Tat war der Grundsatz des lex posterior die Ursache dafür, dass einige Vertragsstaaten ihren Verpflichtungen aus der EMRK nicht in ausreichender Form nachgekommen sind.28 Ein solches Ergebnis wird heute in der Praxis allerdings vermieden durch die Anwendung des lex specialis-Grundsatzes und der Vermutung, dass sich der Gesetzgeber durch ein nachfolgendes Gesetz nicht völkerrechtswidrig verhalten will.29 Kleeberger wendet aber zu Recht ein, dass ein Rechtsschutzsystem nicht anhand von Annahmen und Hypothesen, sondern anhand rechtlicher Fakten zu bewerten ist. Allein die theoretische Möglichkeit einer Derogation der Konventionsgarantien durch nachfolgende Gesetze lässt Zweifel an der Wirksamkeit des Konventionsschutzes aufkommen.30 Die ganz herrschende Auffassung lehnt derzeit aber einen allgemeinen Anwendungsvorrang in Bezug auf die EMRK ab.31 Ein Anwendungsvorrang ist nur im Recht der Europäischen Union anerkannt. Der EuGH begründet die unmittelbare Anwendbarkeit und absolute Vorrangwirkung des Rechts der Europäischen 26 In diesem Sinne: Chryssogonos, EuR 2001 S. 49 (52 f.); Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EMRK, S. 45. 27 Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EMRK, S. 14. 28 Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (245). 29 Polakiewicz, in: Blackburn/ders. (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, S. 31 (43), der hieraus folgert: „The theoretical possibility that a later statute may be given precedence over the Convention thus appears not to have any real significance.“ Siehe zum lex posterior-Grundsatz auch die Länderanalyse (insbesondere Italien und das Fazit) unter Teil 3 D. II. 2. 30 Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EMRK, S. 13. 31 Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 1, m.w. N.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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Union gegenüber dem nationalen Recht – einschließlich des Verfassungsrechts – mit der Eigenständigkeit der durch die Union geschaffenen Rechtsordnung.32 Während das Recht der Europäischen Union auf Einheitlichkeit angelegt ist, ist die EMRK auf die Gewährleistung eines Mindestschutzes gerichtet. In den Mitgliedstaaten herrschen ganz unterschiedliche Regelungen über den Rang der EMRK in der nationalen Rechtsordnung. In Österreich hat die EMRK Verfassungsrang und im niederländischen Recht sogar Vorrang vor dem Verfassungsrecht.33 In den überwiegenden Fällen haben die Mitgliedstaaten der EMRK jedoch einen Rang unterhalb des Verfassungsrechts, aber überhalb des einfachen Gesetzesrechts eingeräumt. Dies gilt etwa für die Schweiz, Liechtenstein, Belgien, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Malta, Portugal, Spanien und Zypern.34 Dagegen hat die EMRK in den Ländern Deutschland, Italien, San Marino, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland. sowie im Vereinigten Königreich grundsätzlich nur den Rang eines einfachen Gesetzes35 Der nachfolgenden Untersuchung wird die herrschende Auffassung zugrunde gelegt, wonach es den Staaten freisteht, welche Stellung sie der EMRK in ihrer nationalen Rechtsordnung verschaffen.36

III. Das Feststellungsurteil des EGMR Der Gerichtshof erlässt ein Feststellungsurteil, d.h. er stellt das Bestehen oder Nichtbestehen einer Konventionsverletzung durch einen Konventionsstaat im Einzelfall fest. Wird eine Konventionsverletzung bejaht und gestattet das innerstaatliche Recht des beklagten Konventionsstaates keine vollkommene Wiedergutmachung, kann der EGMR dem Beschwerdeführer nach Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung zusprechen, wenn dies notwendig ist. Insoweit ist das Urteil des EGMR als Leistungsurteil zu qualifizieren.37 Das Feststellungsurteil und die Entscheidung über die gerechte Entschädigung ergehen regelmäßig nicht als separate Entscheidung, sondern werden miteinander verbunden.38 Die Urteile sind nach Art. 45 EMRK zu begründen. Repräsentiert ein Urteil nicht die ein32 EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.), ausdrücklich bzgl. Grundrechte: EuGH, Urteil v. 17.12.1970 – Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135), Rn. 3. Die Urteile des EuGH sind verfügbar über seine Internetseite unter , Stand: 30.9. 2015. 33 Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 2. 34 Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 3. 35 Grabenwarter, EMRK, § 3, Rn. 5. 36 Zur Frage einer möglichen Neubewertung der Rangfrage siehe aber die Ausführungen unter Teil 4 B. II. 1. 37 Okresek, EuGRZ 2003, S. 168 (169). 38 Kieschke, Praxis des EGMR und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 54.

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stimmige Meinung der Richter, so kann eine abweichende Meinung anfügt werden, Art. 74 Abs. 2 EGMR-VerfO.39 1. Rechtskraft Die Rechtskraft der Urteile des EGMR wird nicht ausdrücklich normiert. Sie zählt aber zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts.40 Ferner sind nach Art. 46 Abs. 1 EMRK die Konventionsstaaten verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.41 a) Formelle und materielle Rechtskraft Hinsichtlich der Bindung der Parteien des Verfahrens an das Urteil wird zwischen der formellen und materiellen Rechtskraftwirkung unterschieden. Formelle Rechtskraft bedeutet, dass das Urteil unabänderlich ist und nicht zum Gegenstand einer erneuten inhaltlichen Überprüfung durch Einlegung eines Rechtsmittels gemacht werden kann.42 Nur endgültige Urteile können formelle Rechtskraft entfalten. Die Urteile der Großen Kammer werden nach Art. 44 Abs. 1 EMRK mit ihrer Verkündung und die Urteile der einfachen Kammer nach Maßgabe des Art. 44 Abs. 2 EMRK dann endgültig, wenn die Parteien auf eine Verweisung an die Große Kammer verzichten (lit. a) oder drei Monate nach Urteilsverkündung kein Verweisungsantrag an die Große Kammer gestellt wurde (lit. b) oder der Verweisungsantrag abgelehnt wurde (lit. c). Die Urteile eines Gerichts entfalten ferner materielle Rechtskraft, d.h. dass der Inhalt für die Parteien verbindlich ist.43 Dabei erwächst nur der Tenor in Rechtskraft. Da der Inhalt eines Urteils des EGMR in der Hauptsache darauf beschränkt ist, eine Konventionsverletzung festzustellen, ist es jedoch erforderlich, zur näheren Bestimmung der Rechtskraftwirkung und ihrer Grenzen die tatsächlichen Feststellungen und Entscheidungsgründe heranzuziehen.44

39 Zur Bedeutung der Sondervoten in den Urteilen des Gerichtshofs, White/Bossiakou, HRLR 2009, S. 37 ff. 40 Herdegen, Völkerrecht, 11. Aufl., § 17 Rn. 4. Vgl. auch Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHStatut. 41 Die Rechtskraftwirkung lässt sich insoweit aus Art. 46 EMRK „herauslesen“, Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 56. 42 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 37; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (231). 43 Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387 (387); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 24 f. 44 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 56; Polakiewciz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 38; Steinberger, HRLJ 6 (1985), S. 402 (408).

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b) Keine Rechtskrafterstreckung auf Dritte Die materielle Rechtskraft ist nach der ganz überwiegenden Auffassung auf die Parteien begrenzt.45 Parteien sind nach der Definition des Art. 1 lit. p EGMR-VerfO im Fall einer Staatenbeschwerde die streitenden Staaten, im Falle einer Individualbeschwerde der Beschwerdeführer und der Konventionsstaat, dessen Verhalten er rügt. Die Beschränkung des personellen Umfangs der Rechtskraft folgt nicht nur aus dem Wortlaut des Art. 46 EMRK, der die Befolgungspflicht auf die Parteien begrenzt, sondern ist ein bekannter Grundsatz sowohl der nationalen Rechtsordnungen und als auch des Völkerrechts.46 Die Bindungswirkung erstreckt sich mithin nicht auf verfahrensfremde Dritte und zwar selbst dann nicht, wenn sie sich nach Maßgabe des Art. 36 EMRK an dem Verfahren beteiligt haben.47 Verschiedene Ansätze, eine weiterreichende Rechtskraft zu begründen, haben sich nicht durchsetzen können. Für eine Rechtskraftwirkung erga omnes hat sich Bleckmann ausgesprochen. Sie würde bedeuten, dass auch andere, nicht an dem Verfahren beteiligte (Dritt-)Staaten durch ein Urteil gebunden wären.48 Die Ansicht Bleckmanns basierte auf der ehemaligen Struktur des Konventionssystems, in dem der Gerichtshof nur von der Kommission und dem Staat, dessen Staatsangehöriger verletzt wurde, angerufen werden konnte, nicht von dem Betroffenen selbst. Der Beschwerdeführer konnte mit seiner Beschwerde das Verfahren in Gang setzen, war aber nicht Partei des Rechtsstreits. Hieraus schloss Bleckmann, dass Kommission und die Staaten als Sachwalter des europäischen Allgemeininteresses an der Einhaltung der Menschenrechte auftreten.49 Durch das 9. Protokoll wurde dem Beschwerdeführer aber die Möglichkeit eingeräumt, die Sache selbst an den Gerichtshof zu bringen.50 Eine umfassende Parteistellung erhielt er durch das 11. Protokoll zur EMRK mit Wirkung zum 1. November 1998.51 Die Idee einer Rechtskraftwirkung erga omnes ist daher mit der absoluten Formulie-

45 Cohen-Jonathan, La Convention européenne des Droits de l’Homme, 1989, S. 206; Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 57; Ehlers, Jura 2000, S. 382; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 835; Kieschke, Die Praxis des EGMR und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 57; Klein, Binding effect, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 705 (706); Pache, EuR 2004, S. 393 (403); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 33; Ress, EuGRZ 1996, S. 350 (350); Villiger, ZSR 1985, Band I, S. 469 (476); Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen MehrebenenSystem, S. 38 ff. 46 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 33. 47 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 57. 48 Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387 (387 f.). 49 Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387 (388). 50 Zum Protokoll Nr. 9 siehe Teil 1 Fn. 147. 51 Zum Protokoll Nr. 11 siehe Teil 1 Fn. 159.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

rung in Art. 46 EMRK, der die Bindungswirkung ausdrücklich auf die am Verfahren beteiligten Parteien beschränkt, nicht vereinbar.52 Eine andere Ansicht spricht sich für eine einseitige Rechtskraftwirkung aus. Diese Auffassung stützt sich auf eine strenge Auslegung des Wortlauts des Art. 46 EMRK, wonach sich „die Hohen Vertragsparteien (. . .) verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“. Da Art. 46 EMRK nur auf die Parteirolle der Vertragsstaaten abstellt, soll im Fall der Individualbeschwerde die materielle Rechtskraft nur den beklagten Staat erfassen.53 Die Formulierung in Art. 46 EMRK ist jedoch historisch bedingt und in der ursprünglich fehlenden Parteistellung des Beschwerdeführers begründet. Mit der Einräumung der Parteistellung sollte der Beschwerdeführer gegenüber dem beklagten Staat verfahrensrechtlich auf eine Ebene gestellt werden. Eine Besserstellung durch eine einseitige Rechtskraftwirkung wurde nicht erstrebt. Durch das Urteil ist der Fall für den Beschwerdeführer genauso abgeschlossen wie für jeden Staat, der Partei des Verfahrens ist.54 Die Ansätze einer Rechtskrafterstreckung können nicht überzeugen. Die Urteile des EGMR entfalten vielmehr Rechtskraftwirkung inter partes, d.h. es besteht eine auf die Parteien begrenzte Rechtskraftwirkung. 2. Befolgungspflicht Art. 46 EMRK verpflichtet die Hohen Vertragsparteien dazu, das endgültige Urteil zu befolgen. Adressat der Urteile des EGMR ist der Staat, der als geschlossene Einheit auf der völkerrechtlichen Ebene auftritt.55 Nach herrschender Auffassung entfalten die Urteile des Gerichtshofs keine unmittelbare (Feststellungs-)Wirkung im innerstaatlichen Recht mit der Folge, dass alle innerstaatlichen Stellen an das Urteil gebunden wären und es unmittelbar anzuwenden hätten – selbst wenn sie dadurch in Widerspruch zu einer rechtskräftigen nationalen

52 Klein, Binding effect, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 705 (706); Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 40. 53 Mückel, Der Staat 44 (2005), S. 403 (420). 54 Dies entspricht der ganz herrschenden Auffassung: Cremer, EuGRZ 2004, S. 683 (690); Klein, Binding effect, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 705 (706); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 37 und Fn. 62 m.w. N.; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 40. 55 Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 19. A. A.: Polakiewicz: Obwohl Polakiewicz eine interne Rechtskraftwirkung im eigentlichen Sinne ablehnt, erstreckt sich nach seiner Ansicht die Verpflichtung zum Vollzug der Urteile des Europäischen Gerichtshofs auf alle Organe des am Verfahren beteiligten Staates. Das soll jedenfalls insoweit gelten, als die sich aus den Urteilen ergebenden Verpflichtungen nach einem innerstaatlichen Vollzug durch Behörden und Gerichte zugänglich sind.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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Entscheidung geraten würden.56 Wie bereits an anderer Stelle erörtert, ist eine solche unmittelbare Feststellungswirkung unvereinbar mit der herrschenden Ansicht, wonach jeder Staat frei ist zu entscheiden, ob er die Konvention in seinem innerstaatlichen Recht inkorporiert bzw. – wenn man von einer Inkorporationsverpflichtung ausgeht – mit der Ansicht, dass der Staat frei ist, welchen Rang er der EMRK in der innerstaatlichen Rechtsordnung einräumt.57 Die Pflicht zur Befolgung der Urteile des EGMR verlangt aber die Beachtung des Urteilstenors. Das ist unproblematisch, wenn es sich um die Auszahlung einer Entschädigungssumme gemäß Art. 41 EMRK handelt.58 Schwieriger zu beantworten ist die Frage, welche Pflichten aus der Feststellung der Konventionswidrigkeit einer innerstaatlichen Maßnahme folgen. Die Pflicht zur Befolgung des Feststellungsurteils wird in der Konvention nicht näher bestimmt. Aus dem Zusammenhang mit Art. 41 EMRK ergibt sich, dass der verurteilte Staat die Schäden, die dem Betroffenen entstanden sind, beseitigen muss. Der Gerichtshof zeigte sich aber lange Zeit zurückhaltend, die aus der festgestellten Konventionsverletzung resultierenden Verpflichtungen eines Konventionsstaates genau zu umschreiben, geschweige denn Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Das Aufzeigen derartiger Abhilfemaßnahmen ist aber ein wesentliches Kennzeichen der Piloturteile. Im folgenden Abschnitt wird die Entwicklung in der Rechtsprechung des EGMR aufgezeigt, der seine Zurückhaltung die aus einer Konventionsverletzung resultierenden Verpflichtungen zu konkretisieren, nach und nach aufgegeben und schließlich erstmals Anordnungen von Abhilfemaßnahmen ausgesprochen hat. a) Die Zurückhaltung des Gerichtshofs, die aus einer Konventionsverletzung resultierenden Verpflichtungen zu konkretisieren Der Gerichtshof hatte im Staatenbeschwerdeverfahren Irland ./. Vereinigtes Königreich59 die Frage offen gelassen, ob er dazu ermächtigt sei, bestimmte Anweisungen („injonctions“, „consequential orders“) an die Staaten zu richten. Im Fall Marckx ./. Belgien60 aus dem Jahr 1979 stellte der EGMR klar, dass es sich bei der Wiedergutmachungspflicht der Staaten um eine obligation of result handelt. Die Beschwerdeführerinnen, Mutter und Tochter Marckx, wehrten sich vor dem Gerichtshof gegen die Vorschriften des belgischen code civil, der außerehe56 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 67. Ferner: Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 19; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz S. 227 (245 f.). 57 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 2 A. I., II. 58 Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl., Art. 46, Rn. 1. 59 EGMR, Urteil v. 18.1.1987 – Irland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5310/71, EuGRZ 1979, S. 49 ff. 60 EGMR (Plenum), Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, EuGRZ 1979, S. 454 ff.

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lichen Kindern eine schlechtere erbrechtliche Stellung als ehelichen Kindern einräumte. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des Art. 8 EMRK und der Art. 8 EMRK i.V. m. Art. 14 EMRK fest und führte hinsichtlich der Urteilswirkungen aus: „Sie [die Entscheidung des Gerichtshofs] kann jedoch nicht durch sich selbst die strittigen Vorschriften aufheben oder ändern. Sie hat im wesentlichen Feststellungscharakter und überlässt dem Staat die Wahl der Mittel in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung, um die ihm aus Art. 53 [jetzt: Art. 46 EMRK] obliegende Verpflichtung zu erfüllen.“ 61

Im Sinne dieser Rechtsprechung lehnte der EGMR in der Folgezeit zahlreiche Anträge auf Erlass von Anordnungen ab.62 Stattdessen beschränkte sich der Gerichtshof zu prüfen, ob die finanzielle Entschädigung gezahlt wurde. Nur vereinzelt hat der EGMR Hinweise zur Beseitigung einer Konventionsverletzung gegeben. Diese Hinweise befanden sich in den Entscheidungsgründen, nicht im Urteilstenor. Ein Beispiel ist der Fall X und Y ./. die Niederlande, in dem der EGMR feststellte, dass die zum Schutz von geistig behinderten Personen vor sexuellen Übergriffen erforderliche Abschreckungswirkung nur durch strafrechtliche Bestimmungen erreicht werden könne.63 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs, die aus dem Feststellungsurteil erwachsenden Verpflichtungen zu konkretisieren, stieß auf scharfe Kritik.64 Der belgische Richter de Meyer bedauerte in seinem Sondervotum zu dem englischen Sorgerechtsfall W ./. Vereinigtes Königreich, dass die Mehrheit der Richter den Antrag des Beschwerdeführers, Anordnungen zur Konkretisierung des Umgangsrechts zu erlassen, abgelehnt hatte:

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EMGR, Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, a. a. O., S. 454 (460), Ziff. 58. Siehe EGMR, Urteil v. 18.10.1982 – Le Compte, van Leuven und De Meyere ./. Belgien (Art. 50), Nr. 6878/75; 7238/75, EuGRZ 1983, S. 485 (486), Ziff. 13, in dem sich der Gerichtshof weigerte, die Tilgung der gegen die drei Beschwerdeführer verhängten Disziplinarmaßnahmen und der gegen den Beschwerdeführer Le Compte ergangenen strafrechtlichen Verurteilung anzuordnen; EGMR (Plenum), Urteil v. 24.5.1989 – Hauschildt ./. Denmark, Nr. 10486/83, EuGRZ 1993, S. 122 (128), Ziff. 54, in dem der Gerichtshof ablehnte, die Aufhebung der Verurteilung und die Beseitigung jeglicher dem Beschwerdeführer auferlegte Beschränkungen anzuordnen; EGMR, Urteil v. 1.4. 1998 – Akdivar u. a. ./. Türkei (Art. 50 EMRK), Nr. 21893/93, Ziff. 45–47, in dem der Gerichtshof ablehnte, die Übernahme der Kosten für den Aufbau des Dorfes und die Beseitigung der Hindernisse für eine Rückkehr der Beschwerdeführer durch die Regierung anzuordnen; EGMR, Urteil v. 16.7.2002 – Ülkü Ekinci ./. Türkei, Nr. 27602/95, in dem der Gerichtshof ablehnte, Ermittlungen hinsichtlich der näheren Todesumstände des Ehemanns der Beschwerdeführerin und die Suche nach den Tätern anzuordnen. 63 EGMR, Urteil v. 26.3.1985 – X und Y ./. Niederlande, Nr. 8978/80, EuGRZ 1985, S. 297 (299), Ziff. 27. Diesen Fall und weitere Beispiele nennt Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 (258). 64 Villiger, ZSR 1985, Band II, S. 469 (486). 62

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„I feel that the Court’s duty to ensure the observance of the engagements undertaken by the High contracting Parties may, in certain circumstances, entail the power to make orders.“ 65

Nach Ansicht Dannemanns ist die Zurückhaltung des Gerichtshofs „vielleicht der unerfreulichste und unbefriedigendste Aspekt des Straßburger Verfahrens“.66 Den Parteien gehe es nicht nur um Schadensersatz, sondern um die Beseitigung des konventionswidrigen Zustands insgesamt. Unter Bezugnahme auf den Fall Unterpertinger,67 in dem der Beschwerdeführer maßgeblich aufgrund von Zeugenaussagen verurteilt worden war, hinsichtlich derer seine Verteidigungsrechte erheblich eingeschränkt waren, bemängelt Dannemann, dass hier eine Entschädigung anstelle der Freiheit bildlich gesprochen „Steine statt Brot“ bedeute.68 Auch Schindler prangert an, dass ein Staat, der ein konventionswidriges Strafurteil vollzieht, nicht durch die Zahlung einer Entschädigung an den Verurteilten, einer völkerrechtlichen Verurteilung entgehen dürfe.69 Noch deutlicher hat dies Horvath bereits 1952 zum Ausdruck gebracht: „It is a mockery of the very idea of international judicial protection of human rights to imagine the victim remaining imprisoned by virtue of a judgment of national Supreme Court, based perhaps on an Act of Parliament contrary to the European Convention, while the Government pays damages in reparation of the wrong done by violating its international obligation to protect human rights.“ 70

b) Präzisierung der zu ergreifenden individuellen Maßnahmen Der Gerichtshof reagierte auf die Kritik und gab seine Zurückhaltung im Hinblick auf die Konkretisierung von Abhilfemaßnahmen nach und nach auf. Die ersten Zeichen eines Richtungswechsels machten sich ab den 1990er Jahre bemerkbar und betrafen zunächst die Fälle der Eigentumsverletzung, später auch andere Bereiche. aa) Eigentumsverletzung Im Fall Hentrich aus dem Jahr 1994, der die Ausübung eines staatlichen Vorkaufsrechts zulasten der Beschwerdeführerin betraf, stellte der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Eigentum (Art. 1 des 1. ZP-EMRK) fest und betonte, dass eine Rückgabe des Eigentums die beste Art von Schadensersatz darstellen 65 Sondervotum De Meyer, EGMR (Plenum), Urteil v. 9.6.1988 – W. ./. United Kingdom (Art. 50), Nr. 9749/82. 66 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 204. 67 EGMR, Urteil v. 24.11.1986 – Unterpertinger ./. Österreich, Nr. 9120/80. 68 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 204 f. 69 Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener, S. 273 (283). 70 Horvath, The European Court of Human Rights, ÖZöR 5 (1952), S. 179 f., zitiert von Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener, S. 273 (283).

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würde.71 Dieser Hinweis befand sich aber nur in den Urteilsgründen, nicht im Urteilstenor. Ein Jahr später sprach der Gerichtshof im Fall Papamichalopoulos ./. Griechenland 72 erstmals ausdrücklich eine Anordnung im Urteilstenor aus. In diesem Fall ging es um die Rückübereignung von Ländern, die unter der griechischen Militärdiktatur im Jahr 1967 ex lege von dem Staat an einen Fonds der Marine übertragen worden waren. Nach Wiederherstellung der Demokratie wurde gesetzlich bestimmt, dass die Betroffenen geeignetes Land als Ersatz erhalten sollen. Die zuständigen Stellen waren aber nicht in der Lage geeignetes Land zu finden. Der EGMR stellte in seinem Urteil vom 24. Juni 1993 eine Verletzung des Rechts auf Eigentum fest. Obwohl die Beschwerdeführer nie formell enteignet worden waren, konnten sie aufgrund der fehlenden Gesetzesumsetzung über zehn Jahre hinweg nicht über ihr Eigentum verfügen und waren mithin de facto enteignet worden.73 Der EGMR hatte die Entscheidung über die Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK74 zunächst aufgespart, griff sie aber nach dem Scheitern der gütlichen Einigung in dem Urteil vom 31. Oktober 1995 zu Art. 41 EMRK wieder auf. Der EGMR führte hier aus, dass die Staaten grundsätzlich frei sind, auf welche Weise sie ein Urteil befolgen. Wenn die Natur der Verletzung eine restitutio in integrum gestatte, sei es Sache des beklagten Staates, diese durchzuführen. Der Gerichtshof habe weder die Befugnis noch die praktische Möglichkeit, dies selbst zu tun. Wenn das innerstaatliche Recht Wiedergutmachung der Folgen einer Verletzung nicht oder nur teilweise gestatte, sei der Gerichtshof aber nach Art. 41 EMRK dazu ermächtigt, der verletzten Partei eine angemessene Entschädigung zu gewähren.75 Die Tatsache, dass den Beschwerdeführern innerstaatlich ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehe, mit dem sie für den Verstoß eine Entschädigung erlangen können, bedeute nicht, dass der Gerichtshof gehindert wäre, den Beschwerdeführern eine Entschädigung zuzusprechen. Die erneute Verweisung auf das innerstaatliche Recht würde das Verfahren unzumutbar verlängern.76 Da der EGMR bereits festgestellt hatte, dass eine Rückgabe der Grundstücke als Teil der Naturalrestitution im konkreten Fall möglich war, ordnete er im Urteilstenor an, dass der beklagte Staat den Beschwerdeführern diese innerhalb von sechs Monaten zurückgeben müsse.77 Einschränkend bestimmte der EGMR aber, dass 71 EGMR, Urteil v. 22.9.1994 – Hentrich ./. Frankreich, Nr. 13616/88, Ziff. 71: „(. . .) the best form of redress would in principle be for the State to return the land“. 72 EGMR, Urteil v. 31.10.1995 – Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland (Art. 50), Nr. 14556/89. 73 EGMR, Urteil v. 24.6.1993 – Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland, Nr. 14556/ 89, ÖJZ 1994, S. 177. 74 Art. 50 EMRK a. F. 75 EGMR, Urteil v. 31.10.1995 – Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland (Art. 50), Nr. 14556/89, Ziff. 34. 76 EGMR, Urteil Papamichalopoulos (Art. 50), a. a. O., Ziff. 40. 77 EGMR, Urteil Papamichalopoulos (Art. 50), a. a. O., Tenor Ziff. 2.

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der beklagte Vertragsstaat Wiedergutmachung auch durch die Zahlung einer bestimmten Geldsumme leisten könne, wenn die Rückgabe nicht innerhalb der genannten Frist erfolge.78 Die Anordnung zur tatsächlichen Beseitigung der Konventionsverletzung galt mithin nicht absolut. Ähnlich gelagert war der Fall Brumarescu ./. Rumänien.79 In diesem Fall hatte der Staat unter dem Nationalisierungsgesetz das Familienhaus des Beschwerdeführers in Bukarest in Besitz genommen. Ein Gericht der ersten Instanz stellte die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens fest und ordnete die Rückgabe des Eigentums an den Beschwerdeführer durch die Behörden an. Das Urteil wurde jedoch durch Entscheidung des Rumänischen Obersten Gerichts aufgehoben. Der EGMR stellte eine Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK fest und befand, dass der Staat dem Beschwerdeführer das Eigentum rückübertragen müsse. Falls dies nicht innerhalb der nächsten sechs Monate nach der Urteilsverkündung erfolge, habe der Staat Schadensersatz in Höhe des gegenwärtigen Wertes des Eigentums zu zahlen.80 bb) Achtung des Familienlebens Eine deutliche Einschränkung der Wahlmittelfreiheit der Mitgliedstaaten erfolgte in dem familienrechtlichen Fall Scozzari und Giunta ./. Italien81 vom 13. Juli 2000. In diesem Fall wehrten sich die Beschwerdeführerinnen gegen die Unterbringung ihrer Kinder bzw. Enkel in einem Heim, gegen deren Leiter wegen des Vorwurfs der Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs ermittelt worden war und machten ihre Besuchsrechte geltend. Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK fest. Im Zusammenhang mit Art. 46 EMKR stellte er fest: „(. . .). Im Übrigen steht es dem belangten Staat frei, die Mittel zu wählen, durch welche er sich von seiner rechtlichen Verpflichtung gem. Art. 46 EMRK entledigt, vorausgesetzt, dass solche Mittel mit den im Urteil des Gerichtshofs festgeschriebenen Schlussfolgerungen vereinbar sind.“ 82

Der EGMR zeigt hier erstmals die Grenzen des Beurteilungsspielraums der Staaten bei der Umsetzung der Urteile des EGMR auf. Obwohl der Gerichtshof die Zuständigkeit des Ministerkomitees für die Überwachung des Urteilsvollzugs betont, stellt er klar, dass die Auslegung des Urteils und mithin die Beantwortung 78

EGMR, Urteil Papamichalopoulos (Art. 50), a. a. O., Tenor Ziff. 3. EGMR (GK), Urteil v. 23.1.2001 – Bruma˘rescu ./. Rumänien (Art. 41 EMRK), Nr. 28342/95. 80 Entsprechend auch EGMR, Urteil v. 27.7.2006 – Rabinovici ./. Rumänien, Nr. 34867/03, Ziff. 42. 81 EGMR (GK), Urteil v. 13.7.2000 – Scozzari und Giunta ./. Italien, Nr. 39221/98 und Nr. 41963/98), ÖJZ 2002, S. 74. 82 EGMR (GK), Urteil Scozzari und Giunta, a. a. O., Ziff. 249. Hervorhebung durch die Verfasserin. 79

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der Frage, ob die Befolgungspflicht erfüllt wurde, letztlich ihm obliegt. Hierin kann mit Caflisch eine „Absichtserklärung“ gesehen werden, bei unzureichender Urteilsumsetzung „in den Vollstreckungsprozess eingreifen zu wollen“.83 Da die Frage der Vereinbarkeit mit den Schlussfolgerungen des Urteils im Zusammenhang mit Abhilfemaßnahmen relevant wird, die nicht auf die bloße Zahlung einer Geldentschädigung beschränkt sind, kann hierin mit Breuer gleichzeitig die Intention des Gerichtshofs gelesen werden, „künftig mehr Gewicht auf die tatsächliche Beseitigung der Menschenrechtsverletzung“ 84 zu legen. cc) Wiederaufnahme strafrechtlicher Verfahren Eine Pflicht zur Wiederaufnahme von strafrechtlichen Verfahren hat der Gerichtshof allerdings in mehreren Entscheidungen abgelehnt. In der Entscheidung Piersack ./. Belgien85 vom 1. Oktober 1982 stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil der Strafprozess gegen den Beschwerdeführer nicht von einem unparteiischen Gericht geführt worden war. In Reaktion auf das Urteil des EGMR erklärte der innerstaatliche Kassationshof die Verurteilung des Beschwerdeführers für nichtig und verwies die Sache zurück an das Gericht der ersten Instanz. Nach einem erneuten Verfahren verurteilte das nationale Gericht den Beschwerdeführer zu einer Strafe von achtzehn Jahren Zwangsarbeit – eine Strafe, die mit der ursprünglichen Verurteilung völlig identisch war. Dennoch akzeptierte der Gerichtshof dieses zweite Verfahren, da es die Probleme im ersten Verfahren beseitigt hat und „zu einem Ergebnis geführt [hat], das einer restitutio in integrum so nahe kommt, wie es der Natur der Sache nach möglich war.“ 86 Im Fall Saidi ./. Frankreich lehnte er eine Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens ausdrücklich ab: „The Court notes that the Convention does not give it jurisdiction to direct the French State to open a new trial.“ 87

Weniger absolut ist die Aussage des Gerichtshofs in der Entscheidung Lyons ./. Vereinigtes Königreich88 vom 8. Juli 2003. Der EGMR hatte im September 2000 eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) durch 83 Caflisch, Umsetzung der Urteile des EGMR, in: Dicke u. a. (Hrsg.), Liber amicorum Delbrück 2005, S. 101 (103). 84 Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 (259). 85 EGMR, Urteil v. 1.10.1982 – Piersack ./. Belgien, Nr. 8692/79. 86 EGMR, Urteil v. 26.10.1984 – Piersack ./. Belgien (Art. 50 EMRK), Nr. 8692/79, EuGRZ 1984, S. 179 ff., Ziff. 11. 87 EGMR, Urteil v. 20.9.1993 – Saidi ./. Frankreich, Nr. 14647/89), Ziff. 47. 88 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung v. 8.7.2003 – Lyons u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15227/03, EuGRZ 2004, S. 777 ff.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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ein britisches Strafurteil festgestellt, weil es auf Ausnutzung von Aussagen der Beschwerdeführer beruhte, zu deren Abgabe sie gesetzlich verpflichtet waren. Die nationalen Gerichte lehnten eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Die Beschwerdeführer wandten sich daraufhin erneut an den EGMR und machten unter Berufung auf Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK geltend, dass das Vereinigte Königreich angesichts des Urteils des EGMR zur restitutio in integrum in Form der Wiederaufnahme des Strafverfahrens verpflichtet sei. Der EGMR stellte fest, dass die fraglichen Gesetzesbestimmungen zwischenzeitlich abgeändert worden waren und dass die Regierung die nach Art. 41 EMRK als Kosten und Auslagen zugesprochenen Geldbeträge gezahlt hat. Im Hinblick auf weitere möglicherweise zu ergreifende Maßnahmen bestehe eine Zusammenarbeit zwischen dem Ministerkomitee und der Regierung. Der Gerichtshof habe nicht die Befugnis, gegenüber einem Staat die Durchführung eines neuen Verfahrens oder die Aufhebung einer Verurteilung anzuordnen.89 Der EGMR stellt jedoch klar, dass dies nicht bedeutet, dass der Urteilsvollzug aus seinem Zuständigkeitsbereich falle. Der Gerichtshof behält sich vielmehr vor, die auf nationaler Ebene ergriffenen Maßnahmen bei der Entscheidung über die gerechte Entschädigung zu berücksichtigen, sofern er nicht gleichzeitig mit der Hauptsache über sie entschieden hat. Darüber hinaus könne er prüfen, ob ein Wiederaufnahmeverfahren auf nationaler Ebene zur Umsetzung eines seiner Urteile zu einer neuen Konventionsverletzung geführt hat.90 Auch wenn der EGMR eine Verpflichtung der Staaten zur Wiederaufnahme ablehnt, betont er, dass „die Durchführung eines neuen Verfahrens bzw. die Wiedereröffnung des Verfahrens zu gegebener Zeit und in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Art. 6 EMRK als grundsätzlich angemessenste Form der Wiedergutmachung“ zu werten ist.91 c) Präzisierung der zu ergreifenden generellen Maßnahmen Die vorgenannten Entscheidungen und Anordnungen betrafen Einzelfälle. In dem Fall Loizidou ./. Türkei 92 wurde der Gerichtshof das erste Mal mit einem strukturellen Problem größeren Ausmaßes konfrontiert. Die Beschwerdeführerin und zyprische Staatsangehörige Loizidou war in Nordzypern aufgewachsen und 89

EGMR, Zulässigkeitsentscheidung Lyons, a. a. O., S. 778. EGMR, Zulässigkeitsentscheidung Lyons, a. a. O., S. 778 f. 91 EGMR, Urteil v. 18.5.2004 – Somogyi ./. Italien, Nr. 67972/01, Ziff. 86. Ähnlich auch EGMR, Urteil v. 23.10.2003 – Gençel ./. Türkei, Nr. 53431/99, Ziff. 27: „Lorsque la Cour conclut que la condamnation d’un requérant a été prononcée par un tribunal qui n’était pas indépendent et impartial au sens de l’article 6 § 1, elle estime qu’en principe le redressement le plus approprié serait de faire rejuger le requérant en temps utile par un tribunal indépendent et impartial.“ 92 EGMR, Urteil v. 18.12.1996 – Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89, EuGRZ 1997, S. 555 ff. 90

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

nach ihrer Heirat mit ihrem Mann 1972 nach Nikosia gezogen. Im Juli 1974 wurde Nordzypern von der Türkei besetzt und es kam zu einer Teilung der Insel. Am 15. November 1983 erfolgte die förmliche und von der Türkei, nicht aber von der übrigen Völkergemeinschaft anerkannte Sezession. Der Nordteil nannte sich seither „Türkische Republik Nordzypern“. Infolge der türkischen Besetzung hatte die Beschwerdeführerin nach 1974 keinen Zugang mehr zu ihren Grundstücken in Nordzypern. Der Gerichtshof sah hierin eine Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK.93 Die Frage nach der Anwendung des Art. 41 EMRK94 sparte der Gerichtshof im Hauptsacheurteil auf, um der türkischen Regierung Gelegenheit zu geben, eine gütliche Einigung zu erzielen. Da eine solche nicht innerhalb angemessener Frist erfolgte, erließ der Gerichtshof am 28. Juli 1998 sein Urteil über die Frage der gerechten Entschädigung und sprach der Beschwerdeführerin Geldersatz für die erlittenen materiellen und immateriellen Schäden zu.95 Richter Gölcüklü machte in seinem Sondervotum auf die strukturelle Dimension des Falles aufmerksam. Der Fall Loizidou sei kein Einzelfall, sondern betreffe alle Einwohner der Insel, seien sie türkischen oder griechischen Ursprungs, die in der Folge der Ereignisse im Jahr 1974 vertrieben worden waren.96 Der Begriff „strukturelles Problem“ wurde aber in den Entscheidungsgründen noch nicht ausdrücklich verwendet. In der Folgezeit wurde der Gerichtshof mit weiteren strukturellen Problemen konfrontiert. Da der EGMR nur eine Konventionsverletzung im Einzelfall feststellt, hat er grundsätzlich keine andere Wahl als eine Vielzahl von Einzelentscheidungen mit identischer Begründung zu erlassen.97 Um den Arbeitsaufwand im Umgang mit Wiederholungsfällen in Maßen zu halten, arbeitete der EGMR mit verschiedenen Techniken, unter anderem mit Beweislastumkehrungen auf der Ebene der Tatsachenfeststellung, mit Appellentscheidungen und mit der Hervorhebung des in Art. 13 EMRK zum Ausdruck kommenden Subsidaritätsgrundsatzes für den Menschenrechtsschutz. aa) Beweislastumkehr Das Mittel der Beweislastumkehr wandte der Gerichtshof verstärkt in den Fällen gegen die Türkei an, in denen es um das Verschwinden von Personen unter 93

EGMR, Urteil Loizidou, a. a. O., S. 555 (561), Ziff. 58 ff. Art. 50 EMRK a. F. 95 EGMR, Urteil v. 28.7.1998 – Loizidou ./. Türkei (Art. 50 EMRK), Nr. 15318/89. 96 Sondervotum Richter Gölcüklü, EGMR, Urteil Loizidou, a. a. O. 97 Die vorhandenen Bestimmungen in der EMRK und der EGMR-VerfO halten keine effektive Lösung für den Umgang mit massenhaften Parallelverfahren bereit. Zwar kann die Kammer nach Art. 42 EGMR-VerfO auf Antrag der Parteien oder von Amts wegen mehrere Beschwerden miteinander verbinden; die Entscheidung im Einzelfall wird hierdurch aber nicht erspart. Ferner kann der Gerichtshof die gütliche Einigung anregen. Ob eine solche tatsächlich zustande kommt, hängt aber allein von dem Willen der Parteien ab. 94

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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ungeklärten Umständen in der Südosttürkei ging.98 In dem Fall Mahmut Kayam ./. Türkei99 stellte der Gerichtshof Fehler bei den strafrechtlichen Ermittlungen fest und bemängelte, dass die Kompetenz für die Ermittlungen der Straftaten, die von den staatlichen Sicherheitskräften begangen worden waren, auf einen Verwaltungsrat übertragen worden war, der sich aus Beamten zusammensetzte, die dem für die Sicherheitskräfte verantwortlichen Gouverneur unterstanden. Außerdem waren die nationalen Sicherheitsgerichte verfahrensrechtlich für zuständig erklärt worden, obwohl diese nach Ansicht des EGMR nicht die Kriterien der Unabhängigkeit im Sinne des Art. 6 EMRK erfüllten, weil ein Militärrichter an ihnen beteiligt war und zu befürchten war, dass das Gericht von sachfremden Überlegungen geleitet würde.100 Da die Türkei den Nachweis nicht erbringen konnte, dass die vom Gerichtshof festgestellten strukturellen Probleme keine Auswirkungen auf den Einzelfall hatten, bejahte der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 2 EMRK. Die Beweislastumkehr spielt auch im Rahmen des Art. 14 EMRK und dem Problem der indirekten Diskriminierung eine bedeutende Rolle. Der Fall D. H. und andere ./. Tschechien101 betraf Kinder, die der Volksgruppe der Roma angehörten und zwischen 1996 und 1999 in Sonderschulen in Ostrava für Kinder mit Lernschwäche unterrichtet worden waren. Die Beschwerdeführer machten geltend, ihre Kinder würden im Bildungssystem benachteiligt und eine schlechtere Ausbildung als in den allgemeinen Schulen erhalten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet Diskriminierung eine unterschiedliche Behandlung von Personen in der gleichen Situation, die nicht auf einer objektiven und sachlichen Rechtfertigung beruht.102 Auch eine tatsächliche Situation103 oder eine Politik, die unverhältnismäßige Nachteile für eine bestimmte Gruppe mit sich bringt, selbst wenn sie nicht gezielt gegen diese Gruppe gerichtet ist, kann diskriminierend sein.104 Im Fall D. H. resultierte der Unterschied in der Behandlung nicht aus dem Gesetzeswortlaut. Vielmehr ging es um die Frage, ob die 98 Das erste Mal wandte der EGMR das Instrument der Beweislastumkehr im Fall Selmouni ./. Frankreich (EGMR, Urteil v. 28.7.1999, Nr. 25803/94, NJW 2001, S. 56 ff.) an. 99 EGMR, Urteil v. 28.3.2000 – Mahmut Kaya ./. Türkei, Nr. 22535/93. 100 EGMR, Urteil Mahmut Kaya, a. a. O., Ziff. 94 ff. Siehe auch die nahezu identischen Ausführungen in den parallelen Beschwerden: EGMR, Urteil v. 28.3.2000 – Kiliç ./. Türkei, Nr. 22492/93, Ziff. 71 ff.; EGMR, Urteil v. 10.10.2000 – Akkoç ./. Türkei, Nr. 22947/93 und 22948/93, Ziff. 87 ff. 101 EGMR (GK), Urteil v. 13.11.2007 – D. H. und andere ./. Tschechien, Nr. 57325/ 00, NVwZ 2008, S. 533 ff. 102 St. Rspr., vgl. EGMR, Urteil v. 11.6.2002 – Willis ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 36042/97, Ziff. 48; EGMR, Urteil v. 18.2.1991 – Fredin ./. Schweden, Nr. 12033/ 86, Ziff. 60. 103 EGMR, Urteil v. 20.6.2006 – Zarb Adami ./. Malta, Nr. 17209/02, Ziff. 76. 104 EGMR, Urteil v. 4.5.2001 – Hugh Jordan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24746/ 94, Ziff. 154.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

praktische Anwendung der Gesetze über die Unterbringung in Sonderschulen dazu geführt hat, dass unverhältnismäßig viele Roma-Kinder – einschließlich der Beschwerdeführer – in Sonderschulen untergebracht worden waren. Unter Bezugnahme auf eine entsprechende Praxis des EuGH und der Gerichte zahlreicher Staaten sowie der Spruchkörper der Vereinten Nationen erachtete der EGMR die Statistiken der internationalen Nichtregierungsorganisationen für den vom Beschwerdeführer zu erbringenden prima-facie-Beweis als ausreichend. Der Bericht der tschechischen Behörden nach der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten wie auch ein Bericht des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung105 belegten eine unverhältnismäßig hohe Zahl der Roma-Kinder in den Sonderschulen. Die Beweislast ging daher auf die Regierung über.106 Da diese nicht überzeugend darlegen konnte, dass die unterschiedliche Behandlung zwischen Roma-Kindern und anderen Kindern gerechtfertigt war, stellte die Große Kammer – anders als zuvor das Kammerurteil107 – mit 13 zu 4 Stimmen eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 2 Abs. 1 des 1. ZP-EMRK fest. bb) Appellentscheidung In den Fällen überlanger Verfahrensdauer arbeitete der Gerichtshof zur Bewältigung der Wiederholungsfälle mit einem Appell an den beklagten Staat. Das Problem überlanger Verfahrensdauer ist das am weitesten verbreitete strukturelle Problem in den Vertragsstaaten. Circa 60% der Urteile des Europäischen Gerichtshofs betreffen dieses Problem.108 Besonders die italienischen Fälle fallen ins Gewicht.109 In dem Urteil Bottazzi ./. Italien vom 28. Juli 1999110 rügte der Gerichtshof die Häufigkeit, mit der eine Konventionsverletzung wegen überlanger Verfahrensdauer bereits festgestellt worden war. Schon vor Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 zur EMRK hatte das Ministerkomitee in über 1.400 Fällen Konventionsverstöße wegen überlanger Dauer der Gerichtsverfahren durch Italien festgestellt, und der Gerichtshof hat bereits 65 Urteile erlassen, in denen er eben105

European Committee on the Elimination of Racial Discrimination, „CERD“. EGMR (GK), Urteil D. H. u. a. ./. Tschechien, a. a. O. Ziff. 192–195. 107 EGMR, Urteil v. 7.2.2006 – D. H. u. a. ./. Tschechien, Nr. 57325/00. 108 Workshop v. 28.5.2005 zur Verbesserung nationaler Rechtsbehelfe mit besonderer Betonung auf den Fällen überlanger Verfahrensdauer („The improvement of domestic remedies with a particular emphasis on cases of unreasonable length of proceedings cases“), Willkommensrede Wildhaber, S. 10, abrufbar unter (Events at the Court/other events at the court/Improvement of domestic remedies), Stand: 30.9.2015. 109 Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (372); Breuer EuGRZ 2004, S. 445 (446). 110 EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – Bottazzi ./. Italy, Nr. 34884/97, Ziff. 22. Vgl. auch die am gleichen Tag erlassenen Urteile: EGMR (GK), Urteil v. 18.7.1999 – Di Mauro ./. Italien, Nr. 34256/96, Ziff. 23; EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – Ferrari ./. Italien, Nr. 33440/96, Ziff. 21; EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – A.P. ./. Italien, Nr. 35265/97. 106

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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falls einen solchen Verstoß festgestellt hat.111 Der Gerichtshof betonte, dass es sich nicht um isolierte Einzelfälle handele. Vielmehr seien die Verurteilungen auf eine defizitäre Gesetzgebung und die mangelhafte Ausgestaltung des innerstaatlichen Gerichtsverfahrens zurückzuführen. Der Gerichtshof schlussfolgerte, dass eine mit der Konvention unvereinbare Praxis vorliege.112 Die Urteile sind als Appell an den italienischen Staat zu werten, die strukturelle Fehllage im innerstaatlichen Recht zu beseitigen.113 Der Gerichtshof hat es aber an dieser Stelle noch unterlassen, konkrete Maßnahmen zu benennen, die ergriffen werden müssen, um Abhilfe zu schaffen. cc) Betonung des Subsidiaritätsgrundsatzes Im Zusammenhang mit dem Problem der überlangen Verfahrensdauer steht auch die Entscheidung Kudla ./. Polen vom 26. Oktober 2000.114 Dieser Fall betraf ein Verfahren wegen Betrugs und Urkundenfälschung gegen den Beschwerdeführer, das bereits neun Jahre gedauert hatte und zum Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR immer noch vor dem obersten Gerichtshof in Polen anhängig war. Der EGMR bejahte nicht nur eine Verletzung der Art. 5 Abs. 3 EMRK und Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern stellte darüber hinaus fest, dass Art. 13 EMRK neben Art. 6 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer verletzt sein kann. Hierin liegt eine bedeutsame Rechtsprechungsänderung. Art. 13 EMRK gewährt ein Recht auf wirksame Beschwerde für jede Person, die in einem Konventionsrecht verletzt worden ist. Es handelt sich um ein akzessorisches Recht, das nur in Verbindung mit einem anderen Konventionsrecht gerügt werden kann.115 Vor diesem Hintergrund vertrat der EGMR bislang die Auffassung, dass Art. 13 EMRK von den spezielleren Justizgarantien verdrängt oder absorbiert werde.116 Für dieses Ergebnis wurde angeführt, dass die Staaten nicht 111

EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – Bottazzi ./. Italy, Nr. 34884/97, Ziff. 22. EGMR (GK), Urteil Bottazzi, a. a. O., Ziff. 22: „The frequency with which violations are found shows that there is an accumulation of identical breaches which are sufficiently numerous to amount not merely to isolate incidents. Such breaches reflect a continuing situation that has not yet been remedied and in respect of which litigants have no domestic remedy. This accumulation of breaches accordingly constitutes a practice that is incompatible with the Convention.“ Kritisch hinsichtlich einer konventionswidrigen Übung allerdings Richter Türmen in seinem Sondervotum zu dem Fall EGMR (GK), Urteil Bottazzi, a. a. O. 113 Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (446); Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (372). 114 EGMR (GK), Urteil v. 26.10.2000 – Kudla ./. Polen, Nr. 30210/96, NJW 2001, S. 2694 ff. Zu dieser Entscheidung: Flauss, Rev.trim.dr.h. 2002, S. 179–201; Gundel, DVBl. 2004, S. 17 ff.; Meyer-Ladewig, NJW 2001, S. 2679 f. 115 Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 16. 116 Siehe für Art. 6 Abs. 1 EMRK etwa EGMR, Urteil v. 22.4.1994 – Hentrich ./. Frankreich, Nr. 13616/88, Rn. 65, in dem der EGMR auf den bereits verletzten Art. 6 Abs. 1 EMRK verweist und insoweit ein Eingehen auf Art. 13 EMRK für nicht erforder112

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

verpflichtet seien, mehrstufige Verfahren einzurichten, soweit sie nicht das 7. Protokoll zur EMRK ratifiziert haben.117 Eine Kombination von Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK sei abzulehnen, da die Eröffnung eines Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren in unzulässiger Weise ein Recht auf gerichtlichen Instanzenzug einführen würde.118 In der Entscheidung Kudla befand der Gerichtshof nunmehr, dass die Frage der angemessenen Dauer einer gerichtlichen Entscheidung rechtlich von der Frage zu trennen sei, ob das innerstaatliche Recht einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung stellt, der es dem Betroffenen ermöglicht, sich in dieser Hinsicht zu beschweren.119 Es liege keine sachliche Überschneidung der Schutzgehalte vor, die Voraussetzung für eine Absorption sei. Auch Wortlaut und Entstehungsgeschichte sprechen nicht gegen eine zusätzliche Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK. Es sei in erster Linie Sache der Konventionsstaaten, in ihrem innerstaatlichen Recht einen wirksamen Schutz der Menschenrechte sicherzustellen.120 Die Feststellung der Verletzung des Art. 6 EMRK bei überlanger Verfahrensdauer wird seither durch die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 13 EMRK verstärkt. Hierdurch erhöht sich nicht nur die Entschädigung nach Art. 41 EMRK; die Staaten werden so auch an ihre Verantwortung erinnert, die innerstaatliche Rechtsordnung so auszugestalten, dass ein effektiver Menschenrechtsschutz gewährleistet wird.121 d) Der Fall Asanidse als unmittelbare Vorläuferentscheidung Ein weiterer bedeutender Schritt in der Rechtsprechung des EGMR zur Konkretisierung der Abhilfemaßnahmen markierte das Urteil Asanidse ./. Georgien122 vom 8. April 2004, das der Gerichtshof kurz vor seinem ersten Piloturteil erlassen hat. Der Beschwerdeführer Tengis Asanidse wurde im April 1995 vom Obersten Gerichtshof Georgiens in letzter Instanz wegen illegaler Finanzgeschäflich hält. Für Art. 5 Abs. 4 EMRK siehe etwa das Urteil des EGMR (Plenum) v. 18.6. 1971 – De Wilde, Ooms und Versyp („Vagabunden“) ./. Belgien (Gründe), Nr. 2832/66; 2835/66 und 2899/66, Rn. 95, in dem der EGMR auf die bereits festgestellte Verletzung des Art. 5 Abs. 4 EMRK verweist und vor diesem Hintergrund von einer Prüfung des Art. 13 EMRK absieht. 117 Deutschland hat das Protokoll Nr. 7 zur EMRK bislang nicht ratifiziert. Der Text des Protokolls ist verfügbar unter , Stand: 30.9.2015. 118 Gundel, DVBl. 2004, S. 18 f.; Grabenwarter, EMRK, § 24, Rn. 167. 119 EGMR (GK), Urteil v. 26.10.2000 – Kudla ./. Polen, Nr. 30210/96, NJW 2001, S. 2694 ff., Ziff. 147. 120 EGMR (GK), Urteil Kudla, a. a. O., Ziff. 151 ff. 121 Das räumt auch Richter Casadevall ein, der sich im Übrigen in seinem Sondervotum zu der Entscheidung Kudla ./. Polen, a. a. O., kritisch zu der zusätzlichen Prüfung von Art. 13 EMRK äußert. 122 EGMR (GK), Urteil v. 8.4. 2004 – Asanidse ./. Georgien, Nr. 71503/01, EuGRZ 2004, S. 268 ff. Zu diesem Urteil: Breuer, EuGRZ 2004, S. 257.

A. Die Wirkungen der Urteile des EGMR im Überblick

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te im Zusammenhang mit der Tabakproduktionsgesellschaft von Batumi verurteilt. Der am 4. Oktober 1993 festgenommene Beschwerdeführer wurde nach seiner Verurteilung nicht in Strafhaft übergeführt, sondern verblieb im Untersuchungsgefängnis. Die am 1. Oktober 1999 erfolgte Begnadigung durch den damaligen georgischen Präsidenten Schewardnadse wurde von dem Obersten Gerichtshof Georgiens im Juli 2000 bestätigt. Aufgrund eines im Dezember 1999 eingeleiteten weiteren Strafverfahrens verblieb der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft. Der Oberste Gerichtshof Georgiens hob die Verurteilung des Beschwerdeführers jedoch in der Revision mit Urteil vom 29. Januar 2001 auf. Der Beschwerdeführer wurde freigesprochen und seine sofortige Freilassung angeordnet. Die adscharischen Behörden haben diese Anordnung aber nicht befolgt. Vielmehr war aufgrund eines Berichts des vom Parlament eingesetzten Untersuchungsausschusses eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt worden, die der Generalstaatsanwalt am 25. März 2003 ablehnte. Der Beschwerdeführer befand sich während des gesamten Zeitraums in Untersuchungshaft. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 EMRK fest. Eine Inhaftierung auf unbestimmte Zeit, ohne dass diese auf eine bestimmte gesetzliche Vorschrift oder gerichtliche Entscheidung gestützt wäre, laufe fundamentalen Gesichtspunkten der Rechtsstaatlichkeit zuwider.123 Der Umstand, dass das rechtskräftige und vollstreckbare Urteil vom 29. Januar 2001 mehr als drei Jahre nach seinem Erlass noch nicht umgesetzt worden sei, stelle außerdem einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.124 Der Gerichtshof wiederholte, dass seine Urteile im Wesentlichen deklaratorischer Natur seien und dass es im Allgemeinen Sache des betroffenen Staates sei, diejenigen Mittel zu wählen, die er in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung ergreifen müsse, um seiner Verpflichtung aus Art. 46 EMRK nachzukommen. Die im vorliegenden Fall festgestellte Verletzung lasse aber aufgrund ihrer Natur keinerlei echte Wahl hinsichtlich der zu ihrer Beendigung zu ergreifenden Maßnahmen. Angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls und des dringenden Erfordernisses, die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK und 6 Abs. 1 EMRK zu beenden, müsse der beklagte Staat dafür sorgen, dass der Beschwerdeführer zum frühestmöglichen Zeitpunkt freigelassen wird.125 e) Fazit Der Gerichtshof hat seine anfängliche Zurückhaltung bei der Präzisierung der aus einer Feststellung der Konventionsverletzung folgenden Verpflichtungen für den beklagten Staat aufgegeben und den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten schrittweise eingeschränkt. Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung 123 124 125

EGMR (GK), Urteil Asanidse, a. a. O., Ziff. 175, 176. EGMR (GK), Urteil Asanidse, a. a. O., Ziff. 181–184. EGMR (GK), Urteil Asanidse, a. a. O., Ziff. 202–203.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

nicht mehr auf die Frage, ob eine finanzielle Entschädigung gezahlt wurde, sondern behält sich vor, die von dem Staat ergriffenen Abhilfemaßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den Feststellungen des Gerichtshofs zu überprüfen. Dabei gibt der Gerichtshof zu erkennen, dass auch die Rechtskraft innerstaatlicher Entscheidungen der angemessenen Wiedergutmachung nicht entgegenstehen darf und dass in Fällen, in denen ein Beschwerdeführer in einem konventionswidrigen Verfahren verurteilt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens in der Regel die angemessenste Lösung sein wird. Im Fall Papamichalopoulos126 nahm der Gerichtshof erstmals eine Anordnung im Urteilstenor auf; sie galt aber nicht absolut. Die Anordnung der Freilassung des Gefangenen im Fall Asanidse war dagegen unbedingt. Allerdings lag hier eine „Ermessensreduzierung auf null“ 127vor, denn die festgestellte Konventionsverletzung ließ aufgrund ihrer Natur keine echte Wahl, den Konventionsverstoß anders als durch eine Freilassung zu beenden. Das Bedürfnis nach Anordnungen stellte sich insbesondere im Zusammenhang mit Wiederholungsfällen, da die Technik der Appell-Entscheidung und andere Maßnahmen zur Bewältigung dieser Fälle nicht ausreichend und die Staaten für die Lösung der strukturellen Fehllage auf konkrete Hinweise durch den Gerichtshof angewiesen waren.

B. Die Entwicklung der Piloturteile „(. . .) the Court has started to deal creatively with large-scale violations of human rights by way of socalled pilot judgments. (. . .) [This new phenomenon] holds the promise of being the most creative tool the Court has developed in its first fifty years of its existence.“ 128

Nur wenige Wochen nach dem Urteil Asanidse erließ der EGMR am 22. Juni 2004 sein erstes Piloturteil Broniowski ./. Polen.129

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Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. b) aa). So auch Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 (259). 128 Buyse, KHRP Legal Review 18 (2010), S. 41 (42). 129 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff. Zu diesem Urteil und der Problematik der Piloturteile insgesamt: Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 ff.; Buyse, KHRP Legal Review 18 (2010), S. 41 ff.; Caflisch, EuGRZ 2006, S. 521 ff.; ders., Umsetzung der Urteile des EGMR, in: Dicke u. a. (Hrsg.), Liber amicorum Delbrück 2005, S. 101 (107 ff.); Eschement, Musterprozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; Fyrnys, German Law Journal 12 (2011), S. 1231 ff.; Garlicki, Broniowski and After, in: L. Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 177 ff.; Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 ff.; Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations; Schmahl, 127

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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Die Idee eines Piloturteilsverfahrens wurde erstmals in den Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK in einem Positionspapier des EGMR skizziert.130 Danach soll es dem Gerichtshof möglich sein, die Untersuchung von Fällen abzulehnen, wenn ein der Konventionsverletzung zugrunde liegender struktureller oder systemischer Mangel zuvor in einem Piloturteil festgestellt wurde. Der Urteilsvollzug unter Aufsicht des Ministerkomitees soll beschleunigt und der beklagte Staat verpflichtet werden, die Ursachen der Verletzung für die Zukunft zu beseitigen und ein Rechtsmittel mit Rückwirkung innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnung einzuführen, um den Schaden, den andere Opfer aufgrund derselben strukturellen oder systemischen Konventionsverletzung erlitten haben, wiedergutzumachen. Die Entscheidung über die anhängigen Beschwerden, die denselben Missstand durch den verantwortlichen Staat aufwerfen, soll solange suspendiert werden. Für den Fall, dass der verantwortliche Staat nicht in angemessener Zeit geeignete Abhilfemaßnahmen ergreift, soll der Gerichtshof die Möglichkeit haben, die suspendierten Beschwerden wiederzueröffnen.131 Die Einführung eines solchen Piloturteilsverfahrens sollte den Vorschlag des Lenkungsausschusses zur Erweiterung der Kompetenzen der Dreierschüsse nicht ersetzen, sondern ergänzen.132 Innerhalb der Richterschaft bestand Einigkeit über die Anerkennung eines solchen Verfahrens in seinen Grundzügen.133 Das Piloturteilsverfahren fand jedoch keinen Eingang in das 14. Protokoll zur EMRK. Stattdessen erließ das Ministerkomitee die Empfehlung Rec(2004)6 vom 12. Mai 2004, die in besonderem Maße auf die Vermeidung von Wiederholungsfällen durch Schaffung effektiver nationaler Abhilfemaßnahmen abzielte. Hierin lud das Ministerkomitee den Gerichtshof ein, in seinen Urteilen ein strukturelles Problem und dessen Ursache aufzuzeigen, insbesondere wenn der Mangel zu zahlreichen Beschwerden führen könne.134 Der EGMR folgte dieser Aufforderung umgehend und erließ nur einen Monat später das erste Piloturteil Broniowski ./. Polen.135

I. Das erste Piloturteil Broniowski ./. Polen In der Rechtssache Broniowski ./. Polen hatte sich der Gerichtshof mit den Folgen der Neufestlegung der polnischen Staatsgrenzen nach Ende des Zweiten Weltkrieges auseinanderzusetzen. EuGRZ 2008, S. 329 ff.; Serment, R.D.G.I.P. 2007, S. 863 ff.; Zagrebelsky, Questions autor de Broniowski, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 521 ff. 130 Positionspapier des Gerichtshofs CDDH-GDR(2003)024 (Teil 1 Fn. 203). 131 Positionspapier des EGMR, CDDH-GDR(2003)024 (Teil 1 Fn. 203), Rn. 43. 132 Positionspapier des EGMR, CDDH-GDR(2003)024 (Teil 1 Fn. 203), Rn. 45. 133 Positionspapier des EGMR, CDDH-GDR(2003)024 (Teil 1 Fn. 203), Rn. 46. 134 Entschließung des Ministerkomitees Res(2004)3 (Teil 1 Fn. 215), Ziff. I. 135 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

1. Sachverhalt Nach dem Wegfall der ehemaligen polnischen Ostprovinzen formte der Fluss Bug die neue Ostgrenze Polens und ca. 1,2 Mio. Menschen, die in den „Gebieten jenseits des Bug“ lebten, mussten umgesiedelt werden. Polen verpflichtete sich in den sog. Republikverträgen, den Repatriierten Entschädigungen für ihr verlorenes Eigentum zu zahlen. Das polnische Recht sah seit 1946 die Möglichkeit vor, Grundeigentum des polnischen Staates oder ein Erbnießbrauchsrecht an einem staatlichen Grundstück zu erwerben und den Wert eines in den Ostprovinzen verlorenen Grundstücks auf den Kaufpreis bzw. die Gebühr anzurechnen (sog. Anrechnungsanspruch). Die Großmutter des Beschwerdeführers gehörte zu den Repatriierten und die Mutter des Beschwerdeführers hatte sich für das verlorene Eigentum im Jahr 1981 einen Erbnießbrauch an einem Grundstück in Polen eintragen lassen, dessen Wert laut Expertengutachten jedoch nur 2% des der verstorbenen Mutter zustehenden Entschädigungsanspruchs betrug. Nach dem Tod der Mutter verkaufte der Beschwerdeführer das Grundstück und beantragte weitere Entschädigung. Infolge des Gesetzes über die örtliche Selbstverwaltung von 1990 war jedoch dem polnischen Staat zustehendes Grundeigentum den polnischen Gemeinden übertragen worden, wodurch das für die Entschädigung zur Verfügung stehende Grundeigentum deutlich verringert wurde. Zudem wurden Gesetze erlassen, die den Anrechnungsanspruch einschränkten. Zuletzt limitierte das Gesetz vom 12. Dezember 2003 den Anspruch auf eine Höhe von 15% des Wertes ihres ehemaligen Eigentums, maximal jedoch 50.000 polnischen Sloty, umgerechnet 12.500 Euro. Anspruchssteller wie die Mutter des Beschwerdeführers, die bereits eine – wenn auch geringfügige – Anrechnung vor 1990 erhalten hatten, wurden von dem Anrechnungsanspruch gänzlich ausgeschlossen. Eine Gruppe von Parlamentariern hat wegen dieses Gesetzes das Verfassungsgericht angerufen, das im Zeitpunkt der Urteilsverkündung durch den EGMR noch nicht entschieden hatte. Im Zeitpunkt der Urteilsverkündung waren in Straßburg 167 parallele Verfahren anhängig. 2. Urteil in der Hauptsache Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Eigentums (Art. 1 des 1. ZP-EMRK) fest. Obwohl Polen angesichts des politischen Hintergrundes und den wirtschaftlichen Auswirkungen für das Land einen Beurteilungsspielraum bei der Lösung des Problems der Repatriiertenansprüche habe, habe Polen den Anspruch des Beschwerdeführers durch die sukzessiven gesetzlichen Einschränkungen seiner praktischen Wirksamkeit beraubt. Durch das Gesetz vom Dezember 2003 wurde der Anspruch auch rechtlich beseitigt. Ein Staat sei befugt zu enteignen. Art. 1 des 1. ZP-EMRK verlange aber, dass die für die Eigentumsentziehung staatlich gewährte Entschädigung in einem „vernünftigen Verhältnis“ zu dem Wert des Eigentums steht. Da die Familie des Beschwerde-

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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führers lediglich 2% des Wertes des Grundstücks als Entschädigung erhalten habe, sah der Gerichtshof diese Voraussetzung als nicht gewährleistet.136 Im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK stellte der Gerichtshof fest, dass das zugrunde liegende Problem struktureller Natur sei. Der Gerichtshof verwies auf die Resolution des Ministerkomitees vom 12. Mai 2004 und erinnerte daran, dass nach Feststellung einer Konventionsverletzung aus Art. 46 EMRK der beklagte Staat nicht nur rechtlich verpflichtet sei, den Betroffenen die gemäß Art. 41 EMRK als gerechte Entschädigung zugesprochene Summe zu zahlen, sondern auch alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die zur Beseitigung der Konventionsverletzung erforderlich sind.137 Für die Beseitigung des strukturellen Mangels seien Maßnahmen mit Wirkung über den Einzelfall hinaus notwendig, um zu verhindern, dass der Gerichtshof seine Feststellung in einer langen Reihe vergleichbarer Fälle wiederholen müsse. Der EGMR behielt sich die Entscheidung über die Höhe der Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK für einen späteren Zeitpunkt vor. Im Urteilstenor stellte die Große Kammer fest: „(. . .) die festgestellte Verletzung [des Art. 1 des 1. ZP-EMRK] resultiert aus einem strukturellen Problem in Zusammenhang mit einer Funktionsstörung der innerstaatlichen Gesetzgebung wie der innerstaatlichen Praxis, die ihre Ursache in dem Fehlen effektiver Mittel zur Durchsetzung des ,Anrechnungsanspruchs‘ der Anspruchsteller wegen jenseits des Bug belegenen Grundeigentums hat; der beklagte Staat muss durch geeignete gesetzliche Maßnahmen und verwaltungstechnische Praktiken entweder sicherstellen, dass die übrigen Anspruchsteller wegen jenseits des Bug belegenen Grundeigentums ihr in Frage stehendes Eigentumsrecht durchsetzen können, oder stattdessen diesen eine entsprechende Entschädigung gewähren, und zwar in Übereinstimmung mit den in Artikel 1 des 1. ZP-EMRK niedergelegten Grundsätzen des Eigentumsschutzes“.138

Mit der Aufforderung an den beklagten Staat, gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen zu ergreifen, ordnete der EGMR erstmals generelle Abhilfemaßnahmen mit Wirkung über den Einzelfall an. 3. Erste Reaktion Polens auf das Urteil Das Urteil des EGMR wurde auf nationaler Ebene durch das Urteil des Verfassungsgerichts vom 15. Dezember 2004 bestätigt, welches verschiedene Gesetzesbestimmungen im Zusammenhang mit dem Repatriiertenansprüchen für verfassungswidrig erklärte. In Reaktion auf die Urteile des EGMR und des Ver136

EGMR (GK), Urteil Broniowski, a. a. O., S. 472 (479 f.), Ziff. 183–187. EGMR (GK), Urteil Broniowski, a. a. O., S. 472 (481), Ziff. 192. 138 EGMR (GK), Urteil Broniowski, a. a. O., Tenor Ziff. 3 und 4. Hervorhebung durch Verfasserin. 137

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

fassungsgerichts erließ das polnische Parlament am 8. Juli 2005 ein von der Regierung eingebrachtes Gesetz über die Realisierung des Entschädigungsanspruchs wegen jenseits der Grenzen des heutigen Polens aufgegebenen Grundeigentums („Juli-Gesetz“). Hierin war u. a. eine Entschädigungsobergrenze von 20% des Wertes des ehemaligen Eigentums vorgesehen. Das Juli-Gesetz trat am 7. Oktober 2005 in Kraft.139

II. Die Charakteristika eines echten Piloturteils Anhand des Falls Broniowski lassen sich die Charakteristika des Piloturteilsverfahrens herausarbeiten. Der ehemalige Präsident des EGMR Wildhaber formulierte eine erste Annäherung und listete eine Reihe von Kriterien auf, die nach seiner Ansicht kennzeichnend für das Piloturteilsverfahren sind. Hierzu zählte er die Feststellung eines strukturellen Problems durch die Große Kammer; die Gefahr, dass dieses strukturelle Problem zu einer Vielzahl von begründeten Beschwerden führt; die Erkenntnis, dass zur Beseitigung des Problems generelle Abhilfemaßnahmen legislativer oder administrativer Art ergriffen werden müssen; die Erkenntnis, dass die Abhilfemaßnahmen mit Rückwirkung ausgestattet werden müssen; die Suspendierung der Entscheidung über die parallelen Beschwerden; die Anordnung der generellen Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor und die Suspendierung der Entscheidung über die gerechte Entschädigung.140 Im Einzelnen verblieb jedoch eine Verunsicherung, welche Kriterien konstitutiv für ein Piloturteil sind. Diese Verunsicherung wurde dadurch verstärkt, dass der Gerichtshof in den ersten beiden Jahren nach dem Urteil Broniowski ./. Polen kein weiteres Urteil dieser Art erlassen hat. Stattdessen erließ der EGMR ähnliche Urteile, in denen er ebenfalls ein strukturelles Problem feststellte und den Staat zur Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen aufforderte, ohne eine Anordnung in den Urteilstenor aufzunehmen. Diese abgemilderte Form der Reaktion auf ein strukturelles Problem wird als „Quasi-Piloturteil“ 141 bezeichnet. Quasi-Piloturteile gleichen eher der Technik der Appell-Entscheidung.142 Eine Suspendierung der parallelen Beschwerden findet regelmäßig nicht statt.143 139 EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005 – Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung), Nr. 31443/96, EuGRZ 2005, S. 563 ff., Ziff. 10–13. 140 Wildhaber, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), The ECHR Overwhelmed by Applications, S. 69 (71). 141 Garlicki, Broniowski and After, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 177 (191); Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 15; Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (126). 142 Garlicki, Broniowski and After, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 177 (191). 143 Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 25.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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Eine erste Untersuchung der echten und Quasi-Piloturteile wurde von einem fachübergreifenden Team des Forschungsinstituts für Menschenrechte und Soziale Gerechtigkeit der London Metropolitan Universität durchgeführt und 2010 veröffentlicht.144 Diese hat die folgenden drei konstitutiven Elemente für die Qualifizierung eines Urteils als ein echtes Piloturteil herausgearbeitet: (1) In formeller Hinsicht ist erforderlich, dass der Gerichtshof ausdrücklich von einem Piloturteil bzw. der Anwendung des Piloturteilsverfahrens in dem Urteil spricht.145 (2) In materieller Hinsicht muss ein strukturelles Defizit in der innerstaatlichen Rechtsordnung vorliegen, das einer Konventionsverletzung zugrunde liegt und zu einer massiven Belastung des EGMR geführt hat oder führen kann. (3) Ferner ist in materieller Hinsicht erforderlich, dass der EGMR die generellen Abhilfemaßnahmen zur Behebung des konventionswidrigen Zustandes im Urteilstenor anordnet.146 Die Anordnung der Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor ist das zentrale Element, welche das echte Piloturteil von dem Quasi-Piloturteil unterscheidet und einen erhöhten Druck auf den beklagten Staat ausübt. Neben diesen Hauptmerkmalen können weitere Elemente hinzutreten. Die Anordnung der generellen Abhilfemaßnahmen kann, muss aber nicht, mit einem bestimmten Zeitplan versehen sein.147 Die zu ergreifenden generellen Abhilfemaßnahmen sollen einen mit Rückwirkung ausgestatteten Rechtsbehelf einschließen, mittels dessen die betroffenen Personen für die durch die strukturelle oder systemische Konventionsverletzung erlittenen Nachteile Wiedergutmachung erlangen können. Die Entscheidungen über die Entschädigung und über die parallelen Beschwerden werden regelmäßig suspendiert, da sie in Abhängigkeit der von dem beklagten Staat vorgenommenen Abhilfemaßnahmen vorgenommen werden. Vereinzelt hat der EGMR aber auf die Suspendierung der Entscheidung über die parallelen Beschwerden verzichtet.148

144

Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations. In dem Fall Broniowski ./. Polen wird erst im Rahmen der gütlichen Einigung der Begriff des Piloturteilsverfahrens verwendet. In den späteren (echten) Piloturteilen wird die Bezeichnung schon in das Hauptsacheurteil aufgenommen. 146 Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 22. 147 Das erste Piloturteil, das eine zeitliche Vorgabe für die Ergreifung von Abhilfemaßnahmen enthielt, ist das Urteil Burdov ./. Russland, Nr. 2 (EGMR, Urteil v. 15.1. 2009, Nr. 33509/04). 148 Der Fall Rumpf ./. Deutschland (EGMR, Urteil v. 2.9.2010, Nr. 46344/06) ist das erste echte Piloturteil, in dem der EGMR von der Suspendierung der parallelen Beschwerden abgesehen hat. Zu der Suspendierung der parallelen Beschwerden siehe die Ausführungen unter Teil 3 C. I. 145

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Die weitere Rechtsprechung des EGMR bestätigte die drei genannten Wesensmerkmale eines echten Piloturteils.149 Im weiteren Gang der Untersuchung werden unter dem Begriff des Piloturteils nur solche Urteile gefasst, die diese Kriterien klar erfüllen.150

III. Das Piloturteilsverfahren – Der Fortgang des Falls Broniowski Das eigentliche Piloturteil muss begrifflich von dem Piloturteilsverfahren unterschieden werden.151 Das Verfahren ist meist mehrstufig aufgebaut und umfasst neben dem Erlass des eigentlichen Piloturteils (erste Stufe) die Entscheidung über die gerechte Entschädigung oder über die Streichung der Beschwerde des Beschwerdeführers nach einer gütlichen Einigung (zweite Stufe) sowie die Entscheidung über die parallelen Beschwerden (dritte Stufe). Das Verfahren wird aber nicht strikt, sondern flexibel angewandt. Es belässt dem EGMR sowohl bei der Frage der Anwendung als auch bei der Art und Weise der Durchführung einen großen Spielraum. 1. Einleitung des Verfahrens und Erlass des Piloturteils Der Gerichtshof kann ein Piloturteilsverfahren einleiten, wenn der einer Beschwerde zugrunde liegende Sachverhalt auf die Existenz eines strukturellen oder systemischen Problems oder eines ähnlichen Defekts in dem Vertragsstaat hinweist, was zu einer Vielzahl ähnlicher Beschwerden bereits geführt hat oder führen kann. Den Begriff des strukturellen Mangels führt der Gerichtshof in seiner Entscheidung nicht näher aus. Der Lenkungsausschuss hat in seinem Zwischenbericht an das Ministerkomitee über die Frage der Sicherung der Langzeit-Effektivität des EGMR vorgeschlagen, repetitive oder Klon-Fälle zu definieren als „. . . cases concerning a specific piece of legislation or a specific practice that the Court has already pronounced itself on in a judgment“,152 d.h. als Fälle, in denen 149 Freilich gab es insbesondere in den ersten Jahren Fällen, in denen die Einordnung als Piloturteil oder Quasi-Piloturteil schwierig war: So wiesen die Urteile Lukenda/. Slowenien (EGMR, Urteil v. 6.10.2005, Nr. 23032/02), Sejdovic´ ./. Italien (EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006, Nr. 56581/00) und Xenides-Arestis ./. Türkei (EGMR, Urteil v. 22.12.2005, Nr. 46347/99) eine Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor auf ohne formell als Piloturteilsverfahren bezeichnet zu werden. 150 Diese Einordnung stimmt überein mit dem Merkblatt zum Thema Piloturteile („Factsheet – pilot judgments, July 2015“), das der Gerichtshof auf seiner Webseite (Court/Press/Press Resources), zuletzt aufgerufen am 30.9.2015, veröffentlicht hat. Das Merkblatt erfasst nur Piloturteile, die die genannten formellen und materiellen Merkmale erfüllen. 151 Serment, R.G.D.I.P. 2007, S. 863 (870). 152 Zwischenbericht des Lenkungsausschusses, CDDH(2002)016 (Teil 1 Fn. 189), Rn. 68.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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bereits eine Verurteilung durch den Gerichtshof stattgefunden hat. Der Fall Broniowski zeigt jedoch, dass eine Vorverurteilung gerade keine konstitutive Voraussetzung für die Anwendung des Verfahrens ist. Das Strukturproblem wird regelmäßig Folge einer konventionswidrigen Gesetzeslage oder Verwaltungspraxis oder einer Kombination aus beiden sein. Das strukturelle Problem kann auch Folge einer gleichgelagerten, konventionswidrigen Rechtsprechungspraxis der Gerichte sein.153 Die Zahl der bereits anhängigen Verfahren ist für die Anwendung des Verfahrens nicht entscheidend, da auch die potentiellen Beschwerden zu berücksichtigen sind. So waren im Fall Broniowski zum Zeitpunkt des Piloturteils 167 Beschwerden anhängig und die Zahl der potentiell Betroffenen wurde auf 80.000 geschätzt.154 Im Fall des zweiten echten Piloturteils Hutten-Czapska, welches eine unzureichende Mietregulierung betraf, waren nur 18 Beschwerden anhängig,155 die Zahl der potentiellen Beschwerden wurde aber auf ca. 100.000 betroffene Vermieter und 600.000 bis 900.000 Mieter geschätzt. Der Gerichtshof hat bezüglich der Einleitung des Piloturteilsverfahrens ein Ermessen, da nicht jeder Mangel in einer innerstaatlichen Rechtsordnung einen strukturellen Defekt darstellt und nicht jede systemische Situation zur Anwendung des Piloturteilsverfahrens führen muss. Im Zusammenhang mit Wiederholungsfällen existiert keine allgemeinverbindliche Lösung.156 Bevor der Gerichtshof ein Piloturteilsverfahren einleitet, wird er erst die Parteien um eine Stellungnahme ersuchen. Das Piloturteilsverfahren ist aber kein Konsensualverfahren. Der Gerichtshof entscheidet allein und letztverantwortlich über die Anwendung des Piloturteilsverfahrens.157 Entschließt er sich für die Anwendung des Piloturteilsverfahrens, wird er die ausgewählten Fälle im Einklang mit Art. 41 EGMRVerfO vorrangig behandeln. 2. Gütliche Einigung Der EGMR wird in dem Piloturteil regelmäßig die Entscheidung über die gerechte Entschädigung suspendieren, um dem beklagten Staat Gelegenheit zu ge153

Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (122). EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen Nr. 31445/96, EuGRZ 2004, S. 472 (481), Ziff. 193. 155 Allerdings befand sich unter den 18 Beschwerden auch eine Beschwerde, die von einer Vermietervereinigung eingereicht wurde, die ca. 200 Vermieter umfasste – EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97, Ziff. 235. Siehe zu dem Fall Hutten-Czapska auch die Ausführungen unter Teil 2 B. V. 156 Informationsvermerk über das Piloturteilsverfahren („Note on the pilot-judgment procedure“), Rn. 7 und Rn. 9, veröffentlicht von der Kanzlei des EGMR unter (Official Texts/Pilot-judgment procedures), zuletzt aufgerufen am 30.9. 2015. 157 Leach u. a., Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 36. 154

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

ben, eine gütliche Einigung mit dem Beschwerdeführer zu treffen und um bei der Prüfung der gerechten Entschädigung die ergriffenen Maßnahmen berücksichtigen zu können. Im Urteil Broniowski ./. Polen vom 22. Juni 2004 hat der EGMR die Regierung und den Beschwerdeführer eingeladen, innerhalb von sechs Monaten seit der Bekanntmachung des ersten Urteils, schriftliche Stellungnahmen abzugeben und den Gerichtshof über eine eventuelle Einigung zu informieren.158 Am 6. September 2005 ist eine solche Einigung erfolgt.159 Im Falle einer gütlichen Einigung ist der EGMR gemäß Art. 39 EMRK, Art. 43 Abs. 3 EGMR-VerfO durch Urteil zur Streichung der Beschwerde aus dem Register befugt. Voraussetzung ist nach den Art. 37 Abs. 1 EMRK und Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK und Art. 62 Abs. 3 EGMR-VerfO, dass die Lösung „auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind“ beruht. In seinem Urteil über die gütliche Einigung im Fall Broniowski vom 28. September 2005 führte der EGMR aus, dass nach einem Piloturteil in der Hauptsache der Begriff „Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind“ notwendigerweise über die bloßen Interessen des Beschwerdeführers hinausgehen muss. Die individuelle und allgemeine Wiedergutmachung müssen Hand in Hand gehen.160 Die polnische Regierung hat dies verstanden und sich in der gütlichen Einigung nicht nur zur Zahlung einer Entschädigungssumme an den Beschwerdeführer verpflichtet, sondern erklärt, dass sie schnellstmöglich die notwendigen allgemeinen Abhilfemaßnahmen ergreifen werde, die der Gerichtshof im Tenor des Hauptsacheurteils ausgesprochen hat. Sie werde ihre Bemühungen verstärken, die neue Gesetzgebung bezüglich der Ansprüche der Repatriierten effektiv zu gestalten und die praktische Umsetzung des Entschädigungsmechanismus zu verbessern. Die Regierung verwies auf zivilrechtliche Rechtsbehelfe, mit denen die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, vor polnischen Gerichten Entschädigung zu verlangen. Der EGMR sah in dieser Erklärung und in der geänderten Gesetzgebung durch das Juli-Gesetz ein aktives Bekenntnis der polnischen Regierung, den strukturellen Mangel zu beseitigen. Während das Ministerkomitee den weiteren Urteilsvollzug zu überwachen hat, musste der Gerichtshof bei der Entscheidung über die Streichung der Beschwerde nach Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK und Art. 39

158 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff., Ziff. 5 des Tenors. 159 EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005 – Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung), Nr. 31443/96, EuGRZ 2005, S. 563 ff., Ziff. 31. 160 EGMR (GK), Urteil Broniowski (gütliche Einigung), a. a. O. S. 563 (566), Ziff. 36.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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EMRK auf das Versprechen der polnischen Regierung vertrauen und strich die Beschwerde aus dem Register.161 3. Behandlung der parallelen Beschwerden: Wolkenberg u. a. ./. Polen Der EGMR hat in dem Piloturteil Broniowski ./. Polen neben der Entscheidung über die gerechte Entschädigung auch die Entscheidung über die parallelen Beschwerden suspendiert. Am 4. Dezember 2007 erging in dem Fall Wolkenberg u. a. ./. Polen162 die erste Folgeentscheidung. Die Beschwerdeführer hatten Grundeigentum in den ehemaligen Ostprovinzen verloren, und es war ihnen nicht gelungen, ihren Anrechnungsanspruch durch Teilnahme an der Versteigerung staatlichen Grundeigentums und Anrechnung des Wertes des ersteigerten Eigentums auf den Entschädigungsanspruch durchzusetzen. Nach der Entscheidung Broniowski und dem Inkrafttreten des Juli-Gesetzes haben die Beschwerdeführer eine Entschädigungssumme in Höhe von 20% des gegenwärtigen Wertes des ursprünglichen Eigentums ausgezahlt bekommen. Gleichwohl verfolgten die Beschwerdeführer ihre Beschwerde vor dem Gerichtshof weiter. Sie machen eine Verletzung von Art. 1 des 1. ZP-EMRK geltend, weil der Staat es vor dem Inkrafttreten des Juli-Gesetzes von 2005 dauerhaft versäumt habe, für eine Durchsetzungsmöglichkeit ihres Entschädigungsanspruchs zu sorgen, und weil das JuliGesetz ihren Anspruch auf 20% des gegenwärtigen Wertes des ursprünglichen Eigentums gekürzt und damit 80% des ihnen rechtmäßig zustehenden Anspruchs entzogen habe. a) Prüfung der Entschädigungsregelung Der EGMR prüfte in dem Urteil zunächst die im Juli-Gesetz vorgesehene Entschädigungsregelung als solche. In der Beschränkung des Entschädigungsanspruchs auf 20% des Marktwertes des ursprünglichen Eigentums sah der EGMR einen harten Eingriff in das Eigentumsrecht des Beschwerdeführers. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 1 des 1. ZP-EMRK ist das Absehen von einer Entschädigung nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt;163 umgekehrt besteht aber kein Anspruch auf volle Entschädigung, da legitime Ziele des öffentlichen Interesses die Zahlung einer geringeren Summe als es dem Marktwert entsprechen würde, rechtfertigen. Der Staat verfügt über einen weiten Beurteilungsspielraum. Vor dem Hintergrund, dass der Eigentumsverlust auf die schwierigen politischen 161 EGMR (GK), Urteil Broniowski (gütliche Einigung), a. a. O. S. 563 (568), Ziff. 42 und Tenor Ziff. 2. 162 EGMR, Entscheidung v. 4.12.2007 – Wolkenberg u. a. ./. Polen, Nr. 50003/99, EuGRZ 2008, S. 126 ff. Zu dieser Entscheidung siehe Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 ff. 163 Eine solche Ausnahme war aufgrund der besonderen Umstände der deutschen Wiedervereinigung im Fall Jahn u. a. ./. Deutschland (EGMR (GK), Urteil v. 30.5.2005, Nr. 46720/99) anerkannt worden.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg zurückging, sah der EGMR die Grenzen des Beurteilungsspielraums durch Begrenzung des Entschädigungsanspruchs auf 20% als gewahrt an.164 Das Gesetz stand damit im Einklang mit der Konvention. b) Prüfung der effektiven Umsetzung der Entschädigungsregelung Der EGMR untersuchte anschließend die Funktionsweise des Gesetzes in der Praxis. Durch die Einführung der Möglichkeit, sich die Entschädigung auszahlen zu lassen als Alternative zur Teilnahme an einer Versteigerung wurde die Durchsetzbarkeit der Repatriiertenansprüche verbessert. Das von Seiten des Staates für die Befriedigung entsprechender Ansprüche zur Verfügung gestellte Land wurde erheblich aufgestockt. Der polnische Staat hat außerdem dem Entschädigungsfond beträchtliche Geldmittel zur Verfügung gestellt und die Öffentlichkeit systematisch über den Fortschritt in der Gesetzesanwendung informiert. Der Gerichtshof erachtete diese Entwicklungen als zufriedenstellend und kam zu dem Schluss, dass das Juli-Gesetz eine effektive Durchsetzung der Entschädigungsansprüche sicherstellt.165 c) Effektiver Rechtsbehelf Das Gesetz enthielt aber keine Regelung in Hinblick auf die Nachteile, die die Antragsteller aufgrund der ehemals unzureichenden Funktionsweise der Entschädigungsregelung bereits erlitten haben. Beim Beschwerdeführer Broniowski konnte dieser Punkt im Rahmen der gütlichen Einigung bei der Höhe der Entschädigung berücksichtigt werden. Für die übrigen Beschwerdeführer hat die Regierung in der gütlichen Einigung auf zivilrechtliche Rechtsbehelfe verwiesen, welche es Antragstellern ermöglichen würden, materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen systematischer Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK einzufordern. Grundsätzlich müssen die Beschwerdeführer sich auf diese Rechtsbehelfe verweisen lassen. Die Beschwerdeführer, die von diesen Rechtsbehelfen keinen Gebrauch gemacht hatten, haben vorgetragen, dass es noch keine erfolgreichen Klagen vor innerstaatlichen Gerichten auf volle Entschädigung und Schadensersatz wegen der unzureichenden staatlichen Durchsetzung des Anrechnungsanspruchs gegeben habe. Da die Beschwerdeführer dem Gerichtshof aber keine Beweise vorgelegt haben, dass in Polen eine systematische Politik verfolgt würde, Ansprüche auf Schadensersatz von Anspruchstellern zurückzuweisen, sah der Gerichtshof keine Veranlassung, an dem Vorliegen eines effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelfs zu zweifeln. Nach Art. 46 EMRK sei es Sache des Ministerkomitees, die Urteilsumsetzung zu überwachen. 164

EGMR, Entscheidung Wolkenberg u. a. ./. Polen, a. a. O., S. 126 (129), Ziff. 63–

66. 165

71.

EGMR, Entscheidung Wolkenberg u. a. ./. Polen, a. a. O., S. 126 (129 f.), Ziff. 67–

B. Die Entwicklung der Piloturteile

103

Der Gerichtshof kam daher zu dem Ergebnis, dass die Streitigkeit einer Lösung im Sinne des Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK zugeführt wurde und beschloss die Beschwerde aus dem Register zu streichen. Der Gerichtshof behielt sich aber vor, die Beschwerde gemäß Art. 37 Abs. 2 EMRK wieder in das Register einzutragen, sollte sich die Zusicherung der polnischen Regierung im Nachhinein als ineffektiv erweisen und die zukünftige Funktionsweise der Entschädigungsregelung nach dem Juli-Gesetz dies rechtfertigen.166

IV. Zweck, Potential und Risiken des Piloturteilsverfahrens „(. . .) the Court adopted a judgment on 22 June of this year in which it found for the first time the existence of a systemic violation in what has become known as a pilot judgment. (. . .) This was (. . .) a groundbreaking judgment“ 167

1. Zweck des Verfahrens Das Piloturteilsverfahren erinnert die Vertragsstaaten an ihre Verantwortung beim Konventionsschutz im Einklang mit dem der Konvention inhärenten Subsidiaritätsprinzip und gibt dem Ministerkomitee eine konkrete Anleitung zur Überwachung des Urteilsvollzugs. Die Last der Durchsetzung der Konventionsrechte wird hierdurch gleichmäßig auf die beiden Ebenen, internationaler und nationaler Schutz, verteilt.168 Darüber hinaus soll das Piloturteilsverfahren dazu beitragen, dass eine größere Anzahl individueller Beschwerdeführer schneller Wiedergutmachung erhält als im Fall der separaten Entscheidung über jede einzelne Beschwerde.169 Darüber hinaus fördert das Piloturteilsverfahren die Zusammenarbeit der nationalen und der europäischen Ebene und den Dialog der Richter. Im Fall Broniowski hatten bereits die polnischen Gerichte die Existenz und strukturelle Natur des Problems hervorgehoben. Das polnische Verfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 19. Dezember 2002 die Gesetzgebung bezüglich jenseits des Bug zurückgelassenen Eigentums als Ursache für eine „unzulässige Funktionsstörung“ bezeichnet. Der EGMR folgte dieser Einschätzung.170 166

EGMR, Entscheidung Wolkenberg u. a. ./. Polen, a. a. O., S. 126 (130 f.), Ziff. 72–

77. 167

Wildhaber, Consequences for the ECtHR of Protocol No. 14, S. 23 (25 f.). Informationsvermerk über das Piloturteilsverfahren (Teil 2 Fn. 156), Rn. 4. 169 Informationsvermerk über das Piloturteilsverfahren (Teil 2 Fn. 156), Rn. 6. 170 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 (480), Ziff. 189. Besonders deutlich wird der Dialog der Richter auch im Fall Hutten-Czapska ./. Polen – EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006, Nr. 35014/97, siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. V. 168

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

2. Entlastung des Gerichtshofs Das Piloturteilsverfahren birgt ein großes Potential zur Reduzierung der repetitiven Fälle. Durch die Suspendierung der parallelen Beschwerden und durch ihre Rückverweisung auf die innerstaatliche Ebene kann sich der EGMR einer Vielzahl von Beschwerden entledigen. Hierdurch wird die Festlegung der Entschädigungssumme im Einzelfall auf die nationale Ebene zurückverlagert. Die nationalen Gerichte sind zur Ausurteilung der Entschädigungssumme regelmäßig besser in der Lage.171 In der Literatur wird teilweise sogar für eine generelle Rückverlagerung der Bemessung der Entschädigungssumme auf die nationale Ebene plädiert und das Piloturteilsverfahren als ein erster Schritt in diese Richtung gewertet.172 Tatsächlich kann sich die Bemessung der gerechten Entschädigung als sehr kompliziert und aufwendig gestalten, insbesondere wenn es um die Verletzung des Rechts auf Eigentum geht und wesentliche Sachfragen für die Bemessung der Entschädigung noch nicht geklärt sind.173 Im Zusammenhang mit Wiederholungsfällen erscheint es sinnvoll, diese Aufgabe den nationalen Gerichten zu übertragen und die Kontrolle des Gerichtshofs darauf zu beschränken, dass die nationalen Gerichte diese Aufgaben wahrnehmen und die vom EGMR für die Bemessung der Entschädigung aufgestellten Kriterien anwenden. 3. Problematik der Prognoseentscheidung Die Beseitigung eines strukturellen Problems nimmt naturgemäß eine gewisse Zeit in Anspruch. Die oftmals jahrelangen Fehlpraktiken müssen beendet und die erforderlichen gesetzlichen und verwaltungstechnischen Änderungen ergriffen und ihre Effektivität in der Praxis unter Beweis gestellt werden. Anlässlich einer gütlichen Einigung bzw. bei der Frage der Streichung einer parallelen Beschwerde oder der Zulässigkeit einer neuen Beschwerde kann der EGMR nur eine Prognoseentscheidung auf Grundlage der bereits eingeleiteten und der zugesicherten Abhilfemaßnahme treffen. So war im Fall Broniowski zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Streichung der Pilotbeschwerde das neue Entschädigungsgesetz lediglich verabschiedet worden, aber noch nicht in Kraft getreten. Der EGMR musste auf die von der Regierung abgegebene Erklärung vertrauen. 171

Wildhaber, BRILL 3 (2003), S. 1 (5 f.). Mahoney, Thinking a Small Unthinkable, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 263 (281): „The logic of the Convention system – above all, the principle of subsidiarity – and the pressures of the caseload argue in favour of transferring the task elsewhere, away from the Strasbourg Court, preferably to the national level. The pilot-judgment procedure (. . .) represents a first step in that direction as far as repetitive applications are concerned.“ 173 Mahoney, Thinking a Small Unthinkable, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 263 (277 f.). 172

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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Anlässlich der Entscheidung über die Streichung der Parallelbeschwerde im Fall Wolkenberg u. a. machten die Beschwerdeführer geltend, dass Klagen im Rahmen des zur Verfügung gestellten innerstaatlichen Rechtsbehelfs noch nie erfolgreich gewesen seien.174 Das Argument fehlender erfolgreicher Klagen erinnert an das Problem der Rechtswegerschöpfung im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulässigkeit einer Beschwerde nach Art. 35 Abs. 1 EMRK.175 Nach dieser Norm muss der Beschwerdeführer grundsätzlich alle innerstaatlichen Instanzen durchlaufen haben, bevor er sich an den EGMR mit seiner Beschwerde wenden kann. Er muss aber nur von solchen Rechtsbehelfen Gebrauch machen, die zugänglich und geeignet sind, um im Hinblick auf die behauptete Verletzung Abhilfe zu schaffen.176 Nach dem EGMR trägt der beklagte Staat die Beweislast, dass das Rechtsmittel wirksam ist und dem Beschwerdeführer zugänglich war.177 Erst wenn dieser Nachweis gelungen ist, hat der Beschwerdeführer seinerseits darzulegen, dass er das Rechtsmittel erschöpft hat oder aufgrund besonderer Umstände von der Erschöpfung absehen durfte.178 Eine entsprechende Anwendung dieser Beweismaßstäbe findet im Fall Wolkenberg u. a. nicht statt. Ein solcher Ansatz hätte zur Folge, dass der EGMR trotz grundsätzlich angemessener Lösung des strukturellen Problems durch das JuliGesetz über alle anhängigen Parallelverfahren hätte entscheiden müssen, um nun die Angemessenheit der Entschädigung zu prüfen. Der EGMR wäre so „um die Früchte des Piloturteilsverfahrens gebracht worden“.179 Der Gerichtshof löst die Problematik dadurch, dass er der Regierung einen Vertrauensvorschuss gewährt und die parallele Beschwerde aus dem Register streicht. Gleichzeitig behält er sich aber die Möglichkeit der Wiedereintragung vor, sollte sich die Zusicherung der Regierung als ineffektiv erweisen.180 Im Fall Wolkenberg u. a. hat sich das Vertrauen in die Regierung als richtig erwiesen. So bestätigte der EGMR unter Berücksichtigung der Anwendungspraxis die Richtigkeit seiner Einschätzung in

174 EGMR, Entscheidung v. 4.12.2007 – Wolkenberg u. a. ./. Polen, Nr. 50003/99, EuGRZ 2008, S. 126 ff., Rn. 75. Siehe zu diesem Fall die Ausführungen unter Teil 2 B. I. 3. 175 Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (125). 176 EGMR, Urteil v. 10.11.1969 – Stögmüller ./. Österreich, Nr. 1602/62, Ziff. 11; EGMR, Urteil v. 18.6.1971 – de Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Nr. 2832/66 u. a., Ziff. 60; EGMR, Urteil v. 9.10. 1979 – Airey ./. Irland, Nr. 6289/73, EuGRZ 1979, S. 626 ff., Ziff. 19; EGMR, Urteil v. 19.2.1998 – Dalia ./. Frankreich, Nr. 26102/95, ÖJZ 1998, S. 937 ff., Ziff. 38; EGMR, Urteil v. 26.7.2001 – Horvat ./. Kroatien, Nr. 51585/99, Ziff. 38. 177 EGMR, Urteil v. 18.6.1971 – de Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, a. a. O., Ziff. 60. 178 EGMR, Urteil v. 16.9.1996 – Akdivar u. a. ./. Türkei, Nr. 21893/93, Ziff. 68. 179 Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (125). 180 EGMR, Entscheidung v. 4.12.2007 – Wolkenberg u. a. ./. Polen, a. a. O., Ziff. 77.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

dem Urteil E.G. ./. Polen und strich die restlichen 176 parallelen Beschwerden aus dem Register.181 4. Gefahr mangelhafter Kooperation Anders lag die Sache im dem Quasi-Piloturteil Scordino ./. Italien (Nr. 1) vom 29. März 2006,182 das die Enteignung eines Grundstücks und die überlange Dauer des insoweit angestrengten Entschädigungsverfahrens betraf. Nachdem Italien in steter Wiederkehr wegen überlanger Dauer der nationalen Verfahren verurteilt worden war,183 hat Italien das Gesetz Pinto184 eingeführt. Das Gesetz bestimmte, dass jede Person, die einen Schaden aufgrund des Verstoßes gegen die angemessene Verfahrensdauer erleiden musste, Anspruch auf gerechte Entschädigung hat. Der EGMR hat daraufhin Klagen von Personen, die von diesem Rechtsbehelf keinen Gebrauch gemacht haben, zunächst zurückgewiesen, auch wenn sie zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes bei ihm schon anhängig waren.185 Auch der Beschwerdeführer bzw. seine Erben hatten eine Entschädigung beantragt. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass die italienischen Gerichte das neue Gesetz autonom auslegten und keine oder eine niedrigere Entschädigung gewährten als es der Rechtsprechung des EGMR entsprach. Ferner waren die Entschädigungsverfahren der Zuständigkeit der Berufungsgerichte übertragen worden, die ihrerseits überlastet waren, mit der Folge, dass die Entschädigungen verspätet ausgezahlt wurden. Die enttäuschten Betroffenen wandten sich erneut an den EGMR. In der Entscheidung Scordino ./. Italien (Nr. 1) stellte die Große Kammer des EGMR fest, dass die Einführung des Rechtsbehelfs der Lex Pinto das Grundproblem der überlangen Verfahrensdauer nicht gelöst habe. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass der Kassationsgerichtshof in seinem Urteil vom 26. Juli 2004 die Berufungsgerichte angewiesen hat, sich bei der Bestimmung der Ent181 EGMR, Entscheidung v. 23.9.2008 – E.G. ./. Polen, Nr. 50425/99, Ziff. 22 ff.: „In the cases of Wolkenberg and Others v. Poland and Witkowska-Tobola v. Poland the Court (. . .) was satisfied that the issue giving rise to the Bug River cases had been resolved for the purposes of Article 37 § 1 of the Convention. (. . .) Having regard to the circumstances of the present cases (. . .) the Court finds no reason justifying a departure from the conclusion reached in the above-mentioned cases. Accordingly, the 176 applications under consideration should be struck out of the Court’s list of cases.“ 182 EGMR (GK), Urteil v. 29.3.2006 – Scordino ./. Italien, Nr. 36813/97, NJW 2007, S. 1259 ff. 183 Zum Beispiel: EGMR, Urteil v. 10.12.1982 – Foti u. a. ./. Italien, Nr. 7604/76 u. a.; EGMR, Urteil v. 10.12.1982 – Corigliano ./. Italien, Nr. 8304/78; EGMR, Urteil v. 25.6.1987 – Capuano ./. Italien, Nr. 9381/81; EGMR, Urteil v. 26.2.1993 – Salesi ./. Italien, Nr. 13023/87, EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – Di Mauro ./. Italien, Nr. 34256/96; EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1999 – Botazzi ./. Italien, Nr. 34884/97. 184 Gesetz Nr. 89 vom 24.3.2001; Gazzettea Ufficiale Nr. 78 vom 3.4.2001. Das Gesetz ist nach dem Senator benannt, der das Gesetz eingebracht hat. 185 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 6.9.2001 – Brusco ./. Italien, Nr. 69789/ 01.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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schädigung an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren. Aufgrund der verspäteten Vollstreckung der Entscheidungen kam der EGMR zu dem Schluss, dass an die Stelle des strukturellen Problems der überlangen Verfahrensdauer ein anderes, mit ihm verwandtes Problem getreten sei, nämlich die verspätete Auszahlung der Entschädigung.186 Der EGMR reagierte auf diese Situation, indem er ein neues Quasi-Piloturteil erließ und den Staat aufforderte, nicht nur alle Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die nationalen Gerichtsentscheidungen im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs stehen, sondern auch, dass sie innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Verkündung durchgeführt werden.187 Auch wenn es sich im Fall Scordino um ein Quasi-Piloturteil handelte, das die Aufforderung der Ergreifung von Abhilfemaßnahmen in den Urteilsgründen und nicht im Tenor enthielt und auch wenn der Staat die Befolgung nicht verweigert, sondern nur unzureichend umgesetzt hat, mithin die Autorität des Gerichtshofs nicht unmittelbar angegriffen wurde, verdeutlicht der Fall, wie sehr der Gerichtshof bei der Lösung eines strukturellen Mangels auf die Kooperation des beklagten Staates angewiesen ist.188 Breuer befürchtete, dass der Gerichtshof von dem Piloturteilsverfahren „eher zurückhaltend Gebrauch machen wird“ und der Verfahrenstypus „wohl nur beschränkt zu einer echten Reduzierung der Verfahrenslast vor dem EGMR (. . .) wird beitragen können“.189

V. Gründe für den anfänglich nur zögerlichen Gebrauch echter Piloturteile Tatsächlich hat der EGMR zunächst nur wenige Piloturteile erlassen. Nach dem ersten Piloturteil Broniowski im Juni 2004 erließ der Gerichtshof erst zwei Jahre später das zweite echte Piloturteil Hutten-Czapska.190 In diesem Fall ging 186 EGMR (GK), Urteil v. 29.3.2006 – Scordino ./. Italien (Nr. 1), Nr. 36813/97, Ziff. 237: „The Court (. . .) regrets to observe that where a deficiency that has given rise to a violation has been put right, another one related to the first one appears: in the present case the delay in executing decisions.“ In der deutschen Übersetzung in NJW 2007, S. 1259 ff. ist diese Passage nicht abgedruckt. 187 EGMR (GK), Urteil Scordino, a. a. O., Ziff. 240. In der deutschen Übersetzung in NJW 2007, S. 1259 ff. nicht abgedruckt. 188 Auf dieses Problem wies der EGMR bereits in seinem ersten Piloturteil hin: „Es steht in der Macht des beklagten Staates, zugleich die notwendigen und individuellen Maßnahmen zu treffen sowie mit dem Bf. zu einer gütlichen Einigung auf der Grundlage einer Vereinbarung zu gelangen (. . .) Umgekehrt setzt jedes Versagen eines beklagten Staates in diesem Bereich das Konventionssystem notwendigerweise einer großen Belastung aus und unterminiert seinen subsidiären Charakter.“ – EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005, Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung), EuGRZ 2005, S. 563 ff., Ziff. 36. 189 Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (126). 190 EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

es um eine Beschwerdeführerin, die Eigentümerin eines Einfamilienhauses in Gdynia in Polen war, das ihre Eltern an einen Schützling der kommunistischen Partei hatten übergeben müssen. Die Beschwerdeführerin hat das Eigentum an dem Haus wiedererlangt, musste jedoch die im Haus befindlichen Mieter aufgrund der entsprechenden Bestimmungen des Wohnraumgesetzes weiter dulden und durfte die vom Staat festgelegten Mietpreise nicht erhöhen. In den Jahren 2000 und 2002 hob der polnische Verfassungsgerichtshof mehrere Bestimmungen der Wohnraumgesetze auf, weil die von den Vermietern zu bestreitenden Erhaltungskosten außer Verhältnis zu den Mieteinnahmen stünden. Am 1. Januar 2005 trat eine Wohnraumgesetzesnovelle in Kraft, die eine Erhöhung des Mietpreises auf bis zu 10% des jährlichen Gesamtwertes des Mietgegenstandes gestattete. Die Höhe des Mietzinses blieb jedoch unter staatlicher Kontrolle. Ein erneutes Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen der Wohnraumreform war bei dem polnischen Verfassungsgericht anhängig, als am 22. Februar 2005 der EGMR im Fall Hutten-Czapska unter Bezugnahme auf das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK feststellte.191 Am 19. April 2005 erließ auch der polnische Verfassungsgerichtshof sein Urteil und hob unter Bezugnahme auf das Urteil des EGMR Teile der Wohnraumgesetzesnovelle wegen Verstoßes gegen das Recht auf Eigentum und das Rechtsstaatlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.192 Auf Antrag der polnischen Regierung wurde die Sache an die Große Kammer übertragen, welche am 19. Juni 2006 ein Piloturteil erließ.193 Die Große Kammer bestätigte die Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK, da der Beschwerdeführerin durch die staatliche Mietenregulierung eine unverhältnismäßige und übermäßige Last auferlegt worden sei, die mit dem Allgemeininteresse nicht mehr gerechtfertigt werden könne. Der Gerichtshof verwies zustimmend auf die Urteile des polnischen Verfassungsgerichts und machte deutlich, dass die Umstände auf einen strukturellen Mangel im polnischen Rechtssystem hinweisen würden. Zur Zeit der Urteilsverkündung durch die Große Kammer waren erst 18 Fälle anhängig,194 jedoch war eine hohe Anzahl von Personen, nämlich ca. 100.000 Grundstückseigentümer und zwischen 600.000 und 900.000 Mieter,195 von der Mietregulierung betroffen. Der Gerichtshof forderte Polen auf, durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen den Vermietern einen Mechanismus zur Verfügung zu stellen, der ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen ihrem Interesse an einer Gewinnerzielung durch Miet191

EGMR, Urteil v. 22.2.2005 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97. Sadurski, HRLR 2009, S. 397 (418). 193 EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 194 Eine dieser Beschwerden war jedoch von einer aus 200 Personen bestehenden Vermietervereinigung erhoben worden, siehe EGMR (GK), Hutten-Czapska, a. a. O. Ziff. 236. 195 EGMR (GK), Hutten-Czapska, a. a. O. Ziff. 235. 192

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einnahmen und dem Interesse der Gemeinschaft an der Zurverfügungstellung von ausreichendem Wohnraum für finanziell Schwache schafft.196 In den vom polnischen Verfassungsgerichtshof abgegebenen Empfehlungen sah der Gerichtshof geeignete Optionen zur Abstellung der konventionswidrigen Situation.197 In dem Fall Hutten-Czapska traf der EGMR wie schon im Fall Broniowski auf besonders günstige Umstände, da bereits gesetzgeberische Bestrebungen bzw. Gerichtsurteile vorlagen, die eine konventionsfreundliche Lösung des Problems anstrebten.198 Durch den Erlass eines echten Piloturteils konnte der EGMR hier internationalen Druck ausüben und dem innerstaatlich bereits bestehenden konventionskonformen Lösungsansatz zum Erfolg zu verhelfen. Nicht immer sind die Voraussetzungen so günstig. Vielmehr kann die Anwendung des Verfahrens auf praktische, politische und rechtliche Schwierigkeiten treffen. 1. Praktische Gründe – strukturell-spezifische Mängel versus strukturell-systemische Mängel Nicht jeder strukturelle Mangel ist für die Anwendung des Piloturteilsverfahrens gleichermaßen geeignet. Der Generaldirektor für Menschenrechte des Europarates, Pierre-Henri Imbert, hat 2004 in seiner Rede anlässlich des High LevelSeminars über die Reform des Europäischen Menschenrechtsschutzes in Oslo den Gebrauch der Begriffe „systemisch“ oder „strukturell“ für sämtliche Mängel im Zusammenhang mit dem Piloturteilsverfahren kritisiert.199 Der Ausdruck „systemisch“ verweise auf Situationen, die eine echte Fehlfunktion in der nationalen Rechtsordnung, mithin keine abgeschlossene Personengruppe betreffen, wie dies etwa bei dem Nichtvollzug von nationalen Gerichtsurteilen und der überlangen Verfahrensdauer der Fall sei. Der Fall Broniowski beruhe aber auf einem eher spezifischen Problem, da die Ansprüche der Gruppe der Repatriierten nicht befriedigt worden seien. Spezifische Probleme seien durch gezielte Maßnahmen in kürzerer Zeit zu lösen als ein systemischer Mangel, der regelmäßig ein umfassendes Maßnahmenpaket erfordern werde. Nach Ansicht Imberts sei es im Fall eines wahrhaft systemischen Mangels nicht vernünftig, generelle Abhilfemaßnahmen zu verlangen, die in kurzer Zeit eine Lösung des Problems herbeiführen sollen. Vorzugswürdig sei in diesen Konstellationen der Erlass von Appell-Entscheidungen bzw. eines Quasi-Piloturteils. Doch sei es legitim und sogar notwendig, dass das Ministerkomitee den Staat auffordere, in kurzer Zeit 196

EGMR (GK), Hutten-Czapska, a. a. O., Tenor Ziff. 4. EGMR (GK), Hutten-Czapska, a. a. O., Ziff. 239. 198 Auch im Fall Broniowski lag bereits eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vor, das eine untragbare strukturelle Fehllage festgestellt hatte, EGMR (GK), Urteil Broniowski ./. Polen, Urteil v. 22.6.2004, Nr. 31443/96, Ziff. 85 ff. und Ziff. 189. 199 Imbert, Vortrag v. 18.10.2004 in Oslo, S. 33 (39 f.). 197

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

einen umfassenden Aktionsplan und eine Zeittafel zu entwickeln, wie er das Problem zu bewältigen gedenke.200 Die Unterscheidung zwischen Mängeln, die eine abgeschlossene Gruppe von Personen betreffen und Mängeln, bei denen eine solche Abgrenzung nicht möglich ist, erscheint sinnvoll. Die Differenzierung klingt auch in den Urteilen des EGMR an. In dem Fall Burdov ./. Russland, der erstmals einen echten systemischen Mangel (Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen) betraf, betonte der Gerichtshof, dass sich die Entscheidung von den ersten beiden Piloturteilen Broniowski und Hutten-Czapska unterscheide, da er keine identifizierbare Gruppe von Personen („identifiable class of citizans“) betreffe.201 Der Gerichtshof spricht aber weiterhin allgemein von einem strukturellen Mangel und wendet das Piloturteilverfahren entgegen der Prognose von Imbert auch im Fall eines systemischen Mangels an, wie der Fall Burdov ./. Russland zeigt.202 Im weiteren Gang der Untersuchung soll der Begriff „struktureller“ Mangel als Oberbegriff verwendet werden, wobei Mängel, die eine identifizierbare Gruppe von Personen betreffen, auch als „strukturell-spezifische“ Mängel und Mängel, die Fehlfunktionen im innerstaatlichen Recht ohne Bezug auf eine identifizierbare Personengruppe betreffen, als „strukturell-systemische“ Mängel bezeichnet werden. Die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein. Als Orientierungshilfe kann an die aus dem Recht der Europäischen Union bekannte Abgrenzung der sog. Scheinverordnung zur echten Verordnung angeknüpft werden, die sich maßgeblich nach der Abgeschlossenheit des betroffenen Personenkreises richtet. Das Problem der Scheinverordnung tritt im Zusammenhang mit der sog. Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV (ex-Art. 230 EG-Vertrag) auf. Im Rahmen dieser Klage können Unionsrechtsakte einer Rechtmäßigkeitsprüfung durch den EuGH bzw. das EuG unterzogen werden. Klagen natürlicher oder juristischer Personen sind allerdings nach Art. 263 Abs. 4 AEUV nur gegen Entscheidungen zulässig, die sie unmittelbar und individuell betreffen. Die unmittelbare Betroffenheit setzt voraus, dass keine Vollzugsakte mehr erforderlich sind und die ausführende Behörde kein Ermessen hat. Individuelle Betroffenheit liegt nach der sog. Plaumann-Formel vor, wenn der Rechtsakt den Kläger „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den eigentlichen Adressaten“.203 Ist der Einzelne individuell und un200

Imbert, a. a. O., S. 39 (41). EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04, Ziff. 129. 202 Dennoch trägt der EGMR der Art des betroffenen strukturellen Mangels Rechnung – siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3 B. II. 3. d). 203 EuGH, Urteil v. 15.7.1963 – Plaumann ./. Kommission der EWG, Rs. C-25/62, Slg. 1963, 213 (238), abrufbar unter: siehe Teil 2 Fn. 32. 201

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mittelbar betroffen, so kann er auch dann gegen die Entscheidung vorgehen, wenn sie im Gewand einer Verordnung, d.h. im Gewand einer abstrakt-generellen Regelung ergangenen ist. Für das Vorliegen einer Einzelfallregelung ist also nicht die formelle Bezeichnung maßgeblich, sondern dass sie sich an einen eindeutig bestimmten Personenkreis richtet, der nach dem Erlass der Entscheidung nicht mehr verändert werden kann, etwa wenn der Rechtsakte sich auf bereits gestellte Anträge bezieht.204 Die Verordnung hingegen als abstrakt-generelle Regelung wendet sich an einen unbestimmten bzw. nur bestimmbaren Personenkreis, der sich auch nach Erlass verändern kann. In ähnlicher Weise lässt sich von einem strukturell-spezifischen Problem sprechen, wenn der Personenkreis nach dem Erlass des Piloturteils nicht mehr veränderlich ist. Das bedeutet nicht, dass in dem Piloturteil bereits alle betroffenen Personen namentlich benannt sein oder dass bereits alle betroffenen Personen Beschwerde beim EGMR erhoben haben müssen. Es ist ausreichend und erforderlich, dass sich der Personenkreis zum Zeitpunkt der EGMR-Entscheidung abschließend ermitteln lässt. Steht der Personenkreis nicht unveränderlich fest, handelt es sich dagegen um einen strukturell-systemischen Mangel. 2. Politische Aspekte Neben praktischen Schwierigkeiten warnten Kritiker vor der Anwendung des Piloturteilsverfahrens auf massive Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten und starkem politischen Hintergrund.205 Die Kritik fand ihren Ausdruck anlässlich des Quasi-Piloturteils Xenides-Arestis ./. Türkei,206 der eine post-Loizidou-Situation betraf. Im Fall Loizidou hatte der EGMR im Jahre 1996 eine Eigentumsverletzung bejaht und der Beschwerdeführerin 1998 eine Entschädigungssumme in Höhe von 320.000 Zypriotische Pfund zugesprochen, weil ihr der Zugang zu den Grundstücken im türkisch besetzten Norden der Insel verweigert worden war.207 Doch die Regierung weigerte sich fünf Jahre lang die Entschädigung auszuzahlen.208 Am 30. Juni 2003 erließ das Parlament der Türkischen Republik Nordzypern ein Gesetz zur Entschädigung der Grundbesitzer, deren Güter sich im Innern der Grenze der Republik Nordzypern befanden. Das Gesetz trat noch am selben Tag in Kraft. Außerdem wurde 204 EuGH, Urteil v. 13.5.1971 – International Fruit Company u. a. ./. Kommission, verb. Rs. C-41–44/70, Slg. 1971, 412 (422), Rn. 16, abrufbar unter: siehe Teil 2 Fn. 32. 205 Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (281 f.). 206 EGMR, Urteil v. 22.12.2005 – Xenides-Arestis ./. Türkei, Nr. 46347/99. 207 EGMR (GK), Urteil v. 18.12.1996 – Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89 und EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1998 – Loizidou ./. Türkei (Art. 50), Nr. 15318/89. Zum Fall Loizidou siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. c). 208 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (46).

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eine Kommission geschaffen, die die Entschädigungsklagen behandeln sollte.209 Im Zeitpunkt der Entscheidung Xenides-Arestis waren bei dem EGMR ca. 1.400 weitere von griechischen Zyprern eingereichte Beschwerden gegen die Türkei anhängig.210 Der EGMR stellte fest, dass der beklagte Staat einen Rechtsbehelf schaffen müsse, der eine angemessene Entschädigung nicht nur für die festgestellten Konventionsverletzungen, sondern auch für die anhängigen parallelen Beschwerden garantiert. Dieser Rechtsbehelf müsse effektiv sein und mit den Rechtsprechungsprinzipien zu Art. 8 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK in Einklang stehen und innerhalb von drei Monaten nach dem Datum der Verkündung des Urteils verfügbar sein. Die Entschädigung müsse in den drei darauffolgenden Monaten ausgezahlt werden.211 Im Hinblick auf die politische Sensibilität des Zypernkonfliktes und die Schwierigkeiten beim Urteilsvollzug warnte Gattini vor der Anwendung des Piloturteilsverfahrens: „. . . a look at the still pending execution of the Loizidou judgment should have suggested to the Third Section of the Court a more sober attitude towards the appropriateness and effectiveness of pilot judgments.“ 212

Tatsächlich scheint die Bereitschaft eines Staates, das Urteil des EGMR umzusetzen, bei der Wahl der ersten echten Piloturteile eine Rolle gespielt zu haben. So betrafen die beiden ersten Piloturteile Fälle, in denen das polnische Verfassungsgericht bereits das innerstaatliche Problem aufgezeigt hat. Zudem wurden die ersten beiden echten Piloturteile durch die Große Kammer des Gerichtshofs erlassen, wodurch ihnen eine besondere Autorität verliehen wurde. Sadurski vermutete zudem, dass ein Piloturteil mit großer Wahrscheinlichkeit ergehen wird, wenn die Situation in einem Land schlecht genug ist, um ein strukturelles Problem festzustellen, aber nicht so schlecht, um die Umsetzung struktureller Abhilfemaßnahmen durch die legislativen und administrativen Stellen des Landes und damit die Autorität des Gerichtshofs zu gefährden.213 Er erwartete, dass der EGMR in Bezug auf Russland eine gewisse Zurückhaltung ausüben werde, da es in Russland schwere Probleme bei der Umsetzung von Gerichtsurteilen gäbe.214 209

EGMR, Urteil Xenides-Arestis, a. a. O., Ziff. 12. EGMR, Urteil Xenides-Arestis, a. a. O., Ziff. 38. 211 EGMR, Urteil v. 22.12.2005 – Xenides-Arestis ./. Türkei, Nr. 46347/99, Ziff. 40 und Tenor Ziff. 5. 212 Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (281 f.). Für eine Übernahme der Verantwortung durch den EGMR in politisch brisanten Fällen spricht sich Imbert aus, siehe Imbert, Vortrag v. 18.10.2004 in Oslo, S. 33 (38 f.). Für ein gewisses Maß an Zurückhaltung plädiert dagegen Wildhaber, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 204 (205): „I nevertheless tend to think that the Court would be well advised to stay on safe ground“. 213 Sadurski, HRLR 9 (2009), S. 397 (429). 214 Sadurski, ebenda. 210

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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3. Rechtliche Unsicherheiten Der eigentliche Grund für die anfängliche Zurückhaltung beim Erlass echter Piloturteile ist jedoch in den rechtlichen Unsicherheiten zu sehen, die mit dem Verfahren verbunden sind. Die zentrale Kritik an dem Piloturteilsverfahren kommt aus der Richterschaft selbst und lässt sich an den Sondervoten des Richters Zagrebelsky zu dem Quasi-Piloturteil Lukenda ./. Slowenien und dem echten Piloturteil Hutten-Czapska ./. Polen verdeutlichen. Seine Kritik richtet sich nicht generell gegen das Piloturteilsverfahren. Er hält es aber für falsch, die Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in den Tenor aufzunehmen. Er bemängelt die schwache rechtliche Basis für die Anordnungen und betont, dass die Überwachung des Urteilsvollzugs Aufgabe des Ministerkomitees sei. Durch den Erlass verbindlicher Anordnungen dringe der Gerichtshof in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees ein und nehme Aufgaben außerhalb seines Kompetenzbereichs wahr. Nach Ansicht des Richters sind die Anordnungen des Gerichtshofs außerdem zu vage und zu unbestimmt, um verbindlich sein zu können. Der Gerichtshof laufe Gefahr, seine Autorität zu untergraben. Dies gelte insbesondere dann, wenn für die Beseitigung des strukturellen Problems nicht nur eine Lösungsmöglichkeit existiert, sondern eine komplette Überholung der gesetzlichen Regelungen erforderlich ist. Der Staat besitze hier einen weiten Beurteilungsspielraum.215 Richter Zagreblesky sprach sich dafür aus, dass ein Piloturteil nur von der Großen Kammer erlassen wird.216 Richter Garlicki warnte vor einem übermäßigen Gebrauch des Verfahrens.217 An den Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten bei der Auswahl der Abhilfemaßnahmen erinnert auch die italienische Regierung vor der Großen Kammer in dem Fall Sejdovic´ ./. Italien. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass die neue Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die Gefahr mit sich bringe, den Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten auf null zu reduzieren. Dies stehe nicht im Einklang mit der Konvention, und eine klare rechtliche Grundlage sei nicht vorhanden.218 In der Literatur wird kritisiert, dass das Aufschieben der Entscheidung über die parallelen Beschwerden die Beschwerdeführer in einen Zustand der Rechtsunsicherheit versetze.219 Schließlich wird argumentiert, dass am Ende dies für 215 Sondervotum Richter Zagrebelsky, EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – HuttenCzapska ./. Polen, Nr. 35014/97. Hutten-Czapska, a. a. O. 216 Sondervotum Richter Zagrebelsky, EGMR, Urteil v. 6.10.2005 – Lukenda ./. Slowenien, Nr. 23032/02. 217 Garlicki, Broniowski and After, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 177 (191) warnt, dass eine Inflation an Piloturteilen kontraproduktiv sein könnte. 218 EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00, Ziff. 115. 219 Fribergh, Pilot judgments from the Court’s perspective, Vortrag v. 9./10.6.2008 in Stockholm, S. 86 (89); Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (293).

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

die Beschwerdeführer zu weiteren Prozessen auf nationaler Ebene führe, die, wenn sie nicht effektiv sind, zum Gerichtshof zurückkehren und so die Verfahrensdauer weiter verlängern.220

VI. Das gestärkte Selbstbewusstsein des EGMR Der EGMR hat zunächst nur wenige echte Piloturteile erlassen. Nach den ersten Piloturteilen Broniowski ./. Polen und Hutten Czapska ./. Polen aus den Jahren 2004 und 2006 folgte das dritte echte Piloturteil Burdov Nr. 2 ./. Russland 221 erst im Januar 2009. Stattdessen erließ der EGMR eine Reihe von Quasi-Piloturteilen.222 Seit Anfang 2009 nimmt die Zahl der Piloturteile deutlich zu.223 So hat der EMGR im Jahr 2009 neben einer Vielzahl weiterer Quasi-Piloturteilen224 vier neue echte Piloturteile erlassen.225 In den Jahren 2010226 und 2011227 bis Februar 2012228 folgten insgesamt sieben Piloturteile229 und im weiteren Verlauf 220

Lambert-Abdelgawad, Droit et Justice 61 (2005), S. 79 (102). EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04. 222 EGMR, Urteil v. 6.10.2005 – Lukenda ./. Slowenien, Nr. 23032/02; EGMR, Urteil v. 22.12.2005 – Xenides-Arestis ./. Türkei, Nr. 46347/99; EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00; EGMR (GK), Urteil v. 29.3.2006 – Scordino ./. Italien (Nr. 1), Nr. 36813/97; EGMR, Urteil v. 13.11.2007 – Ramadhi und 5 andere ./. Albanien, Nr. 38222/02; EGMR, Urteil v. 13.11.2007 – Driza ./. Albanien, Nr. 33771/02; EGMR, Urteil v. 9.12.2008 – Vias¸u ./. Rumänien, Nr. 75951/01. 223 Einen Überblick über die Piloturteile enthält auch das auf der Internetseite des Gerichtshofs veröffentlichte Merkblatt („Factsheet – pilot judgments, July 2015“), Teil 2 Fn. 150. 224 Vgl. EGMR, Urteil v. 20.1.2009 – Sławomir Musiał ./. Polen, Nr. 28300/06; EGMR, Urteil v. 3.2.2009 – Kauczor ./. Polen, Nr. 45219/06; EGMR, Urteil v. 13.1. 2009 – Faimblat ./. Rumänien, Nr. 23066/02; EGMR, Urteil v. 20.1.2009 – Katz ./. Rumänien, Nr. 29739/03; EGMR, Urteil v. 17.9.2009 – Manole u. a. ./. Moldawien, Nr. 13936/02; EGMR, Urteil v. 22.10.2009 – Orchowski ./. Polen, Nr. 17885/04; EGMR, Urteil v. 8.12.2009 – Gherghiceanu ./. Rumänien, Nr. 21227/03, 18377/05, 18730/05; EGMR, Urteil v. 27.5.2010 – Sarica und Dilaver ./. Türkei, Nr. 11765/05; EGMR, Urteil v. 6.7.2010 – Yetis u. a. ./. Türkei, Nr. 40349/05. 225 Urteil v. 28.7.2009 – Olaru u. a. ./. Moldawien, Nr. 476/07, 22539/05, 17911/ 08,13136/07; EGMR, Urteil v. 15.10.2009 – Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/04; EGMR Urteil v. 2.11.2009 – Suljagic´ ./. Bosnien Herzegowina, Nr. 27912/02. 226 Im Jahr 2010 vier Urteile: EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355; EGMR, Urteil v. 22.10.2010 – Maria Atanasiu u. a. ./. Rumänien, Nr. 30767/05; EGMR, Urteil v. 23.11.2010 – Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 60041/08 and 60054/08; EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 50973/08. 227 Im Jahr 2011 folgten zwei weitere Urteile: EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien, Nr. 48059/06 und 2708/09; EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Finger ./. Bulgarien, Nr. 37346/05. 228 Stand der Einreichung dieser Arbeit. 229 Im Januar 2012: EGMR, Urteil v. 10.1.2012 – Ananyev u. a. ./. Russland, Nr. 42525/07 und Nr. 60800/08. 221

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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der Jahre 2012230, 2013231, 2014232 bis September 2015233 folgten insgesamt 13 weitere Piloturteile. Der folgende Abschnitt gibt einen kursorischen Überblick über die Anwendungsfelder der echten Piloturteile, deren Kenntnis für die Betrachtung der dogmatischen Grundlagen des Verfahrens unerlässlich ist. 1. Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen Das dritte echte Piloturteil Burdov ./. Russland Nr. 2 vom Januar 2009234 betraf das strukturelle Problem des Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen. Der Beschwerdeführer Burdov wurde nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl von den Militärverantwortlichen zu Rettungsarbeiten herangezogen und in diesem Zeitraum massiver radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Aufgrund der dadurch erlittenen Schädigungen hatte er Anspruch auf verschiedene Sozialleistungen. Da die Behörden diese Leistungen nicht in voller Höhe und nicht zeitgerecht auszahlten, verfolgte der Beschwerdeführer ab 1997 seine Ansprüche vor den nationalen Gerichten. Die Gerichte bestätigten seine Ansprüche, doch eine Reihe der Urteile wurde unterschiedlich lange nicht vollstreckt. Am 20. März 2000 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum EGMR. Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil Burdov ./. Russland 235 vom 7. Mai 2002 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 1 des 1. ZP-EMRK (Schutz des Eigentums) fest. Das Urteil Burdov betraf innerstaatliche Urteile, die zugunsten des Beschwerdeführers ergangen waren, die erst mit zeitlicher Verzögerung vollstreckt worden sind. 230 Bis Ende 2012 erließ der Gerichtshof fünf weitere Piloturteile: EGMR, Urteil v. 31.7.2012 – Manushage Puto u. a. ./. Albanien, Nr. 604/07, 43628/07, 46684/07 und 34770/09; EGMR, Urteil v. 20.3.2012 – Ümmühan Kaplan ./. Türkei, Nr. 24240/07; EGMR, Urteil v. 3.4.2012 – Michelioudakis ./. Griechenland, Nr. 54447/20; EGMR, Urteil v. 30.10.2012 – Glykantzi ./. Griechenland, Nr. 40150/09 und EGMR (GK), Urteil v. 26.6.2012 – Kuric´ u. a. ./. Slowenien, Nr. 26828/06. 231 Im Jahr 2013 waren es zwei Piloturteile: EGMR, Urteil v. 8.1.2013 – Torreggiani u. a. ./. Italien, Nr. 43517/09, 46882/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/10, 37818/10 und EGMR, Urteil v. 3.9.2013 – M.C. u. a. ./. Italien, Nr. 5376/11. 232 Im Jahr 2014 folgten zwei weitere Urteile: EGMR (GK), Urteil v. 16.7.2014 – Alisˇic´ u. a. ./. Bosnien und Herzegowina, Kroatien, die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien, Serbien und Slowenien, Nr. 60642/08; EGMR, Urteil v. 1.7.2014 – Gerasimov u. a. ./. Russland, Nr. 29920/05, 3553/06, 18876/10, 61186/10, 21176/11, 36112/11, 40841/11, 453871/11, 55929/11, 60822/11. 233 Bis August 2015 folgten vier weitere Piloturteile: Neshkov u. a. ./. Bulgarien, Urteil v. 27.01.2015, Nr. 36925/10, 21487/12, 72893/12, 73196/12, 77718/12 und 9717/ 13; EGMR, Urteil v. 10.3.2015 – Varga u. a. ./. Ungarn, Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13; EGMR, Urteil v. 7.7.2015 – Rutkowski u. a. ./. Polen, Nr. 72287/10, 13927/11 und 46187/11; EGMR, Urteil v. 16.7.2015 – Gazsó ./. Ungarn, Nr. 48322/12. 234 EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04. 235 EGMR, Urteil v. 7.5.2002 – Burdov ./. Russland, Nr. 59498/00.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Der Vollzug eines Urteils des EGMR ist nach Ansicht des Gerichtshofs integraler Bestandteil des Verfahrens im Sinne des Art. 6 EMRK. Eine unangemessen lange Verzögerung der Umsetzung eines bindenden Urteils kann eine Konventionsverletzung darstellen. Die Angemessenheit richte sich nach der Komplexität des Vollzugsverfahrens, nach dem Verhalten des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörde sowie nach der Höhe und Natur der Entschädigungssumme, die der Gerichtshof in vergleichbaren Fällen zugesprochen hat. Im vorliegenden Fall war die Durchführung der Urteile mit keiner besonderen Schwierigkeit verbunden; vielmehr war lediglich eine bestimmte Geldsumme auszuzahlen. Der Gerichtshof stellte daher eine unangemessene Verzögerung fest.236 Obwohl der Beschwerdeführer das Fehlen einer wirksamen innerstaatlichen Beschwerde nicht geltend gemacht hat, prüfte der EGMR auch eine Verletzung des Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde). Ähnlich wie im Zusammenhang mit seiner Rechtsprechung hinsichtlich überlanger Verfahrensdauer237 sieht der Gerichtshof im Falle des Nichtvollzugs bzw. verspäteten Vollzugs von Urteilen die beste Lösung in einem präventiv wirkenden Rechtsbehelf, der den rechtzeitigen Vollzug sichert. Es steht den Staaten aber auch frei, einen nur kompensatorischen Rechtsbehelf einzuführen. Da im Fall Russlands weder ein wirksamer präventiver noch kompensatorischer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, bejahte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK.238 Im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK hob der EGMR hervor, dass rund 700 ähnliche Fälle bei ihm anhängig seien. Im Hinblick auf Art. 6 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK erachtete der EGMR umfassende und komplexe Maßnahmen für erforderlich, sah aber davon ab, spezifische generelle Maßnahmen vorzuschlagen. Die Situation war anders in Hinblick auf die Verletzung von Art. 13 EMRK. Die Feststellungen des Gerichtshofs erforderten die Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs, der eine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung ermöglicht. Der Gerichtshof verwies auf ein Urteil des russischen Verfassungsgerichtshofs, welches das Parlament im Januar 2001 aufgefordert hat, einen Mechanismus zur Entschädigung überlanger Verfahrensdauer einzuführen und begrüßte die Gesetzesentwürfe, die am 30. September 2008 in das Parlament eingebracht worden waren.239 Der EGMR forderte den beklagten Staat auf, den Rechtsbehelf, der den Grundsätzen der Konvention entsprechen müsse, binnen sechs Monaten nach dessen Rechtskraft den Betroffenen zur Verfügung zu stellen.240 236

EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), a. a. O., Ziff. 62–88. EGMR (GK), Urteil v. 29.3.2006 – Scordino ./. Italien (Nr. 1), Nr. 36813/97, NJW 2007, S. 1259 ff., Ziff. 183 ff. 238 EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), a. a. O., Ziff. 96–117. 239 EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), Ziff. 136–141. 240 EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), Tenor Ziff. 6. 237

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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Die Entscheidung über die parallelen Beschwerden, die noch nicht beim EGMR anhängig gemacht wurden, suspendierte der Gerichtshof für ein Jahr ab Rechtskraft des Urteils, soweit diese noch nicht beim Gerichtshof anhängig gemacht wurden. Hinsichtlich der zum Zeitpunkt des Urteilserlasses bereits anhängig gemachten und an die Regierung gemäß Art. 54 Abs. 2 lit. b EGMR-VerfO kommunizierten Beschwerden hielt der Gerichtshof angesichts des geltend gemachten Rechtsverstoßes der überlangen Verfahrensdauer und dem Umstand, dass die Betroffenen schon seit Jahren auf eine gerichtliche Entscheidung warten, eine erneute Rückverweisung auf den nationalen Rechtsweg für nicht angemessen.241 Der EGMR verpflichtete daher den beklagten Staat hinsichtlich der bereits anhängigen Beschwerden den Betroffenen innerhalb eines Jahres ab Rechtskraft des Urteils eine gerechte Entschädigung zuzusprechen.242 In ähnlicher Weise wie im Fall Burdov tenorierte der EGMR in den anderen 2009 erlassenen Piloturteilen gegen Moldawien und die Ukraine, die beide ebenfalls den Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen betrafen.243 Im engen Zusammenhang mit dem Urteil Burdov steht die Rechtssache Gerasimov ./. Russland,244 die den Nichtvollzug bzw. verspäteten Vollzug von gerichtlichen Entscheidungen betraf, mittels derer die staatlichen Behörden verurteilt worden waren, den Beschwerdeführern eine Unterkunft oder andere Naturalvergünstigungen zur Verfügung zu stellen. Das Entschädigungsgesetz Nr. 68-FZ, das Russland in Reaktion auf das Urteil Burdov im Mai 2010 in Kraft gesetzt hat, sah bei einem verspäteten Urteilsverzug eine aus dem Staatshaushalt zu zahlende Geldentschädigung vor, erfasste aber keine Naturalleistungen.245 Obwohl das russische Verfassungsgericht die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Entschädigungsgesetzes für verfassungswidrig erklärt hat,246 hatte Russland bis zu dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs keine Anstrengungen unternommen, um dieses Problem zu lösen. Der Aktionsplan, den die Regierung auf Basis von Art. 46 EMRK am 13. Mai 2014 dem Ministerkomitee zur Verfügung gestellt hat, nannte keine Maßnahmen in Bezug auf das festgestellte Problem.247 In dem Piloturteilverfahren stellte der Gerichtshof daher einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK, Art. 6 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK fest. Im Zusammenhang mit Art. 46 EMRK betonte der Gerichtshof, dass er bereits über 241

EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), Ziff. 144–146. EGMR, Urteil Burdov ./. Russland (Nr. 2), Tenor Ziff. 7. 243 EGMR, Urteil v. 28.7.2009 – Olaru u. a. ./. Moldawien, Nr. 476/07, 22539/05, 17911/08,13136/07 und EGMR, Urteil v. 15.10.2009 – Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/04. 244 EGMR, Urteil v. 1.7.2014 – Gerasimov u. a. ./. Russland, Nr. 29920/05, 3553/06, 18876/10 u. a. 245 EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 92. 246 EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 95–97. 247 EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 114 und 138. 242

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

150 parallele Beschwerden entschieden habe. Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren 600 weitere parallele Beschwerden bei ihm anhängig.248 In Bezug auf die Verletzung der Art. 6 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK beschränkte sich der Gerichtshof auf die Feststellung, dass das zugrunde liegende Problem komplexer Natur sei, welches die Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen erfordere, ohne die erforderlichen Maßnahmen zu spezifizieren.249 Der EGMR verpflichtete Russland aber innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Piloturteils einen effektiven Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen zur Verfügung zu stellen, die eine angemessene Entschädigung für den Nichtvollzug von gerichtlichen Entscheidungen vorsehen, die Naturalleistungen zum Gegenstand haben.250 Bei der Suspendierung der parallelen Beschwerden unterschied der Gerichtshof ähnlich wie im Fall Burdov zwischen nach Erlass des Piloturteils eingereichten Beschwerden und vor Erlass des Piloturteils eingereichten Beschwerden. Hinsichtlich ersteren erklärte der Gerichtshof, die Prüfung der Beschwerden für die Dauer von maximal zwei Jahren zu suspendieren. Hinsichtlich letzteren verpflichtete der Gerichtshof Russland im Urteilstenor, innerhalb von zwei Jahren nach Rechtskraft des Urteils eine angemessene Entschädigung zu gewährleisten. Der EGMR entschied in diesen Fällen, die Verfahren für die Dauer von maximal zwei Jahren nach Rechtskraft auszusetzen.251 2. Eigentum Neben dem Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen markiert der Schutz des Eigentums gemäß Art. 1 des 1. ZP-EMRK ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld der Piloturteile und war bereits Gegenstand der ersten Piloturteile Broniowski und Hutten-Czapska gegen Polen. Im Fall Suljagic´ ./. Bosnien und Herzegowina 252 ging es um die Versäumnisse der Behörden, dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung für den Verlust eines Fremdwährungsguthabens zu leisten. Im Zuge der globalen Wirtschaftskrise der 1970er Jahre war Jugoslawien dazu übergegangen, die Fremdwährungsguthaben seiner Bürger zur Rückzahlung von Auslandsschulden und zur Finanzierung von Importen heranzuziehen. Die alten Fremdwährungsansprüche überlebten den Zerfall Jugoslawiens, und Bosnien-Herzegowina übernahm die volle Haftung für derartige Forderungen. Die früheren Guthaben bei den lokalen Banken sollten infolge einer gesetzlichen Regelung durch Barzahlungen bis zu einem gewissen Wert und im Übri248 249 250 251 252

EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 212, 213. EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 219 ff. EGMR, Urteil Gerasimov, Tenor Ziff. 11, 12. EGMR, Urteil Gerasimov, Ziff. 227–232 und Tenor Ziff. 13 und 14. EGMR, Urteil v. 2.11.2009 – Suljagic´ ./. Bosnien Herzegowina, Nr. 27912/02.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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gen durch Staatsanleihen zurückgezahlt werden.253 Aufgrund der unzureichenden Umsetzung der Gesetze war es dem Beschwerdeführer für viele Jahre nicht möglich, über seine alten Fremdwährungsguthaben zu verfügen. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 1 des 1. ZP-EMRK fest.254 Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren mehr als 1.350 parallele Beschwerden vor dem Gerichtshof anhängig.255 Zur Lösung des strukturellen Problems ordnete der Gerichtshof im Urteilstenor an, dass Bosnien und Herzegowina die Staatsanleihen ausgeben und alle noch ausständigen Raten sowie angefallene Verzugszinsen innerhalb von sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils ausbezahlen müsse. Die Entscheidung über die parallelen Beschwerden wurde suspendiert.256 Eine Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK nahm der EGMR auch im Fall Maria Atanasiu u. a. ./. Rumänien an,257 in dem es um die Rückgabe von in kommunistischer Zeit enteigneten Grundstücke oder die Leistung einer Entschädigung ging. Der Gerichtshof verpflichtete den Staat im Urteilstenor, binnen 18 Monaten wirksamen Rechtschutz zu gewährleisten und suspendierte die Prüfung gleichartiger Beschwerden für diesen Zeitraum. Ähnlich gelagert war der Fall Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien258, der zwanzig albanische Bürger betraf, denen durch endgültige Verwaltungsentscheidungen eine Entschädigung für die Enteignungen unter dem kommunistischen Regime in Albanien zugesprochen worden waren. Die Entscheidungen sind aber nie vollzogen worden. Achtzig ähnliche Beschwerden waren im Zeitpunkt der Entscheidung beim Gerichtshof anhängig gemacht worden. Wie schon in dem Urteil Ramadhi u. a. ./. Albanien259 stellte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK fest, da die Behörden keine hinreichenden Maßnahmen zur Umsetzung der Entscheidungen ergriffen haben. Der EGMR berücksichtigte, dass Albanien eine Reihe von Gesetzen erlassen hat, um eine finanzielle Entschädigung zu gewährleisten. So sah das Eigentumsgesetz von 2004 verschiedene Entschädigungsformen vor wie unter anderem den Zuspruch von gleichartigem Eigentum, von Anteile an Staatsunternehmen oder eine Geldentschädigung, die dem Grundstückswert zum Zeitpunkt der Entscheidung entspricht.260 Das Entschädigungssystem war nach Auffassung des Gerichtshofs in der Praxis aber nicht effektiv. Der Ge253

EGMR, Urteil Suljagic´, Ziff. 27 ff. EGMR, Urteil Suljagic´, Ziff. 55 ff. 255 EGMR, Urteil Suljagic ´ , Ziff. 63. 256 EGMR, Urteil Suljagic ´ , Ziff. 64 und Tenor Ziff. 4 und 5. 257 EGMR, Urteil v. 22.10.2010 – Maria Atanasiu u. a. ./. Rumänien, Nr. 30767/05 und 33800/06. 258 EGMR, Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, Nr. 604/07, 43628/07, 46684/07 und 34770/09. 259 EGMR, Urteil v. 13.11.2007 – Ramadhi u. a. ./. Albanien, Nr. 38222/02. 260 Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, a. a. O., Ziff. 24–30. 254

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

richtshof bemängelte unter anderem, dass die staatlichen Behörden bestimmte Entschädigungsformen nie ausgesprochen haben. So haben Behörden eine finanzielle Entschädigung nur im Hinblick auf das gesamte Eigentum gewährt, nicht aber, wenn die Betroffenen bereits eine Teilrückgabe des Eigentums erhalten haben. Der EGMR kritisierte auch die verfahrensrechtlichen Beschränkungen bei der Höhe der Entschädigungssumme und weitere Mängel. Der Gerichtshof bejahte im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK (Schutz des Eigentums) und Art. 6 Absatz 1 (Recht auf ein faires Verfahren). Im Urteilstenor ordnete der Gerichtshof die Pflicht zur Ergreifung von generellen Abhilfemaßnahmen innerhalb von 18 Monaten nach Rechtskraft des Urteils an, um das Recht auf Entschädigung im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK sicherzustellen.261 Die nach Erlass des Piloturteils anhängig gemachten parallelen Verfahren wurden für die Dauer von 18 Monaten suspendiert. Dagegen erklärte der Gerichtshof, mit der Prüfung der vor Erlass des Piloturteils eingereichten parallelen Beschwerden fortfahren zu wollen.262 Anders als in den vorangegangen Piloturteilen bezüglich Eigentumsverletzungen machte der Gerichtshof nähere Ausführungen, wie die zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen im Einzelnen aussehen können. Er verwies unter anderem auf das Erfordernis einer hinreichenden Datenbasis, die Auskunft gibt über die Verwaltungsentscheidungen, die Verletzung von Eigentumsrechten anerkannt und Entschädigungen zugesprochen haben. Der Gerichtshof betonte die Wichtigkeit eines effektiven und transparenten Entschädigungssystems und die Bereitstellung ausreichender personeller und finanzieller Ressourcen. Das Entschädigungssystem müsse frei sein von überzogenen verfahrensrechtlichen Anforderungen. Diese weiterführenden Hinweise befanden sich allerdings nur in den Urteilsgründen und nicht im Urteilstenor; der Gerichtshof betonte, dass sie indikativer Natur seien.263 Eine konkrete Anordnung im Urteilstenor erfolgte in der Rechtssache M.C. u. a. ./. Italien.264 Dieser Fall betraf 162 italienische Staatsangehörige, die infolge von Bluttransfusionen oder der Verabreichung von Blutkonserven mit dem HIV-Virus, mit Hepatitis B oder Hepatitis C infiziert worden waren. Das Gesetz Nr. 210 vom 25. Februar 1992 sah vor, dass das Gesundheitsministerium den Betroffenen eine Entschädigung zahlt, die sich aus einem festen Geldbetrag und einer Zulage, der sog. „idennità integrativa speziale“ (nachfolgend „IIS“), zusammensetzte. Das italienische Verfassungsgericht entschied 2005, dass sowohl der Festbetrag als auch die IIS einer jährlichen Reevalutiierung auf Basis der Inflationsrate unterliegen. Im Jahr 2010 trat ein Eildekret der Regierung in Kraft und 261 262 263 264

Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, a.a.O., Tenor Ziff. 6. Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, a.a.O., Tenor Ziff. 7 und 8. Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, a.a.O., Ziff. 110–118. EGMR, Urteil v. 3.9.2013 – M.C. u. a. ./. Italien, Nr. 5376/11.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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bestimmte, dass eine Anpassung der IIS an die Inflationsrate nicht statthaft sei und eine auf Reevaluierung der Zulage abzielende Vollstreckungsmaßnahme mit Inkrafttreten des Dekrets keine rechtlichen Wirkungen mehr entfalten würde. Das italienische Verfassungsgericht erklärte aber, dass die Bestimmungen des Eildekrets mit der italienischen Verfassung unvereinbar seien.265 Dennoch profitierten die Beschwerdeführer nicht von einer Reevaluierung. In seiner Entscheidung unterschied der EGMR zwischen Personen, welche die begehrte Reevaluierung vor dem Inkrafttreten des Eildekrets per rechtskräftiger Entscheidung erhalten haben (Gruppe 1) und Personen, bei denen eine derartige Entscheidung nicht vollstreckt wurde (Gruppe 2); Personen, deren Verfahren zum Zeitpunkt des Piloturteils noch immer anhängig war (Gruppe 3); Personen, bei denen einem Entschädigungsantrag stattgegeben wurde, ohne eine Reevaluierung anzuordnen (Gruppe 4) und solchen, welche keine Reevaluierung erhalten und hiergegen auch keine gerichtlichen Schritte eingeleitet haben (Gruppe 5).266 In Hinblick auf Art. 6 EMRK (Recht auf faires Verfahren) erklärte der Gerichtshof in Bezug auf die Gruppe 3 und Gruppe 5 die Beschwerde mangels Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel für unzulässig, bejahte aber im Übrigen einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK und gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK sowie gegen Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 des 1. ZP-EMRK. Der Gerichtshof forderte den beklagten Staat auf, innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Rechtskraft des Piloturteils in Zusammenarbeit mit dem Ministerkomitee einen verbindlichen Zeitplan aufzustellen, innerhalb dessen der Staat durch geeignete gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen die effektive und zügige Sicherung der betroffenen Rechte sicherstellen wird. Die Anordnung präzisierte er dahingehend, dass insbesondere die Zahlung der IIS an alle Personen erfolgen müsse, für die das Gesetz Nr. 210/1992 eine Entschädigung vorgesehen hat, wenn dieser Anspruch behördlich festgestellt worden ist. Dies gelte unabhängig von der Frage, ob der Betroffene bereits ein Verfahren eingeleitet hat oder nicht, um die Entschädigung zu erhalten.267 Die Prüfung der parallelen Beschwerden, die noch nicht an die italienische Regierung übermittelt worden sind, suspendierte der EGMR für den Zeitraum eines Jahres nach Rechtskraft des Piloturteils.268 Konkrete Anordnungen enthielt auch das Urteil Alsˇic´ u. a. ./. Bosnien und Herzegowina, Kroatien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Serbien und Slowenien.269 Es betraf drei Staatsangehörige Bosnien-Herzegowinas, 265

Vgl. EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Ziff. 7–29. EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Ziff. 30. 267 EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Tenor 11. 268 EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Tenor 12. 269 EGMR (GK), Urteil v. 16.7.2014 – Alis ˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina, Kroatien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Serbien und Slowenien, Nr. 60642/08. 266

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

die vor der Auflösung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien („SFRJ“) Sparanlagen in Fremdwährungen bei zwei Banken angelegt haben, die sich im heutigen Bosnien-Herzegowina befinden. Nach dem Zerfall der SFRJ 1991/92 war es den Beschwerdeführern über 20 Jahre lang nicht möglich, auf ihre Gelder zurückzugreifen. Der Gerichtshof sah hierin einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK durch Slowenien und Serbien. Bei den Fremdwährungsveranlagungen handelt es sich nach Auffassung des EGMR um „Eigentum“ im Sinne von Art. 1 des 1. ZP-EMRK. Die fehlende Verfügungsgewalt der Beschwerdeführer über ihr Geld war als Eingriff in die effektive Ausübung von Eigentümerrechten, jedenfalls aber als Verstoß gegen die positive Pflicht der Staaten zur Sicherung der Ausübung dieser Rechte zu werten. Die fehlende Möglichkeit für die Beschwerdeführer, an ihr Geld zu gelangen, basierte zwar auf einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage, war aber nicht verhältnismäßig. Der EGMR berücksichtigte, dass die Staaten im Zusammenhang mit wirtschaftspolitischen Fragen einen weiten Ermessensspielraum haben und dass nach dem Zerfall der SFRJ ein nachvollziehbares Interesse bestand, das Bankensystem zu schützen und keinen unkontrollierten Zugriff auf die umfangreichen Fremdwährungsersparnisse zuzulassen. Trotz dieser besonderen Umstände kam er zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdeführer zu lange auf eine Lösung des Problems haben warten müssen und dass die Staaten kein faires Gleichgewicht zwischen dem Interesse der Gemeinschaft und den Eigentümerrechten der Beschwerdeführer hergestellt haben. Er bejahte daher einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP-EMRK und auch gegen Art. 13 EMRK durch Serbien und Slowenien.270 Da zum Zeitpunkt der Entscheidung der Großen Kammer mehr als 1.850 ähnliche Beschwerden vor dem Gerichtshof anhängig und weitere Beschwerden zu erwarten waren,271 verpflichtete der EGMR Slowenien und Serbien innerhalb von einem Jahr unter Überwachung des Ministerkomitees alle notwendigen Maßnahmen einschließlich Gesetzesänderungen zu ergreifen, um den Beschwerdeführern und allen anderen Personen in vergleichbarer Situation die Rückerstattung der alten Spareinlagen unter gleichen Bedingungen zu ermöglichen wie sie für Staatsbürger gelten, die derartige Ersparnisse an inländischen Zweigstellen der Banken hatten.272 Die Überprüfung der parallelen Beschwerden suspendierte der Gerichtshof für die Dauer eines Jahres.273

270 EGMR, Urteil v. 16.7.2014 a. a. O., Tenor Ziff. 2, 3, 5, und 6. 271 EGMR, Urteil v. 16.7.2014 a. a. O., Ziff. 144. 272 EGMR, Urteil v. 16.7.2014 a. a. O., Tenor Ziff. 10 und 11. 273 EGMR, Urteil v. 16.7.2014 a. a. O., Tenor Ziff. 12.

– Alisˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina u. a., – Alisˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina u. a., – Alisˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina u. a., – Alisˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina u. a.,

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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3. Überlange Verfahrensdauer Mit dem Urteil Rumpf ./. Deutschland,274 das das Problem überlanger Verfahrensdauer gerichtlicher Entscheidungen betraf, erließ der EGMR sein erstes Piloturteil gegen einen alten Mitgliedstaat. Von 1959 bis 2009 hat der Gerichtshof in mehr als vierzig Verfahren gegen Deutschland EMRK-Verstöße wegen überlanger Zivilverfahren festgestellt. In dem Urteil Sürmeli ./. Deutschland von 2006275 kritisierte der Gerichtshof das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen überlange Verfahrensdauer. Angesichts des vor den Parlamentswahlen am 18. September 2005 eingebrachten Gesetzesentwurfs, der eine Untätigkeitsbeschwerde im deutschen Recht verankern sollte, hatte der EGMR von dem Erlass eines Piloturteils zunächst abgesehen.276 Ende Dezember 2007 erklärte die Bundesregierung jedoch, den Gesetzentwurf nicht beschließen zu wollen.277 Der Gerichtshof übte scharfe Kritik, weil zum Zeitpunkt des Urteils Rumpf im Jahr 2010 immer noch keine Umsetzung des Urteils stattgefunden hat.278 Der EGMR begrüßte, dass Deutschland einen neuen Gesetzentwurf zur Einführung eines Rechtsbehelfs bei überlanger Verfahrensdauer vorgelegt hat.279 Da aber noch nicht sicher war, ob und wann der Gesetzesentwurf in Kraft treten wird,280 entschloss sich der EGMR zum Erlass eines Piloturteils. Der EGMR ordnete an, dass Deutschland spätestens innerhalb eines Jahres seit dem Tag, an dem dieses Urteil endgültig wird, einen wirksamen Rechtsbehelf oder mehrere Rechtsbehelfe einführen muss, um seinen Verpflichtungen aus Art. 46 EMRK nachzukommen.281 Eine Suspendierung der parallelen Beschwerden fand nicht statt.282 Auch das Urteil Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland,283 betraf die überlange Verfahrensdauer vor den griechischen Verwaltungsgerichten. Der Gerichts274 EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355. 275 EGMR, Urteil v. 8.6.2006 – Sürmeli ./. Deutschland, EuGRZ 2007, S. 255. 276 EGMR, Urteil v. 8.6.2006 – Sürmeli ./. Deutschland, EuGRZ 2007, S. 255, Ziff. 139. 277 Siehe die Antwort der BReg. auf die Kleine Anfrage der FDP v. 28.12.2007, BTDrs. 16/7655. 278 EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355 (3358), Ziff. 72: „Dass Deutschland verpflichtet ist, einen solchen Rechtsbehelf einzuführen, steht seit dem Sürmeli-Urteil aus dem Jahr 2006 fest wie die Regierung auch zugesteht. Das zeigt ein so gut wie vollkommenes Widerstreben dagegen, das Problem in angemessener Zeit zu lösen.“ 279 Der neue Regierungsentwurf kombiniert präventive und kompensatorische Elemente. Näher hierzu: Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, S. 205 ff. 280 EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355 (3358), Ziff. 72. 281 EGMR, Urteil Rumpf, a. a. O., Tenor Ziff. 5. 282 EGMR, Urteil Rumpf, a. a. O., Ziff. 75. 283 EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 50973/08.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

hof stellte einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK fest. Der Gerichtshof fasste die wesentlichen Kriterien zusammen, anhand derer er überprüft, ob die innerstaatlich zur Verfügung gestellte Entschädigungsmöglichkeit für überlange Gerichtsverfahren als effektiv zu werten ist. Demnach muss über den Schadensersatzanspruch innerhalb einer angemessenen Frist entschieden werden; die Entschädigung muss prompt ausgezahlt werden, d.h. grundsätzlich nicht später als sechs Monate nach dem Datum, an dem die Entscheidung über die Schadensersatzleistung vollstreckbar wurde; die Verfahrensregelungen, die dem Schadensersatzanspruch zugrunde liegen, müssen mit den Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK im Einklang stehen; die Gebühren, die im Zusammenhang mit der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs anfallen, dürfen keine übermäßige Bürde darstellen; schließlich muss die Höhe der Entschädigung der in vergleichbaren Fällen vom Gerichtshof ausgesprochenen Entschädigungen entsprechen.284 Da der Gerichtshof diese Voraussetzungen nicht erfüllt sah, verpflichtete er Griechenland innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Urteils einen wirksamen Rechtsbehelf oder eine Kombination aus Rechtsbehelfen zur Verfügung zu stellen, die den von dem strukturellen Mangel betroffenen Personen eine angemessene Entschädigung bereitstellt.285 Ähnlich urteilte der Gerichtshof in den Fällen Michelioudakis ./. Griechenland und Glykantzi ./. Griechenland 286 und in den Fällen Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien und Finger ./. Bulgarien287, die das Problem überlanger Verfahrensdauer vor den Straf- und Zivilgerichten in Griechenland und in Bulgarien betrafen. Auch die Türkei war wiederholt wegen des Problems überlanger Verfahrensdauer verurteilt worden. In dem Piloturteil Ümmühan Kaplan ./. Türkei 288 ging es um einen Beschwerdeführer, der im Dezember 1970 ein Verfahren zur Aufhebung der Entscheidung des Katasteramts bezüglich der Klassifizierung von bestimmten Flurstücken eingeleitet hat. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Obwohl der Gerichtshof gesetzgeberische Reformen wie die Einführung eines Individualbeschwerdeverfahrens vor dem türkischen Verfassungsgericht mit Wirkung zum 23. September 2012 zur Kenntnis genommen hat, stellte er unter Anwendung des Piloturteilsverfahrens einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK fest. Hinsichtlich

284

EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Athanasiou u. a. ./. Griechenland, a. a. O. Ziff. 55. EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Athanasiou u. a. ./. Griechenland, a. a. O., Tenor Ziff. 5. 286 EGMR, Urteil v. 3.4.2012 – Michelioudakis ./. Griechenland, Nr. 54447/10 und EGMR, Urteil v. 30.10.210 – Glykantzi ./. Griechenland, Nr. 40150/09. 287 EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien, Nr. 48059/06, 2708/09 und EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Finger ./. Bulgarien, Nr. 37346/05. 288 EGMR, Urteil v. 20.3.2012 – Ümmühan Kaplan ./. Türkei, Nr. 24240/07. 285

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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der parallelen Beschwerden, die beim Gerichtshof bereits anhängig gemacht worden waren und denjenigen, die nach Urteilsverkündung und bis zum Inkrafttreten des Individualbeschwerdefahrens am 23. September 2012 anhängig gemacht werden, verpflichtete der Gerichtshof die Türkei, innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Piloturteils einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, mit dem die Betroffenen eine angemessene und ausreichende Entschädigung einfordern können und beschloss, die Prüfung der noch nicht kommunizierten Beschwerden für ein Jahr zu suspendieren.289 Zuletzt sind auch gegen Polen und Ungarn Piloturteile wegen überlanger Verfahrensdauer ergangen.290 4. Wahlrecht und Privat- und Familienleben Im Fall Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich291 waren die Beschwerdeführer aufgrund ihres Status als Strafgefangene von der Teilnahme an den Wahlen in 2009 zum Europäischen Parlament und an den nationalen Parlamentswahlen in 2010 ausgeschlossen worden. Bereits im Fall Hirst ./. Vereinigtes Königreich292 hatte der EGMR festgestellt, dass die Staaten im Rahmen von Art. 3 des 1. ZP-EMRK einen weiten, nicht aber einen unbegrenzten Ermessensspielraum haben. Der Entzug des Wahlrechts von Strafgefangenen ohne Berücksichtigung der Haftdauer und Umstände des Einzelfalls stelle eine willkürliche Beschränkung eines zentralen Konventionsrechts dar. Der EGMR stellte fest, dass in den fünf Jahren seit dem Urteil Hirst keine Gesetzesänderung erfolgt ist und bereits 1.500 weitere Beschwerden registriert wurden. Rund 70.000 Strafgefangene seien potentiell von dem Problem betroffen.293 Der EGMR sah davon ab, den Inhalt der erforderlichen legislativen Maßnahmen näher zu beschreiben, da es zahlreiche Wege gibt, Wahlsysteme zu organisieren. Der EGMR gab dem Vereinigten Königreich jedoch auf, innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils Vorschläge für eine konventionsrechtskonforme Ausgestaltung der fraglichen Wahlrechtsgesetze vorzulegen.294 Die Entscheidung über die parallelen Beschwerden wurde suspendiert.295

289 EGMR, Urteil v. 20.3.2012 – Ümmühan Kaplan ./. Türkei, a. a. O. Tenor Ziff. 5 und 6. 290 EGMR, Urteil v. 7.7.2015 – Rutkowski u. a. ./. Polen, Nr. 72287/10, Nr. 13927/11 und Nr. 46187/11 und EGMR, Urteil v. 16.7.2015 – Gazsó ./. Ungarn, Nr. 48322/12. 291 EGMR, Urteil v. 23.11.2010 – Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 60041/08 und Nr. 60054/08. 292 EGMR (GK), Urteil v. 6.10.2005 – Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Nr. 74025/01. 293 EGMR, Urteil Hirst, a. a. O., Ziff. 111. 294 EGMR, Urteil Hirst, a. a. O., Ziff. 115 und Tenor Ziff. 6. 295 EGMR, Urteil Hirst, a. a. O., Ziff. 120–122.

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

In dem Fall Kuric´ u. a. ./. Slowenien296 stellte die Große Kammer des Gerichtshofs einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit einem Verstoß gegen Art. 13 EMRK und Art. 14 EMRK fest. Bis zu dem 25. Juni 1991, als Slowenien seine Unabhängigkeit erklärte, waren die Beschwerdeführer Bürger der Sozialistischen Republik Jugoslawien und gleichzeitig Bürger einer ihrer Teilrepubliken und hatten ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Slowenien. Nach der Unabhängigkeitserklärung bestimmte das slowenische Staatsbürgerschaftsrecht, dass die Bürger der ehemaligen Teilrepubliken unter bestimmten Voraussetzungen die slowenische Staatsbürgerschaft erlangen können, soweit sie innerhalb von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes diese beantragen. Bürger der ehemaligen Teilrepubliken, die dies versäumt hatten oder deren Anträge abgelehnt worden sind, wurden nach dem Fremdengesetz mit Wirkung vom 26. Februar 1992 zu Fremden und – ohne eine offizielle Benachrichtigung – ihre Namen aus dem Register für dauerhaft niedergelassene Ausländer entfernt. Mehr als 25.000 Bürger verloren dadurch ihren dauerhaften Aufenthaltsstatus und wurden fortan auch als „Ausradierte“ bezeichnet. Viele Ausradierte verloren als Folge ihren Beruf oder ihre Wohnung, konnten nicht mehr ausreisen oder wurden staatenlos und des Landes verwiesen. Das Verfassungsgericht erklärte 1999 die maßgebliche Bestimmung im Fremdengesetz für verfassungswidrig. Erst 2010 trat ein Gesetz in Kraft, das den Ausradierten den Erwerb einer ständigen Aufenthaltserlaubnis nicht nur mit Wirkung für die Zukunft, sondern mit Rückwirkung gestattete. Der Gerichtshof stellte fest, dass die slowenischen Behörden versäumt haben, den Status der Ausradierten mit den beträchtlichen Konsequenzen für die Beschwerdeführer mit der erforderlichen Geschwindigkeit zu beseitigen und sah hierin einen Verstoß gegen ihren Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Den Beschwerdeführern war keine angemessene finanzielle Wiedergutmachung geleistet worden. Der Gerichtshof ordnete daher an, dass die Regierung innerhalb eines Jahres ein Entschädigungssystem für die Ausradierten aufzustellen habe und beschloss, die Prüfung der parallelen Beschwerden in dieser Zeit zu suspendieren.297 5. Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung Im Fall Ananyev u. a. ./. Russland 298 hatten sich drei russische Staatsangehörige mit ihren Beschwerden an den EGMR gewandt, um die schlechten Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen geltend zu machen. Der EGMR 296

EGMR (GK), Urteil v. 26.6.2012 – Kuric´ u. a. ./. Slowenien, Nr. 26828/06. EGMR (GK), Urteil v. 26.6.2012 – Kuric´ u. a. ./. Slowenien, a. a. O., Tenor Ziff. 9 und Ziff. 415. 298 EGMR, Urteil v. 10.1.2012 – Ananyev u. a. ./. Russland, Nr. 42525/07 und Nr. 60800/08. 297

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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bejahte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 13 EMRK. Die fundamentale Konventionsbestimmung des Art. 3 EMRK verbietet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine unmenschliche Behandlung vor, wenn sie absichtlich bei dem Opfer heftigen körperlichen oder seelischen Schmerz bewirkt. Eine erniedrigende Behandlung wird bejaht, wenn sie im Opfer Gefühle der Angst, Ohnmacht oder Minderwertigkeit erzeugt, die herabwürdigend oder demütigend sind.299 Im Zusammenhang mit der erniedrigenden Behandlung ist keine Absicht durch den Handelnden erforderlich.300 Bereits im Fall Kalashnikov ./. Russland hatte der Gerichtshof festgestellt, dass die Haftbedingungen eine erniedrigende Behandlung darstellen und einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen können. Der Gerichtshof hatte dabei die starke Überbelegung der Zellen301 und die unhygienischen Verhältnisse und ihr nachteiliger Einfluss auf die Betroffenen in Kombination mit der Länge der Inhaftierung berücksichtigt.302 Im vorliegenden Fall stellte der EGMR erneut unangemessene Haftbedingungen fest und betonte, dass er seit dem Urteil Kalashnikov in über 80 vergleichbaren Fällen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und/ oder Art. 13 EMRK festgestellt hat und weitere 250 Verfahren anhängig waren. Den Beschwerden lagen die gleichen Mängel zugrunde: Überfüllung, zu wenig Licht und frische Luft sowie fehlende Privatsphäre bei der Nutzung der sanitären Einrichtungen.303 Nach Ansicht des EGMR sei das Problem der unzumutbaren Haftbedingungen komplex und bedürfe einer umfassenden Reform der gesetzlichen Regelungen und Praktiken. Obwohl der Gerichtshof es nicht als seine Aufgabe betrachtete, komplexe Reformmaßnahmen anzuweisen, gab er in den Urteilsgründen ausführliche Hinweise, wie eine Verletzung des Art. 3 EMRK beseitigt werden könne. Dabei sei insbesondere das Problem der Überfüllung zu beachten, welches am besten durch eine Reduzierung der Gefängnisinsassen zu bewältigen sei. So habe der Gerichtshof bereits in mehreren Fällen eine überlange Untersuchungshaft festgestellt. Der EGMR verwies außerdem auf die Notwendigkeit einstweiliger Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Überfüllung.304 299

EGMR, Urteil v. 26.10.2000 – Kudla ./. Polen, Nr. 30210/96, Ziff. 92. EGMR, Urteil v. 19.4.2001 – Peers ./. Griechenland, Nr. 28524/95, Ziff. 74. 301 Im Fall Kalashnikov war der Beschwerdeführer in einer Zelle, die nach seinen Angaben 17 m2 umfasste (nach Angaben der Regierung 20.8 m2), während seiner Gefangenschaft mit 18 bis 24 weiteren Insassen deterniert gewesen. Der Gerichtshof verwies auf die Standards des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe („CPT“), wonach eine Größe von 7 m2 pro Gefangenen vorgesehen ist (2nd General Report of the CPT’s activities, CPT/Inf (92) 3, Rn. 43). Im Fall des Beschwerdeführers waren es jedoch nur 0,9 bis 1,9 m2 – siehe EGMR, Urteil v. 15.7.2002 – Kalashnikov ./. Russland, Nr. 47095/99, Ziff. 97. 302 EGMR, Urteil v. 15.7.2002 – Kalashnikov ./. Russland, Nr. 47095/99, Ziff. 101– 103. 303 EGMR, Urteil Ananyev, a. a. O., Ziff. 184 und 185. 304 EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Ziff. 195–209. 300

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Im Zusammenhang mit der Verletzung des Art. 13 EMRK wies der Gerichtshof den beklagten Staat an, innerhalb von zwölf Monaten nach Verkündung des Urteils wirksame präventive und kompensatorische Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, mit denen die inadäquaten Haftbedingungen geltend gemacht und die Betroffenen, die bereits vor Urteilsverkündung ihre Beschwerde eingelegt haben, entschädigt werden können. Die Anordnung in Bezug auf Art. 13 EMRK wurde in den Urteilstenor aufgenommen.305 Angesichts der besonderen Bedeutung des betroffenen Konventionsrechts verzichtete der Gerichtshof auf die Suspendierung der parallelen Beschwerden.306 Die Überbelegung der innerstaatlichen Gefängnisse war auch Gegenstand des Piloturteils Torreggiani u. a. ./. Italien.307 Der EGMR stellte fest, dass sich die Beschwerdeführer zwischen 14 und 54 Monaten jeweils mit zwei weiteren Personen eine Zelle von 9 m2 teilen mussten. Die Situation wurde durch das Fehlen von Warmwasser für längere Zeit und unzureichende Belüftung und Beleuchtung in den betroffenen Gefängnissen verschlimmert. Der Gerichtshof sah hierin eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Zur Zeit der Entscheidung waren mehrere hundert parallele Beschwerden beim Gerichtshof anhängig. Trotz der von Italien im Jahr 2010 durchgeführten gesetzgeberischen Maßnahmen blieb die Überbelegungsquote sehr hoch. Der Gerichtshof verwies auf die Empfehlungen des Ministerkomitees Nr. (99)22 und Nr. (2006)13, wonach Staatsanwälte und Richter soweit möglich auch auf Alternativen zur Haft zurückgreifen sollen.308 Ferner betonte er, dass bei Haftbedingungen präventive und kompensatorische Abhilfe nebeneinander bestehen müssen. Die Verletzung des Rechts, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden, sei so rasch wie möglich abzustellen und den Betroffenen für die erlittene Verletzung eine Entschädigung zu gewähren.309 Der Gerichtshof ordnete daher an, dass die italienischen Behörden innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Urteils einen Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen einrichten müssen, die präventive und kompensatorische Wirkung haben und eine wirksame Entschädigung gewährleisten.310 Der Gerichtshof entschied, dass die Beschwerden, die noch nicht an die italienische Regierung zum Zeitpunkt der Entscheidung weitergeleitet worden waren, für die Dauer eines Jahres ab Rechtskraft des Urteils zu suspendieren.311 Auch gegen Bulgarien und Ungarn sind Piloturteile wegen konventionswidriger Haftbedingungen bzw. Überfüllung der Gefängnisse ergangen. Der EGMR 305 306 307 308 309 310 311

EGMR, Urteil M.C. u. a. ./. Italien, a. a. O., Tenor Ziff. 7 und 8. EGMR, Urteil Ananyev, a. a. O., Ziff. 235 ff. EGMR, Urteil v. 8.1.2013 – Torreggiani u. a. ./. Italien, Nr. 43517/09 u. a. EGMR, Urteil Torreggiani u. a. ./. Italien, Ziff. 95. EGMR, Urteil Torreggiani u. a. ./. Italien, Ziff. 96. EGMR, Urteil Torreggiani u. a. ./. Italien, Tenor Ziff. 4. EGMR, Urteil Torreggiani u. a. ./. Italien, Tenor Ziff. 5.

B. Die Entwicklung der Piloturteile

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stellte jeweils eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 13 EMRK fest und verpflichtete Bulgarien in dem Piloturteil Neshkov u. a. ./. Bulgarien312 innerhalb von 18 Monaten nach Rechtskraft des Urteils wirksame Rechtsbehelfe in Bezug auf die Haftbedingungen einzuführen, die sowohl präventiv als auch kompensatorisch wirken.313 Hinsichtlich Ungarn ordnete der EGMR im Fall Varga u. a. ./. Ungarn314 an innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils einen Zeitplan zur Verfügung zu stellen, wonach ein wirksamer Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen zur Verfügung gestellt werden, die präventiver und kompensatorischer Natur sind, um effektive Abhilfe für Konventionsverletzungen infolge der überfüllten Gefängnisse zu schaffen.315 Eine Suspendierung der parallelen Beschwerden fand nicht statt.

VII. Fazit Nach dem Erlass des ersten Piloturteils gegen Polen am 22. Juni 2004 bis Ende 2008 hat der Gerichtshof zunächst nur ein weiteres echtes Piloturteil erlassen. In den beiden ersten Piloturteilen war der EGMR auf günstige Vorbedingungen durch nationale Gerichtsentscheidungen und Gesetzgebungsinitiativen gestoßen. Den Bedenken einiger Autoren, der Gerichtshof werde auch weiterhin nur zurückhaltend Gebrauch von dem Piloturteilsverfahren machen, ist der EGMR mit dem Erlass seines dritten echten Piloturteils Burdov ./. Russland Nr. 2 vom 15. Januar 2009 entschieden entgegengetreten. Gleich in mehrfacher Hinsicht erweiterte der Gerichtshof hier den Gebrauch des Piloturteilverfahrens. Anders als die beiden ersten Piloturteile wurde das Urteil Burdov nicht von der Großen Kammer, sondern von der ersten Kammer des Gerichtshofs erlassen. Der Gerichtshof machte deutlich, dass er keine Notwendigkeit sieht, das Verfahren auf die Große Kammer zu beschränken. Erstmals setzte der EGMR in dem Urteilstenor eine Frist für die Einführung eines effektiven Rechtsbehelfs, mit dem das strukturelle Problem geltend gemacht werden kann, und erhöhte so den Druck auf den Staat zum schnellen Handeln. Während die beiden ersten Piloturteile strukturell-spezifische Mängel, d.h. einen abgeschlossenen Personenkreis betrafen, handelte es sich im Fall Burdov um den Nichtvollzug gerichtlicher Entscheidungen und somit um einen systemischen Mangel.316

312 EGMR, Urteil v. 27.01.2015 – Neshkov u. a. ./. Bulgarien, Nr. 36925/10, 21487/ 12, 72893/12, 73196/12, 77718/12 und 9717/13. 313 EGMR, Urteil Neshkov u. a. ./. Bulgarien, Tenor Ziff. 7. 314 EGMR, Urteil v. 10.03.2015 – Varga u. a. ./. Ungarn, Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13. 315 EGMR, Urteil Varga u. a. ./. Ungarn, Tenor Ziff. 9. 316 Im Fall des systemischen Mangels beschränkt der EGMR die Anordnung aber auf die Einführung eines Rechtsbehelfs (Art. 13 EMRK) unter Beachtung der dazu von dem EGMR aufgestellten Anforderungen – siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. II. 3. d).

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2. Teil: Die Piloturteile als Reaktion auf repetitive Beschwerden

Der EGMR hat das Verfahren in der Folge auf alle Konventionsstaaten – neue wie alte – gleichermaßen angewandt. Obwohl die Mehrzahl der Piloturteile die osteuropäischen Mitgliedstaaten betrafen, hat der EGMR mehrere Piloturteile gegen alte Mitgliedstaaten erlassen. Während die ersten Urteile den Eigentumsschutz gemäß Art. 1 des 1. ZP-EMRK und das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK zum Gegenstand hatten, hat der EGMR das Verfahren frühzeitig auch auf andere Konventionsrechte erstreckt. Der Fall Greens ./. Vereinigtes Königreich, der den Ausschluss von Strafgefangenen von ihrem Wahlrecht gemäß Art. 3 des 1. ZP-EMRK betraf, und das Urteil Ananyev ./. Russland vom 10. Januar 2012, in dem der Gerichtshof einen Verstoß gegen das Verbot der erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK feststellte, verdeutlichen die Bereitschaft des Gerichtshofs, das Verfahren auch auf politisch sensible Bereiche und bei massiven Konventionsverletzungen anzuwenden.317 Die Zeit der Erprobung und der Zurückhaltung des EGMR bei der Anwendung des Piloturteilsverfahrens ist damit zu Ende.

VIII. Kodifizierung des Piloturteilsverfahrens in der EGMR-VerfO Das Piloturteilsverfahren hat sich etabliert und ist aus der Rechtsprechung des EGMR nicht mehr wegzudenken. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die Kodifizierung des Piloturteilsverfahrens in Art. 61 der EGMR-VerfO am 21. Februar 2011. Der EGMR reagierte damit auf die Aufforderung der Mitgliedstaaten anlässlich der Konferenz von Interlaken, klare und voraussehbare Maßstäbe für das Piloturteilsverfahren zu setzen.318 Art. 61 EGMR-VerfO fasst in zehn Absätzen die Wesensmerkmale des Piloturteilsverfahrens zusammen, die sich mit den bereits herausgearbeiteten Charakteristika decken, und sichert die prozessualen Rahmenbedingungen, insbesondere Informationspflichten des EGMR und das rechtliche Gehör der Beteiligten. Der EGMR hat danach bei Vorliegen eines strukturellen Mangels ein Ermessen, ob er ein Piloturteilsverfahren einleitet. Den Parteien ist zuvor rechtliches Gehör zu gewähren. Der Gerichtshof bezeichnet die 317 Diese Bereitschaft hatte sich bereits zuvor durch den Erlass von Quasi-Piloturteilen in Hinblick auf Art. 3 EMRK und Art. 5 EMRK angekündigt. So hat der Gerichtshof im Fall Poghossian ./. Georgien schwere Defizite im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung der Inhaftierten in den Gefängnissen festgestellt (Art. 3 EMRK) und den beklagten Staat in den Urteilsgründen aufgefordert, durch legislative und administrative Maßnahmen Abhilfe zu schaffen, um die Ausbreitung von Hepatitis C zu verhindern (EGMR, Urteil v. 24.2.2009, Nr. 9870/07, Ziff. 70). Im Fall Kauczor ./. Polen verwies der Gerichtshof auf das strukturelle Problem der überlangen Dauer der Untersuchungshaft (Art. 5 Abs. 3 EMRK) und obwohl er die ersten durch Polen eingeleitete Maßnahmen berücksichtigte, forderte er zur Vornahme weiterer Schritte auf (EGMR, Urteil v. 3.2.2009, Nr. 45219/06, Ziff. 62). 318 Erklärung von Interlaken v. 19.2.2010 anlässlich der Konferenz über die Zukunft des EGMR, Aktionsplan, Ziff. 7 b).

B. Die Entwicklung der Piloturteile

131

Art des festgestellten strukturellen Mangels und die Abhilfemaßnahmen, die der Staat aufgrund des Urteilstenors auf innerstaatlicher Ebene zu ergreifen hat. Der Gerichtshof kann dem Staat für die zu ergreifenden Maßnahmen eine Frist setzen und die Entscheidung über die gerechte Entschädigung bzw. über die parallelen Beschwerden zurückstellen. Im Fall der Suspendierung der parallelen Beschwerden ist der betroffene Beschwerdeführer hiervon zu unterrichten. Dem Gerichtshof steht es frei, die Prüfung einer zurückgestellten Beschwerde jederzeit wieder aufzunehmen, wenn dies im Interesse einer geordneten Rechtspflege geboten ist. Er muss die Prüfung wieder aufnehmen, wenn der betroffene Staat die erforderlichen Maßnahmen nicht ergreift. Wird in einer Pilotsache eine gütliche Einigung erzielt, muss diese eine Erklärung des beklagten Staates über die geplanten Abhilfemaßnahmen mit Wirkung über den Einzelfall hinaus enthalten. Der Gerichtshof hat das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung des Europarats, den Generalsekretär des Europarats und den Menschenrechtskommissar über den Erlass eines Piloturteils zu unterrichten und auf seiner Webseite über die Einleitung, den Gang und den Abschluss eines jeden Piloturteilsverfahrens zu informieren. Die Kodifikation des Piloturteilsverfahrens in der Verfahrensordnung ist zu begrüßen. Sie beinhaltet aber keine Antwort auf die Frage nach der Rechtsgrundlage für das Verfahren in der Konvention. Der EGMR erlässt nach Art. 26 EMRK selbst die Verfahrensordnung. Die Konventionsstaaten können durch die Verfahrensordnung aber nicht weitergehend gebunden werden, als sie dies mit der Ratifikation der EMRK akzeptiert haben. Damit bleibt die zentrale Frage zu beantworten, ob und inwieweit die Piloturteile, d.h. insbesondere die verbindliche Anordnung von Abhilfemaßnahmen mit Wirkung über den Einzelfall mit der Konvention in Einklang stehen.

Dritter Teil

Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik Der zunehmend selbstbewusste Umgang des EGMR mit dem neuen Verfahren beruht auf einer Notwendigkeit. Das enorme Potential des Verfahrens brachliegen zu lassen, wäre angesichts der Beschwerdezahlen fatal gewesen. Während im September 2011 die Zahl der anhängigen Beschwerden noch bei 161.000 lag, konnte Ende 2013 erstmals ein Rückgang auf 99.900 Beschwerden und bis Ende 2014 ein Rückgang auf 70.000 Beschwerden festgestellt werden.1 Neben den Entlastungsmaßnahmen durch das 14. Protokoll zur EMRK haben die Piloturteile ihren Beitrag zu dem Rückgang der Beschwerdezahlen geleistet. Wie Richter Zupancˇicˇ in seinem Sondervotum zu dem ersten Piloturteil Broniowski ./. Polen betont, kann die Bedrohung der Effektivität des Konventionssystems die rechtsdogmatische Grundlage für das Piloturteilsverfahren nicht ersetzen.2 Auch die Berufung auf die Resolution Res(2004)3 des Ministerkomitees liefert allein keine ausreichende Absicherung für das Piloturteilsverfahren, da diese rein politische Legitimation keine rechtliche Verbindlichkeit entfaltet.

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns In seinem Sondervotum zu dem Urteil Hutten-Czapska wirft Richter Zagrebelsky dem Gerichtshof ein ultra-vires-Handeln vor „[. . . the Court] is entering territory belonging specifically to the realm of politics and that its indications go beyond its jurisdictional competence, which concerns the case between the applicant and the State.“ 3

Im Unterschied zu Staaten verfügt der Europarat als Internationale Organisation über keine sog. Kompetenz-Kompetenz, d.h. er kann nicht die von ihm für notwendig erachteten Aufgaben kraft seiner Souveränität selbst stellen.4 Nach 1 Jahresbericht 2014 des EGMR, Vorwort des Präsidenten Dean Spielmann, S. 5, abrufbar unter (Publications/Reports/Annual Reports) – Stand 30.9.2015. 2 Sondervotum Richter Zupanc ˇicˇ, Urteil EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96. 3 Sondervotum Richter Zagrebelski, EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – HuttenCzapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 4 Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschnitt, Rn. 189.

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dürfen Internationale Organisationen und ihre Organe nur innerhalb der Grenzen der ihnen von den Vertragsstaaten übertragenen Kompetenzen tätig werden.5 Überschreiten die Organe ihre Befugnisse, indem sie sich in dem Zuständigkeitsbereich eines anderen Organs oder außerhalb des Aufgabenbereichs der Internationalen Organisation bewegen, liegt ein Handeln ultra-vires vor.6 Die EMRK enthält keine ausdrückliche Kompetenz für den Erlass einer verbindlichen Anordnung der Abhilfemaßnahmen. Während der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte gemäß Art. 63 Abs. 1 S. 2 AMRK zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen ermächtigt ist, fehlt eine vergleichbare Bestimmung in der EMRK. Das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung schließt das Bestehen einer Anordnungskompetenz aber nicht aus, soweit sie im Wege der Auslegung aus der Konvention hergeleitet werden kann.

I. Fehlen eines klaren Begründungsansatzes in der Literatur Obwohl die Frage nach der Kompetenzgrundlage des Gerichtshofs für die verbindliche Anordnung von Abhilfemaßnahmen in der Literatur wiederholt aufgeworfen wurde,7 fehlt bislang eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Frage. Anlässlich des Falls Asanidse ./. Georgien entwickelte Breuer einen ersten Begründungsansatz, wonach die Rechtsgrundlage für die Anordnung von Abhilfemaßnahmen in Art. 41 EMRK in Verbindung mit einer Annexkompetenz zur Feststellung der Konventionsverletzung zu sehen sei.8 Der Gerichtshof hatte in diesem Fall die Freilassung des Inhaftierten angeordnet, da diese die einzige Möglichkeit war, um den Konventionsverstoß zu beenden. Die Ausführungen des Gerichtshofs zur Freilassung befinden sich in den Urteilsgründen unter dem Abschnitt „Anwendung von Artikel 41 der Konvention“. Breuer ist der Auffassung, dass Art. 41 EMRK nicht unmittelbar als Rechtsgrundlage für die Anordnung herangezogen werden könne. Die Freilassung des Inhaftierten stelle eine Maßnahme zur Beendigung eines andauernden völkerrechtswidrigen Verhaltens dar, welche Teil der völkerrechtlichen Primärverpflichtung sei, ein völkerrechtswidriges Verhalten zu unterlassen. Zumindest aber bestehe ein enger Zusammenhang zwischen der Beendigungspflicht und der Primärverpflichtung. Dagegen ziele

5

Klein, ebenda. Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), a. a. O., Rn. 192. 7 Siehe Caflisch, EuGRZ 2006, S. 521 (522); Eschment, Musterprozesse vor dem EGMR, S. 102 ff.; Gattini, Mass Claims, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 271 (281); Schmahl, EuGRZ 2008 369 (377); Zagrebelsky, Questions autor de Broniowski, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 521 (529). 8 Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (449). Zu dem Fall Asanidse siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. d). 6

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Art. 41 EMRK auf die Wiedergutmachung für begangenes Unrecht und sei mithin als eine völkerrechtliche Sekundärverpflichtung zu qualifizieren. Obwohl Art. 41 EMRK als unmittelbare Rechtsgrundlage ausscheide, hält Breuer es aufgrund des engen Zusammenhangs der Beendigungspflicht mit der Primärverpflichtung für konsequent, dem EGMR nach Art. 41 EMRK nicht nur die Befugnis zur Feststellung der Verletzung der Primärverpflichtung, sondern im Wege einer Annexkompetenz auch die Befugnis zuzusprechen, die sich aus der Primärpflicht ergebenden Folgen festzustellen.9 Der Begriff der Annexkompetenz ist aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt, wenn es um die Frage geht, ob der Bund ausnahmsweise über die ausdrücklich normierten Kompetenzen hinaus Befugnisse anstelle der Länder wahrnehmen darf. Die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhang wird bejaht, wenn „eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird.“ 10 Dagegen geht es bei der Annexkompetenz um die Schaffung ergänzender Regelungen auf Gebieten, die bereits in den grundsätzlichen Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen.11 Hiermit verwandt ist im Recht der Internationalen Organisationen die Theorie der implied powers, die auf den Zweck und die Aufgaben einer Organisation abstellt. Sie lässt den Schluss von der Aufgabe auf die Befugnisse der Internationalen Organisation dann zu, wenn diese für die Erfüllung der Aufgaben unbedingt notwendig sind.12 Sowohl bei der Annexkompetenz als auch bei der implied powers-Lehre geht es um die Herleitung der im Gesetz bzw. im Vertrag angelegten ungeschriebenen Befugnisse. Eines Rückgriffs auf solche implizite Kompetenzen bedarf es aber nicht, wenn die Befugnis bereits im Wege der Auslegung aus den vorhandenen expliziten Kompetenzen hergeleitet werden kann. Es gilt daher zunächst die Auslegungsbefugnisse des EGMR zu bestimmen und die Konventionsbestimmungen im Hinblick auf eine mögliche Anordnungsbefugnis des EGMR zu untersuchen.

9

Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 (261). BVerfGE 3, 407, 421; 98, 265, 299. 11 Hufen, Staatsrecht I, 6. Aufl., § 10, Rn. 29. Die Annexkompetenz wird daher teilweise auch als Unterfall der Kompetenz kraft Sachzusammenhang betrachtet. 12 Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschnitt, Rn. 191. Siehe auch IGH, Gutachten (Advisory Opinion) v. 11.4.1949, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, ICJ Reports 1949, 174 (182): „Under international law, the Organiszation must be deemed to have those powers which, though not expressly provided in the Charter, are conferred upon it by necessary implication as being essential to the performance of its duties“. Für eine Herleitung der Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen aus der sog. implied powers-Lehre, vgl. Haß, Die Urteile des EGMR, S. 193 ff. 10

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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II. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung der Konvention Nach Art. 19 EMRK hat der Gerichtshof die Aufgabe, die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in der Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben. Seine Zuständigkeit umfasst nach Art. 32 EMRK „alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten, mit denen er im Wege der Staatenbeschwerde, der Individualbeschwerde oder zur Erstattung eines Gutachtens nach den Art. 33, 34, 47 EMRK befasst wird“. Solange der EGMR sich im Rahmen dieser Befugnisse bewegt, kann ihm ein ultra-vires-Handeln nicht vorgeworfen werden. 1. Die Auslegungsmethoden des EGMR In dem Urteil Golder13 stellte der EGMR klar, dass für die Auslegung der EMRK die Art. 31–33 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) heranzuziehen sind. Zum Zeitpunkt des Urteils Golder war die WVK formell zwar noch nicht in Kraft getreten; der Gerichtshof begründete den Rückgriff aber damit, dass die WVK im Wesentlichen allgemein anerkannte Grundsätze des Völkerrechts kodifiziere.14 a) Wortlaut Nach diesen Grundsätzen bildet der Wortlaut den Ausgangspunkt der Auslegung.15 Maßgeblich ist die gewöhnliche Wortlautbedeutung. Etwas anderes gilt nur dann, wenn nach Art. 31 Abs. 4 WVK feststeht, dass die Vertragsparteien beabsichtigt haben, einem Ausdruck eine besondere Bedeutung beizulegen. Bei der Wortlautinterpretation ist zu beachten, dass es sich bei der EMRK um einen mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der gleichermaßen in englischer und französischer Sprachfassung verbindlich ist.16 Gemäß Art. 33 Abs. 3 WVK wird vermutet, dass die Vertragsformulierungen in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. Wird durch den Vergleich der authentischen Texte ein Unterschied in der Bedeutung offen gelegt, der nicht im Wege der all13 EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1975 – Golder ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70, EuGRZ 1979, S. 91 ff. 14 EGMR (Plenum), Urteil Golder, a. a. O., Ziff. 29. Zur Auslegung der EMRK allgemein: Benavides Casals, Die Auslegungsmethoden bei Menschenrechtsverträgen; Bernhard, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge; Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, S. 155 ff.; Matscher, Methoden der EMRK-Auslegung, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 102 ff. 15 Benavides Casals, Die Auslegungsmethoden bei Menschenrechtsverträgen, S. 27. 16 Vgl. die Schlussformel zur EMRK und Art. 33 Abs. 1 WVK, wonach bei der Auslegung eines in mehreren als authentisch festgelegten Vertragstextes alle Texte gleichwertig sind.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

gemeinen Auslegungsregeln der WVK beseitigt werden kann, ist nach Art. 33 Abs. 4 WVK diejenige Bedeutung zu wählen, die „unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt“. b) Systematik Neben dem Wortlaut spielt auch der Zusammenhang eine wesentliche Rolle, Art. 31 Abs. 1 WVK. Der Zusammenhang wird in Art. 31 Abs. 2 WVK näher definiert und umfasst nicht nur den Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen, sondern jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde. Nach Art. 31 Abs. 3 WVK sind zudem „jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen“ und „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“ zu berücksichtigen. Eine Besonderheit der systematischen Auslegung ist die vom EGMR praktizierte autonome Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen. Das bedeutet, dass der EGMR die Konventionsbestimmungen losgelöst von ihrer Bedeutung in den nationalen Rechtssystemen interpretiert.17 Ein Rechtsvergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur Herausbildung des eigenständigen Interpretationsansatzes ist aber möglich und erforderlich.18 Denn die „gewöhnliche Bedeutung der in der Konvention verwendeten Begriffe“ im Sinne des Art. 31 Abs. 1 WVK lässt sich nur durch den Rechtsvergleich ermitteln.19 Aus dem gleichen Grund ist auch der Vergleich mit anderen völkerrechtlichen Verträgen eine anerkannte Methode der systematischen Auslegung.20 Zu den völkerrechtlichen Verträgen, die besonders häufig für einen Vergleich herangezogen werden, zählen die Satzung des Europarates, die im Rahmen des Europarates geschlossenen Abkommen21 und das Unionsrecht.22 17

Grabenwarter, EMRK, § 5, Rn. 10. EGMR, Urteil v. 8.6.1976 – Engel u. a. ./. Niederlande, Nr. 5100/71, Ziff. 82: „The indications (. . .) must be examined in the light of the common denominator of the respective legislation of the various Contracting States.“; EGMR (Plenum), Urteil v. 28.6.1978 – König ./. Deutschland, Nr. 6232/73, Ziff. 89: „. . . the Court must also take account of the object and purpose of the Convention and of the national legal systems of the other Contracting States“. 19 Matscher, Methoden der EMRK-Auslegung, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 102 (113). 20 Zur Rechtfertigung dieser Auslegungsmethode, Matscher, in: Bernhardt u. a. (Hrsg.), FS Mosler 1983, S. 545 ff. 21 Siehe hierzu das Merkblatt über den Gebrauch von Verträgen des Europarates in der Rechtsprechung des EGMR („The use of Council of Europe treaties in the case-law 18

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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c) Sinn und Zweck Gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK sind die Konventionsbestimmungen im Lichte von Ziel und Zweck des Vertrages auszulegen. Diese teleologische Auslegung wird neben der Wortlautinterpretation als wichtigste Methode betrachtet.23 Die Konvention ist ein living instrument, die dynamisch im Lichte der gewandelten gesellschaftlichen Anschauungen auszulegen ist.24 Dies ergibt sich aus der Natur der Konventionsbestimmungen, die als Menschenrechte generell offen formuliert sind.25 Auch die Präambel der EMRK, die auf die „die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ verweist, verdeutlicht die Notwendigkeit eines evolutiven Ausbaus des Menschenrechtsschutzes.26 Eine wirksame Methode zur Fortentwicklung der Konventionsrechte ist der Effektivitätsgrundsatz (auch „effet utile“, „ut res magis valeat quam pereat“), der in einem engen Zusammenhang zur dynamischen Auslegung steht.27 Ähnlich wie der EuGH in ständiger Rechtsprechung28 betont auch der EGMR, dass die in der EMRK gewährten Rechte nicht „theoretisch oder illusorisch“, sondern „praktisch ausübbar und wirksam“ sind, die EMRK also effektivitätssichernd ausgelegt werden muss.29 Die dynamische Auslegung wird daher auch als Teil des „acquis conventionnel“ betrachtet.30 d) Historie Lediglich ergänzende Auslegungsmittel sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsschlusses. Sie dürfen gemäß Art. 32 WVK herangezogen werden, um die sich unter Art. 31 WVK ergebende Bedeutung zu bestätigen oder wenn die Auslegung nach Art. 31 WVK mehrdeutig ist oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. of the European Court of Human Rights“), Stand Juni 2011, verfügbar auf der Internetseite des Gerichtshofs unter www.echr.coe.int (Case-Law/Case-Law Analysis/Research Reports), zuletzt aufgerufen am 30.9.2015. Danach wurden in der EGMR-Rechtsprechung 56 Verträge zitiert, davon am häufigsten die Europäische Sozialcharta. 22 Grabenwarter, EMRK, § 5, Rn. 8. 23 Heer-Reißmann, Die Letztentscheidungskompetenz des EGMR in Europa, S. 91. 24 EGMR, Urteil v. 25.4.1978 – Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5856/72, Ziff. 31. 25 Grewe, ZaöRV 61 (2001), S. 459 (466). 26 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 41 f. 27 Bernhardt, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 96. 28 Grundlegend EuGH, Urteil v. 15.7.1960, Rs. C-20/59, Italien ./. Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1960, 708. 29 EGMR, Urteil v. 9.10.1979 – Airey ./. Irland, Nr. 6289/73, EuGRZ 1979, S. 626 (628), Ziff. 24. Siehe auch EGMR (GK), Urteil v. 23.3.1995 – Loizidou ./. Türkei (preliminary objections, Art. 50), Nr. 15318/89, Ziff. 72. 30 Benavides Casals, Die Auslegungsmethoden bei Menschenrechtsverträgen, S. 89.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

2. Legitimation des EGMR zur Rechtsfortbildung Nach Bestimmung der wesentlichen Auslegungsmethoden ist eine Auseinandersetzung mit den Grenzen der Auslegung und der Frage erforderlich, ob die Kompetenz zur Auslegung auch die Kompetenz zur Rechtsfortbildung umfasst. Es besteht Einigkeit, dass der Richter kein bloßer „Subsumtionsautomat“ 31 ist, der das Recht lediglich auf den ihm vorliegenden Sachverhalt überträgt. Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung sind verschiedene Ausprägungen eines einheitlichen Gedankenprozesses,32 da in jeder Rechtsanwendung ein wertendes Element liegt. Von Rechtsfortbildung in einem weiten Sinne kann deshalb immer dann gesprochen werden, wenn eine neue rechtliche Aussage getroffen wird.33 Dies kann durch eine Abweichung von der historischen Interpretation, durch eine Änderung der bisherigen ständigen Rechtsprechung oder durch eine Abweichung von der herrschenden Ansicht in der Literatur geschehen.34 Sowohl die Richter auf der nationalen als auch auf der völkerrechtlichen Ebene betreiben regelmäßig Rechtsfortbildung in diesem weit verstandenen Sinne.35 In Europa war der Richter niemals nur „la bouche qui prononce les paroles de la loi“ entsprechend der berühmten Formel Montesquieus.36 In England spielen die Gerichte seit jeher eine zentrale Rolle bei der Rechtsfindung, da das englische Recht als case law von Fall zu Fall durch die Gerichte herausgebildet wurde.37 In Kontinentaleuropa dagegen existierten große Gesetzeswerke, wie der code civil in Frankreich oder das Preußische Allgemeine Landrecht in Deutschland. Nichtsdestotrotz wurden auch hier zentrale Rechtssätze durch Richterrecht geschaffen, wie etwa die allgemeinen Grundsätze des französischen Verwaltungsrechts.38 Auch der EuGH hat Rechtsfortbildung betrieben. Zu den von dem EuGH entwickelten Rechtsinstituten zählen die Anerkennung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen im Unionsrecht,39 die Durchsetzung des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts40 und die Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht.41 31

Bernhardt, in: FS Universität Heidelberg 1986, S. 527 (530). Larenz/Canaris, Methoden der Rechtswissenschaft, S. 187. 33 Bleckmann, in: Lüke u. a. (Hrsg.), GS Constantinesco, S. 61 (61). 34 Bernhardt, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber 2007, S. 91 (93). 35 Bernhardt, in: FS Universität Heidelberg 1986, S. 527 (530). 36 Montesquieu, De l’esprit des lois, L. XI, Chap. VI., Rn. 327. 37 Everling, JZ 2000, S. 218 (218). 38 Everling, JZ 2000, S. 218 (219). 39 EuGH, Urteil v. 12.11.1969 – Stauder/Stadt Ulm, Sozialamt, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (425), Rn. 7. 40 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit: EuGH, Urteil v. 5.2.1963 – van Gend en Loos, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 3 (25 f.); EuGH, Urteil v. 16.6.1966 – Alfons Lütticke, Rs. 57/ 65, Slg. 1966, S. 258 (266). Zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts: EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.); EuGH, Urteil v. 32

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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Der EGMR steht in dieser europäischen Tradition.42 So führten die Charakterisierung der Konvention als „living instrument“ und die dynamische Auslegung zu neuen Auslegungsansätzen,43 wie das Beispiel der Rechtsprechung des EGMR zu der rechtlichen Stellung von Transsexuellen zeigt. In dem Rees-Urteil des EGMR vom 17. Oktober 1986,44 in dem der Beschwerdeführer nach seiner Geschlechtsumwandlung erfolglos die Änderung der Geburtsurkunde begehrt hatte, verneinte der Gerichtshof mit zwölf zu drei Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK, weil der Staat einen weiten Gestaltungsspielraum in diesem Bereich habe. Im Cossey-Urteil vom 27. September 199045 bestätigte der Gerichtshof diese Rechtsprechung, behielt sich aber eine Neubewertung in der Zukunft vor.46 In der Sache Sheffield and Horsham vom Juli 199847 verneinte die Große Kammer des Gerichtshofs nur noch mit elf zu neun Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Eine Änderung der Rechtsprechung vollzog der Gerichtshof schließlich mit dem Urteil Christine Goodwin ./. United Kingdom48 im Jahr 2002, als er einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 12 EMRK bejahte. Die Rechtsprechung des EGMR trug damit den gewandelten Anschauungen in der Gesellschaft Rechnung. 3. Grenzen der Rechtsfortbildung Ausgehend von dem Gedanken, dass jeder Richter Rechtsfortbildung im weiten Sinne betreibt, geht es nicht mehr um die Frage, ob sondern inwieweit richterliche Rechtsfortbildung zulässig ist.

17.12.1970 – Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135), Rn. 3. 41 EuGH, Urteil v. 19.11.1991 – Francovich und Bonifaci ./. Italien, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, S. 5357 (5413 f.), Rn. 31 ff. 42 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 36. 43 Grabenwarter, EGMR: Opfer des eigenen Erfolges? in: Grewe/Gusy (Hrsg.), Menschenrechte, S. 81 (85). 44 EGMR (Plenum), Urteil v. 17.10.1986 – Rees ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9532/81. 45 EGMR (Plenum), Urteil v. 27.9.1990 – Cossey ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 10843/84. 46 EGMR, Urteil Cossey, a. a. O., Ziff. 42: „[The Court] . . . is conscious of the seriousness of the problems facing transsexuals and the distress they suffer. Since the Convention always has to be interpreted and applied in the light of current circumstances, it is important that the need for appropriate legal measures in this area should be kept under review.“ 47 EGMR (GK), Urteil v. 30.7.1998 – Sheffield und Horsham ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2985/93, 23390/94. 48 EGMR (GK), Urteil v. 11.7.2002 – Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

a) Grenzen der Auslegung nach dem deutschen Rechtsverständnis Im deutschen Recht ist der Begriff der Rechtsfortbildung durch die Methodenlehre von Larenz beeinflusst. Dieser unterscheidet zwischen Auslegung, gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung („praeter“, aber „intra legem“) und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung („extra legem“, aber „intra ius“). Der mögliche Wortsinn erfasst danach alles was nach dem allgemeinen oder nach der dem Gesetz zugrunde liegenden Fachsprache unter den streitgegenständlichen Begriff gefasst werden kann und bildet die äußerste Grenze der Auslegung.49 Alles darüber Hinausgehende bezeichnet Larenz als Rechtsfortbildung. Die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung zielt nach Larenz auf die Schließung planwidriger Gesetzeslücken; sie wird durch den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung begrenzt.50 Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung orientiere sich nicht an einer Lücke im engeren, sondern an der „Lücke im weiteren Sinne“. Diese werde nicht bereits aus der dem Gesetz immanenten Teleologie erkennbar, sondern erst unter Heranziehung der Gesamtrechtsordnung.51 Die Grenze der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung sei erreicht, wenn eine Lösung nicht mehr durch rechtliche Erwägungen möglich ist, sondern eine politische Entscheidung oder ein umfassendes Normenkonzept durch den Gesetzgeber erfordert.52 Diese strikte Unterscheidung zwischen einer an der Wortlautschranke orientierten Interpretation und einer ergänzenden Rechtsfortbildung ist anderen Vertragsstaaten fremd. Weder das englische noch das französische Recht oder der EuGH differenzieren zwischen diesen beiden Rechtsbegriffen. Vielmehr wird die Rechtsfortbildung regelmäßig als Teil der Auslegung betrachtet.53 Bei der Festlegung der Schranken der Auslegung der EMRK ist dieses weitergehende Verständnis des Auslegungsbegriffs zu berücksichtigen. b) Vertragsauslegung und -änderung und Grundsatz der Gewaltenteilung Zentraler Gedanke für die Begrenzung der richterlichen Rechtsfortbildung auf der nationalen Ebene ist der Grundsatz der Gewaltenteilung, insbesondere die Achtung des Zuständigkeitsbereichs des Parlaments als unmittelbar demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan.54 Auch auf der Ebene der EMRK geht es letztlich um die Herstellung der Balance zwischen der richterlichen Rechtsschöpfung und dem Respekt vor den na49

Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 143. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245. 51 Larenz/Canaris, a. a. O., S. 246. 52 Hummer/Obwexer, EuZW 1997, S. 295 (298). 53 Hummer/Obwexer, EuZW 1997, S. 295 (296); Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 72. 54 Frowein, in: FS Universität Heidelberg 1986, S. 555 (559). 50

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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tionalen Parlamenten der einzelnen Konventionsstaaten.55 Den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ obliegt die Vertragsänderung, dem Gerichtshof die Auslegung. Während Vertragsauslegung die „Erforschung des Vertragssinns“ 56 meint, deren „Leitbild (. . .) die Identität des Vertrages“ 57 ist, bewirkt die Vertragsänderung eine Einwirkung auf das vertragliche Regelwerk. Während die Vertragsauslegung anhand der anerkannten Auslegungsmethoden erfolgen muss, sind der Vertragsänderung grundsätzlich keine Grenzen gesetzt.58 Die Übergänge zwischen der dynamischen Vertragsauslegung und der Vertragsänderung sind fließend.59 So ist denkbar, dass unter dem Gewand der Auslegung eine Vertragsänderung vollzogen wird, die die Staaten widerspruchslos hingenommen haben. Nach Ansicht von Matscher haben „(. . .) die Konventionsorgane gelegentlich die Grenzen dessen berührt (. . .), was noch als Vertragsauslegung im Rechtssinn bezeichnet werden kann. Streckenweise haben sie diese Grenze vielleicht auch überschritten und sich damit auf einen Boden begeben, der bereits echte Rechtspolitik darstellt.“ 60

Der internationale Richter sieht sich im besonderen Maßes dem Vorwurf der Rechtspolitik ausgesetzt.61 Der Grund hierfür liegt in der weiten Fassung der Menschenrechtstexte, die auf eine Vielzahl von Rechtsordnungen angewandt werden und ausreichend Raum lassen müssen, um gesellschaftlichen Entwicklungen berücksichtigen zu können.62 Diese Texte auszufüllen ohne in den Bereich der Vertragsgestaltung der souveränen Staaten einzugreifen, ist Aufgabe des internationalen Richters. aa) Konventionsimmanente Auslegung innerhalb der Grenzen von Wortlaut und Teleologie Zulässig ist die Auslegung, die sich in den durch den Wortlaut und die Teleologie gesteckten Grenzen bewegt. Maßgeblich ist, dass den Konventionsstaaten als „Herren der Verträge“ keine Verpflichtungen aufgezwängt werden, die sie erkennbar nicht haben übernehmen wollen.63 Die dynamische Auslegung darf den 55

Mowbray, HRLR 5 (2005), S. 57 (57). Das betont Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 22: „Vertragsauslegung und Vertragsänderung sind nicht strikt oder in allseits gültiger Weise voneinander zu trennen.“ 57 Ress, in: Bieber/ders. (Hrsg.), Die Dynamik der Europäischen Gemeinschaften, S. 49 (62). 58 Ress, in: Bieber/ders. (Hrsg.), Die Dynamik der Europäischen Gemeinschaften, S. 49 (62). 59 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 45 f. 60 Matscher, Methoden der EMRK-Auslegung, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 102 (108). 61 Bernhardt, in: FS Universität Heidelberg 1986, S. (527) 540. 62 Bernhardt, in: FS Universität Heidelberg 1986, S. (527) 531. 63 Cremer, in: Grothe/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 21 und 24. 56

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Inhalt einer Norm nicht ändern, sondern nur einen bereits vollzogenen Anschauungswandel bei der Auslegung berücksichtigen.64 bb) Keine unbegrenzte Kompetenz zur Lückenschließung Eine unbegrenzte Befugnis des EGMR zur Schließung von Lücken in der Konvention ist hingegen abzulehnen. Das Bestehen einer Lücke setzt die Vorstellung einer auf Vollständigkeit abzielenden Kodifikation voraus.65 Einige europäische Verfassungstraditionen sind erkennbar auf Vollständigkeit gerichtet.66 So sieht das deutsche Grundgesetz mit der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG ein Auffanggrundrecht vor, das die Entstehung von Lücken im Grundrechtsschutz vermeiden soll.67 Laut Präambel der EMRK und Art. 1 EMRK sollen hingegen nur die in der Konvention „aufgeführten“ bzw. nur die im ersten Abschnitt der Konvention „bestimmten Rechte und Freiheiten“ als Teil des europäischen Mindeststandards in allen Staaten gewährleistet werden. Der „Auswahlcharakter“ 68 der Konventionsrechte, den der EGMR in seinem Golder-Urteil hervorgehoben hat,69 spricht gegen die Lückenhaftigkeit der EMRK. Hieraus folgt aber nicht, dass die Auslegungskompetenz des EGMR durch den möglichen Wortsinn der Konventionsbestimmungen begrenzt wäre. Vielmehr ist eine Rechtsfortbildung auch ohne Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke möglich. Hierfür spricht, dass die EMRK anerkanntermaßen ein lebendiges Instrument ist, deren Gewährleistungen an neue Entwicklungen angepasst werden müssen. Die EMRK lässt sich deshalb als eine „Ergänzungsordnung“ qualifizieren, die zwar dynamisch, aber „nicht in gleicher Weise lückenfüllend wie die Normen einer nach rechtsstaatlicher Vollkommenheit strebenden Verfassungsordnung“ interpretiert werden darf.70 cc) Staatenpraxis im Grenzbereich zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung Im Grenzbereich zwischen Vertragsauslegung und -änderung spielt die Staatenpraxis eine besondere Bedeutung. Die spätere Praxis der Vertragsstaaten ist 64

Matscher, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), Liber amicorum L. Wildhaber 2007, S. 437 (441). 65 Richter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 1. 66 Richter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 4 ff. m.w. N. 67 BVerfG, Urteil Elfes, BVerfGE 6, 32, 36 ff. 68 Wildhaber, ZSR 98 (1979), II, S. 229 (285). 69 EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1975 – Golder ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70, Ziff. 34: „The ,selective‘ nature of the Convention cannot be put in question.“ 70 Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 75. Zu den Voraussetzungen einer lückenschließenden Vertragserweiterung im Einzelnen siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. III.

A. Der Vorwurf eines ultra-vires-Handelns

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ein Auslegungsfaktor, Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK. Sie bringt das übereinstimmende Verständnis einer bestimmten Vertragsnorm zum Ausdruck.71 Sie ist mithin Ausdruck des im Völkerrecht dominierenden Konsensprinzips und grundsätzlich bindend.72 Der Begriff der Praxis ist weit zu verstehen und umfasst auch das formlose Verhalten, das zumindest von einigen, nicht notwendigerweise von allen Vertragsstaaten mit einer gewissen Häufigkeit und Beständigkeit ausgeübt wurde. Maßgeblich ist, dass diese Praxis von allen Vertragsstaaten akzeptiert worden ist.73 Eine rechtsgeschäftliche Absicht ist nicht erforderlich, vielmehr genügt die stillschweigende Übereinkunft der Parteien.74 Die Auslegung durch nachfolgende Praxis ist ein dynamischer Prozess, der zu einer gewohnheitsmäßigen Änderung der Konvention führen kann.75 Die WVK ordnet die spätere Praxis zwar nur der Auslegung des Vertrages zu, Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK. Sie schließt aber die formlose Vertragsänderung nicht aus. Dies verdeutlicht der enge Zusammenhang der Norm mit Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK, wonach eine spätere Übereinkunft zwischen den Parteien über die Auslegung der Konvention oder Anwendung der Bestimmungen zu berücksichtigen ist. Sowohl die authentische Auslegung als auch die Vertragsänderung legen den Inhalt der Konvention allgemeinverbindlich fest.76 c) Judicial activism und judicial self-restraint „Tant que nous ne sommes pas sûrs d’une situation, mieux vaut de ne pas trop s’éloigner de la côte, et seulement plus tard nous pourrions nous aventurer sur la haute mer.“ 77

Die Grenzen zwischen Vertragsauslegung und erlaubter Rechtsfortbildung einerseits und Vertragsänderung andererseits zu wahren, ist ein schwieriger Balanceakt.78 Nicht selten üben die Richter daher einen sog. judicial self-restraint aus und zeigen sich bei der Auslegung der Menschenrechte zurückhaltend. Statt

71

Villiger, in: Bröhmer u. a. (Hrsg.), FS G. Ress 2005, S. 317 (326). Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 11, Rn. 2. 73 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 188 f.; Villiger, in: Bröhmer u. a. (Hrsg.), FS G. Ress 2005, S. 317 (326). 74 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 193; Ress, in: Bieber/ders. (Hrsg.), Die Dynamik der Europäischen Gemeinschaften, S. 49 (56). 75 Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, S. 432; ders., in: Bröhmer u. a. (Hrsg.), FS G. Ress 2005, S. 317 (326). 76 Ress, in: Bieber/ders. (Hrsg.), Die Dynamik der Europäischen Gemeinschaften, S. 49 (64 f.). 77 Rolv Ryssdal, früherer norwegischer Richter und Präsident des Gerichtshofs (1985–1998), zitiert in: Matscher, Rev.trim.Dr.h. 20 (2009), S. 901 (905). 78 Stern, in: ders. (Hrsg.), Staat des Grundgesetzes 1992, S. 344 (357). 72

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

neue Anspruchsgründe zu entwickeln, beschränkt sich dieser Ansatz, der in den USA entwickelt wurde, auf die Anwendung des bereits existierenden Rechts. Er achtet damit in besonderem Maße die gewählten Volksvertreter, die die legislative Verantwortung in einer Gesellschaft tragen und in deren Zuständigkeitsbereich nicht eingedrungen werden soll.79 Im Gegensatz dazu bezeichnet judicial activism einen richterlichen Ansatz, der auf die Ausdehnung und Änderung der existierenden rechtlichen Bestimmungen gerichtet ist.80 Aber auch judicial activism bedeutet letztendlich nur, dass der Gerichtshof die Konvention dynamisch auslegt und anwendet. Die Befugnis zur Modifikation verbleibt bei den Vertragsstaaten.81 Judicial activism führt zum Ausbau des Menschenrechtsschutzes, doch die Ausübung von judicial self-restraint kann einen wichtigen Beitrag zu der Stabilität des Menschenrechtsschutzes leisten. Ein zu eifrig betriebener judicial activism weckt das Schreckgespenst eines „gouvernement des juges“ 82 oder eines „Richterstaats“,83 in dem die Richter sich die Aufgaben des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments anmaßen.84 Das Vertrauen in die Richter kann so ausgehöhlt werden. Um den Menschenrechtsschutz nicht revolutionär, sondern evolutiv voranzutreiben, gilt es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Auslegungsansätzen zu finden. Judicial activism und judicial self-restraint sind nicht miteinander unvereinbare, sondern einander ergänzende Komponenten oder – in den Worten Mahoneys – zwei Seiten derselben Medaille.85 Es stellt sich die Frage, ob die Zurückhaltung, die der EGMR in Hinblick auf die Präzisierung der vom verantwortlichen Staat zu ergreifenden Maßnahmen und den Erlass konkreter Anordnungen ursprünglich ausgeübt hat, Folge einer bloßen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) war, die der Gerichtshof inzwischen aufgegeben hat oder ob sie auf einer echten Kompetenzschranke beruhte, die der Gerichtshof nunmehr möglicherweise überschritten hat.

79

Mahoney, HRLJ 11 (1990), S. 57 (58); White/Boussiakou, HRLJ 9 (2009), S. 37

(42) 80

White/Boussiakou, HRLJ 9 (2009), S. 37 (42). Mahoney, HRLJ 11 (1990), S. 57 (60). 82 Der Ausdruck „gouvernement des juges“ ist in Frankreich im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Conseil d’Etat (vgl. Jean Rivero, „Le juge administratif français, un juge qui gouverne“, D., 1951, chron., p. 21) und mit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Jean-Pierre Colin, „Le gouvernement des juges dans les Communautés Européennes“, Paris 1966) populär geworden. 83 Donner, AöR 106 (1981), S. 1 (3); Zeidler, in: FS Heidelberg, S. 645 (648). 84 Mahoney, HRLJ 11 (1990), S. 57 (58). 85 Mahoney, HRLJ 11 (1990), S. 57 (88): „Activism and self-restraint are two sides of the same coin.“ 81

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen Eine ausdrückliche Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen ist in der Konvention nicht enthalten. Im nachfolgenden Abschnitt wird untersucht, ob sich die Anordnungskompetenz im Wege der Auslegung der Konventionsbestimmungen ermitteln lässt. Als Anknüpfungspunkt kommen Art. 41 EMRK und Art. 46 EMRK in Betracht. Art. 46 EMRK statuiert nur allgemein die Pflicht zur Befolgung der Urteile. Dagegen enthält Art. 41 EMRK eine Anordnungsmöglichkeit für den Gerichtshof, nämlich die Gewährung einer Entschädigung für den Fall, dass das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Konventionsverletzung gestattet. Art. 41 EMRK ist damit die geeignetere Anspruchsgrundlage. Eine Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen, wie sie in den Piloturteilen praktiziert wird, setzt zum einen voraus, dass die Vertragsstaaten zur Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen verpflichtet sind und zum anderen, dass der Gerichtshof die erforderlichen Maßnahmen mit verbindlicher Wirkung anordnen darf. Für die Untersuchung des Art. 41 EMRK ist nicht die deutsche, sondern die englische bzw. die französische Sprachfassung maßgeblich. Die englische Fassung des Art. 41 EMRK lautet: „If the Court finds that there has been a violation of the Convention or the protocols therto, and if the international law of the High Contracting Party concerned allow only partial reparation to be made, the Court shall, if necessary, afford just satisfaction to the injured party“.

Die Kernbegriffe in der englischen Sprachfassung („reparation“, „satisfaction“) ähneln den in der französischen Fassung verwendeten Begriffen („réparation“, „satisfaction“).86 Für die Ermittlung des genauen Inhalts und der Reichweite der Verpflichtungen, die sich für den beklagten Staat aus der festgestellten Konventionsverletzung ergeben, wird nachfolgend der Begriff der Wiedergutmachung („reparation“) des Art. 41 EMRK untersucht. Für die Klärung der Frage, inwieweit der Gerichtshof diese Verpflichtungen auch anordnen darf, wird anschließend der Begriff der Entschädigung („satisfcation“) betrachtet.

86 Der für die Auslegung gleichermaßen maßgebliche Wortlaut des Art. 41 EMRK in der französischen Sprachfassung lautet: „Si la Cour déclare qu’il y a eu violation de la Convention ou de ses protocoles, et si le droit interne de la Haute Partie contractante ne permet d’effacer qu’imparfaitement les conséquences de cette violation, la Cour accorde à la partie lésée, s’il y a lieu, une satisfaction équitable.“ Sowohl die englische als auch die französische Fassung der Konvention sind verfügbar auf der Internetseite www.echr.coe.int (Official Texts/The Convention/The European Convention), zuletzt aufgerufen am 30.9.2015.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

I. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Art. 41 EMRK verpflichtet die Hohen Vertragsparteien zur Wiedergutmachung („reparation“). Der Begriff der Wiedergutmachungspflicht ist aus dem allgemeinen Völkerrecht bekannt und beschreibt die Rechtsfolge für den Bruch einer „primären“ völkerrechtlichen Handlungs- oder Unterlassungspflicht.87 Im folgenden Abschnitt wird zunächst die Anwendbarkeit der allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen untersucht, bevor auf die Bedeutung der Wiedergutmachungspflicht nach allgemeinem Völkerrecht und in der EMRK eingegangen wird. 1. Ausgangspunkt: Gleichklang mit den Regeln des allgemeinen Völkerrechts Die Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages können anstelle der allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen spezielle Vereinbarungen, sog. leges speciales, für den Fall der Verletzung der Primärnorm vorsehen. Diese Befugnis wird lediglich durch die zwingenden Regeln des Völkerrechts, sog. ius cogens, beschränkt.88 Die leges speciales haben Vorrang vor den allgemeinen Regelungen des Völkerrechts.89 Problematisch ist, ob ein Rückgriff auf die allgemeinen Regeln gestattet ist, wenn die speziellen Regelungen lückenhaft oder teilweise unwirksam sind. Ein Rückgriff auf die allgemeinen Regeln setzt voraus, dass es sich um ein offenes und nicht um ein in sich geschlossenes Regelungswerk (sog. self-contained regime) handelt.90 Menschenrechtsverträge wie die EMRK werden teilweise als ein solches self-contained regime betrachtet.91 Der EGMR hat aber in seinem Urteil Al Adsani 92 eine Qualifizierung der EMRK als self-contained regime der Sache nach ausgeschlossen. In diesem Fall ging es um eine Schadensersatzklage eines Opfers staatlicher Folterhandlungen gegen den Staat Kuwait. In dem Gerichtsverfahren im Vereinigten Königreich 87

Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., § 1309. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., § 1309. Die Existenz solcher Normen, die für die Staatengemeinschaft so elementar sind, dass sie nicht abgeändert werden können, wird in Art. 53 WVK vorausgesetzt. 89 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 21. 90 Das Konzept des „self-contained regime“ wurde von dem Internationalen Gerichtshof in dem Teheraner Geiselfall in Bezug auf die vertraglichen Regeln über diplomatische Beziehungen entwickelt – IGH, Urteil v. 24.5.1980 – United States of America ./. Iran, I.C.J.Rep. 1980, S. 3 (41), Rn. 86. Die Entscheidungen des IGH sind verfügbar auf seiner offiziellen Website unter , für Urteile ab 1947 (Cases/Judgments, Advisory opinions and Orders by chronological order) und für Urteile bis einschließlich 1946 unter (Publications of the Permanent Court of International Justice (1922–1946)/Series A), Stand: 30.9.2015. 91 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 21 f. 92 EGMR (GK), Urteil v. 21.11.2001 – Al Adsani ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35763/97, EuGRZ 2002, S. 403 ff. 88

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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berief sich Kuwait auf die staatliche Immunität. In den Urteilsgründen erläuterte der Gerichtshof, dass die Konvention so weit wie möglich im Einklang mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu interpretieren ist, zu denen auch die Staatenimmunität zählt.93 Der EGMR betonte den ius cogens-Charakter des Folterverbots, das als zwingendes Recht die Staatenimmunität begrenzt. Allerdings hielt der Gerichtshof es für nicht bewiesen, dass im Völkerrecht die Staaten im Falle von zivilrechtlichen Schadensersatzklagen wegen Folterungen außerhalb des Staates, dessen Gerichte zur Entscheidung in der Rechtssache berufen sind, keine Immunität verlangen können.94 Der Schutz der staatlichen Souveränität durch die Immunitätenregelung setzte sich im Ergebnis also gegenüber der Rechtsschutzgarantie in Art. 6 EMRK durch. Ohne auf die Frage der Einordnung der EMKR als self-contained regime einzugehen, ist der EGMR in dieser Entscheidung von der Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Regeln ausgegangen.95 Die Untersuchung einer Begrenzung der Staatenimmunität durch das Folterverbot wäre nicht notwendig gewesen, wenn der EGMR davon ausgegangen wäre, dass die völkerrechtlichen Regeln über die staatliche Immunität von vornherein nicht im Rahmen des Art. 6 EMRK anwendbar sind. Die Formulierung des Gerichtshofs, dass das allgemeine Völkerrecht so weit wie möglich zu beachten ist, lässt darauf schließen, dass der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln durch die Konventionsstaaten ausgeschlossen werden kann.96 Die Entscheidung macht aber deutlich, dass im Grundsatz von der Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Regeln auszugehen ist. Folglich ist die Abkehr von den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln nachzuweisen, nicht der umgekehrte Fall.97 2. Der Begriff der Wiedergutmachung im allgemeinen Völkerrecht Da die EMRK im Einklang mit den Regeln des Völkerrechts auszulegen ist, gilt es den Bedeutungsinhalt des völkerrechtlichen Begriffs der Wiedergutmachung zu klären.98 Im allgemeinen Völkerrecht ist seit langem anerkannt, dass

93

EGMR (GK), Urteil Al Adsani, a. a. O., EuGRZ 2002, S. 403 ff., Ziff. 55. EGMR (GK), Urteil Al Adsani, a. a. O., EuGRZ 2002, S. 403 ff., Ziff. 66. 95 In diesem Sinne: Ress, Das Europarecht vor dem EGMR, Vortrag v. 11.4.2002. 96 Ress, ebenda. 97 Im Ergebnis auch Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 22. 98 Allgemein zu den völkerrechtlichen Unrechtsfolgen: Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 ff.; Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility; Gray, Judicial Remedies in International Law; Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung; Stoll, Consequences of Liability, Vol. 11, Ch. 8; Tomuschat, Some Reflections on the Consequences of a Breach of an Obligation under International Law, S. 147 ff.; Urbanek, Die Unrechtsfolgen bei einem völkerrechtsverletzenden nationalen Urteil; seine Behandlung durch internationale Gerichte, ÖZöR 11 (1961), S. 70 ff. 94

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

ein Staat, dem ein völkerrechtswidriger Unrechtstatbestand zugerechnet wird, gegenüber dem verletzten Staat zur Wiedergutmachung verpflichtet ist.99 Hinsichtlich der Reichweite der Wiedergutmachungspflicht bestehen jedoch Unklarheiten.100 Die Reichweite der Wiedergutmachungspflicht steht in einem engen Zusammenhang mit dem Zweck, der dem Konzept der Wiedergutmachung zugrunde gelegt wird.101 a) Völkerrechtliche Wiedergutmachung im Sinne einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes („Wiedergutmachung i. e. S.“) Es ist zentrale Aufgabe der völkerrechtlichen Wiedergutmachung, sämtliche Schäden zu beseitigen, die dem Betroffenen entstanden sind. Der zur Wiedergutmachung verpflichtete Staat hat die tatsächlichen und rechtlichen Folgen des Unrechtstatbestandes zu beseitigen und denjenigen Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn das schadensverursachende Ereignis nicht eingetreten wäre. Diesen Grundsatz der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes (status quo ante) stellte der Ständige Internationale Gerichtshof erstmals in dem Chorzów Factory-Fall auf: „Le principe essentiel, qui découle de la notion même d’acte illicite et qui semble se dégager de la pratique internationale, notamment de la jurisprudence des tribunaux arbitraux, est que la réparation doit, autant que possible, effacer toutes les conséquences de l’acte illicite et rétablir l’état qui aurait vraisemblement existé si ledit acte n’avait pas été commis. Restitution en nature, ou, si elle n’est pas possible, paiement d’une somme correspondant à la valeur qu’aurait la restitution en nature; allocation, s’il y a lieu, de dommages-intérêts pour pertes subies et qui ne seraient pas couvertes par la restitution en nature ou le paiement qui en prend la place; tels sont les principes desquels doit s’inspirer la détermination du montant de l’indemnité due à cause d’un fait contraire au droit international.“ 102

Das Grundprinzip der Wiedergutmachung im Sinne der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands wird im weiteren Gang der Untersuchung als Wiedergutmachung im engen Sinne bezeichnet, der – wie gezeigt wird – die Wiedergutmachung in einem weiteren Sinne gegenüber gestellt werden kann. Die Wiedergutmachung im engeren Sinne spiegelt sich in den Regeln der Staatenverantwortlichkeit. Es handelt sich hierbei um sog. Sekundärnormen, die beschreiben, welche Rechtsfolgen an den Verstoß gegen eine Primärnorm geknüpft werden103 99 Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., § 1294; Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener, S. 273 (277). 100 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 68; Stoll, Consequences of Liability, Vol. 11, Ch. 8, S. 9: „The term ,satisfaction‘ has no fixed meaning“. 101 Stoll, Consequences of Liability, Vol. 11, Ch. 8, S. 8. 102 StIGH, Urteil v. 13.9.1928 – Usine de Chorzów (demande en indemnité, fond), PCIJ, Serie A, Nr. 17, S. 47. Das Urteil ist verfügbar unter: siehe Teil 3 Fn. 90. 103 Schröder, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Abschnitt, Rn. 4.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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und mithin eine neue, von der Primärnorm losgelöste Pflicht des Völkerrechts begründen.104 Die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit wurden von der Völkerrechtskommission („International Law Commission“, „ILC“), zusammengefasst, nachdem diese von der UN-Generalversammlung mit der Kodifizierung des Völkerrechts beauftragt worden war.105 Die ILC’ Articles on State Responsibility definieren in ihrem ersten Teil die generellen Voraussetzungen, welche eine Staatenverantwortlichkeit auslösen. Der zweite Teil (Art. 28–41 der ILC’s Articles on State Responsibility) setzt sich mit dem Inhalt internationaler Staatenverantwortlichkeit auseinander. Art. 32 der ILC’s Articles on State Responsibility stellt hierbei den Grundsatz der Wiedergutmachung („reparation“) auf, der in den nachfolgenden Artikeln näher bestimmt wird. Im Wesentlichen werden drei Formen der Wiedergutmachung unterschieden: Wiedergutmachung im Sinne einer restitutio in integrum („restitution“), Schadensersatz („compensation“) und Genugtuung („satisfaction“).106 aa) Restitutio in integrum („restitution“) Die Naturalrestitution (restitution in integrum) erfordert gemäß Art. 35 des ILC-Entwurfs: „. . . to re-establish the situation which existed before the wrongful act was committed, provided and to the extent that restitution: (a) is not materially impossible (b) would not involve a burden out of all proportion to the benefit deriving from restitution instead of compensation.“ 107

Diese Definition der Naturalrestitution stellt auf die Wiederherstellung des Zustandes ab, der vor Eintritt der unrechtmäßigen Handlung bestanden hat und nicht weitergehend auf den Zustand, der bestünde, wenn die unrechtsmäßige Handlung nicht eingetreten wäre. Demnach ist der Ersatz für die Abnutzung einer Sache, die dem Betroffenen unrechtmäßigerweise entzogen wurde, später aber wieder zurückgegeben wird, nicht erfasst.108 Nur wenn die Naturalrestitution nicht oder nur teilweise möglich ist, ist Schadensersatz zu leisten, während immaterielle Schäden durch die Genugtuung ausgeglichen werden sollen. Die Naturalrestitution ist die primäre Wiedergutmachungspflicht.109 Ihr Vorrang ge104

Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. § 1294. Verdross/Simma, ebenda. 106 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Teil 2, Kapitel 2, Art. 34 ff. 107 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Art. 35. 108 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Art. 35 und Erläuterung (2): Zu beachten ist allerdings, dass neben die Naturalrestitution ergänzend der Schadensersatz treten kann, um zu einer vollständigen Wiedergutmachung zu gelangen. 109 Den Vorrang der Naturalrestitution betonte bereits der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) im Fall Chorzów Factory – StIGH, Ser. A, No. 17 (1928), S. 48: „The dispossession of an industrial under-taking (. . .) involves the obligation to restore 105

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

genüber den anderen Wiedergutmachungspflichten rechtfertigt sich aus der Tatsache, dass sie den Grundgedanken der Wiederherstellung des früheren Zustandes regelmäßig am besten umsetzt.110 Gegen das Primat der Naturalrestitution werden verschiedene Argumente vorgetragen. Die Naturalrestitution könne zu Konflikten zwischen dem Völkerrecht und dem nationalem Recht führen und die Autorität internationaler Entscheidungsinstanzen in nationalen Rechtssystemen schwächen. Ferner könne die Zeit, die seit dem Erlass einer konventionswidrigen Maßnahme vergangen ist, die Naturalrestitution erschweren oder unmöglich machen. Beispielsweise werde mit jeder nachfolgenden Generation die Rückgabe eines Hauses an die ursprünglichen Bewohner oder ihrer Nachkommen schwieriger – sowohl in praktischer als auch moralischer Hinsicht. Schließlich stelle die Naturalrestitution nicht immer eine angemessene Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden dar. So könne medizinische Hilfe nicht als Wiedergutmachung für Folter angesehen werden.111 Diese praktischen Einwände können den rechtlichen Vorrang der Naturalrestitution aber nicht widerlegen. Art. 32 der ILC’s Articles on State Responsibility bestimmt, dass ein Verstoß gegen eine völkerrechtliche Pflicht nicht durch Verweis auf entgegenstehende nationale Bestimmungen gerechtfertigt werden kann. Auch das Argument des Zeitablaufs spricht nicht gegen den Vorrang der Naturalrestitution, sondern lediglich für ein schnelleres Entschädigungsverfahren. Der Einwand, dass die Naturalrestitution nicht immer eine angemessene Lösung ist, überzeugt ebenfalls nicht, da der Vorrang der Naturalrestitution den Rückgriff auf andere Formen der Wiedergutmachung nicht ausschließt, wenn die Naturalrestitution allein nicht ausreichend ist, um eine angemessene Wiedergutmachung zu leisten.112 Der Vorrang der Naturalrestitution ist daher anzuerkennen. bb) Schadensersatz („compensation“) Soweit die Wiedergutmachung nicht in Form der Naturalrestitution möglich ist, muss der verantwortliche Staat gemäß Art. 36 ILC Articles on State Responsibility Schadensersatz leisten. Der Schadensersatz deckt jeden materiellen Schaden, einschließlich entgangenen Gewinns, wenn dieser nachweislich entstanden the undertaking and, if this be not possible, to pay its value at the time of its indemnification, which value is designed to take the place of restitution which has become impossible.“ Das Urteil ist abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 90. Für den Vorrang der Naturalrestitution ferner: Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (132); Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (860); Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 70. 110 Haß, Die Urteile des EGMR, S. 75; Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener 1973, S. 273 (278); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 61; Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 70. 111 Gray, Judicial Remedies in International Law, Oxford 1987, S. 13, zitiert in: Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (132). 112 Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (133).

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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ist. Die Aufgabe des Schadensersatzes ist es die Lücken zu füllen, die entstehen, wenn eine Naturalrestitution nicht oder nicht vollumfänglich möglich ist.113 cc) Genugtuung („satisfaction“) Die Genugtuung als dritte Form der Wiedergutmachung soll Abhilfe für all jene Schäden leisten, die finanziell nicht bemessbar sind oder einen Affront gegenüber dem Staat darstellen.114 Die Genugtuung zielt daher auf symbolische Wiedergutmachungshandlungen. Art. 37 Abs. 2 der ILC’s Articles on State Responsibility nennt als Beispiele die Anerkennung der Völkerrechtswidrigkeit, die förmliche Entschuldigung oder den Ausdruck des Bedauerns durch den beklagten Staat.115 Ausreichende und bekannteste Form der Genugtuung ist die Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit durch ein zuständiges Gericht.116 Genugtuung kann auch durch finanzielle Leistungen erfolgen.117 In Abgrenzung zum Schadensersatz, der auf Ersatz der durch den Bruch der Völkerrechtsnorm entstandenen finanziellen Einbußen gerichtet ist, soll die finanzielle Leistung im Fall der Genugtuung den immateriellen Schaden ersetzen.118 b) Völkerrechtliche Wiedergutmachung als umfassende Beseitigung begangenen Unrechts („Wiedergutmachung i. w. S.“) Die Chorzów-Formulierung und die Regeln der Staatenverantwortlichkeit bringen die Pflicht zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes zum Ausdruck. Schon früh hat Graefrath darauf hingewiesen, dass die Formulierung unzureichend ist, da die völkerrechtliche Wiedergutmachungspflicht eine Wiedergutmachung des begangenen Unrechts insgesamt anstrebe,119 die hier als Wiedergutmachung im weiten Sinne bezeichnet wird. 113

Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (3) zu Art. 36. Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (3) zu Art. 37. 115 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (5) zu Art. 37. 116 IGH, Urteil v. 9.4.1949 – Corfu Channel (merits), I.C.J. Reports 1949, S. 4 (35). In diesem Fall, in dem es infolge einer unrechtmäßigen Minenräumaktion durch die Britische Navy zu einer Explosion gekommen war, stellte der IGH fest: „(. . .) to ensure respect for international law, of which it is the organ, the Court must declare that the action of the British Navy constituted a violation of Albanian sovereignty. This declaration is in accordance with the request made by Albania through her Counsel, and is in itself appropriate satisfaction.“ Das Urteil ist abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 90. 117 Siehe z. B.: Entscheidung v. 30.4.1990 – Rainbow Warrior, R.I.A.A. XX (1990), S. 215 (272), Rn. 118. 118 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 75; Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (4) zu Art. 36, S. 219. 119 Graefrath, RdC 185 (1985), S. 9 (72 f.). Dies schließt nach Graefrath die Beendigung der unrechtmäßigen Handlung und die Pflicht zur Ergreifung von Garantien gegen die Wiederholung des Unrechts ein. 114

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Auch die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit beschränken sich nicht auf die Wiedergutmachung im Sinne einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, die in Art. 32 ILC’s Articles on State Responsibility als Grundsatz normiert und in Art. 34 ff. ILC’s Articles on State Responsibility näher präzisiert wird. Vielmehr nennen sie auch die Verpflichtung zur Beendigung völkerrechtswidrigen Verhaltens und die Garantie der Nichtwiederholung (Art. 30 der ILC’s Articles on State Responsibility). Gemäß Art. 30 (a) ILC Articles on State Responsibility ist ein anhaltender Unrechtsakt zu beenden. Die Beendigungspflicht setzt mithin die Existenz einer noch andauernden unrechtmäßigen Situation, das sog. völkerrechtliche Dauerdelikt, voraus.120 Die Beendigungspflicht ist heute im Völkerrecht anerkannt.121 Sie ist von beträchtlicher Bedeutung, insbesondere wenn es um ein internationales Verbrechen oder die Verletzung einer zwingenden Norm des Völkerrechts (ius cogens) geht. In diesem Fall können nicht nur der unmittelbar betroffene Staat oder die betroffenen Personen, sondern sämtliche Staaten die Beendigung der Rechtsverletzung verlangen.122 Gemäß Art. 30 (b) ILC’s Articles on State Responsibility hat der für den Bruch der Völkerrechtsnorm verantwortliche Staat angemessene Zusicherungen und Garantien der Nichtwiederholung anzubieten, wenn die Umstände dies erfordern. Die Zusicherung und die Garantien der Nichtwiederholung haben präventiven Charakter und sind erforderlich, wenn eine bloße Wiederherstellung des vorherigen Zustandes nicht ausreichend ist.123 Die Frage, ob die Pflicht zur Zusicherung und Ergreifung von Garantien zur Nichtwiederholung Teil der Haftungsfolgen nach Verstoß gegen eine Völkerrechtsnorm sein kann, wurde vor dem IGH im Fall LaGrand 124 diskutiert. In diesem Fall hatte Deutschland Klage erhoben, weil die Vereinigten Staaten von Amerika entgegen Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK Deutschland nicht darüber informiert hatten, dass die Brüder und deutsche Staatsangehörige LaGrand wegen Mordes im Staat Arizona zum Tode verurteilt worden sind. Deutschland beantragte unter anderem die Zusicherung durch die Vereinigten Staaten, dass sie ihre rechtswidrigen Handlungen nicht wiederholen und die effektive Wahrnehmung der Rechte aus Art. 36 WÜK sicherstellen werden. Der IGH bestätigte, dass eine Entschuldigung in dieser Situation nicht genüge. Nach Ansicht des IGH konnte aber in den von den Vereinigten Staaten versprochenen Maßnahmen eine ausreichende Zusicherung der Nichtwiederholung des Unrechtstatbestandes gesehen werden.125 120

Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (448); Polakiewicz, ZaöRV 52 (1992), S. 149 (172). Polakiewicz, ZaöRV 52 (1992), S. 149 (171) m.w. N. 122 Graefrath, RdC 185 (1985), S. 9 (74). 123 Vgl. Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (9) zu Art. 30. 124 IGH, Urteil v. 27.6.2001 – LaGrand (Deutschland ./. Vereinigte Staaten von Amerika), EuGRZ 2001, S. 287 ff., abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 90. 121

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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Während eine Zusicherung normalerweise eine mündliche Erklärung ist, erfordern die Garantien der Nichtwiederholung mehr, nämlich die Ergreifung präventiver Maßnahmen, die eine Wiederholung des Verstoßes verhindern. Die genaue Ausgestaltung dieser Maßnahmen hängt von der Art der verletzten Norm ab.126 c) Fazit Die Pflicht zur Wiedergutmachung im Sinne der umfassenden Beseitigung begangenen Unrechts erfasst nach hiesiger Ansicht neben der Wiedergutmachung im engeren Sinne auch die Pflicht zur Beendigung der unrechtmäßigen Handlung und die Pflicht zur Ergreifung von Garantien gegen die Nichtwiederholung des Unrechts und wird nachfolgend als völkerrechtliche Wiedergutmachung im weiten Sinne bezeichnet. Letztendlich handelt es sich bei der Beendigung und Nichtwiederholung um eine logische Konsequenz aus der Feststellung der Konventionsverletzung. Die formal getrennte Behandlung der Beendigungspflicht und der Pflicht zur Nichtwiederholung des Unrechts in Art. 30 ILC’s Articles on State Responsibility einerseits und der Pflicht zur Herstellung des ursprünglichen Zustandes („Wiedergutmachung i. e. S.“) in Art. 32 der ILC’s Articles on State Responsibility andererseits erklärt sich vor dem Hintergrund, dass die Wiedergutmachungspflicht i. e. S. in die Vergangenheit zurückgreift und auf die Beseitigung der tatsächlichen und rechtlichen Folgen des Unrechtstatbestandes durch Wiederherstellung des früheren Zustandes zielt. Dagegen erfordern die Beendigungspflicht und die Pflicht zur Ergreifung von Garantien der Nichtwiederholung zukunftsbezogene Maßnahmen. 3. Die Wiedergutmachungspflichten der Konventionsstaaten nach Art. 41 EMRK Die zukunftsgerichteten Maßnahmen der Beendigung bzw. der Garantien einer Nichtwiederholung begangenen Unrechts sind für die Analyse der Piloturteile von besonderer Bedeutung, da sich aus ihnen die Pflicht zur Ergreifung von Maßnahmen mit Wirkung über den Einzelfall hinaus ergeben können. Voraussetzung ist, dass diese völkerrechtlichen Pflichten im Konventionsrecht uneingeschränkt bestehen und mit Art. 41 EMRK nicht eine vom allgemeinen Völkerrecht abweichende Regelung geschaffen wurde. Obwohl die Entstehungsgeschichte nur ein ergänzendes Auslegungsmittel ist,127 eignet sie sich gut für eine erste Annäherung an die Vorschrift. Auch der Wortlaut und Sinn und Zweck sol-

125

IGH, Urteil v. 27.6.2001 – LaGrand, a. a. O., Rn. 123. Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (12) und (13) zu Art. 30. 127 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 A. II. 1. d). 126

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

len im Hinblick auf eine mögliche Modifikation der völkerrechtlichen Wiedergutmachungspflicht untersucht werden.128 a) Entstehungsgeschichte des Art. 41 EMRK Die frühen EMRK-Konzeptionen planten den Gerichtshof als echte Rechtsmittelinstanz auszugestalten und ihm die Befugnis zur Aufhebung innerstaatlicher Rechtsakte einzuräumen.129 Wörtlich lautete die Formulierung in Art. 24 des Teitgen-Berichts: „The verdict of the Court shall order the State concerned: 1) to annul, suspend or amend the incriminating decision 2) to make reparation for damage caused 3) to require the appropriate penal, administrative or civil sanctions to be applied to the person or persons responsible.“ 130

Die Kritiker lehnten einen derart starken Gerichtshof jedoch ab, da die Staaten selbst für die Beseitigung der Konventionsverletzung nach Maßgabe der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zuständig seien.131 Ein Expertenkomitee arbeitete einen Kompromiss aus, der dem heutigen Art. 41 EMRK sehr ähnelt132 und der wie folgt begründet wurde: „This provision is in accordance with the actual international law relating to the violation of an obligation by a State. In this respect, jurisprudence of a European Court will never, therefore, introduce any new element or one contrary to existing international law. In particular, the Court will not have the power to declare null and void or amend Acts emanating from the public bodies of the signatory States.“ 133

Die EMRK ist als völkerrechtlicher Vertrag im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht und den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit auszulegen. Das allgemeine Völkerrecht wurde insoweit abgewandelt, als mit Art. 41 EMRK für 128 Allgemein zur Wiedergutmachungspflicht nach Art. 41 EMRK: Dannemann, Schadensersatz bei der Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention; Mahoney, Thinking a Small Unthinkable, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber 2007, S. 263 ff.; Mowbray, Public Law 1997, S. 647 ff.; Krüger, Reflections on some Aspects of Just Satisfaction under European Convention on Human Rights, in: Cohen-Jonathan (Hrsg.), Liber Amicorum Marc-André Eissen, S. 255 ff.; Zwach, Die Leistungsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 129 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 104; Zwach, Die Leistungsurteile des EGMR, S. 60; Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 209. 130 Bericht Pierre-Henri Teitgens, in: Council of Europe (Hrsg.), Collected Edition of the „Travaux Préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, Band 1, S. 212. 131 Zwach, Die Leistungsurteile des EGMR, S. 61. 132 Zwach, Die Leistungsurteile des EGMR, S. 61. 133 Council of Europe (Hrsg.): Collected Edition of the „Travaux Préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, Band 3, S. 276.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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den EGMR die Möglichkeit geschaffen wurde, dem Opfer einer Konventionsverletzung als Wiedergutmachung unmittelbar eine Entschädigung zuzubilligen.134 Ferner sollten die Unsicherheiten beseitigt werden, die im allgemeinen Völkerrecht hinsichtlich der Frage einer generellen Kassationsbefugnis internationaler Entscheidungsinstanzen bestehen. Während teilweise vertreten wird, dass internationale Gerichtsinstanzen innerstaatliche Akte nur aufheben können, wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist,135 betonen andere, dass mangels einer entsprechenden Verbotsnorm im Grundsatz von einer umfassenden Kompetenz der internationalen Entscheidungsinstanz auszugehen sei.136 Letztere Ansicht kann sich auf den Fall Martini vom 3. Mai 1930 berufen, der einen Konzessionsvertrag zwischen Venezuela und einem italienischen Unternehmen zur Nutzung von Kohleminen betraf. Ein italienisch-venezolanisches Schiedsgericht hat den Staat Venezuela verurteilt, die Aufhebung der Zahlungspflicht, die ein Gericht Venezuelas dem Unternehmen auferlegt hat, anzuerkennen, obwohl weder der Schiedsvertrag noch eine andere Vereinbarung das Schiedsgericht zu einer solchen Entscheidung ausdrücklich ermächtigte.137 Der Staat akzeptierte die Entscheidung widerspruchslos. Für eine Kassationsbefugnis internationaler Entscheidungsinstanzen spricht ferner die Tatsache, dass in einigen Fällen die Staaten ausdrücklich die Nichtigkeit eines Rechtsaktes bei Verstoß gegen eine völkerrechtliche Pflicht ausgeschlossen haben, wie etwa im Fall von Art. 10 des deutsch-schweizerischen Schiedsgerichts- und Ausgleichsvertrages vom 3. Dezember 1921. Für eine solche Regelung hätte kein Bedürfnis bestanden, wenn das Völkerrecht die Kassationsbefugnis solcher Instanzen generell ausschließen würde.138 Die Gründungsväter machten mit der Anlehnung des Wortlauts des heutigen Art. 41 EMRK an den deutsch-schweizerischen Schiedsgerichtsvertrag deutlich, dass im Rahmen des Konventionssystems eine Kassationsbefugnis des Gerichtshofs ausgeschlossen werden soll. Obwohl der europäische Menschenrechtsschutz seither kontinuierlich ausgebaut wurde, gehen die einhellige Meinung in der Literatur139 und der EGMR140 auch heute noch von einem Ausschluss der Kassa-

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Zwach, Die Leistungsurteile des EGMR, S. 96. Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener, S. 273 (276). 136 Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., § 1295. 137 Entscheidung v. 3.5.1930 – Martini (Italien ./. Venezuela), R.I.A.A. II, S. 975 (1002), Tenor 3: „Le Tribunal Arbitral décide (. . .) de reconnaître, à titre de réparation, l’annulation des obligations de paiment . . .“, abrufbar unter: , Stand: 30.9.2015. 138 Mann, BYBIL 1976–1977, S. 1 (8). 139 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 33; Frowein, JuS 1986, 845 (850); Kieschke, Die Praxis des EGMR und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 66; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 223 f.; Ress, ZaöRV 64 (2004), S. 621 (630); Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (56); Schindler, in: Kummer/Waldner (Hrsg.), FS Guldener, S. 273 (275); Starck, JZ 2006, S. 76 (78). 135

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

tionsbefugnis aus. Die Einführung einer solchen Befugnis wurde zwar immer wieder angeregt,141 die Befürworter konnten sich aber nicht durchsetzen. So war während der Reformdiskussion zum 11. Protokoll zur EMRK der Vorschlag, dem Gerichtshof eine Kassationsbefugnis einzuräumen, nicht realisiert worden.142 b) Wortlaut: Anknüpfung an die Chorzów-Formulierung Die Entstehungsgeschichte geht von der Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts aus. Es ist zu untersuchen, ob die Vertragsstaaten über den Ausschluss der Kassationsbefugnis hinaus weitere Abweichungen zur Wiedergutmachungspflicht des allgemeinen Völkerrechts begründen wollten. Der Wortlaut des Art. 41 EMRK lehnt sich an die Formulierung des IGH zur Wiedergutmachungspflicht im Chorzów-Fall an.143 Dies könnte für eine Beschränkung auf die Wiedergutmachung im engeren Sinne und den Ausschluss der Beendigungspflicht und der Garantien der Nichtwiederholung sprechen. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend. Art. 41 EMRK begründet nicht die Pflicht zur Wiedergutmachung, sondern setzt sie voraus. Art. 41 EMRK will nur eine spezielle Regelung treffen für den Fall, dass nach innerstaatlichem Recht eine vollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung nicht möglich ist. Der EGMR soll in diesem Fall dem Betroffenen eine gerechte Entschädigung zusprechen können. Die zukunftsgerichteten Maßnahmen der Beendigung und der Garantien der Nichtwiederholung können aber – anders als die vergangenheitsbezogene Pflicht zur Wiederherstellung des früheren Zustandes – nicht unmöglich werden. Sie werden naturgemäß nicht von der Spezialregelung in Art. 41 EMRK erfasst. Wie im Folgenden dargelegt, sind viel-

140 EGMR (Plenum), Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, EuGRZ 1979, S. 454 ff., Ziff. 58; EGMR, Urteil v. 18.10.1983 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere ./. Belgien (Art. 50 EMRK), Nr. 6878/75; 7238/75, Ziff. 13; EGMR, Urteil v. 25.4.1983 – Pakelli ./. Deutschland, Nr. 8398/78, Ziff. 45, EGMR, Urteil v. 24.3. 1983 – Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich (Art. 50 EMRK), Nr. 7525/76, Ziff. 15. 141 So beispielsweise Villiger im Zusammenhang mit der Reform durch das 11. Protokoll, Handbuch der EMRK, 1993, S. 166 f., Rn. 275 („kassatorische Kompetenzen wären angezeigt“). Siehe auch Dannemann, Schadensersatz bei der Verletzung der EMRK, S. 220: „Natürlich würde es dem Hauptzweck der EMRK, der Wahrung der Menschenrechte, besser entsprechen, wenn der Gerichtshof mit ähnlichen Kompetenzen ausgestattet wäre wie eine Reihe nationaler Verfassungsgerichte, die Urteile aufheben und Gesetze für nichtig erklären können“. 142 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 (949), Fn. 248. 143 Dies wird jedenfalls in der französischen Sprachfassung deutlich. Für die französische Fassung des Art. 41 EMRK („. . . si le droit interne de la Haute Partie contractante ne permet d’effacer qu’imparfaitement les conséquences de cette violation . . .“) siehe Teil 3, Fn. 86; für die französische Formulierung im Chorzów-Fall („. . . la réparation doit autant que possible effacer toutes les conséquences de l’acte illicite . . .“) siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 2. a).

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mehr sowohl die Beendigungspflicht als auch die Garantien der Nichtwiederholung als Teil der Wiedergutachungspflicht der Staaten zu verstehen. aa) Beendigungspflicht als Teil der Wiedergutmachungspflicht der Konventionsstaaten Für die Einordnung der Beendigungspflicht in den Pflichtenkreis der Konventionsstaaten spricht ihr enger Zusammenhang mit der Primärverpflichtung. Teilweise wird die Beendigungspflicht im Völkerrecht sogar mit der Primärverpflichtung gleichgesetzt.144 So führt der Berichterstatter der ILC, Arangio-Ruiz, in seinem Preliminary Report on State Responsibility aus, dass die Beendigungspflicht nicht die Folge eines eingetretenen Unrechtsaktes ist, sondern vielmehr Teil der fortwirkenden Primärverpflichtung.145 Demgegenüber stufen die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit im ILCEntwurf die Beendigungspflicht als Sekundärverpflichtung ein, weil sich die Frage der Beendigung erst nach Verletzung einer Primärpflicht stellt.146 Doch auch der ILC-Entwurf betont einen engen Zusammenhang zwischen der Beendigungspflicht und der Primärverpflichtung. Die Beendigungspflicht stellt danach den ersten Schritt zur Beseitigung der Folgen eines Unrechtsaktes dar.147 Teilweise wird die Beendigungspflicht auch als eine eigenständige Pflicht zwischen Primär- und Sekundärpflicht beschrieben.148 Ungeachtet der Frage der dogmatischen Einordnung der Beendigungspflicht, ist diese jedenfalls Bestandteil der Wiedergutmachungspflichten der Konventionsstaaten. Hierfür spricht, dass in bestimmten Fällen eine Maßnahme gleichzeitig eine Beendigungsmaßnahme als auch Teil der Wiedergutmachung i. e. S. zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes sein kann. Dies betrifft etwa die Rückgabe eines zu Unrecht vorenthaltenen Gegenstandes. Die Pflicht zur restitutio in integrum verlangt, dass der Zustand wiederhergestellt wird, der ohne die Verletzung des Völkerrechts bestünde. Das schließt die Rückgabe des Gegen144

Ipsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, § 40, Rn. 65. G. Arangio-Ruiz, Preliminary Report on State Responsibility, Rn. 31: „Cessation is indeed to be ascribed – as an obligation and as a remedy to violation of international law – not to the operation of the ,secondary‘ rule coming into play as an effect of the occurrence of the wrongful act, but to the continued, normal operation of the ,primary‘ rule of which the previous wrongful conduct constitutes a violation.“ Ähnlich argumentiert auch Cohen-Jonathan, in: ders. (Hrsg.), FS M. A. Eissen, S. 39 (44): „Cette obligation de mettre un terme à une situation illicite qui perdure n’est pas à proprement parler une réparation mais le retour à l’obligation initiale“. 146 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (6) zu Art. 30. 147 Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (4), Satz 1 zu Art. 30: „Cessation of conduct in breach of an international obligation is the first requirement in eliminating the consequences of wrongful conduct.“ 148 So Breuer, EuGRZ 2004, S. 445 (448). 145

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

standes an den rechtmäßigen Besitzer ein. Da mit der Rückgabe aber auch der unrechtmäßige Besitz aufgegeben wird, handelt es sich gleichzeitig um eine Beendigungsmaßnahme. Ähnlich ist der Fall einer unrechtmäßigen Inhaftierung. Die Freilassung ist Teil der restitutio in integrum und gleichzeitig eine Maßnahme zur Beendigung der schwerwiegenden Beeinträchtigung des Betroffenen in seiner Freiheit und Würde.149 Während die Beendigungspflicht im Konventionsrecht gegenüber der Pflicht zur Naturalrestitution lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt hat,150 ist sie heute fester Bestandteil der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs151 und in der Literatur anerkannt.152 bb) Garantien der Nichtwiederholung als Teil der Wiedergutmachungspflicht der Konventionsstaaten Ähnlich wie einst die Beendigungspflicht haben die Garantien der Nichtwiederholung in der Diskussion um die Rechtsfolgen der Staatenverantwortlichkeit bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten. Dabei enthalten sie ein enormes Potential, um Wiederholungsfälle wirksam zu bekämpfen. Denn sie können dem Gerichtshof die notwendige Rechtsgrundlage zur Anordnung von konkreten Abhilfemaßnahmen mit genereller Wirkung bieten. Die Garantien der Nichtwiederholung sind zukunftsbezogen, aber anders als die Beendigungspflicht nicht von dem Vorliegen einer noch andauernden Konventionsverletzung abhängig. Die Einbeziehung der Pflicht zur Ergreifung von Garantien zur Nichtwiederholung des Unrechtstatbestandes in die Wiedergutmachungspflichten der Konventionsstaaten ist konsequent, denn der Gleichklang mit dem allgemeinen Völkerrecht fordert eine umfassende Unrechtsbeseitigung. Dieses Ergebnis wird durch die „Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of International Human Rights and Humanitarian Law,“ (nachfolgend: „Basic Principles and Guidelines“) untermauert.153 Diese Bestim-

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Arangio-Ruiz, Preliminary Report on State Responsibility, Rn. 50. Polakewicz, ZaöRV 52 (1992), S. 149 (171); ders., Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 52. 151 Sondervotum Richter Mosler, EGMR (Plenum), Urteil v. 10.3.1972 – De Wilde, Ooms and Versyp ./. Belgien (Art. 50 EMRK), Nr. 2832/66; 2835/66; 2899/66; EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00, HRLJ 2006, 83 ff., Ziff. 119. 152 Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 56, Rn. 6; Graefrath, RdC 185, (1985), S. 9 (73 ff.); Heckötter, Die Bedeutung der EMRK, S. 49 f.; Polakiewicz, ZaöRV 1992, S. 149 (171). 153 Resolution 60/147, Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, angenommen von der UN-Generalversammlung am 16.12.2005, abrufbar über die Internetseite der Vereinten Nationen unter (What we do/Protect Human Rights/Office of the High 150

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mungen, die anders als die ILC’s Articles on State Responsibility nicht das Verhältnis der Staaten zueinander regeln, sondern allgemeine Prinzipien für die Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen enthalten, nennen die Maßnahmen zur Nichtwiederholung des Unrechtstatbestandes als viertes Element der Wiedergutmachungspflicht (Ziff. 23 Basic Principles and Guidelines) neben den drei Erscheinungsformen der Wiedergutmachung im engeren Sinne („restitution“, „compensation“, „satisfaction“ in Ziffer 19–22 Basic Principles and Guidelines). Sie sprechen damit ebenfalls für die Einbeziehung der Garantien der Nichtwiederholung des Unrechts in das Wiedergutmachungskonzept des Art. 41 EMRK. c) Zur Frage der Modifizierung der Pflichten durch Art. 41 EMRK („Wiedergutmachung nur insoweit als die innerstaatliche Rechtsordnung dies ermöglicht“) Wortlaut und Entstehungsgeschichte der EMRK sprechen für eine Wiedergutmachung im weiten Sinne im Einklang mit dem Völkerrecht. Es wird jedoch immer wieder geltend gemacht, dass die allgemeine Wiedergutmachungspflicht des Völkerrechts durch die Formulierung in Art. 41 EMRK modifziert wurde, wonach „Wiedergutmachung nur insoweit [zu leisten ist] als die innerstaatliche Rechtsordnung dies ermöglicht“.154 Das Problem der Modifizierung der Wiedergutmachungspflicht wird vor allem im Zusammenhang mit der Rechtskraft der innerstaatlichen Urteile diskutiert. Daher soll der Fall der Konventionsverletzung durch ein innerstaatliches Urteil zunächst betrachtet werden. Anschließend wird der Fall der Konventionsverletzung durch eine Rechtsnorm untersucht, da die Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil häufig Änderungen einer gesetzlichen Regelung erfordern wird. Dagegen ist die Konventionsverletzung durch einen Verwaltungsakt im Zusammenhang mit den Piloturteilen von geringerem Interesse, weil vor der Anrufung des Gerichtshofs im Rahmen der Individualbeschwerde gemäß Art. 35 EMRK der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft werden muss und der streitgegenständliche Verwaltungsakt daher regelmäßig höchstrichterlich bestätigt sein wird.155 Die Untersuchung konzentriert sich daher auf die Konventions-

Commissioner of Human Rights/International Human Rights Law/Universal Human Rights Instruments/), Stand: 30.9.2015. 154 Für eine solche Modifizierung der Wiedergutmachungspflicht siehe: Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG (Dreierausschuss) v. 11.10.1985, 2 BvR 336/85, EuGRZ 1985, S. 654 (655); Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 32, Rn. 64; Polakiewicz, ZaöRV 1992, S. 149 (165); Klein, Binding effect, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 705 (708). 155 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 107 f.; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 208.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

verletzung durch ein Gerichtsurteil und durch das Gesetz als Form staatlichen Handelns.156 aa) Konventionsverletzung durch Gerichtsurteil Beruht die Konventionsverletzung auf einem nationalen Urteil, wird der Beschwerdeführer die Aufhebung der nationalen Entscheidung begehren. Die Urteile des EGMR haben aber keine kassatorische Wirkung.157 Dies wäre nicht weiter problematisch, wenn die EMRK die Mitgliedstaaten verpflichten würde, im innerstaatlichen Recht eine Möglichkeit zur Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens nach Feststellung der Konventionsverletzung durch den EGMR bereitzustellen.158 In vielen Staaten gibt es heute spezifische Regelungen im Strafrecht, um eine Wiedereröffnung des Verfahrens nach einem Urteil des EGMR zu ermöglichen.159 In einigen Staaten besteht eine solche Wiederaufnahmemöglichkeit auch im Zivil- und/oder Verwaltungsrecht.160 In anderen Ländern wurde eine solche Möglichkeit der Wiederaufnahme trotz Fehlens einer ausdrücklichen Regelung durch die nationalen Gerichte anerkannt. Es gibt jedoch immer noch Länder, in denen keine entsprechenden Vorschriften geschaffen wurden.161 (1) Kein Einwand rechtlicher Unmöglichkeit im allgemeinen Völkerrecht Das allgemeine Völkerrecht spricht für die Pflicht zur Wiederaufnahme bei Vorliegen eines konventionswidrigen Urteils, denn das allgemeine Völkerrecht akzeptiert nur die Unmöglichkeit der Urteilsumsetzung aufgrund tatsächlicher oder sich aus dem Völkerrecht ergebender Umstände, nicht aber aufgrund rechtlicher Unmöglichkeit.162 Hauptargument ist, dass auch im haftungsbegründenden

156 Zu den innerstaatlichen Problempunkten bei der Aufhebung konventionswidriger Verwaltungsakte für Deutschland, siehe: Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 208 ff. 157 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 3. a). 158 Schumann, in: Bammer u. a. (Hrsg.), FS R. Machacek und F. Matscher, S. 901 (905). 159 Für Deutschland, vgl. § 359 Nr. 6 StPO. 160 In Deutschland bestand lange Zeit der Wiederaufnahmegrund der erfolgreichen Menschenrechtsbeschwerde nur im Strafrecht. Seit dem 31.12.2006 ist die Restitutionsklage auch im Zivilprozess (§ 580 Nr. 8 d ZPO) und über die Verweisungsnorm der § 79 S. 1 ArbGG, § 153 Abs. 1 VwGO, § 179 SGG, § 134 FGO auch in anderen Verfahrensarten möglich. 161 Für einen Überblick über die Wiederaufnahmeregelung in den einzelnen Ländern, siehe: Lambert-Abdelgawad, Rev.trim.dr.h. 12 (2001), S. 715 ff. und dies., in: CohenJonathan u. a. (Hrsg.), De L’effectivité des recours internes dans l’application de la CEDH, Droit et Justice Nr. 69 (2006). 162 Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 65.

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Teil das innerstaatliche Recht bedeutungslos ist; spiegelbildlich hierzu könne das nationale Recht auch keinen Ausschluss der Haftungsfolgen begründen.163 Auch die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen spricht nicht hiergegen. Die Rechtskraft genießt sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene einen hohen Stellenwert,164 denn sie dient der Sicherung des Rechtsfriedens.165 Der Grundsatz der Rechtskraft gilt aber nicht uneingeschränkt. Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme des Verfahrens zwecks Wiederaufgreifen eines mit rechtskräftiger Entscheidung abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens steht im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfrieden einerseits und Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits.166 Das nationale Recht enthält in der Regel nur wenige Wiederaufnahmegründe. Es gibt aber keine Staatenpraxis, die die Naturalrestitution bei Verletzung des Völkerrechts durch ein rechtskräftiges Urteil generell ausnehmen würde.167 (2) Zum Einwand rechtlicher Unmöglichkeit im Konventionsrecht Im Konventionsrecht wendet die herrschende Meinung gegen die Pflicht zur Wiederaufnahme eines Verfahrens ein, dass die Regeln des allgemeinen Völkerrechts durch den Vorbehalt in Art. 41 EMRK („gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragsparteien nur eine unvollkommene Wiedergutmachung“) abgeschwächt wurde und der Einwand rechtlicher Unmöglichkeit zulässig sei.168 Der Vorbehalt in Art. 41 EMRK zeuge von der Absicht der Konventionsstaaten, dem innerstaatlichen Recht die Aufgabe zu übertragen, einen Ausgleich zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu finden.169 Art. 41 EMRK gestatte den Vertragsstaaten daher, rechtskräftige Entscheidungen nationaler Gerichte unangetastet zu lassen.170 Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht. Nach Art. 46 EMRK sind die Konventionsstaaten ohne Einschränkung zur Befolgung der Urteile des EGMR verpflichtet. Auch die Verpflichtung zur Wiedergutmachung, die in Art. 41 EMRK eine normative Verankerung erfahren hat, steht nicht unter dem Vorbehalt der „Möglichkeit“, sondern gilt unbedingt.171 Den Gründungsvätern war die Rechtspre163

Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 66. Pache/Bierlitz, DVBl. 2006, S. 325 (325). 165 Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 24. 166 Pache/Bielitz, DVBl. 2006, S. 325 (325). 167 Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 66. 168 So aber: Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, S. 1732; Pache/Bielitz, DVBl. 2005, S. 325 (327). 169 Pache/Bielitz, DVBl. 2005, S. 325 (327). 170 Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v. 11.10.1985, 2 BvR 336/85, EuGRZ 1985, S. 654 (655). 171 Ress, in: Fürst u. a. (Hrsg.), FS Zeidler 1987, S. 1775 (1792 f.). 164

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

chung Chorzów aus dem Jahr 1928 bekannt. Hätten sie mit Art. 41 EMRK eine derartige Einschränkung der völkerrechtlichen Wiedergutmachungspflicht vornehmen wollen, so hätte dies deutlicher zum Ausdruck gebracht werden müssen.172 Das allgemeine Völkerrecht sollte nur insoweit geändert werden, als dass durch Art. 41 EMRK ein Entschädigungsanspruch des Betroffenen eingeführt und eine Kassationsbefugnis des EGMR ausgeschlossen wurde. Die Konventionsstaaten sollten aber nicht die Möglichkeit erhalten, sich von ihrer Pflicht zur umfassenden Wiedergutmachung freizukaufen und anstelle der Naturalrestitution eine Entschädigung zu leisten.173 Die herrschende Auffassung ist folglich abzulehnen und der Einwand rechtlicher Unmöglichkeit unzulässig. (3) Zur Verpflichtung der Staaten zur Einräumung von Wiederaufnahmegründen Ist der Einwand der rechtlichen Unmöglichkeit abgeschnitten, so stellt sich die Frage, ob die Konventionsstaaten verpflichtet sind, ihre innerstaatliche Rechtsordnung an die Konvention anzupassen und Wiederaufnahmetatbestände einzuführen. Dies würde den EGMR von einer ad infinitum zu wiederholenden Feststellung der Unvollkommenheit der Wiedergutmachungsmöglichkeit im innerstaatlichen Recht befreien. (a) Art. 13 EMRK Für eine Pflicht zur Schaffung von Wiederaufnahmetatbeständen spricht Art. 13 EMRK, wonach jede in ihren Konventionsrechten verletzte Person ein Recht auf wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz hat.174 Dies gilt jedenfalls dann, wenn Art. 13 EMRK dahingehend auszulegen ist, dass die Pflicht zur Schaffung eines wirksamen Rechtsbehelfs auf den Fall der bereits festgestellten Konventionsverletzung anwendbar ist (sog. collective view)175 und sich nicht darauf beschränkt, dass generell ein effektiver Rechtsbehelf gegen Konventionsverletzungen verfügbar ist (sog. domestic view). In dem letztgenannten Fall wäre Art. 13 EMRK eine Sicherungsmaßnahme, damit auch Staaten, die die EMRK nicht in ihr nationales Rechts inkorporiert haben, einen wirksamen Rechtsbehelf vorsehen.176 172

Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 68. Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des EGMR, S. 56 f.; Cremer, EuGRZ 2004, S. 683 (692). 174 Vogler, in: Jeschek/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 713 (724). 175 Vogel, in: Jeschek/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 713 (725). 176 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 116. Die Begriffe „collective view“ und „domestic view“ gehen zurück auf Fawcett, The application of the European Convention on Human Rights, S. 291. 173

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Zugunsten der domestic view wird die Stellung des Art. 13 EMRK im Abschnitt I. („Rechte und Freiheiten“) der EMRK angeführt, während Rechtskraft und Vollzug im Abschnitt II. („Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte“) geregelt sind. Aus der systematischen Stellung wird gefolgert, dass Art. 13 EMRK keine Vorgaben für den Urteilsvollzug enthalten könne.177 Ferner wird argumentiert, dass im Fall der Wiederaufnahme ein neuerliches gerichtliches Verfahren durchgeführt werden müsse. Art. 6 EMRK, der das Gerichtsverfahren regele, gewähre keinen Anspruch auf ein mehrstufiges Verfahren. Art. 13 EMRK als subsidiäre Vorschrift könne keine strengen Maßstäbe aufstellen.178 Die Auffassung kann jedoch nicht überzeugen. Nach der Kudla-Rechtsprechung, die Art. 13 EMKR neben Art. 6 EMRK im Fall überlanger Verfahrensdauer für anwendbar erklärt hat, gilt der Einwand der Subsidiarität des Art. 13 EMRK nicht mehr absolut. Die systematische Stellung des Art. 13 EMRK in Abschnitt I der EMRK erklärt sich aus dem Umstand, dass Art. 13 EMRK zumindest auch ein Individualrecht auf wirksame Beschwerde enthält. Dies schließt aber nicht aus, dass die Norm gleichzeitig allgemeine Hinweise auf die innerstaatliche Ausgestaltung des Rechts enthält. Schließlich haben inzwischen alle Staaten die EMRK im Wesentlichen inkorporiert – mehr noch, es ist von einer Pflicht zur Inkorporation der EMRK auszugehen.179 Vor diesem Hintergrund ist die enge Auslegung des Art. 13 EMRK nicht mehr vertretbar. Sie würde zu einem vollständigen Bedeutungsverlust der Norm führen. Vielmehr spricht Art. 13 EMKR im Sinne der collective view für die Pflicht zur Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren. (b) Praxis der Konventionsorgane Das Ministerkomitee hat in seiner Empfehlung No. R (2002)2 darauf verwiesen, dass die Wiederaufnahme innerstaatlich abgeschlossener Verfahren nach seinen Erfahrungen aus der Überwachung des Urteilsvollzugs in bestimmten Fällen die effizienteste, wenn nicht die einzige Art ist, den Erfordernissen der restitutio in integrum zu genügen: „Bearing in mind, however, that the practice of the Committee of Ministers in supervising the execution of the Court’s judgments shows that in exceptional circumstances the re-examination of a case or reopening of proceedings has proved the most efficient, if not the only, means of achieving restitutio in integrum.“ 180 177 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 116. 178 Polakiewicz, a. a. O., S. 115. 179 Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. I. 180 Empfehlung des Ministerkomitees R(2002)2 an die Mitgliedstaaten über die Wiederaufnahme innerstaatlich abgeschlossener Fälle nach einem Urteil des EGMR (Recommendation no. R (2002)2 of the Committee of Ministers to member states on the reexamination or reopening of certain cases at domestic level following judgments of

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Die Empfehlung des Ministerkomitees ist allerdings nicht rechtlich verbindlich. Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung hervorgehoben, dass ein neuerliches Verfahren grundsätzlich der angemessenste Weg sei, die Verletzung der Konvention durch ein gerichtliches Urteil zu beseitigen.181 Als Formulierung einer Pflicht zur Wiederaufnahme wurde die Kammerentscheidung Sejdovic ./. Italien182 vom 10. November 2004 gewertet. In dieser Rechtssache wurde in Italien ein Strafverfahren in Abwesenheit des Beschwerdeführers geführt, sog. Kontumazialverfahren, und letzterer wegen Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von 21 Jahren und acht Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde in Deutschland festgenommen, doch die deutschen Behörden lehnten die Auslieferung ab, weil nicht sichergestellt sei, dass der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangen könne. Das italienische Recht sah eine neuerliche Prüfung nur für den Fall vor, dass die Erklärung als „flüchtig“ nachweislich rechtsfehlerhaft war. Der EGMR lässt in seiner Entscheidung offen, ob das Kontumazialverfahren als solches mit Art. 6 EMRK unvereinbar ist. Jedenfalls stelle es eine Justizverweigerung dar, wenn ein in Abwesenheit Verurteilter nicht die Möglichkeit erhalte, in einem neuen Verfahren, das den Anforderungen des Art. 6 EMRK genügt, angehört zu werden. Eine Konventionsverletzung sei nur dann zu verneinen, wenn der Verurteilte auf sein Recht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung unmissverständlich verzichtet habe. In Ziffer 3 des Tenors ordnete der Gerichtshof an, dass „der beklagte Staat (. . .) durch geeignete Maßnahmen die Durchsetzung des fraglichen Rechts zugunsten des Beschwerdeführers und der sich in einer vergleichbaren Lage befindlichen Personen sicherstellen“ müsse.183 In der Literatur wurde hervorgehoben, dass sich die Anordnung zugunsten des Beschwerdeführers nur als Anordnung der Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens verstehen lasse. Diese verbindliche Anordnung der Wiederaufnahme sei nach einer Ansicht in der Literatur mit dem Wortlaut der Konvention unvereinbar.184 Bestätigt sah sich diese Ansicht durch das Urteil der Großen Kammer the European Court of Human Rights), angenommen am 19.1.2000 auf der 64. Sitzung des Ministerkomitees, abrufbar unter: (Human Rights/Effectiveness of the Human Rights Convention (ECHR) system at the national and European level/CDDH/Adopted Texts/Recommendations), Stand: 30.9.2015, abgedruckt in HRLJ 2000, S. 272 ff. 181 EGMR, Urteil v. 18.5.2004 – Somogyi ./. Italien, Nr. 67972/01, Ziff. 86; EGMR, Urteil v. 23.10.2003 – Gençel ./. Türkei, Nr. 53431/99, Ziff. 27. 182 EGMR, Urteil v. 10.11.2004 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00, EuGRZ 2004, S. 779 ff. Zu dem italienischen Kontumazialverfahren: François, Rev.trim.dr.h. 18 (2007), S. 521–540. 183 EGMR, Urteil Sejdovic, a. a. O., Ziff. 43–47 und Ziff. 3 des Tenors – Hervorhebung durch Verfasserin. 184 Schmahl, EuGZR 2008, S. 369 (376); Breuer, EuGZR 2004, S. 782 (786).

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vom 1. März 2006,185 welches anders als das Kammerurteil, keine Anordnung im Urteilstenor vorsah. Bei einer genaueren Betrachtung des Urteils der Großen Kammer wird allerdings deutlich, dass das Unterbleiben der Anordnung nicht darauf zurückzuführen ist, dass der Gerichtshof von einer fehlenden Kompetenz zur Anordnung ausging. In den Entscheidungsgründen führt die Große Kammer aus, dass die fraglichen italienischen Bestimmungen durch das Gesetz Nr. 60/ 2005 zwischenzeitlich geändert wurden. Nach der neuen Regelung kann auf Antrag des Verurteilten ein Verfahren der Wiedereröffnung eingeleitet werden, es sei denn der Verurteilte hatte tatsächliche Kenntnis von dem Verfahren oder dem Urteil gegen ihn und hat freiwillig auf sein Recht auf Teilnahme an der Verhandlung oder auf Einlegung der Berufung verzichtet. Es bestand damit kein Bedürfnis mehr für eine Anordnung durch den Gerichtshof. Einen bedeutsamen Schritt in Richtung Formulierung einer Pflicht zur Wiederaufnahme stellt der Fall Verein gegen Tierfabriken ./. Schweiz186 dar. In diesem Fall ging es um das Verbot der Ausstrahlung einer vom Verein gegen Tierfabriken produzierten Werbesendung, die eine Parallele zwischen der Massenhaltung von Schweinen und Konzentrationslagern zog. Mit Urteil vom 28. Juni 2001 stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest, da für die Ablehnung des Antrags auf Wiederaufnahme keine ausreichenden Gründe angegeben worden waren. Daraufhin stellte der Verein ein Revisionsgesuch, um die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Ausstrahlung des Werbespots durchzusetzen. Das Bundesgericht lehnte das Revisionsgesuch jedoch ab. Der Verein machte nunmehr vor dem EGMR geltend, dass die Aufrechterhaltung des Verbots, den Werbespot auszustrahlen, eine erneute Verletzung von Art. 10 EMRK darstelle. Die Große Kammer prüfte die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der positiven Verpflichtung der Schweiz, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Ausstrahlung des umstrittenen Werbespots zu ermöglichen.187 Der beklagte Staat könne grundsätzlich die Mittel wählen, mit denen er seine Pflicht zur Befolgung des Urteils nach Art. 46 Abs. 1 EMRK nachkommen will; diese müssen aber mit den Schlussfolgerungen im Urteil des Gerichtshofs vereinbar sein. Der Gerichtshof könne eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht anordnen. Wenn eine Person in einem Verfahren verurteilt worden ist, das den Anforderungen von Art. 6 EMRK nicht entsprochen hat, könne der Gerichtshof aber aussprechen, dass ein neues Verfahren oder eine Wiederaufnahme auf Antrag des Betroffenen ein angemessenes Mittel sei, die festgestellte Verletzung wiedergutzumachen. Sieht das staatliche Recht eine Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens vor, sei 185 EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00, HRLJ 2006, Ziff. 83 ff. 186 EGMR (GK), Urteil v. 30.6.2009 – Verein gegen Tierfabriken (VtG) ./. Schweiz Nr. 2, Nr. 32772/02, NJW 2010, S. 3699 ff. 187 EGMR (GK), Urteil Verein gegen Tierfabriken, a. a. O., Ziff. 79.

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außerdem erforderlich, dass die Wiederaufnahme den Schlussfolgerungen und dem Sinn des Urteils des EGMR unter Beachtung der Verfahrensgarantien der Konvention Rechnung trage.188 Der EGMR normiert in dieser Entscheidung keine generelle Wiederaufnahmepflicht. Er spricht allerdings von einer Pflicht der Konventionsstaaten, ihre Justiz auf eine Weise zu organisieren, dass sie den Anforderungen der Konvention entspricht.189 Sieht der Staat grundsätzlich eine Wiederaufnahmemöglichkeit vor, müsse diese den Anforderungen der Konvention genügen. Die Entscheidung wurde von einigen Richtern in ihrem Sondervotum kritisiert, da sie zur Folge habe, dass Staaten, die zur Verbesserung der Urteilsumsetzung Wiederaufnahmegründe eingeführt haben, dem Risiko einer zweiten Konventionsverletzung ausgesetzt werden, während Staaten, die eine solche Möglichkeit nicht vorgesehen haben, dieser Gefahr nicht ausgesetzt seien.190 Dieses Ungleichgewicht würde entfallen, wenn die Pflicht zu einer den Anforderungen der EMRK entsprechenden Organisation der Justiz in den Konventionsstaaten nicht auf die ordnungsgemäße Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens beschränkt wird, sondern – gewissermaßen als Vorstufe – auch die Pflicht zur Zurverfügungstellung von Wiederaufnahmemöglichkeiten erfassen würde. (4) Fazit Die überzeugenderen Argumente sprechen für eine Pflicht der Staaten zur Einführung von Wiederaufnahmegründen. Die Zurückhaltung des EGMR, eine Pflicht zur Bereitstellung von Wiederaufnahmemöglichkeiten klar zu formulieren, beruht auf einem judicial self-restraint. So ist die Wiederaufnahme von Verfahren regelmäßig, jedoch nicht immer die beste Form der Wiedergutmachung. Dies wird besonders deutlich, wenn eine Verletzung wegen überlanger Verfahrensdauer festgestellt wurde. Hier würde eine Wiederaufnahme den Grundsatz, innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, ad absurdum führen.191 Die Wiederaufnahme eines Verfahrens ist auch dann problematisch, wenn infolge einer langen Zeitspanne zwischen dem ersten Verfahren und der Feststellung der Konventionsverletzung die Gefahr von Beweisverlusten besteht. Auch das hohe Alter und der angegriffene Gesundheitszustand des Beschwerdeführers können gegen die Zweckmäßigkeit der Wiederaufnahme sprechen192 Umgekehrt gibt es 188

EGMR (GK), Urteil Verein gegen Tierfabriken, a. a. O., Ziff. 83–90. EGMR (GK), Urteil Verein gegen Tierfabriken, a. a. O., Ziff. 97. 190 Sondervotum der Richter Malinverni, Bîrsan, Myjer und Berro-Lefèvre zu EGMR (GK), Urteil Verein gegen Tierfabriken, a. a. O., Ziff. 25, 26. 191 Werwie-Haas, Die Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des EGMR, S. 64. 192 Werwie-Haas, Die Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des EGMR, S. 69. 189

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jedoch Fälle, in denen die Wiederaufnahme die einzige Möglichkeit ist, angemessene Wiedergutmachung zu leisten. Wurde eine Verletzung von Verfahrensrechten des Beschwerdeführers festgestellt, die sich auf die Art oder Höhe der Strafe des inhaftieren Beschwerdeführers ausgewirkt hat, so kann nur durch die Wiederaufnahme des Strafverfahrens die Schuld des Beschwerdeführers geklärt und das Strafmaß überprüft werden.193 Gibt es aber Fälle, in denen die Wiederaufnahme die einzige Möglichkeit ist, Wiedergutmachung zu leisten, so muss in der Konsequenz die Pflicht der Staaten zur Bereitstellung einer Wiederaufnahmemöglichkeit bejaht werden. Das Bedürfnis nach einer Wiederaufnahmemöglichkeit wird im Strafrecht besonders deutlich, allerdings gibt es keinen Grund, die Wiederaufnahmemöglichkeit auf den Bereich des Strafverfahrens zu beschränken.194 Durch die Annahme einer Pflicht zur Schaffung von Wiederaufnahmemöglichkeiten wird die fehlende Kassationsbefugnis des Gerichtshofs nicht unterlaufen. Die unmittelbare Aufhebung eines Urteils durch eine internationale Instanz stellt einen viel stärkeren Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten dar als eine Verpflichtung zur Einführung eines Wiederaufnahmegrundes, wobei die Ausgestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens der freien Regelung der Mitgliedstaaten obliegt. bb) Konventionsverletzung durch Rechtsnorm Die Konventionsstaaten sind nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet, eine andauernde Konventionsverletzung bezogen auf den Beschwerdeführer zu beenden. (1) Konventionsverletzung beruht unmittelbar auf einer Rechtsnorm Wenn die Konventionsverletzung unmittelbar auf einer gesetzlichen Regelung beruht, folgt die Pflicht zur Abänderung unzweifelhaft aus Art. 46 EMRK.195 Beispielsweise hat der EGMR im Fall Marckx im Jahr 1979 die Konventionswidrigkeit der Bestimmungen des belgischen Zivilrechts im Hinblick auf die Beziehung der Mutter zu ihrem unehelichen Kind festgestellt. In der Entscheidung führte der EGMR aus, dass es nicht seine Aufgabe sei, eine abstrakte Prüfung der angegriffenen Gesetzestexte durchzuführen. Es lasse sich nicht vermeiden, dass die Entscheidung des Gerichtshofs über den spezifischen Fall hinaus Wirkungen haben werde. Dies gelte umso mehr als die hervorgetretenen Verletzungen ihre unmittelbare Wurzel in den genannten Gesetzestexten hätten und nicht 193 EGMR (GK), Urteil v. 30.6.2009 – Verein gegen Tierfabriken (VtG) ./. Schweiz Nr. 2, Nr. 32772/02, NJW 2010, S. 3699 ff. und Werwie-Haas, Die Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des EGMR, S. 69. 194 So auch Breuer, EuGRZ 2004, S. 782 (786). 195 Frowein, in: ders./Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 46 Rn. 6 und 7; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46, Rn. 41.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

in einzelnen Vollzugsmaßnahmen.196 Die aufgrund des Urteils Marckx erforderliche Änderung des belgischen Familienrechtsteils erfolgte aber erst 1987, nachdem der Gerichtshof im Fall Vermeire197 erneut die Verletzung von Art. 8 EMRK i.V. m. Art. 14 EMRK festgestellt hat.198 Ein weiteres Beispiel ist der Fall Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich,199 der die Strafbarkeit männlicher homosexueller Handlungen betraf, die nach britischem Recht anders als heterosexuelle und anders als weibliche homosexuelle Handlungen behandelt wurden und Art. 8 EMRK verletzte. In Reaktion auf diese Entscheidung ist die Gesetzgebung über Homosexualität in Nordirland geändert worden. (2) Konventionsverletzung beruht mittelbar auf einer Rechtsnorm Ist eine gesetzliche Regelung nicht die unmittelbare Ursache einer Konventionsverletzung, legt sie aber einen Verstoß gegen die EMRK nahe, ist sie mittelbare Ursache der Konventionsverletzung. Eine Pflicht zur Änderung der Rechtsnorm ist in diesem Fall ebenfalls anerkannt. Nach Ansicht von Meyer-Ladewig folgt diese Pflicht nicht aus Art. 46 EMRK, da sich hier die Feststellungswirkung und die Rechtskraft auf die Konventionsverletzung durch einen bestimmten Verwaltungsakt oder ein bestimmtes Urteil beziehen, die die zugrunde liegende gesetzliche Norm nicht erfassen. Die Verpflichtung zur Änderung der gesetzlichen Norm folge aber aus Art. 1 EMRK, wonach die Konventionsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I der EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten zusichern und eine Wiederholung dieser Verletzung vermeiden müssen.200 Folge dieser Ansicht wäre, dass das Ministerkomitee nicht nach Art. 46 Abs. 2 EMRK zur Überprüfung der Urteilsdurchführung in diesen Fällen zuständig wäre, da sich Art. 46 Abs. 2 EMRK nur auf Art. 46 Abs. 1 EMRK bezieht. Allerdings sei die Kontrolle des Ministerkomitees für diesen Fall gewohnheitsrechtlich anerkannt.201 Tatsächlich besteht keine Notwendigkeit für den Rückgriff auf Art. 1 EMRK, denn die Pflicht zur Änderung eines Gesetzes, das mittelbare Ursache einer Konventionsverletzung ist, folgt unmittelbar aus Art. 46 EMRK.202 Die Staaten sind 196

EGMR (Plenum), Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, EuGRZ 1979, S. 454 ff., Ziff. 58. 197 Urteil v. 29.11.1991 – Vermeire ./. Belgien, Nr. 12849/87, EuGRZ 1992, S. 12 ff. 198 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 53, Rn. 6, Aufl. 1996. 199 EGMR (GK), Urteil v. 22.10.2008 – Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, EuGRZ 1983, S. 488 ff. 200 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 EMRK, Rn. 40. 201 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 EMRK, Rn. 40. 202 Für eine Pflicht zur Änderung der Rechtsnorm unmittelbar aus Art. 46 EMRK auch: Frowein, in: ders./Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 46, Rn. 7; Frowein, JuS 1986, S. 845 (850); Okresek, EuGZR 2003, S. 168 (171); Villiger, Handbuch der EMRK, § 15, Rn. 242.

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nach Art. 46 EMRK zur Wiedergutmachung im Sinne einer umfassenden Unrechtsbeseitigung verpflichtet. Hierzu gehören neben den Beendigungsmaßnahmen auch Maßnahmen zur Nichtwiederholung des Unrechts. Beruht die Konventionsverletzung unmittelbar auf einer Rechtsnorm, kann die Pflicht zur Änderung der Rechtsnorm sowohl mit der Pflicht zur Beendigung hinsichtlich des betroffenen Beschwerdeführers als auch mit der Pflicht zur Ergreifung von Garantien zur Nichtwiederholung des Unrechts begründet werden. Beruht die Konventionswidrigkeit nur mittelbar auf einer Rechtsnorm, folgt die Pflicht zur Änderung der Rechtsnorm jedenfalls aus der Pflicht zur Ergreifung von Maßnahmen zur Vermeidung der Wiederholung des Unrechts in der Zukunft. Mithin wird auch die Zuständigkeit des Ministerkomitees zur Überwachung der Gesetzesänderung unmittelbar über Art. 46 Abs. 2 EMRK begründet. (3) Erstreckung der Anpassungspflicht auf das Verfassungsrecht Die Anpassungspflicht des nationalen Gesetzgebers erstreckt sich auf das Verfassungsrecht.203 Aus Sicht des Völkerrechts ist allein die EMRK Maßstab. Es macht keinen Unterschied, ob die Konventionsverletzung durch Verfassungsrecht oder sonstiges Recht erfolgt, wie der EMGR in der Entscheidung Vereinigte Kommunistische Partei ./. Türkei hervorhebt: „The political and institutional organisation of the member states must accordingly respect the rights and principles enshrined in the Convention. It matters little in this context whether the provisions in issue are constitutional or merely legislative“.204

Vereinzelt wurde eingewandt, dass eine formelle Änderung konventionswidriger Rechtssätze oder der Verfassung nicht erforderlich sei, sofern aufgrund der innerstaatlichen Normenhierarchie sichergestellt werde, dass die konventionswidrige Norm nicht angewendet werden dürfe.205 Die Fortgeltung der konventionswidrigen Bestimmung erscheint aber befremdlich und kann einen die garantierten Menschenrechte bedrohenden abschreckenden Effekt („chilling effect“) ausüben.206 Auch der EuGH lässt eine bloße Anwendungsaussetzung nicht genügen, selbst wenn der Vorrang des Unionsrechts in dem Staat anerkannt ist.207 Von ei-

203 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 159; Lambert-Abdelgawad, Rev.trim.dr.h. 2009, S. 662. 204 EGMR (GK), Urteil v. 30.1.1998 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei u. a. ./. Türkei, Nr. 19392/92, Ziff. 30. 205 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, S. 85 ff. 206 Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (235) und Fn. 24. 207 EuGH, Urteil v. 4.4.1974 – Kommission ./. Frankreich, Rs. 167/73, Slg. 1974, S. 359 (371 ff.).

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ner Pflicht zur Änderung konventionswidriger Normen, einschließlich der Verfassung, gehen auch die ILC’s Articles on State Responsibility aus.208 In der Praxis der Konventionsstaaten finden sich mehrere Beispiele für solche Verfassungsänderungen. Nach dem Fall Open Door und Dublin Well Woman ./. Irland 209 billigte das Volk die Verfassungsänderung.210 Auch die Türkei hat ihre Verfassung geändert, nachdem der EGMR wiederholt einen Verstoß gegen die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) infolge strafrechtlicher Verurteilungen türkischer Beschwerdeführer wegen ihrer verfassungsfeindlichen öffentlichen Äußerungen festgestellt hat.211 Die Präambel der türkischen Verfassung wurde dahingehend modifiziert, dass nur noch verfassungsfeindliche Aktivitäten statt Gedanken und Meinungen verfolgt werden können. Außerdem wurde in Art. 13 und Art. 26 der türkischen Verfassung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeführt und die Möglichkeiten der Beschränkung der Meinungsfreiheit vergleichbar Art. 10 Abs. 2 EMRK abschließend aufgelistet.212 In der Literatur wird darauf verwiesen, dass sich die von der Konvention geforderte Änderung eines Gesetzes oder der Verfassung als „unmöglich“ erweisen könne, zum Beispiel wenn die Änderung ein Referendum erfordere und das Volk die Abänderung ablehne. Ist die Herstellung des konventionsgemäßen Zustandes auf Dauer nicht möglich, könne der Staat dennoch seine völkerrechtlichen Verpflichtungen genügen, wenn er dem vor dem EGMR obsiegendem Beschwerdeführer die bestmögliche Naturalrestitution und eine Entschädigung gewähre.213 Wie Ress feststellte, ist dieses Ergebnis nicht nur unerfreulich, sondern mit der Pflicht zur Befolgung der Urteile nach Art. 46 EMRK i.V. m. Art. 41 EMRK un-

208

Crawford, The ILC’s Articles on State Responsibility, Erläuterung (5) zu Art. 35, S. 215: „The term ,juridical restitution‘ is sometimes used where restitution requires or involves the modification of a legal situation either within the legal system of the responsible State or in its legal relations with the injured State. Such cases include the revocation, annulment or amendment of a constitutional or legislative provision enacted in violation of a rule of international law, (. . .)“. 209 EGMR (Plenum), Urteil v. 29.10.1992 – Open Door and Dublin Well Woman ./. Irland, Nr. 14234/88; Nr. 14235/88. 210 Werwie-Haas, Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des EGMR, S. 76. 211 Siehe beispielhaft zur Verurteilung der Türkei wegen Verstoßes gegen Art. 10 EMRK: EGMR, Urteil v. 10.10.2000 – I˙brahim Aksoy, Nr. 28635/95, Nr. 30171/96 und Nr. 34535/97; EGMR, Urteil v. 4.6.2002 – Yag˘murdereli ./. Türkei, Nr. 29590/96; EGMR, Urteil v. 4.3.2003 – Yas¸ar Kemal Gökçeli, Nr. 27215/95 und Nr. 36194/97. 212 Zwischenresolution ResDH(2004)38, Freedom of Expression cases concerning Turkey, angenommen am 2.6.2004 anlässlich des 885. Sitzung des Ministerkomitees, abrufbar unter (Cases/Decisions and Resolutions/Collection of Interim Resolutions Adopted by the Committee of Ministers 1988–2008), Stand: 30.9.2015. 213 Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, S. 277 ff.

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vereinbar.214 Die Aufrechterhaltung einer konventionswidrigen Norm ist nur für eine Übergangszeit denkbar, etwa bis zu einer Überarbeitung der Gesetzes oder der Durchführung einer Volksabstimmung. Ist die Wiederherstellung des konventionsgemäßen Zustandes dauerhaft nicht möglich, bleibt letztendlich nur der Austritt aus dem System.215 d) Fazit Die Konventionsstaaten sind zu einer umfassenden Wiedergutmachung verpflichtet, die im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht neben der Pflicht zur Wiederherstellung des früheren Zustandes die Pflicht zur Beendigung einer andauernden Konventionsverletzung und die Pflicht zur Ergreifung von Garantien zur Nichtwiederholung des begangenen Unrechts erfasst. Eine Modifikation der völkerrechtlichen Wiedergutmachungspflichten durch Art. 41 EMRK hat nicht stattgefunden. Insbesondere können sich die Konventionsstaaten nicht auf den Einwand der rechtlichen Unmöglichkeit und die Rechtskraft der Entscheidungen berufen, um sich von ihrer Pflicht zur umfassenden Wiedergutmachung freizukaufen. Vielmehr besteht eine Pflicht zur Einführung von Wiederaufnahmegründen. Die Wiedergutmachungspflicht erstreckt sich auch auf die Pflicht zur Änderung gesetzlicher Bestimmungen. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob die Rechtsnorm unmittelbare oder nur mittelbare Ursache einer Konventionsverletzung ist. Die Änderungspflicht erstreckt sich auch auf die Verfassung.

II. Die Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen Es wurde festgestellt, dass die Mitgliedstaaten materiell-rechtlich zu einer umfassenden Wiedergutmachung des begangenen Unrechts verpflichtet sind, die die Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen einschließt. In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit der EGMR verfahrensrechtlich berechtigt ist, diese generellen Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Die völkerrechtliche Verpflichtung zur Beseitigung eines unrechtmäßigen Zustandes impliziert nicht ohne weiteres eine Anordnungsbefugnis des Gerichtshofs.216 So wurde bereits ausgeführt, dass die Konventionsstaaten zur Beseitigung einer konventionswidrigen Gesetzeslage verpflichtet sind, der EGMR aber nicht die Befugnis hat,

214 Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (237), Rn. 36. 215 Zu der Problematik der Pflicht der Befolgung der Urteile des EGMR und dem Schutz der Verfassung siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. II. 1. 216 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 213; Traßl, Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen im Völkerrecht, S. 18.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

eine innerstaatliche Rechtsnorm aufzuheben.217 Mögliche Einschränkungen der Anordnungsbefugnis können sich aus dem Wortlaut des Art. 41 EMRK, dem Verbot der abstrakten Normenkontrolle, dem Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten und dem Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees ergeben. 1. Begriff „satisfaction“ Ausgangspunkt der Analyse über das Bestehen und die Reichweite der Anordnungsbefugnisse des Gerichtshofs ist Art. 41 EMRK, der die Möglichkeit einer Anordnung durch den Gerichtshof in Form der Gewährung einer Entschädigung (satisfaction) an den Beschwerdeführer vorsieht. Während bei der Frage nach der Reichweite der Pflichten der Konventionsstaaten der Begriff der Wiedergutmachung (reparation) im Zentrum des Interesses stand, ist im Zusammenhang mit der Anordnungsbefugnis des EGMR eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Entschädigung (satisfaction) erforderlich. a) Feststellung der Konventionsverletzung und Geldersatz Der EGMR selbst schien zunächst den Entschädigungsbegriffs eng auszulegen und sich auf die Feststellung einer Konventionsverletzung zu beschränken.218 Art. 34 der ILC’s Articles on State Responsibility scheint diese enge Auslegung zu stützen, da er den Begriff satisfaction als Synonym für die Genugtuung als Unterfall der Wiedergutmachung (reparation, Art. 37 ILC’s Articles on State Responsibility) verwendet und auf den Ersatz immaterieller Schäden beschränkt. Ein solches enges Verständnis der satisfaction wird jedoch dem Charakter der EMRK als völkerrechtlicher Menschenrechtsvertrag nicht gerecht. Bereits Graefrath wies darauf hin, dass satisfaction nicht auf immaterielle Schäden begrenzt werden dürfe: „I tend not to relate satisfaction only to moral or political damage. It seems to me that it would be more precise to understand as satisfaction all measures taken by the author State of an internationally wrongful act to affirm the existence of the affected obligation and to prevent continuation or repetition of the wrongful act.“ 219

Die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit regeln das Verhältnis der Staaten zueinander. Die Genugtuung ist auf die Verletzung der Ehre, Würde und des An-

217 Zur fehlenden Kassationsbefugnis des EGMR siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 3. a). 218 Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (144); Krüger, in: Cohen-Jonathan (Hrsg.), Liber amicorum Marc-André Eissen 1995, S. 255 (264). Der erste Fall in der Rechtsprechung des EGMR, in der eine solche Beschränkung auf die Konventionsverletzung erfolgte, ist der Fall Golder: EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1975 – Golder ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70, Ziff. 46. 219 Graefrath, Responsibility and damages caused, S. 85 f.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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sehens eines Staates zugeschnitten.220 Da die Verletzung dieser Rechtsgüter in der öffentlichen Sphäre stattfindet, ist die Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit durch eine internationale Entscheidungsinstanz, die ebenfalls öffentlichen Charakter aufweist, eine angemessene Form der Wiedergutmachung. Dagegen erleiden Individualpersonen den immateriellen Schaden, wie z. B. Schmerzen oder Angst, regelmäßig außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Das Haftungskonzept der Genugtuung ist für das Verhältnis von Individuum und Staat daher wenig geeignet.221 Der Begriff der satisfaction im Rahmen der EMRK ist deshalb heute „nach einhelliger Auffassung nicht auf den Teilbereich der Genugtuung beschränkt“.222 Der Gerichtshof kann eine Konventionsverletzung nicht nur feststellen, sondern darüber hinaus die Zahlung einer finanziellen Entschädigung an den Beschwerdeführer anordnen.223 Seit den 1980ern hat der EGMR in zunehmenden Maße Geldersatz als Entschädigung zugesprochen. Auch die Höhen der Entschädigungssummen sind angestiegen.224 Der Gerichtshof spricht dem Betroffenen aber nicht in jedem Fall eine Geldsumme zu. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen der EGMR den Ersatz für immaterielle Schäden abgelehnt und die Feststellung der Konventionsverletzung für ausreichend erachtet hat.225 b) Befugnis zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen Zurückhaltend blieb der Gerichtshof lange Zeit hinsichtlich der Anordnung individueller oder genereller Maßnahmen.226 Dem Wortlaut des Art. 41 EMRK lässt sich eine Beschränkung auf Geldersatz nicht entnehmen. Die deutsche Übersetzung „Entschädigung“ legt zwar die Beschränkung auf Geldzahlungen nahe, doch für die authentische Auslegung ist der Begriff satisfaction nach der englischen bzw. französischen Fassung maßgeblich. Der Begriff der satisfaction hat im allgemeinen Völkerrecht – außerhalb der Regeln der Staatenverantwortlichkeit – keine klar umrissene Bedeutung. Danne220

Zwach, Leistungsurteile, S. 81 f. Zwach, Leistungsurteile, S. 82. 222 Seegers, Das Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 107. Ähnlich auch Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (144): „Under the ECHR ,just satisfaction‘ has a broader meaning than satisfaction under the Articles on State Responsibility.“ 223 Seegers, Individualrecht auf Wiedergutmachung, S. 107. 224 Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (144). 225 EGMR, Urteil v. 28.11.2002 – Lavents ./. Lettland, Nr. 58442/00, Ziff. 151. Für weitere Rechtsprechungsbeispiele und eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Feststellung einer Konventionsverletzung gleichzeitig Voraussetzung einer Haftung und deren Folge sein kann, siehe: Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 365 ff. 226 Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. a). 221

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

mann hebt hervor, dass der Begriff der satisfaction auch „als Oberbegriff für sämtliche Haftungsfolgen“, d. h. als Synonym für die Wiedergutmachung im weitesten Sinne verwendet wird.227 Für eine Befugnis der EGMR zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen spricht der Gedanke des effektiven Menschenrechtsschutzes, da nur so dem Vorrang der Naturalrestitution Nachdruck verliehen werden kann.228 Auch der Vergleich mit anderen internationalen Entscheidungsinstanzen spricht für eine Anordnungsbefugnis des EGMR. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ist nach Art. 63 Abs. 1 AMRK zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen befugt.229 So hat er im Fall Velásquez Rodríguez den Staat Honduras verpflichtet, Ermittlungen über das Verschwinden des Opfers durchzuführen.230 Im Fall Las Palmeras, der die Tötung von Personen durch die kolumbianischen Polizei und Armee bei einem Einsatz in der Nähe eines Schulhauses betraf, verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof den beklagten Staat in der Hauptsache und ermächtigte den Präsidenten des Gerichtshofs zur Ergreifung aller für die Wiedergutmachung erforderlichen Maßnahmen.231 Das Urteil bezüglich der Wiedergutmachung, das knapp ein Jahr später erlassen wurde, enthielt die Anordnung konkreter Maßnahmen, unter anderem die Verpflichtung zur Identifizierung eines unbekannten Toten, seine Exhumierung und die Übergabe der sterblichen Überreste an seine nächsten Verwandten und die Veröffentlichung der Hauptsacheentscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs.232 Im Rahmen der Vereinten Nationen hat der Ausschuss der Menschenrechte die Praxis übernommen, Maßnahmen aufzuzeigen, wie einer Verletzung des UNPaktes abgeholfen werden kann – wie etwa die Zahlung von Entschädigungssummen, die Änderung von Gesetzen oder die Rückgabe von Eigentum – obwohl in 227

Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 205. Zum Vorrang der Naturalrestitution siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 2. a) aa). 229 Art. 63 Abs. 1 AMRK lautet: „Stellt der Gerichtshof fest, dass eine Verletzung von nach dieser Konvention geschützten Rechten oder Freiheiten vorliegt, ordnet er an, dass dem Betroffenen der Genuss des verletzten Rechts oder der verletzten Freiheit garantiert wird. Er ordnet im gegebenen Fall ferner an, dass die Folgen der Maßnahme oder Sachlage, welche die Verletzung des Rechts oder der Freiheit begründete, zu beseitigen sind und dass dem Betroffenen eine angemessene Entschädigung zu zahlen ist.“ Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, 2004, S. 500. 230 IAGMR, Urteil v. 12.7.1989 – Velásquez Rodríguez ./. Honduras (Reparations and Costs), Rn. 32–35, abrufbar über die Internetseite des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (in englischer Sprache unter: Jurisprudence/Decisions and Judgments), Stand: 30.9.2015. 231 IAGMR, Urteil v. 6.12.2001 – Las Palmeras ./. Kolumbien (Merits), Tenor Ziff. 5., abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 230. 232 IAGMR, Urteil v. 26.11.2002 – Las Palmeras ./. Kolumbien (Reparation and Costs), Tenor Ziff. 2 und 3, abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 230. 228

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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den Verträgen hierfür keine ausdrückliche Ermächtigung enthalten ist.233 So hat der UN-Menschenrechtsausschuss beispielsweise im Fall Des Fours Walderode festgestellt, dass der beklagte Staat verpflichtet ist, das streitgegenständliche Eigentum unverzüglich zurückzugeben oder eine angemessene Entschädigung zu zahlen.234 Auch der Internationale Gerichtshof erlässt Anordnungen. So verurteilte er im Teheraner Geiselfall den Iran zur sofortigen Freilassung sämtlicher als Geiseln gehaltener Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft und weiterer amerikanischer Staatsangehöriger. Bemerkenswert hieran ist, dass das IGH-Statut – anders als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte mit Art. 63 AMRK oder der EGMR in Bezug auf die Entschädigung in Art. 41 EMRK – überhaupt keinen Anknüpfungspunkt für eine Anordnungsbefugnis des Gerichtshofs enthält.235 Wortlaut, Sinn und Zweck sowie der Vergleich mit der Praxis der anderen internationalen Entscheidungsinstanzen sprechen dafür, dem EGMR eine Befugnis zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen zuzusprechen. c) Befugnis zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen Wird eine Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen anerkannt, so stellt sich die Frage, inwieweit sich die Befugnis auf die – für Piloturteile typische – Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen erstreckt. Art. 41 EMRK besagt, dass der EGMR „der verletzten Partei“ eine gerechte Entschädigung zuspricht. Die Bezugnahme auf die verletzte Partei könnte darauf hinweisen, dass nur solche Maßnahmen von der Anordnungskompetenz erfasst werden sollen, die in spezifischer Weise den Schutz von Individuen betreffen und nicht den Schutz der Allgemeinheit. Art. 41 EMRK regelt aber nicht die Wiedergutmachungspflicht als solche, sondern setzt sie als gegeben voraus.236 Art. 41 EMRK will nur eine Lösung für den spezifischen Fall treffen, dass eine Wiedergutmachung innerstaatlich nicht oder nur unvollkommen möglich ist und dem Einzelnen hierfür eine Entschädigung gewähren, was die individuelle Bezugnahme erklärt. Der Wortlaut des Art. 41 EMRK spricht damit nicht gegen die Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen. 233 Buyse, ZaöRV 68 (2008), S. 129 (136); Cohen-Jonathan, in: ders. (Hrsg.), FS Eissen 1995, S. 39 (43). 234 UN-Menschenrechtsausschuss, Communication no. 747/1997 – Karel Des Fours Walderode and Kammerlander ./. Czech Republic, angenommen am 30.10.2001, Rn. 9.2, abrufbar über die Internetseite des UN-Menschenrechtsausschusses unter , Stand: 30.9.2015. 235 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 212. 236 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 3.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Für die Einbeziehung von generellen Abhilfemaßnahmen in die Anordnungsbefugnis spricht, dass das Haftungssystem der EMRK nicht nur auf die individuelle Abhilfe, sondern auch auf die Fortentwicklung des europäischen Menschenrechtsschutzes insgesamt gerichtet ist und damit eine objektive Dimension hat.237 Auch die Effizienz des Rechtsschutzes spricht für dieses Ergebnis, denn die wiederholte Feststellung der Konventionsverletzung mit gleichbleibender Begründung in Wiederholungsfällen hat keinen Mehrwert. Diesen Gedanken führt Richter Zupancˇicˇ in seinem Sondervotum zur Rechtssache Hutten-Czapska aus: „If in the Broniowski v. Poland case we had not decided the way we did, there would have been 80,000 cases pending in this Court. In the best of possible worlds, we would in due time (?) decide all these 80,000 cases. We would mechanically, or, as they say today, in „copy-paste“ fashion, reiterate the Broniowski v. Poland judgment – 80,000 times. The only beneficial effect of this, if it can be so called, would be to stick to the narrowly perceived letter of Article 46 of the Convention, adopted even before the time the European Commission of Human Rights had been waiting for the postman to bring an application so it would have something to do.“ 238

Der Begriff der Entschädigung (satisfaction) spricht nach alledem für eine Befugnis des Gerichtshofs zur Anordnung individueller und genereller Abhilfemaßnahmen. 2. Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees Die Anordnungsbefugnis des EGMR ist von dem Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees abzugrenzen. Richter Zagrebelsky hob in seinem Sondervotum zu der Entscheidung Lukenda hervor, es sei Sache des Ministerkomitees und nicht des Gerichtshofs, die notwendigen Abhilfemaßnahmen zu identifizieren, vorzuschlagen, zu sichern und zu überwachen.239 a) Urteilsüberwachung durch das Ministerkomitee historisch bedingt Die Urteilsüberwachung durch das Ministerkomitee als politisches Organ ist historisch bedingt. Es hatte für die Befolgung der eigenen Entscheidungen zu sorgen240 und die Durchführung der Urteile des EGMR zu überwachen.241 In dem ursprünglichen System der EMRK waren alle Beschwerden zunächst an die Kommission zu richten; die Endentscheidung sollte durch den Gerichtshof 237 Zur objektiven Dimension des Konventionssystems siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. I. 5. a). 238 Sondervotum Richter Zupanc ˇ icˇ, EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – HuttenCzapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 239 Sondervotum Richter Zagrebelsky, EGMR, Urteil v. 6.10.2005 – Lukenda ./. Slowenien, Nr. 23032/02. 240 Art. 32 EMRK a. F. 241 Art. 54 EMRK a. F., heute: Art. 46 Abs. 2 EMRK.

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oder hilfsweise durch das Ministerkomitee des Europarates erfolgen.242 Da die Anerkennung der Jurisdiktion des Gerichtshofs durch die Konventionsstaaten nur langsam erfolgte, entwickelte sich das Ministerkomitee aber zum wesentlichen Spruchkörper.243 Die Konventionsstaaten bevorzugten die Kontrolle durch das Ministerkomitee, das sich aus Repräsentanten der Staaten zusammensetzte und dessen Kontrolle weniger strikt erschien als die des unabhängigen Gerichtshofs.244 Erst später fand in der Straßburger Praxis eine Akzentverschiebung zugunsten des Gerichtshofes statt.245 Seit der Reform des Konventionssystems durch das 11. Protokoll zur EMRK ist das Ministerkomitee nur noch mit der Überwachung der Durchführung der Urteile des EGMR betraut.246 Das Ministerkomitee hat zu diesem Zweck Verfahrensregeln erlassen.247 Eine Zwangsvollstreckung im eigentlichen Sinne ist nicht möglich. Das Ministerkomitee kann aber politischen Druck erzeugen, indem es einen Fall solange auf seiner Agenda belässt, bis der betroffene Staat angemessene Maßnahmen ergriffen hat. Das Ministerkomitee kann eine Zwischenresolution annehmen, die den bisherigen Umsetzungsprozess bewertet.248 Hat der betroffene Staat alle erforderlichen Maßnahmen zur Urteilsumsetzung ergriffen, wird das Komitee dies in einer abschließenden Resolution feststellen.249 Andernfalls hat das Ministerkomitee die Möglichkeit, Sanktionen zu ergreifen und dem beklagten Staat nach Art. 8 der Satzung des Europarates sein Recht auf Vertretung vorläufig zu entziehen. Der Mitgliedstaat kann außerdem vom Europarat ausgeschlossen werden, und andere Konventionsstaaten haben die Möglichkeit, eine Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK auf die Nichtbefolgung eines Urteils zu stützen. Nach dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 zur EMKR besteht ferner die Möglichkeit der Einleitung des Nichtbefolgungsverfahrens. b) Verrechtlichung des Urteilsvollzugs Der politische Charakter der Urteilsüberwachung stand jedoch frühzeitig in der Kritik.250 Die Einwände bezogen sich auf die einstige Kompetenz des Minis242

Golsong, EuGRZ 1975, S. 448 (448). Golsong, EuGRZ 1975, S. 448 (448). 244 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (30 f.). 245 Golsong, EuGRZ 1975, S. 448 (448). 246 Villiger, Handbuch der EMRK, § 14 Rn. 235, 237. 247 Zur Zeit gelten die Verfahrensregeln („Rules of the Committee of Ministers for the supervision of the execution of judgments and of the terms of friendly settlements“), die das Ministerkomitee am 10.5.2006 anlässlich seiner 964.ten Sitzung angenommen hat. Sie sind verfügbar unter (Human Rights/Execution of judgements of the European Court of Human Rights/Reference Documents), Stand: 30.9.2015. 248 Regel 16 der Verfahrensregeln des Ministerkomitees (Teil 3 Fn. 247). 249 Regel 17 der Verfahrensregeln des Ministerkomitees (Teil 3 Fn. 247). 250 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (29). 243

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terkomitees zur abschließenden Entscheidung einer Rechtsfrage nach Art. 32 EMRK a. F., die Frowein als einen „Fehler im System der Konvention“ 251 bezeichnete, weil dem Ministerkomitee sowohl die Sachkompetenz als auch die erforderliche Unabhängigkeit für eine solche Aufgabe fehle. Aber auch im Zusammenhang mit der Überwachung des Urteilsvollzugs wird häufig eine Depolitisierung gefordert, da mit der Einschaltung des Ministerkomitees als diplomatisches Organ politische Risiken einhergehen können.252 Die Überwachung des Urteilsvollzugs durch das Ministerkomitee hat aber auch Befürworter. Für die Aufrechterhaltung der politischen Kontrolle wird geltend gemacht, dass das Ministerkomitee technisch besser in der Lage sei, die Urteile zu überwachen und über die erforderlichen diplomatischen Mittel und Sanktionsmöglichkeiten zur Wahrnehmung dieser Aufgabe verfüge.253 Demgegenüber laufe der Gerichtshof Gefahr, seine Autorität zu untergraben, wenn sein Urteil nicht befolgt wird.254 Durch die Beschränkung der Überwachung des Urteilsvollzugs auf das Ministerkomitee könnten Divergenzen in der Bewertung der durchgeführten Maßnahmen vermieden werden.255 Eine stärkere Einbringung des Gerichtshofs in die Urteilsüberwachung muss aber nicht mit der Zurückdrängung des Aufgabenbereichs des Ministerkomitees einhergehen. Anlässlich der Beurteilung der gütlichen Einigung im Fall Broniowski betonte der Gerichtshof, dass die Befugnis des Ministerkomitees nach Art. 46 EMRK über die Angemessenheit der Urteilsumsetzung zu entscheiden unberührt bleibe, da es hier ausschließlich um seine eigene Befugnis geht, über die Lösung des Streitfalls zu entscheiden.256 Der Gerichtshof plädiert für eine klare Aufga251 Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, 2. Aufl., Art. 32, Rn. 1. Ähnlich auch Golsong, EuGRZ 1975, S. 448 (449): „Das Ministerkomitee ist ein politisches Organ. In der Regel übt es seine Funktionen durch Ministerstellvertreter aus, die den Weisungen ihrer Regierungen unterliegen. Ein solches Gremium ist seiner Natur nach kaum in der Lage, rechtsprechende Funktionen auszuüben, d.h. vor allem in unparteiischer Weise einen Sachverhalt an objektiven Normen zu messen.“ 252 Erik Fribergh, Court Registry, sagte in einem Interview in Straßburg am 25.3.09: „Enforcement of judgments is of course partly political but also [a] judicial procedure and I think it has become too much a political procedure (. . .) there is this phenomenon: if you’re not too hard [on] my country, I will not be too hard on your country next time“, zitiert in: Leach (u. a.), Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 32 f. 253 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (30 f.). 254 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (30 f.); Sondervotum Richter Zagrebelsky, EGMR, Urteil v. 6.10.2005 – Lukenda ./. Slowenien, Nr. 23032/02. 255 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (69). 256 Urteil v. 28.9.2005 (GK), Broniowski ./. Polen, gütliche Einigung, EuGRZ 2005 S. 563 (568), Ziff. 42: „Gem. Artikel 46 der Konvention ist es Aufgabe des Ministerkomitees, diese allgemeinen Maßnahmen und ihre Anwendung zu bewerten, um dadurch seiner Überwachungsfunktion im Hinblick auf die Umsetzung des Hauptsacheurteils des Gerichtshofs nachzukommen [. . .]; demgegenüber kann der Gerichtshof in Ausübung seiner eigenen Aufgabe, die darin besteht zu entscheiden, ob nach einer güt-

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benteilung: Während dem Ministerkomitee die Überwachung des Urteilsvollzugs im Einzelnen obliegt, nimmt der EGMR für sich in Anspruch, eine Gesamtbetrachtung im Sinne einer prima facie-Analyse, vorzunehmen.257 In der Praxis hat das Ministerkomitee ohnehin nicht mehr das Monopol der Urteilsüberwachung. Angesichts der Komplexität der Aufgabe ist es auf die Zusammenarbeit mit den anderen Konventionsorganen angewiesen. Seit Ende der achtziger Jahre spielt die Parlamentarische Versammlung im Urteilsvollzug eine wichtige Rolle, indem sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mittel und ihren Kontakten zu den nationalen Parlamenten Druck auf die Staaten ausübt, die den Vollzug eines Urteils über einen längeren Zeitraum verzögert haben.258 Auch der Menschenrechtskommissar legt in seinen Berichten die Widerstände der Staaten bei dem Urteilsvollzug dar. Um die Staaten zu einer verbesserten Urteilsdurchführung zu bewegen, veröffentlicht er seine Tätigkeit und nutzt seine Beziehungen zu den Behörden und Repräsentanten der Staaten.259 Durch die Piloturteile nimmt nun auch der Gerichtshof eine wichtige Rolle in der Urteilsüberwachung wahr. Dass eine solche Verrechtlichung des Urteilsvollzugs gewünscht ist, verdeutlicht das 14. Protokoll zur EMRK, das in den Art. 46 Abs. 4 und Abs. 5 EMRK n. F. auf Initiative des Ministerkomitees ein neues Auslegungsverfahren und ein Verfahren der Feststellung des Nichtvollzugs eines Urteils des Gerichtshofs vorsieht. Die Einbringung des Gerichtshofs in die Urteilsüberwachung beruht schließlich auf einer Aufforderung des Ministerkomitees selbst und ist somit auch politisch legitimiert.260 3. Kein unzulässiger Eingriff in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung die Freiheit der Staaten bei der Wahl der Mittel betont, mit denen sie sicherstellen, dass ihre Rechtssysteme den Konventionsvorgaben entsprechen.261 Dem Gerichtshof wird vorgeworfen, dass

lichen Einigung zwischen den Parteien die Rechtssache gem. Artikel 32 Abs. 1 lit. b und 39 im Register gestrichen werden soll, nicht anders, als in den bereits erfolgten und den zugesagten Abhilfemaßnahmen der beklagten Regierung einen positiven Faktor in der ,Achtung der Menschenrechte wie sie in der Konvention und ihren Protokollen anerkannt sind‘, zu sehen.“ 257 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (69). 258 Zur Rolle der Parlamentarischen Versammlung im Urteilsvollzug: Flauss, Rev. trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (54 ff.). 259 Zur Rolle des Menschenrechtskommissars im Urteilsvollzug: Flauss, Rev.trim. dr.h. 20 (2009), S. 27 (57 ff.). 260 Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (379). 261 Vgl. EGMR, Urteil v. 31.10.1995 – Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland (Art. 50), Nr. 14556/89, Ziff. 34.

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die Anordnung und Überprüfung genereller Maßnahmen im Zusammenhang mit den Piloturteilen in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten eingreifen.262 Dieser Vorwurf erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Beurteilungsspielraums. Der Begriff beschreibt zunächst eine Interpretationsmethode, die den Konventionsstaaten einen gewissen Freiraum bei dem Ausgleich widerstreitender Konventionsrechte belässt. Während in dieser Konstellation die Tatbestandsebene, d.h. das „Ob“ einer Konventionsverletzung angesprochen wird, geht es im Zusammenhang mit den Piloturteilen um den Beurteilungsspielraum auf Rechtsfolgenebene, also um das Ermessen, das die Konventionsstaaten bei der Auswahl der Mittel zur Befolgung der Urteile nach Art. 46 EMRK haben. Da das Konventionsrecht nicht klar zwischen der Tatbestands- und Rechtsfolgenebene unterscheidet, sollen die gemeinsamen Wurzeln, der Zweck und die rechtlichen Grundlagen des Beurteilungsspielraums geklärt werden. Anschließend wird untersucht, ob sich aus dem Beurteilungsspielraum eine Kompetenzschranke zulasten des EGMR ergibt. a) Der Beurteilungsspielraum als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips Der Begriff des Beurteilungsspielraums bezeichnet eine Interpretationsmethode, die Yurow wie folgt definierte: „(. . .) the freedom to act; maneuvering, breathing or ,elbow‘ room; or the latitude of deference or error which the Strasbourg organs will allow to national legislative, executive, administrative and judicial bodies before it is prepared to declare a national derogation from the Convention, or restriction or limitation upon a right guaranteed by the Convention, to constitute a violation of one of the Convention’s substantive guarantees.“ 263

Entstanden ist die Idee eines Beurteilungsspielraums anlässlich von Ausnahmesituationen, die Staaten dazu zwangen, von den Gewährleistungen der EMRK abzuweichen. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen beriefen sich die Staaten auf Art. 15 EMRK, der für den Fall eines öffentlichen, das Leben der Nation bedrohenden Notstandes Abweichungen erlaubt. In der Zypern-Affaire hat die 262 Grabenwarter, EMRK, § 16, Rn. 7. Kritisch auch Caflisch, Umsetzung der Urteile des EGMR, in: Dicke u. a. (Hrsg.), Liber amicorum Delbrück 2005, S. 101 (111), der die „Verschiebung der Grenze“ zwischen den Befugnissen des EGMR und dem Ministerkomitee durch die Piloturteile aber auf der Basis der Entschließung des Ministerkomitees DH (2004)3 und mithin als „eine Art flankierende Maßnahme der in Zusatzprotokoll Nr. 14 geplanten Reform“ grundsätzlich gerechtfertigt sieht und Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (379 f.), die „keine durchgreifenden Bedenken“ erkennt, „solange der EMGR konkrete Abhilfemaßnahmen nur mit einer gewissen Flexibilität ausspricht und dem Konventionsstaat bei der Umsetzung von Piloturteilen einen größtmöglichen Beurteilungsspielraum belässt“. 263 Yourow, The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of European Human Rights Jurisprudence 1996, S. 13.

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Kommission klargestellt, dass sie befugt ist, das Vorliegen eines öffentlichen Notstandes und die Erforderlichkeit der von den Staaten ergriffenen Maßnahmen zu überprüfen. Sie hat den Regierungen aber zugleich einen gewissen Beurteilungsspielraum zugestanden.264 In der Lawless-Entscheidung265 aus dem Jahr 1961 übernahm auch der Gerichtshof die Idee eines Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten. Zwar wird der Begriff „Beurteilungsspielraum“ in dieser Entscheidung nicht verwendet, aber der Gedanke liegt den Entscheidungsgründen zugrunde, wenn der Gerichtshof anerkennt, dass das Vorliegen eines Notstandes nachvollziehbar von der Regierung begründet wurde.266 Ausdrücklich machte der Gerichtshof erstmals in der Entscheidung De Wilde, Ooms and Versyp im Jahr 1971 von dem Begriff des Beurteilungsspielraums Gebrauch.267 Kommission und Gerichtshof beschränkten die Anwendung des Beurteilungsspielraums bald nicht mehr auf die Fälle des öffentlichen Notstandes, sondern übertrugen den Ansatz auf andere Konventionsgarantien und zwar bevorzugt auf solche Konventionsgarantien, die eine sog. Schrankenklausel enthalten, d.h. insbesondere Art. 8–11 Abs. 2 EMRK und Art. 1 des 1. ZP-EMRK.268 Nach diesen Schrankenregelungen ist der Eingriff in das betroffene Konventionsrecht zulässig, soweit er gesetzlich vorgesehen und „in einer demokratischen Gesellschaft“ zur Erreichung bestimmter Ziele notwendig ist. Der EGMR legt diesen Vorbehalt im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus269 und überlässt den Mitgliedstaaten bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen einen Beurteilungsspielraum. Der Gerichtshof begründet den Beurteilungsspielraum mit der größeren Sachnähe der nationalen Stellen, deren Aufgabe es ist „vorrangig darüber zu urteilen, ob das zwingende soziale Bedürfnis vorliegt, das der Begriff der ,Notwendigkeit‘ im gegebenen Fall einschließt.“ 270

264 Bericht der EKMR (Vol. 1) vom 26.9.1958 – Beschwerde Griechenland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 176/57, S. 152, Rn. 143, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 265 EGMR, Urteil v. 1.7.1961 – Lawless ./. Irland (Nr. 3), Nr. 332/57. 266 EGMR, Urteil Lawless, a. a. O., Rn. 23: „(. . .) whereas the existence at the time of a ,public emergency threatening the life of the nation‘ was reasonably deduced by the Irish Government (. . .)“. 267 EGMR (Plenum), Urteil v. 18.7.1971 – De Wilde, Ooms und Versyp („Landstreicher“) ./. Belgien (Urteil in der Hauptsache), Ziff. 93. 268 Yourow, Margin of Appreciation Doctrine, S. 15. 269 Die Prüfung der Notwendigkeit wird in jüngerer Zeit explizit als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips bezeichnet, siehe: EGMR, Urteil v. 25.2.1993 – Funke ./. Frankreich, Nr. 10828/84, Ziff. 57; EGMR, Urteil v. 25.2.1997 – Z. ./. Finnland, Nr. 22009/93, Ziff. 94. 270 EGMR (Plenum), Urteil v. 7.12.1976 – Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, EuGRZ 1977, S. 38 (41), Ziff. 48.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Die Lehre vom Beurteilungsspielraum steht im engen Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsgrundsatz, der den Konventionsstaaten die primäre Verantwortung für die Gewährleistung der Konventionsrechte bei den Vertragsstaaten überträgt.271 Das internationale Recht übernimmt eine subsidiäre Rolle und greift ein, wenn ein Staat seine Verpflichtungen nicht erfüllt.272 Der Beurteilungsspielraum ist mithin eine Ausprägung des Kooperationsverhältnisses zwischen den nationalen Stellen und dem europäischen System.273 Der Beurteilungsspielraum ist außerdem Ausfluss des Demokratieprinzips, denn der Richter hat das Ermessen der in freien Wahlen gewählten Volksrepräsentanten zu achten.274 Die Vertragsstaaten haben aber kein unbegrenztes Ermessen. Vielmehr geht der ihnen zugestandene Beurteilungsspielraum Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle.275 b) Rechtliche Grundlage des Beurteilungsspielraums Die rechtliche Grundlage des Beurteilungsspielraums ist umstritten. Teilweise wird vertreten, dass der Respekt vor dem Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten in der EMRK selbst angelegt sei. Es handele sich um eine natürliche Folge des Gewaltenteilungsgrundsatzes.276 Folge dieser Ansicht wäre, dass die Konventionsstaaten grundsätzlich einen Anspruch auf Achtung ihres Beurteilungsspielraums haben und bei Missachtung ein Kompetenzverstoß des Gerichtshofs vorliegen würde.

271 Der Subsidiaritätsgedanke kommt an verschiedenen Stellen in der Konvention zum Ausdruck: Art. 1 EMRK bestimmt, dass die Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention und in ihren Zusatzprotokollen gewährleisteten Rechte und Freiheiten zusichern. Gemäß Art. 13 EMRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, für die Geltendmachung von Konventionsverletzungen eine wirksame Beschwerde vorzusehen. Nach Art. 35 EMRK muss vor Einreichung einer Beschwerde beim EGMR der innerstaatliche Instanzenweg grundsätzlich erschöpft sein und nach Art. 60 EMRK steht es den Konventionsstaaten frei, einen weiterreichenden Schutz vorzusehen. 272 Ridruejo, in: Bröhmer (Hrsg.), FS für Ress, S. 1077 (1077); Breitenmoser, in: ders. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 119 (121). 273 Besonders deutlich kommt dies zum Ausdruck in den Worten von J. G. Merrills, The development of intenational law by the European Court of Human Rights, Manchester 1988, at 123, zitiert in: Brems ZaöRV 56 (1996), S. 240 (300): „the margin of appreciation is a way of recognising that the international protection of human rights and sovereign freedom of action are not contradictory but complementary. Where the one ends, the other begins.“ 274 Mahoney, HRLJ 19 (1998), S. 1 (3); Mahoney, HRLJ 1990, S. 57 (82). 275 Siehe: EGMR (Plenum), Urteil v. 7.12.1976 – Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Ziff. 49, EuGRZ 1977, S. 38 (42) und EGMR, Urteil v. 26.5.1993 – Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Königreich, Ziff. 43: „La marge nationale d’appréciation s’accompagne donc d’un contrôle européen.“ 276 Mahoney, HRLJ 19 (1998), S. 1 (3 f.).

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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Nach anderer Auffassung handelt es sich bei der Gewährleistung des Beurteilungsspielraums um die Folge einer freiwilligen Selbstbeschränkung des Gerichtshofs (judicial self-restraint). Ein Konventionsstaat habe keinen Anspruch auf Einräumung eines Beurteilungsspielraums.277 Allerdings differenziert diese Ansicht zwischen dem Freiraum der Staaten bei der Wahl der Mittel zur Befolgung eines Urteils (Art. 46 EMRK) und den klassischen Anwendungsfällen des Beurteilungsspielraums im Zusammenhang mit den Schrankenregelungen (Art. 8–11 EMRK). Die Lehre vom Beurteilungsspielraum soll immer dann Anwendung finden, wenn der Gerichtshof eigentlich die Kompetenz zur vollen Überprüfung des Sachverhalts habe. Im Zusammenhang mit den Schrankenregelungen liege eine solche umfassende Prüfungskompetenz vor. Art. 46 EMRK hingegen schreibe den Konventionsstaaten nicht vor, in welcher Form sie ihre Verpflichtungen zu erfüllen haben. Die Kontrollfunktion des Gerichtshofs sei in diesen Fällen darauf beschränkt zu überprüfen, ob das von der Konvention geforderte Ziel erreicht werde (obligation of result), nicht wie es erreicht wird.278 Bei der freien Mittelwahl liege daher nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz des Gerichtshofs vor, die aus der Konvention selbst folgt. Insoweit sei eine echte Kompetenzschranke gegeben.279 Die Unterscheidung zwischen einer freiwilligen Selbstbeschränkung des Gerichtshofs und einer echten Kompetenzschranke verschwimmt immer dann, wenn die EMRK positive Verpflichtungen vorschreibt und der Freiraum beim Urteilsvollzug und der Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene zusammentreffen. So schreibt die EMRK nicht vor, durch welche Maßnahmen die Achtung des Familien- oder Privatlebens verwirklicht werden soll und der Gerichtshof räumt bei der Prüfung, ob die positiven Verpflichtungen erfüllt wurden, den Staaten einen gewissen Freiraum ein.280 Letztendlich sind sowohl der Freiraum der Staaten auf der Tatbestandsebene (Art.8–11 EMRK) als auch der Freiraum bei der Wahl der Mittel zur Befolgung eines Urteils Ausdruck der Achtung staatlicher Souveränität. Grenzen kann es in beiden Richtungen geben. Der Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten kann auf null reduziert sein; so bildet etwa das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung eine absolute Grenze, das auch im Falle eines Notstandes gemäß Art. 15 EMRK nicht angetastet werden darf. Umgekehrt kann es Bereiche geben, die den unantastbaren Kernbereich staatlicher Souveränität berühren. Dazwischen gibt es einen großen Raum für Ermessen (judicial policy). 277

Schokkenbroek, HRLJ 19 (1998), S. 30 (31); Brems, ZaöRV 56 (1996), S. 240

(297). 278 Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, S. 40; Schokkenbroek, HRLJ 19 (1998), S. 30 (32). 279 Schokkenbroek, HRLJ 19 (1998), S. 30 (32 f.). 280 Dieses Problem räumt Schokkenbroek als Vertreter der dieser Ansicht selbst ein, siehe Schokkenbroek, HRLJ 19 (1998), S. 30 (32).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Eine abschließende Entscheidung, welchem der beiden Begründungsansätze zu folgen ist, bedarf es an dieser Stelle aber nicht. Denn beide Ansichten bejahen eine echte Kompetenzschranke jedenfalls dann, wenn der Gerichtshof nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz hat, wie im Fall der für die Piloturteile relevanten freien Wahl der Mittel zur Befolgung der EGMR-Urteile nach Art. 46 EMRK. Eine Kompetenzüberschreitung des EGMR durch Missachtung des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten kann für die Piloturteile daher nicht ausgeschlossen werden. c) Notwendigkeit einer Präzisierung der obligation of result Ein Eingriff in den Kernbereich staatlicher Souveränität durch den Gerichtshof besteht, wenn die Wahlmittelfreiheit der Staaten bei der Erfüllung ihrer obligation of result nach Art. 46 EMRK aufgehoben wird. Bereits Anzilotti formulierte: „. . . le droit international ne fixe pas en principe, les moyens avec lesquels l’Etat doit assurer l’exécution de ses devoirs. Ces moyens sont en fait tellement intimement liés à l’organisation interne des Etats que le droit international ne peut pas les déterminer sans envahir un domaine qui lui est tout à fait interdit“.281

Der EGMR hat in seinen Piloturteilen den Freiraum der Vertragsstaaten bei der Erfüllung ihrer Pflichten aus Art. 46 EMRK als Prinzip jedoch nie in Frage stellt. Vielmehr betonte er in regelmäßiger Wiederkehr, dass die Konventionsstaaten bei der Wahl der Mittel zur Befolgung eines Urteils prinzipiell frei sind.282 Die Einräumung eines Beurteilungsspielraums darf aber nicht die Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen verhindern. Auch diesen Aspekt betonte bereits Anzilotti: „la liberté que le droit international laisse à l’Etat dans le choix des moyens pour l’accomplissement de ses devoirs ne doit pas rendre ces devoirs moins effectifs ou incertains. Au contraire, un principe généralement admis énonce que les carences ou les vices de la législation d’un Etat ne l’exemptent pas d’accomplir ses devoirs internationaux, ni, en conséquence, excluent sa responsabilité “.283

Ähnlich formulierte der EGMR im Fall Scozzari und Giunta ./. Italien, dass die Freiheit der Wahl der Mittel der Konventionsstaaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtung gemäß Art. 46 EMRK unter der Bedingung steht, dass die Mittel 281 Anzilotti, „La responsabilité internationale des Etats à raison des dommages soufferts par des étrangers“, in Revue générale de droit international public 1906, S. 26 f., zitiert in: Esposito, Rev.trim.dr.h. 14 (2003), S. 823 (823). 282 Siehe z. B. EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 50973/08, Ziff. 54: „Il appartient en principe à l’Etat défendeur de choisir, sous le contrôle du Comité des Ministres, les moyens de s’acquitter de son obligation juridique au regard de l’article 46 de la Convention.“ 283 Anzilotti, siehe Teil 3 Fn. 281.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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mit den im Urteil des Gerichtshofs festgeschriebenen Schlussfolgerungen vereinbar sind.284 Wann die Staaten ihre völkerrechtliche Verpflichtung in Form der obligation of result erfüllt haben, hängt folglich entscheidend von der Auslegung der Konventionsbestimmungen durch den EGMR ab. Die Anordnungen des Gerichtshofs hinsichtlich der Art der zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen sind deshalb als Präzisierung der obligation of result zu verstehen. So betonte der Gerichtshof im Piloturteilsverfahren Broniowski, dass es das Hauptziel des Piloturteilsverfahrens sei, „den Vertragsstaaten bei der Erfüllung ihrer Rolle im Konventionssystem zu helfen.“ 285 Die Präzisierung der obligation of result liegt im Interesse der Vertragsstaaten. Es wurde oft kritisiert, dass die Urteile des Gerichtshofs nicht präzise genug seien und dem beklagten Staat dadurch die Befolgungspflicht erschwert würde.286 Gerade strukturelle Probleme, mit denen ein Staat schon länger zu kämpfen hat und die zu wiederholten Verurteilungen geführt haben oder führen können, erfordern klare Anleitungen zur Problembewältigung. Nach Art. 37–39 EMRK hat der Gerichtshof vor Streichung einer Beschwerde aus seinem Register zu prüfen, ob die gewährte Wiedergutmachung angemessen ist. Das Verfahren gilt erst dann als gelöst, wenn der Beschwerdeführer eine vollständige Wiedergutmachung in der nationalen Rechtsordnung erhalten hat. Hat der Gerichtshof die Angemessenheit der Maßnahmen im Nachhinein zu prüfen, so ist es nicht einzusehen, warum er nicht schon im Vorhinein Anordnungen geben kann, wie die Angemessenheit der Maßnahmen zu erreichen ist. Die Mitgliedstaaten werden dadurch vor einem langwierigen trial and error-Verfahren und weiteren Verurteilungen geschützt.287 Das Bedürfnis nach einer Einschaltung

284 EGMR (GK), Urteil v. 13.7.2000 – Scozzari und Giunta ./. Italien, Nr. 39221/98 und Nr. 41963/98, ÖJZ 2002, S. 74, Ziff. 249. 285 EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005 – Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung), Nr. 31443/96, EuGRZ 2005, S. 563 (566), Ziff. 35. 286 Siehe etwa die Äußerung der englischen Regierung, die im Interesse der Rechtssicherheit im Fall Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2) v. 6.10.2005, Ziff. 52 um eine detaillierte Anleitung bittet, wie das Vereinigte Königreich sein Rechtssystem auszugestalten habe, um den Anforderungen des Art. 3 des 3. Protokolls zur EMRK zu genügen. In der Literatur siehe z. B. Grabenwarter, EuGRZ 2003, S. 174 (177), der eine „ausführlichere und gleichzeitig klarere Fassung des Tenors der Urteile“ sowie den Vorschlag konkreter Handlungsmöglichkeiten, einschließlich allgemeiner Maßnahmen fordert. Auch Okresek, EuGRZ 2003, S. 168 (174) bemängelt: „Die Beschränkung auf die bloße Feststellung, dass im konkreten Fall eine Verletzung der Konvention stattgefunden hat, macht es bisweilen schwer, die Tragweite dieser Feststellung abzuschätzen.“ 287 Stellungnahme der Venedig-Kommission Nr. 209/2002 v. 18.12.2002 über die Umsetzung der EGMR-Urteile („Opinion on the Implementation of the Judgments of the European Court of Human Rights“, CDL-AD(2002)034, angenommen anlässlich ihrer 53. Sitzung (Plenum), Rn. 68, abrufbar über ihre Internetseite (Main reference documents of the Venice Commission, Judiciary), Stand: 30.9.2015. 288 Siehe die Ausführungen unter Teil 1 B. III. 4. b). 289 Siehe die Ausführungen unter Teil 1 A. III. 2. d). 290 Mahoney, HRLJ 19 (1998), S. 1 (4).

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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politischen und sozialökonomischen Situation verlangen würde.291 Im Sinne der Rechtssicherheit und -klarheit dürfen die Anordnungen des Gerichtshofs aber nicht zu unbestimmt sein. Der EGMR löst diese Spannungslage, indem er sinngemäß zwischen den spezifischen und systemischen Mängeln differenziert, wobei die Anordnungskompetenz des EGMR im Zusammenhang mit spezifischen Mängeln regelmäßig weiter reicht als bei strukturell-systemischen Mängeln.292 bb) Weite Anordnungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit spezifischen Mängeln Liegt ein spezifischer Mangel in Hinblick auf eine abgrenzbare Personengruppe vor, so kann der EGMR weitgehende Vorgaben machen. Dies betrifft im Wesentlichen die Piloturteile, die eine Eigentumsverletzung festgestellt haben.293 Im Fall Broniowski ./. Polen beschränkte sich der EGMR noch darauf anzuordnen, dass der beklagte Staat „durch geeignete gesetzliche Maßnahmen und verwaltungstechnische Praktiken entweder sicherstellen [muss], dass die übrigen Anspruchsteller wegen jenseits des Bug gelegenen Grundeigentums ihr in Frage stehendes Eigentumsrecht durchsetzen können, oder stattdessen eine entsprechende Entschädigung gewähren (. . .).“ 294 Auch im Fall Hutten-Czapska ordnete der EGMR geeignete gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen an.295 Die Anordnungen wurden durch den Verweis auf die ständige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 1 des 1. ZP-EMRK ergänzt und hinreichend präzisiert. Im Fall Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, der die Entschädigung für Enteignungen unter dem kommunistischen Regime betraf, ordnete der EGMR die Ergreifung genereller Maßnahmen an, die den Schutz der in Art. 1 des 1. ZPEMRK und in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantieren Rechte sicherstellen. Der EGMR gab weiterführende Hinweise, wie die effektive Ausgestaltung eines Entschädigungssystems aussehen kann. Die Ausführungen befinden sich aber in den Urteilsgründen und sind, wie der EGMR hervorhebt, nur indikativer Natur.296 In anderen Piloturteilen, die spezifische Mängel betrafen, nahm der EGMR aber auch konkrete Anordnungen zu der Art der zu ergreifenden generellen Maß291 So die Einschätzung der Venedig-Kommission, Stellungnahme Nr. 209/2002 (Teil 3 Fn. 287), Rn. 68. 292 Zu dem Begriff des spezifischen und des systemischen Mangels, siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. V. 1. 293 Zu den Piloturteilen, die eine Eigentumsverletzung feststellen, siehe im Einzelnen die Ausführungen unter Teil 2 B. VI. 2. 294 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff., Tenor Ziff. 4. Hervorhebung durch die Verfasserin. 295 EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97, Tenor Ziff. 4. 296 EGMR, Urteil v. 31.7.2012 – Manushaqe Puto u. a. ./. Albanien, Nr. 604/07, 43628/07, 46684/07 und 34770/09, Ziff. 110–118.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

nahmen in den Urteilstenor auf. Im Fall Suljagic´ ./. Bosnien-Herzegowina ordnete der EGMR an, dass alle Staatsanleihen ausgegeben und alle noch ausstehenden Raten sowie angefallene Verzugszinsen innerhalb von sechs Monaten ab Rechtskraft des vorliegenden Urteils von der Föderation Bosnien-Herzegowina ausbezahlt werden müssen.297 Im Fall Alisˇic´ u. a. ./. Bosnien und Herzegowina, Kroatien u. a., der die fehlende Rückgriffsmöglichkeit der Beschwerdeführer auf ihre Sparanlagen in Fremdwährungen zum Gegenstand hatte, ordnete der Gerichtshof im Urteilstenor an, dass die zu ergreifenden Maßnahmen die Rückerstattung der alten Spareinlagen zu gleichen Konditionen erfassen müssen, die für Ersparnisse an inländischen Zweigstellen der betroffenen Banken gelten.298 Im Fall M. C. u. a. ./. Italien, der die Reevaluierung der Entschädigung für die durch kontaminiertes Blut Infizierte betraf, konkretisierte der Gerichtshof im Urteilstenor, dass im Hinblick auf die Personen, die bereits einen behördlich anerkannten Anspruch auf Entschädigung haben, die zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen die Zahlung eines Geldbetrages erfassen müssen, der der Reevaluierung der Zulage der sog. IIS entspricht.299 Durch den Erlass derart spezifischer Anordnungen im Urteilstenor nutzt der Gerichtshof die ihm durch die Beschränkung des Beurteilsspielraums der Mitgliedstaaten erwachsenen Möglichkeiten aus. cc) Reduzierte Anordnungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit systemischen Mängeln Im Zusammenhang mit echten systemischen Mängeln, die keine abgeschlossene Personengruppe betreffen und ein komplexes Maßnahmenpaket erfordern, musste der EGMR von der Anordnung spezifischer Abhilfemaßnahmen absehen. Im Fall Burdov ./. Russland, der das Problem des verspäteten Vollzugs bzw. Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen betraf, betonte der Gerichtshof die Zuständigkeitsgrenzen, die ihm aus dem Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten erwachsen: „The Court notes that the problems at the basis of the violations of Article 6 and Article 1 of Protocol No. 1 found in this case are large-scale and complex in nature. (. . .) The Court notes that this process raises a number of complex legal and practical issues, which go, in principle, beyond the Court’s judicial function. It will thus abstain in these circumstances from indicating any specific general measure to be 297 EGMR, Urteil v. 3.11.2011 – Suljagic ´ ./. Bosnien-Herzegowina, Nr. 27912/02, Tenor Ziff. 4. 298 EGMR (GK), Urteil v. 16.7.2014 – Alis ˇic´ u. a. ./. Bosnien und Herzegowina, Kroatien u. a., Nr. 60642/08, Tenor Ziff. 10, 11. 299 EGMR, Urteil v. 3.9.2013 M.C. ./. Italien, Nr. 5376/11, Tenor Ziff. 11. Durch die Begrenzung der Anordnung auf behördlich anerkannte Ansprüche dürfte der Personenkreis der Betroffenen als abgeschlossen zu betrachten sein, so dass insoweit die Einordnung als strukturell-spezifischer Mangel erfolgte. Zur Abgrenzung siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. V. 1.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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taken. The Committee of Ministers is better placed and equipped to monitor the necessary reforms to be adopted by Russia in this respect.“ 300

Im Urteilstenor beschränkt sich der Gerichtshof bei systemischen Mängeln daher auf die Feststellung der Konventionsverletzung und die Anordnung, einen innerstaatlichen Rechtsbehelf im Einklang mit Art. 13 EMRK zur Verfügung zu stellen, mit der der strukturelle Mangel – auch rückwirkend für die bereits eingetretenen Schäden – geltend gemacht und eine Entschädigung erlangt werden kann.301 In den Piloturteilen bezüglich der konventionswidrigen Haftbedingungen hat der EGMR im Hinblick auf die besondere Natur des betroffenen Rechtsgutes (Art. 3 EMRK) ergänzende Hinweise erteilt wie der Verstoß beseitigt werden kann. So hat er im Fall Ananyev u. a. ./. Russland unter anderem den Zusammenhang zwischen der Überfüllung der Gefängnisse und dem übermäßigen Gebrauch und der extensiven Dauer der Untersuchungshaft in Russland sowie auf die Notwendigkeit zur Ergreifung provisorischer Maßnahmen aufgezeigt, wie z. B. die gesetzliche Regelung der maximalen Zahl der Häftlinge, die ein Gefängnis pro m2 aufnehmen darf.302 Diese Angaben wurden aber nicht in den Urteilstenor, sondern nur in den Urteilsgründen aufgenommen, so dass es am Anordnungscharakter fehlt. Der EGMR trägt damit dem Beurteilungsspielraum des beklagten Staates Rechnung. Der EGMR macht aber gewisse Vorgaben an den nach Art. 13 EMRK einzuführenden Rechtsbehelf. Im Zusammenhang mit dem Problem des fehlenden oder verspäteten Urteilsvollzugs betonte der EGMR, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, entweder eine präventive oder eine kompensatorische Lösung oder – idealerweise – eine Kombination von beiden zu schaffen. Beschränkt sich der Staat auf eine Entschädigungsregelung, so müssen die von dem EGMR an diese 300 EGMR, Urteil Burdov, a. a. O., Ziff. 136–137 – Hervorhebung durch die Verfasserin. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den anderen Piloturteilen, die systemische Mängel betreffen, wie z. B.: EMGR, Urteil v. 31.7.2015 – Gerasimov u. a. ./. Russland, Nr. 29920/05 u. a., Ziff. 210, 220; EGMR, Urteil v. 10.01.2012 – Ananyev u. a. ./. Russland, Nr. 42525/07, Ziff. 191, 194. 301 EGMR, Urteil Burdov, a. a. O., Ziff. 138–141 und Tenor Ziff. 6. Eine ähnliche Beschränkung auf die Anordnung der Einführung eines effektiven Rechtsbehelfs enthalten auch die anderen Urteile, die das systemische Problem des Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen betreffen: EGMR, Urteil v. 28.7.2009 – Olaru u. a. ./. Moldawien, Nr. 476/07, 22539/05, 17911/08 u. a.; Ziff. 57–58 und Tenor 6; EGMR, Urteil v. 15.10.2009 – Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/04, Ziff. 90–94 und Tenor 5. Entsprechendes gilt für das systemische Problem der überlangen Verfahrensdauer: EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, 46344/06, Ziff. 63 und Tenor 5; EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 37346/05 Tenor 5; EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien, Nr. 48059/ 06 und 2708/09, Ziff. 115 ff. und Tenor Ziff. 6; EGMR, Urteil v. 10.5.2011 – Finger ./. Bulgarien, Nr. 37346/05, Ziff. 120 ff. und Tenor Ziff. 5. 302 EGMR, Urteil Ananyev, a. a. O., Ziff. 195–209.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

aufgestellten Voraussetzungen beachtet werden.303 Soweit das Problem der unzureichenden Haftbedingungen in den Gefängnissen betroffen ist, stellte der EGMR im Urteil Ananyev u. a. ./. Russland klar, dass im Hinblick auf die besondere Natur des Art. 3 EMRK, der den grundlegenden Schutz gegen Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung betrifft, die Zurverfügungstellung eines kompensatorischen Rechtsbehelfs nicht genügt; vielmehr sei in dieser Situation die Kombination aus kompensatorisch und präventiv wirkenden Maßnahmen zwingend.304 4. Fazit Der EGMR ist nicht auf die Feststellung der Konventionsverletzung beschränkt. Anders als der deutsche Begriff der Entschädigung in Art. 41 EMRK vermuten lässt, besteht auch keine Beschränkung auf Geldersatz, denn der Terminus satisfaction der maßgeblichen englischen bzw. französischen Sprachfassung steht als Synonym für die Wiedergutmachung im weitesten Sinne. Eine Grenze kann sich nur aus einem Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees oder in den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten ergeben, die bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung ihrer Verpflichtung nach Art. 46 EMRK frei sind. Der Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees wird dadurch gewahrt, dass der Gerichtshof sich in den Piloturteilen auf eine Gesamtbetrachtung beschränkt und nur das erforderliche Rahmenprogramm anordnet; die Details der Urteilsüberwachung werden dem Ministerkomitee überlassen. Der Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten wird erst verletzt, wenn der Gerichtshof detaillierte Vorgaben trotz einer bestehenden Bandbreite an Abhilfemöglichkeiten macht. Der Gerichtshof trägt dem Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten Rechnung, indem er in seinen Piloturteilen sinngemäß zwischen spezifischen Mängeln und systemischen Mängeln unterscheidet. Bei spezifischen Mängeln, wie im Fall Broniowski, die eine abgrenzbare Personengruppe betreffen und durch gezielte Maßnahmen gelöst werden können, kann der EGMR die unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechungsvorgaben zu ergreifenden gesetzlichen 303 EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04, Ziff. 136–139 und Tenor Ziff. 6. Der EGMR hat die Anforderungen, die er an eine kompensatorische Lösung stellt, in dem Urteil Athanasiou u. a. ./. Griechenland konkretisiert. Voraussetzung ist, dass der Schadensersatzanspruch in angemessener Zeit beschieden wird, dass der Schadensersatz unverzüglich ausgezahlt wird (d.h. grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten nach der Rechtskraft der Entscheidung, mit der die Summe gewährt wurde); dass das Verfahren, mit dem der Schadensersatzanspruch verfolgt wird, den Anforderungen der Verfahrensfairness im Sinne des Art. 6 EMRK entspricht; dass die Gerichtsgebühren keine exzessive Last für die Kläger einer begründeten Beschwerde darstellen und dass die Höhe der Entschädigungssumme vergleichbaren Fällen in der Rechtsprechung des EGMR entspricht, siehe EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 50973/08, Ziff. 55. 304 EGMR, Urteil Ananyev, a. a. O., Ziff. 98 und Tenor Ziff. 7.

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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und verwaltungstechnischen Maßnahmen anordnen. Bei systemischen Mängeln wie im Fall Burdov Nr. 2 ./. Russland, die ein umfassendes Maßnahmenpaket erfordern, wird der Gerichtshof von der Anordnung solcher Maßnahmen zur Beseitigung des eigentlichen strukturellen Problems absehen und die Anordnung auf die Zurverfügungstellung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs beschränken. Die Anordnung der generellen Abhilfemaßnahmen hebt die Wahlmittelfreiheit der Staaten nicht auf, sondern ist als Präzisierung der obligation of result zu verstehen. Die Umwandlung des Feststellungsurteils in ein Leistungsurteil geht damit nicht einher.

III. Befugnis des EGMR zur Überprüfung genereller Abhilfemaßnahmen: Einführung einer unzulässigen Normenkontrolle? Es wurde der Vorwurf erhoben, dass der EGMR über die Piloturteile indirekt eine Normenkontrolle eingeführt habe und unzulässigerweise nationale Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK überprüft.305 Tatsächlich impliziert das Piloturteilsverfahren eine inzidente oder quasi-abstrakte Normenkontrolle, die jedoch nicht unvereinbar mit der Konvention ist. 1. Trennung der Entscheidung über die Hauptsache und die Entschädigung zur Wahrnehmung einer präventiven Kontrolle Zur Beseitigung des in einem Piloturteil festgestellten Mangels muss der beklagte Staat generelle Abhilfemaßnahmen ergreifen, die regelmäßig die Änderung gesetzlicher Regelungen umfassen. Bevor der EGMR die dem Piloturteil zugrunde liegende Beschwerde aus dem Register streicht, überprüft er innerhalb des mehrstufigen Piloturteilsverfahrens die ergriffenen Regelungen auf ihre Effektivität. Zu „einer Art vorbeugenden Normenkontrolle“ 306 gelangt das Piloturteilsverfahren, da der Gerichtshof die gesetzlichen Regelungen nicht nur im Hinblick auf die bereits anhängigen Beschwerden, sondern auch im Hinblick auf die zukünftigen, potentiellen Beschwerden untersucht. Zu diesem Zweck trennt der EGMR regelmäßig die Entscheidung über die Hauptsache und die gerechte Entschädigung. Dieses gestufte Vorgehen ermöglicht dem EGMR bei der Entscheidung über die gerechte Entschädigung die von dem beklagten Staat bereits ergriffenen oder zugesicherten Abhilfemaßnahmen zu berücksichtigen. 305 Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369 (370). In diesem Sinne auch Schäffer, ZÖR 2007, S. 1 (37): „Der EGMR entwickelt ausgehend vom Einzelfall eine systematische (generelle) Kontrolle der nationalen Gesetzgebung am Maßstab der Konvention und tendiert damit zur Rolle eines europäischen Verfassungsgerichts.“ 306 Caflisch, EuGRZ 2006, S. 521 (523).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Diese Verfahrensweise steht im Widerspruch zu der gängigen Praxis des EGMR, über die Hauptsache und die Frage der gerechten Entschädigung einheitlich zu entscheiden. Zugunsten der Trennung der Entscheidung über die Hauptsache und der gerechten Entschädigung spricht jedoch der Subsidiaritätsgedanke. Nach dem Wortlaut des Art. 41 EMRK gewährt der EGMR nur dann eine Entschädigung, wenn das innerstaatliche Recht keine vollkommene Wiedergutmachung gestattet. Villiger schlussfolgerte hieraus bereits im Jahr 1985: „Gemäß EMRK würdigt also der Gerichtshof zunächst das Maß der erfolgten restitution, und erst hernach spricht er der Privatperson für den nicht behobenen Teil des Schadens einen Ersatz zu. Damit steht dem Gerichtshof de lege lata und a priori ein Fenster in die innerstaatliche Rechtsordnung offen, durch welches blickend er prüfen kann, ob bzw. wie der betreffende Staat auf sein Urteil reagiert – und sei es auch nur, um das Maß des Schadensersatzes festzulegen. Je kritischer der Gerichtshof durch dieses Fenster blicke, desto eher entspreche sein Blick einer Kontrollfunktion hinsichtlich der Durchführung dieses Urteils.“ 307

Tatsächlich trennte der EGMR in seiner früheren Rechtsprechungspraxis die Entscheidung über die Hauptsache und die Entschädigung und fügte in den Tenor des Hauptsacheurteils den Zusatz ein, dass der Beschwerdeführer, soweit erforderlich, erneut Beschwerde für eine angemessene Entschädigung einlegen darf.308 Die separate Entscheidung über die Hauptsache und die gerechte Entschädigung hielt der EGMR für erforderlich, um bei der Festsetzung der Entschädigung eine Weigerung des Staates hinreichende Wiedergutmachung zu gewähren, berücksichtigen zu können. Ferner sollte die Möglichkeit einer gütlichen Einigung offen gehalten werden.309 Doch schon bald änderte der Gerichtshof seine Rechtsprechung und interpretierte Art. 41 EMRK derart, dass der Beschwerdeführer nicht erneut auf das nationale Recht verwiesen wird und erneut den innerstaatlichen Rechtsweg ausschöpfen muss, um Entschädigung zu erlangen. Dem Betroffenen soll zügig eine gerechte Entschädigung zugesprochen werden.310 Diese Praxis der kombinierten Entscheidung über Hauptsache und Entschädigung dient dem Beschleunigungsinteresse. Bedenklich ist allerdings, dass der EGMR hierdurch seine Kontrollfunktion nicht mehr vollständig wahrnimmt und die Entschädigung an die Stelle einer eventuell möglichen Naturalrestitution tritt.311 Handelt es sich um einen Einzelfall, mag das Interesse des Beschwerdeführers an einer zügigen Entschädigung überwiegen. Im Zusammenhang mit 307

Villiger, ZSR 1985, Band II, S. 469 (481). EGMR (Plenum), Urteil v. 23.7.1968 – Belgischer Sprachenfall ./. Belgien, Nr. 1374/62 u. a., EuGRZ 1975, S. 298 ff., Ziff. 1 des Tenors. 309 Wildhaber, BRILL 3 (2003), S. 1 (4). 310 Mahoney, Thinking a Small Unthinkable, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 261 (272 f.); Shelton, Remedies in International Human Rights Law, S. 155 f. 311 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 206. 308

B. Kompetenz des Gerichtshofs zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen

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Wiederholungsfällen und strukturellen Problemlagen hat aber die Wahrnehmung der Kontrollfunktion durch den EGMR eine besondere über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung. Die Rückkehr des EGMR zu seiner ursprünglichen Praxis der separaten Entscheidung über die Hauptsache und die Entschädigung im Zusammenhang mit den Piloturteilen steht somit im Einklang mit Art. 41 EMRK. 2. Zulässigkeit einer quasi-abstrakten Normenkontrolle Gemäß Art. 34 EMRK muss der Beschwerdeführer im Rahmen einer Individualbeschwerde behaupten, durch den beklagten Staat in einem der in der Konvention anerkannten Rechten verletzt worden zu sein. Hieraus folgt, dass der Gerichtshof im Rahmen einer Individualbeschwerde312 nationale Gesetze nicht abstrakt auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention überprüfen darf.313 Dieses Verbot der Popularklage, das auch in den nationalen Rechtssystemen bekannt ist,314 soll verhindern, dass eine Person eine Beschwerde im Interesse der Allgemeinheit oder Dritter erhebt. Es wäre aber zu weitgehend aus dem Erfordernis der individuellen Beschwer zu schließen, dass dem Gerichtshof generell die Überprüfung eines nationalen Gesetzes untersagt ist. Wurde im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der individuelle Bezug zum Beschwerdeführer bejaht, ist der Gerichtshof nicht gehindert, im Rahmen der Begründetheit ein nationales Gesetz zu überprüfen, das im Zusammenhang mit der Beschwerde steht, und seine Konventionswidrigkeit festzustellen.315 Tatsächlich hat der Gerichtshof von der Möglichkeit einer inzidenten Normenkontrolle im Rahmen einer Individualbeschwerde bereits Gebrauch gemacht: Eine Prüfung des nationalen Gesetzes ist anerkannt, wenn ohne besondere Durchführungsmaßnahme eine Person durch das Gesetz unmittelbar betroffen wird und hierdurch in seinen Rechten verletzt sein kann316 oder wenn die Person Gefahr 312 Im Rahmen der Staatenbeschwerde ist hingegen die Überprüfung eines nationalen Gesetzes als solches möglich, siehe: EGMR (Plenum), Urteil v. 18.1.1978 – Irland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5310/71, EuGRZ 1979, S. 49, Ziff. 240. 313 Siehe hierzu die grundsätzlichen Ausführungen des EGMR im Urteil Klass: EGMR (Plenum), Urteil v. 6.9.1978 – Klass ./. Deutschland, Nr. 5029/71, EuGRZ 1979, S. 278 (282), Ziff. 33: „[Art. 34 EMRK] gestattet (. . .) nicht, sich gegen ein Gesetz in abstracto zu beschweren (. . .) Grundsätzlich genügt es nicht, wenn ein Individualbeschwerdeführer geltend macht, dass die bloße Existenz eines Gesetzes seine ihm durch die Konvention gewährten Rechte verletzt; das Gesetz muss zu seinem Nachteil angewendet worden sein.“ 314 Für Deutschland vgl. etwa § 42 VwGO, wonach eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage nur zulässig ist, wenn der Kläger geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder eine Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. 315 Breuer, EuGRZ 2008, S. 121 (122). 316 EGMR (Plenum), Urteil v. 6.9.1978 – Klass ./. Deutschland, Nr. 5029/71, EuGRZ 1979, S. 278 ff., Ziff. 33 ff.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

läuft, durch die Wirkungen des Gesetzes unmittelbar betroffen zu werden (sog. potentielle Opfer).317 Beispiel für eine solche „quasi-abstrakte Kontrolle“ 318 ist der Fall Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, in dem homosexuelle Beschwerdeführer Beschwerde gegen die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in Nordirland einlegten. Der Gerichtshof stellte fest, dass im Fall eines strafbewehrten Verbots dem betroffenen Beschwerdeführer das Abwarten auf den Anwendungsakt nicht zumutbar sei.319 Ein weiteres Beispiel ist der Fall Klass ./. Deutschland 320, der Beschwerden gegen das deutsche Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses („G 10-Gesetz“) zum Gegenstand hatte. Aufgrund des geheimen Charakters der mit der Beschwerde angegriffenen Überwachungsmaßnahmen hielt der Gerichtshof den Nachweis der direkten Betroffenheit für entbehrlich und eine entsprechende Behauptung für ausreichend.321 Nach alledem ist es konsequent, eine quasi-abstrakte Kontrolle auch im Hinblick auf die von dem strukturellen Mangel (potentiell) betroffenen Beschwerdeführer im Zusammenhang mit Piloturteilen zuzulassen.

C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden und der rückwirkenden Anordnung von Abhilfemaßnahmen In einem Piloturteil suspendiert der Gerichtshof regelmäßig die Entscheidung über die parallelen Beschwerden. Dem Mitgliedstaat soll hierdurch die Gelegenheit eingeräumt werden, die erforderlichen generellen Abhilfemaßnahmen zu ergreifen und die Problematik auf der nationalen Ebene zu lösen. Wesentlicher Bestandteil der Abhilfemaßnahmen ist die Einführung eines Rechtsbehelfs, mit dem der strukturelle Mangel bereits auf der nationalen Ebene gerügt und Entschädigung erlangt werden kann. Der Rechtsbehelf soll Rückwirkung entfalten und auch die bereits beim Gerichtshof anhängigen Beschwerden erfassen.

317 EGMR, Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, EuGRZ 1979, S. 454, Ziff. 27. 318 Frowein/Villiger, HRLJ 1988, S. 23 (28). 319 EGMR, Urteil v. 22.10.1981 – Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, EuGRZ 1983, S. 488, Ziff. 41: „[the impuged legislation] continuously and directly affects his private life . . .: either he respects the law . . . or he commits such acts and thereby becomes liable to criminal prosecution.“ Siehe für Irland und Zypern auch: EGMR, Urteil v. 26.10.1988 – Norris ./. Irland, Nr. 10581/83, EuGRZ 1992, S. 477, Ziff. 31 ff. und EGMR, Urteil v. 22.4.1993 – Modinos ./. Zypern, Nr. 15070/89, ÖJZ 1993, 821, Ziff. 24. 320 EGMR (Plenum), Urteil v. 6.9.1978 – Klass ./. Deutschland, Nr. 5029/71, EuGRZ 1979, S. 278. 321 EGMR (Plenum), Urteil v. 6.9.1978 – Klass ./. Deutschland, Nr. 5029/71, EuGRZ 1979, S. 278, Ziff. 33 ff.

C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden

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I. Suspendierung der parallelen Beschwerden, Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK Als Kompetenzgrundlage für die Suspendierung der parallelen Beschwerden kann Art. 37 EMRK herangezogen werden. Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK gestattet die Streichung der Beschwerden, wenn die Prüfung der Beschwerde aus anderen Gründen als dem fehlenden Interesse an der weiteren Verfolgung der Beschwerde gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK oder aufgrund der Lösung der Streitigkeit gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK nicht gerechtfertigt ist. Aufgrund der weiten Formulierung lässt sich unter die anderen Gründe die Feststellung eines strukturellen Mangels innerhalb einer innerstaatlichen Rechtsordnung subsumieren. a) Problem der Rechtsverweigerung Kritiker des Piloturteilsverfahrens machen geltend, dass die Suspendierung der parallelen Beschwerden die Beschwerdeführer in eine unsichere Lage bringe, da sie auf die Lösung des Pilotfalles warten müssten.322 Es werde – jedenfalls vorübergehend – ein rechtsfreier Raum geschaffen, und die Beschwerdeführer könnten in dieser Zeit weder auf der nationalen Ebene noch in Straßburg Abhilfe erhalten.323 Solange der verantwortliche Staat nicht einen wirksamen Rechtsbehelf mit Rückwirkung im nationalen Recht bereitstelle, sei der Beschwerdeführer mit einem Fall der Rechtsverweigerung („déni de justice“) konfrontiert.324 Außerdem bestehe die Gefahr, dass durch die Rückverweisung auf die nationale Ebene und dem Untätigbleiben oder einer unzureichenden Abhilfe durch den beklagten Staat neue Prozesse entstehen, die wiederum zum Gerichtshof gelangen und die Verfahrenslänge insgesamt verlängern können.325 Die Kritik ist nicht unbegründet, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich im Einzelfall das Verfahren für Parallelbeschwerdeführer verlängert. Hierin wird gewissermaßen der Preis gesehen, den die Beschwerdeführer zugunsten eines verstärkten Drucks auf den beklagten Staat zahlen müssen.326 Realistischerweise wäre aber auch die einzelne Behandlung der Beschwerden mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Ob im Einzelfall tatsächlich eine Verlängerung des Verfahrens eintritt lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen. Befolgt der Staat die Anordnungen umgehend, wird eine Vielzahl der parallelen Beschwerdeführer durch das Piloturteilsverfahren rascher eine Abhilfe erhalten als im norma322 Fribergh, Pilot judgments from the Court’s perspective, Vortrag v. 9./10.6.2008 in Stockholm, S. 86 (89). 323 Sundberg, Droit et Justice 69, S. 259 (262). 324 Ress, Droit et Justice 69, S. 277 (281). 325 Fribergh, Pilot judgments from the Court’s perspective, Vortrag v. 9./10.6.2008 in Stockholm, S. 86 (89). 326 Sundberg, Droit et Justice Nr. 69, S. 259 (263).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

len Verfahren. Um den Einzelnen nicht übermäßig zu belasten, hat der EGMR außerdem eine Reihe von Techniken zur Beschleunigung der Entscheidung über die parallelen Beschwerden entwickelt. b) Techniken des EGMR zur Beschleunigung der Entscheidung über die parallelen Beschwerden Das Piloturteilsverfahren führt nicht automatisch zu einer Suspendierung der parallelen Beschwerden. In dem Urteil Rumpf ./. Deutschland 327 hat der EGMR bewusst davon abgesehen, die Untersuchung der parallelen Beschwerden vor der Implementierung der erforderlichen Maßnahmen zu suspendieren, da die Zahl der Konventionsverletzungen durch Deutschland eher gering und die anhängigen Beschwerden überschaubar waren. Die fortschreitende Bearbeitung der parallelen Beschwerden sollte Deutschland an seine Verpflichtungen gegenüber der Konvention erinnern.328 Schließlich betraf der Fall Rumpf das Problem der überlangen Verfahrensdauer, so dass eine weitere Verlängerung des Verfahrens durch Verweisung auf einen nationalen Rechtsbehelf schwer zu rechtfertigen war. Aber auch in den Fällen, in denen der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, also gegen das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung festgestellt hat, sah der Gerichtshof aufgrund der besonderen Bedeutung des geschützten Rechtsgutes von der Suspendierung der parallelen Beschwerden ab.329 Ein anderes Vorgehen hat der EGMR im Fall Burdov Nr. 2 330 erkennen lassen. In diesem Fall, in dem es um den Nicht- oder verspäteten Vollzug nationaler Gerichtsentscheidungen ging, hat der EGMR zwischen den bereits anhängig gemachten und den zu erwartenden neuen Beschwerden differenziert. Der EGMR setzte hier das Verfahren bezüglich aller neuen Beschwerden für ein Jahr ab Rechtskraft des Urteils aus. Hinsichtlich der bereits anhängigen Beschwerden erklärte der Gerichtshof, mit der Prüfung fortfahren zu wollen.331 Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es den Beschwerdeführern, die zur Zeit des Piloturteils ihre Beschwerden bereits anhängig gemacht haben, im Hinblick auf den geltend ge327 EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355 ff. 328 EGMR, Urteil Rumpf, a. a. O., Ziff. 75. 329 Siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. VI. 5. 330 EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04. 331 EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland, a. a. O., Ziff. 144–146: „The Court decides, however, to follow a different course of action in respect of the applications lodged before the delivery of the judgment. In the Court’s view, it would be unfair if the applicants in such cases, who have allegedly been suffering for years of continuing violations of their right to a court and sought relief in this Court, were compelled yet again to resubmit their grievances with the domestic authorities, be it on the grounds of a new remedy or otherwise.“

C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden

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machten Rechtsverstoß des jahrelangen Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen nicht zumutbar, auf den innerstaatlichen Rechtsweg zurückgewiesen zu werden. Der Staat muss hier unmittelbar Wiedergutmachung an die Betroffenen leisten.332 Eine zusätzliche Absicherung für die Betroffenen schafft der EGMR durch die Setzung – relativ kurzer – Fristen, innerhalb derer der beklagte Staat die Abhilfemaßnahmen ergreifen muss.333 Im Übrigen behält sich der EGMR vor, das eingeführte Rechtsmittel auf seine Effektivität zu überprüfen. Stellt der Gerichtshof fest, dass die Maßnahmen, die der beklagte Staat zur Problemlösung ergriffen hat, nicht effektiv sind, nimmt der Gerichtshof die Prüfung der suspendierten Beschwerden wieder auf.334 Art. 37 EMRK als Rechtsgrundlage gibt dem EGMR für ein solches Vorgehen ausreichenden Freiraum. Art. 37 Abs. 2 EMRK bestimmt, dass der EGMR „die Prüfung der Beschwerde fort[setzt], wenn die Achtung der Menschenrechte dies erfordert. Obwohl die Streichung einer Beschwerde durch Urteil ergeht, kann der EGMR nach Art. 37 Abs. 2 EMRK ferner „die Wiedereintragung einer Beschwerde in sein Register anordnen, wenn er dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält“. Nach einer gewissen Zeit kann der EGMR also erneut mit einer Beschwerde durch dieselben Beschwerdeführer angerufen werden, um eine Verletzung des Art. 13 EMRK festzustellen, wenn kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt wurde.

II. Kompetenz zur rückwirkenden Anordnung der Abhilfemaßnahmen Die nach einem Piloturteil zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen müssen Rückwirkung entfalten. Die Rückwirkung der angeordneten Abhilfemaßnahmen stellt gewissermaßen die Kehrseite der Medaille gegenüber der Suspendierung der parallelen Beschwerden dar,335 da sie den Beschwerdeführer für die Zeit der Rechtsunsicherheit bis zur Verfügbarkeit des innerstaatlichen Rechtsbehelfs entschädigt. Die Kompetenz zu einer rückwirkenden Anordnung der Abhilfemaßnahmen setzt voraus, dass die (Pilot-)Urteile des EGMR Wirkung für die Vergangenheit (ex tunc) entfalten können. Der EGMR hat zu der zeitlichen Wirkung seiner Urteile erstmals im Fall Marckx ./. Belgien Stellung genommen, in dem es um die Ungleichbehandlung 332 Ähnlich hat der EGMR in dem Fall Olaru u. a. ./. Moldawien (EGMR, Urteil v. 28.7.2009, Nr. 476/07, 22539/05, 17911/08 und 13136/07) entschieden. 333 So erstmals geschehen in dem Fall Burdov ./. Russland (Nr. 2), EGMR, Urteil v. 15.1.2009, Nr. 33509/04, Tenor Ziff. 6 und 7. 334 Siehe den Fall Scordino ./. Italien Nr. 2, EGMR (GK), Urteil v. 29.3.2006, Nr. 36813/97, NJW 2007, S. 1259 ff. 335 Ress, Droit et Justice 69 (2006), S. 277 (281).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

von nichtehelichen und ehelichen Kindern ging.336 Der EGMR nahm hierbei vergleichenden Rekurs auf die Rechtsprechung des EuGH und die zeitliche Wirkung der Vorabentscheidungsurteile. Ähnlich wie der EGMR darf der EuGH innerhalb eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV nur den Verstoß einer gesetzlichen Regelung gegen das Unionsrecht feststellen; er ist nicht befugt, die angegriffene Maßnahme aufzuheben. Der verurteilte Mitgliedstaat ist aber unionsrechtlich verpflichtet, Abhilfe zu schaffen, Art. 260 Abs. 1 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV. Für das vorlegende Gericht und für die Gerichte, die im weiteren Rechtsweg mit demselben Streitgegenstand befasst werden, entfaltet das Urteil Bindungswirkung gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV.337 Diese Vorabentscheidungsurteile wirken nach Ansicht des EuGH ex tunc. Das folgt aus dem Wesen des Auslegungsurteils, in dem der EuGH lediglich die richtige Auslegung feststellt, die der fraglichen Norm seit ihrem Inkrafttreten innewohnt.338 Ausnahmsweise kann der EuGH die zeitliche Wirkung der Feststellungsurteile einschränken. Im Fall Defrenne339 hatten die Regierungen Irlands und des Vereinigten Königreichs auf die wirtschaftlichen Konsequenzen aufmerksam gemacht, die sich aus der Entscheidung des Gerichtshofs, dem Art. 157 AEUV (vgl. ex-Art. 141 EG-Vertrag – gleiches Entgelt für Männer und Frauen) unmittelbare Wirkung zuzuerkennen, ergeben können. Nach Ansicht des EuGH genügen solche finanziellen Belastungen des betroffenen Mitgliedstaates nicht für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen. Hinzutreten müsse eine bisher ungeklärte gemeinschaftsrechtliche Rechtslage.340 Im Fall Defrenne bejahte der EuGH die zeitlichen Wirkungen seiner Auslegung hinsichtlich der vor dem Tag der Urteilsverkündung liegenden Lohnund Gehaltsperioden nur für solche Situationen, in denen Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hatten. Denn die Kommission war gegen die betroffenen Mitgliedstaaten nie vorgegangen und hatte hierdurch den Eindruck von einer fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 157 AEUV erweckt.341 Ähnlich wie der EuGH setzte der EGMR im Fall Marckx die grundsätzliche Rückwirkung seiner Urteile voraus. Der Gerichtshof berücksichtigte aber mildernd den Umstand, dass die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern sich nur langsam entwickelt hat. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass das dem Konventionsrecht ebenso wie dem Unionsrecht innewohnende Prinzip der Rechtssicherheit den belgischen Staat davon entband, „Handlungen oder Rechtslagen in Frage zu stellen, die vor der Verkündung des Urteils liegen“.342

336 337 338 339 340 341

Zum Fall Marckx siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. a). Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 9, Rn. 102. Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (238). EuGH, Urteil v. 8.4.1976 – Defrenne, Rs. 43/75, Slg. 1976, S. 455. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9, Rn. 114 und 119. EuGH, Urteil Defrenne, a. a. O., S. 455 (480), Rn. 69 ff.

C. Kompetenz zur Suspendierung paralleler Beschwerden

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Eine Beschränkung der Rückwirkung der Urteile des EGMR ist mithin nur aus zwingenden Gründen der Rechtssicherheit anzuerkennen. Im Fall eines Piloturteils werden diese Voraussetzungen für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen regelmäßig nicht vorliegen. Der finanzielle Aspekt allein schützt nicht vor einer ex tunc-Wirkung des Urteils. Maßgeblich ist, ob der betroffene Staat auf das Ausbleiben einer Verurteilung vertrauen durfte. Das ist bei den Piloturteilen regelmäßig nicht der Fall. Häufig gehen den Piloturteilen schon andere Verurteilungen voraus, bevor der Gerichtshof das Piloturteilsverfahren anwendet, so dass die Konventionsverletzung bekannt ist. Im Übrigen wird der EGMR nur in klaren Fällen eines Konventionsverstoßes von dem Verfahren Gebrauch machen. Die Anordnung von Abhilfemaßnahmen mit Rückwirkung steht damit im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR.

III. Folgen der Nichteinführung des Rechtsbehelfs Wird der in einem Piloturteil angeordnete Rechtsbehelf nicht eingeführt, kann sich der betroffene Beschwerdeführer erneut an den EGMR wenden. Durch die wiederholte Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 13 EMRK kann Druck auf den beklagten Staat ausgeübt werden. Fraglich ist jedoch, ob dieses Vorgehen ausreichend ist. Ress hat vorgeschlagen, das Piloturteilsverfahren durch eine Sanktionsmöglichkeit zu ergänzen für den Fall, dass es dem Konventionsstaat misslingt, innerhalb einer bestimmten Frist einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf einzuführen oder das der festgestellten Konventionsverletzung zugrundeliegende strukturelle Problem zu lösen.343 Der Gerichtshof soll eine Entschädigung zusprechen können für jeden Tag der vergehe, ohne dass ein Rechtsbehelf eingeführt werde.344 Eine vergleichbare Sanktionsmöglichkeit existiert im Recht der Europäischen Union. Der EuGH kann eine Vertragsverletzung nur feststellen, hat aber keine Befugnis zur Einleitung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen einen Mitgliedstaat. Werden die erforderlichen Maßnahmen nicht ergriffen, kann die Nichtbefolgung des Urteils aber als Vertragsverletzung in einem Vertragsverletzungsverfahren gerügt und mit der Verhängung eines Pauschalbetrages und/oder Zwangsgeldes geahndet werden, Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. Durch das 14. Protokoll zur EMRK wurde in Art. 46 Abs. 4, 5 EMRK das Nichtbefolgungsverfahren eingeführt. Das Verfahren wurde aber an enge Voraussetzungen geknüpft. Im Unterschied zum Sanktionsverfahren im Rahmen der 342 EGMR (Plenum), Urteil v. 13.6.1979 – Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, EuGRZ 1979, S. 454 (460), Ziff. 58. 343 Ress, Droit et Justice Nr. 69 (2006), S. 277 (281 und 283). 344 Ress, Droit et Justice Nr. 69 (2006), S. 277 (281).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Europäischen Union und dem Vorschlag der Parlamentarischen Versammlung345 verzichtet Art. 48 Abs. 4 EMRK n. F. auf die Festsetzung von Fristen und die Möglichkeit, ein Zwangsgeld zu verhängen. Der politische Druck, der durch ein solches Verfahren vor der Großen Kammer ausgeübt wird, wurde als ausreichend erachtet, um den Staat zur Befolgung des Urteils des Gerichtshofs zu bewegen.346 Kritisch hinsichtlich der Einführung einer Sanktionsmöglichkeit äußerten sich im Rahmen der Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK insbesondere der Lenkungsausschuss für Menschenrechte und die Venedig-Kommission, weil die Verzögerung nicht nur auf politischen, sondern auch auf rein technischen Schwierigkeiten beruhen könne. Ein Zwangsgeld würde ein strafendes Element einführen, das dem Konventionssystem bisher fremd sei. Die Verzögerung werde bereits dadurch sanktioniert, dass andere Beschwerdeführer ihre Fälle vor den Gerichtshof bringen können und der beklagte Staat Entschädigung für die Wiederholung der Konventionsverletzung zahlen müsse.347 Die Einführung einer Sanktionsmöglichkeit vergleichbar dem Recht der Europäischen Union bedarf weiterer Überlegung, da es dem EGMR ein effektives Druckmittel an die Hand geben würde, um Wiederholungsfälle erfolgreich zu bekämpfen. Vor dem Hintergrund des grundsätzlich kooperativen Charakters des Konventionsschutzes dürfte eine Sanktion aber nur auf die Fälle der hartnäckigen und offensichtlichen Weigerung des Urteilsvollzugs trotz Vorliegen der technischen Möglichkeiten beschränkt werden.

D. Zur Bindungswirkung der Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil Gemäß Art. 46 EMRK verpflichten sich die Hohen Vertragsparteien, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Unzweifelhaft sind die Anordnungen in einem Piloturteil in Bezug auf den Beschwerdeführer verbindlich. Typischerweise enthält ein Piloturteil jedoch die Anordnung zur Ergreifung genereller Maßnahmen, die über den Einzelfall hinausgehen. Durch die Aufnahme der Anordnungen im Urteilstenor macht der EGMR deutlich, dass den Anordnungen nicht ein bloßer Appellcharakter, sondern echte rechtliche Bindungswirkung zukommen soll. Die Aufnahme der An345 Parlamentarische Versammlung, Resolution 1226 (2000) über den Vollzug der EGMR-Urteile („Execution of Judgments of the European Court of Human Rights“), angenommen am 28.9.2000 anlässlich ihrer 30. Sitzung, § 11 A (ii): „(the Committee of Ministers should) amend the Convention to introduce a system of astreintes (daily fines for a delay in performance of a legal obligation) to be imposed on states that persistently fail to execute a Court judgment.“ Die Resolution ist verfügbar über (Documents/Adopted Texts/Resolutions), Stand: 30.9.2015. 346 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 99. 347 Lambert-Abdelgawad, ZaöRV 69 (2009), S. 471 (494).

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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ordnung genereller Abhilfemaßnahmen in den Tenor ist das zentrale Element eines Piloturteils und übt den entscheidenden Druck auf die Mitgliedstaaten aus. Oder in den Worten eines Richters des EGMR „it’s the operative part that works the magic.“ 348 Die zentrale Frage lautet daher, ob und inwieweit sich eine echte rechtliche Bindungswirkung der Piloturteile über den entschiedenen Fall hinaus begründen lässt. Die Rechtskraft der Entscheidung des EGMR wirkt nur inter partes, bindet also nur die am Verfahren beteiligten Parteien. Versuche eine Bindungswirkung in Parallelfällen über eine Rechtskrafterstreckung anzunehmen, haben sich nicht durchsetzen können.349 Ansatzpunkt für eine Begründung der Bindungswirkung der Anordnung über den Einzelfall könnte eine erga omnes-Wirkung der Urteile sein. Dies würde bedeuten, dass die in dem Urteil getroffene Auslegungsentscheidung nicht nur für die betroffenen Parteien, sondern für jedermann gilt. Die Frage, ob die Auslegungsurteile des EGMR lediglich faktische Natur haben oder echte Bindungswirkung entfalten, ist seit jeher umstritten. Wird eine Bindungswirkung erga omnes verneint, ist zu untersuchen, ob eine Bindungswirkung jedenfalls in Hinblick auf die Piloturteile im Wege einer vertragserweiternden Staatenpraxis eingeführt wurde, mithin ob jedenfalls eine beschränkte Bindungswirkung hinsichtlich der von dem strukturellen Mangel betroffenen Personen anzuerkennen ist. Die Frage der Bindungswirkung wird zunächst im Wege der Auslegung des Art. 46 EMRK – ohne Berücksichtigung der Staatenpraxis – untersucht. Eine Analyse der Staatenpraxis erfolgt erst im Anschluss, um das gefundene Auslegungsergebnis zu überprüfen und die Möglichkeit einer Modifizierung des Ergebnisses infolge vertragsändernder Wirkung der Staatenpraxis zu eruieren.

I. Auslegung des Art. 46 EMRK im Sinne einer erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR – ohne Staatenpraxis Die Urteile des Gerichtshofs haben nicht nur die Aufgabe, die dem EGMR vorgelegten Fälle zu entscheiden, sondern in allgemeiner Weise die Konventionsbestimmungen zu erläutern. Diese verallgemeinerungsfähige Interpretation nimmt Einfluss auf die Anwendung der Konvention in nachfolgenden Fällen. Die Frage der erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs steht daher in einem engen Zusammenhang mit dem Problem der Präjudizbindung. Hierbei geht es um das

348 Zitat eines Richters am Gerichtshof in einem Interview in Straßburg am 26.3. 2009, zitiert von Leach (u. a.), Responding to Systemic Human Rights Violations, S. 23 und Fn. 58. 349 Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 1.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Problem, inwieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen ein Gericht an fremde oder eigene frühere Entscheidungen in der gleichen Rechtsfrage gebunden ist.350 Die Präjudizwirkung ist von der Rechtskraftwirkung zu differenzieren. Die Rechtskraft bedeutet in formeller Hinsicht, dass eine Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann und in materieller Hinsicht die Verbindlichkeit des Richterspruchs.351 Präjudizien sind demgegenüber aus der Rechtsprechungspraxis entwickelte Grundsätze, die über die Lösung einer bestimmten Rechtsfrage Auskunft geben.352 Obwohl das Präjudiz anlässlich eines konkreten Rechtsstreits herausgebildet wird, zielt es auf die Beantwortung allgemeiner Rechtsfragen, die losgelöst von dem individuellen Fall Geltung beanspruchen. Die Rechtskraft hingegen will allein das Ergebnis des konkreten Rechtsstreits absichern.353 Die Präjudizbindung reicht weiter als die Rechtskraft, denn letztere fordert nur, dass in einem neuen Verfahren, das denselben Streitgegenstand betrifft, keine abweichende Entscheidung getroffen wird. Nur das Präjudiz kann dem Richter gebieten, auch in einem anderen Fall, d.h. bei einem anderen Streitgegenstand, die Rechtslage wie in einer früheren Entscheidung zu bewerten.354 1. Präjudizwirkung im angloamerikanischen Recht Eine rechtliche Bindungswirkung der Präjudizien existiert im angloamerikanischen Rechtskreis. Nach dem Grundsatz stare decisis et non quieta movere ist der common law-Richter an vorhergehende Entscheidungen gebunden.355 Das Kernstück der stare decisis-Lehre ist die doctrine of precedent, die besagt, dass die Entscheidungen höherer Gerichte für die niedrigeren Gerichten bindend sind, sog. vertikale Präjudizbindung. Die Frage, ob und inwieweit höhere Gerichte an ihre eigenen Entscheidungen gebunden sind, ist hingegen eine Frage der horizontalen Präjudizwirkung.356 An der Spitze der Gerichtshierarchie im Vereinigten Königreich steht der Supreme Court, welcher infolge des Constitutional Reform Act 2005 seit Oktober 2009 an die Stelle des House of Lords getreten ist.357 Die Entscheidungen des Supreme Court binden alle unteren Gerichte. Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, dass das House of Lords bzw. der Supreme Court auch an die eigenen 350

Effer-Uhe, Bindungswirkung von Präjudizien, S. 1. Kilian, Die Bindungswirkung der Entscheidung des EGMR, S. 86. 352 Greifelds, Rechtswörterbuch, 19. Aufl. 2007. 353 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, S. 404 ff. 354 Kilian, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR, S. 88. 355 Plötzgen, Präjudizienrecht im angelsächsischen Rechtskreis, S. 33. 356 Pilny, Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, S. 18 f. 357 Hoffman/Rowe, Human Rights in the UK, S. 43. 351

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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Entscheidungen gebunden ist. Im Jahr 1966 jedoch verfasste das House of Lords ein Practice Statement und stellte fest, dass es sich in Abweichung von seiner bisherigen Praxis in Einzelfällen vorbehält, von einer früheren Entscheidung abzuweichen.358 Der Court of Appeal steht im Rang unter dem Supreme Court und ist an die Entscheidungen des Supreme Court sowie an seine eigenen Entscheidungen gebunden,359 nicht aber an die Entscheidungen der ihm untergeordneten Gerichte, über deren Berufungen er entscheidet. Der High Court als oberstes erstinstanzliches Zivilgericht, entscheidet über bedeutsame Zivilverfahren und teilweise über Berufungen der County Courts, die die einfachen Zivilfälle behandeln, und ist sowohl an die Entscheidungen des House of Lords als auch an die Entscheidungen des Court of Appeal gebunden und bindet selbst die unteren County Courts.360 Nur die Entscheidungen der Höchstgerichte entfalten echte Rechtswirkung (binding authority) und sind mithin als Rechtsquellen einzuordnen. Eine schwächere Wirkung (persuasive authority) wird für die Richter des High Court untereinander sowie für die Entscheidungen der Gerichte unterhalb des High Court oder die Gerichte anderer Staaten des Common Law angenommen.361 Von der Präjudizwirkung werden nur die tragenden Entscheidungsgründe (ratio decidendi) erfasst, auf denen eine Entscheidung basiert, nicht die anderen Bestandteile (obiter dicta).362 Die stare decisis Doktrin dient der Rechtssicherheit.363 2. Stellungnahme des EGMR Der EGMR hat direkte Aussagen zu einer Verbindlichkeit seiner Entscheidungen für die Vertragsstaaten bislang vermieden.364 Die Rechtsprechung des EGMR zeichnet sich durch Kontinuität und Stabilität aus, und gewöhnlich folgt der Gerichtshof seinen eigenen Präjudizien, da hierdurch die Rechtssicherheit gefördert wird.365 Zu der Stabilität der Rechtsprechung trägt der Umstand bei, dass 358

Stuart/Warner, in: Grewe u. a. (Hrsg.), FS Kutscher, S. 273 (274). Der Versuch des Court of Appeal, für sich ebenfalls eine Möglichkeit der Abweichung von der eigenen Rechtsprechung einzuführen, wurde von dem House of Lords [jetzt: Supreme Court] unterbunden, siehe Stuart/Warner, ebenda. 360 Hoffman/Rowe, Human Rights in the UK, S. 43. 361 Stuart/Warner, a. a. O. 362 Pilny, Präjudizienrecht, S. 35; Stuart/Warner, in: Grewe u. a. (Hrsg.), FS Kutscher, S. 273 (274). 363 Plötzgen, Präjudizienrecht im angelsächsischen Recht, S. 37; Stuart/Warner, in: Grewe u. a. (Hrsg.), FS Kutscher, S. 273 (275). 364 Haß, Urteile des EGMR, S. 165 f.; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 288. 365 Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 287. 359

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

jede Kammer gemäß Art. 30 EMRK eine anhängige Rechtssache an die Große Kammer abgeben kann, wenn die Entscheidung zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen kann. Der EGMR sieht sich aber nicht an seine früheren Entscheidungen gebunden. Abweichungen können erforderlich sein, um den gesellschaftlichen Wandel zu berücksichtigen und den Menschenrechtsschutz auszubauen. Der EGMR stellt an eine Rechtsprechungsänderung aber hohe Voraussetzungen und verlangt das Vorliegen von „guten“ 366 oder „zwingenden“ 367 Gründen. Auch wenn der EGMR eine strikte Bindung an seine früheren Entscheidungen für sich selbst ablehnt, folgt hieraus nicht zwingend, dass die Urteile des EGMR für nationale Gerichte keine echte Bindungswirkung entfalten. So haben im Vereinigten Königreich die Entscheidungen des Supreme Court Rechtsquellencharakter, obwohl es seit dem Practice Statement von 1966 nicht mehr an die eigenen Entscheidungen gebunden ist.368 Die horizontale Bindungswirkung an die eigenen Entscheidungen des EGMR muss von der Frage der Bindung der nationalen Gerichte an die Auslegungsentscheidung des EGMR unterschieden werden. In der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs finden sich Hinweise dafür, dass der EGMR seiner Auslegungsentscheidung eine über den Einzelfall hinausreichende Wirkung beimisst. Der EGMR hat wiederholt ausgeführt, dass: „(. . .) die Urteile des Gerichtshofs nicht nur dazu [dienen], die ihm vorgelegten Fälle zu entscheiden, sondern, allgemeiner, die Bestimmungen der Konvention zu erläutern, zu sichern und fortzuentwickeln und auf diese Weise zur Beachtung der Verpflichtungen der Staaten beizutragen, die sie als Vertragsparteien eingegangen sind . . .“ 369

Im Fall Karner ./. Österreich ergänzt der Gerichtshof: „Obwohl der primäre Zweck des Konventionssystems darin besteht, dem Einzelnen Hilfe zu bieten, besteht seine Aufgabe auch darin, im Allgemeininteresse begründete allgemein politische Fragen zu entscheiden und dabei die allgemeinen Schutzstandards der Menschenrechte zu heben und die Menschenrechtsjurisprudenz (humanrights jurisprudence) in der Gemeinschaft der Konventionsstaaten zu verbreiten.“ 370

Die Urteile des EGMR haben daher anerkanntermaßen eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus. 366 EGMR (GK), Urteil v. 18.1.2001 – Champman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27278/95, Ziff. 70 („good reasons“). 367 EGMR (Plenum), Urteil v. 27.9.1990 – Cossey ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 10843/84, Ziff. 35 („cogent reasons“). 368 Stuart/Warner, in: Grewe u. a. (Hrsg.), FS Kutscher, S. 273 (281). 369 EGMR (Plenum), Urteil v. 18.1.1978 – Irland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5310/71, EuGRZ 1979, S. 149 (152), Ziff. 154; EGMR (Plenum), Urteil v. 6.11. 1980 – Guzzardi ./. Italien, Nr. 7367/76, Ziff. 86. 370 EGMR, Urteil v. 24.7.2003 – Karner ./. Österreich Nr. 40016/98, ÖJZ 2004, S. 36 (37) Ziff. 26.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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3. Zur allgemeinen Befolgung der Urteile Die Urteile des EGMR werden regelmäßig zufriedenstellend befolgt.371 Die Konventionsstaaten vollziehen unter der Aufsicht des Ministerkomitees die aus dem Urteil erforderlichen Maßnahmen, um die Wiederholung vergleichbarer Konventionsverstöße in der Zukunft zu verhindern.372 Dabei finden auch die gegen andere Staaten ergangenen Urteile des EGMR Beachtung. Beispielsweise haben die Niederlanden mit dem Gesetz vom Oktober 1982 – rückwirkend auf den Tag der Verkündigung des Urteils des EGMR Marckx ./. Belgien – die in ihrem Recht bis dahin gegebene Diskriminierung unehelicher Kinder im Erbrecht beseitigt.373 Große Beachtung hat auch das Urteil Fall Kudla ./. Polen gefunden. Nicht nur in Polen setzte das Urteil einen Gesetzgebungsprozess in Gang, der Abhilfe für Verstöße gegen das Recht auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeit schuf.374 Auch Italien hat mit dem Gesetz r. 89 vom 24. März 2001 die Grundlage für Beschwerden vor nationalen Gerichten wegen überlanger Verfahrensdauer geschaffen.375 In Deutschland wurde im August 2005 ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde vorsah.376 Die grundsätzlich gute Befolgung der Urteile des EMGR gibt keinen Aufschluss darüber, ob diese auf die besondere Autorität der Urteile des EGMR als internationale Entscheidungsinstanz oder auf eine echte Bindungswirkung zurückzuführen ist. Die Staaten haben ein Interesse daran, einer Verurteilung durch den EGMR vorzubeugen. Wurde ein Staat aufgrund einer bestimmten Situation verurteilt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass in einer vergleichbaren Situation in einem anderen Staat oder in einem innerstaatlichen Parallelfall eine Verurteilung erfolgt. Die Urteile des Gerichtshofs entfalten daher unzweifelhaft eine faktische Wirkung. 4. Streitstand in der Literatur Ob und inwieweit die Urteile des EGMR eine über die faktische Wirkung hinausgehende echte Bindungswirkung entfalten, ist seit langem umstritten. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die wesentlichen Argumente in der 371 Polakiewicz, Execution of Judgments, in: Blackburn/ders. (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, S. 55 (73 f.). 372 Cohen-Jonathan, in: ders. (Hrsg.), FS Eissen, S. 39 (47 ff.). 373 Heckötter, Die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, S. 70. 374 Kazimierz, The Polish experience, Vortrag v. 28.4.2005, S. 48; Krzyzanowska˙ Mierzewska, The Reception Process in Poland, in: Keller/Sweet Stone (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 531 (556). 375 Peters, Einführung in die EMRK, S. 141. 376 Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, S. 180. Die Umsetzung verzögerte sich allerdings und führte zum Erlass des ersten Piloturteils gegen Deutschland, siehe die Ausführungen unter Teil 2 B. VI. 3.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Literatur. Sodann wird gezeigt, dass die scheinbar konträren Ansichten sich bereits deutlich angenähert haben. Ein eigener Lösungsansatz unter Berücksichtigung der besonderen Natur der EMRK wird aufgezeigt. a) Argumente zugunsten einer Bindungswirkung Für eine über die bloße faktische Wirkung hinausreichende rechtliche Bindungswirkung an die Auslegungsurteile des EGMR haben sich in den letzten Jahren vermehrt Stimmen in der Literatur ausgesprochen.377 Eine Bindungswirkung würde die einheitliche Anwendung der EMRK in den Vertragsstaaten begünstigen, mithin die Rechtssicherheit stärken.378 Eine reine inter partes-Wirkung werde der objektiven Bedeutung der EMRK nicht gerecht, die mehr als ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag sei. Der Integrationscharakter der EMRK werde in der Präambel deutlich, die auf eine engere Bindung der Staaten und Fortentwicklung der Menschenrechte gerichtet sei.379 Nach den traveaux préparatoires der Konvention war ursprünglich beabsichtigt, dem heutigen Art. 41 EMRK erga omnes-Wirkung bezüglich der nationalen Rechtsprechungsorgane einzuräumen, auch wenn letztlich die klare Sprache der Vorformulierung durch die heutige, missverständliche Formulierung ersetzt wurde.380 Für eine rechtliche Bindungswirkung der Urteile des Gerichtshofs wird ferner Art. 32 Abs. 1 EMRK381 angeführt, wonach der Gerichtshof zuständig ist für die Auslegung und Anwendung der Konvention. Damit werde dem Gerichtshof die Letztentscheidungskompetenz zur Anwendung und Auslegung der Konvention übertragen. Es sei Aufgabe des Gerichtshofs, den Inhalt der Konventionsgarantien näher zu bestimmen, und die Konvention gelte in der Gestalt, die sie durch die Auslegung und Anwendung durch den EGMR erfahren habe.382 Das Präjudizgebäude nehme daher „gewissermaßen an der völkerrechtlichen Verpflichtungskraft des Grundvertrages teil.“ 383 Die richterliche Konventionsauslegung sei untrennbar 377 Ambos, ZStW 2004, S. 583 (589 f.); Bernhardt, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), FS Doehring 1989, S. 23 (29) [soweit eine gefestigte Rechtsprechung vorliegt]; Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387 [der die Bindungswirkung allerdings über eine Rechtskraftwirkung erga omnes begründen will]; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 347 ff.; Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (41); Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (976 f.); Wildhaber, ZSR 98 (1979), II, S. 229 (355). 378 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 351. 379 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 351 f. 380 Sondervotum Richter Zupanc ˇ icˇ, EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – HuttenCzapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 381 Vormals Art. 45 EMRK a. F. 382 Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (41); Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (977). 383 Wildhaber, ZSR 98 (1979), II, S. 229 (355). Auch: Cohen-Jonathan, in: ders. (Hrsg.), FS Eissen 1995, S. 39 (53): „La jurisprudence bien établie de la Cour fait corps avec le texte du traité.“

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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mit der ausgelegten Norm verknüpft384 und die Straßburger Spruchpraxis von den nationalen Gerichten und Behörden aller Konventionsstaaten vorrangig zu beachten.385 Im Gegensatz zu der Verpflichtung zum Urteilsvollzug aus Art. 53 EMRK soll aber eine Nichtbeachtung der vom Gerichtshof entwickelten Auslegung nicht als eigenständige Konventionsverletzung vor dem EGMR gerügt werden können.386 b) Argumente zugunsten einer bloßen faktischen Wirkung Die herrschende Meinung spricht sich jedoch gegen eine erga omnes-Bindung der Urteile des EGMR aus.387 Nach dem klaren Wortlaut des Art. 46 EMRK seien die Konventionsstaaten in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, zur Befolgung des endgültigen Urteils des EGMR verpflichtet. Inhalt der Entscheidung sei stets die konkrete Konventionsverletzung und nicht eine abstrakte Auslegungsfrage.388 Art. 32 EMRK könne nicht für die Begründung einer Bindungswirkung herangezogen werden, da es sich bloß um eine Zuständigkeitsregelung handele. Die Zuständigkeit für die Auslegung indiziere aber nicht die Verbindlichkeit der Auslegung.389 Das allgemeine Völkerrecht kenne keine Bindung an Interpretationsentscheidungen vergleichbar der stare decisis-Regel des angloamerikanischen Rechts. Nach der im kontinental-europäischen Rechtskreis vorherrschenden Meinung ist die Präjudizwirkung eine faktische Wirkung. Der Richter dürfe sich über die Auslegungsentscheidung hinwegsetzen, wenn er die Abweichung entsprechend begründet.390 Auch bei nationalen Verfassungsgerichten sei eine Bindungs-

384

Schmalenbach, ZÖR 59 (2004), S. 213 (225). Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 354. 386 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 354. 387 Czerner, AVR 46 (2008), S. 345 (345); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 839; Kilian, Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR, S. 95 f.; Kieschke, Die Praxis des EGMR und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 71; Masuch, NVwZ 2000, S. 1266 (1267); Mückl, Der Staat 44 (2005), S. 403 (418); Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 (258 f.), der aber dennoch von einer Pflicht zur „vorrangigen Beachtung der Urteile des EGMR“ ausgeht; Okresek, EuGRZ 2003, S. 168 (169 u. 174), der die Einführung einer erga omnes-Wirkung für „progressiv“ hält, ihr aber „mit einer gewissen Skepsis“ gegenübersteht; Stöcker, NJW 1982, S. 1905 (1909); Villiger, Handbuch der EMRK, § 15, Rn. 262. Siehe auch die weiteren Nachweise zur herrschenden Auffassung in Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 285, Fn. 26. 388 Uerpmann, Die EMRK und die deutsche Rechtsprechung, S. 215. 389 Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 242. 390 Kilian, Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR, S. 88. 385

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wirkung der Auslegungsentscheidung nicht generell, sondern nur aufgrund ausdrücklicher Normierung anerkannt.391 Die Gegner der erga omnes-Wirkung betonen, dass nach Art. 31 WVK einzig die Vertragsstaaten gemeinsam zur authentischen Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages befugt seien.392 Die Vertragsstaaten können zwar auch einer internationalen Entscheidungsinstanz die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung übertragen, so dass von einer „quasi-authentischen“ Auslegung gesprochen werden könne.393 Dem EGMR sei aber nur die Entscheidung des konkreten Einzelfalles und keine quasi-authentische Auslegungskompetenz zugesprochen worden.394 Eine erga omnes-Wirkung hätte nach dieser Ansicht zur Folge, dass die Staaten bei jeder Verurteilung eines anderen Staates gezwungen wären, ihr nationales Recht auf die Vereinbarkeit mit den Urteilsfeststellungen zu überprüfen. Aufgrund der Eigenständigkeit ihrer Rechtsordnung sei die Vergleichbarkeit jedoch nur bedingt gegeben, so dass es zu Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Übertragbarkeit der Rechtsprechung kommen könne.395 In verfahrensrechtlicher Hinsicht müsse bei Zugrundelegung einer echten Bindungswirkung die Aufrechterhaltung einer analogen Rechtslage, die in einem Verfahren gegen einen Drittstaat für konventionswidrig befunden wurde, als eigenständiger Verstoß gegen die EMRK qualifiziert und in einem zweiten Verfahren vor dem EGMR geltend gemacht werden können. Bei konsequenter Anwendung dieses Ansatzes müsste der Verstoß selbst dann bejaht werden, wenn der EGMR zwischenzeitlich seine Rechtsprechung geändert hat.396 Eine derart weitreichende Verantwortlichkeit werde aber nicht einmal von den Vertretern der Bindungswirkung angenommen. Hierin zeige sich die Widersprüchlichkeit der Auffassung.397 Als weiterer verfahrensrechtlicher Einwand wird geltend gemacht, dass die Staaten, die nicht Partei im Verfahren waren, keine Gelegenheit hatten, ihre Sichtweise darzulegen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Berücksichtigung ihrer Argumente der EGMR möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.398 Schließlich wird darauf verwiesen, dass die

391

Vgl. § 31 BVerfGG. Villiger, ZSR 1985, Band II, S. 469 (511). 393 Uerpmann, Die EMRK und die deutsche Rechtsprechung, S. 215 f. 394 Uerpmann, Die EMRK und die deutsche Rechtsprechung, S. 216; Klein, in: Mahrenholz u. a. (Hrsg.), Entwicklung der Menschenrechte innerhalb des Europarates, S. 43 (60). 395 Czerner, AVR 46 (2008), S. 345 (358). 396 Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 242 f. 397 Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 242 f. 392

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formelle Bindung aller Konventionsstaaten an die Rechtsprechung des EGMR zu einer Überforderung des Ministerkomitees führen könne, welches nach Art. 46 Abs. 2 EMRK den Urteilsvollzug überwacht.399 Diese ohnehin schon komplexe Aufgabe würde erschwert, wenn die Befolgung einer Entscheidung nicht nur innerhalb des beklagten Staates, sondern in sämtlichen Konventionsstaaten kontrolliert werden müsste. c) Annäherung der Ansichten So widersprüchlich die Ansichten auf den ersten Blick erscheinen, lässt sich doch eine Annäherung erkennen. Eine rechtliche Bindungswirkung im Sinne einer stare decisis-Lehre im englischen Recht, die in den Gerichtsentscheidungen echte Rechtsquellen sieht, wird auch von den Befürwortern einer erga omnesWirkung für die Auslegungsurteile des EGMR nicht vertreten. Das wäre mit dem Wortlaut des Art. 46 EMRK nicht zu vereinen. Umgekehrt betonen die Vertreter einer faktischen Wirkung die besondere Autorität der Urteile des EGMR. Die faktische Wirkung sei so stark, dass sie einer rechtlichen Wirkung zumindest sehr nahe kommt. Die Begrifflichkeiten „Orientierungswirkung“,400 „normative Leitfunktion“,401 oder „quasi erga omnes-Effekt“ 402 verdeutlichen dies. Auch von einer indirekten Wirkung durch Überzeugungskraft403 oder mittelbaren rechtlichen Wirkung404 und einer Pflicht zur vorrangigen Beachtung der Urteile des EGMR405 wird gesprochen. Die Begriffsvielfalt und die darin erkennbare Annäherung und Vermischung der Ansichten tragen zu einer Verunsicherung über die Reichweite der Bindungswirkung bei. Für die nationalen Stellen ist von entscheidender Bedeutung, inwieweit ihnen ein eigenmächtiges Abweichen von der Rechtsprechung des EGMR gestattet ist. Wird im Ansatz eine faktische Wirkung zugrunde gelegt, so ist ein 398 CDDH-GDR(2003)003, Steering Committee for Human Rights, Reflection Group on the Reinforcement of the Human Rights Protection Mechanism, Contribution of Subgroup of rapporteurs C „Improving and accelerating execution of judgments of the Court“, 7th meeting, Strasbourg 5–7 February 2003, Ausführungen unter F. 399 Czerner, AVR 46 (2008), S. 345 (355 f.). 400 Grabenwarter, EMRK, § 16, Rn. 9; Ress, EuGRZ 1996, S. 350 (350); Mückl, Der Staat 44 (2005), S. 403 (418). 401 BVerwGE 110, 210. 402 Ress, ZaöRV 64 (2004), S. 621 (630). 403 Kieschke, Die Praxis des EGMR und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 71; Villiger, ZSR 1985, Band II, S. 469 (514). 404 Nach Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsschutz, S. 179, Rn. 612 hat die Orientierungswirkung eine „mittelbare rechtliche Grundlage“, da eine Verpflichtung der anderen Konventionsstaaten zur Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR aus Art. 1 EMRK folge. 405 Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, Schranken und Wirkungen, S. 227 (258).

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Abweichen grundsätzlich möglich. Wird im Ausgangspunkt dagegen eine rechtliche Wirkung der Auslegungsentscheidung angenommen, so ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt, und es besteht grundsätzlich eine Pflicht zur Befolgung der Urteile des EGMR, die keinen Raum für Abweichungen belässt. Die Entscheidung, ob im Grundsatz von einer rechtlichen oder nur faktischen Wirkung auszugehen ist, kann daher nicht dahinstehen. 5. Lösungsansatz Während die Vertreter einer faktischen Wirkung der Urteile des Gerichtshofs den völkerrechtlichen Charakter der EMRK betonen, legt die Gegenansicht den Akzent darauf, dass die EMRK mehr als ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag sei, weil sie eine eigenständige objektive Rechtsordnung, einen „ordre public“, geschaffen habe. Die Frage nach der Reichweite der Bindungswirkung der Urteile des EGMR ist daher abhängig von dem Rechtscharakter der EMRK. Im Folgenden soll untersucht werden, was den ordre public-Charakter der EMRK kennzeichnet und welche Folgen für die Urteilswirkungen sich hieraus ergeben. a) Der ordre public-Charakter der EMRK Ein völkerrechtlicher Vertrag wird von dem Gedanken der Gegenseitigkeit getragen.406 Jeder Vertragspartner schuldet den übrigen Vertragspartnern die Realisierung der übernommenen vertraglichen Verpflichtungen und kann seinerseits von allen übrigen Vertragspartnern Vertragserfüllung verlangen.407 Der Gedanke der Reziprozität findet sich auch in Art. 19 EMRK, wonach der Gerichtshof errichtet wurde, um „die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen“, die die Konventionsstaaten in der EMRK übernommen haben. Prozessuale Ausgestaltung des materiellen Vertragserfüllungsanspruchs ist die Möglichkeit eines Staates gegen den Vertragspartner, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, eine Staatenbeschwerde einzulegen.408 Die EMRK hat aber mehr als reziproke Rechts- und Pflichtenverhältnisse geschaffen, wie schon die EKMR in der Entscheidung Pfunders vom 11. Januar 1961409 betont hat. In diesem Fall hatte Italien die Zurückweisung einer Beschwerde Österreichs verlangt. Italien berief sich auf das Gegenseitigkeitsprinzip und machte geltend, dass sich Österreich nicht auf Tatsachen stützen könne, die einer Zeit angehören, in welcher beide Länder noch nicht gegenseitig gebunden 406

Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 64. Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 48. 408 Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 49. 409 EMRK, Entscheidung v. 11.1.1961 – Österreich ./. Italien, Nr. 788/60, abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 264. 407

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waren. Die Kommission hat die Anwendung des Gegenseitigkeitsprinzips abgelehnt: „Considérant qu’il en résulte qu’en concluant la Convention, les Etats Contractants n’ont pas voulu se concéder des droits et obligations réciproques utiles à la poursuite de leurs intérêts nationaux respectifs, mais réaliser les objectifs et idéaux du Conseil de l’Europe, tels que les énonce le Statut, et instaurer un ordre public communautaire des libres démocraties d’Europe afin de sauvegarder leur patrimoine commun de traditions politiques, d’idéaux, de liberté et de prééminence du droit“.410

Auch der EGMR betonte den objektiven Charakter der EMRK in der Rechtssache Irland ./. Vereinigtes Königreich: „Anders als internationale Verträge der klassischen Art umfasst die Konvention mehr als rein gegenseitige Verpflichtungen zwischen Vertragsstaaten. Sie schafft, über ein Geflecht von wechsel- und zweiseitigen Garantien hinaus, objektive Verpflichtungen, die, nach den Worten der Präambel, eine ,kollektive Garantie‘ genießen.“ 411

Kennzeichnende Elemente des ordre public der EMRK sind demnach folgende Aspekte: Es müssen erstens objektive Verpflichtungen geschaffen werden, zweitens muss die Verfügungsfreiheit der Normadressaten teilweise beschränkt sein, d.h. es muss ein Kernbestand zwingender Regeln bestehen, über die die Konventionsstaaten sich nicht hinwegsetzen können,412 und drittens muss das alles zur Verwirklichung eines übergeordneten Zieles erfolgen.413 aa) Verwirklichung eines übergeordneten Ziels Das übergeordnete Ziel der EMRK findet sich in ihrer Präambel, in der die Hohen Vertragsschließenden Teile ihren Glauben an die Grundfreiheiten bekräftigen, „welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden.“ Ferner soll eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedern des Europarates geschaffen und die Menschenrechte gewahrt und fortentwickelt werden. Die Integrationskraft der EMRK ist damit in der Präambel angelegt.

410 EKMR, Entscheidung v. 11.1.1961, a. a. O., unter „En droit I., decision de la Commission, Erwägung Nr. 6“ – Hervorhebung durch die Verfasserin. 411 EGMR (Plenum), Urteil v. 18.1.1978 – Irland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5310/71, EuGRZ 1979, S. 149 (159), Ziff. 239. Auch im Fall Libido wies der EGMR auf die Pflicht hin, den besonderen Charakter der EMRK „as a treaty for the collective enforcement of human rights and fundamental freedoms“ zu achten, EGMR, Urteil v. 23.3.1995 – Libido ./. Türkei (preliminary objections), Nr. 15318/89, Ziff. 70. 412 Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 56 f. 413 Ganshof van der Meersch, in: Universität Wien (Hrsg.), Menschenrechte im Staatsrecht und im Völkerrecht, S. 95.

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bb) Objektive Verpflichtungen Der objektive Charakter der Verpflichtungen der EMRK wird an verschiedenen Stellen deutlich. Er zeigt sich bei der Staatenbeschwerde, denn der Staat darf die Beschwerde nicht nur zugunsten eigener Staatsangehöriger, sondern auch zugunsten Angehöriger eines fremden Staates erheben.414 In dieser Konstellation nimmt die Staatenbeschwerde die Funktion einer actio popularis ein und der Beschwerdeführer repräsentiert das Interesse der Vertragsgemeinschaft an einem effektiven Menschenrechtsschutz. So betonte die EKMR in ihrer Pfunders-Entscheidung: „qu’un Etat Contractant, lorsque’il saisit la Commission en vertu de l’article 24, ne doit donc pas être considéré comme agissant pour faire respecter ses droits propres, mais plutôt comme soumettant à la Commission une question qui touche à l’ordre public de l’Europe“.415

Ferner lässt sich in der Zuerkennung von Individualrechten als solche die objektive Natur der Staatenverpflichtungen erkennen. Gegenstand der EMRK sind nicht nur die gegenseitigen Verpflichtungen der Staaten untereinander, sondern auch die in der EMRK verankerten Rechte der Individuen, wenn sie der Jurisdiktion der Konventionsstaaten unterworfen sind, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Die Kommission schloss daraus: „qu’il en resulte que les obligations souscrites par les Etats Contractants dans la Convention ont essentiellement un caractère objectif, du fait qu’elles visent à protéger les droits fondamentaux des particuliers contre les empiètements des Etats Contractant, plutôt qu’à créer des droits subjectifs et réciproques entre ces derniers.“ 416

Darüber hinaus hat auch innerhalb der Individualbeschwerde eine starke Verobjektivierung stattgefunden. Nach Art. 34 EMRK muss der Beschwerdeführer behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung, das heißt unmittelbar betroffen und beschwert zu sein.417 Der Begriff des Opfers wurde kontinuierlich ausgeweitet. Der EGMR anerkennt eine mittelbare Opfereigenschaft. Insbesondere im Zusammenhang mit einer Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) und des Verbots der Folter und der erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) können nahe Angehörigen des Verstorbenen im eigenen Namen die Beschwerde einlegen 414 Beispiel: Entscheidung der EKMR v. 24.1.1968 – Dänemark, Norwegen, Schweden, Niederlande ./. Griechenland, Nr. 3321/67; Nr. 3322/67; Nr. 3323/67; Nr. 3344/ 67, abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 264. 415 EMRK, Entscheidung v. 11.1.1961 – Österreich ./. Italien (Teil 3 Fn. 409), unter „En droit I., decision de la Commission, Erwägung Nr. 9 am Ende“. Dabei ist unschädlich, dass der Staat daneben eigene Interessen verfolgt. A. A.: Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 66 ff. 416 EMRK, Entscheidung v. 11.1.1961 – Österreich ./. Italien (Teil 3 Fn. 409), unter „En droit I., decision de la Commission, Erwägung Nr. 8 am Ende“. Kritisch: Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 61. 417 Grabenwarter, EMRK, § 13, Rn. 13.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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und die Verletzung der Rechte des Verstorbenen geltend machen.418 Darüber hinaus lässt der EGMR eine potentielle Opfereigenschaft genügen, wenn der Beschwerdeführer Gefahr läuft, durch die Wirkungen eines Gesetzes unmittelbar betroffen zu werden und wenn dem Beschwerdeführer – wie im Fall des strafbewehrten Verbots – das Warten auf den individuellen Anwendungsakt nicht zumutbar ist.419 Bei Tod des Beschwerdeführers kann die Beschwerde von den Erben oder nahen Verwandten fortgesetzt werden, wenn diese ein berechtigtes Interesse daran haben und es sich nicht um ein höchstpersönliches Recht des Verstorbenen handelt.420 In dem Fall Karner ./. Österreich hat der EGMR ausnahmsweise das Verfahren nach dem Tod des Beschwerdeführers fortgesetzt, obwohl kein Angehöriger für die Fortführung des Verfahrens gefunden wurde. Der EGMR begründete dies mit der besonderen Bedeutung des Verfahrens für die Allgemeinheit, da es um die Rechte Homosexueller ging.421 In diesem Fall wird die objektive Dimension des Menschenrechtsschutzes besonders deutlich.422 Das 14. Protokoll zur EMRK hat die objektive Dimension des Schutzsystems weiter gestärkt. Der Vorschlag des Menschenrechtskommissars, die Konvention zu ändern und ihm die Befugnis einzuräumen, eine Beschwerde gegen einen oder mehrere Staaten beim Gerichtshof zu erheben, wenn ein Fall eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, mithin ein echtes Recht der actio popularis einzuführen, wurde nicht realisiert. Der Lenkungsausschuss stimmte aber zu, dass der objektiven Dimension im aktuellen Konventionssystem noch nicht ausreichend Rechnung getragen werde.423 Zur Stärkung seiner Rechte 418 Vgl. Unzulässigkeitsentscheidung EGMR v. 8.3.2005 – Fairfield u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24790/04, in der der EGMR klarstellt, dass diese Grundsätze nur für die Verletzung besonders schwerer Menschenrechte wie Art. 2 EMRK gelten und nicht verallgemeinerungsfähig sind. 419 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. III. 2. 420 Vgl. EGMR, Entscheidung v. 26.1.1999 – Hibbert ./. Niederlande, Nr. 38087/97; EGMR, Urteil v. 22.2.1994 – Raimondo ./. Italien, Nr. 12954/87, Ziff. 2. 421 EGMR, Urteil v. 24.7.2003 – Karner ./. Österreich, Nr. 40016/98, Ziff. 20–28. 422 Die Fortführung des Verfahrens beruhte aber auf den besonderen Umständen des Einzelfalls und ist nicht die Regel. Vielmehr streicht der EGMR eine Beschwerde gewöhnlich aus dem Register, wenn der Beschwerdeführer verstorben ist und kein naher Angehöriger die Fortführung des Verfahrens begehrt, siehe EGMR, Urteil v. 25.3.1994 – Scherer ./. Österreich, Nr. 17116/90; EGMR, Entscheidung v. 31.3.2005 – Direkci ./. Türkei, Nr. 47826/99. 423 Zwischenbericht des Lenkungsausschusses über die langfristige Sicherung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte („Interim Activity Report – Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights – Implementation of the Declaration adopted by the Committee of Ministers at its 112th Session (14–15 May 2003)“), Anhang I zum Bericht des Lenkungsausschusses anlässlich seines 56. Treffens am 18.–21.11.2003, CDDH(2003)026 Addendum I final, Rn. 22: „. . . the CDDH agreed that, in the current Convention system, defence of the general interest is not given the importance it deserves and that the Commissioner’s proposal deserved its

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

erhielt der Menschenrechtskommissar daher gemäß Art. 36 Abs. 3 EMRK das Recht nach eigenem Ermessen in den Verfahren vor dem EGMR schriftliche Stellungnahmen abzugeben und den mündlichen Verhandlungen beizuwohnen. Eine solche Beteiligung war zuvor nur nach einer entsprechenden Aufforderung durch den Präsidenten des Gerichtshofs möglich gewesen. cc) Zwingender Kernbestand Die EMRK verfügt über einen Kernbestand zwingender Regelungen.424 Art. 15 EMRK erlaubt die Außerkraftsetzung von Konventionsbestimmungen im Fall eines öffentlichen Notstandes, nennt aber in seinem Abs. 2 notstandsfeste Rechte, die in jedem Fall gewährleistet werden müssen. Art. 17 EMRK stellt ein Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte auf. Die Art. 8–11 EMRK enthalten in ihrem Abs. 2 spezielle Schrankenregelungen, wonach ein Eingriff in die geschützten Rechte nur möglich ist, wenn eine gesetzliche Grundlage und ein Eingriffsgrund vorliegen und der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, d.h. verhältnismäßig ist. Ein Vorbehalt allgemeiner Art ist nach Art. 57 Abs. 2 EMRK unzulässig. Ausdruck des zwingenden Charakters der EMRK ist auch der Umstand, dass die Staaten – anders als bei einem gegenseitigen völkerrechtlichen Vertrag – nicht allein über die Einleitung des Verfahrens vor dem Gerichtshof entscheiden. Denn bei einer Individualbeschwerde reicht die betroffene Person die Beschwerde ein, die zu einer Verurteilung durch den EGMR führen kann. Auch die Urteilsüberwachung liegt nicht bei den einzelnen Staaten, sondern bei dem Ministerkomitee. dd) Fazit Die Merkmale eines ordre public-Charakters liegen vor. Die EMRK hat eine eigenständige objektive Wertordnung geschaffen, die sich deutlich von einem rein völkerrechtlichen Vertrag unterscheidet. Es wäre jedoch zu weitgehend, die Konvention als supranational in einem engeren Sinne zu qualifizieren. Im Zusammenhang mit der Europäischen Union bezeichnet Supranationalität im engeren Sinne, dass das Unionsrecht für die Mitgliedstaaten und ihre Bewohner unmittelbar verbindlich ist und Vorrang vor dem nationalen Recht entfaltet. Es durchstößt mithin den „nationalen Souveränitätspanzer“. 425 Durch den Reformvertrag von Lissabon und die Auflösung der Pfeilerstruktur hat das Unionsrecht – mit Ausnahme des intergouvernementalen Rechts der GASP – nunmehr umfasfull attention,“ verfügbar unter (Meeting Reports), Stand: 30.9.2015. 424 Walter, Die Europäische Menschenrechtsordnung, S. 105 f. 425 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 28.

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senden supranationalen Charakter. Der EuGH begründet diese weitreichenden Wirkungen damit, dass sich das supranationale Unionsrecht von seinen völkerrechtlichen Wurzeln gelöst habe und eine eigenständige autonome Rechtsordnung geschaffen habe.426 Im Gegensatz zum Recht der Europäischen Union schreibt das Konventionsrecht den Mitgliedstaaten nicht den Vorrang vor entgegenstehendem innerstaatlichem Recht vor.427 Dennoch stellt die EMRK einen umfassenden Pflichtenkreis auf und die Urteile des EGMR kommen trotz ihrer nur feststellenden Natur im Ergebnis einer unmittelbaren Wirkung sehr nahe. Die Urteile des EGMR rücken damit in die Nähe einer supranationalen Entscheidungsinstanz; das Konventionssystem kann als supranational in einem weiten Sinne beschrieben werden.428 Eine Loslösung von den völkerrechtlichen Wurzeln hat aber nicht stattgefunden. b) Vergleich zum Recht der Europäischen Union Nach Bestimmung der Rechtsnatur der EMRK bietet sich für die Frage der Urteilswirkungen ein Vergleich mit der Europäischen Union an, da die Europäische Union und die EMRK multilaterale Vertragssysteme mit Integrationscharakter sind. Der gegenüber der EMRK erhöhte Integrationsgrad der Europäischen Union darf dabei aber nicht außer Acht gelassen werden. Die Problematik der Verbindlichkeit der Auslegungsentscheide für die nationalen Gerichte ist auch im Recht der Europäischen Union nicht abschließend geklärt und wird vor allem im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV (ex-Art. 234 EG-Vertrag) diskutiert. In diesem prozessualem Zwischenverfahren kann – bzw. im Fall eines letztinstanzlichen Gerichts muss – der nationale Richter einen bei ihm anhängigen Rechtsstreit aussetzen, um dem EuGH eine Frage über die Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen, wenn die Frage entscheidungserheblich ist. Das Urteil des EuGH bindet das vorlegende Gericht sowie alle mit dem Ausgangsverfahren befassten nationalen Gerichte.429 Über das Ausgangsverfahren hinaus ist eine rechtliche Bindungswirkung erga omes anerkannt, wenn der EuGH die Ungültigkeit einer Unionshandlung feststellt. Hierfür sprechen die Notwendigkeit der einheitlichen Anwendung des 426

Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 158 f. Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. I., II. 428 So De Salvia, Rev.trim.dr.h. 17 (2006), S. 483 (487), Fn. 13, der den EGMR umschreibt als „un tribunal international au caractère de plus en plus affirmé de tribunal supranational“. Dabei legt De Salvia ein weites Verständnis der Supranationalität zugrunde: „La ,supranationalité‘ pouvant être définie comme le cadre institutionnel d’une ,communauté de droit‘, comme l’est évidemment celle des Etats membres du Conseil de l’Europe.“ 429 Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EGV, Rn. 64, 65. 427

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Unionsrechts und der Grundsatz der Rechtssicherheit.430 Eine erneute Vorlage ist aber möglich, wenn Unklarheiten über die Gründe, den Umfang und die Folgen der Ungültigkeit bestehen.431 Umstritten ist hingegen die Frage, inwieweit Auslegungsentscheidungen des EuGH über den Ausgangsrechtsstreit hinaus rechtsverbindliche Wirkung entfalten können. Da das Konventionssystem keine Ungültigkeitsentscheidungen kennt, sind die Auslegungsentscheidungen des EuGH für den Vergleich von besonderem Interesse, sodass auf den Streitstand im Recht der Europäischen Union näher einzugehen ist. aa) Bindungswirkung der Auslegungsurteile für letztinstanzliche Gerichte Für eine über das Ausgangsverfahren hinausgehende Bindungswirkung der Auslegungsentscheidungen des EuGH spricht das Bedürfnis nach einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Die Beteiligungsrechte für die Kommission und die Mitgliedstaaten seien nur sinnvoll, wenn die Entscheidung auch für andere Gerichte als das vorlegende Gericht Rechtswirkungen entfalten könne.432 Jedenfalls im Hinblick auf letztinstanzliche Gerichte ist eine echte Bindungswirkung anerkannt. In seinem CILFIT-Urteil hat der EuGH festgestellt, dass letztinstanzliche Gerichte nicht mehr zur Vorlage verpflichtet sind, wenn die gleiche Streitfrage bereits vom EuGH im Rahmen eines anderen Verfahrens entschieden worden ist.433 Hieraus folgt, dass zumindest letztinstanzliche Gerichte die frühere Rechtsprechung des EuGH in ihrer Entscheidungsfindung beachten müssen. Will das nationale Gericht aufgrund geänderter Umstände von der Entscheidung des EuGH abweichen, muss es die Frage erneut dem EuGH vorlegen.434 Hierdurch soll verhindert werden, dass letztinstanzliche Gerichte eine Auslegung für die innerstaatliche Rechtsordnung versteinern, die im Widerspruch zu der des Gerichtshofs steht.435 430 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 158; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 86; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., Art. 234 EGV, Rn. 64; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 101; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 572. Der EuGH formulierte in dem Urteil International Chemical Corporation (EuGH, Urteil v. 13.5.1981, Rs. 66/80, Slg. 1981, S. 1191 (1215), Rn. 13) etwas neutraler: „Ein Urteil des Gerichtshofes, durch das nach Artikel 177 EWG-Vertrag die Ungültigkeit der Handlung eines Organs (. . .) festgestellt wird, stellt daher, obwohl sein unmittelbarer Adressat nur das Gericht ist, das den Gerichtshof angerufen hat, für jedes andere Gericht einen ausreichenden Grund dafür dar, diese Handlung bei den von ihm zu erlassenden Entscheidungen als ungültig anzusehen.“ Ausführlich zu den Ungültigkeitsurteilen: Germelmann, EuR 2009, S. 254 ff. 431 EuGH, Urteil v. 13.5.1981 – International Chemical Corporation, a. a. O., Rn. 14. 432 Vgl. Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, S. 98 f. 433 EuGH, Urteil v. 6.10.1982 – CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, S. 3415 (3430 f.), Rn. 21. 434 Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EGV, Rn. 66; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren, S. 154. 435 Thiele, Europäisches Prozessrecht, S. 168.

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bb) Zur Wirkung der Auslegungsurteile auf die unterinstanzlichen Gerichte Schwieriger ist die Situation bei den unterinstanzlichen Gerichten. Nach einer Auffassung sind unterinstanzliche Gerichte nicht an die Auslegungsvorgaben des EuGH aus vorangegangenen Verfahren gebunden. Sie sollen aber aufgrund ihrer besonderen Autorität eine faktische Wirkung entfalten.436 Hierfür spricht, dass der nationale Richter dem Unionsgericht neue Aspekte tatsächlicher oder rechtlicher Art vortragen können muss und der Gerichtshof kein allgemeines Auslegungsmonopol besitzt.437 Eine andere Ansicht spricht von einem eingeschränkten erga omnes-Effekt.438 Aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtseinheit sollen nationale Gerichte nicht eigenmächtig von einer früheren Entscheidung des EuGH abweichen dürfen. Die mitgliedstaatlichen Gerichte seien verpflichtet, das Unionsrecht in der Auslegung des EuGH anzuwenden oder aber bei Zweifeln erneut vorzulegen.439 Der EuGH selbst scheint von einer erga omnes-Wirkung seiner Auslegung auszugehen. Diese begründet er aber nicht mit der Bindungswirkung seines Urteils, sondern mit der erga omnes-Verbindlichkeit der ausgelegten Konventionsbestimmung. In der Rechtssache Salumi aus dem Jahr 1980 stellt der EuGH fest: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts (. . .) wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Darauf folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen (. . .).“ 440

Demzufolge ist nicht das Auslegungsurteil selbst Rechtsquelle, sondern die Konventionsbestimmung in der durch den EuGH ausgelegten Form.441 436

Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 86. Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 86. 438 Zu diesem Begriff: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 250; Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 10, Rn. 89. 439 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren, S. 155; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Aufl., S. 250; Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes der EU, § 10 Rn. 89. Kritik an dieser Auffassung übt Schima: Diese Auffassung sei dogmatisch nicht überzeugend begründbar. Es bleibe bei einem bloßen Vorlagerecht der unterinstanzlichen Gerichte. Die Gegenauffassung hätte die merkwürdige Folge, dass den Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs eine stärkere verbindliche Wirkung zukäme als den ausgelegten Vorschriften selbst, Schima, Vorabentscheidungsverfahren, 2. Aufl., S. 98. 440 EuGH, Urteil v. 27.3.1980 – Amministrazione delle Finanze ./. Srl Meridionale Industria Salumi, Fratelli Vasanelli und Fratelli Ultrocchi, verb. Rs. 66, 127 und 128/79, Slg. 1980, S. 1237 (1260), Rn. 9. 441 Schmalenbach, ZÖR 59 (2004), S. 213 (220). 437

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

cc) Fazit Nur die Gültigkeitsurteile und die Auslegungsurteile für letztinstanzliche Gerichte entfalten im Unionsrecht eine formale erga omnes-Bindung, vergleichbar der stare decisis-Doktrin im Vereinigten Königreich. Die letztinstanzlichen Gerichte dürfen nicht eigenmächtig von einer Rechtsprechung des EuGH abweichen, sondern müssen bei Zweifeln über die Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung die Sache dem EuGH vorlegen. Die Ansichten hinsichtlich der Bindungswirkung der Auslegungsentscheide des EuGH für die unterinstanzlichen Gerichte gehen weit auseinander. Einigkeit besteht nur dahingehend, dass unterinstanzliche Gerichte nicht willkürlich von der Rechtsprechung des EuGH abweichen dürfen. Sie müssen die Rechtsprechung des EuGH zur Kenntnis nehmen und sich mit ihr auseinandersetzen und – soweit eine Abweichung für zulässig gehalten wird – die Gründe für eine solche Abweichung darlegen. Werden diese Voraussetzungen missachtet, stellt die abweichende Auslegungsentscheidung einen Verstoß gegen Art. 267 AEUV, mithin eine Vertragsverletzung dar.442 c) Übertragbarkeit auf die EMRK Im Konventionsrecht beschränkt der klare Wortlaut des Art. 46 EMRK die Pflicht zur Befolgung der Urteile des EGMR ausdrücklich auf die Parteien und steht damit der Annahme einer formalen erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR entgegen. Die Situation gleicht damit eher der der unterinstanzlichen Gerichte im Recht der Europäischen Union. aa) Problematik fehlender Vorlagemöglichkeit im Konventionssystem Bei den unterinstanzlichen Gerichten wird im Recht der Europäischen Union teilweise nur von einer faktischen Präjudizwirkung ausgegangen. Das unterinstanzliche Gericht kann von einer Entscheidung des EuGH abweichen; es hat aber die Möglichkeit der Vorlage bei Zweifeln hinsichtlich der Anwendbarkeit der Rechtsprechung. Die Möglichkeit des eigenmächtigen Abweichens unterinstanzlicher Gerichte wird ferner durch die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte relativiert, die als Korrektiv wirkt. Der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts wird weit verstanden. Nicht nur solche Gerichte sind zur Vorlage verpflichtet, die an der Spitze der Gerichtshierarchie stehen und deren Entscheidungen generell unanfechtbar sind. Auch unterinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen im konkreten Fall nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können, sind vorlagepflichtig.443 442 443

Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9, Rn. 102. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Aufl., S. 247, Rn. 565.

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Dieses Korrektiv der Vorlageentscheidung fehlt auf der Konventionsebene, da hier kein Rechtsinstitut existiert, das mit dem Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Union vergleichbar ist. Eine rein faktische Wirkung der Urteile ohne das Korrektiv einer Vorlagemöglichkeit bzw. Vorlagepflicht für letztinstanzliche Gerichte würde das Gewicht der Auslegungsentscheidung aber in einem Maße verringern, die dem besonderen Charakter der EMRK und der Autorität des Gerichtshofs als zentrales europäisches Entscheidungsorgan in Grundrechtsfragen nicht mehr gerecht würde. Auch der Ansatz einer eingeschränkten erga omnes-Wirkung, die bei dem Willen zur Abweichung zu einer Vorlagepflicht des nationalen Gerichts führt, muss für das Konventionsrecht mangels Vorlagemöglichkeit ausscheiden. Die Ansicht des EuGH, der von einer Verbindlichkeit der Auslegungsurteile auch für die unterinstanzlichen Gerichte ausgeht und diese mit der Teilnahme an der erga omnes-Verbindlichkeit der ausgelegten Norm begründet, lässt sich hingegen auf das Konventionssystem übertragen. Sie korrespondiert mit der Literaturauffassung, die für eine rechtliche Bindungswirkung der Auslegung des EGMR plädiert.444 Dieser Ansicht folgt auch die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (sog. Venedig Kommission).445 Die Kommission, die sich aus unabhängigen Sachverständigen zusammensetzt, hat sich während der Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK mit der Frage der erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs befasst und argumentierte: „Given that the States have committed themselves to securing the enjoyment of the rights guaranteed by the Convention to anyone within their jurisdiction (Article 1 of the Convention) and that the interpretation of the provisions of the Convention ultimately rests with the Court (see Article 19 in conjunction with Article 44 of the Convention), the interpretations given by the Court in its judgments form part and parcel of the Articles of the Convention concerned and, consequently, share the legally binding fore of the Convention erga omnes. The Court’s judgments have thus, according to the famous French formula, „autorité de la chose interprétée“.446

Die Bindungswirkung über die Teilnahme der Auslegung an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung ist nach allem der überzeugendste An444

Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. I. 4. a). Es handelt sich um Sachverständige, die durch ihr Wirken in den demokratischen Institutionen oder durch ihren Beitrag zum Fortschritt der Rechts- und Politikwissenschaft internationales Ansehen erworben haben. Die Venedig-Kommission war ursprünglich dazu bestimmt, in einer Zeit revolutionärer Umwälzungen, bei denen dringend Verfassungsreformen gefordert waren, augenblickliche fachliche Hilfe zu leisten, und hat sich dann zu einem international angesehenen und unabhängigen Beratungsorgan im verfassungsrechtlichen Bereich entwickelt. Nähere Informationen zur VenedigKommission sind verfügbar unter . 446 Stellungnahme der Venedig-Kommission Nr. 209/2002 v. 18.12.2002 über die Umsetzung der EGMR-Urteile (Teil 3 Fn. 287), Rn. 32. 445

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

satz. Zu klären bleibt jedoch, wann die Voraussetzungen für die Partizipation an der Verpflichtungskraft konkret vorliegen. bb) Voraussetzungen der Bindungswirkung Über den Eintritt der Bindungswirkung besteht keine Einigkeit. Polakiewicz geht offenbar generell von der Verpflichtungswirkung der Urteile des EGMR mit der Folge der vorrangigen Beachtung durch die nationalen Gerichte aus. Die Nichtbeachtung der vom Gerichtshof entwickelten Auslegung durch nationale Stellen soll aber keine eigenständige Konventionsverletzung darstellen.447 Nach Ansicht von Schmahlenbach ist von einer in der EMRK angelegten Vermutung auszugehen, dass der Gerichtshof als allein zuständiges Rechtsprechungsorgan die materielle Bedeutung der Konventionsrechte richtig erfasst, mit der Folge, dass die Konventionsrechte gegenüber allen Vertragsstaaten stets in dem Inhalt gelten, den der Gerichtshof ihnen in seinen Urteilen zugeschrieben hat.448 Im Ergebnis kommt die Ansicht Schmahlenbachs der Ansicht einer generellen Verpflichtungswirkung sehr nahe, auch wenn sie die Möglichkeit einer Widerlegung der Vermutung aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls eröffnet. Eine weitere Ansicht verlangt das Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR, um eine Teilnahme an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung auszulösen.449 Unter einer gefestigten Rechtsprechung wird eine konstante Rechtsprechung der Kammer des Gerichtshofs verstanden. In Ausnahmefällen sei es aber denkbar, dass bereits das Vorliegen eines einzigen Urteils in einer Grundsatzfrage genügt, insbesondere wenn es sich um ein Urteil der Großen Kammer handelt.450 Trotz der Unsicherheiten, die mit dem Begriff der gefestigten Rechtsprechung verbunden sind, überzeugt der letztgenannte Ansatz. Die Ansicht, die jedes Urteil mit der Bindungswirkung bzw. mit der Vermutung der Richtigkeit der Auslegung des EGMR verbinden will, kommt einer formalen Bindungswirkung sehr nahe und ist nach dem derzeitigen Stand des Konventionsschutzes im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 46 EMRK zu weitreichend. Vielmehr kann von der Teilnahme der Auslegung an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung erst ausgegangen werden, wenn sie durch eine ständige Praxis des Gerichtshofs ausreichend gefestigt ist.

447 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 354. 448 Schmalenbach, ZÖR 59 (2004), S. 213 (226). 449 Bernhardt, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), FS Doehring 1989, S. 23 (29) 450 Siehe zum Begriff der gefestigten Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Neufassung von Art. 28 EMRK durch das 14. Protokoll zur EMRK: Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 68.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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6. Zwischenergebnis Die Urteile des EGMR haben keine echte erga omnes-Wirkung vergleichbar der stare decisis-Doktrin im Vereinigten Königreich. Sie sind keine Rechtsquellen, sondern nur Rechtserkenntnisquellen. Die Auslegung kann aber durch die Teilnahme an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung echte Rechtswirkung für nicht am Verfahren beteiligte Personen und Staaten entfalten. Voraussetzung ist das Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs. Fehlt eine gefestigte Rechtsprechung zu einer bestimmten Auslegungsfrage, bleibt ein Abweichen durch das nationale Gericht möglich, soweit eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR erfolgt ist und die Abweichung nachvollziehbar begründet wird.

II. Derogierende Staatenpraxis zugunsten eines erga omnes-Effekts der Urteile des EGMR Nach dem vorläufigen Auslegungsergebnis haben die Urteile des EGMR keine echte erga omnes-Wirkung, was insbesondere auf die Wortlautschranke in Art. 46 EMRK zurückzuführen ist. Ein anderes Ergebnis ist denkbar, wenn der Wortlaut des Art. 46 EMRK über eine vertragsändernde Staatenpraxis bereits dahingehend modifiziert wurde, dass die Befolgungspflicht nicht mehr auf die Parteien des Verfahrens beschränkt ist, sondern sich auf dritte Personen erstreckt. Obwohl die spätere Praxis nur als Auslegungsfaktor in Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK genannt wird, ist anerkannt, dass die Staatenpraxis auch als Vertragsänderungsgrund wirken kann. Die Vertragsänderung durch spätere Praxis kann sich entweder in Form einer Vertragserweiterung oder in Form einer derogatorischen Vertragsänderung vollziehen. Im ersten Fall werden die vertraglichen Garantien durch die spätere Praxis ergänzt. Im zweiten Fall wird eine Rechtslage gebildet, die zu dem Wortlaut und dem ursprünglichen Verständnis des Vertrages im Widerspruch steht. Sowohl die vertragserweiternde als auch die derogatorische Staatenpraxis müssen jedoch die Einheit des Vertragswerks insgesamt wahren.451 Da der Wortlaut des Art. 46 EMRK die Befolgungspflicht eindeutig auf die Parteien des Verfahrens beschränkt, ließe sich eine echte erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR mit Verbindlichkeit gegenüber jedermann nur über eine derogierende Staatenpraxis begründen. Die Zulässigkeit und Voraussetzungen einer derogierenden Staatenpraxis im Konventionsrecht werden in einem ersten Schritt anhand der Rechtsprechung des EGMR zur Abschaffung der Todesstrafe herausgearbeitet. In einem zweiten Schritt wird die Staatenpraxis einiger ausgewählter Konventionsstaaten hinsichtlich der Bedeutung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung untersucht. 451

Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 211.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

1. Zulässigkeit und Voraussetzungen einer derogierenden Vertragsänderung durch Staatenpraxis Der EGMR hat sich mit der Frage der Abbedingung einer Konventionsbestimmung durch spätere Praxis im Zusammenhang mit dem Problem der Todesstrafe befasst. Der im Jahr 1950 eingeführte Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK gestattet die Vollstreckung eines Todesurteils, wenn es durch ein Gericht wegen der Begehung eines Verbrechens verhängt wurde, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist. Modifiziert wurde dieser Rechtsstandard durch das 6. Protokoll vom 28. April 1983, das die Todesstrafe in Friedenszeiten verbietet und heute von allen Konventionsstaaten mit Ausnahme Russlands ratifiziert wurde. Das Protokoll Nr. 13 sieht die Abschaffung der Todesstrafe auch in Kriegszeiten vor.452 a) Rechtsprechung des EGMR zur Derogation des Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK Im Fall Soering453 erwog der EGMR die Abschaffung der Todesstrafe durch nachfolgende Staatenpraxis. In diesem Fall ging es um einen Deutschen, der verdächtigt wurde, einen Mord in den USA begangen zu haben. Nach seiner Verhaftung im Vereinigten Königreich ersuchte der Bundesstaat Virginia das Vereinigte Königreich um Auslieferung in die USA, wo ihm die Todesstrafe drohte. Das Vereinigte Königreich hatte zu diesem Zeitpunkt das 6. Protokoll noch nicht ratifiziert. Der EGMR erwog eine stillschweigende Derogation des Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK durch die Praxis der Vertragsstaaten, schlussfolgerte aber aus der Existenz des 6. Protokolls, dass sich die Konventionsstaaten für die gewöhnliche Methode der Vertragsänderung durch den Abschluss von Zusatzprotokollen entschieden haben.454 Der EGMR bejahte aber einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, da die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Art und Weise der Durchführung der Todesstrafe in den USA (lange Wartezeit im Todestrakt, Bedingungen in der Todeszelle, Alter und Geisteszustand des Verurteilten) auf eine unmenschliche Behandlung im Sinne dieser Norm hinausliefen („death row phenomenon“). Im Fall Öcalan455 kommt der Gerichtshof auf die Frage der Abbedingung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 EMRK zurück. Dem früheren Anführer der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) und türkischen Staatsangehörigen Öcalan wurde von der 452 Das Protokoll Nr. 13 wurde von 44 der insgesamt 47 Konventionstaaten ratifiziert (Stand: 30.9.2015), abrufbar unter (Treaties of the Council of Europe/full list/CETS No.: 187). 453 EGMR (Plenum), Urteil v. 7.7.1989 – Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EuGRZ 1989, S. 314 ff. 454 EGMR, Urteil v. 7.7.1989 – Soering ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O. Ziff. 103. 455 EGMR (GK), Urteil v. 12.5.2005 – Öcalan ./. Türkei, Nr. 46221/99, NVwZ 2006, S. 1267 ff. Siehe hierzu auch das Urteil der ersten Kammer EGMR, Urteil v. 12.3.2003, EuGRZ 2003, S. 472 ff. und Breuer, EuGRZ 2003, S. 449 ff.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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Türkei vorgeworfen, eine bewaffnete Bande mit dem Ziel der Zerstörung der territorialen Einheit des Staates gegründet und zahlreiche Terroranschläge begangen zu haben. Nach seiner Festnahme wurde er im Juni 1999 von dem Staatssicherheitsgericht zum Tode verurteilt. Die Türkei hatte zu diesem Zeitpunkt das 6. Protokoll noch nicht ratifiziert. Auf Antrag Öcalans erließ der EGMR eine einstweilige Anordnung, in der die türkische Regierung aufgefordert wurde, die Vollstreckung der Todesstrafe bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen. Nach einer Änderung der türkischen Verfassung, die die Todesstrafe in Friedenszeiten nunmehr verbat, wurde im Oktober 2001 die gegen Öcalan verhängte Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Aufgrund der geänderten Sachlage konnte der EGMR die Rechtmäßigkeit der nicht mehr drohenden Vollstreckung der Todesstrafe nach Art. 2 EMRK nicht mehr unmittelbar zum Gegenstand seiner Prüfung machen. Er deutete aber an, dass bereits die Verhängung der Todesstrafe eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen könne und zog in diesem Zusammenhang die Erwägungen zu Art. 2 EMRK heran. Nach Ansicht des Gerichtshofs deute viel darauf hin, dass die Norm durch die Staatenpraxis modifiziert wurde und die Todesstrafe in Friedenszeiten nicht mehr zulässig sei. Die Todesstrafe sei nicht nur de facto, sondern – mit Ausnahme Russlands – in allen Konventionsstaaten de iure abgeschafft worden. Zum Zeitpunkt der Entscheidung der Großen Kammer hatten bereits 44 der damaligen Mitgliedstaaten des Europarates, einschließlich der Türkei, das Protokoll Nr. 6 zur EMRK ratifiziert, die beiden fehlenden Staaten Monaco und Russland hatten es unterzeichnet. Ferner war nach der Praxis des Europarates die Abschaffung der Todesstrafe zu einer Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitglieder geworden. Nach Ansicht der Großen Kammer bilden die Mitgliedstaaten des Europarates heute „eine Zone ohne Todesstrafe“.456 Einer definitiven Antwort entzog sich der EGMR jedoch und bejahte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK unabhängig von der Frage der Abbedingung des Art. 2 EMRK, weil aus der Verpflichtung zum Lebensschutz zumindest ein Anspruch darauf erfolge, der Todesstrafe nicht willkürlich unterworfen zu werden. Die Anforderungen an die Verfahrensfairness waren im Fall Öcalan nicht gewahrt worden.457 In dem Kammerurteil Al-Saadoon und Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich458 deutete der Gerichtshof sogar eine generelle Abschaffung der Todesstrafe durch Staatenpraxis und nicht nur in Friedenszeiten an. Der Fall handelte von zwei Beschwerdeführern irakischer Nationalität, die von britischen Truppen in Basra wegen des Verdachts von Anschlägen auf die Besatzungstruppen festgenommen

456

EGMR (GK), Öcalan, a. a. O., S. 1267 (1270), Ziff. 163. EGMR (GK), Öcalan, a. a. O., S. 1267 (1270), Ziff. 167–175. 458 EGMR, Urteil v. 2.3.2010 – Al-Saadoon und Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 61498/08. 457

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

worden waren und an das irakische Höchstgericht übergeben werden sollten. Obwohl die irakische Nationalversammlung die Todesstrafe wieder eingeführt hatte, erklärten die britischen Gerichte die bevorstehende Übergabe für rechtmäßig. Der daraufhin angerufene EGMR stellte fest, dass inzwischen alle bis auf zwei Mitgliedstaaten das Protokoll Nr. 13 unterzeichnet haben. Das spreche dafür, dass Art. 2 EMRK dahingehend abgeändert wurde, dass er die Todesstrafe unter allen Umständen verbietet. Erneut stützte der EGMR sein Urteil aber nicht allein auf eine Abbedingung der Konventionsbestimmung durch Staatenpraxis, sondern auch auf das Protokoll Nr. 13 zur EMRK, das für das Vereinigte Königreich am 1. Februar 2004 in Kraft getreten ist. Spätestens ab diesem Datum habe für das Vereinigte Königreich die Verpflichtung bestanden, keine seiner Hoheitsgewalt unterstehende Personen der realen Gefahr der Verurteilung zum Tode und der Hinrichtung auszusetzen. Da die irakischen Strafgerichte ihre Zuständigkeit ab Mai 2006 bejahten, wurden die Beschwerdeführer spätestens ab diesem Zeitpunkt der wohlbegründeten Furcht ausgesetzt, hingerichtet zu werden. Folglich war Art. 3 EMRK verletzt. b) Bewertung der Praxis des EGMR Die Rechtsprechung des EGMR zur Todesstrafe verdeutlicht, dass der Gerichtshof eine inhaltliche Abänderung einer Konventionsbestimmung durch nachfolgende Staatenpraxis für möglich hält. Auch das allgemeine Völkerrecht spricht nicht gegen eine Änderung der Konvention durch nachfolgende Staatenpraxis, solange der Schutzstandard hierdurch verbessert und nicht herabgesetzt wird.459 Obwohl die Bestimmungen der Wiener Vertragsrechtskonvention nur auf schriftliche Verträge anwendbar sind, werden nach Art. 3 lit. a WVK formlose Verträge nicht ausgeschlossen. Die Änderung eines Vertrages durch nachfolgende Praxis der Vertragsparteien bleibt möglich.460 Die derogierende Staatenpraxis, die im Widerspruch zu dem Wortlaut und den ursprünglichen Willen der Vertragsparteien steht, ist jedoch problematisch, wenn ein bestimmtes Verfahren zur Vertragsänderung vorgesehen wurde. Durch die Berufung auf eine spätere Praxis darf der EGMR nicht eigenmächtig Zusatzprotokolle für Staaten in Kraft setzen, die diese noch nicht ratifiziert haben.461 Um eine Umgehung der Verfahrensvorschriften zu verhindern, sind hohe Anforderungen an die Ermittlung des Rechtsbindungswillens zu stellen. Während die vertragsauslegende Staatenpraxis nur eine allgemeine Übung und keinen Rechtsgeschäftswillen erfordert,462 wird man für die vertragsändernde Staaten459 460 461 462

Breuer, EuGRZ 2003, S. 449 (453). Ipsen, Völkerrecht, § 13, Rn. 5. So die berechtigten Einwände von Kühne, JZ 2003, S. 670 (673). Siehe oben unter Teil 3 A. II. 3. b) cc).

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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praxis in Parallele zu der Begründung von Völkergewohnheitsrecht neben der allgemeinen Übung (consuetudo) zusätzlich die Überzeugung verlangen müssen, dass das jeweilige Verhalten rechtlich geboten ist (opinio iuris sive necessitatis).463 Auch die Anforderungen an die allgemeine Übung sind erhöht. Während für die Staatenpraxis das übereinstimmende Verhalten einiger Staaten genügt, wenn die übrigen Staaten dieses Verhalten akzeptiert haben, wird im Zusammenhang mit der derogierenden Staatenpraxis ein einheitliches Verhalten der Staaten gefordert werden müssen. Die Fälle Öcalan und Al-Saadoon und Mufdhi deuten aber an, dass auch eine ganz überwiegende Staatenpraxis ausreichen kann, wenn die Erhöhung des Schutzstandards der EMRK lediglich aufgrund des Widerstands eines oder vereinzelter Staaten zu scheitern droht.464 2. Die Staatenpraxis in ausgewählten Konventionsstaaten Eine erschöpfende Untersuchung der Staatenpraxis aller 47 Konventionsstaaten im Hinblick auf die Bindungswirkung der Urteile des EGMR ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.465 Untersucht wird die Praxis der nationalen Höchstund Verfassungsgerichte ausgewählter Vertragsstaaten. Ein besonderes Augenmerk soll hierbei auf das Vereinigte Königreich und Deutschland gerichtet werden. Das Vereinigte Königreich kennt seit langem die rule of precedent und ist deshalb im Hinblick auf die Frage der Bindungswirkung der Urteile des EGMR besonders interessant. Auch Deutschland ist repräsentativ, da hier – wie in den anderen „alten“ Konventionsstaaten – eine langjährige Auseinandersetzung mit der Stellung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in der nationalen Rechtsordnung stattgefunden hat. Ergänzend werden Italien und Frankreich als Vertreter der alten Staaten betrachtet. Die Stellung der EMRK in den neuen Staaten ist oft noch nicht eindeutig geklärt. Neben den sprachlichen Barrieren wird die Untersuchung der Praxis der neuen Konventionsstaaten dadurch erschwert, dass es regelmäßig noch an einer breiten Auseinandersetzung mit der EMRK und den Wirkungen der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsliteratur fehlt. Aufgrund der besonderen Bedeutung in der Entwicklung der Piloturteile sollen aber die Länder Russland und Polen betrachtet werden, gegen die die ersten drei Piloturteile ergangen sind. 463

Breuer, EuGRZ 2003, S. 449 (453). In diesem Sinne: Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 9. Rn. 74. 465 Für einen Überblick über die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in den einzelnen Konventionsstaaten, siehe: Bell, EurPublLaw 14 (2008), S. 137–142; Drzemczewski, European Human Rights Convention in Domestic Law – a comparative study; Blackburn/Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950–2000; Garlicki, Int J Constitutional Law 6 (2008), S. 509–530; Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, The Impact of the ECHR on National Legal Systems; Krisch, MLR (2008), S. 183–216; Ress, Die EMRK und die Vertragsstaaten, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 ff. 464

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a) Vereinigtes Königreich Das Vereinigte Königreich ratifizierte die EMRK am 8. März 1953. Im Vereinigten Königreich existierte im Unterschied zu den anderen Mitgliedstaaten des Europarates lange Zeit keine geschriebene Menschenrechtskodifikation.466 Einzelne Rechte wurden in der Magna Charta Libertatum von 1215 für den Adel, in der Petition of Rights von 1627 und in der Bill of Rights 1689 zur Stärkung des Parlaments gewährleistet, und in dem Habeas Corpus Act von 1679 wurden die Möglichkeiten zum Erlass königlicher Haftbefehle eingeschränkt. Einen umfassend formulierten Grundrechtekatalog kannte das britische Recht hingegen nicht.467 aa) Das britische Verfassungsrecht und der Grundsatz der Parlamentssouveränität Der Begriff des britischen Verfassungsrechts lässt sich nach dem berühmten englischen Verfassungsrechtler Albert Venn Dicey umschreiben als „all rules which directly or indirectly affect the distribution or the exercise of the sovereign power in the state.“ 468 Dicey nimmt damit Bezug auf die unterschiedlichen Rechtsquellen, aus denen sich das britische Verfassungsrecht zusammensetzt. Hierzu gehören das von den Richtern entwickelte Fallrecht (common law), das Gesetzesrecht (statute law) und die internationalen Abkommen (constitutional conventions).469 Der Vorteil einer ungeschriebenen Verfassung liegt in ihrer besonderen Flexibilität. Während nationale Rechtssysteme, deren Verfassungsrecht in einem Grundrechtekatalog schriftlich fixiert ist, hohe Anforderungen an eine Änderung der Verfassung stellen,470 können die Regelungen des britischen Verfassungsrechts einfach und schnell geändert werden. Die ungeschriebene Verfassung ist letztlich Ausdruck des im britischen Recht fest verwurzelten Grundsatzes der Parlamentssouveränität (Parliamentary sovereignty). Die klassische Formulierung des Konzepts der absoluten Parlamentssouveränität stammt von Albert Venn Dicey: „Parliament (. . .) has, under the English constitution, the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament.“ 471 466 Blackburn, in: ders./Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, United Kingdom, S. 946. 467 Baum, EuGRZ 2000, S. 281 (284); Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (310). 468 Dicey, An Introduction to the Study of the Constitution, S. 23. 469 Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (309). 470 So kann das deutsche Grundgesetz Art. 79 GG nur durch ein Gesetz geändert werden, das der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. In materieller Hinsicht dürfen insbesondere die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und die in Art. 1 und Art. 20 GG enthaltenen Grundsätze als Kernbestand der Verfassung nicht berührt werden.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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Das Parlament als unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ ist die oberste Instanz. Die Vorstellung, dass sich ein nur mittelbar demokratisch legitimiertes Gericht zum Wächter der Verfassungsmäßigkeit eines Parlamentsgesetzes aufschwingt, ist danach ausgeschlossen.472 Ausdruck der Parlamentssouveränität ist auch, dass die Regierung nicht ohne weiteres Recht durch Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrages schaffen kann.473 Im Vereinigten Königreich herrscht ein strenger Dualismus mit der Folge, dass der Einzelne sich nicht unmittelbar auf eine staatliche Verpflichtung aus einem völkerrechtlichen Vertrag vor den nationalen Gerichten berufen kann, sondern erst, wenn der Vertrag durch ein nationales Parlamentsgesetz inkorporiert wurde.474 Bis zum Inkrafttreten des Human Rights Act war die EMRK nicht unmittelbar anwendbar und konnte nur indirekt auf das Gesetzesrecht durch den Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung einwirken.475 In den ersten Jahren seit ihrer Ratifikation spielte die EMRK eine unbedeutende Rolle in der Rechtsprechung der britischen Gerichte. Bezugnahmen auf die Konvention unterblieben fast vollständig.476 Seit Mitte der siebziger Jahre sind gelegentliche Bezugnahmen der britischen Gerichte in ihren Urteilen auf die Konvention zu erkennen, die jedoch kurz und beiläufig geblieben sind.477 Erst seit Beginn der 90er Jahre ist es in erhöhtem Maße zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit der EMRK gekommen.478 bb) Inkorporation der EMRK durch den Human Rights Act Am 2. Oktober 2000 trat der Human Rights Act (HRA) von 1998 in Kraft. Mit der Inkorporation der EMRK in das nationale Recht musste die Frage des Rangs der EMRK in der nationalen Rechtsordnung gelöst werden. In diesem Zusammenhang wurde die Frage des entrenchment diskutiert, d.h. die Frage, inwieweit die EMRK als grundlegende Menschenrechtscharta in der britischen Verfassungstradition verankert werden kann. Dabei geht es um den möglichen Konflikt mit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität.479 Um die Konventionsrechte zum Maßstab für das Handeln aller öffentlichen Gewalt zu erheben, ohne den 471

Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, S. 39 f. Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (332 f.). 473 Hoffman/Rowe, Human Rights in the UK, S. 52. 474 Hoffman/Rowe, Human Rights in the UK, S. 52. 475 Baum, EuGRZ 2000, S. 281 (286 f.). 476 Blackburn, United Kingdom, in: ders./Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, S. 935 (946). 477 Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (313); Besson, Reception Process United Kingdom, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 48. 478 Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (313). 479 Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (333 f.). 472

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Verfassungsgrundsatz der uneingeschränkten Parlamentssouveränität anzutasten, führte der HRA eine neue Auslegungsregel ein. Nach Abschnitt 3 HRA sind die Parlamentsgesetze (primary legislation) und die auf der gesetzlichen Grundlage erlassenen Verordnungen und Satzungen (subordinate legislation) soweit wie möglich in der Weise auszulegen und Wirksamkeit zu verschaffen, dass sie mit den Bestimmungen der EMRK vereinbar sind.480 Der im englischen Recht anerkannte Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung kann nur dann herangezogen werden, wenn eine gesetzliche Regelung mehrdeutig ist. Die nationalen Gerichte sind dann gehalten, der Auslegung den Vorrang einzuräumen, die im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs steht. Die neue Regelung geht aber deutlich weiter. Denn die Gerichte sind bei ihrer Aufgabe, die Gesetze so auslegen, dass die Konventionsrechte volle Wirksamkeit entfalten, nicht an frühere Auslegungen des Gesetzes gebunden.481 Das Gebot konventionsrechtskonformer Auslegung findet erst dann eine Grenze, wenn eine konventionskonforme Interpretation in einem eindeutigen Widerspruch zu einer gesetzlichen Regelung stehen würde. Tritt diese Situation ein und kann ein Parlamentsgesetz (primary legislation) nicht im Einklang mit der EMRK ausgelegt werden, erhalten die Gerichte in Abschnitt 4 HRA die Möglichkeit, eine Erklärung zur Unvereinbarkeit abzugeben.482 Eine solche Erklärung berührt nicht den Inhalt und die Wirksamkeit des Gesetzes, das weiter angewendet werden muss. Die Erklärung entfaltet auch keine Bindungswirkung für die Parteien des Verfahrens, anlässlich dessen sie abgegeben wurde.483 Die Regierung geht jedoch in ihrem Weißpapier davon aus, dass Regierung und Parlament sich durch eine solche Unvereinbarkeitserklärung veranlasst sehen werden, das Gesetz zu ändern.484 Handelt es sich bei der gesetzlichen Regelung nicht um ein formelles Parlamentsgesetz, sondern um Verord-

480 Abschnitt 3 (1) HRA lautet: „So far as it is possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights.“ Der Text des HRA ist abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 481 Rights Brought Home: The Human Rights Bill – Weißbuch der britischen Regierung zur Erläuterung des HRA, veröffentlicht im Oktober 1997, Chapter 2, Rn. 2.7 und 2.8, verfügbar unter , Stand: 30.9.2015. 482 Abschnitt 4, Absatz 2 HRA (Teil 3 Fn. 480) lautet: „If the Court is satisfied that the provision is incompatible with a Convention right, it may make a declaration of that incompatibility.“ 483 Abschnitt 4, Absatz HRA (Teil 3 Fn. 480). 484 Rights Brought Home: The Human Rights Bill – Weißbuch der Regierung (Teil 3 Fn. 481), Chapter 2, Rn. 2.10. Wie Jacobs [in: Andenas/Fairgrieve (Hrsg.), FS Bingham 2009, S. 419 (423)] feststellt, haben die Gerichte von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht. Über 20 solcher Erklärungen wurden seit 2000 abgegeben, und die meisten davon wurden von den Höchstgerichten aufrechterhalten.

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nungen oder Satzungen (subordinate legislation), dürfen die Gerichte diese unangewendet lassen, wenn das zugrundeliegende Parlamentsgesetz dies nicht verbietet.485 Ergänzend wird ein beschleunigtes Verfahren eingeführt, in dem der zuständige Minister die Änderung des Gesetzes zur Anpassung an die Konvention anordnen kann; die beiden Parlamentshäuser müssen grundsätzlich vorher ihre Zustimmung erteilen.486 cc) Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR Abschnitt 2 HRA bestimmt, dass die britischen Gerichte die Entscheidungen des EGMR berücksichtigen müssen – jedoch nur soweit, wie sie nach Auffassung des Gerichts für das Verfahren relevant sind.487 Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens wurde diskutiert, die Worte „must take into account“ in die Formulierung „shall be bound by“ zu ändern. Gegen eine Verpflichtung der nationalen Gerichte, der Straßburger Rechtsprechung zu folgen, sprach sich jedoch der ehemalige Lordkanzler, Lord Irvine of Lairg, aus, der die Flexibilität der nationalen Gerichte sichern wollte, die frei sein sollten „to give a lead to Europe as well as to be led“.488 Die Straßburger Urteile sind demnach für die nationalen Gerichte nicht bindend, d.h. sie haben nur persuasive, nicht binding authority.489 Der Versuch einiger konservativer Abgeordneter, die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Straßburger Rechtsprechung weiter abzuschwächen durch eine Änderung des S. 2 (1) in „may take into account“ anstelle von „must . . .“, ist allerdings ebenfalls gescheitert. Obwohl sich der Lordkanzler zugunsten von mehr Flexibilität und einem Beurteilungsspielraum für die nationalen Gerichte ausgesprochen hat, erschien eine solche Formulierung zu weitgehend, da die Auslegung durch die nationalen Gerichte mit der Straßburger Rechtsprechung grundsätzlich vereinbar sein muss.490 485 Rights Brought Home: The Human Rights Bill – Weißbuch der Regierung (Teil 3 Fn. 481), Chapter 2, Rn. 2.15. 486 Abschnitt 10 HRA (Teil 3 Fn. 480). 487 Abschnitt 2 (1) HRA (Teil 3 Fn. 480) lautet: „A court or tribunal determining a question which has arisen in connection with a Convention right must take into account any (a) judgment, decision, declaration or advisory opinion of the European Court of Human Rights (b) opinion of the Commission given in a report under Article 31 of the Convention (c) decision of the Commission in connection with Article 26 or 27 (2) of the Convention, or (d) decision of the Committee of Ministers taken under Article 46 of the Convention, whenever made or given, so far as, in the opinion of the court or tribunal, it is relevant to the proceedings in which that question has arisen.“ 488 HL Deb vol 583 col 515 18 Nov 1991, zitiert in Masterman, ICLQ 2005, S. 912. 489 Grote, ZaöRV 1998, S. 339. 490 Baum, EuGRZ 2000, S. 295; Wicks, EurPubLaw 2005, S. 407 f.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Die genaue Bedeutung des Begriffs der Berücksichtigung bleibt aber unklar.491 Das Court of Appeal vertrat in seinen Urteilen die Ansicht, dass es primär die Aufgabe der nationalen Gerichte sei, den Menschenrechtsschutz durch ein kohärentes Fallrecht zu entwickeln. Dabei sollten die Gerichte nicht eng an der Straßburger Rechtsprechung verhaften, sondern die der EMRK zugrunde liegenden Prinzipien herausarbeiten. Dies hat in einigen Fällen dazu geführt, dass die Straßburger Rechtsprechung missachtet wurde oder die Rechtsprechung des Courts of Appeal hinter ihr zurückgeblieben ist.492 Das House of Lords ist diesem Ansatz aber nicht gefolgt und legt die Pflicht zur Berücksichtigung regelmäßig im Sinne einer Befolgung der Straßburger Rechtsprechungspraxis aus. In der Rechtssache Alconbury erklärt Lord Slynn: „Although the Human Rights Act 1998 does not provide that a national court is bound by these decisions it is obliged to take account of them so far as they are relevant. In the absence of special circumstances it seems to me that the court should follow any clear and constant jurisprudence of the European Court of Human Rights. If it does not do so there is at least a possibility that the case will go to that court which is likely in the ordinary case to follow its own constant jurisprudence.“ 493

Die Pflicht zur Befolgung der Rechtsprechung des EGMR erfordert nach Ansicht des House of Lords eine klare und konstante Rechtsprechung des EGMR. Dies hat Lord Bingham of Cornhill besonders deutlich in der Urteil Ullah hervorgehoben: „(. . .) the House is required by section 2(1) of the Human Rights Act 1998 to take into account any relevant Strasbourg case law. While such case law is not strictly binding, it has been held that courts should, in the absence of some special circumstances, follow any clear and constant jurisprudence of the Strasbourg court (. . .) This reflects the fact that the Convention is an international instrument, the correct interpretation of which can be authoritatively expounded only by the Strasbourg court. From this it follows that a national court subject to a duty such as that imposed by section 2 should not without strong reason dilute or weaken the effect of the Strasbourg case law.“ 494

Ein besonderes Gewicht kommt dabei den Entscheidungen der Großen Kammer des Gerichtshofs zu, wie Lord Bingham in der Rechtssache Anderson betonte: 491 Wicks, EurPubLaw 11 (2005), S. 405 (408), der den mehrdeutigen Charakter („ambigious nature“) des Begriffs hervorhebt. 492 Krisch, MLR (2008), S. 183 (204) mit Rechtsprechungsbeispielen. 493 R (on the application of Alconbury Developments Ltd) v. Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions [2001] UKHL 23, Rn. 26 – Hervorhebung durch die Verfasserin. Die Urteile und Entscheidungen des Supreme Court bzw. House of Lords ab 31. Juli 2009 sind abrufbar über und für vor diesem Zeitpunkt ergangene Urteile und Entscheidungen über , Stand: 30.9.2015. 494 Regina v. Special Adjudicator (Respondent) ex parte Ullah (FC) (Appellant), [2004] UKHL 26, Rn. 20, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493.

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„. . . [the courts] will not without good reason depart from the principles laid down in a carefully considered judgment of the court sitting as a Grand Chamber“.495

Eine Einschränkung erfuhr dieser Grundsatz in der Rechtssache Horncastle.496 In diesem Urteil ging es um den im englischen Recht existierenden Beweis vom Hörensagen (hearsey evidence) und dessen Vereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK. In dem Urteil Al-Khawaja ./. Vereinigtes Königreich,497 das eine ähnliche Fallkonstellation betraf, hatte der EGMR entschieden, dass der Beweis vom Hörensagen unter bestimmten Umständen zulässig ist, nicht aber einziger oder tragender Beweismaßstab für eine Verurteilung sein darf. Das Vereinigte Königreich hat daraufhin die Große Kammer angerufen, deren Entscheidung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Supreme Court über die Rechtssache Horncastle noch ausstand. Trotz Auseinandersetzung mit dem Urteil Al-Khawaja ./. Vereinigtes Königreich folgte der Supreme Court nicht dem EGMR, sondern wies die Berufungen der Berufungskläger zurück, die aufgrund des Hörensagensbeweises verurteilt worden waren. Der Supreme Court rechtfertigte diese Entscheidung mit den Besonderheiten des englischen Rechtssystems und unter Verweis auf den Umstand, dass eine bindenden Entscheidung der Großen Kammer des EGMR noch nicht vorlag. Tatsächlich trug die Große Kammer des EGMR den Besonderheiten des englischen Rechts Rechnung und entschied abweichend von der Kammer zugunsten des Vereinigten Königreichs.498 dd) Möglichkeit der Abweichung von der EGMR-Rechtsprechung Auch bei Vorliegen einer ständigen Rechtsprechung des EGMR behält sich der Supreme Court die Möglichkeit vor, bei Vorliegen guter Gründe („good reasons“) oder besonderer Umstände („special circumstances“) von der Rechtsprechung des EGMR abzuweichen. Ein Beispiel für einen Grund zur Abweichung liefern die britischen Militärgerichtsfälle (court-martial).499 Der EGMR hatte 1997 festgestellt, dass einige Aspekte des Strafverfahrens vor dem für den Einzelfall einberufenen Militärgericht, insbesondere die zentrale Rolle des Gerichtsherrn, nicht mit den Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines fairen

495 R (on the application of Anderson) v Secretary of State for the Home Department [2002] UKHL 46; Rn. 18, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 496 R v Horncastle & Others [2009] UKSC 14, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 497 EGMR, Urteil v. 2.1.2009 – Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26766/05 und 22228/06. 498 EGMR (GK), Urteil v. 15.12.2011 – Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26766/05 und 22228/06. 499 Unter anderem: EGMR, Urteil v. 25.2.1997 – Findlay ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22107/93; EGMR, Urteil v. 24.9.1997 – Coyne ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25942/94.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Verfahrens nach Art. 6 EMRK vereinbar sind.500 Änderungen durch den Gesetzgeber durch den Armed Forces Act von 1996 wurden von dem EGMR im Fall Morris ./. Vereinigtes Königreich als nicht ausreichend bewertet.501 Beide Urteile wurden durch die Behörden des Vereinigten Königreichs in Bezug auf den Beschwerdeführer umgehend umgesetzt. In einem parallelen Fall, der eine Verurteilung durch ein Army court-martial betraf, weigerte sich das House of Lords dem Morris-Urteil des EGMR Folge zu leisten.502 Wie Lord Bingham ausführte, sei zwar den Urteilen des EGMR große Achtung entgegenzubringen, im Fall Morris habe es jedoch eine Reihe von Besonderheiten im Hinblick auf die rangniederen Offiziere der Militärgerichte gegeben, über die der Gerichtshof nicht hinreichend informiert war und bei deren Kenntnis er wahrscheinlich anders entschieden hätte.503 Der Straßburger Gerichtshof reagierte auf diese Kritik und modifizierte seine Rechtsprechung. Angesichts zweier Beschwerden aus dem Vereinigten Königreich, die sich gegen Verurteilungen durch die Militärgerichte in der königlichen Marine (Royal Navy) und in der königlichen Luftwaffe (Royal Air Force) richteten, stellte der EGMR keine Verletzung in Verbindung mit der Royal Air Force fest,504 wohl aber hinsichtlich der Royal Navy.505 Durch den Dialog der Richter konnte mithin ein Kompromiss in der Rechtsprechungslinie gefunden werden.506 Neben der unzureichenden Information des Straßburger Gerichtshofs wird ein weiterer Fall eines rechtmäßigen Abweichens von einer klaren und konsistenten Rechtsprechungslinie des EGMR von Lord Hoffmann im Fall Alconbury vorgeschlagen: „The House is not bound by the decisions of the European court and, if I thought that the Divisional Court was right to hold that they compelled a conclusion fundamentally at odds with the distribution of powers under the British constitution, I would have considerable doubt as to whether they should be followed.“ 507

500

EGMR, Urteil v. 25.2.1997 – Findlay ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O. EGMR, Urteil v. 26.2.2001 – Morris ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 38784/97. 502 R. v. Boyd and Others, [2002] UKHL 31, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 503 R. v. Boyd and Others, a. a. O., Rn. 12. Ähnlich auch Lord Rodger, Rn. 66: „For whatever reason (. . .) the European Court was given rather less information than the House [of Lords] about the safeguards relating to the officers serving on courts-martial.“ 504 EGMR (GK), Urteil v. 16.12.2003 – Cooper ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8843/ 99. 505 EGMR (GK), Urteil v. 16.12.2003 – Grieves ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 57067/00. 506 Garlicki, Int J Constitutional Law 6(2008), S. 509 (516 ff.). 507 R (on the application of Alconbury Developments Ltd) v. Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions [2001] UKHL 23, Rn. 76, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 501

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

233

Wann aber genau ein solcher, zur Abweichung berechtigender Widerspruch zum Grundsatz der Gewaltenteilung in der britischen Verfassung gegeben sein soll, hat Lord Hoffmann nicht weiter präzisiert. Der Ansatz ist bei den übrigen Richtern nicht auf Resonanz gestoßen.508 Die Formulierungen „special circumstances“ und „without good reason“ räumen den Gerichten ein großes Maß an Flexibilität ein. In der Regel folgt aber der Supreme Court der Straßburger Rechtsprechung. Dies gilt auch dann, wenn es sich um politisch höchst sensible Urteile handelt.509 Rechtsprechungskonflikte sind aber nicht ausgeschlossen. ee) Nicht gelöster Rechtsprechungskonflikt Im Falle eines ungelösten Rechtsprechungskonflikts zwischen dem englischem Höchstgericht und dem EGMR sind die Untergerichte nicht frei zu entscheiden, welchem der Gerichte sie folgen. Dies bekräftigte das House of Lords in dem Fall Leeds v. Price.510 In diesem Fall ging es um die Frage, ob die Besitzergreifung von Wohnungseigentum durch eine öffentliche Behörde das Recht auf Wohnung aus Art. 8 EMRK tangiert. Der Court of Appeal sah sich mit einer bindenden Entscheidung des House of Lords konfrontiert, wonach der Gemeinderat befugt war eine Gruppe von Zigeunern von ihrem Land zu vertreiben.511 Eine zeitlich später ergangene Entscheidung des EGMR sprach aber für eine Neubewertung.512 Der Court of Appeal vertrat die Auffassung, dass er an die Entscheidung des House of Lords gebunden sei und legte die Sache angesichts ihrer Wichtigkeit dem House of Lords vor.513 Das House of Lords bestätigte die Richtigkeit dieses Ansatzes – das englische case law sei verbindlich, denn es sorgt für Rechtssicherheit. Die Gerichte haben dem case law zu folgen, bis die Sache neu entschieden wurde.514

508

Krisch, MLR (2008), S. 183 (204). Krisch, MLR (2008), S. 183 (203) mit Verweis auf den Fall AV Home Secretary [House of Lords, Urteil v. 16.12. 2004, Av Home Secretary (Belmarsh) [2004 UKHL 56], in dem die Lords die gesetzliche Regelung zur Inhaftierung von Terrorverdächtigen als unvereinbar mit der Konvention befanden, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 510 Kay & Anor v. London Borough of Lambeth & Ors [2006] UKHL 10, insbesondere Lord Bingham, Rn. 42–45, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 511 London Borough of Harrow v. Qazi [2003] UKHL 43, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 512 EGMR, Urteil v. 27.4.2004 – Connors ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 66746/01. 513 Price & Ors v Leeds City Council [2005] EWCA Civ 289, Rn. 31 ff., abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 514 Kay & Anor v. London Borough of Lambeth & Ors [2006] UKHL 10, insbesondere Lord Bingham, Rn. 42–45, abrufbar unter: Teil 3 Fn. 493. 509

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

b) Deutschland In Deutschland genießt die EMRK nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)515 und der herrschenden Ansicht in der Literatur516 als völkerrechtlicher Vertrag über das Zustimmungsgesetz von 1952517 gemäß Art. 59 GG den Rang eines Bundesgesetzes. Die Ansichten, die der EMRK in der deutschen Rechtsordnung aus dem vor- und überstaatlichen Menschenrechtsgehalt und der Regel pacta sunt servanda einen Überverfassungsrang518 oder über Art. 1 Abs. 2 GG einen unmittelbaren Verfassungsrang519 beimessen wollen, haben sich ebenso wenig durchsetzen können, wie die Ansichten, die der EMRK einen mittelbaren Verfassungsrang über Art. 2 Abs. 1 GG520 oder über die Qualifikation als regionales Völkergewohnheitsrecht nach Art. 25 GG521 verleihen möchten. Auch der Ansatz, den EGMR als eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 GG einzuordnen, mit der Folge, dass die Entscheidungen des EGMR Vorrang vor dem nationalen Recht beanspruchen,522 konnte nicht überzeugen.523 aa) Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung Die Gefahr, dass sich nachfolgendes Gesetzesrecht nach der lex posterior-Regel gegenüber der EMRK dogmatisch durchsetzt, wird durch das vom BVerfG betonte Gebot völkerrechtskonformer Auslegung eingedämmt. Nach Ansicht des BVerfG sei „nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar

515 BVerfG, Beschluss v. 26.3.1987, 2 BvR 589/79, u. a.; BVerfGE 74, 358 (370); BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307111, 307 (317). 516 Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 625; Hilf, in: Mahrenholz u. a. (Hrsg.), Entwicklung der Menschenrechte innerhalb des Europarates, S. 19 (41); Mückle, Der Staat 44 (2005), S. 403 (407); Pache, EuR 2004, S. 393 (400); Steinberger, HRLJ 6 (1985), S. 402 (402); Zoellner, Das Verhältnis von BVerfG und EGMR, S. 160. 517 Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7.8.1952, BGBl. 1952 II, S. 685, in Kraft getreten am 3.9.1953. 518 Baumann, in: Bockelmann/Gallas (Hrsg.), FS Schmidt, S. 525 (529 f.). 519 Echterhölter, JZ 1955, S. 689 (691 f.); Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (367 ff.); Sternberg, Der Rang von Menschenrechtsverträgen, S. 219 ff. 520 Frowein, in: Fürst u. a. (Hrsg.), FS Zeidler, II, S. 1763 (1770 f.). 521 Schorn, Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1965, S. 44. 522 Hierzu: Ress, in: Fürst u. a. (Hrsg.), FS Zeidler II, S. 1775 (1792 ff.); Everling, EuR 2005, S. 411 (416 ff.). 523 Für einen Überblick über die Diskussion, siehe: Heckötter, Die Bedeutung der EMRK, S. 92 ff.; Hilf, in: Mahrenholz u. a. (Hrsg.), Entwicklung der Menschenrechte innerhalb des Europarates, S. 19 (35 ff.); Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (364 ff.); Zoellner, Das Verhältnis von BVerfG und EGMR, S. 136 ff.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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bekundet hat, von den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzungen solcher Verpflichtungen ermöglichen will“.524 Der Instanzrichter ist über Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG an die EMRK und ihre Zusatzprotokolle gebunden und muss das von ihm angewendete Recht völkerrechtsfreundlich und konventionskonform auslegen. Das BVerfG betonte frühzeitig, dass Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes und des einfachen Gesetzesrechts zu berücksichtigen sind und dass die Rechtsprechung des EGMR „als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen“ heranzuziehen ist.525 bb) Rechtsprechungsdivergenzen zwischen BVerfG und EGMR Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dem BVerfG und dem EGMR sind aber nicht ausgeschlossen. In dem Fall Caroline von Hannover,526 der große Aufmerksamkeit in den Medien527 und in der Rechtswissenschaft528 erlangt hat, hat der EGMR die kollidierenden Rechtsgüter Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht anders als das BVerfG gewichtet. Das Verfahren vor dem EGMR betraf die Veröffentlichung von Paparazzi-Bildern aus dem Privatleben der Prinzessin. Nach der gesetzlichen Regelung in § 22 KUG dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten veröffentlicht werden. Eine Ausnahme gilt für Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte, § 23 Abs. 1 S. 1 KUG. Das Gesetz vermutet hier ein das Allgemeine Persönlichkeitsrecht überwiegendes Informationsinteresse der Allgemeinheit, soweit durch die Verbreitung nicht ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten verletzt wird, § 23 Abs. 2 KUG. Nach der gesetzlichen Regelung bleibt eine Abwägung im Einzelfall erforderlich. Die Abwägung wurde aber maßgeblich durch die von der Rechtsprechung entwickelte Differenzierung zwischen sog. absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte vorgeprägt. Als relative Person der Zeitgeschichte galten Personen, die nur im Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis in das Blickfeld der Öffentlichkeit treten, während absolute Personen der Zeitgeschichte unabhängig von einzelnen Ereignissen aufgrund ihres Status und ihrer Bedeutung aus der Allgemeinheit herausragten und sich 524

BVerfG, Beschluss v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79, u. a., BVerfGE 74, 358, 370. BVerfG, ebenda. 526 EGMR, Urteil v. 24.6.2004 – Caroline von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/ 00, NJW 2004, S. 2647 ff. 527 Vgl. die Interviews mit dem in dieser Zeit amtierenden Präsidenten des EGMR, Luzius Wildhaber, „Das tut mir weh“, Der Spiegel v. 15.11.2004, 50; und mit dem damaligen Präsidenten des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, „Straßburg ist kein oberstes Rechtsmittelgericht“ in FAZ v. 9.12.2004, 5. 528 Kritisch zum EGMR-Urteil: Grabenwarter, in: Bröhmer u. a. (Hrsg.), FS für Ress, 2005, S. 979 (989 ff.); Scheyli, EuGRZ 2004, S. 628 ff. Zustimmend: Heldrich, NJW 2004, S. 2634 ff.; Starck, JZ 2006, S. 76 ff. 525

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

dauerhaft im Blickpunkt der Öffentlichkeit befanden. Bei letzteren überwog regelmäßig die Meinungs- und Pressefreiheit. Der BGH qualifizierte die Adelige Caroline von Monaco als eine absolute Person der Zeitgeschichte.529 Das BVerfG akzeptierte das Rechtsinstitut der absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte; die einzelfallbezogene Abwägung dürfe aber nicht unterbleiben.530 So liegt nach Ansicht des BVerfG eine schützenswerte Privatsphäre von absoluten Personen der Zeitgeschichte außerhalb des häuslichen Bereichs vor, wenn sich die Person in einer „örtlichen Abgeschiedenheit“ erkennbar aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Anders als der BGH beanstandete das BVerfG daher die Veröffentlichung der Fotos, die die Prinzessin in einem wenig beleuchteten Gartenlokal zeigten und von Bildern, in denen sie mit ihren Kindern abgelichtet war, da insoweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1, 2 GG verstärkt wurde.531 Der EGMR kritisierte die Differenzierung zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte und forderte eine verstärkt funktionale Betrachtung. Soweit eine Person öffentliche Funktionen ausübt (z. B. ein Politiker), bestehe ein Recht der Öffentlichkeit auf Information und zwar nicht nur in Bezug auf die amtliche Tätigkeit, sondern unter Umständen auch hinsichtlich des Privatlebens der Person des öffentlichen Lebens – etwa wenn ein Zusammenhang mit oder eine Rückwirkung auf die Amtsführung bestehe (z. B. Krankheit). Die Presse spiele hier eine wesentliche Rolle als „Wachhund“ in der demokratischen Gesellschaft und trage dazu bei, „Ideen und Informationen zu Fragen allgemeinen Interesses zu vermitteln“.532 Caroline von Monaco nehme als Mitglied der monegassischen Fürstenfamilie repräsentative Pflichten wahr, habe aber keine eigenen offiziellen Ämter. Soweit sie als Privatperson auftrete, hege sie deshalb eine berechtigte Erwartung auf Achtung des Privatlebens. Die Veröffentlichung der gegenständlichen Fotos und Artikel, die nur die Neugier eines bestimmten Publikums über das Privatleben der Beschwerdeführerin befriedigten, konnten nach Ansicht des Gerichtshofs trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Beschwerdeführerin nicht als Beitrag zu irgendeiner Diskussion von allgemeinem Interesse für die Gesellschaft angesehen werden.533 Das deutsche Recht in der Auslegung durch die deutschen Gerichte verletzte daher nach – einstimmiger – Ansicht der Kammer Art. 8 EMRK.

529 BGH, Urteil v. 19.12.1995, VI ZR 15/95, BGHZ 131, 332, NJW 1996, S. 1128; Rn. 2 b). 530 BVerfG, Urteil v. 15.12.1999, 1 BvR 653/96, BVerfGE 101, 361 ff., Rn. 106. 531 BVerfG, Urteil v. 15.12.1999, 1 BvR 653/96, BVerfGE 101, 361 ff. 532 EGMR, Urteil v. 24.6.2004 – Caroline von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/ 00, NJW 2004, S. 2647 (2654), Ziff. 63. 533 Ebenda, Ziff. 65.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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In Reaktion auf die Entscheidung des EGMR hat der BGH das Konzept der allgemeinen und relativen Person der Zeitgeschichte aufgegeben. Der BGH stellt stattdessen auf das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ab, betont aber weiterhin, dass dieses Interesse weit auszulegen ist und nicht nur politische, sondern auch allgemeine gesellschaftliche Interessen und unterhaltende Beiträge erfasst. So untersagte der BGH die Veröffentlichung von reinen Urlaubsbildern der Prinzessin, gestattete aber die Veröffentlichung einer Wortberichterstattung über die Erkrankung des Fürsten und die Reaktion seiner Angehörigen hierauf, die mit Bildern versehen war, die die Prinzessin im Erholungsurlaub zeigten.534 Das BVerfG bestätigte diesen Ansatz.535 Wie der Fall Caroline von Monaco zeigt, hat eine deutliche Annäherung der Rechtsprechung der nationalen Gerichte an die des EGMR stattgefunden. Die Loslösung von dem starren Konzept der Person der absoluten Zeitgeschichte erlaubt eine differenziertere Betrachtung, die den Schutz der Privatsphäre aufgewertet hat. cc) Die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für nationale Gerichte: der Görgülü-Beschluss des BVerfG Für nationale Gerichte stellt sich im Fall ungelöster Rechtsprechungsdivergenzen die Frage, welchem der Gerichte – dem BVerfG (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) oder dem EGMR (Art. 46 EMRK) – sie folgen müssen.536 In dem Görgülü-Beschluss vom 14. Oktober 2004537 hat sich das BVerfG erstmals ausführlich zu den Wirkungen der EMRK und den Entscheidungen des EGMR im deutschen Rechtsraum geäußert. In der Entscheidung ging es um die erfolglosen Versuche des Vaters eines unehelichen Kindes, das Sorgerecht und ein Besuchsrecht anerkannt zu bekommen. Die Mutter hatte den Jungen nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Nachdem der Beschwerdeführer die Anerkennung seiner Vaterschaft erreicht hatte, sprach ihm das Amtsgericht Wittenberg im März 2001 das alleinige Sorgerecht zu. Aufgrund der Rechtsmitteleinlegung der Pflegeeltern wurde diese Entscheidung durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg im Juni 2001 aufgehoben und der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung des Sorgerechts zurückgewiesen. Das Umgangsrecht mit

534

BGH, Urteil v. 6.3.2007, Az. VI ZR 51/06, BGHZ 171, 275, NJW 2007, S. 1977. BVerfG, Beschluss v. 26.2.2008, 1 BvR 1602/07, BVerfGE 120, 180, NJW 2008, S. 1793 ff. 536 Zu der Lösung der Kollisionsproblematik in der Literatur, siehe: Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 285 ff.; Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (51 ff.). 537 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 ff. 535

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

dem Jungen wurde aus Gründen des Kindeswohls ausgeschlossen und seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.538 Im September 2001 legte der Beschwerdeführer eine Individualbeschwerde beim EGMR ein, der im Februar 2004 eine Verletzung des Art. 8 EMRK feststellte. Bei der Durchsetzung des Urteils sei Deutschland gemäß Art. 46 EMRK frei, doch müsse dem Beschwerdeführer „mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden“.539 Das angesuchte Amtsgericht erteilte daraufhin dem Beschwerdeführer das elterliche Sorgerecht und im Wege einer einstweiligen Anordnung das Umgangsrecht mit dem Sohn. Mit Beschluss vom 30. Juni 2004 hob das Oberlandesgericht Naumburg die einstweilige Anordnung unter Hinweis auf das Kindeswohl auf und erklärte, dass die nationalen Gerichte bei der Auslegung nicht an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden seien.540 Die erneute Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers führte zum Görgülü – Beschluss des BVerfG. Das BVerfG hob den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Juni 2004 wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts zurück, § 95 Abs. 2 BVerfGG.541 Das BVerfG betonte, dass das Grundgesetz völkerrechtskonform auszulegen sei und der Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung der EMRK besondere Bedeutung zukomme. Die staatlichen Institutionen und Behörden seien an die Urteile des EGMR gebunden, wobei die Bindungswirkung nicht kraft Völkerrechts, sondern aufgrund der einschlägigen Konventionsbestimmung in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz bestehe.542 Bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung der Straßburger Urteile sei eine Verfassungsbeschwerde zulässig.543 dd) Die Grenzen der Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR Diese aus Sicht des Völkerrechts positiven Aspekte sind jedoch aufgrund der zum Teil missverständlichen Ausführungen544 des BVerfG zur Rolle der Recht538

BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 2–5. EGMR, Urteil v. 26.2.2004 – Görgülü ./. Deutschland, Nr. 74969/01, EuGRZ 2004, S. 700, Ziff. 64. 540 OLG Naumburg, Beschluss v. 30.6.2004, 14 WF 64/04, FamRZ 2004, S. 1510. 541 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 (322 f.). 542 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 45. 543 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 63. Zur Implementierungsfunktion und Abwehrfunktion nationaler Verfassungsgerichte siehe: Dörr, DVBl. 2006, S. 1088 (1091 f.). 544 Ladewig/Petzold, NJW 2004, S. 19 („missverständlich und nicht nur politisch fragwürdig“); Cremer, EuGRZ 2004, S. 683 (693) („Karlsruher Unschärferelation“). 539

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sprechung des EGMR nahezu in den Hintergrund getreten. In der Öffentlichkeit wurde der Beschluss des BVerfG eher als Einschränkung der Bindungswirkung der EGMR-Urteile wahrgenommen.545 Denn das BVerfG formuliert seither die Bindungswirkung nicht als eine unbedingte Pflicht zur Beachtung der Urteile des EGMR, sondern als Pflicht zur der Berücksichtigung der Urteile des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung.546 Die Urteile des EGMR sind zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung durch das nationale Gericht oder die Behörde zugrunde zu legen. Das BVerfG räumt aber ausdrücklich die Möglichkeit ein, von der Rechtsauffassung des EGMR abzuweichen, wenn dies nachvollziehbar begründet wird. Nach Ansicht des BVerfG hat die EMRK keinen absoluten Vorrang. Die „schematische ,Vollstreckung‘“ 547 verbiete sich genauso wie die Nichtberücksichtigung der Urteile des EGMR. Die Behörden und Gerichte können von der Auslegungsentscheidung des EGMR abweichen, wenn sie die Entscheidung erkennbar zur Kenntnis genommen und sich inhaltlich mit ihr auseinandergesetzt haben und ihre Abweichung nachvollziehbar begründen.548 Das BVerfG nennt drei Konstellationen, die als besonders sensibel gelten und ein Abweichen von der Rechtsprechung des EGMR rechtfertigen können. Hierzu zählen mehrpolige Grundrechtsverhältnisse und ausbalancierte Teilrechtsverhältnisse, wie beispielsweise im Familien- und Ausländerrecht oder beim Schutz der Persönlichkeit,549 sowie die Änderung der Tatsachenbasis und der Verstoß gegen das nationale Verfassungsrecht.550 Obwohl das Grundgesetz die Eingliederung Deutschlands in die friedliche Staatengemeinschaft anstrebe, „verzichte [es] aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegenden Souveränität“; die „tragende[n] Grundsätze der Verfassung“ seien in jedem Fall zu wahren.551 ee) Bestätigung der Berücksichtigungspflicht: Urteil des BVerfG zur Sicherungsverwahrung Das BVerfG bestätigte und ergänzte die Grundsätze zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung aus dem Jahr 2011.552 Nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§§ 66 ff. StGB) kann die 545 FAZ v. 20. Oktober 2004, S. 1 („Karlsruhe: Völkerrechtsfreundlichkeit hat Grenzen“); Der Spiegel Nr. 47 v. 15.11.2004, S. 50: Gespräch mit dem Präsidenten des EGMR Wildhaber („Das tut mir weh“). 546 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü (Teil 3 Fn. 537), Rn. 47. 547 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 47. 548 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 50. 549 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 50 und Rn. 57 ff. 550 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 62. 551 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 35. 552 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, NJW 2011, S. 1931 ff. Zu dieser Entscheidung: Peglau, NJW 2011, S. 1924 ff.; Hörnle, NStZ 2011, S. 488 ff.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Sicherungsverwahrung unter bestimmten Voraussetzungen neben der Strafe angeordnet werden, wenn ein Täter infolge seines Hanges zu Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bis ins Jahr 1998 sah das StGB vor, dass die Unterbringung eines Täters in der Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren für erledigt zu erklären ist. Durch Gesetz vom 26. Januar 1998 hob der Gesetzgeber diese zeitliche Begrenzung auf (§ 67d Abs. 3 S. 1 StGB). Die Entfristung entfaltet gemäß § 2 Abs. 6 StGB auch Wirkung für die Sicherungsverwahrten, bei deren Anlasstat und Verurteilung noch die Zehn-Jahres-Höchstfrist gegolten hatte. Im Jahr 2004 führte der Bundesgesetzgeber die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung ein (§ 66b StGB), die es ermöglicht, die Unterbringung eines bereits Verurteilten anzuordnen, wenn erst nach der Verurteilung Tatsachen erkennbar werden, aus denen sich seine besondere Gefährlichkeit ergibt. Nachdem das BVerfG mit Urteil vom 5. Februar 2004553 die Entfristung der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt hat, griff der Betroffene die Entscheidung erfolgreich vor dem EGMR an. Der EGMR stufte die Sicherungsverwahrung trotz der gesetzlich vorgesehenen Zweispurigkeit des Sanktionssystems wegen der ähnlichen Vollzugspraxis als „Strafe“ im Sinne der Konvention ein und stellte eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK und des Grundsatzes nulla poenem sine lege gemäß Art. 7 Abs. 1 EMRK fest.554 In der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung im Jahr 2011 musste sich das BVerfG mit der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. In der Sache ging es um die verbundenen Verfassungsbeschwerden von vier Beschwerdeführern. Zwei von ihnen, gegen die die Unterbringung bereits in den Jahren 1991 und 1995 angeordnet worden war, wandten sich gegen gerichtliche Beschlüsse, mit denen ihre Anträge auf Entlassung aus der Sicherungsverwahrung nach zehnjähriger Unterbringungsdauer abgelehnt worden waren. Die anderen Beschwerdeführer wandten sich gegen ihre nachträgliche Unterbringung in die Sicherungsverwahrung. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass die nachträgliche Verlängerung bzw. die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung sie in ihren Grundrechten verletzt und beriefen sich zur Begründung auch auf die Entscheidung des EGMR. Im Lichte der Rechtsprechung des EGMR hat das BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2011 die Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Das BVerfG stellte zunächst klar, dass die Entscheidungen des EGMR im Rahmen der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind und eine rechtserhebliche Änderung begründen können, die das Prozesshin553

BVerfG, Urteil vom 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01 –, BVerfGE 109, 133–190. EGMR, Urteil v. 17.12.2009 – M./Deutschland, Nr. 19359/04, NJW 2010, S. 2495 ff. 554

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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dernis der entgegenstehenden Rechtskraft entfallen lässt.555 Die Zulässigkeit der Entscheidung scheiterte daher nicht an dem Umstand, dass das BVerfG bereits 2004 die einschlägigen Normen für verfassungsgemäß erklärt hatte. Die Verfassungsbeschwerden waren auch begründet, da die streitgegenständlichen Regelungen mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V. m. Art. 104 Abs. 1 GG (Freiheit der Person) unvereinbar waren. Unter Berücksichtigung der Wertungen des Art. 7 Abs. 1 EMRK präzisierte das BVerfG in seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung als schuldunabhängiger präventiver Freiheitsentzug zu stellen sind und die sich nach dem sog. „Abstandsgebot“ 556 von einer Strafe qualitativ unterscheiden.557 Nach Ansicht des BVerfG entsprachen die vorhandenen Bestimmungen nicht diesen Anforderungen. Darüber hinaus sah das BVerfG in der gerichtlichen Verlängerung bzw. nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung einen Verstoß gegen die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG i.V. m. Vertrauensschutz. Das BVerfG betonte, dass der Vertrauensschutz hierbei durch die Wertungen der Art. 7 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 EMRK verstärkt werde und sich dadurch einem absoluten Vertrauensschutz annähere.558 Eine Verlängerung bzw. nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung sei daher nur dann verhältnismäßig, wenn der Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hohe Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aufgrund konkreter Anhaltspunkte in der Person bzw. dem Verhalten des Untergebrachten anzunehmen ist und die Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK auf einer gegenwärtigen psychischen Störung und der sich daraus ergebenden Gefährlichkeit beruht und ihrer Art nach der psychischen Störung Rechnung trägt.559 Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG (keine Strafe ohne Gesetz) verneinte das BVerfG jedoch, da es anders als der EGMR die Sicherungsverwahrung nicht als Strafe einordnete und sich an den Strafbegriff der Konvention nicht gebunden sah.560 Insgesamt bekräftigte das BVerfG in der Entscheidung zur Sicherheitsverwahrung die im Rahmen der Görgülü-Entscheidung herausgebildeten Grundsätze und bemühte sich, die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes herauszuarbeiten.561

555

BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 81, 82. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 100 557 Zu den von dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Regelungskonzepts für die Sicherungsverwahrung zu beachtenden Aspekten, siehe BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 111–118. 558 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 138. 559 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 156. 560 BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. 142. 561 So auch Mayer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl., Einleitung, Rn. 88. 556

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Das BVerfG betonte die „faktische Orientierungs- und Leitfunktion“ der EGMRRechtsprechung mit Wirkung über den Einzelfall.562 Diese habe zur Folge, dass das BVerfG die Entscheidungen des EGMR auch dann berücksichtige, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Ferner stellte das BVerfG klar, dass „das ,letzte Wort‘ der Verfassung einem europäischen und internationalen Dialog der Gerichte nicht entgegensteht“, sondern als dessen normative Grundlage zu verstehen sei.563 Das BVerfG zeigte aber erneut die Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit auf und stellte klar, dass die Heranziehung der EMRK nicht auf eine „schematische Parallelisierung“ 564 einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe mit denen der EMRK gerichtet sei. Der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz dürfe nicht eingeschränkt werden, was vor allem im Zusammenhang mit mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zu beachten sei.565 Der Grundsatz der konventionsfreundlichen Auslegung gelte daher nur im Rahmen der methodisch vertretbaren Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation; eine „unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe“ 566 verbiete sich. Geeigneter Anknüpfungspunkt, um die Wertungen des EGMR in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen, ist nach Ansicht des BVerfG aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der bei einem Eingriff in die Grundrechte und der Abwägung widerstreitenden Verfassungsgütern zu beachten ist.567 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist damit das Einfallstor, das genug Beweglichkeit bietet, um das Konventionsrecht in der Auslegung des EGMR schonend in das nationale Recht und in die Spruchpraxis der nationalen Gerichte einfließen zu lassen. c) Frankreich Obwohl Frankreich zu den ersten Unterzeichnern der Konvention zählte, ratifizierte es die Konvention erst 24 Jahre später im Jahr 1974; das Individualbeschwerderecht wurde erst 1981 durch Frankreich anerkannt.568 Folglich konnte die EMRK in Frankreich erst ab den 1970er Jahren Anwendung finden. aa) Das späte Akzept eines Vorrangs der EMRK vor nachfolgenden nationalen Gesetzen In Art. 55 der französischen Verfassung wird der Vorrang der EMRK gegenüber entgegenstehenden nationalen Rechtsnormen normiert.569 Frankreich ver562 563 564 565 566 567 568

BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. BVerfG, Urteil v. 4.5.2011 – Sicherungsverwahrung, a. a. O., Rn. Siehe die Ausführungen unter Teil 1 A. III. 1.

89. 89. 86. 93. 94. 94.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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folgt damit – anders als das Vereinigte Königreich und Deutschland – einen monistischen Ansatz. Trotz dieser klaren Regelung in der Verfassung haben sich die französischen Gerichte lange Zeit geweigert, nationale Bestimmungen anhand völkerrechtlicher Verträge zu überprüfen und der EMRK den Vorrang gegenüber einem nationalen Gesetz im Kollisionsfall einzuräumen.570 Entsprechendes galt für alle untergesetzlichen Regelungen, die in Anwendung des fraglichen Gesetzes ergangen sind (Theorie „Loi-écran“).571 Die EMRK spielte zunächst eine untergeordnete Rolle in der nationalen Rechtsprechung. In der Überzeugung, dass das nationale Recht im Einklang mit der Konvention steht, wurden Bezugnahmen auf die EMRK für nicht erforderlich gehalten.572 Eine Wende leitete die Entscheidung des französischen Verfassungsgerichts (Conseil Constitutionnel) aus dem Jahr 1975 ein, in dem der Kläger einen Verstoß des Abtreibungsgesetzes gegen Art. 2 EMRK geltend machte.573 Der Conseil Constitutionnel verneinte seine Zuständigkeit zur Kontrolle der völkerrechtlichen Verträge und erklärte, dass ihm allein die Kontrolle der Verfassung (contrôle de constitutionnalité), nicht aber die Kontrolle völkerrechtlicher Verträge (contrôle de conventionalité) obliege. Er überprüfte das Abtreibungsgesetz daher nicht anhand der EMRK, sondern allein anhand der nationalen Bestimmungen. Indem der Conseil Constitutionnel für sich eine Kontrollmöglichkeit ausschloss, ermunterte er die ordentlichen Gerichte, die Kontrolle völkerrechtlicher Verträge zu übernehmen und die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der EMKR zu überwachen.574 Der Cour de Cassation als höchstes Gericht der französischen Zivilgerichtsbarkeit folgte dieser Aufforderung umgehend und anerkannte noch im gleichen Jahr den Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber widersprechender Normen des einfachen Gesetzesrechts.575 Seither hat der Kassationshof in zahlreichen Urteilen seinen Willen verdeutlicht, die Einhaltung der Konven-

569 Art. 55 der franz. Verf.: „Les traités ou accords régulièrement ratifiés ou approuvés ont, dès leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l’autre partie.“ In deutscher Übersetzung abgedruckt in: Kimmel, A./Kimmel, C., Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 181. 570 Dupré, in: Blackburn/Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, France, S. 317. 571 Lambert-Abdelgawad/Weber, Reception Process France, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 138. 572 Lambert-Abdelgawad/Weber, Reception Process France, a. a. O., S. 128. 573 CC, Entscheidung Nr. ë74-54 DC v. 15.1.1975 – Loi relative à l’interruption volontaire de la grossesse. Die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel sind abrufbar unter: (Décisions), Stand: 30.9.2015. 574 Dupré, France, in: Blackburn/Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe 2001, S. 314. 575 Cass. Crim., Entscheidung v. 3.6.1975 – Respino. Die Entscheidungen des Cour de Cassation sind abrufbar unter , Stand: 30.9.2015.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

tionsgarantien sicherzustellen. Am häufigsten wird hierbei auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) zurückgegriffen.576 Dagegen dauerte es fünfzehn Jahre bis auch der Conseil d’Etat als oberstes französisches Verwaltungsgericht in der Entscheidung Nicolo vom 20. Oktober 1989 akzeptierte, die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit einem früher in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertrag zu überprüfen.577 bb) Autonome Auslegung und Rechtsprechungsdivergenzen In der Folge dieser Entscheidungen begannen die Gerichte die EMRK zu berücksichtigen, legten sie aber autonom aus, ohne auf die Rechtsprechung des EGMR Rekurs zu nehmen.578 Erst in jüngerer Zeit sind systematische Bezugnahmen auf die Konvention in der Auslegung durch den EGMR durch die nationalen Gerichte zu erkennen.579 Insbesondere in Fällen, in denen Frankreich nicht Partei des Verfahrens war, sehen sich die französischen Richter bei der Auslegung der Konvention nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden, auch wenn diese regelmäßig berücksichtigt wird, um einer potentiellen Verurteilung Frankreichs durch den EGMR vorzubeugen.580 Die Anpassung an die Rechtsprechungsvorgaben des EGMR fällt den französischen Gerichten in Bezug auf materielle Rechte dabei leichter als in Hinblick auf prozedurale Rechte.581 In einigen Fällen sind der Conseil d’Etat und der Cour de Cassation bewusst von der Rechtsprechung des EGMR in einer bestimmten Frage abgewichen.582 Ein Beispiel betrifft die Auseinandersetzung um die Rolle des Generalanwalts am Conseil d’Etat (commissaire du gouvernement). Aufgabe des commissaire du gouvernement ist, den Richter bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen und am Schluss der mündlichen Verhandlung in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit einen Vorschlag für das Urteil in Form von Schlussanträgen zu stellen. 576

Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit, in: IPE II, § 15 Frankreich, Rn. 45. CE (Assemblée), Urteil v. 20.10.1989 – Nicolo. Die Urteile des Conseil d’Etat sind abrufbar unter , Stand: 30.9.2915. Der französische Originaltext der Entscheidung Nicolo mit den Schlussanträgen des Regierungskommissars Patrick Frydman und einer Anmerkung von Guy ist abgedruckt in: Rev.trim. dr.europ. 25 (1989), S. 771 ff. 578 Lambert-Abdelgawad/Weber, Reception Process France, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 138; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 302. 579 Lambert-Abdelgawad/Weber, Reception Process France, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 139. 580 Fromont, DÖV 58 (2005), S. 1(8); Krisch, The Modern Law Review, 2008, S. 192. 581 Lambert-Abdelgawad/Weber, Reception Process France, in: Keller/Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 130. 582 Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit, in: IPE II, § 15 Frankreich, Rn. 47. 577

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Obwohl der EGMR die Unabhängigkeit und Neutralität des commissaire du gouvernement nicht anzweifelte, sah er in seinem Urteil Kress ./. Frankreich583 in der Beteiligung des Generalanwalts an den Beratungen der Kammer einen Verstoß gegen das Recht auf faires Verfahren. Durch die öffentliche Äußerung der Rechtsmeinung könne der Generalanwalt aus Sicht der Parteien nicht mehr als neutral bezeichnet werden, vielmehr werde eine objektive Parteilichkeit begründet.584 Frankreichs Versuch, zumindest eine passive Teilnahme des commissaire du gouvernement in den Urteilsberatungen aufrechtzuerhalten, führte zu einer erneuten Verurteilung durch den EGMR.585 Mit dem Dekret vom 1. August 2006 führte Frankreich daraufhin eine neue Regelung in sein Verwaltungsverfahrensrecht ein, nach der die Parteien jederzeit verlangen können, dass der commissaire du gouvernement nicht an den Urteilsberatungen teilnimmt.586 Das Ministerkomitee587 und der EGMR588 würdigten diese Änderungen als ausreichend. Um auch sprachlich nicht den Anschein einer Parteilichkeit aufkommen zu lassen, wurde die Bezeichnung des commissaire du gouvernement („Regierungskommissar“) abgeschafft und die Bezeichnung des rapporteur public („öffentlicher Berichterstatter“) eingeführt.589 d) Italien Italien ratifizierte die EMRK am 26. Oktober 1955. Da Italien von einem dualistischen Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht ausgeht, können internationale Vereinbarungen innerstaatlich erst angewandt werden, wenn sie 583

EGMR, Urteil v. 7.6.2001, Kress ./. Frankreich (GK), Nr. 39594/98. So schon die Rechtsprechung des EGMR zu dem vergleichbaren Rechtsinstitut in Belgien (EGMR, Urteil v. 30.10.1991, Borgers ./. Belgien, Nr. 39/1990/230/296, EuGRZ 1991, S. 519; EGMR, Urteil v. 20.2.1996, Vermeulen ./. Belgien, Nr. 19075/ 91), deren Übertragung auf den französischen Generalanwalt der Cour de Cassation in seinem Urteil Esclantine, (Urteil v. 29.6.1998, Slg. 1998, 320, Schlussanträge des Regierungskommissars Chauvaux) noch abgelehnt hat. 585 EGMR (GK), Urteil v. 12.4.2006 – Martinie ./. Frankreich, Nr. 5867/00. 586 Art. R 733-3: „Sauf demande contraire d’une partie, le commissaire du gouvernement assiste au déliberé. Il n’y prend pas part. La demande prévue à l’alinéa précédent est présentée par écrit. Elle peut l’être à tout moment de la procédure avant le déliberé.“ 587 Résolution CM/ResDH(2007)44 des Ministerkomitees („Execution of the judgments of the European Court of Human Rights in the case of Kress against France and in 5 other cases concerning the right to a fair trial before the Conseil d’Etat („participation of the Government Commissioner in the deliberations“), angenommen am 20.4. 2007 anlässlich der 992. Sitzung des Ministerkomitees, abrufbar unter (Decisions and Resolutions/Volumes of Human Rights Resolutions), Stand: 30.9.2015. 588 EGMR, Urteil v. 15.9.2009, Etienne ./. Frankreich, Nr. 11396/08. 589 Vgl. Décret Nr. 2009-14 v. 7.1.2009, relative au rapporteur public des juridictions administratives et au déroulement de l’audience devant ces juridictions, abrufbar unter: , Stand: 30.9.2015. 584

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

durch ein Parlamentsgesetz eingeführt wurden.590 Durch Gesetz Nr. 848 vom 4. August 1955 wurde die EMRK in das innerstaatliche Recht inkorporiert.591 Nach der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts und des Kassationsgerichts als höchstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat die EMRK einfachen Gesetzesrang.592 In Italien gab es deshalb eine lange Auseinandersetzung hinsichtlich der Frage, ob die Konvention durch nachfolgende nationale Gesetzgebung geändert werden kann. Der mit der Verfassungsreform von 2001 neu eingeführte Art. 117 Abs. 1 der italienischen Verfassung593 enthält aber nunmehr die eindeutige Verpflichtung, die EMRK voll und effektiv umzusetzen.594 aa) Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR Bei der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR legten die italienischen Richter die Konvention zunächst autonom aus und sahen sich nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden. Vielmehr vertraten sie die Auffassung, dass die Rechtsprechung des EGMR nur maßgeblich zu berücksichtigen (autorevole precedenza) sei.595 Eine Abweichung der italienischen Rechtsprechung von der Rechtsprechung des EGMR wurde in den italienischen Urteilen deutlich, die die Anwendung des Gesetzes zur gerechten Wiedergutmachung im Fall der Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer („Pinto Gesetz“)596 betrafen.597 Dieses Gesetz sieht einen Anspruch auf Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer vor. In dem Fall Scordino bemängelte der EGMR, dass die Höhe der durch das italienische Gericht gewährten Entschädigung in keinem Zusammenhang mit der Rechtspre590 Soriano, Reception Process in Italy, in: Keller/Stone Sweet, A Europe of Rights, S. 393 (404 f.). 591 Riz, ZStW 100 (1988), S. 645. 592 Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, S. 305 f. 593 Art. 117 Abs. 1 der italienischen Verfassung, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Kimmel, A./Kimmel, C., Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 307, lautet: „Die gesetzgebende Gewalt wird vom Staat und den Regionen unter Beachtung der Verfassung wie auch der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und den internationalen Verpflichtungen ergebenden Bindungen ausgeübt.“ 594 Soriano, Reception Process in Italy, in: Keller/Stone Sweet, A Europe of Rights, S. 393 (405). 595 Oellers-Frahm, in: Bröhmer (Hrsg.), FS Ress, S. 1027 (1035). 596 Der Name des Gesetzes geht zurück auf den Senator, der es vorgeschlagen hat, Oellers-Frahm, in: Bröhmer (Hrsg.), FS Ress, S. 1027 (1028). 597 Gesetz vom 24.3.2001, Nr. 89 („Previsione di equa riparazione in caso di violazione del termine ragionevole del processo e modifica dell’articolo 375 del codice di procedura civile“), Gezzetta Ufficiale Nr. 78 vom 3.4.2001, abrufbar unter: , Stand: 30.9.2015.

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chung des EGMR stehe, der in vergleichbaren Fällen eine zehnmal höhere Entschädigung zugesprochen hatte. Auch wenn die nationalen Gerichte einen Beurteilungsspielraum haben, hob der EGMR hervor, dass sie seine Rechtsprechungspraxis befolgen und Entschädigung in vergleichbarer Höhe gewährleisten müssen.598 In Reaktion auf diese Kritik wurden knapp drei Monate nach der Entscheidung Scordino vor den Vereinigten Zivilsektionen599 zwei Fälle anhängig gemacht, die eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR und ihrer Bedeutung im nationalen Recht erforderten. Die Stellungnahme der Vereinigten Zivilsektionen erfolgte in den Entscheidung Nr. 1339 und Nr. 1340 vom 26. Januar 2004.600 In der Entscheidung Nr. 1339 stellte das Corte di Cassazione fest, dass die italienischen Richter sich nach der Rechtsprechung des EGMR richten müssen. Die Grenze der Pflicht zur konventionsrechtskonformen Auslegung bilde der Wortlaut des Gesetzes.601 bb) Kontrolle der Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit der Konvention durch das italienische Verfassungsgericht Das Verfassungsgericht nahm in den Urteilen Nr. 348 und Nr. 349 vom 24. Oktober 2007 Stellung602 und hat zum ersten Mal ein italienisches Gesetz aufgrund einer Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK für verfassungswidrig erklärt. Dabei stützte sich das Gericht auf Art. 117 Abs. 1 der italienischen Verfassung, der durch die Verfassungsreform von 2001 neu eingeführt worden war. Nach dieser Norm müssen nationale Gesetze im Einklang mit dem Völkerrecht stehen. Verstößt ein Gesetz gegen diesen Grundsatz, verstößt es gleichzeitig gegen die nationale Verfassungsnorm, die diesen Grundsatz aufstellt.603 Das Verfassungsgericht bestätigt die Rechtsprechung des Corte di Cassazione, wonach die Konventionsbestimmungen in der Auslegung durch den EGMR heranzuzie-

598 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung v. 27.3.2003 – Scordino u. a. ./. Italien (Nr. 1), Nr. 36813/97. 599 Eine Vorlage an die Vereinigten Sektionen erfolgt, wenn abweichende Ansichten zwischen den Sektionen oder einer Grundsatzfrage im Zivilrecht bestehen, Art. 374 und 376 it. ZPO und Art. 618 it. StPO. 600 Oellers-Frahm, in: Bröhmer (Hrsg.), FS Ress, S. 1027 (1042) m.w. N. 601 Oellers-Frahm, in: Bröhmer (Hrsg.), FS Ress, S. 1027 (1043). 602 Corte Constituzionale, Sentenza Nr. 348 vom 22.–24.10.2007 und Corte Constituzionale, Sentenza Nr. 349, jeweils vom 22.–24.10.2007 und veröffentlicht in Gazetta Ufficiale (Serie speziale Corte Consituzionale) Nr. 42 vom 31.10.2007, verfügbar unter , Stand: 30.9.2015. 603 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit betraf die Artikel 5-bis des Gesetzesdekret Nr. 333 decreto-legge vom 11.7.1991, vgl. Corte Constituzionale, Sentenza Nr. 348, a. a. O., Massima numero 31711.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

hen sind.604 Nach Auffassung des italienischen Verfassungsgerichts stellt Art. 177 Abs. 1 der italienischen Verfassung zugleich die Verpflichtung auf, das nationale Recht im Einklang mit internationalen Bestimmungen auszulegen. Wenn dies nicht möglich sei, müsse die Sache vor das Verfassungsgericht gebracht werden, um eine Erklärung der Verfassungswidrigkeit der fraglichen Bestimmung zu erhalten.605 Die Kontrolle der Konventionskonformität der nationalen Gesetze wird damit beim Verfassungsgericht zentriert. Nationale Gerichte dürfen konventionswidrige Gesetze nicht unangewendet lassen; sie müssen zuvor eine Entscheidung des Verfassungsgerichts einholen.606 cc) Übertragung der controlimiti-Lehre? Das italienische Verfassungsgericht überprüft aber nicht nur die Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit der Konvention, es erklärt sich außerdem dazu befugt, die Konventionsbestimmungen in ihrer Auslegung durch den EGMR auf ihre Vereinbarkeit mit der italienischen Verfassung zu überprüfen.607 Das Verfassungsgericht scheint hier seine Rolle als Hüter der italienischen Verfassung absichern zu wollen.608 Bereits im Zusammenhang mit dem Unionsrecht, insbesondere im Zusammenhang mit der Entscheidung Granital,609 hat das Verfassungsgericht festgestellt, dass Art. 11 der italienischen Verfassung Beschränkungen der Souveränität nur unter der Voraussetzung zulässt, dass ein Verstoß gegen die unverletzlichen Menschenrechte (diritti inviolabili dell’uomo) des Art. 2 der italienischen Verfassung ausgeschlossen ist.610 Anknüpfungspunkt für den Kontrollvorbehalt des Verfassungsgerichts nach dieser sog. controlimiti-Lehre ist das Zustimmungsgesetz zum europäischen Vertrag und der darin enthaltene Befehl zur Anwendung des 604

Mirate, Eur Publ Law 15, (2009), S. 89 (99). Soriano, Reception Process in Italy, in: Keller/Stone Sweet, A Europe of Rights, S. 393 (406). 606 Mirate, Eur Publ Law 15, (2009), S. 89 (100). 607 Corte Constituzionale, Sentenza Nr. 348 vom 22.–24.10.2007, a. a. O., Massima numero 31715. 608 Mirate, Eur Publ Law 15, (2009), S. 89 (101). 609 Siehe insbesondere die Entscheidung des Sent. n. 170/1984 v. 8.7.1984, Granital II, Foro Italiano 1984 I, 2062, engl. Übersetzung in: CMLRev. 21 (1984), S. 756 mit Anm. G. Gaja, S. 764. 610 Art. 11 der italienischen Verfassung lautet: „(. . .) Unter der Bedingung der Gleichstellung mit den anderen Staaten stimmt es [Italien] Souveränitätsbeschränkungen zu, die für eine Ordnung notwendig sind, welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet (. . .)“. Art. 2 der italienischen Verfassung lautet: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet; (. . .)“. In deutscher Übersetzung abgedruckt in: Kimmel, A./Kimmel, C., Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 289 und 290. 605

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europäischen Rechts.611 Liegt ein Verstoß gegen die unverletzlichen Menschenrechte vor, erfolgt aber nicht die Aufhebung des Rechtsanwendungsbefehls insgesamt, sondern nur in Bezug auf die Norm, die mit der nationalen Verfassung in Widerspruch steht. Der Eintritt der Norm in das italienische Rechtssystem wird damit verhindert. Von dieser Möglichkeit soll nach Ansicht des Verfassungsgerichts aber nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden.612 Das Verfassungsgericht scheint diese controlimiti-Lehre nun auf das Verhältnis zur EMRK zu übertragen.613 In seinem Urteil Nr. 349 geht es aber davon aus, dass die Frage nach den Grenzen der Implementierung der Konventionsbestimmungen im Zusammenhang mit der EMRK keine zentrale Rolle spielen wird, da sie nur auf einen Mindeststandard abzielt.614 e) Russland Das russische Parlament hat am 5. Mai 1998 die EMRK ratifiziert.615 Die ehemalige Sowjetunion war darauf bedacht, ihre staatliche Souveränität vor Eingriffen von außen zu schützen und zeigte sich zurückhaltend, was die Übernahme von völkerrechtlichen Verpflichtungen in das nationale Recht betraf.616 Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich die nationale Rechtsordnung dem Völkerrecht. Schlüsselnorm für die Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen in die russische Rechtsordnung ist Art. 15 Abs. 4 VerfRF, wonach „[d]ie allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts und die völkerrechtlichen Verträge der Russischen Föderation (. . .) Bestandteil ihres Rechtssystems“ sind. Die Norm bestimmt weiter, dass soweit „ein völkerrechtlicher Vertrag der Rußländischen Föderation andere Regeln fest[legt] als die gesetzlich vorgesehenen, so werden die Regeln des völkerrechtlichen Vertrages angewandt“.617 Die überwiegende Ansicht russischer Rechtsgelehrter sieht in dieser Norm ein Bekenntnis zum Monismus.618

611 Panara, Offene Staatlichkeit, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), IPE II, § 18 Italien, Rn. 34. 612 Panara, Offene Staatlichkeit, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), IPE II, § 18 Italien, Rn. 34. 613 Mirate, Eur Publ Law 15, (2009), S. 89 (101 f.). 614 Mirate, Eur Publ Law 15, (2009), S. 89 (102). 615 Schirinsky, Umsetzung der Verfahrensgarantien aus Art. 6 EMRK in der russischen Rechtsordnung, S. 30. 616 Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsfreiheit?, S. 327. 617 Russische Verfassung in der am 12.12.1993 durch Referendum angenommenen Fassung, Text veröffentlicht in Rossijskaja Gasjeta v. 11.11.1993. Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: EuGRZ 1994, S. 519 ff. 618 Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 23, Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (616) m.w. N.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

aa) Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Rang der EMRK im nationalen Recht Während der Vorrang der EMRK gegenüber Bundesgesetzen, die mit einfacher Mehrheit angenommen wurden, im Kollisionsfall gemäß Art. 15 Abs. 4 S. 2 VerfRF anerkannt ist, besteht Uneinigkeit, ob die EMRK auch Vorrang gegenüber sog. Bundesverfassungsgesetzen entfalten kann.619 Es handelt sich hierbei um bundesweite Gesetze, die besondere Aspekte der verfassungsrechtlichen Ordnung betreffen und spezifische Mehrheiten in beiden Parlamentskammern benötigen.620 Sie stehen im Rang über den einfachen Bundesgesetzen (Art. 76 Abs. 3 VerfRF), aber unterhalb der Verfassung (Art. 15 Abs. 1 VerfRF). Ein Vorrang der EMRK gegenüber der Verfassung wird ganz überwiegend verneint.621 Nach Art. 15 Abs. 1 S. 2 VerfRF dürfen „Gesetze und andere Rechtsakte, die in der Rußländischen Föderation verabschiedet werden, (. . .) der Verfassung der Rußländischen Föderation nicht widersprechen“.622 Zugunsten der herrschenden Auffassung spricht, dass unter den Begriff „andere Rechtsakte“ im Sinne dieser Norm auch völkerrechtliche Verträge subsumiert werden können.623 Nach der Ansicht einiger russischer Rechtsgelehrter stehen die Verfassung und die Konvention in der Normenhierarchie auf derselben Stufe.624 Begründet wird dies damit, dass die Konventionsgewährleistungen als allgemein anerkannte Prinzipien und Normen des Völkerrechts im Sinne des Art. 17 VerfRF ausgelegt werden können.625 Vereinzelt wird diese Norm sogar im Sinne eines Überverfassungsrangs der EMRK interpretiert. Der Ansatz gilt aber als gewagt und hat keine Bestätigung in der Rechtsprechungspraxis gefunden.626 bb) Die Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR in der Theorie Das Oberste Gericht als höchstes Organ der ordentlichen Gerichtsbarkeit und das Oberste Arbitragegericht als höchstes zur Entscheidung über Wirtschaftsstreitigkeiten berufene Organ können Erläuterungen zu Fragen der Rechtspre619

Hussner, Die Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 49 f. Bei den beiden Parlamentskammern handelt es sich um den Bundesrat und die Staatsduma, vgl. Art. 95 VerfRF. Zum Begriff der Bundesverfassungsgesetze siehe Hussner, Die Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 44, Fn. 297. 621 Hussner, Die Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 51 f. m.w. N. 622 Art. 15 Abs. 1 S. 2 VerfRF. Zur deutschen Übersetzung siehe Teil 3 Fn. 617. 623 Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (617). 624 Nußberger, The Reception Process in Russia, S. 603 (618) m.w. N. 625 Art. 17 Abs. 1 VerfRF (siehe Teil 3 Fn. 617) lautet: „In der Rußländischen Föderation werden die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers entsprechend den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit dieser Verfassung anerkannt und garantiert.“ 626 Danilenko, EJIL 10 (1999), S. 64 („very bold proposition“). 620

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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chung und der Gerichtspraxis erteilen,627 die für die unteren Gerichte bindend sind.628 Von besonderer Bedeutung ist die Erläuterung des Obersten Gerichts aus dem Jahr 2003 zur Anwendung der allgemeinen anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts und der völkerrechtlichen Verträge durch die Gerichte der nationalen Gerichtsbarkeit in Russland (nachfolgend: „Erläuterung 2003“).629 Hierin führte das Oberste Gericht aus, dass die Richter bei der Anwendung der Konvention die Auslegung durch den EGMR berücksichtigen sollen und dass Urteile, die einen völkerrechtlichen Vertrag nicht anwenden, aufgehoben werden können.630 Zur Umsetzung der Entscheidungen des EGMR hat das Verfassungsgericht in der Entscheidung im Zusammenhang mit den Art. 371, 374 und 384 der russischen Strafprozessordnung das Folgende ausgeführt: „decisions of inter-states organs [concerned with the protection of human rights and freedoms] may lead to the reconsideration of specific cases by the highest courts of the Russian Federation and, consequently, establish their competence with respect to the institution of new proceedings aimed at changing the previously rendered decisions, including decisions handed down by the highest domestic judicial instance.“ 631

Mit diesen Ausführungen, die auf einer neuen Auslegung des Art. 46 VerfRF632 basieren, begründet das Verfassungsgericht eine Verpflichtung für die nationalen Gerichte, die Entscheidungen des EGMR unmittelbar innerstaatlich anzuwenden.633 Das Urteil des russischen Verfassungsgerichts ist bindend.634 cc) Die Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR in der Rechtsprechungspraxis Nach den nationalen Bestimmungen und der Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts ist die Konvention Bestandteil der russischen Rechtsordnung und unmittelbar in der Auslegung durch den EGMR anzuwenden. Dieser völkerrechtsfreundliche Ansatz spiegelt sich jedoch nicht in der Rechtsprechungspraxis 627 Siehe Art. 126 VerfRF für das Oberste Gericht und Art. 127 VerfRF für das Oberste Arbitragegericht. Zur deutschen Übersetzung der VerfRF siehe: Teil 3 Fn. 617. 628 Burkov, Impact of the ECHR on the Russian Law, S. 28. 629 Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 29. 630 Burkov, ebenda; Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (652). 631 VKS, 1996, Nr. 2 at.2, zitiert (in englischer Sprache) in: Danilenko, EJIL 10 (1999), S. 68. 632 Art. 46 Abs. 3 VerfRF (Fn. 1179) lautet: „Jeder ist berechtigt, sich gemäß den völkerrechtlichen Verträgen der Rußländischen Föderation an die zwischenstaatlichen Organe zum Schutz der Menschenrechte und -freiheiten zu wenden, wenn alle bestehenden innerstaatlichen Mittel des Rechtsschutzes ausgeschöpft sind.“ 633 Danilenko, EJIL 10 (1999), S. 51 (68). 634 Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 28.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

wider. Nach einer Studie von Burdov hat das Oberste Gericht nur in zwölf von insgesamt 3.911 Urteilen, die in einem Zeitraum von Mai 1998 bis August 2004 erlassen wurden, die Konvention erwähnt. Auch in diesen zwölf Fällen beschränkte sich die Bezugnahme regelmäßig auf die Benennung der einschlägigen Konventionsbestimmung. Auf die Rechtsprechung des EGMR nahmen die Urteile keinen Bezug.635 Ähnlich verhält es sich nach Burdov mit den Arbitragegerichten, die über Wirtschaftsstreitigkeiten entscheiden. Von insgesamt 38.068 Urteilen sei nur in 23 Fällen die EMRK erwähnt worden. In acht von diesen Entscheidungen sei die einschlägige Konventionsbestimmung nur benannt worden, ohne auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug zu nehmen. In den anderen 15 Fällen seien die von den Parteien vorgenommenen Bezugnahmen auf die Konventionsgarantien lediglich wiedergegeben worden, ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung stattgefunden habe.636 Besser sieht es nach der Burdov-Studie beim Russischen Verfassungsgericht aus. Das Russische Verfassungsgericht habe bereits vor der Ratifikation der EMRK durch Russland begonnen, die EMRK anzuwenden und im Jahr 1996 erstmals auf die EMRK Bezug genommen. Bis August 2004 sei in 54 von insgesamt 215 Urteilen des Verfassungsgerichts die EMRK zitiert worden.637 In zwölf der Fälle, in denen die Konvention zitiert wurde, habe das Verfassungsgericht auch die Rechtsprechung des EGMR einbezogen. Die Analyse der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs sei aber kurz ausgefallen und habe im Wesentlichen der Untermauerung einer auf den nationalen Bestimmungen gestützten Argumentation gedient.638 Nach Ansicht Nußbergers ist aber eine Verbesserung in der Rechtsprechungspraxis des Verfassungsgerichts festzustellen. So habe das Verfassungsgericht in den Jahren 2005 und 2006 die EMRK in 16 von insgesamt 22 Entscheidungen zitiert. Davon habe es in zwölf Entscheidungen die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt, wobei die herangezogenen EGMR-Entscheidungen nicht nur Russland, sondern auch andere Konventionsstaaten betrafen.639 Insgesamt wird in der russischen Literatur die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR im innerstaatlichen Recht sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Verfassungsrichter betonen, dass die völkerrechtlichen Argumente nicht bloß der Bestätigung einer innerstaatlichen Rechtsposition dienen, sondern der Ermittlung der Reichweite der Verfassungsbestimmungen und der Herausarbeitung der der Verfassung zugrunde liegenden Ideen.640 Kritische Stimmen 635

Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 47. Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 66 f. 637 Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 36. 638 Burkov, Impact of the ECHR on Russian Law, S. 38. 639 Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (619) und Fn. 116. 640 Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (619 f.) m.w. N. 636

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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äußern, dass die Bezugnahmen auf das Völkerrecht lediglich die politische Funktion haben, den Entscheidungen der nationalen Gerichte im In- und Ausland zu einer größeren Legitimität zu verhelfen.641 Die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für die Russische Föderation wird als gering eingestuft.642 Ein Verfassungsrichter hat sogar die Auffassung vertreten, dass die Anerkennung der Rechtsprechung des EGMR im innerstaatlichen Recht zu einer Schwächung der russischen Verfassung und ihrer Wirkungskraft führen könne. Die nationalen Gerichte seien frei in der Entscheidung, ob und inwieweit sie einer Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs Folge leisten.643 dd) Verfassungsgerichtshof zum Rang der EMRK und der Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR im nationalen Recht In seinem Urteil I.V. Bogdanov und andere vom 25. Januar 2001, das die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Art. 1070 Abs. 2 der russischen Zivilprozessordnung betraf, hat der Verfassungsgerichtshof zu dem Status der EMRK und der Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR in der russischen Rechtsordnung wie folgt Stellung genommen: „[The Convention] is ratified by the Russian Federation and is in force in all its territory and, consequently, forms part of the domestic legal system. Furthermore, the Russian Federation accepted the jurisdiction of the European Court of Human Rights and undertook to render its law-enforcement practice, including judicial, in full conformity with the obligations flowing from the participation in the Convention and the Protocols thereto. . . . Consequently, the [challenged legislative provisions] should be considered and applied in consistent normative unity with the exigencies of [the Convention].“ 644

Die Ausführungen des Verfassungsgerichts legen nahe, dass die russischen Gerichte die Urteile des EGMR bei der Auslegung aller Konventionsbestimmungen beachten müssen.645 In seinem Urteil vom 5. Februar 2007, in dem das russische

641

Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 384 m.w. N. Marchenko, M. N., „Yuridicheskaya priroda i charakter resheniy Evropeyskogo Suda po pravam cheloveka“, Gosudarstvo I Pravo 2 (2006), 19, zitiert von Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (654). 643 Vitruk, „O nekotorykh osobennostyakh ispol’zovaniya resheniy Evropeyskogo Suda po pravam cheloveka v praktike Konstitutsionnogo Suda Rossiyskoy Federatsii i inykh sudov“, Sravnitel’noe konsituttsionnoe obozrenie 1 (2006), S. 83, zitiert von Nußberger, The Reception Process in Russia, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 603 (654). 644 Urteil des Verfassungsgerichts vom 25.1.2001 – I.V. Bogdanov and Others, Rn. 6, zitiert und übersetzt von Koroteev/Golubok, HRLR 2007, S. 619 (622 f.). 645 Koroteev/Golubok, HRLR 2007, S. 619 (623 f.). 642

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Verfassungsgericht sich mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK auseinandersetzen musste, korrigierte das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung wie folgt: „By ratifying [the Convention] the Russian Federation accepted the compulsory jurisdiction of the European Court of Human Rights on the matters of interpretation and application of the Convention and the Protocols thereto in cases of alleged violations by the Russian Federation of the provisions of these treaties (. . .) Consequently, [the Convention] and the judgments of the European Court of Human Rights – insofar as on the basis of generally recognised principles and norms of international law they give interpretation of the provisions of the Convention concerning the guaranteed rights (. . .) – form part of the Russian legal system and thus should be taken into account by the federal legislature (. . .) and by the law enforcement bodies (. . .)“.646

Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 5. Februar 2007 enthält einen deutlich restriktiveren Ansatz als das Urteil vom 25. Januar 2001. Die Rechtsprechung des EGMR soll nur insoweit relevant sein, als sie auf allgemein anerkannte Regeln und Normen des Völkerrechts beruht und materiell-rechtliche Gewährleistungen betrifft. Dadurch werden die Fälle ausgeschlossen, die Verpflichtungen nach Art. 34 EMRK (Recht der Individualbeschwerde) oder Art. 46 EMRK (Bindungswirkung der Urteile) betreffen. Während auf der Grundlage des Bogdanov-Urteils von einer Pflicht zur Beachtung der EMRK in der Auslegung des EGMR ausgegangen werden konnte, spricht das Urteil vom 5. Februar 2007 nur von einer Pflicht zur Berücksichtigung („uchityvat“). Die nationalen Gerichte haben die Urteile des EGMR demnach zur Kenntnis zu nehmen, sind aber in keiner Weise verpflichtet sie zu befolgen.647 Diesen Ansatz bestätigte das russische Verfassungsgericht jüngst in einer Entscheidung vom 14. Juli 2015. Das russische Verfassungsgericht behält sich vor, dass die nationalen Gerichte und Behörden ein Urteil des EGMR ausnahmsweise dann nicht vollstrecken müssen, wenn die Auslegung einer Konventionsbestimmung durch den EGMR grundlegenden Verfassungsgrundsätzen der Russischen Föderation widerspricht. In Einzelfällen könne sich der Vorrang der Verfassung somit gegenüber der Pflicht zur Befolgung der Urteile des EGMR durchsetzen. Das russische Verfassungsgericht weist zur Rechtfertigung dieses Ansatzes ausdrücklich auf die Ausführungen anderer oberster Gerichte zur Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung im innerstaatlichen Recht hin, unter anderem auf die Rechtsprechung im Vereinigten Königreich, in Italien und in Deutschland.648

646 Para. 2.1, Reasoning, Urteil v. 5.2.2007, englische Übersetzung siehe Teil 3 Fn. 644. 647 So die Interpretation des russischen Wortes für „berücksichtigen“ durch Koroteev/Golubok, HRLR 2007, S. 619 (623 f.). 648 Hans, Süddeutsche Zeitung, Beitrag v. 14.7.2015; Sinelschtschikowa, Russia Beyond the Headlines, Beitrag v. 16.7.2015.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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f) Polen Die EMRK ist in Polen am 19. Januar 1993 in Kraft getreten.649 Die polnische Verfassung von 1952 enthielt keine Bestimmung über den Rang völkerrechtlicher Verträge im nationalen Recht. Die Frage war daher lange Zeit sehr umstritten.650 Die herrschende Auffassung in der Literatur vertrat die Ansicht, dass das Völkerrecht ex proprio vigore, d.h. aus eigener Kraft ohne Notwendigkeit einer Transformation, anzuwenden sei.651 Die Rechtsprechung ging dagegen davon aus, dass völkerrechtliche Verträge nicht unmittelbar im innerstaatlichen Recht anwendbar seien.652 aa) Anwendbarkeit der EMRK und Vorrang vor einfachen Gesetzen Am 2. April 1997 verabschiedete die Nationalversammlung eine neue Verfassung, die am 17. Oktober 1997 in Kraft trat.653 Art. 9 der Verfassung bestimmt, dass die „Republik Polen (. . .) das für sie bindende Völkerrecht“ befolgt.654 Gemäß Art. 91 Abs. 1 Verf. bildet ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag nach seiner Bekanntmachung im Gesetzblatt der Republik Polen „einen Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung und wird unmittelbar angewandt“.655 Auch das polnische Verfassungsgericht hat wiederholt die unmittelbare Anwendbarkeit der Konvention durch die nationalen Gerichte bejaht.656 Die EMRK ist danach nun klarer Bestandteil des polnischen Rechts. Art. 91 Abs. 2 der Verfassung normiert den Vorrang eines ratifizierten völkerrechtlichen Vertrages vor einem einfachen Gesetz. Danach hat der „völkerrechtliche Vertrag, dessen Ratifizierung ein Zustimmungsgesetz vorausgegangen war, (. . .) den Vorrang einem Gesetz gegenüber, falls das Gesetz mit dem Vertrag unvereinbar ist.“ 657

649 Dembour/Krzyzanowska-Mierzewska, EHRLR 4 (2004), S. 400 (400); Hofmann, ˙ Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 86. 650 Leszczyn ´ ski, EEHRRev 2 (1996), S. 19 (21); Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 13. 651 Czaplin ´ ski, ZaöRV 53 (1994), S. 871 (874). 652 Czaplin ´ ski, ZaöRV 53 (1994), S. 871 (875 f.); Leszczyn´ski, EEHRRev 2 (1996), S. 19 (21 f.). 653 Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 17. 654 Art. 9 der polnischen Verfassung. Die polnische Verfassung ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Kimmel, A./Kimmel, C., Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005, S. 558. 655 Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 25. 656 Krzyzanowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, in: Keller/Stone ˙ Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 531 (539) m.w. N. 657 Art. 91 Abs. 2 der polnischen Verfassung. Zur deutschen Übersetzung siehe Teil 3 Fn. 654.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

bb) Verhältnis Völkerrecht und Verfassungsrecht Die Frage, ob unter den Begriff „Gesetz“ nur einfache Gesetze fallen oder auch verfassungsrechtliche Bestimmungen, sodass der Vorrang der völkerrechtlichen Verträge den Vorrang vor der Verfassung einschließt, ist ungeklärt und wird vor allem im Zusammenhang mit dem Unionsrecht diskutiert. Einige Autoren machen geltend, dass die völkerrechtlichen Verträge und die polnische Verfassung grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen, im Kollisionsfalle jedoch dem völkerrechtlichen Vertrag Vorrang vor der Verfassung eingeräumt werden müsse.658 Nach anderer Ansicht folgt aus Art. 8 Abs. 1 Verf., dass die polnische Verfassung die primäre Rechtsquelle in der polnischen Rechtsordnung und ein Vorrang völkerrechtlicher Verträge ausgeschlossen sei. Zur Unterstützung dieser These wird der differenzierende Wortlaut in Art. 87 Abs. 1 Verf. angeführt, der zwischen der „Verfassung“ und den „Gesetzen“ unterscheide. Dies schließe es aus, auch die Verfassung unter den Begriff des Gesetzes in Art. 91 Abs. 2 Verf. zu subsumieren.659 In Hinblick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts hat das polnische Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. Mai 2005 den Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber einfachen Gesetzen anerkannt, nicht jedoch gegenüber der Verfassung.660 Die nationalen Bestimmungen seien soweit wie möglich europarechtskonform auszulegen; die Auslegung werde jedoch durch den ausdrücklichen Wortlaut einer Norm begrenzt. Kann eine Kollisionslage zwischen der Verfassungsnorm und der europäischen Norm nicht im Wege der Auslegung gelöst werden, so verbleibe nur die Möglichkeit einer Verfassungsänderung oder eines Austritts Polens aus der Europäischen Union. Diese Feststellungen des polnischen Verfassungsgerichts nehmen in der Auseinandersetzung der nationalen Verfassungsgerichte mit dem Rang des Unionsrechts im Verhältnis zur nationalen Verfassung „in ihrer Eindeutigkeit (. . .) eine singuläre Stellung ein“.661 Entsprechend den Ausführungen zum Unionsrecht, muss auch der EMRK gemäß Art. 91 Abs. 1 und 2 Verf. ein Rang über den einfachen Gesetzen, aber unterhalb der polnischen Verfassung eingeräumt werden. Die Gefahr von Widersprüchen wird aber dadurch gemildert, dass eine Vielzahl der Bestimmungen in der polnischen Verfassung mit den Gewährleistungen in der Konvention übereinstimmen.662 658

Hofmann, Von der Transformation zur Kooperationsoffenheit?, S. 27. Biernat, in: v. Bogdandy/Villalón/Huber, IPE II, § 21 Polen, Rn. 42. 660 Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs v. 11.5.1005, K 18/04 – Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union. Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in EuR 2006, S. 236. 661 Grabenwarter, Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 121 (133). 662 Biernat, in: v. Bogdandy/Villalón/Huber, IPE II, § 21 Polen, Rn. 54. 659

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cc) Die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR in Theorie und Praxis der nationalen Gerichte Schon vor Inkrafttreten der Konvention hat das Oberste Gericht in Polen begonnen, in seiner Rechtsprechung auf die Konvention zu verweisen.663 In einer Grundsatzentscheidung vom 11. Januar 1995 stellte das Oberste Gericht in Polen fest, dass die nationalen Gerichte auch die Auslegung der Konvention durch den EGMR beachten müssen.664 Während der Verfassungsdebatte anlässlich der Einführung der neuen Verfassung, die im Oktober 1997 in Kraft getreten ist, war der Vorschlag gemacht worden, eine Regelung aufzunehmen, wonach die Verfassungsbestimmungen im Lichte der Konvention auszulegen seien.665 Obwohl sich dieser Vorschlag nicht durchgesetzt hat, machte das polnische Verfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 deutlich, dass ein Urteil des EGMR, das eine Konventionsverletzung feststellt, bei der Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung durch das Verfassungsgericht zu berücksichtigen ist.666 Trotz dieses völkerrechtsfreundlichen Ansatzes spielen die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der alltäglichen Rechtsprechungspraxis der Untergerichte eher eine untergeordnete Rolle.667 Neben den Unsicherheiten über die Rangstellung der EMRK im polnischen Recht, wird ein Grund für diese Zurückhaltung darin gesehen, dass es generell in der polnischen Rechtsprechungstradition nur selten von Verweisen auf die Verfassung Gebrauch gemacht wird. Entsprechend verhält es sich bei der EMRK.668 Im innerstaatlichen Recht besteht ferner Uneinigkeit, wie sich der Richter zu verhalten hat, wenn eine gesetzliche Norm im Widerspruch zur Verfassung steht und der Widerspruch nicht im Wege der Auslegung aufgelöst werden kann. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob der Richter die widersprechende Norm einfach unangewendet lassen kann oder ob er die Sache dem Verfassungsgericht vorlegen muss. Während das polnische Verfassungsgericht ein Verwerfungsmonopol für sich beansprucht, scheint das Oberste Gericht jedem Gericht die Möglichkeit, ein Gesetz unangewendet zu lassen, zugestehen zu wollen.669 Diese Unklarheiten und die Verunsicherung der 663 Krzyzanowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, in: Keller/Stone ˙ Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 531 (543) m.w. N. 664 Krzyzanowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, a. a. O., S. 531 ˙ (544), m.w. N. 665 Krzyzanowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, a. a. O., S. 531 ˙ (539). 666 Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 18.10.2004, P 8/04, zitiert in englischer Sprache von Krzyz˙anowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, a. a. O., S. 531 (539). 667 Dembour/Krzyzanowska-Mierzewska, EHRLR 4 (2004), S. 400 (420 f.). ˙ 668 Krzyzanowska-Mierzewska, The Reception Process in Poland, in: Keller/Stone ˙ Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 531 (545). 669 Krzyzanowska-Mierzewska, a. a. O., S. 531 (545 f.). ˙

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Richter tragen dazu bei, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der Praxis der Untergerichte nicht in größerem Maße herangezogen werden. g) Fazit der Länderanalyse Die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR haben eine bedeutsame Aufwertung in der Praxis der Mitgliedstaaten erfahren. Schwierigkeiten resultierten in der Vergangenheit aus dem Umstand, dass die EMRK nicht in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar war. Auch fehlten häufig klare Regeln zu dem Rangverhältnis des nationalen Rechts zum Völkerrecht und der EMRK. In dualistischen Staaten wie Italien, in denen die EMRK nur einen einfachen Gesetzesrang hat, kam es zu Problemen mit dem lex posterior-Grundsatz, wonach ein späteres Gesetz einem früheren Gesetz gleichen Rangs vorgeht. Bei strikter Anwendung dieses Grundsatzes konnte sich das spätere nationale Gesetz gegenüber der EMRK im Kollisionsfall durchsetzen. Aber auch in monistischen Ländern wie Frankreich gab es Schwierigkeiten. Obwohl Art. 55 der französischen Verfassung den Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem nationalen Recht festlegt, wurde diese Regel über Jahrzehnte nicht praktiziert. Der Grund dafür war das Prinzip der Parlamentssouveränität, das im französischen Recht – ähnlich wie im englischen Recht – einen hohen Stellenwert einnimmt und dazu führte, dass eine gerichtliche Überprüfung der Parlamentsgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK abgelehnt wurde. Zu diesen Schwierigkeiten trat das Selbstverständnis der Gründungsstaaten, die bereits funktionierende nationale Schutzsysteme besaßen und fürchteten, dass der Einfluss aus Straßburg eher zu einem Absinken des Grundrechtsschtuzes statt zu einer Verbesserung führen würde.670 Sie lösten Grundrechtsfragen vorzugsweise über die Berufung auf die nationale Verfassung und zogen die EMRK nur stützend heran. Noch seltener fand eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR statt. Heute ist die EMRK jedoch in allen Konventionsstaaten im Wesentlichen inkorporiert. Der Grundsatz des lex posterior wird in der Praxis durch den Grundsatz lex specialis derogat legi generali und den Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung entkräftet.671 Die alten Vertragsstaaten mussten erkennen, dass sie von der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR nicht befreit sind. Die wiederholten Verurteilungen in derselben Rechtsfrage wie im Fall überlanger Verfahrensdauer zeigten die Schwächen in ihren Rechtssystemen auf und zwangen sie zu einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR. Heute sind in der Staatenpraxis der alten Konventionsstaaten vermehrte Bezug670 Zu diesem Selbstverständnis der Gründungsstaaten, vgl. Sadurski, HRLR 2009, S. 397 (432 f.). 671 Polakiewicz, in: Blackburn/ders. (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, S. 31 (43).

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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nahmen auf die EMRK zu erkennen, wobei auch eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR stattfindet. Für viele nationale Gerichte ist der Verweis auf die EMRK und die Straßburger Rechtsprechung sogar eine Selbstverständlichkeit geworden.672 Hierzu hat sicherlich auch die Rechtsprechung des EuGH beigetragen, der die Konvention in der Auslegung des EGMR zur Präzisierung der Unionsgrundrechte heranzieht.673 Die mittel- und osteuropäischen Vertragsstaaten können nicht auf eine ebenso lange Geschichte wie die alten Gründungsstaaten hinsichtlich der Einordnung der EMRK im nationalen Recht und der Auseinandersetzung mit der EGMR-Rechtsprechung zurückblicken. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes hatten sie ein besonderes Interesse daran, in die völkerrechtliche Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden. Wie das Beispiel Russlands und Polens zeigt, haben sie oft völkerrechtsfreundliche Regelungen geschaffen. Der Verweis auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR verhalf den Höchst- und Verfassungsgerichten der neuen Konventionsstaaten zu größerer Legitimität und Beachtung.674 Wie die Beispiele Polen und Russland zeigen, ist die Stellung der EMRK im nationalen Recht in diesen Staaten aber nicht abschließend geklärt, und es bestehen Schwierigkeiten bei der effektiven Umsetzung des völkerrechtsfreundlichen Regelungsansatzes. Die Entwicklung ist aber noch nicht abgeschlossen. Die Praxis der Verfassungs- und Höchstgerichte der älteren Konventionsstaaten dürfte für die neuen Konventionsstaaten eine gewisse Vorbildwirkung entfalten und mittelbar Einfluss auf sie nehmen. 3. Ergebnis und Stellungnahme Obwohl die untersuchten Länder die Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich befolgen, haben sich die Gerichte regelmäßig die Möglichkeit der Abweichung von der Straßburger Rechtsprechung und damit das letzte Wort in Auslegungsfragen vorbehalten. In einigen Fällen sind die nationalen Gerichte von den Urteilen des EGMR bewusst abgewichen. Nach einer Studie, in der 32 Verfassungsgerichte befragt wurden, haben 21 Gerichte geantwortet, dass sie sich selbst nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden sehen.675

672 Vgl. hierzu die Einschätzung von Krisch, MLR 2008, S. 183 (197): „. . . normal, day-to-day operation (. . .) with the Strasbourg Court has lately been highly cooperative, and friction has been rare. This picture seems, apart from a few exceptions, generalisable: compliance rates with ECtHR judgments are regarded as high (. . .) and national courts in many jurisdictions refer to Strasbourg jurisprudence as a matter of normalcy.“ 673 Zur wechselseitigen Beeinflussung von Unionsrecht und Recht der EMRK, siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. I. 2. 674 Zur Stärkung der Position nationaler Verfassungsgerichte durch die Allianz mit dem EGMR, vgl. Sadurski, HRLR 2009, S. 397 (437 f.). 675 Vgl. Krisch, MLR 2008, S. 197.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Es fehlt damit an einer übereinstimmenden Rechtsüberzeugung zugunsten einer Bindung an die Auslegungsurteile des EGMR mit Wirkung über den entschiedenen Fall hinaus. Eine solche opinio iuris ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für die derogierende Wirkung der Staatenpraxis.676 Eine derogierende Staatenpraxis des Art. 46 EMRK zugunsten einer erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR muss daher verneint werden. Das Ergebnis wird durch die Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK bestätigt. Eine Untergruppe der Reflexionsgruppe hat sich hier ausdrücklich gegen die Idee ausgesprochen, eine Bindung erga omnes der Vertragsstaaten an die Urteile des Gerichtshofs durch Streichung der letzten Worte in Art. 46 Abs. 1 EMRK („in denen sie Partei sind“) einzuführen: „The Group was not in favour of the idea to delete the last words of Article 46 § 1 („in any case to which they are parties“) so as to give erga omnes effects to judgments of the Court.“ 677

Die Staatenpraxis bestätigt das im Rahmen der Auslegung ermittelte Ergebnis, wonach die Bindungswirkung der Urteile auf die Parteien begrenzt bleibt. Obwohl eine formelle erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt werden muss, kann die Auslegung des EGMR mittelbar durch die Teilnahme an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung Rechtswirkung entfalten. Voraussetzung für die Bindungswirkung ist, dass es sich um eine hinreichend gefestigte Rechtsprechung handelt. Diese Interpretation sieht sich durch die Staatenpraxis bestätigt wie das Beispiel des Vereinigten Königreichs zeigt, dessen Höchstgericht bei Vorliegen einer klaren und konstanten Rechtsprechung eine Bindungswirkung der Auslegungsurteile des EGMR bejaht. Im Hinblick auf die echte Bindungswirkung bei Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR greifen die Begriffe einer „Orientierungswirkung“ oder „faktischen Wirkung“ zu kurz und werden der Bedeutung des EGMR nicht gerecht. Auch der Begriff „berücksichtigen“, den das BVerfG im Görgülü-Beschluss gebraucht hat, ist anfällig für Missverständnisse.678 Der damalige Präsident des EGMR Luzius Wildhaber reagierte deshalb auf den Görgülü-Beschluss des BVerfG mit Besorgnis: „Allerdings mache ich mir große Sorgen, was für ein Eindruck da entsteht. Seit wir mit dem deutschen Verfassungsgericht in diese Diskussion geraten sind, haben sich

676

Polakiewicz, in: Blackburn/ders. (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, S. 31

(43). 677 CDDH-GDR(2003)003, Steering Committee for Human Rights, Reflection Group on the Reinforcement of the Human Rights Protection Mechanism, Contribution of Subgroup of rapporteurs C „Improving and accelerating execution of judgments of the Court“, 7th meeting, Strasbourg 5–7 February 2003, Ausführungen unter F. 678 Bryde, in: Hohmann-Dennhardt/Masuch/Villinger (Hrsg.), FS für R. Jaeger, S. 65 (68).

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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die Anfragen aus anderen Staaten – aus der Türkei und Polen – gehäuft, ob man sich wirklich in allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse. Das freut mich nicht. (. . .) Jedenfalls sollte diese rein deutsche Auseinandersetzung um die Bindungswirkung der Menschenrechte stärker das europäische Element berücksichtigen. Da würde ich mir gerade bei den Deutschen mehr europäisches Verantwortungsbewusstsein wünschen.“ 679

Dass diese Sorge nicht unbegründet ist verdeutlicht das Beispiel des russischen Verfassungsgerichts. Die von ihm in seinem Urteil vom 5. Februar 2007 zum Ausdruck gebrachte Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR ist restriktiver als der Ansatz des BVerfG. Während das russische Verfassungsgericht die Befolgung der Straßburger Urteile offenbar weitgehend in das Ermessen der nationalen Gerichte stellt, hat das deutsche BVerfG strenge Voraussetzungen für eine Abweichung aufgestellt, so dass eine solche nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Der deutsche Richter muss in jedem Fall Kenntnis von der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung haben, sich mit ihr inhaltlich auseinandersetzen und die Argumente des EGMR bei seiner Entscheidungsfindung einbeziehen. Will der deutsche Richter von dem Präjudiz abweichen, muss er dies hinreichend begründen. Das BVerfG selbst wacht streng über die Einhaltung dieser Voraussetzungen.680 Der Görgülü-Beschluss des BVerfG zielt damit nicht auf Konfrontation, sondern auf eine „Kooperation bei der Wahrnehmung gleichgerichteter Aufgaben des Schutzes von Grund- und Menschenrechten“.681 Im Hinblick auf die europarechtliche Verantwortung wäre es vorzugswürdig gewesen, wenn das BVerfG den Ausnahmecharakter einer Abweichung von der EGMR-Rechtsprechung auch in sprachlicher Hinsicht deutlicher zum Ausdruck gebracht hätte und von einer Pflicht des nationalen Richters zur Beachtung statt

679 Wildhaber, Der Spiegel v. 15.11.2004, S. 52. Ähnliche Bedenken äußert auch Bryde, in: Hohmann-Dennhardt/Masuch/Villinger (Hrsg.), FS für R. Jaeger, S. 65 (66): „Im Verhältnis zu den europäischen Gerichten wird Kritik viel zu schnell mit der Aufforderung zum Ungehorsam verbunden. Damit gerät das Fundament der rechtsstaatlichen Ordnung im europäischen Verfassungsraum in Gefahr.“ 680 Das BVerfG nimmt diese Überwachungsfunktion sehr ernst, wie der Fortgang des Verfahrens im Fall Görgülü zeigt: Nachdem das BVerfG in seiner Görgülü-Entscheidung vom 14.10.2004 die Entscheidung des OLG Naumburg mangels hinreichender Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 GG i.V. m. Rechtsstaatsprinzip aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Senat des OLG Naumburg zurückverwiesen hatte, hat sich das OLG Naumburg erneut geweigert, dem EGMR zu folgen. Das BVerfG setzte daraufhin am 28.12.2004 auf Antrag des Vaters im Wege der einstweiligen Anordnung eine Umgangsregelung in Kraft (BVerfG, Beschluss v. 28.12.2004 – 1 BvR 2790/04, EuGZR 2004, S. 809) und gab der erneuten Verfassungsbeschwerde des Vaters statt (BVerfG, Beschluss v. 5.4.2005 – 1 BvR 1664/04, NJW 2005, 1765 ff.). Gegen zwei der Richter des OLG Naumburg wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet, die Hauptverhandlung wurde aber nicht eröffnet. 681 So die Äußerung des (ehemaligen) Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier, FAZ v. 9.12.2004, S. 9.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

von einer Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des EGMR gesprochen hätte.682

III. Vertragserweiternde Staatenpraxis zugunsten der Anerkennung einer auf echte Piloturteile beschränkten Bindungswirkung der Anordnungen des EGMR Mangels erga omnes-Wirkung entfalten die Anordnungen in einem Piloturteil keine Bindungswirkung für Drittstaaten. Zu untersuchen ist, ob die Piloturteile und die in ihnen enthaltenen Anordnungen jedenfalls Bindungswirkung für die innerstaatlichen Parallelfälle haben. Insoweit ließe sich von einer auf echte Piloturteile beschränkten erga omnes-Wirkung sprechen. 1. Erhöhte Pflicht zur Beachtung bei innerstaatlichen Parallelfällen Bei innerstaatlichen Parallelfällen besteht eine erhöhte Pflicht zur Beachtung der Urteile des EGMR. Anders als bei Drittstaatenfällen betrifft die festgestellte Konventionsverletzung die gleiche Rechtsordnung, die auch der parallelen Beschwerde zugrunde liegt, so dass eine Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR nicht mit einer anderen Rechtstradition begründet werden kann, sondern nur mit den Besonderheiten des Einzelfalls.683 Ansatzpunkt für eine echte Bindungswirkung im Parallelfall kann eine Vertragserweiterung über die Staatenpraxis in der Weise sein, dass die von dem strukturellen Mangel betroffene Personengruppe von der Bindungswirkung der Anordnung erfasst wird. Es gilt die Voraussetzungen für eine Vertragserweiterung zu klären und die Praxis der Staaten in Bezug auf die Piloturteile zu untersuchen. 2. Voraussetzungen der Vertragserweiterung am Beispiel der Rechtsprechung des EGMR zu den vorläufigen Maßnahmen Die Voraussetzungen für eine vertragserweiternde Staatenpraxis lassen sich aus der Rechtsprechung des EGMR zu den vorläufigen Maßnahmen ableiten.684 Da-

682 In diesem Sinne auch Bryde, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS für R. Jaeger, S. 65 (68): Die Mitgliedstaaten schulden völkerrechtlich die Befolgung der Urteile des EGMR. „Befolgen [bedeutet] (. . .) immer nur Beachten.“ 683 Zur Reichweite der Verpflichtungen in Parallelfällen, siehe Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (861). 684 Allgemein zu der Rechtsprechung des EGMR zu den vorläufigen Maßnahmen: Bostedt, Vorsorgliche Maßnahmen zum Schutze der Menschenrechte; Harby, EHRLR 15 (2010), S. 73 ff.; Krüger, EuGRZ 1996, S. 346 ff.; Mowbray, HRLR 52 (2005), S. 377 ff.; Oellers-Frahm, EuGRZ 2003, S. 689 ff.; dies., EuGRZ 2005, S. 347–350 ff.; Wilson, SZIER 15 (2005), S. 509 ff.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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bei geht es insbesondere um die Abgrenzung der vertragserweiternden Rechtsfortbildung zu einem Handeln ultra-vires des Gerichtshofs, die nachfolgend untersucht wird. a) Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zu vorläufigen Maßnahmen Die Konvention enthält keine explizite Regelung zum Erlass vorläufiger Maßnahmen; eine Anordnungsmöglichkeit ist heute aber in Art. 39 EGMR-VerfO normiert. Das Erfordernis eines einstweiligen Rechtsschutzes stellte sich frühzeitig im Zusammenhang mit Verfahren, die die Abschiebung oder Ausweisung eines Beschwerdeführers in Länder betrafen, in denen ihm eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohte.685 Die Kommission bat in diesen Fällen die betroffenen Staaten, die Entscheidung über die anhängige Beschwerde abzuwarten. Die Staaten haben diese Aufforderung regelmäßig befolgt.686 Erst anlässlich eines eklatanten Falls der Nichtbefolgung einer Anordnung in dem Fall Cruz Varas ./. Schweden,687 der die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Chile trotz Foltergefahr betraf, musste sich der EGMR eingehend mit der Frage der Verbindlichkeit der vorläufigen Maßnahme auseinandersetzen. In seiner mit zehn zu neun Stimmen äußerst knapp ergangenen Entscheidung verneinte er die Verbindlichkeit mangels ausreichender Kompetenzgrundlage. Die Konvention selbst enthalte keine Bestimmung über den Erlass einstweiliger Maßnahmen und eine bloße Verfahrensregelung könne nicht weiterreichende Verbindlichkeiten begründen.688 Die dissentierenden Richter689 und die Literatur690 warfen dem EGMR fehlenden Mut zur progressiven Auslegung vor.

685 Zudem hat die Einlegung einer Beschwerde keine aufschiebende Wirkung. In Kombination mit der fehlenden Regelung über aufschiebende Maßnahmen erkennt Krüger „eine deutliche Lücke im Schutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention“ – Krüger, EuGRZ S. 346 (346). 686 EGMR (GK), Urteil v. 4.2.2005 – Mamatkulov ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, EuGRZ 2005, S. 357 ff., Ziff. 105: „Fälle, in denen die Staaten einstweilige Anordnungen nicht befolgen, sind sehr selten“. 687 EGMR (Plenum), Urteil v. 20.3.1991 – Cruz Varas u. a. ./. Schweden, EuGRZ 1991, Nr. 15576/89, S. 203 ff. 688 EGMR, a. a. O., Ziff. 98 ff. 689 Sondervotum der Richter Cremona, Thór Viljálmsson, Walsh, Macdonald, Bernhardt, De Meyer, Martens, Foighel und Morenilla zu EGMR Urteil, Cruz Varas ./. Schweden, a. a. O., EuGRZ 1991, S. 203 (215 f.) Ziff. 1. und 5. 690 Peukert bezeichnet das Urteil als „eine bedauerliche Einschränkung der Effektivität des Konventionsrechtschutzes, s. Frowein/Peukert, EMRK, 2. Aufl. 1996, Art. 25, Rn. 53 und Cohen-Jonathan fragt: „Où est l’efficacité?“, RUDH 1991, S. 205 (208).

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Knapp zwölf Jahre später änderte der EGMR seine Rechtsprechung anlässlich des Falls Mamatkulov u. a. ./. Türkei.691 In diesem Fall wurden die beiden Beschwerdeführer und usbekische Staatsangehörige wegen terroristischer Aktivitäten verfolgt und in der Türkei festgenommen. Obwohl eine einstweilige Anordnung nach Art. 39 EMGR-VerfO erlassen worden war, wurden die Beschwerdeführer den usbekischen Behörden ausgeliefert. In ihrem Urteil vom 6. Februar 2003 stellte die Kammer eine Verletzung des Art. 34 EMRK fest, welche durch die Große Kammer bestätigt wurde.692 Die Notwendigkeit der Verbindlichkeit vorläufiger Maßnahmen folgerte der Gerichtshof aus Art. 34 EMRK, da die Nichtbeachtung einstweiliger Anordnungen die Effektivität der Individualbeschwerde unterlaufen würde und das Recht der Individualbeschwerde durch das 11. Protokoll zur EMRK deutlich aufgewertet worden sei.693 Außerdem verwies der EGMR auf die Entwicklung im internationalen Recht, da der IGH in seiner Grundsatzentscheidung LaGrand 694 im Juni 2001 die Verbindlichkeit einstweiliger Anordnungen ausdrücklich festgestellt hatte.695 b) Abgrenzung zum ultra vires-Handeln In ihrem Sondervotum zu der Entscheidung der Großen Kammer im Fall Mamatkulov u. a. ./. Türkei kritisierten die dissentierenden Richter Caflisch, Türmen und Kovler, dass der Gerichtshof mit dieser Entscheidung die Grenzen der Vertragsauslegung überschritten und ultra vires gehandelt habe.696 Eine Kompetenz des Gerichtshofs zum Erlass verbindlicher Maßnahmen sei wünschenswert, die Einführung obliege aber den Vertragsparteien als Herren der Verträge. Der Gerichtshof sei befugt, die Konvention auszulegen, nicht aber, sie zu ändern und neue Regeln in die Konvention zu schreiben. Eine ausreichende Basis für die Rechtsfortbildung in der Konvention sei nicht vorhanden. Während Art. 41 IGHStatut den Erlass einstweiliger Maßnahmen regele und der IGH im Fall LaGrand 691 EGMR, Urteil v. 6.2.2003 – Mamatkulov u. a. ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, EuGRZ 2003, S. 704 ff. 692 EGMR (GK), Urteil v. 4.2.2005 – Mamatkulov u. a. ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, EuGRZ 2005, S. 357 ff. 693 Allerdings hatte der neue ständige Gerichtshof auf der Grundlage des geänderten 11. Protokolls zur EMRK in seiner Zulässigkeitsentscheidung Conka u. a. ./. Belgien (EGMR, Urteil v. 13.3.2001, Nr. 51564/99) die Rechtsprechung Cruz Varas zunächst noch bestätigt. 694 IGH, Urteil v. 27.6.2001 – Fall LaGrand (Deutschland ./. Vereinigte Staaten von Amerika), EuGRZ 2001, S. 287 ff. 695 EGMR (GK), Urteil v. 4.2.2005, – Mamatkulov u. a. ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, EuGRZ 2005, S. 357 (362), Ziff. 121 ff. 696 Sondervotum der Richter Caflisch, Türmen und Kovler zu dem EGMR (GK) Urteil Mamatkulov, a. a. O., S. 357 (365). In der Lit.: Mowbray, HRLR 52 (2005), S. 377 (385 f.): „. . . it may be concluded that a very desirable procedural reform has been achieved by judicial creativity that extends beyond the permissible limits of Convention interpretation.“

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

265

diese Bestimmung ausgelegt habe,697 fehle ein solcher Anknüpfungspunkt in der EMRK. Art. 34 EMRK, der das Individualbeschwerdeverfahren regelt, enthalte keinen hinreichenden Bezug zu dem Problem der vorläufigen Maßnahmen. Die Staatenpraxis habe gezeigt, dass einstweilige Maßnahmen überwiegend, aber nicht immer beachtet worden seien. Da das Ministerkomitee keine Bestimmung über verbindliche einstweilige Maßnahmen in den Entwurf des 11. Protokolls zur EMRK aufgenommen habe, hätte nach Ansicht der dissentierenden Richter eine Sperrwirkung für die Rechtsfortbildung greifen müssen.698 Den dissentierenden Richtern ist zuzustimmen, dass der EGMR nicht befugt ist, ex nihilo neue Rechte und Verbindlichkeiten zu begründen. Aus den Argumenten der Richter lassen sich die Voraussetzungen für die lückenfüllende Rechtsfortbildung herauslesen. Hierzu gehört, dass die EMRK einen Anknüpfungspunkt für die vertragserweiternde Auslegung enthält, dass die Auslegung durch die ganz überwiegende Praxis der Konventionsstaaten gestützt wird und dass sie dem Willen der Konventionsstaaten nicht klar widerspricht.699 Entgegen der Ansicht der dissentierenden Richter sind die Voraussetzungen für eine Vertragserweiterung mit Blick auf die vorläufigen Maßnahmen aber zu bejahen. Mit Art. 34 EMRK besteht eine ausreichende Grundlage in der EMRK. Die Vorschriften der Konvention sind so auszulegen, dass die Rechte zweckmäßig und wirksam geschützt werden.700 Da dem Beschwerdeführer bei Nichtbefolgung einer einstweiligen Maßnahme irreparable Schäden drohen, ist die effektive Ausübung des Individualbeschwerderechts betroffen.701 Aus der Nichtaufnahme einer Regelung über die vorläufigen Maßnahmen in das 11. Protokoll bzw. jüngst in das 14. Protokoll zur EMRK lässt sich nicht auf eine Sperrwirkung schließen. Bereits im Jahr 1971 hatte die Parlamentarische Versammlung das Ministerkomitee aufgefordert, ein Protokoll zur EMRK zu verfassen, welches die Konventionsorgane ausdrücklich zum Erlass einstweiliger Maßnahmen befugt.702 Das Ministerkomitee hat dies abgelehnt, da die bestehende Praxis zufriedenstellend funktioniere.703 Es sah also lediglich keine Notwendigkeit für die Schaffung 697 Art. 41 Abs. 1 des IGH-Statuts lautet: „The Court shall have the power to indicate, if it considers that circumstances so require, any provisional measures which ought to be taken to preserve the respective rights of either party“, s. Urteil EGMR (GK), Urteil v. 4.2.2005 – Mamatkulov, ebenda, Ziff. 40. 698 Sondervotum der Richter Caflisch, Türmen und Kovler zu dem EGMR (GK) Urteil Mamatkulov, a. a. O., S. 357 (365 ff.). 699 So im Ergebnis auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 74. 700 EGMR (Plenum), Urteil v. 7.7.1989 – Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EuGRZ 1989, S. 314 ff., Ziff. 87 („practical and effective“). 701 EGMR (GK), Urteil Mamatkulov 2005, a. a. O., Ziff. 122. 702 Parlamentarische Versammlung, Rec 623 (1971), Rn. 7, verfügbar unter www. assembly.coe.int. 703 Dies stellte auch der EGMR im Fall Cruz Varas, a. a. O., Ziff. 96 fest.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

einer solchen Regelung. Die Reformen zum 11. Protokoll und 14. Protokoll zur EMRK waren primär auf die dringenden institutionellen Änderungen gerichtet; das Problem der vorläufigen Maßnahmen lag nicht im Fokus.704 Bereits anlässlich der Reformdiskussion zum 11. Protokoll zur EMRK war den Konventionsstaaten das Problem bekannt und zum Zeitpunkt des 14. Protokolls zur EMRK war die Rechtsprechung des EGMR zur Verbindlichkeit der vorläufigen Maßnahmen etabliert. Die Tatsache, dass die Konventionsstaaten die Verbindlichkeit vorläufiger Maßnahmen nicht ausgeschlossen haben, spricht dafür, dass sie die Rechtsprechung des EGMR im Grundsatz akzeptiert haben. Es muss daher heute von der grundsätzlichen Bindungswirkung vorläufiger Maßnahmen ausgegangen werden.705 3. Übertragung der Grundsätze auf die Rechtsprechung des EGMR zu den Piloturteilen Eine ähnliche Entwicklung wie im Zusammenhang mit vorläufigen Maßnahmen kommt hinsichtlich der Piloturteile in Betracht, wenn sich die Bindungswirkung auf die vom strukturellen Mangel betroffenen Parallelfälle erstrecken würde. Das Vorliegen der drei Voraussetzungen für eine solche Vertragserweiterung – kein entgegenstehender Wille der Konventionsstaaten, ein Anknüpfungspunkt in der EMRK und eine entsprechende Staatenpraxis – ist im Hinblick auf die Piloturteile zu untersuchen. a) Kein entgegenstehender Wille der Konventionsstaaten Die Einführung eines Piloturteilsverfahrens wurde im Rahmen der Vorarbeiten zu dem 14. Protokoll zur EMRK diskutiert, im Ergebnis jedoch verworfen. Dies geschah nicht, weil der Lenkungsausschuss ein solches Verfahren ablehnte. Vielmehr war er der Auffassung, dass es rechtlich schwierig sei, eine generelle Verpflichtung dieser Art einzuführen. In der Stellungnahme des Lenkungsausschusses wird ausgeführt: „As concerns the Court’s proposal to institute a special pilot judgment procedure (. . .) the CDDH took the view that it was legally difficult to provide for a general legal obligation of this kind. It recognised the usefulness of such domestic remedies for repetitive cases (. . .). It nevertheless considered that this would be more appropriately be expressed through a recommendation of the Committee of Ministers to member States (. . .). The CDDH considers that, where such remedies had been made 704 Vgl. Krüger, EuGRZ 1996, S. 346 (348) in Bezug auf das 11. Protokoll zur EMRK. 705 Wilson, SZIER 15 (2005), S. 509 (521): „La pratique des trois instances internationales examinées en matière de mesures provisoires révèle que la faculté d’adopter de telles mesures peut être considérée comme un pouvoir implicite de l’organe de contrôle, voire comme une règle du droit international général“.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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available for repetitive cases, the pilot judgment procedure proposed by the Court could be followed without there being a need to amend the Convention.“ 706

Der Lenkungsausschuss, der gegenüber dem aus den Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden Ministerkomitee unmittelbar verantwortlich ist, war der Auffassung, dass die Konvention eine ausreichende Grundlage für das Piloturteilsverfahren biete und eine Änderung der EMRK nicht erforderlich sei.707 Das Ministerkomitee wurde mit dem Erlass einer entsprechenden Resolution beauftragt, in welcher der EGMR zur Erprobung des Piloturteilsverfahrens eingeladen wurde.708 Ein entgegenstehender Wille der Konventionsstaaten ist daher nicht ersichtlich. b) Anknüpfungspunkt in der EMRK Im Fall der vorläufigen Maßnahmen diente Art. 34 EMRK und die effektive Ausübung des Individualbeschwerderechts als Anknüpfungspunkt für die Rechtsfortbildung. Für die Piloturteile ist dieser Ansatz jedoch wenig geeignet. Das Piloturteilsverfahren ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen die Beschwerdeflut und dient der Effektivität des Konventionssystems insgesamt. Hierdurch wird auch die Wirksamkeit der Individualbeschwerde des Einzelnen nach Art. 34 EMRK auf lange Sicht gestärkt. Das Verfahren führt aber regelmäßig zu einer Suspendierung der parallelen Beschwerden, wodurch das Individualbeschwerderecht – zumindest zeitweilig – beschränkt wird.709 Art. 34 EMRK ist daher keine ausreichende Basis. Anknüpfungspunkt sind vielmehr Art. 41 EMRK und Art. 46 EMRK, die die Konventionsstaaten zur Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen zur Beendigung einer andauernden bzw. zur Nichtwiederholung einer Konventionsverletzung verpflichten.710 Wie nachfolgend gezeigt wird, lässt sich eine Bindungswirkung aber im Wege einer vertragserweiternden Auslegung

706 Zwischenbericht des Lenkungsausschusses über die langfristige Sicherung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, CDDH(2003)026 Addendum I final (Teil 3 Fn. 423), Rn. 20 und 21. 707 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte auch die Venedig-Kommission in ihrer Stellungnahme Nr. 209/2002 v. 18.12.2002 über die Umsetzung der Urteile des EGMR (Teil 3 Fn. 287), Rn. 65: „Dans un tel scénario, la Cour serait amenée à jouer un rôle actif dans les modalités d’exécution de ses propres arrêts, même en l’absence d’une disposition similaire à celle de l’article 63 § 1 de la Convention américaine: en termes généraux, elle pourrait donner des orientations quant aux mesures individuelles et générales à prendre dans certains cas particuliers de violation de la Convention.“ Da diese aus Experten des Völkerrechts bestehende Vereinigung aber nicht die Vertragsstaaten repräsentiert, können ihre Wertungen nur ergänzend, aber nicht maßgeblich für die vertragserweiternde Staatenpraxis herangezogen werden. 708 Entschließung des Ministerkomitees Res(2004)3 über Urteile, die ein zugrunde liegendes strukturelles Problem aufzeigen (Teil 1 Fn. 215). 709 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 C. 710 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

des Parteibegriffs in Art. 46 EMRK begründen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es sich um strukturell-spezifische Mängel handelt. Im Fall eines strukturell-systemischen Mangels bedarf es des Rückgriffs auf die vertragserweiternde Auslegung hingegen nicht. aa) Erweiterte Auslegung des Parteibegriffs bei Vorliegen eines spezifischen Mangels (abgrenzbare Personengruppe) Nach Art. 46 EMRK sind die Hohen Vertragsparteien verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen. Unter den Begriff der Partei können alle von dem strukturellen Mangel (potentiell) betroffenen Personen gefasst werden, denn die Beschwerden gleichen sich im Hinblick auf die vorgeworfene Konventionsverletzung und ihre Begründung. Die Situation ähnelt einer Gruppenklage, die dazu führt, dass die Entscheidung des EGMR nicht Bindungswirkung erga omnes, aber Bindungswirkung in Bezug auf die Gruppe der Beschwerdeführer hat, wie auch Richter Zupancˇicˇ in seinem Sondervotum zu Hutten-Czapska ausführt. „(. . .) In such a situation the applicants before the Court would be all the actual and potential plaintiffs and our decision concerning one of them would have binding effect – not erga omnes but in relation to this particular class of applicants.“ 711

Für eine erweiternde Auslegung spricht der enge Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und den anderen von dem strukturellen Mangel betroffenen Personen, der dazu führt, dass individuelle und allgemeine Wiedergutmachung Hand in Hand gehen müssen.712 Denn selbst wenn die einzelnen (potentiell) von dem Mangel betroffenen Individuen zum Zeitpunkt des Piloturteils noch nicht namentlich bekannt sind, kennzeichnet sich der strukturell-spezifische Mangel durch die Abgeschlossenheit des Personenkreises. Die erweiterte Auslegung des Parteibegriffs und der Vergleich zur Gruppenklage überzeugen in dieser Situation.713

711 Sondervotum Richter Zupanc ˇ icˇ zu EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – HuttenCzapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 712 EGMR (GK), Urteil v. 28.9.2005 – Broniowski ./. Polen, gütliche Einigung, Nr. 31443/96, EuGRZ 2005, S. 563 (566), Ziff. 36. Ähnliche Ausführungen finden sich in dem Urteil Hutten-Czapska ./. Polen, EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006, Nr. 35014/ 97, Ziff. 238: „One of the fundamental implications of the pilot-judgment procedure is that the Court’s assessment of the situation complained of in a ,pilot‘ case necessarily extends beyond the sole interests of the individual applicant and requires it to examine that case also from the perspective of the general measures that need to be taken in the interest of other potentially affected persons.“ 713 Siehe im Einzelnen zu dem Begriff des strukturell-spezifischen Mangels die Ausführungen unter Teil 2 B. V. 1. und zu dem insoweit reduzierten Beurteilungsspielraum des Mitgliedstaaten die Ausführungen unter Teil 3 B. II. 3.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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bb) Abgrenzung zur Situation beim Vorliegen eines systemischen Mangels (Personengruppe nicht abgrenzbar) Anders ist die Sachlage, wenn ein echter systemischer Mangel vorliegt, wie etwa in den Fällen des Nichtvollzugs nationaler Urteile oder der überlangen Verfahrensdauer. Der Mangel ist hier nicht Resultat einer bestimmten gesetzlichen Regelung oder Lücke in der nationalen Rechtsordnung, sondern komplexer, großflächiger Natur.714 Die von dem strukturellen Mangel betroffene Personengruppe ist also nicht abgeschlossen. Im Zusammenhang mit den systemischen Mängeln verzichtet der Gerichtshof daher regelmäßig Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor hinsichtlich des eigentlichen strukturellen Problems aufzunehmen. Vielmehr stützt der EGMR hier den Erlass des Piloturteils auf Art. 13 EMRK und die Anordnung, eine wirksame Beschwerdemöglichkeit im innerstaatlichen Recht zur Verfügung stellen, mit der der Beschwerdeführer den strukturell-systemischen Mangel geltend machen und für den bereits erlittenen Schaden bzw. den bis zur endgültigen Beseitigung des Problems zu erleidenden Schaden erhalten kann.715 Zur Begründung der Verbindlichkeit der Anordnung, einen innerstaatlichen Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK bereitzustellen, bedarf es keines Rückgriffs auf eine vertragserweiternde Auslegung. Die Konventionsstaaten sind nach Art. 13 EMRK verpflichtet, eine effektive Abhilfemöglichkeit im innerstaatlichen Recht bereitzustellen. Der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten beschränkt sich hierbei allein auf die konkrete Ausgestaltung von Organisation und Verfahren des effektiven Rechtsbehelfs.716 Zu berücksichtigen ist, dass die Verpflichtung nach Art. 13 EMRK eine Doppelnatur aufweist, da Art. 13 EMRK nicht nur ein individuelles Recht auf eine wirksame Beschwerdemöglichkeit gewährt, sondern auch eine objektive Verpflichtung des Staates enthält, seine Rechtsordnung entsprechend innerstaatlich auszugestalten.717 Die Verpflichtung des Art. 13 EMRK wirkt somit naturgemäß über den Einzelfall hinaus. Die Verbindlichkeit der Anordnung folgt mithin unmittelbar aus Art. 13 EMRK. c) Staatenpraxis Neben dem Erfordernis eines Anknüpfungspunktes in der EMRK und dem Fehlen eines entgegenstehenden Willens der Konventionsstaaten ist Voraussetzung für die Vertragserweiterung, dass eine entsprechende Staatenpraxis vorliegt. 714

Vgl. EGMR, Urteil Burdov, a. a. O., Ziff. 129 und 136–137. Im Fall Burdov, a. a. O., forderte der EGMR den beklagten Staat auf, innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils einen effektiven Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, Ziff. 138–141 und Tenor Ziff. 6. 716 EGMR, Urt. v. 27.9.1999 – Smith and Grady, Nr. 33985/96 und 33986/96, Ziff. 135 ff. 717 Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 9. 715

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

Anders als im Fall der Rechtsprechung des EGMR zur Verbindlichkeit der Anordnung vorläufiger Maßnahmen lag zum Zeitpunkt des ersten Piloturteils Broniowski noch keine Praxis bezüglich der Aufnahme von Anordnungen mit genereller Wirkung im Urteilstenor vor. Allerdings war im Fall Asanidse bereits erstmals eine individuelle Maßnahme mit absoluter Wirkung im Urteilstenor angeordnet worden, und der EGMR hat im Zusammenhang mit generellen Maßnahmen den Spielraum der Staaten zunehmend eingeschränkt.718 Der Schritt zu einer verbindlichen Anordnung der generellen Abhilfemaßnahmen lag nicht mehr fern. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass dem EGMR ein gewisses Maß an „dialogischer Fortbildung“ 719 der EMRK gestattet ist. Grundsätzlich dürfen den Konventionsstaaten als Herren der Verträge nicht gegen ihren Willen neue Konventionsgehalte aufgezwungen werden. Die Konventionsstaaten haben aber ein Verfahren akzeptiert, das dem Gerichtshof durch „rechtsfortbildendes Vorauseilen“ 720 eine neue Auslegung einer Konventionsbestimmung gestattet. Die Konventionsstaaten sind frei zu entscheiden, ob sie durch widerspruchslose Befolgung dem neuen Ansatz zustimmen oder ob sie sich diesem begründet widersetzen. Auf diese Weise wurde die evolutive Auslegung verschiedener Konventionsbestimmungen anerkannt.721 Die Fortbildung der EMRK beschränkt sich nicht auf materiell-rechtliche Normen, sondern kann sich auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht auswirken.722 Da die Grenze zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung fließend ist, können das rechtsfortbildende Vorauseilen und das widerspruchslose Nacheilen der Konventionsstaaten zur Anerkennung neuer Rechte führen.723 Der Erlass des ersten Piloturteils Broniowski ./. Polen kann als ein solches rechtsfortbildendes Vorauseilen gewertet werden. Zu untersuchen ist, wie die Konventionsstaaten auf die Piloturteile reagiert und inwieweit sie die Rechtsprechung des EGMR akzeptiert haben.724

718 Zu dieser Rechtsprechungsentwicklung siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. b)–d). 719 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 58. 720 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 58. 721 So die Einschätzung von Bernhardt, in: Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht, S. 147 (154). 722 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 57. 723 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 A. II. 3. b) cc). 724 Informationen über Stand des Urteilsvollzugs sind erhältlich auf der Internetseite des Europarates, abrufbar unter: (Human Rights and Rule of Law/Execution of Judgments of the ECHR), sowie auf der Internetseite des EGMR über Pressemitteilungen, abrufbar unter sowie über das Merkblatt zum Thema Piloturteile („Factsheet – pilot judgments“), abrufbar unter (Court/Press/Press Resources/Factsheets) – Stand 30.9.2015.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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aa) Reaktion auf die Piloturteile bezüglich der Eigentumsverletzung (Art. 1 des 1. ZP-EMRK) Polen hat auf das Piloturteil Broniowski725 unverzüglich reagiert und den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess schon ein Jahr nach Verkündung des Piloturteils abgeschlossen. Infolge der zufriedenstellenden Implementierung des neuen Kompensationsmechanismus für die Repatriierten, die ihr Eigentum zwischen 1944 und 1953 in den Ostprovinzen verloren hatten, beschloss das Ministerkomitee im März 2008, die Überwachung des Urteilsvollzugs zu beenden.726 Im September 2008 beendete der EGMR das Piloturteilsverfahren offiziell, indem er die zu diesem Zeitpunkt noch anhängigen 176 Beschwerden aus dem Register strich.727 Im Anschluss an das Piloturteil Hutten-Czapska728 aus dem Jahr 2006, das die defizitäre Wohnungsgesetzgebung in Polen betraf, stellte der Gerichtshof im Jahr 2011 fest, dass das strukturelle Problem einer Lösung zugeführt und ein Entschädigungssystem in Polen eingeführt wurde, das den Vermietern eine angemessene Möglichkeit zum Erhalt einer Entschädigung für die Verletzung ihrer Eigentumsrechte gibt.729 Der EGMR hat inzwischen sämtliche parallelen Beschwerden aus dem Register gestrichen und das Piloturteilverfahren abgeschlossen.730 Nach dem Piloturteil Suljagic´ ./. Bosnien und Herzegowina bezüglich der Versäumnisse der Behörden, dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung für den Verlust von Fremdwährungsguthaben zu gewähren, hat der verurteilte Staat alle Anordnungen des Gerichtshofs befolgt und die Staatsanleihen an die Betroffenen ausgezahlt. Der Gerichtshof hat das Piloturteilverfahren geschlossen und die parallelen Beschwerden aus dem Register gestrichen.731 In dem Fall Atanasiu u. a. ./. Rumänien vom 12. Oktober 2010 hatte der Gerichtshof Rumänien aufgegeben, innerhalb von 18 Monaten nach Rechtskraft des Urteils eine angemessene Wiedergutmachung für die Enteignungen zu leisten,

725 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004 – Broniowski ./. Polen, Nr. 31443/96, EuGRZ 2004, S. 472 ff. 726 Ministerkomitee, Überwachung der Durchführung der Urteile des EGMR, 2. Jahresbericht 2008, S. 189, Ziff. 158. 727 EGMR, Entscheidung über das Piloturteilsverfahren v. 23.9.2008 – E.G. ./. Polen, Nr. 50425/99 (und 175 weitere Bug River – Beschwerden), Ziff. 29 und Tenor. 728 EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97. 729 Pressemitteilung Nr. 284 des Gerichtshofs vom 31.3.2011, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 730 EGMR, Entscheidung über das Piloturteilsverfahren v. 8.3.2011 – Vereinigung der Immobilieneigentümer in Łódz´ ./. Polen, Nr. 3485/02 (und 24 weitere Beschwerden), Ziff. 90 und Tenor. 731 EGMR, Entscheidung v. 16.10.2010 – Zadric ´ ./. Bosnien-Herzegowina, Nr. 18804/ 04.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

die unter dem kommunistischen Regime stattgefunden haben. In Reaktion auf das Urteil hat Rumänien einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, um den Entschädigungsprozess effektiver auszugestalten, und am 15. Mai 2012 dem Ministerkomitee zukommen lassen. Auf Bitte Rumäniens gewährte der Gerichtshof wiederholt eine Verlängerung der Frist zur Urteilsimplementierung bis zum 12. Mai 2013.732 Am 7. Mai 2013 entschied der Gerichtshof, die Entscheidung über die parallelen Beschwerden weiter zu suspendieren, bis er die getroffenen Abhilfemaßnahmen auf ihre Wirksamkeit untersucht hat. Am 16. Mai 2013 erließ Rumänien das Gesetz Nr. 165/2013, das – wie der EGMR im Preda u. a. ./. Rumänien vom 29. April 2014 feststellte – einen im Grundsatz wirksamen und angemessenen Entschädigungsrahmen für die Betroffenen einführte.733 In den Fällen Manushage Puto u. a. ./. Albanien, M.C. u. a. ./. Italien und Alisˇic´ u. a. gegen Bosnien-Herzegowina, Kroatien, u. a. steht die abschließende Bewertung der Maßnahmen durch den Gerichtshof noch aus. bb) Reaktion auf die Piloturteile wegen Nichtvollzugs der Gerichtsentscheidungen und des Fehlens einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit (Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK) In Reaktion auf das Piloturteil Burdov Nr. 2 vom 15. Januar 2005734 hat Russland ein neues Bundesgesetz erlassen, das eine Entschädigung für Verletzungen des Rechts auf angemessene Dauer der Gerichtsverfahren oder des Rechts auf einen zeitnahen Vollzug einer gerichtlichen Entscheidung vorsieht, die unabhängig von einem Verschulden der Behörden gewährleistet wird. Das Gesetz ist am 4. Mai 2010 in Kraft getreten. In den Unzulässigkeitsentscheidungen vom 23. September 2010 Nagovitsyn und Nalgiyev ./. Russland und Fakhretdinov u. a. ./. Russland würdigte der EGMR diese Maßnahme und wies alle nach dem Piloturteil neu eingereichten Beschwerden auf die nationalen Gerichte und das neue Entschädigungsgesetz zurück.735 Im Fall Ilyushikin u. a. ./. Russland 736 beschwerten sich ehemalige Mitglieder des Militärs über den Nichtvollzug von Urteilen, die die Behörden verpflichteten, ihnen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Da das Entschädigungsgesetz aus dem Jahr 2010 keine Entschädigung für

732 Pressemitteilung Nr. 99 des Gerichtshofs vom 3.4.2013, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 733 EGMR, Urteil v. 29.4.2014 – Preda u. a. ./. Rumänien, Nr. 9584/02, 33514/02, 38052/02 u. a., Ziff. 129. 734 EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland (Nr. 2), Nr. 33509/04. 735 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 23.9.2010 – Nagovitsyn und Nalgiyev ./. Russland, Nr. 27451/09 und Nr. 60650/09 und EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 23.9.2010 – Fakhretdinov u. a. ./. Russland, Nr. 26716/09, 67576/09 und 7698/10. 736 EGMR, Urteil v. 17.4.2014 – Ilyushkin u. a. ./. Russland, Nr. 5734/08, 20420/07, 54342/08 u. a.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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die Verzögerung des Urteilsvollzugs im Zusammenhang mit Sachleistungen vorsah, stellte der Gerichtshof fest, dass für diesen Teilbereich das strukturelle Problem fortbesteht. Der Gerichtshof nahm die Prüfung der Beschwerden insoweit wieder auf 737 und erließ 2014 mit dem Urteil Gerasimov u. a. ./. Russland ein weiteres Piloturteil.738 In Reaktion auf das Piloturteil Olaru ./. Moldawien739 haben die moldawischen Behörden im März 2010 einen Aktionsplan für die Umsetzung des Piloturteils740 und im Mai 2010 Gesetzesentwürfe für die Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs vorgelegt, mittels dessen der Nichtvollzug endgültiger nationaler Urteile oder eine überlange Verfahrensdauer geltend gemacht werden kann. Die Gesetzesreform erfolgte im Juli 2011 durch das Gesetz Nr. 87, also nach Ablauf der vom EGMR gesetzten Frist. In der Unzulässigkeitsentscheidung im Fall Balan ./. Moldawien vom 24. Januar 2012 wertete der Gerichtshof den Rechtsbehelf als effektiv.741 Die Ukraine konnte nach dem Urteil Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine einige parallele Fälle durch gütliche Einigung oder einseitige Erklärung742 abschließen. Da sie es aber nach Ansicht des Gerichtshofs versäumt hat, hinreichende generelle Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, um das Problem des Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen auf nationaler Ebene zu beseitigen, hat der Gerichtshof die Prüfung der parallelen Beschwerden wieder aufgenommen.743 cc) Reaktion auf die Piloturteile bezüglich des Problems überlanger Verfahrensdauer Deutschland hat bereits im August 2010 einen Gesetzesentwurf über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren ausgearbeitet, der Entschädigung 737

EGMR, Urteil Ilyushkin u. a. ./. Russland, Ziff. 44. EGMR, Urteil v. 1.7.2014 – Gerasmiov ./. Russland, Nr. 29920/05, 3553/06, u. a. 739 EGMR, Urteil v. 28.7.2009 – Olaru u. a. ./. Moldawien, Nr. 476/07, Nr. 22539/ 05, Nr. 17911/08 und Nr. 13136/07. 740 Ministerkomitee, Überwachung der Durchführung der Urteile des EGMR, 4. Jahresbericht 2010, S. 154 f., Rn. 63. 741 EMGR, Entscheidung v. 24.1.2012 – Balan ./. Moldawien, Nr. 44746/08. 742 Wenn eine gütliche Einigung nicht erfolgreich war, der beklagte Staat aber die Konventionsverletzung anerkennt und dem Beschwerdeführer eine Entschädigung angeboten hat, kann der Gerichtshof auf Antrag der Regierung unter bestimmten Umständen eine Beschwerde gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK streichen, auch wenn der Beschwerdeführer eine Fortführung der Prüfung der Beschwerde begehrt. Auf der Interlaken Konferenz wurde die Bedeutsamkeit einseitiger Erklärungen für Wiederholungsfälle hervorgehoben. Näher zu den Voraussetzungen für die Streichung der Beschwerde aufgrund einseitiger Erklärung, siehe EGMR (GK), Urteil v. 6.5.2003 – Tahsin Acar ./. Türkei („preliminary issue“, Vorfragen), Nr. 26307/95. 743 EGMR, Pressemitteilung vom 29.2.2012, abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 738

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

bei überlangen Gerichtsverfahren vorsieht und für den die Oberlandesgerichte zuständig sind.744 Nach dem Erlass des Piloturteils Rumpf ./. Deutschland 745 im September 2010746 ist das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer am 3. Dezember 2011 in Kraft getreten.747 Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch ist, dass der Anspruchsteller das Gericht auf die Verzögerung mit einer Rüge hingewiesen hat. Die Rüge wirkt präventiv und gibt dem Richter die Möglichkeit, Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zu ergreifen und weitere Verzögerungen zu verhindern. Der Anspruch auf Entschädigung sieht kein Verschulden des Richters oder der Gerichtsverwaltung voraus und ermöglicht Ersatz für materielle und immaterielle Schäden. In der Unzulässigkeitsentscheidung Taron ./. Deutschland vom 29. Mai 2012 erklärte der Gerichtshof, dass er das neue Gesetz für geeignet hält, eine angemessene und ausreichende Entschädigung für die Betroffenen zu gewährleisten.748 Auch Griechenland reagierte auf das Piloturteil Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland 749 und arbeitete das Gesetz Nr. 4055/2012 aus, das am 2. April 2012 in Kraft getreten ist und Maßnahmen präventiver und kompensatorischer Natur zur Beseitigung des Problems der überlangen Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten vorsieht. In der Entscheidung Techniki Olympiaki A.E. ./. Griechenland kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Abhilfemaßnahmen effektiv sind.750 In Reaktion auf die Piloturteile Michelioudakis ./. Griechenland und Glykantzi ./. Griechenland führte Griechenland mit dem Gesetz Nr. 4239/2014 ferner ein Entschädigungssystem ein, um eine angemessene Entschädigung in überlangen Zivil- und Strafverfahren zu gewährleisten. In der Unzulässigkeitsentscheidung Xynos ./. Griechenland 751 vom 9. Oktober 2014 bestätigte der Gerichtshof auch die Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfs. Bulgarien hat nach den Piloturteilen Dimitrov und Hamanov ./. Bulgarien und Finger ./. Bulgarien sein Gerichtsverfassungsgesetz und das Staatshaftungsgesetz 744

Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 13, Rn. 45. EGMR, Urteil v. 2.9.2010 – Rumpf ./. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355. 746 Mangels Suspendierung der parallelen Beschwerden folgten bis zum Inkrafttreten der Neuregelung weitere Verurteilungen, vgl. EGMR, Urteil v. 20.1.2011 – Kuhlen-Rafsandjani ./. Deutschland, Nr. 21980/06, 26944/07, 36948/08 und EGMR, Urteil v. 21.7.2011 – Bellut ./. Deutschland, Nr. 21965/09. 747 BGBl. I Nr. 60 vom 2. Dezember 2011, S. 2302 – Gesetz über den Rechtsschutz bei den überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. 748 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 29.5.2012 – Reinhold Taron ./. Deutschland, Nr. 53126/07, Ziff. 40. 749 EGMR, Urteil v. 21.12.2010 – Vassilios Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Nr. 50973/08. 750 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 1.10.2013 – Techniki Olympiaki A.E. ./. Griechenland, Nr. 40547/10, Ziff. 58. 751 EGMR, Urteil v. 9.10.2014 – Xynos ./. Griechenland, Nr. 30226/09. 745

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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geändert und zwei kompensatorisch wirkende Rechtsbehelfe eingeführt, nämlich einen Verwaltungsrechtsbehelf und einen gerichtlichen Rechtsbehelf. In der Entscheidung Valcheva und Abrashev ./. Bulgarien untersuchte der Gerichtshof die Rechtsbehelfe, insbesondere die mit ihnen verbundenen verfahrensrechtlichen Garantien und Kosten, die Fristen, die Höhe der Entschädigung und die Schnelligkeit mit der diese ausgezahlt wird, die Reichweite der eingeführten Rechtsbehelfe und ob die Rechtsbehelfe Rückwirkung entfalten und auch auf die bereits beim Gerichtshof eingereichten Beschwerden anwendbar sind.752 Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die nationalen Rechtsbehelfe eine wirksame Entschädigung für die Betroffenen hinsichtlich überlanger Verfahrensdauer vor den Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichten bereitstellen.753 Nach dem Piloturteil Ümmühan Kaplan ./. Türkei vom 20. März 2012 erließ die Türkei ein Gesetz zur Regelung der Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer, die beim Gerichtshof vor dem 23. September 2012 eingegangen sind und der türkischen Regierung noch nicht kommuniziert worden waren. In der Unzulässigkeitsentscheidung Demirog˘lu u. a. ./. Türkei vom 4. Juni 2013754 stellte der Gerichtshof fest, dass die türkische Nationalversammlung das Gesetz am 9. Januar 2013 umgesetzt hat. Obwohl die der Entscheidung zugrunde liegende Beschwerde noch vor Inkrafttreten des Gesetzes beim Gerichtshof eingereicht worden war, hielt der Gerichtshof es für erforderlich, dass die Beschwerdeführer das durch das neue Gesetz eingeführte Entschädigungssystem in Anspruch nehmen und wies die Beschwerde mangels Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurück. Soweit der EGMR in dem Urteil Behçet Tas ./. Türkei 755 ausnahmsweise eine parallele Beschwerde zugelassen hat, beruhte dies auf den besonderen Umständen des Einzelfalls, da trotz fehlender Komplexität eine Verfahrensverzögerung von über acht Jahren vorgelegen hat und der EGMR insoweit eine Zurückverweisung auf den innerstaatlichen Rechtsweg für nicht angemessen hielt. dd) Reaktion auf das Piloturteil Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich wegen Ausschluss der Gefangenen von dem Wahlrecht In dem Fall Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich, der das Wahlrecht von Strafgefangenen betraf, gab der EGMR dem beklagten Staat auf, innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft des Piloturteils Vorschläge zur Änderung des Wahlgesetzes zu liefern, die im Einklang mit der EMRK stehen. Nachdem am 752 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 18.6.2013 – Polyana Ivanova Valcheva und Enyo Nikolov Abrashev ./. Bulgarien, Nr. 6149/11 und Nr. 34887/11, Ziff. 98–117. 753 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 18.6.2013, Ziff. 118. 754 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung v. 10.3.2013 – Demirog ˘ lu u. a. ./. Türkei, Nr. 56125/10. 755 EGMR, Urteil v. 10.3.2015 – Behçet Tas ./. Türkei, Nr. 48888/09.

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

11. April 2011 die Verweisung des Urteils an die Große Kammer abgewiesen worden war, wurde das Piloturteil rechtskräftig, so dass die Frist zu laufen begann. Die Vertreter des Vereinigten Königreichs baten jedoch den EGMR um eine Verlängerung der Frist, um sich in dem Fall Scoppola Nr. 3 ./. Italien,756 der einen vergleichbaren Fall betraf, in den mündlichen und schriftlichen Verhandlungen vor der Großen Kammer beteiligen zu können.757 Das Piloturteil Greens und M.T. führte im Vereinigten Königreich zu Diskussionen, da die Korrektur des Gesetzgebers durch die verbindliche Anordnung des EGMR mit dem Selbstverständnis der Briten und dem Grundsatz der Parlamentssouveränität nur schwer vereinbar ist.758 Diese Schwierigkeiten verdeutlicht der Gesetzesentwurf vom 22. November 2012, den die britische Regierung in Reaktion auf das Piloturteil ausgearbeitet hat. Dieser schlug zur Lösung des strukturellen Problems vor, den Wahlrechtsausschluss auf Strafgefangene zu beschränken, die zu einer Haftstrafe von vier Jahren und mehr verurteilt worden sind, oder den Wahlrechtsausschluss auf Strafgefangene zu beschränken, die zu sechs Monaten und mehr verurteilt worden sind. Als weitere Alternative sah er die Beibehaltung des vollständigen Wahlrechtsausschlusses vor.759 Dem letzten Vorschlag liegt die Annahme zugrunde, dass das Urteil des Gerichtshofs aufgrund einer neuen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers demokratisch überholt werden könne.760 Der Gerichtshof hat unter Berücksichtigung des Gesetzesentwurfs die Prüfung der parallelen Beschwerde zunächst suspendiert, nach nicht erfolgter Umsetzung des Gesetzesentwurfs die Prüfung der parallelen Beschwerden aber wieder aufgenommen.761

756 EGMR, Urteil v. 18.1.2011 – Scoppola ./. Italien (Nr. 3), Nr. 126/05. Das Urteil der Großen Kammer ist im Mai 2012 ergangen – EGMR (GK), Urteil v. 22.5.2012 – Scoppola ./. Italien Nr. 3, Nr. 126/05. 757 Pressemitteilung des EGMR vom 26.3.2013 – ECHR 091(2013), abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/ (Press releases, Stand: 30.9.2015). 758 Hierzu Breuer, Demokratieprinzip versus Rechtsstaatsprinzip, VerfBlog 2014/7/ 21. 759 Pressemitteilung des EGMR vom 26.3.2013 – ECHR 091(2013), abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/ (Press releases) – Stand: 30.9.2015. 760 Zu dem Gedanken des „democratic override“ siehe Breuer, Demokratieprinzip versus Rechtsstaatsprinzip, VerfBlog 2014/7/21. 761 So stellte der EGMR in Zusammenhang mit einer parallelen Beschwerde wegen der unveränderten Gesetzeslage erneut einen Verstoß gegen Art. 3 des 1. ZP-EMRK fest (EGMR, Urteil v. 12.8.2014 – Firth u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 47784/09, 47806/09, 47812/09 u. a.). Zum Stand des Urteilsvollzugs mit Blick auf das Urteil Greens ./. Vereinigtes Königreich, siehe auch (Human Rights and Rule of Law/Execution of Judgments of the ECHR/Pending Cases) – Stand 30.9. 2015.

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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ee) Reaktion Sloweniens auf das festgestellte Versäumnis den Status der „Ausradierten“ zu regeln In dem Urteil Kuric´ u. a. ./. Slowenien war Slowenien aufgegeben worden, innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft des Piloturteils ein Entschädigungssystem für die „Ausradierten“ zur Verfügung zu stellen. In ihrem Urteil vom 12. März 2014762 stellte die Große Kammer des Gerichtshofs fest, dass der slowenischen Regierung die Einführung des Rechtsbehelfs nicht innerhalb der Jahresfrist gelungen ist. Der Gerichtshof nahm jedoch zur Kenntnis, dass ein Gesetz zur Bereitstellung eines ad hoc-Entschädigungssystems im Dezember 2013 in Kraft getreten ist und ab 18. Juni 2014 anwendbar sein wird. Der Gerichtshof erachtete dieses Gesetz prima facie als angemessen. ff) Reaktion auf die Feststellung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) Nach Erlass des Piloturteils Torregani u. a. ./. Italien, in dem der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen Überfüllung der Gefängnisse festgestellt hat, führte Italien in der Folge ein Entschädigungssystem für die von dem strukturellen Mangel betroffenen Personen ein. In den Unzulässigkeitsentscheidungen Stella u. a. ./. Italien763 und Rexhepi u. a. ./. Italien764 stellte der Gerichtshof die Wirksamkeit der eingeführten Rechtsbehelfe fest und wies die parallelen Beschwerden auf den innerstaatlichen Rechtsweg zurück. In dem Urteil Ananyev u. a. ./. Russland hat der EGMR die schlechten Bedingungen in Untersuchungsgefängnissen bemängelt. In Reaktion auf das Urteil hat Russland einen Aktionsplan ausgearbeitet, der Abhilfemaßnahmen zur Beseitigung des Problems vorsieht.765 Eine abschließende Bewertung des Gerichtshofs der geplanten oder bereits ergriffenen Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem und den weiteren Piloturteilen, die einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK festgestellt haben, steht noch aus. Eine Suspendierung der parallelen Beschwerden hat in diesen Fällen nicht stattgefunden.

762

EGMR, Urteil v. 12.3.2014 – Kuric´ ./. Slowenien, Nr. 26828/06. EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 16.9.2014 – Stella u. a. ./. Italien, Nr. 49169/09. 764 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 16.9.2014 – Rexhepi u. a. ./. Italien, Nr. 47180/10. 765 DH – DD(2012)1009 – Aktionsplan Russlands über die Umsetzung des Piloturteils des EGMR bezüglich der Beschwerden Nr. 42525/07 und 60800/08. 763

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3. Teil: Die rechtsdogmatischen Grundlagen der Piloturteilstechnik

4. Fazit Die Konventionsstaaten haben insgesamt sehr positiv auf das Piloturteilsverfahren reagiert und sich um eine umgehende Umsetzung der Anordnungen des Gerichtshofs bemüht. Soweit es zu Verzögerungen bei der Umsetzung der Piloturteile gekommen ist, beruhten diese auf tatsächlichen Schwierigkeiten und der Dauer der internen Gesetzgebungsverfahren. Insbesondere die Umsetzung der Piloturteile, die einen strukturell-systemischen Mangel betreffen, stellt naturgemäß eine besondere Herausforderung für den verurteilten Staat dar. Dies gilt umso mehr, wenn sensible Bereiche wie politische Rechte oder massive Konventionsverletzungen betroffen sind – wie z. B. bei dem Ausschluss der Strafgefangenen von den Wahlen oder bei mangelhaften Haftbedingungen in den Gefängnissen. Soweit es den Staaten nicht gelungen ist, die Anordnungen des Gerichtshofs fristgemäß und vollständig umzusetzen, reagierte der EGMR mit der Wiederaufnahme der Prüfung der parallelen Beschwerden oder – wie im Fall Gerasimov ./. Russland – mit dem Erlass eines weiteren Piloturteils. Einwände gegen das Piloturteilsverfahren als solches oder gegen die grundsätzliche Verbindlichkeit der Anordnungen haben die Konventionsstaaten gegenüber dem EGMR aber nicht geäußert. Lediglich die italienische Regierung hat in dem Quasi-Piloturteil Sejdovic´ ./. Italien Bedenken geäußert.766 Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Piloturteilsverfahren noch in der Erprobungsphase und die Bedenken sind vereinzelt geblieben. Im Fall Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine hat die ukrainische Regierung Einwände gegen die Anwendung des Piloturteilsverfahrens geäußert, die sich aber nicht gegen das Verfahren als solches, sondern gegen die Anwendung im konkreten Fall richteten.767 Auf der Konferenz von Interlaken haben die Konventionsstaaten den Gebrauch der Piloturteile durch den EGMR ausdrücklich befürwortet.768 Die Staaten haben damit das Piloturteilsverfahren in seinen Grundzügen akzeptiert.769

766

EGMR (GK), Urteil v. 1.3.2006 – Sejdovic ./. Italien, Nr. 56581/00, Ziff. 115. Der EGMR hat die Einwände verworfen – EGMR, Urteil v. 15.10.2009 – Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/04, Ziff. 77 u. 82. 768 Erklärung von Interlaken v. 19.2.2010 anlässlich der Konferenz über die Zukunft des EGMR, Aktionsplan, Ziff. D 7 b): „[The Conference] stresses the need for the Court to develop clear and predictable standards for the ,pilot judgment‘ procedure as regards selection of applications, the procedure to be followed and the treatment of adjourned cases, and to evaluate the effects of applying such and similar procedures.“ Die Erklärung von Interlaken und der Aktionsplan sind abrufbar unter (The Court/Reform of the Court/Conferences), Stand: 30.9.2015. 769 In diesem Sinne auch Fyrnys, German Law Journal 12 (2011), S. 1231 (1252): „The application of the pilot judgement procedure is broadly considered to have been successful (. . .). Thus, the state parties accepted the new procedure.“ 767

D. Anordnungen genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil

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IV. Zusammenfassung Die Bindungswirkung der im Urteilstenor angeordneten generellen Abhilfemaßnahmen über den Einzelfall hinaus lässt sich weder über eine Rechtskrafterstreckung noch über eine erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR begründen. Der Wortlaut des Art. 46 EMRK beschränkt die Pflicht der Konventionsstaaten zur Befolgung der Urteile des EGMR auf die Parteien des Verfahrens. Eine Modifikation des Art. 46 EMRK durch Abschaffung des beschränkenden Zusatzes („in denen sie Partei sind“) im Wege einer vertragsändernden Staatenpraxis hat nicht stattgefunden. Obwohl die Urteile des EGMR im Allgemeinen befolgt und die Rechtsprechung des EGMR auch im Zusammenhang mit Urteilen, die gegen andere Konventionsstaaten ergangen sind, berücksichtigt wird, fehlt es an der für eine Derogation des Art. 46 EMRK erforderlichen Rechtsüberzeugung (opinio iuris) der Konventionsstaaten, an die Urteile des EGMR formell gebunden zu sein. Die Staaten haben sich vielmehr die Möglichkeit der Abweichung von der Straßburger Rechtsprechung vorbehalten. In den Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK hat sich zudem eine Untergruppe der Reflexionsgruppe ausdrücklich gegen die Idee ausgesprochen, durch Streichung der letzten Worte in Art. 46 Abs. 1 EMRK („in denen sie Partei sind“) eine Bindung erga omnes einzuführen. Die Auslegung durch den Gerichtshof entfaltet aber eine echte Rechtswirkung durch Teilnahme an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung, wenn eine gefestigte Rechtsprechung vorliegt. Im Hinblick auf echte Piloturteile hat eine vertragserweiternde Staatenpraxis stattgefunden, und die Anordnung der generellen Maßnahmen im Urteilstenor der Piloturteile entfaltet echte Bindungswirkung. Anknüpfungspunkt für die vertragserweiternde Auslegung ist der Begriff der Partei in Art. 46 EMRK. Im Zusammenhang mit einem spezifischen Mangel, der eine abgrenzbare Personengruppe betrifft, erstreckt sich der Parteibegriff auf die Personengruppe, die von dem strukturellen Mangel betroffen ist. Liegt ein echter systemischer Mangel vor (z. B. Nichtvollzug nationaler Urteile), bedarf es keines Rückgriffs auf die erweiterte Auslegung des Parteibegriffs, denn der EGMR beschränkt sich hier regelmäßig auf die Anordnung, einen innerstaatlichen Rechtsbehelf gemäß Art. 13 EMRK einzuführen, mit dem der strukturelle Mangel bzw. eine Entschädigung geltend gemacht werden kann. Die Verbindlichkeit der Anordnung zur Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs folgt insoweit unmittelbar aus Art. 46 EMRK, da Art. 13 EMRK nicht nur ein Individualrecht, sondern auch eine objektive Pflicht des Staates begründet.

Vierter Teil

Die Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems „[T]he Court must not seek to rescue every drowning person’. [Rather, its mission is] to oversee that, in every member state, the ship of state is seaworthy and makes adequate provision for lifeboats.“ 1

Das Piloturteilsverfahren verdeutlicht eine Verschiebung in der Rechtsprechung des EGMR, die sich von der reinen Einzelbetrachtung löst und die Entscheidung auf parallele Beschwerden erstreckt. Das Verfahren steht daher in einem engen Zusammenhang mit der Diskussion um einen Ausbau der verfassungsrechtlichen Funktion des Gerichtshofs.2 Dabei geht es um die Frage, ob primäre Aufgabe des EGMR die Abhilfe der individuellen Beschwer bleiben soll oder ob seine Funktion zur Fortentwicklung der Grundrechte im Dienste der Allgemeinheit gestärkt werden muss. Das Piloturteilsverfahren ist aufschlussreich für die Diskussion um die Neupositionierung des Gerichtshofs im Allgemeinen und die Einführung eines erga omnes-Effekts der Urteile im Besonderen.

A. Diskussion um eine Neupositionierung Der EGMR hat den Auftrag, der individuellen Beschwer des Beschwerdeführers abzuhelfen und den Schutz der Menschenrechte fortzuentwickeln. Vor dem Hintergrund der Überlastung des Gerichtshofs befürworten die Vertreter des verfassungsrechtlichen Ansatzes, dass die objektive Dimension des Konventionsschutzes gestärkt werden müsse, indem sich der Gerichtshof auf die Ausarbeitung von Leitentscheiden konzentriert und die Grundsätze des europäischen Menschenrechtsschutzes mit allgemeinverbindlicher Wirkung festsetzt.3 1 Lawson, De mythe van het moeten: Het Europees Hof voor de Recheten van de Mens en 800 miljoen klagers“, NJCM-Bulletin 28 (2003), S. 130, zitiert und übersetzt von: Harmsen, in: Morison u. a. (Hrsg.), Transition and Human Rights, S. 33 (38). 2 Die verfassungsrechtliche Dimension des Piloturteilverfahrens betonen auch Garlicki, Broniowski and After, in: Caflisch u. a. (Hrsg.), FS Wildhaber, S. 177 (182) („constitutional dimension“) und Fyrnys, German Law Journal 12 (2011), S. 1231 (1233) („constitutional function“). 3 Zu der verfassungsrechtlichen Rolle des EGMR: Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 ff.; Flauss, RFDC 36

A. Diskussion um eine Neupositionierung

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I. Verfassungsrechtlicher Schutz versus individueller Schutz Berühmtester Vertreter des verfassungsrechtlichen Ansatzes ist der ehemalige Präsident des EGMR Luzius Wildhaber, nach dessen Ansicht aufgrund der ständig steigenden Zahl der Beschwerden „die Zukunft des Systems unmöglich auf der individuellen Wiedergutmachung beruhen“ 4 könne. Trotz der besonderen Bedeutung der Individualbeschwerde für die EMRK sei diese sekundär zu dem Hauptziel, den generellen Schutzstandard der Menschenrechte zu erhöhen.5 Aufgrund der steigenden Belastung des EGMR, die das Konventionssystem zu paralysieren droht, befürwortet Wildhaber einen Wandel: „Kann man wirklich behaupten, dass bei einer Zahl von 30.000 Fällen pro Jahr ein echter und effektiver Zugang gewährleistet ist? (. . .) Ist es nicht ratsamer, dass der Gerichtshof viel weniger Urteile fällt, dass er diese aber schnell fällt und sie ausführlich begründet, damit die darin festgelegten Grundsätze der Rechtsprechung von einer derartigen Klarheit sind, dass sie de facto verbindlich sind für alle, und dass die Urteile gleichzeitig die strukturellen Probleme verdeutlichen, welche die Demokratie und den Rechtsstaat in Teilen Europas untergraben?“ 6

Die Diskussion um eine stärkere verfassungsrechtliche Orientierung entzündete sich im Rahmen der Reformarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK anlässlich der Frage, ob ein certiorari-Verfahren vergleichbar dem amerikanischen System eingeführt und der Gerichtshof ermächtigt werden soll, sich die Fälle über die er entscheidet selbst herauszusuchen.7 Der Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen. Es wurde die Sorge geäußert, dass dieser Ansatz zu einer Beschränkung des Individualbeschwerderechts führen würde.8 Nach Ansicht Tomuschats würde hierdurch „die Axt an das Grundaxiom gelegt“,9 welches jedem Einzelnen den Zugang zum Gerichtshof vermittelt. Auch Keller/Bertschi betonen, dass die Indi-

(1998), S. 711 ff.; Harmsen, in: Morison u. a. (Hrsg.), Judges, Transition and Human Rights, S. 33 ff.; Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff.; Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569 ff. 4 Wildhaber, EuGZR 2002, S. 569 (571). 5 Wildhaber, EuGZR 2002, S. 569 (571). In diesem Sinne auch: Christoffersen, in: ders./Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 181 (181): „The Crown jewel of the Convention is the right of individual petition, but the jewel does not shine as brightly as it used to. The Court simply has neither the capacity nor the power to provide individual relief to the extent needed in the present day Council of Europe“. 6 Wildhaber, EuGZR 2002, S. 569 (573). 7 Zu den Vor- und Nachteilen eines solchen Verfahrens: Benoît-Rohmer, RUDH 14 (2002), S. 313–318. 8 Zwischenbericht des Lenkungsausschusses v. 18.10.2002 über die langfristige Sicherung des EGMR, (Interim Report of the CDDH to the Committee of Ministers „Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights“), CM(2002)146, Rn. 39. 9 Tomuschat, EuGRZ 2003, S. 95 (99).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

vidualbeschwerde „unverzichtbarer Kern“ 10 des Konventionsschutzes sei und der Schutz des Einzelnen nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, ob der Fall zur Herausbildung allgemeiner Grundsätze taugt. Der EGMR sei bei der Urteilsumsetzung auf die Kooperation der Konventionsstaaten angewiesen. Die Akzeptanz der Urteile des EGMR werde erleichtert, wenn die Rechtsprechung anhand von Fällen herausgearbeitet und getestet wird, die auf den ersten Blick unbedeutend und einfach erscheinen.11 Zwar räumen die Kritiker des verfassungsrechtlichen Schutzes ein, dass ein Annahmeverfahren die Behandlung von einfachen Fällen nicht generell ausschließen würde. Sie befürchten aber, dass der Gerichtshof bei der Auswahl der Fälle einem politischem Druck ausgesetzt werden könne und dass allein der Verdacht, der EGMR habe sich dem Druck gebeugt, zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgern führen würde.12 Aufgrund dieser Bedenken wurde das certiori-Verfahren nicht in das 14. Protokoll zur EMRK aufgenommen.13 Der Bericht der Wise Persons lehnt die Einführung eines solchen Verfahrens auch für die Zukunft ab.14 Auf der Konferenz von Interlaken und von Izmir wurde der Erhalt des Individualschutzes als Grundpfeiler („cornerstone“) des Konventionssystems bekräftigt.15

II. Verwirklichung eines zweigleisigen Schutzsystems Zuzustimmen ist, dass das Individualbeschwerdeverfahren als wesentlicher Kern des Konventionssystems gewahrt werden muss. Es darf nicht einseitig zugunsten des verfassungsrechtlichen Schutzes aufgegeben werden. Den Vertretern des verfassungsrechtlichen Ansatzes ist aber zuzugestehen, dass das Individual10

Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (211). Keller/Bertschi, ebenda. 12 Keller/Bertschi, EuGRZ 2005, S. 204 (211). Vgl. auch: Abschlussbericht der Group of Wise Persons v. 15.11.2006, CM(2006)203, HRLJ 27 (2006), S. 279 ff. (Teil 1 Fn. 219), Rn. 42: „(. . .) a greater margin of appreciation would entail a risk of politicising the system as the Court would have to select cases for examination. The choices made might lead to inconsistencies and might even be considered arbitrary.“ 13 Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14, BT-Drs. 16/42 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 34. 14 Abschlussbericht der Group of Wise Persons v. 15.11.2006, CM(2006)203 (Teil 1 Fn. 219), Rn. 42: „The Group (. . .) decided not to pursue the idea of giving the Court a discretionary power to decide whether or not to take up cases for examination (. . .). It felt that a power of this kind would be alien to the philosophy of the European human rights protection system. The right of individual application is a key component of the control mechanism of the Convention and the introduction of a mechanism based on the certiorari procedure would call it into question and thus undermine the philosophy underlying the Convention.“ 15 Erklärung von Interlaken v. 19.2.2010 anlässlich der Konferenz über die Zukunft des EGMR, Aktionsplan (Teil 1 Fn. 226), Ziff. A 1: „The Conference reaffirms the fundamental importance of the right of individual petition as a cornerstone of the Convention system which guarantees that alleged violations that have not been effectively dealt with by national authorities can be brought before the Court.“ 11

A. Diskussion um eine Neupositionierung

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beschwerderecht in der Praxis nicht in absoluter Form verwirklicht werden kann. So darf nicht außer acht gelassen werden, dass die Konventionsorgane schon seit geraumer Zeit den Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK weit auslegen. Dies hat zur Folge, dass schon heute von der Öffentlichkeit unbemerkt Beschwerden aussortiert werden, die möglicherweise für eine Fortentwicklung der Rechtsprechung geeignet gewesen wären.16 Das Ziel muss daher sein, den verfassungsrechtlichen Schutz im Konventionsrecht zu stärken, ohne das Individualbeschwerdeverfahren in seiner Substanz anzugreifen. Auch die Group of Wise Persons wählte bei ihrer Untersuchung zur langfristigen Sicherung der Effektivität des Konventionssystems den Ansatz eines zweigleisigen Schutzes: „This protection mechanism confers on the Court at one and the same time a role of individual supervision and a ,constitutional‘ mission.“ 17

Das Piloturteilsverfahren liefert Anhaltspunkte wie ein solcher zweigleisiger Schutz verwirklicht werden kann. 1. Der Bedeutungszuwachs des Art. 13 EMRK Die Konventionsstaaten müssen ihrer Verantwortung beim Konventionsschutz gerecht werden, und der EGMR hat sie bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe zu überwachen.18 Das Piloturteilsverfahren stärkt das Recht auf wirksame Beschwerdemöglichkeit nach Art. 13 EMRK und den in dieser Norm zum Ausdruck kommende Subsidiaritätsgrundsatz. Denn die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 13 EMRK führt zu einer erweiterten Anwendungsmöglichkeit des Piloturteilsverfahrens und stärkt die objektive Kontrollfunktion des EGMR.

16 Flauss, Droit et Justice Nr. 61 (2005), S. 180; Harris/O’Boyle/Warrick, Law of the Convention of Human Rights, S. 785. Auch auf nationaler Ebene ist die Problematik nicht unbekannt. So ist die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93a BVerfGG nur anzunehmen, wenn ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder wenn dies zur Durchsetzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte angezeigt ist. Zu den Schwierigkeiten des Individualbeschwerdeverfahrens bei dem BVerfG und bei dem EGMR, siehe: Fink, in: Bogs (Hrsg.), Urteilsverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, S. 91 (93 ff.). 17 Abschlussbericht der Groupe of Wise Persons v. 15.11.2006, CM(2006)203 (Teil 1 Fn. 219), S. 279 ff., Rn. 23 und 24. 18 Die Konventionsstaaten haben die Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatzes in der Erklärung v. 27.4.2011 anlässlich der Konferenz über die Zukunft des EGMR in Izmir (Türkei) v. 26.–27.4.2011, Rn. 5 und Rn. 6 hervorgehoben: „Recalling that the subsidiary character of the Convention mechanism constitutes a fundamental and transversal principle which both the Court and the States Parties must take into account; (. . .) Recalling also the shared responsibility of both the Court and the States Parties in guaranteeing the viability of the Convention mechanism“. Die Erklärung ist abrufbar unter (The Court/Reform of the Court/Conferences), Stand: 30.9.2015.

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

a) Piloturteil und Art. 13 EMRK Art. 13 EMRK hat in der Rechtsprechung des EGMR lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle gespielt.19 Dies liegt in der Natur des Art. 13 EMRK als akzessorisches Recht, das nur in Verbindung mit einer materiellen Garantie der EMRK oder eines Zusatzprotokolls gerügt werden kann. Im Hinblick auf den Wortlaut („verletzt ist“) haben die Konventionsorgane Art. 13 EMRK zunächst nur unter der Voraussetzung herangezogen, dass bereits ein Verstoß gegen eine andere Konventionsbestimmung festgestellt wurde. Insoweit hatte Art. 13 EMRK keine eigenständige Bedeutung.20 Seit der Rechtsprechung Klass ist jedoch anerkannt, dass der Beschwerdeführer lediglich vertretbar behaupten muss, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein, um die Anwendbarkeit des Art. 13 EMRK zu begründen.21 Die Vertretbarkeit ist ausgeschlossen, wenn die Beschwerde bezüglich derselben Konventionsbestimmung aufgrund offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt wurde.22 Die Anwendbarkeit des Art. 13 EMRK wurde auch dadurch eingeschränkt, dass der EGMR die Verfahrensgarantien der Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 4 EMRK als leges speciales betrachtete und die Prüfung des weniger strengen Art. 13 EMRK daneben ablehnte.23 Im Fall Kudla hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben und anerkannt, dass im Falle einer überlangen Verfahrensdauer Art. 13 EMRK neben Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt sein kann.24 Während Richter Casedavall in seinem Sondervotum zu der Entscheidung Kudla einwendete, dass durch die zusätzliche Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 13 EMRK neben Art. 6 Abs. 1 EMRK nichts gewonnen werde, weil hierdurch der Menschenrechtsschutz nicht erhöht werde,25 erahnte der damalige Prä19 Dies verdeutlicht die Aussage der Richter Matscher und Pinheiro Farinha in ihrem Sondervotum zu EMGR (Plenum), Urteil v. 2.8.1984 – Malone ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8691/79: „We recognise that Article 13 (art. 13) constitutes one of the most obscure clauses in the Convention and that its application raises extremely difficult and complicated problems of interpretation.“ 20 Cohen-Jonathan, La Convention européenne des droits de l’homme, S. 268 21 EGMR (Plenum), Urteil v. 6.9.1978 – Klass u. a. ./. Deutschland, Nr. 5029/71, Ziff. 64: „Article 13 (art. 13) must be interpreted as guaranteeing an ,effective remedy before a national authority‘ to everyone who claims that his rights and freedoms under the Convention have been violated.“ 22 EGMR (Plenum), Urteil v. 27.4.1988 – Boyle und Rice ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9659/82 und Nr. 9658/82, Ziff. 54; EGMR, Urteil v. 21.2.1990 – Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9310/81, Ziff. 33. Kritisch hierzu: Frowein, in: Mahoney u. a. (Hrsg.), GS Ryssdal, S. 545 (549 f.). 23 Vgl. EGMR, Urteil v. 22.4.1994 – Hentrich ./. Frankreich, Nr. 13616/88, Ziff. 65 und die Ausführungen unter Teil 2, A. III. 2. c) cc). 24 Siehe die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. c) cc). 25 Sondervotum Casadevall zu EGMR (GK), Urteil v. 26.10.2000 – Kudla ./. Polen, Nr. 30210/96, NJW 2001, S. 2694 ff. In diesem Sinne auch: Meyer-Ladewig, NJW 2001, S. 2679 (2679).

A. Diskussion um eine Neupositionierung

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sident des Gerichtshofs Luzius Wildhaber die prozessuale Dimension der Entscheidung und ihre Relevanz im Kampf gegen die Beschwerdeflut: „C’est peut-être (. . .) la première fois que la Cour admet devoir, dans une certaine mesure, élaborer une politique judiciaire afin de juguler sa charge de travail croissante“.26

Die Richtigkeit dieser Einschätzung bestätigt das Piloturteilsverfahren. Musste der Gerichtshof in einer Reihe von Wiederholungsfällen aufgrund der komplexen Natur des zugrunde liegenden systemisch-strukturellen Mangels von der Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen aufgrund des Beurteilungsspielraums des beklagten Staates absehen, so blieb eine Anordnung zur Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs auf Basis des neben dem Hauptmangel verletzten Art. 13 EMRK und damit der Erlass eines Piloturteils möglich.27 Mit dem Piloturteilsverfahren zieht der Gerichtshof somit die prozessuale Konsequenz aus der Kudla-Rechtsprechung und erweitert so die Anwendungsmöglichkeit des Piloturteilsverfahrens.28 b) Stärkung der präventiv-objektiven Kontrollfunktion des EGMR Die Piloturteile stärken die objektive Kontrollfunktion des EGMR und könnten einen ersten Schritt dahingehend eingeleitet haben, eine auf Art. 13 EMRK gestützte Beschwerde gegen ein nationales Gesetz nicht länger auszuschließen. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR verlangt Art. 13 EMRK nicht, dass ein Rechtsbehelf zur Kontrolle eines nationalen Gesetzes zur Verfügung gestellt wird.29 Der Ausschluss wird historisch begründet. Nur in wenigen Ländern gab es zum Zeitpunkt der Einfügung dieser Norm in die EMRK die Möglichkeit für den nationalen Richter, ein Parlamentsgesetz in einem förmlichen Verfahren zu überprüfen.30 Die Kommission schloss daher die Anwendbarkeit des Art. 13 EMRK auf Gesetze aus.31 Der EGMR folgte dieser Ansicht.32 26 Präsident des EGMR, Luzius Wildhaber, anlässlich seines Vortrags v. 25.1.2001, zitiert von Flauss, Rev.trim.dr.h. 2002, S. 179 (186). 27 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. III. 3. b) bb). 28 In diesem Sinne auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 102, die von einer Ausdehnung des Art. 13 EMRK und der Entwicklung der Norm zu einem „Ergänzungsrecht“ ausgeht, welches neben die anderen Konventionsrechte tritt, wenn ein Defizit in der innerstaatlichen Rechtsordnung festgestellt wurde, das Ursache zahlreicher Wiederholungsfälle sein kann. 29 EGMR (Plenum), Urteil v. 8.7.1986 – Lithgow u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9006/80; 9262/81; 9263/81; 9265/81; 9266/81; 9313/81; 9405/81, EuGRZ 1988, S. 350, Ziff. 206; EGMR, Urteil v. 26.3.1987 – Leander ./. Schweden, Nr. 9248/81, Ziff. 77. 30 Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 75. 31 Bericht der EKMR v. 14.12.1979 – Young und James ./. Vereinigtes Königreich und Webster ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 7601/76 und Nr. 7806/77, EuGRZ 1980, S. 450 (453 ff.).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

Im Wortlaut des Art. 13 EMRK findet sich allerdings keine Stütze für eine solche Beschränkung. Für die Einbeziehung von Gesetzen spricht, dass Art. 13 EMRK auf Art. 8 der Allgemeinen Menschenrechtsdeklaration zurückgeht, der seinerseits auf dem amparo-Verfahren Spaniens und der lateinamerikanischen Staaten basiert, welches die Kontrolle von Gesetzen zulässt.33 Die Konventionsstaaten haben gemäß Art. 1 EMRK die Individualrechte, einschließlich Art. 13 EMRK, umfassend zu sichern.34 Da der EGMR die Konvention effektivitätssichernd auslegt, erscheint der Ausschluss der Anwendung des Art. 13 EMRK auf Gesetze nicht konsequent.35 In den Piloturteilen ordnet der EGMR generelle Abhilfemaßnahmen und die Verpflichtung zur Einführung eines Rechtsbehelfs an, mit dem der strukturelle Mangel im innerstaatlichen Recht gerügt werden kann. Der strukturelle Mangel geht häufig auf eine gesetzliche Fehllage zurück. Das Piloturteilverfahren führt zu einer Überprüfung der ergriffenen Abhilfemaßnahmen, einschließlich der neu eingeführten Gesetze, im Wege einer indirekten Normenkontrolle.36 Das Piloturteilverfahren könnte daher einen ersten Schritt in Richtung Anerkennung einer Pflicht zur Einführung einer Normenkontrolle bedeuten. Die Anerkennung einer solchen Pflicht stünde im Einklang mit dem Subsidiaritätsgedanken.37 Denn solange ein Konventionsstaat selbst keine Möglichkeit zur Prüfung von Legislativakten vorsieht, können die von einem Konventionsverstoß durch den Gesetzgeber betroffenen Personen unmittelbar beim EGMR Beschwerde einlegen. Erst bei Anerkennung einer Pflicht zur Einführung einer Normenkontrolle wäre die Rückverweisung auf die nationale Ebene möglich, wenn der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft wurde. Bislang verneint der Gerichtshof aber eine Kontrollpflicht für formelle Gesetze.38 Ob diese Form des judicial self-restraint auf lange Sicht Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. 2. Piloturteile als erster Schritt zur Einführung einer Gruppenklage? Die Piloturteile weisen Bezüge zu der class action und den damit verwandten Formen der Massenklage auf. Die aus dem US-Recht bekannte class action be32 EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1986 – James u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 8793/79, EuGRZ 1988, S. 341 ff.; EGMR (Plenum), Urteil v. 8.7.1986 – Lithgow u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9006/80; 9262/81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9313/81, 9405/81, EuGRZ 1988, S. 350, Ziff. 206. 33 Matscher, in: Böckstiegel u. a. (Hrsg.), FS Seidl-Hohenveldern 1988, S. 315 (333). 34 Holoubek, JBl 1992, S. 137 (150). 35 Holoubek, JBl 1992, S. 137 (150). 36 Zur indirekten Normenkontrolle siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. III. 37 Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 13 EMRK, 2. Aufl., Rn. 17. 38 EGMR, Urteil v. 21.02.1986 – James u. a. ./. Vereinigte Königreich, Nr. 8793/79, Ziff. 85; EGMR Urteil v. 23.11.2010 – Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 41/08 – Ziff. 90; EGMR (GK) Urteil v. 07.11.2013 – Vallianatos u. a. ./. Griechenland, Nr. 29381/09, Ziff. 94.

A. Diskussion um eine Neupositionierung

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zeichnet eine Massenklage, die ein einzelner Kläger initiieren kann. Akzeptiert das Gericht den Kläger als „leading plaintiff “, wird der Prozess für die gesamte, in der Klage näher zu bezeichnenden Personengruppe geführt, die von dem Anspruch betroffen und von dem Kläger repräsentiert wird. Die Betroffenen können aber ausdrücklich von dem Verfahren Abstand nehmen.39 Daneben gibt es weitere Formen von Massenklagen. Hierzu zählt das Musterverfahren, in dem jeder Anspruchsinhaber eine individuelle Klage einreichen muss und auf Antrag eine Musterentscheidung getroffen werden kann.40 Die anhängigen Verfahren werden bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Musterfall suspendiert. Erst nach Erlass der bindenden Musterentscheidung werden die einzelnen Verfahren weitergeführt.41 Der Gerichtshof hat wiederholt auf die Ähnlichkeit der Piloturteile mit der Gruppenklage hingewiesen und die von einem strukturellen, spezifischen Mangel betroffene Personengruppe als „identifiable class of citizens“ bezeichnet.42 Auch Richter Zupancˇicˇ unterstrich die Parallele und bezeichnete die Urteile Broniowski und Hutten-Czapska als pragmatische Entscheidungen „akin to classaction judgments“.43 Die Piloturteile unterscheiden sich jedoch von den oben genannten Massenverfahren dadurch, dass die Klage zunächst als normale Individualbeschwerde eingelegt wird. Erst nachträglich bei Vorliegen eines strukturellen Mangels entscheidet der EGMR alleinverantwortlich über die Anwendung des Piloturteilsverfahrens.44 Die Piloturteile könnten eine Vorstufe zur Anerkennung echter Massenklageverfahren bilden. So bezeichnete der Präsident des Gerichtshofs Costa in seinem Memorandum zur Vorbereitung der Interlaken Konferenz vom 3. Juli 2009 die Idee der „class actions“ oder kollektiver Beschwerden als einen Ansatz, der der näheren Untersuchung bedarf.45 Ob dieser Ansatz sich durchsetzen wird und in-

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Mattil/Desoutter, WM 2008, S. 521 (521). In Deutschland ist ein Musterverfahren im Verwaltungsprozessrecht bekannt. Voraussetzung für die Durchführung eines Musterverfahrens ist gemäß § 93 VerwO, dass die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme von mehr als zwanzig Einzelverfahren Gegenstand des Verfahrens ist. 41 Mattil/Desoutter, WM 2008, S. 521 (522). 42 EGMR (GK), Urteil v. 22.6.2004, EuGRZ 2004, S. 472 (483 f.), Ziff. 189. Ferner: EGMR (GK), Urteil v. 19.6.2006 – Hutten-Czapska ./. Polen, Nr. 35014/97, Ziff. 229, 231; EGMR, Urteil v. 15.1.2009 – Burdov ./. Russland Nr. 2, Nr. 33509/04, Ziff. 129. 43 Richter Zupanc ˇicˇ in seinem Sondervotum zum Piloturteil Hutten-Czapsaka, Urteil v. 19.6.2006, a. a. O. 44 Eschment, Musterprozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, S. 80. 45 Costa, Memorandum v. 3.7.2009 zur Interlaken-Konferenz, S. 7. Für die Einführung von class actions auch Wildhaber, in: Christoffersen/Madsen (Hrsg.), The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 204 (224): „if class actions were handled collectively, (. . .) matters would definitely look more hopeful“. 40

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

wieweit und unter welchen Voraussetzungen Masseklageverfahren auf der Ebene der Konvention anerkannt werden, bleibt abzuwarten. 3. Piloturteile und die Bindungswirkung über den Einzelfall Durch die echten Piloturteile wurde ein erga omnes-Effekt eingeführt, der auf die von dem strukturellen Mangel betroffene Personengruppe beschränkt ist.46 Die Piloturteile könnten einen bedeutsamen Schritt in Richtung Anerkennung einer generellen erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR darstellen, was aufgrund der Komplexität der Frage nachfolgend in einem gesonderten Abschnitt untersucht wird.

B. Beitrag des Piloturteilsverfahrens zur Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts Die Einführung eines formellen erga omnes-Effekts erscheint konsequent, ist doch die rechtliche Wirkung über den Einzelfall in bestimmten Bereichen längst Teil der Rechtswirklichkeit. Neben den echten Piloturteilen und dem Fall, dass eine Konventionsverletzung unmittelbar auf einer Rechtsnorm beruht, ist eine Bindungswirkung über den Einzelfall anzunehmen, wenn eine gefestigte Rechtsprechung des EGMR vorliegt, die an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung teilnimmt.47 Die Unterscheidung, ob eine ständige Praxis des EGMR als Voraussetzung für eine Teilnahme der Rechtsprechung an der Verpflichtungskraft der Konventionsbestimmung vorliegt oder nicht, birgt Rechtsunsicherheiten. So hat die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Urteil des EGMR im Fall Caroline48 bewusst davon abgesehen die Große Kammer anzurufen, um den nationalen Gerichten mehr Freiraum bei der Weiterentwicklung ihrer Rechtsprechung zu geben und „ein frühzeitiges Zementieren von Standpunkten“ 49 zu vermeiden.50 Eine generelle Bindungswirkung der Urteile des EGMR würde die Unsicherheiten in Bezug auf das Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung beseitigen und die Bedeutung des EGMR im europäischen Grundrechtsschutz unterstreichen. Es werden zunächst die strukturellen Argumente untersucht, die für eine Stärkung des verfassungsrechtlichen Schutzes durch Einführung einer formellen erga

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Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. 48 EGMR, Urteil v. 24.6.2004 – Caroline von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/ 00, NJW 2004, S. 2647 ff. 49 Hans-Jürgen Papier, FAZ v. 9.12.2004. 50 Hoffmann-Riem, NJW 2009, S. 20 (21). 47

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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omnes-Wirkung der Urteile des EGMR sprechen. Sodann findet eine Auseinandersetzung mit den Argumenten statt, die aus nationaler Sicht gegen eine solche Wirkung vorgebracht werden.

I. Strukturelle Argumente Die Rechtswirkungen der Urteile des Gerichtshofs können nicht losgelöst von seiner besonderen Stellung im europäischen Grundrechtsschutz betrachtet werden. Der Grundrechtsschutz in Europa beruht auf der Verflechtung nationaler, internationaler und supranationaler Systeme. Auf nationaler Ebene wachen die Verfassungs- und Höchstgerichte über die Einhaltung des Grundrechtsschutzes, auf europäischer Ebene übernehmen diese Aufgabe der EGMR in Straßburg und der EuGH in Luxemburg. 1. EGMR als Verfassungsgericht Die EMRK übernimmt für Europa die Funktion einer Verfassung.51 Der Gerichtshof selbst beschreibt die Konvention als „constitutional document“ des Europäischen Rechts und als „a constitutional instrument of European public order“.52 In der Literatur wird die EMRK als „Verfassungsgesetz für das ganze Europa“,53 als „erstes Stück einer gemeinsamen Verfassung“ 54 als „Grundrechtsverfassung,“ 55 als „véritable charte constitutionnelle de la Grande Europe“ 56 oder als Teil eines „Konstitutionalisierungsprozess“ 57 bezeichnet. Gegen den verfassungsrechtlichen Charakter der EMRK spricht nicht ihr völkerrechtlicher Ursprung. Die EMRK ist mehr als ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag und hat einen echten ordre public geschaffen.58 Der völkerrechtliche Vertrag ist nur der Träger, der die Verfassung stützt. Ist er erst einmal geschlossen, tritt er zurück, um der verfassungsrechtlichen Ordnung Platz zu machen, die 51 Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Rolle des Gerichtshofs wird auf verschiedenen Ebenen geführt. Während die Ausführungen unter Teil 4 A. die Frage der Stärkung der verfassungsrechtlichen Dimension durch die Loslösung von der Einzelfallbetrachtung und Herausarbeitung von Entscheidungen mit allgemeiner Wirkung betrafen, geht es hier um die Vergleichbarkeit der Funktionen, die der EGMR wahrnimmt, mit den Funktionen, die ein nationales Verfassungsgericht wahrnimmt. 52 EGMR (GK), Urteil v. 23.3.1995 – Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Nr. 15318/89, Ziff. 75. 53 Ryssdal, in: Böttcher u. a. (Hrsg.), FS für Odersky, S. 245 (245). 54 Partsch, ZaöRV 15 (1953/1954), S. 631 (633). 55 Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (353 ff.). 56 F. Sudre, L’Europe des droits de l’homme. L’Europe et le droit, Droits, n ë 14, 1991, S. 105, zitiert in: Flauss, RFDC 36 (1998), S. 711 (715). 57 Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (961). 58 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. I. 5. a).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

er begründet.59 Die EMRK beinhaltet auch Elemente eines institutionellen Verfassungsrechts und garantiert in Art. 3 des 1. ZP-EMRK das Recht, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen zu organisieren, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.60 Das Recht auf Zugang zu den Gerichten und das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK und Art. 7 EMRK sind wesentliche Merkmale einer demokratischen Ordnung und nehmen in der Rechtsprechung des EGMR eine wichtige Rolle ein.61 Der EGMR, der über die EMRK wacht, nimmt die Rolle eines „Quasi-Verfassungsgericht sui generis“ 62 oder eines „constitutional court for greater Europe“ 63 ein. Er verwendet eine Reihe von Techniken, die denen nationaler Verfassungsgerichte ähneln. Hierzu gehören die dynamisch-evolutive Fortentwicklung der EMRK und die autonome Auslegung der Konventionsbestimmungen sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.64 Als bedeutsamer institutioneller Schwachpunkt des EGMR wird zwar seine fehlende Kompetenz angeführt, konventionswidrige nationale Rechtsnormen aufzuheben.65 Die Mitgliedstaaten haben aber eine Pflicht zur Befolgung der Urteile und umfassenden Wiedergutmachung des begangenen Unrechts. Insbesondere können sie sich nicht auf den Einwand rechtlicher Unmöglichkeit berufen, um sich ihrem Pflichtenprogramm zu entziehen.66 Folglich wird – auf souveränitätsschonende Weise – annähernd das gleiche Ergebnis erzielt, wie wenn der Gerichtshof unmittelbar die konventionswidrige Rechtsnorm annullieren würde. Die formale Differenzierung zwischen der formellen Aufhebung oder Nichtigerklärung einer nationalen Entscheidung und dem Feststellungsurteil des EGMR hat bei konsequenter Ausübung der Befolgungspflicht nur wenig Relevanz.67 Der EGMR nimmt damit „materiell verfassungsgerichtliche Funktionen“ 68 wahr. 59 Übersetzung der Aussage von J.-P. Jaqué, „Les principes constitutionnels fondamentaux dans le projet de traité établissant la Constitution européenne“, Institut des hautes études européennes de Strasbroug, Recueil des conférences du cinquantenaire de l’IHEE, S. 139, zitiert von Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 (1129): „(. . .) le traité n’est que le vecteur qui supporte la Constitution. Une fois le traité conclu, il s’efface pour faire place à l’ordre constitutionnel qu’il met en place.“ 60 Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 (1130). 61 Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 (1133). 62 Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569 (569). Auch: Cohen-Jonathan, a. a. O., S. 1127 (1127). 63 Greer, HRQ 30 (2008), S. 680 (684). 64 Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 (1139). 65 Stone Sweet, RTDH (80/2009), S. 933; Flauss, RFDC 36 (1998), S. 711 (723). 66 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 3. c).

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Zentrale Aufgabe des EGMR ist, die Einhaltung des europäischen Mindeststandards und die kontinuierliche Fortentwicklung der Menschenrechte zu garantieren. Hierzu muss die kohärente Auslegung der Konventionsbestimmungen gesichert werden. Schon hieraus lässt sich mit Andriantsimbazovina auf die Notwendigkeit der Verbindlichkeit der Auslegung des EGMR schließen: „Un minimum de logique juridique permet de penser que, dès lors qu’une juridiction a été crée pour assurer la garde d’un texte, en l’occurrence la CEDH pour la Convention européenne des droits de l’homme et le Conseil constitutionnel pour la Constitution, l’interprétation privilégiée de ces textes qui devrait prévaloir est celle de ces deux juridictions.“ 69

Ohne die Anerkennung einer rechtlich verbindlichen erga omnes-Wirkung würde das System zu weiten Teilen nur auf der Kooperationsbereitschaft der Richter beruhen. Das wird dem Stellenwert des EGMR in Europa nicht gerecht. 2. Teilnahme der EMRK am Anwendungsvorrang des Unionsrechts Weiteres strukturelles Argument für die Einführung einer erga omnes-Wirkung ist, dass die Urteile des EGMR bereits über das Unionsrecht Bindungswirkung und unmittelbaren Anwendungsvorrang im innerstaatlichen Recht entfalten können. In den Gründungsverträgen zu den Europäischen Gemeinschaften war aufgrund ihres primären Ziels der wirtschaftlichen Integration kein geschriebener Grundrechtskatalog aufgenommen worden.70 Der EuGH erkannte aber, dass sich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts nur bei gleichzeitiger Gewährleistung eines Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene durchsetzen wird.71 Diese Erkenntnis wurde durch die kritische Rechtsprechung des BVerfG gefördert, welches in seinem Solange-Beschluss von 1974 erklärte, einen Verstoß gegen Grundrechte des Grundgesetzes durch einen Gemeinschaftsrechtsakt zu prüfen, solange auf der Gemeinschaftsebene kein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsschutz existiere.72 Der EuGH begann daher frühzeitig im Wege richterlicher Rechtsfortbildung, Unionsgrundrechte aus einem Vergleich der Verfas67

Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (965). Walter, ebenda. 69 Andriantsimbazovina, in: FS Bruno Genevois, S. 11 (26). 70 Auch die später unter der Führung von Roman Herzog ausgearbeitete „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ war auf dem EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 vom Europäischen Rat lediglich begrüßt worden; ihr fehlte die rechtliche Verbindlichkeit. 71 Den Anwendungsvorrang hat der EuGH aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts hergeleitet, siehe EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/ 64, Slg. 1964, S. 1253 (1269 f.); EuGH, Urteil v. 17.12.1970 – Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125 (1135), Rn. 3. 72 BVerfG, Beschluss v. 29.5.1974 – Solange I, BVerfGE 37, 271. 68

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sungen der Mitgliedstaaten und der EMRK herauszuarbeiten und als allgemeine Rechtsgrundsätze in das primäre Unionsrecht aufzunehmen.73 Heute ist der Grundrechtsschutz in Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union und in der Europäischen Grundrechtecharta74 normativ verankert. Nach Art. 53 GRCh darf keine Bestimmung der EU-Grundrechtecharta als eine Einschränkung oder Verletzung der Konventionsrechte ausgelegt werden. Die EMRK in der Auslegung durch den EGMR bleibt daher für die Bestimmung des europäischen Mindestschutzes relevant.75 Dabei ist der Verweis der EU-Grundrechtecharta auf die Konvention nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen.76 Soweit der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet ist, achtet der EuGH auf ihre Vereinbarkeit mit den Konventionsgrundrechten in der Auslegung des EGMR. Auf diese Weise soll ein „Auslegungsgleichlauf“ 77 zwischen den Unionsgrundrechten und der EMRK erzielt werden. Die Auslegungsentscheide des EGMR partizipieren damit mittelbar an der Bindungswirkung und dem Anwendungsvorrang in den Konventionsstaaten, die zugleich Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind. a) Bindung an die Unionsgrundrechte im Anwendungsbereich des Unionsrechts Die Unionsgrundrechte richten sich unmittelbar nur an die Unionsorgane und sind Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit sekundären Unionsrechts. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind aber auch die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts an die Unionsgrundrechte gebunden.78 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind daher an die Unionsgrundrechte gebunden, wenn sie Unionsrecht unmittelbar vollziehen. Insbesondere im Fall der Verordnungen gemäß Art. 288 AEUV,79 die keines mitgliedstaatlichen Umset-

73 EuGH Urteil v. 12.11.1969 – Stauder/Stadt Ulm, Sozialamt, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, 425; EuGH, Urteil v. 14.5.1974 – Nold, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 591, 501. 74 Amtsblatt der Europäischen Union v. 30.3.2010, C 83/389. Die Charta ist im Internet abrufbar unter (Stand: 30.9.2015). 75 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 I 4, Rn. 15. 76 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 I 4, Rn. 16. 77 Zu dem Auslegungsgleichlauf bei der Rezeption der Straßburger Urteile und den Abweichungen im Einzelfall, siehe Weiß, EuZW 2013, 287 ff. m.w. N. 78 EuGH, Urteil v. 11.7.1985 – Cinéthèque SA u. a. ./. Fédération nationale des cinémas français, verb. Rs. 60 u. 61/84, Slg. 1985, 2605, NJW 1986, S. 1421 (1423), Rn. 26; EuGH, Urteil v. 18.6.1991 – ERT, Rs. C 260/89, Slg. 1991 I-2925, Rn. 42; EuGH, Urteil v. 29.5.1997 – Kremzow ./. Österreich, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 15; EuGH, Urteil v. 10.4.2003 – Steffensen, Rs. 276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn. 70. 79 Ex-Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag.

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zungsaktes bedürfen, handeln die Mitgliedstaaten „quasi als verlängerter Arm“ der Union.80 Entsprechendes gilt bei der Umsetzung von unmittelbar anwendbaren Richtlinien. Aber auch in den Fällen des mittelbaren Vollzugs des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte gebunden. Eine solche Bindung ist anerkannt, wenn die Mitgliedstaaten Eingriffe in die Grundfreiheiten vornehmen (Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten). Umgekehrt können sie sich ihrerseits auf die Unionsgrundrechte berufen, wenn sie Grundfreiheiten beschränkten (Unionsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten). aa) Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken und als eigenständige Schranken der Grundfreiheiten Eingriffe in die Grundfreiheiten der Unionsbürger durch die Mitgliedstaaten können nach den ausdrücklichen Schrankenregelungen aus Gründen der öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein, unterliegen aber ihrerseits Schranken, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Unionsgrundrechten.81 In der Funktion als Schranken-Schranken stärken die Unionsgrundrechte die Grundfreiheiten.82 Die Unionsgrundrechte können auch als selbstständige Beschränkung der Grundfreiheiten wirken. In der Rechtssache Schmidberger hat der EuGH eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit wegen des Nichteinschreitens der österreichischen Behörden gegen die Sperrung der Brenner-Autobahn durch Demonstranten für gerechtfertigt erachtet und sich hierbei auf die Grundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit berufen.83 Die Doppelfunktion der Unionsgrundrechte als Schranken einerseits und als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten andererseits wird in dem Fall Familiapress besonders deutlich.84 Ein österreichischer Presseverlag klagte hier gegen das Verbot des Vertriebs von Zeitschriften mit der Möglichkeit der Teilnahme an einem Gewinnspiel, welches in Österreich galt, während die deutsche Konkurrenzzeitschrift einem solchen Verbot nicht unterlag. Im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs nach Art. 36 AEUV 85 zog der EuGH das Grundrecht der Meinungsfreiheit gemäß 80

Mager, JZ 2003, S. 204 (205). Vgl. beispielhaft EuGH, Urteil v. 18.6.1991 – ERT, C-260/89, Slg. I-2925, Rn. 43. 82 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., § 14 I 4, Rn. 13. 83 EuGH, Urteil v. 12.6.2003 – Schmidberger, Rs. 122/00, Slg. 2003, S. 5659, Rn. 69. 84 EuGH, Urteil v. 26.6.1997 – Familiapress, Rs. 368/95, Slg. 1997, S. 3689, EuGRZ 1997, S. 344. Hierzu: Kühling, EuGRZ 1997, S. 296–303. 85 Ex-Art. 30 EG-Vertrag. 81

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Art. 10 EMRK in seinen beiden Ausformungen als staatlichen Auftrag zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt (Art. 10 EMRK als Schranke) und als Kommunikationsfreiheit der potentiellen Leser (Art. 10 EMRK als SchrankenSchranke) heran. Während Maßnahmen zur Pluralismussicherung zulässige Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit darstellen können, dürfen diese nicht soweit reichen, dass die Kommunikationsfreiheit der potentiellen Leser unverhältnismäßig beschränkt wird.86 Für die Heranziehung der Unionsgrundrechte nicht nur als Schranke-Schranke zugunsten der Grundfreiheiten, sondern auch als Schranke zulasten der Grundfreiheiten spricht die Verwandtschaft der beiden Fallkonstellationen, die sich nur hinsichtlich der angesprochenen Schutzfunktion der Grundrechte unterscheiden. Während die Unionsgrundrechte als Schranken in ihrer objektiven Funktion wirken (status positivus), treten sie als Schranken-Schranken in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte (status negativus) auf.87 bb) Keine allgemeine Grundrechtsbindung Eine über diese Fälle hinausgehende Bindung an die Unionsgrundrechte – und mittelbar an die EMRK – hat der EuGH bislang nicht anerkannt. Zugunsten einer allgemeinen Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten sprach sich Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen zu dem Fall Konstantinidis aus. Der Fall handelte von einem in Deutschland niedergelassenen Griechen, dessen Name vom Standesamt falsch in das Deutsche übersetzt worden war. Der Generalanwalt Jacobs vertrat: „(. . .) dass ein Gemeinschaftsangehöriger, (. . .) davon ausgehen [darf], dass er, wohin er sich in der Europäischen Gemeinschaft zu Erwerbszwecken auch begibt, stets im Einklang mit einer gemeinsamen Ordnung von Grundwerten behandelt wird, insbesondere denen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind. Mit anderen Worten, er ist berechtigt, zu sagen ,civis europeus sum‘ und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen.“ 88

Eine allgemeine Grundrechtsbindung würde angesichts der derzeitigen Struktur der Europäischen Union einen enormen „Qualitätssprung“ 89 bedeuten, denn die Europäische Union hat keine Befugnis zur autonomen Begründung eigener neuer Kompetenzen („Kompetenz-Kompetenz“). Sie ist kein Bundesstaat, sondern nur ein Staatenverbund.90 Der Grundrechtsschutz in der Europäischen 86

EuGH, Urteil v. 26.6.1997 – Familiapress, a. a. O., Rn. 24 ff. Schindler, Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 141. 88 Schlussanträge des Generalanwalts Francis G. Jacobs v. 9.12.1992 zu EUGH, Urteil v. 30.3.1993 – Konstantinidis/Stadt Altensteig und Landratsamt Calw, Rs. C-168/ 91, Slg. 1993, I-1191, Rn. 46. 89 Schindler, Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 132. 90 BVerfGE 89, 155 (188 f.). 87

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Union wird daher über die Mitgliedstaaten vermittelt. Hat das mitgliedstaatliche Handeln keinerlei Bezug zum Recht der Union, wird die nationale Maßnahme allein anhand des nationalen Verfassungsrechts überprüft.91 b) Ansätze einer Neuorientierung Eine Neuorientierung zugunsten einer erweiterten Anwendung der Unionsgrundrechte haben der Fall Carpenter92 und jüngst die Fälle Fransson93 und Melloni 94 eingeleitet. aa) Der Fall Carpenter Im Fall Carpenter stellte der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens fest, dass die Ausweisung der Drittstaatsangehörige M. Carpenter wegen Verstoßes gegen das britische Einwanderungsgesetz unzulässig ist. Die Behörde hatte nicht in Ausführung einer EG-Richtlinie gehandelt, so dass die Unionsgrundrechte nicht unmittelbar herangezogen werden konnten.95 Da die Grundfreiheiten im Gegensatz zu den Unionsgrundrechten ohne weiteres auf das Handeln nationaler Behörden anwendbar sind, konnte der EuGH sich auf die Dienstleistungsfreiheit des britischen Ehemanns gemäß Art. 56 AEUV96 stützen. Da der Ehemann europaweit Dienstleistungen erbrachte während sich seine Frau um die Kinder kümmerte, befand der EuGH, dass die Entscheidung über die Ausweisung von Frau Carpenter einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Verwirklichung des Rechts von Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens (Art. 8 EMRK) als Schranken-Schranke der Dienstleistungsfreiheit darstellen würde. Die Dienstleistungsfreiheit war mithin das „Vehikel, mittelbar auch Art. 8 EMRK zur Anwendung zu bringen“ 97 mit der Folge, dass der EuGH zu einem Ausweisungsverbot gelangte. 91 EuGH, Urteil v. 30.9.1987 – Demirel ./. Stadt Schwäbisch Gmünd, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3747, Rn. 28 und EuGH, Urteil v. 11.7.1985 – Cinéthèque SA u. a. ./. Fédération nationale des cinémas français, verb. Rs. 60 u. 61/84, Slg. 1985, S. 2605, NJW 1986, S. 1421 (1423), Rn. 26. 92 EuGH, Urteil v. 11.7.2002 – Mary Carpenter, Rs. C-60/00, Slg. 2002 I-6279. 93 EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, Rs. C-617/10, NJW 2013, S. 1415 ff. 94 EuGH, Urteil v. 26.02.2013 – Stefano Melloni, Rs. C-399/11, NJW 2013, S. 1215 ff. 95 Die Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs regelt nicht das Recht eines Familienmitgliedes eines Dienstleistungsberechtigten auf Aufenthalt in dessen Heimatstaat und war daher nicht auf den Fall anwendbar, vgl. EuGH, Urteil Carpenter, a. a. O., Rn. 36. 96 Ex-Art. 49 EG-Vertrag. 97 Britz, NVwZ 23 (2004), S. 173 (176).

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Die Entscheidung Carpenter wurde als „Systembruch“ 98 kritisiert. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte setze einen spezifischen unionsrechtlichen Bezug voraus. Angesichts der „unitarisierenden Wirkung von Grundrechten“ 99 bestehe die Gefahr, dass dieser spezifische Bezug unterlaufen wird. Die Entscheidung Carpenter könnte aber der erste Schritt in Richtung einer offenen Anerkennung einer umfassenden Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte sein. Die Europäische Union, die ursprünglich eine Wirtschaftsgemeinschaft war, würde sich hierdurch in eine „Grundrechts- und Wertgemeinschaft“ 100 wandeln. Am Ende einer solchen Entwicklung könnten die Grundfreiheiten als „eine Art Eierschale der EU-Evolution“ abgelegt werden.101 Zugunsten einer solchen Entwicklung spricht, dass die Europäische Union von Anfang an von der Überzeugung getragen war, dass die wirtschaftliche Gemeinschaft langfristig infolge eines spill over-Effekts auch zu einer politisch-sozialen Gemeinschaft führen würde. Das Bekenntnis zu einer umfassenden Grundrechtsbindung im Anwendungsbereich des Unionsrechts stößt aber auf starken Widerstand, wie nicht zuletzt die Kritik an dem Urteil Åkerberg Fransson zeigt. bb) Der Fall Åkerberg Fransson In der Sache Åkerberg Fransson102 ging es um die Frage der Anwendbarkeit des Unionsrechts, wobei maßgeblicher Anknüpfungspunkt hier nicht die Grundfreiheiten, sondern die Grundrechte und die Anwendbarkeit des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem) im Unionsrecht waren. Herr Fransson war vor einem schwedischen Gericht wegen einer Steuerhinterziehung in einem schweren Fall angeklagt worden, da er für die Steuerjahre 2004 und 2005 falsche Angaben gemacht hatte und dem Staat dadurch Einnahmen im Bereich der Einkommenssteuer und der Mehrwertsteuer entgangen waren. Das schwedische Finanzamt hat Herrn Fransson im Jahr 2007 per Bescheid wirtschaftliche Sanktionen für beide Steuerjahre auferlegt, die dieser nicht gerichtlich angefochten hat. Das schwedische Strafgericht stellte im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens die Frage, ob die Anklage gegen Herrn Fransson aufgrund der bereits erteilten Sanktionen und dem Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bzw. Art. 50 der GrCh unzulässig ist. Mehrere an dem Verfahren beteiligte Regierungen und die Kommission103 sowie der Generalanwalt Cruz Villalón104 hatten eine Zuständigkeit des EuGH ver98

Mager, JZ 2003, S. 204 (207). Mager, JZ 2003, S. 204 (204). 100 So Mager, JZ 2003, S. 204 (207), die einer solchen Entwicklung aber kritisch gegenübersteht. 101 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 49. 102 EuGH (GK), Urteil v. 26.2.2013 – Åkerberg Fransson, NJW 2013, 1415 ff. 103 EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 16. 99

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neint, da die steuerlichen Sanktionen und die Einleitung des Strafverfahrens auf nationalen Bestimmungen und nicht auf einer Durchführung des Unionsrechts beruhten. Der EuGH schloss sich dieser Ansicht nicht an. Der EuGH stellte zunächst klar, dass die normative Verankerung der Unionsgrundrechte in der EU-Grundrechtecharta nicht zu einer Einschränkung des Grundrechtsschutzes auf Ebene der europäischen Union geführt habe. Der Wortlaut des Art. 51 ChrCh, wonach die EU-Grundrechtecharta „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt, bedeute nicht, dass die Mitgliedstaaten nur in den Fällen des unmittelbaren Vollzugs die Unionsgrundrechte zu beachten haben.105 Vielmehr legte der EuGH den Begriff der Durchführung in Art. 51 GRCh im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung weit aus und bekräftigte die Bindung an die Unionsgrundrechte im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Für diese Auslegung stützte sich der EuGH maßgeblich auf die Erläuterungen zu Art. 51 GrCh, die bei der Auslegung der Charta gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta zu berücksichtigen sind.106 Der EuGH kam im Urteil Fransson zu dem Schluss: „Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“ 107

Im Fall Fransson bejahte der EuGH die Anwendbarkeit des Unionsrechts, da die Verfolgung von unrichtigen Angaben zur Mehrwertsteuer der Durchsetzung der Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuer-Richtlinie 2006/ 112/EG vom 28. November 2006 diene. Ein Versäumnis bei der Erhebung der Mehrwertsteuer habe Auswirkung auf den Haushalt der Union.108 Die steuerlichen Sanktionen bzw. das Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung aufgrund unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer seien daher als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 CRCh anzusehen.109 Die Beurteilung, ob die verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter hat und ein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vorliegt, überließ der EuGH aber dem nationalen Gericht, das diese Frage unter Berücksichtigung der Einordnung 104 Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 12.06.2012, Rs. C-617/10 (Fransson), Rn. 56–64. 105 Zu dem Streit um die Auslegung des Art. 51 CRCh und eine eventuelle Einschränkung der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte, siehe Weiß, EuZW 2013, 287, 288 m.w. N. 106 EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 20. 107 EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 21. 108 EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 24–27. 109 EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 28.

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im innerstaatlichen Recht, der Art der Zuwiderhandlung und der Schwere der angedrohten Sanktion zu entscheiden hat.110 Der EuGH legt den Begriff der „Durchführung des Unionsrechts“ weit aus und begründet die Anwendbarkeit des Unionsrechts maßgeblich mit finanziellen Interessen der Union an der wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer. Dieser Zusammenhang wirkt nach Einschätzung von Safferling „eher konstruiert“ und führe zu einer „völligen Entformalisierung der Frage der ,Durchführung‘“.111 In ähnlicher Weise vertritt Scholz, dass der EuGH den Begriff der Durchführung hier „nicht nur außerordentlich weit ausgelegt, sondern (. . .) auch in kompetenzwidriger Weise verfremdet“ 112 hat. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Recht der Mitgliedstaaten in weiten Teilen vom Unionsrecht beeinflusst wird, lasse sich ein unionsspezifischer Zusammenhang „in fast beliebiger Form konstruieren“.113 cc) Der Fall Melloni Die Kritik muss im Zusammenhang mit der Entscheidung Melloni114 gesehen werden, die am gleichen Tag wie das Urteil Fransson erging. Dieser Fall betraf die Auslegung und Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung (im Folgenden: „Rahmenbeschluss“). Ein italienisches Gericht hat in einem Rechtsstreit des Herrn Melloni mit dem Ministerio Fiscal das Nichterscheinen des Herrn Melloni festgestellt, nachdem diesem die Flucht gelungen war. Sämtliche Zustellungen in dem Verfahren wurden an von Herrn Melloni benannte Anwälte vorgenommen. Im Juni 2000 verurteilte das italienische Gericht Herrn Melloni in Abwesenheit wegen betrügerischen Konkurses zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Nach Rechtskraft wurde ein europäischer Haftbefehl ausgestellt. Nach seiner Festnahme in Spanien wehrte sich Herr Melloni vor den spanischen Gerichten und erhob Verfassungsbeschwerde zum spanischen Verfassungsgericht. Er stützte sich hierbei auf das in der spanischen Verfassung geschützte Recht auf ein faires Verfahren, wonach spanische Behörden eine in Abwesenheit verurteilte Person nur ausliefern dürfen, wenn letztere die Möglichkeit hat, das Urteil in dem Staat anzufechten, in den die Auslieferung erfolgt.

110

EuGH, Urteil Fransson, a. a. O., Rn. 35, 36. Safferling, NStZ 2014, S. 545 (548). 112 Scholz, DVBl. 2014, S. 197 (201). 113 Scholz, DVBl. 2014, S. 197 (201). 114 EuGH (GK), Urteil v. 26.2.2013 – Stefano Melloni ./. Ministerio Fiscal, Rs. C399/11, NJW 2013, S. 1215 ff. 111

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Der im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufene EuGH stellte fest, dass Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Die Mitgliedstaaten können die Vollstreckung nur verweigern, wenn ein Fall des Art. 3, Art. 4 oder Art. 4a des Rahmenbeschlusses vorliegt. Nach Maßgabe des Art. 5 des Rahmenbeschlusses können die Mitgliedstaaten Bedingungen an die Vollstreckung knüpfen.115 Der Fall Melloni betraf die Auslegung des Art. 4 a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, wonach die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls ablehnen können, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Verurteilung geführt hat. Diese Möglichkeit unterliegt jedoch Einschränkungen. So kann nach Art. 4 a Abs. 1 lit. a und lit. b des Rahmenbeschlusses ein Urteil gegen den Abwesenden ergehen, wenn dieser von der anberaumten Verhandlung rechtzeitig Kenntnis hatte und darauf hingewiesen wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn er zu der Verhandlung nicht erscheint oder wenn der Abwesende in Kenntnis der anberaumten Verhandlung einen Rechtsbeistand mandatiert hat und er von diesem Rechtsbeistand verteidigt wurde.116 Da die Voraussetzungen des Art. 4a Abs. 1 lit. a/b vorlagen, bejahte der EuGH eine uneingeschränkte Pflicht zur Übergabe Mellonis an den ersuchenden Staat.117 Nach Auffassung des EuGH steht die Regelung in Art. 4 des Rahmenbeschlusses in Einklang mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 GRCh und Art. 6 EMRK, weil das Recht des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, kein absolutes Recht sei.118 Besteht eine uneingeschränkte Pflicht zur Vollstreckung, darf die Vollstreckung nach Ansicht des EuGH nicht an Bedingungen geknüpft werden und zwar selbst dann nicht wenn eine Einschränkung der in der Verfassung des ersuchten Staates garantierten Grundrechte droht. Nach dem Günstigkeitsprinzip in Art. 53 GRCh ist es einem Mitgliedstaat zwar generell gestattet, den in seiner Verfassung garantierten Schutzstandard anzuwenden, wenn dieser höher ist als der Grundrechtsschutz der Charta. Nach Auffassung des EuGH gilt dies aber nur, „sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“ 119

Wie der EuGH hervorhebt, haben die Mitgliedstaaten mit Art. 4 a des Rahmenbeschlusses eine Regelung geschaffen, die das Interesse an der justitiellen Zusammenarbeit und zügigen Vollstreckung einerseits und die Verfahrens- und 115 116 117 118 119

EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn. EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn. EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn. EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn. EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn.

38. 39–42. 46. 49, 50. 60.

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Verteidigungsrechte des Betroffenen andererseits ausgleichend berücksichtigt und auf eine Harmonisierung der nationalen Regelungen zielt. Könnten die Mitgliedstaaten unter Berufung auf Art. 53 GRCh und die nationalen Grundrechte die Anwendung von Unionsrechtsakten verhindern, die mit der Grundrechtecharta im Einklang stehen, würde der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unterlaufen werden.120 Das Prinzip des Anwendungsvorrangs muss sich nach Auffassung des EuGH insoweit gegenüber dem Günstigkeitsprinzip durchsetzen. dd) Reaktionen und Stellungnahme des BVerfG Die weite Auslegung des Begriffs der Durchführung des Unionsrechts in der Sache Fransson, kombiniert mit den Ausführungen zum Anwendungsvorrang in der Rechtssache Melloni, lässt Safferling eine „Marginalisierung der nationalen Verfassungsidentitäten“ 121 befürchten. Nach Scholz droht die Umkehrung des Solange-Grundsatzes des BVerfG. Während die Unionsgrundrechte die Anwendung der nationalen Grundrechte bislang nur ausschließen konnten, solange sie den nationalen Grundrechtsschutz nicht unterschreiten, soll auf europäischer Ebene nunmehr das Gegenteil gelten und der nationale Grundrechtsschutz stets zurücktreten, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrecht und damit der Unionsgrundrechte eröffnet ist.122 Eine Reaktion des BVerfG auf die Entscheidungen Fransson und Melloni folgte nur acht Wochen später anlässlich des Urteils zur Antiterrordatei vom 24. April 2013.123 In dieser Entscheidung billigte das BVerfG im Grundsatz die gemeinsame Datenbank von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder. Obwohl die Verbunddatei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dient und damit auch den Regelungsbereich des Unionsrechts berührt, sah das BVerfG keinen Anlass für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH. Die streitgegenständlichen Vorschriften zur Antiterrordatei seien „nicht durch das Unionsrecht determiniert“ 124 und daher allein anhand der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen. Das BVerfG berücksichtigt zwar, dass die nationalen Bestimmungen zur Antiterrordatei den Umfang der Berichtspflichten Deutschlands gegenüber Europol, Eurojust und den anderen Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 des Beschlusses 2005/671/JI des Rates vom 20. September 2005 über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit betreffend terroristische Straftaten beeinflussen. Das Unionsrecht schreibe aber weder die Einrichtung noch die Ausgestaltung einer solchen Datei vor.125 Wie 120

EuGH, Urteil Melloni v. 26.2.2013, a. a. O., Rn. 62, 63. Safferling, NStZ 2014, 545, 551. 122 Scholz, DVBl. 2014, S. 197 (201). 123 BVerfG, Urteil v. 24.4.2013 – Antiterrordatei, 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499 ff. 124 BVerfG, Urteil Antiterrordatei, a. a. O., Rn. 88. 121

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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das BVerfG hervorhebt, können derartige mittelbare Auswirkungen auf das Unionsrecht für eine Heranziehung der unionsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe nicht genügen.126 Das BVerfG hebt hervor, dass das Urteil Fransson nicht in einer Weise verstanden werden dürfe, nach der dieses „offensichtlich als Ultravires-Akt zu beurteilen wäre“ 127 und die Verfassungsidentität gefährden würde. Insofern dürfe nicht ein solches Verständnis zugrunde gelegt werden, wonach für eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte „jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloßen abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächlichen Auswirkungen auf diese ausreichen“.128 c) Stellungnahme und post-Fransson-Rechtsprechung Die in der Entscheidung Fransson enthaltenen Grundsätze zur Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte sind nicht völlig neu. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass die Unionsgrundrechte nicht nur in Fällen des unmittelbaren Vollzugs von Unionsgrundrechten anwendbar sind, sondern auch in Fällen des mittelbaren Vollzugs. Der EuGH beschränkt die Anwendbarkeit aber nicht länger auf die anerkannten Fallgruppen der Unionsgrundrechte als Schranken bzw. als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten. Vielmehr sollen die Unionsgrundrechte im Anwendungsbereich des Unionsrechts stets zu beachten sein. Tatsächlich erscheint die Begrenzung der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf bestimmte Fallgruppen nicht zwingend und die Einordnung im Einzelfall – wie in der Sache Carpenter – etwas bemüht. Ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und damit der Unionsgrundrechte kombiniert mit einem weiten Verständnis des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs führt allerdings zur Zurückdrängung des nationalen Verfassungsschutzes und erklärt die besondere Brisanz der Entscheidungen Fransson und Melloni. Dem BVerfG ist zuzustimmen, dass nicht jeder beliebige Bezug zum Unionsrecht zur Anwendung der Unionsgrundrechte führen darf. So folgt aus Art. 51 Abs. 2 GRCh und Art. 6 Abs. 1 EUV, dass die Grundrechtecharta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnen und keine neue Zuständigkeiten oder neue Aufgaben für die Union begründen darf. Es muss daher stets ein hinreichend spezifischer Bezug zum Unionsrecht bestehen. Die Entscheidung Fransson verdeutlicht, dass der EuGH bei der Prüfung des unionsspezifischen Bezugs in Zukunft nicht mehr auf rein formale Kriterien oder Fallgruppen abstellen, sondern eine wertende Gesamtbetrachtung im Einzelfall vornehmen wird.129 125 126 127 128 129

BVerfG, Urteil Antiterrordatei, a. a. O., Rn. 89. BVerfG, Urteil Antiterrordatei, a. a. O., Rn. 90. BVerfG, Urteil v. 24.4.2013 – Antiterrordatei, a. a. O., Rn. 91. BVerfG, Urteil v. 24.4.2013 – Antiterrordatei, a. a. O., Rn. 91. Safferling, NStZ 2014, S. 545; Lange, NVwZ 2014, S. 169 (170).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

Der EuGH lässt in der Entscheidung Fransson die Pflicht zur effektiven Umsetzung der unionsrechtlich geregelten Mehrwertsteuer als hinreichenden Bezug genügen. Ob hier angesichts der betroffenen Steuerhoheit als besonders sensibler Bereich staatlicher Souveränität mehr Zurückhaltung und mehr Sensibilität für die verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten zu wünschen gewesen wäre, bleibt dahingestellt. Der EuGH hat jedenfalls versäumt, das Merkmal des hinreichend spezifischen Bezugs zum Unionsrecht in der Entscheidung Fransson näher zu präzisieren. Wird die Anwendung der Unionsgrundrechte beim mittelbaren Vollzug aber nicht auf Fallgruppen beschränkt, so hat dieses Merkmal eine entscheidende Bedeutung. Die fehlende Konturierung des unionsspezifischen Bezugs führte zu einer großen Verunsicherung bei den Mitgliedstaaten und warf die Frage auf, ob der EuGH in seiner weiteren Rechtsprechung „die bereits bestehenden expansiven Tendenzen in Bezug auf den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte“ 130 verstärken wird und gar ein „Verfassungskonflikt zwischen den nationalen Mitgliedstaaten und der EU“ 131 droht. In den ersten post Fransson-Urteile Ymeraga,132 Siragusa133 und Hernandez134 hat der EuGH allerdings klargestellt, dass die Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 GrCh „das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraussetzt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.“ 135 Allein der Umstand, dass die Union über eine Zuständigkeit in dem maßgeblichen Sachbereich verfügt, genügt nach Ansicht des EuGH nicht, um die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte zu begründen. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob die nationale Regelung der Durchführung des Unionsrechts dient, welchen Charakter diese Regelung hat und welche Ziele sie verfolgt und ob besondere Unionsbestimmungen in diesem Bereich existieren oder beeinflusst werden können.136 Die post-Fransson Urteile zeigen, dass der EuGH die Kritik an seiner Entscheidung und den Hinweis des BVerfG auf die Grenzen seiner Zuständigkeit ernst nimmt.137 Der Ansatz des EuGH zur deutlicheren Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der europäischen Kontrolle und der Kontrolle durch die nationalen Verfassungsgerichte ist zu begrüßen, bedarf aber weiterer Konturierung. 130

Lange, NVwZ 2014, S. 169 (172). Scholz, DVBl. 2914, S. 197 (204). 132 EuGH, Urteil v. 8.5.2013 – Ymeraga, Rs. C-87/12. 133 EuGH, Urteil v. 6.3.2014 – Siragusa, Rs. C-206/13. 134 EuGH, Urteil v. 10.7.2014 – Hernandez, Rs. C-198/13. 135 EuGH, Urteil v. 6.3.2014 – Siragusa, Rs. C-206/13, Rn. 24; EuGH, Urteil v. 10.7.2014 – Hernandez, Rs. C-198/13, Rn. 34. 136 Vgl. EuGH, Urteil Hernandez, a. a. O., Rn. 36, 37. 137 In diesem Sinne auch Pötters, EuZW 2014, S. 795 (799). 131

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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Mit Blick auf das Konventionsrecht bleibt festzuhalten, dass die FranssonRechtsprechung den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte erweitert und damit mittelbar die Bedeutung der EMRK in der Auslegung des EGMR deutlich aufgewertet hat. 3. EGMR als Letztentscheidungsinstanz Neben der Wahrnehmung von verfassungsgerichtlichen Funktionen durch den EGMR und dem Bedeutungszuwachs der EMRK über das Recht der Europäischen Union ist zu berücksichtigen, dass der EGMR für sich die Stellung als Letztentscheidungsinstanz in Fragen des europäischen Grundrechtsschutzes beansprucht. Obwohl nach Art. 52 GRCh die in der EU-Grundrechtecharta enthaltenen Rechte grundsätzlich die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden Gewährleistungen in der EMRK haben, sind Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dem EGMR und dem EuGH nicht ausgeschlossen. Der EGMR ist ein auf den Menschenrechtsschutz spezialisiertes Gericht während die Ursprünge der Europäischen Union wirtschaftlicher Art sind. Freilich achtet der EuGH die Unionsgrundrechte, aber er legt diese im Lichte der Unionsziele aus, wodurch es zu Spannungen kommen kann, denn Grundrechte sind auch Schranken der Integration. Ein bekanntes Beispiel einer abweichenden Auslegungsentscheidung ist der Fall Höchst.138 In diesem Fall interpretierte der EuGH Art. 8 EMRK dahingehend, dass der Persönlichkeitsschutz nicht Geschäftsräume erfasst. Drei Jahre später nahm der EGMR zu dieser Frage Stellung und stellte klar, dass der Begriff Wohnung („home“, „domicile“) weit auszulegen ist.139 Der EuGH passte daraufhin seine Rechtsprechung an.140 Obwohl der EGMR Unionsakte nicht unmittelbar kontrollieren kann, beansprucht der EGMR gegenüber dem EuGH das letzte Wort in Grundrechtsfragen und kontrolliert unionsrechtlich determiniertes Handeln der EU-Mitgliedstaaten zumindest mittelbar. a) Keine unmittelbare Kontrolle der Unionsakte Solange der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nicht erfolgt, bleiben unmittelbar gegen sie gerichtete Beschwerden unzulässig ratione personae.141 Obwohl die frühere EKMR betonte, dass die Konventionsstaaten auch nach dem Beitritt zu einer internationalen oder supranationalen Organisation für die 138 EuGH, Urteil v. 12.9.1989 – Höchst, 46/87 u. a., Slg. 1989, 2859, Rn. 17 f., EuGRZ 1989, S. 400. 139 EGMR, Urteil v. 16.12.1992 – Niemietz ./. Deutschland, Nr. 13710/88, EuGRZ 1993, S. 65. 140 EuGH, Urteil v. 22.10.2002 – Roquette Frères, C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 29, EuGRZ 2002, S. 604. 141 EKMR, Entscheidung v. 10.7.1978 – CFDT ./. Europäische Gemeinschaften, Nr. 8030/77.

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Einhaltung der in der EMRK gewährten Rechte und Pflichten verantwortlich bleiben, lehnte sie eine mittelbare Kontrolle des Unionsrechts über die Mitgliedstaaten der Union, die allesamt auch Konventionsstaaten sind, ratione materiae ab, da innerhalb der Union ein äquivalenter Grundrechtsschutz gewährleistet sei.142 Dieser Ansatz drohte jedoch verantwortungsfreie Zustände zu schaffen, wenn ein Unionsrechtsakt gegen die EMRK verstößt und weder die Europäische Union noch die Mitgliedstaaten hierfür haftbar gemacht werden können.143 Im Fall Matthews144 nahm der EGMR erstmals eine Konventionsverletzung bei einem staatlichen Handeln im Zusammenhang mit dem Unionsrecht an, weil die in Gibraltar wohnhafte britische Beschwerdeführerin von den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgeschlossen worden war. Der Ausschluss durch ein nationales Wahlgesetz war in Umsetzung eines Wahlrechtsaktes ergangen, der auf einem Beschluss des Rates der Gemeinschaften beruhte, der nach Art. 223 AEUV145 von den Staaten ratifiziert worden war. Der EGMR sah hierin einen Verstoß gegen Art. 3 des 1. ZP-EMRK. Dass sich die Mitgliedstaaten für das primäre Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht verantworten müssen ist nachvollziehbar, denn mit der Ratifikation als freiwilligen staatlichen Zustimmungsakt wird dem Recht erst zur Wirksamkeit verholfen und ein eigenständiger Anknüpfungspunkt für die internationale Kontrolle geschaffen.146 b) Mittelbare Kontrolle bei unionsrechtlich determiniertem Handeln (Urteil Bosphorus ./. Irland) In dem Fall Bosphorus ./. Irland.147 nimmt der EGMR Stellung zu der Frage, ob ein Mitgliedstaat für ein Verhalten auch dann konventionsrechtlich haftbar gemacht werden kann, wenn dieses Handeln vollständig durch das Unionsrecht determiniert war. Eine türkische Charterfluggesellschaft hatte eine Verletzung ihres Rechts auf Eigentum aus Art. 1 des 1. ZP-EMRK aufgrund der Beschlagnahme eines von ihr geleasten Flugzeuges durch die irischen Behörden geltend gemacht, die aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung gehandelt haben, die sich aus einer

142

EKMR, Entscheidung v. 9.2.1990 – Melchers & Co ./. Deutschland, Nr. 13258/

87. 143

Baumann, EuGRZ 2011, S. 1 (2 f.). EGMR, Urteil v. 18.2.1999 – Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24833/94, EuGRZ 1999, S. 200. Zu dieser Entscheidung: Winkler, EuGRZ 2001, S. 18 ff. 145 Ex-Art. 190 Abs. 4 EG-Vertrag. 146 Breuer, EuGRZ 2005, S. 229 (230). 147 EGMR (GK), Urteil v. 20.6.2005 – Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim þirketi ./. Irland, Nr. 45036/98. Zu dieser Entscheidung siehe: Busse, NJW 2000, S. 1074 ff.; Ciampi, R.G.D.I.P. 2006, S. 95 ff.; Jaqué, RTDeur 2005, S. 756 ff.; Haratsch, ZaöRV 66 (2006), S. 936 ff.; Szczekalla, GPR 2005, S. 176 ff. 144

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Verordnung der Europäischen Gemeinschaft ergab.148 Der EGMR bejahte die Haftung der Staaten für ausschließlich durch das Unionsrecht determinierte konventionswidrige Akte. Um die Staaten vor der Gefahr widersprechender internationaler Verpflichtungen zu schützen,149 etablierte der EGMR aber die Vermutung, dass ein staatliches Handeln, welches in Erfüllung einer internationalen Verpflichtung ausgeführt wird, bei Existenz eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes innerhalb dieser internationalen Organisation gerechtfertigt sei. Die Vermutung sei erst dann widerlegt, wenn im konkreten Fall der Schutz der Grundrechte offenkundig unzureichend war.150 Trotz verfahrensrechtlicher Schwächen im Grundrechtsschutz der Europäischen Union erachtete der EGMR den Grundrechtsschutz in der Union als äquivalent zur EMRK.151 Die Bosphorus-Entscheidung des EGMR sucht das Allgemeininteresse an der internationalen Zusammenarbeit mit der Verantwortlichkeit der Vertragsparteien nach Art. 1 EMRK zu vereinen.152 Obwohl der EGMR die Mitgliedstaaten nicht aus ihrer völkerrechtlichen Verantwortung entlässt, wird das rechtmäßige Handeln des EuGH und der Staaten beim Vollzug unionsrechtlich determinierter Akte vermutet.153 Während nach der deutschen „Solange-Entscheidung“ die Reservekompetenz nur bei einem abstrakten Absinken des Grundrechtsschutzes 148 Verordnung EWG 990/93 des Rates vom 26.4.1993 über den Handel zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Bundesrepublik Jugoslawien, ABl. 1993 L 102, 14., abrufbar im Internet über (Stand: 30.9. 2015). Die Verordnung ist ihrerseits auf der Grundlage eines Beschlusses des Sicherheitsrates ergangen (Beschluss S/RES/820 (1993) on the Situation in Bosnia and Herzegovina vom 17.4.1993), verfügbar über (Stand: 30.9.2015). 149 Die Entscheidung, einen konventionswidrigen Unionsrechtsakt entweder unangewendet lassen zu müssen und somit gegen den Vorrang des Unionsrechts zu verstoßen oder gegen das Konventionsrecht zu verstoßen bezeichnet Jacqué, RTDeur 2005, S. 767 als schizophrenen Zustand („situation schizophrénique“). Busse hebt in NJW 2000, S. 1074 hervor, dass dem Mitgliedstaat in dieser Situation allein die „,Wahlmöglichkeit‘ (bleibt), welches völkerrechtliche Delikt begangen wird“. 150 Die Vermutung kann darüber hinaus in den Bereichen, in denen der EuGH keine oder nur eine beschränkte Rechtsprechungstätigkeit ausübt, keine Geltung entfalten. Dies betrifft – auch nach der geringfügigen Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten durch den Vertrag von Lissabon (hierzu weiterführend: Schröder, Neuerungen im Rechtsschutz der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon, DöV 2009, S. 61 und Fn. 1 m.w. N.) – v. a. den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 151 Als Schwäche des verfahrensrechtlichen Grundrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union gilt insbesondere der limitierte Zugang des Einzelnen zum EuGH, vgl. Art. 263 Abs. 4 und Art. 258 ff. AEUV. Der EGMR geht jedoch von einer hinreichenden Kompensation dieser Schwäche durch den ergänzenden Schutz der nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren aus. Kritisch hierzu: Ciampi, R.G.D.I.P. 2006, S. 95 ff.; Haratsch, ZaöRV 66 (2006), S. 936 ff. 152 So bereits Baumann, in: EuGRZ 2011 S. 1 (3). 153 Szczekalla, GPR 2005, S. 178 spricht von dem „Vertrauensvorschuss“ aus Straßburg.

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greift, kann nach dieser „Europäischen Solange-Entscheidung“ 154 die Vermutung im konkreten Einzelfall widerlegt werden. Obwohl der EGMR bislang sehr zurückhaltend von dieser Kontrollmöglichkeit Gebrauch gemacht hat,155 wahrt sich der EGMR einen Handlungsspielraum, der die Reservekompetenz nicht als entfernte Eventualität, sondern als effektive Möglichkeit der Einflussnahme erscheinen lässt. 4. Beitritt der EU zur EMRK Wie die Bosphorus-Rechtsprechung verdeutlicht beansprucht der EGMR die Rolle der Letztentscheidungsinstanz in Grundrechtsfragen im „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“.156 Durch den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK soll dieser Führungsanspruch institutionalisiert werden. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und dem 14. Protokoll zur EMRK wurden die rechtlichen Hindernisse für einen Beitritt der Europäischen Union zur EMRK beseitigt. Hatte der EuGH in seinem Gutachten von 1994157 noch hervorgehoben, dass eine Rechtsgrundlage für den Beitritt der Union zur EMRK in den Gründungsverträgen fehlt, wurde mit Art. 6 Abs. 2 EUV eine solche Rechtsgrundlage eingeführt. Mehr noch, es wurde eine Verpflichtung zum Beitritt geschaffen. Auch Art. 59 EMRK wurde dahingehend angepasst, dass nicht nur Staaten, sondern auch die Europäische Union der Konvention beitreten kann. Der Beitritt würde nicht zu einer generellen Unterordnung des EuGH gegenüber dem EGMR führen, da der EuGH Letztentscheidungsinstanz für die Auslegung des Unionsrechts bleiben würde. Der EGMR als spezielleres Gericht würde aber im Bereich der Grund- und Menschenrechte eine zusätzliche Kontrolle ausüben.158 An der grundsätzlichen Anerkennung des Führungsanspruchs des EGMR in Grundrechtsfragen durch den EuGH ändert sich auch nichts durch das jüngst veröffentlichte Gutachten des EuGH vom 18. Dezember 2014.159 Der EuGH hat in 154 So eine gängige Bezeichnung, siehe z. B. Haratsch, ZaöRV 66 (2006), S. 927 (946): „Solange-Rechtsprechung des EGMR“. 155 Zur Fortschreibung der Bosphorus-Rechtsprechung im Fall Nederlandse Kokkelvisserij: Baumann, EuGRZ 2011, S. 1 ff. 156 Zu dem Begriff: Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 157 EuGH, Gutachten v. 28.03.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, im Internet abrufbar über (Stand: 30.9.2015), Rn. 35 und abschließende Äußerung. 158 Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, S. 92 (100). 159 EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014 (Plenum) über die Vereinbarkeit des Entwurfs des Übereinkommens über den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK mit dem Unionsrecht, abgedruckt in EuGRZ 2015, S. 30 ff., einschließlich der Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 13.6.2014.

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diesem Gutachten festgestellt, dass der im Rahmen der Beitrittsverhandlungen erarbeitete Entwurf des Übereinkommens über den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK mit wesentlichen Aspekten des Unionsrechts unvereinbar ist. Der EuGH stellt aber nicht die Verpflichtung zum Beitritt als solche in Frage, sondern präzisiert die aus unionsrechtlicher Sicht erforderlichen Voraussetzungen, die vor dem Beitritt erfüllt sein müssen. Im Grundsatz bestätigt der EuGH in seinem Gutachten aber, dass die Union nach einem Beitritt „wie jede andere Vertragspartei, einer externen Kontrolle“ 160 ausgesetzt sein wird und dass nach einem Beitritt „die Union und ihre Organe, einschließlich des Gerichtshofs [EuGH], den in der EMRK vorgesehenen Kontrollmechanismen und insbesondere den Entscheidungen und Urteilen des EGMR unterliegen“ 161 werden. Der EuGH stellt klar, dass eine Übereinkunft, die „die Schaffung eines mit der Auslegung ihrer Bestimmungen betrauten Gerichts vorsieht, dessen Entscheidungen für die Organe, einschließlich des Gerichtshofs [EuGH], bindend sind, grundsätzlich nicht mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.“ 162 5. Fazit Im europäischen Mehrebenensystem hat der EuGH gegenüber den nationalen Gerichten nach Maßgabe der Fransson-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen das letzte Wort, wenn der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet ist. Nach der Bosphorus-Rechtsprechung spricht der EGMR hingegen gegenüber dem EuGH das letzte Wort, wenn es um die Einhaltung des europäischen Mindestgrundrechtsschutzes geht. Es erscheint danach konsequent, dass sich die Rechtsprechung des EGMR zum Grundrechtsschutz auch im Verhältnis zu den nationalen Gerichten durchsetzen können muss. Die aufgezeigten strukturellen Gesichtspunkte und die Funktion des EGMR als Letztentscheidungsinstanz im europäischen Grundrechtsschutz sprechen dafür, der besonderen Bedeutung des EGMR durch die Normierung der Verbindlichkeit seiner Auslegungsurteile Rechnung zu tragen. Die Urteilswirkungen des EGMR sollten nicht weniger weit reichen als die des EuGH. Freilich ist dieser Schluss nicht zwingend, da alle Mitgliedstaaten der Union Mitglieder des Europarates und der EMRK sind, aber nicht umgekehrt alle Konventionsstaaten auch Mitglieder der Union sind.163 Jedenfalls für die Konventionsstaaten, die Mitglieder der Union sind, scheint es an der Zeit, die Rangfrage der EMRK in ihrer Rechtsordnung neu zu überdenken und der Rechtsprechung des EGMR durch klare Rege-

160

EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, a. a. O., Rn. 181. EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Fn. 159), Rn. 181. 162 EuGH, Gutachten 2/13, a. a. O., Rn. 182. 163 Derzeit (Stand: 30.9.2015) besteht der Europarat aus 47 Mitgliedern, darunter die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 161

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lungen zur vollen Effizienz zu verhelfen. Diesen Gedanken äußerte der ehemalige deutsche Richter am EGMR, Georg Ress, mit Bezug auf das deutsche Recht: „Es ist im Ergebnis wenig überzeugend, dass in der Rechtsprechung der vorrangige Charakter des europäischen Gemeinschaftsrechts, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, anerkannt worden ist und für den Bereich des Gemeinschaftsrechts auch die EMRK über die allgemeinen Rechtsgrundsätze daran teilhat, während andererseits die EMRK selbst trotz ihrer Qualifikation als European public order durch den EGMR nach wie vor nur den Rang eines einfachen Gesetzes hat und bezüglich seiner inter partes wirkenden Urteile nur eine sogenannte ,Beachtungspflicht‘ gilt.“ 164

Der unterschiedliche Rang der EMRK in den Konventionsstaaten wird als „Achillesferse“ 165 des Konventionsschutzes betrachtet und die Stellung der Konvention unterhalb der Verfassung ist der Grund dafür, dass nationale Gerichte nur von einer Pflicht zur Berücksichtigung anstatt von einer Pflicht zur Beachtung der Urteile des EGMR ausgehen.

II. Die Bedenken gegen die erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs Die Konventionsstaaten bringen verschiedene Argumente vor, die aus ihrer Sicht gegen eine strikte Pflicht zur Befolgung der Auslegungsentscheidung durch den Gerichtshof sprechen. Hierzu zählen die Wahrung der Verfassungsidentität, der Verweis auf ein mögliches ultra vires-Handeln des Gerichtshofs, das Problem mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse und die Sicherung der Dynamik des Konventionsrechts. Eine Auseinandersetzung mit diesen Bedenken ist geboten. 1. Grundrechte und Verfassungsidentität Wie die Länderanalyse verdeutlicht behalten sich die nationalen Höchst- und Verfassungsgerichte die Möglichkeit einer Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR zum Schutz der nationalen Verfassung vor, wie das Beispiel Deutschland verdeutlicht.166 Das BVerfG hat in seiner Görgülü-Entscheidung die Pflicht zur Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung unter den Vorbehalt gestellt, dass diese nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen tragende

164 Ress, in: Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, S. 177 (200), Ähnlich auch: Everling, EuR 2005, S. 411 (417): „Falls die EMRK und die Urteile ihres Gerichtshofs (. . .) durch die Übernahme in das Gemeinschaftsrecht in dessen Rahmen und des zu seiner Durchführung erlassenen nationalen Rechts mit Vorrang vor nationalem Recht gelten, ist schwer vorstellbar, dass sie bei der direkten Anwendung im nationalen Recht weiterhin mit dem Rang eines einfachen Gesetzes gelten sollen.“ 165 Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (360). 166 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b).

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Verfassungsgrundsätze verstößt.167 Das BVerfG scheint sich hier eine Reservekompetenz sichern zu wollen, ähnlich wie in seiner Rechtsprechung zum europäischen Integrationsprozess.168 a) Kontrollvorbehalt des BVerfG zum europäischen Integrationsprozess Nach dem Selbstverständnis des EuGH und seiner Konzeption von der Unionsrechtsordnung als eigenständige Rechtsordnung hat das Unionsrecht im Kollisionsfall absoluten Vorrang vor dem nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts.169 Nach dem dualistischen Verständnis des BVerfG gilt der Vorrang des Unionsrechts im innerstaatlichen Raum aufgrund des Anwendungsbefehls, der in Form des Zustimmungsgesetzes zu der Europäischen Union erteilt wurde und seine verfassungsrechtliche Legitimation in Art. 23 Abs. 1 GG findet. Art. 23 GG gestattet aber nicht die Übertragung von Hoheitsrechten in einem Maße, welche die Grundstruktur des Grundgesetzes verletzt, Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes erfährt hier eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.170 aa) Überwachung der Grundrechte Zu der Grundstruktur des Grundgesetzes zählt der Schutz der Grundrechte, über dessen Einhaltung das BVerfG wacht. Nach dem Solange II-Beschluss von 1986 des BVerfG171 kann der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz entfallen, solange ein dem unabdingbaren Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbarer Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene generell gewährleistet wird. Eine absolute Identität des deutschen und des europäischen Grundrechtsschutzes wird nicht gefordert. Während das BVerfG einen vergleichbaren Grundrechtsschutz auf der europäischen Ebene in seinem Solange I-Beschluss172 noch verneint hatte, sah es zum Zeitpunkt der Solange II-Entscheidung die Voraussetzungen mit Blick auf die Fortentwicklung des judikativen Grundrechtsschutzes durch den EuGH als erfüllt an.

167 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307. Siehe auch die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b) dd). 168 Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 (19). 169 EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Costa ./. ENEL, 6/64, Slg. 1964, 1141, Rn. 12; EuGH Urteil v. 17.12.1970 – Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, Slg. 1970, Rn. 3. 170 Zu den grundgesetzlichen Grenzen der Entstaatlichung in Art. 23 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG siehe: Fink, DÖV 1998, S. 133 ff. 171 BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986, BVerfGE 73, 339 – Solange II. 172 BVerfG, Beschluss v. 29.5.1974, BVerfGE 37, 271 – Solange I.

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Der Kontrollvorbehalt, wie ihn das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung vertritt, ist als kunstgerechter „Balanceakt“ 173 zwischen dem Schutz der nationalen Verfassung und der Integrationsverantwortung des BVerfG anzuerkennen. Das primäre und legitime Ziel einer jeden Verfassung ist der Selbsterhalt zum Schutz der in ihr verbürgten Grund- und Menschenrechte. Aus Sicht der nationalen Verfassung kann sich daher eine vollständige Verlagerung der Kontrolle der zentralen grundgesetzlichen Gewährleistungen auf die europäische Ebene verbieten.174 Die Reservekompetenz des BVerfG greift aber erst bei einem generellen Absinken des vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf der europäischen Ebene. bb) Identitätskontrolle Problematischer aus europäischer Perspektive sind die Ausführungen des BVerfG in dem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2006, wonach das BVerfG neben der Überwachung der Grundrechte auch eine Kompetenzkontrolle und eine Identitätskontrolle ausübt. Der Gedanke einer Kompetenzkontrolle war bereits zuvor in der Rechtsprechung des BVerfG angelegt,175 der Begriff der Identitätskontrolle wird hingegen neu eingeführt. Das BVerfG prüft insoweit, ob die Akte der europäischen Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 GG und Art. 20 GG verletzen.176 Während bei der Grundrechtskontrolle die Reservekompetenz des BVerfG eher theoretischer Natur ist,177 erscheint die Ankündigung des BVerfG in dem Lissabon-Urteil, dass die Identitätskontrolle im Einzelfall zur Unanwendbarkeit des Unionsrechts in Deutschland führen kann,178 als realistische Perspektive. Die Unterscheidung des BVerfG zwischen der zurückgenommenen Grundrechtskontrolle und der in dem Lissabon-Urteil skizzierten weiterreichenden Identitäts- und Kompetenzkontrolle ist aber schwer nachvollziehbar, denn die Kontrollvorbehalte haben ihre Grundlage allesamt in den Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. So überrascht es nicht, dass das BVerfG seinen Kon-

173

Cornils, in: Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 234 (239). Fink, DÖV 1998, S. 133 (149) mit Blick auf Art. 79 Abs. 3 GG und der engen Verbindung zwischen dem materiellen Gehalt der Staatsfundamentalprinzipien und dem organisatorischen Anspruch des Art. 79 Abs. 3 GG. 175 BVerfGE 58, 1 (30 f.); 75, 223 (235, 242); 89, S. 155 (188); 113, S. 273 (296). Näher zu der Kompetenzkontrolle siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. II. 2. 176 BVerfG, Urteil vom 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a. – Lissabon, NJW 2009, S. 2267 (272), Rn. 240. Zum Lissabon-Urteil des BVerfG siehe: Everling, EuR 2010, S. 91– 217; Pache, EuGRZ 2009, S. 285–298. 177 Nicolaysen/Nowak, NJW 2001, S. 1233 (1235); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 I 4, Rn. 15: „Das BVerfG spielt die Rolle eines ,Reservisten‘ ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt.“ 178 BVerfG, a. a. O., Rn. 241. 174

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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trollanspruch in Hinblick auf die Kompetenzkontrolle in einer späteren Entscheidung wieder zurückgenommen hat.179 b) Die Relevanz einer Residualkompetenz im Konventionsrecht Das Lissabon-Urteil betrifft das Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht. In seiner Görgülü-Entscheidung überträgt das BVerfG den Gedanken einer Reservekompetenz auf das Konventionsrecht. Das Grundgesetz soll sich dann durchsetzen, wenn und soweit eine gefestigte Grundrechtsposition zu einer EMRK-Auslegung im Widerspruch steht.180 Vergleichbare Tendenzen, die aus dem Bereich des Unionsrechts bekannte Residualkompetenz auf das Konventionsrecht zu übertragen, finden sich auch in anderen Ländern.181 Die Residualkompetenz ist im Zusammenhang mit dem Konventionsrecht allerdings schwerer zu rechtfertigen als im Recht der Europäischen Union. Hierbei ist zwischen zwei Situationen zu unterscheiden: Der Schutz im nationalen Recht kann weiter als der Konventionsschutz reichen. Er kann aber auch hinter dem Konventionsschutz zurückbleiben. aa) Weitergehender Schutz im nationalen Recht und Günstigkeitsprinzip Die Konstellation, dass die EMRK in der Auslegung durch den EGMR einen weniger weitreichenden Schutz als das nationale Recht gewährleistet, erscheint unproblematisch, da jeder Staat über den Schutzstandard der EMRK nach Art. 53 EMRK hinausgehen kann.182 Schwierigkeiten hinsichtlich eines weiterreichenden Schutzes kann aber der Grundsatz der Parlamentssouveränität bereiten. Auch das Verhältnis zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist noch nicht hinreichend geklärt. (1) Günstigkeitsprinzip und Grundsatz der Parlamentssouveränität Die Frage, ob die Gerichte frei sind über die Grenzen der Straßburger Rechtsprechung hinauszugehen, ist im Vereinigten Königreich umstritten. Grund ist die Sorge, um die Rolle der Gerichte als Rechtsanwender, die von der Rolle des Parlaments als Gesetzgeber abzugrenzen ist. Lord Bingham macht in einem Diktum im Fall Ullah geltend, dass die britischen Gerichte den Konventionsrechten keine weiterreichende Wirkung verschaffen dürfen als nach der Rechtsprechungspraxis des EGMR: 179 BVerfG (Zweiter Senat), Beschluss v. 6.7.2010 – Honeywell, 2 BvR 2661/06, EuR 2011, S. 226 ff. und die Ausführungen unter Teil 4 B. II. 2. 180 Siehe zu der Görgülü-Entscheidung die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b). 181 Siehe das Beispiel Italiens (controlimiti-Lehre), Teil 3 B. II. 2. d). 182 Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 (19); Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 200.

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„It is of course open to member states to provide for rights more generous than those guaranteed by the Convention, but such provision should not be the product of interpretation for the Convention by national courts, since the meaning of the Convention should be uniform throughout the states party to it. The duty of national courts is to keep pace with the Strasbourg jurisprudence as it evolves over time: no more, but certainly no less.“ 183

Diese Ansicht ist auf Kritik gestoßen. Wenn nationale Gerichte nicht hinter der Straßburger Rechtsprechung zurückfallen, aber auch nicht über sie hinausgehen dürften, könne die Rechtsprechung des EGMR nur reproduziert werden. Die englische Rechtsprechung könnte keine eigenen Akzente setzen und stünde im Schatten Straßburgs.184 Der Ansicht einer solchen Begrenzung („ceiling“)185 der Rechtsprechungspraxis zum Human Rights Act wurde deshalb in der Sache Re P186 entgegengetreten. In dieser Sache ging es um ein Gesetz in Nordirland, das einem unverheirateten Paar nicht gestattete, ein Kind zu adoptieren. Zu dieser Frage existierte keine Rechtsprechung des EGMR, aber die Lords nahmen an, dass der EGMR einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK bejahen würde. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, und der EGMR die Beantwortung dieser Frage dem Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten überlasse, seien die nationalen Gerichte nicht daran gehindert, einen Verstoß gegen den HRA festzustellen.187 Damit setzt sich auch im Vereinigten Königreich die Auffassung durch, dass die Konventionsstaaten über den Grundrechtsschutz der EMRK hinausgehen können, indem sie die EMRK bzw. die HRA Rechte evolutiv auslegen. (2) Günstigkeitsprinzip und Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Das Verhältnis zwischen dem Günstigkeitsprinzip und dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist noch nicht abschließend geklärt. Nach dem Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ist die Konvention nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Konventionsstaaten anerkannt werden. Eine entsprechende Bestimmung existiert in der EU-Grundrechtecharta. Gemäß Art. 53 GRCh darf der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nicht hinter den Gewährleistungen der EMRK in der Auslegung durch den EGMR zurückbleiben. Der Fall Melloni hat allerdings ge183 R (Ullah) v Special Adjudicator [2004] UKHL 26, Rn. 20 – Hervorhebung durch die Verfasserin, abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 493. 184 Lewis, „The European Ceiling“ [2007], P.L. 720, 730, zitiert in: Wright, P.L. 2009, S. 595 (606): „English human rights law finds itself to be nothing more than Strasbourg’s shadow“. 185 Wright, P.L. 2009, S. 595 (606). 186 P & Ors, Re (Northern Ireland) [2008] UKHL 38, abrufbar unter: siehe Teil 3 Fn. 493. 187 Siehe z. B. Lord Hoffman, P & Ors, Re, a. a. O., Rn. 27 ff.

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zeigt, dass das Günstigkeitsprinzip mit dem Gebot des Vorrangs des Unionsrechts kollidieren kann.188 Nach Ansicht des EuGH muss sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem Günstigkeitsprinzip durchsetzen, wenn das Risiko besteht, dass andernfalls der Anwendungsvorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet werden. In diesem Fall müssen die Mitgliedstaaten im Interesse der Rechtseinheit einen Grundrechtsschutz akzeptieren, der unterhalb des nationalen Schutzniveaus bleiben kann. Die Rechtsprechung des EuGH stößt auf Kritik. So warnt Franzius, dass „(e)iner Verabsolutierung des Vorrangs (. . .) mit der Achtung der nationalen Verfassungsidentität schon Art. 4 Abs. 2 EUV entgegen(steht).“ 189 Ferner wird auf die Gefahr eines „race to the bottom“ hingewiesen, also der Gefahr eines Herabsenkens des unionsgrundrechtlichen Standards, um die nationale Verfassung vor dem Anwendungsvorrang zu schützen und einen weiterreichenden Schutz abzusichern.190 Die Rechtsprechung Melloni ist letztlich die Konsequenz aus der unionsrechtlichen Begründung des Anwendungsvorrangs. Der EuGH begründet den umfassenden Anwendungsvorrang mit der Eigenständigkeit des Unionsrechts.191 Bereits 1970 hat der EuGH in der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft klargestellt, dass sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht durchsetzt.192 Den Kritikern der Melloni-Rechtsprechung ist zuzugestehen, dass der Anwendungsvorrang nicht verabsolutiert werden darf und sich nur unter engen Voraussetzungen gegenüber dem Günstigkeitsprinzip durchsetzen kann. Hierbei sind im Wesentlichen folgende Aspekte zu beachten: Notwendige Voraussetzung ist zunächst, dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist. Bei rein nationalen Sachverhalten bleibt der weiterreichende verfassungsrechtliche Schutz stets möglich. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs erfordert einen hinreichend spezifischen Bezug zum Unionsrecht unter Berücksichtigung der post-FranssonKriterien. Ferner ist erforderlich, dass die unionsrechtliche Bestimmung in einer stimmten Sachfrage auf eine abschließende Regelung und Harmonisierung Rechts zielt.193 Denn das Recht der Europäischen Union ist nicht generell eine Gleichschaltung des Grundrechtsschutzes gerichtet. Vielmehr achtet EuGH unterschiedliche Wertvorstellungen, die zu gewissen Abweichungen 188

bedes auf der des

Zum Fall Melloni siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. I. 2. b) cc). Franzius, EuGRZ 2015, S. 139 (142). 190 Franzius, EuGRZ 2014, S. 139 (143) m.w. N. 191 EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Costa ./. ENEL, Slg. 1964, 1141, Rn. 51. 192 EuGH, Urteil v. 17.12.1970 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1980, Rn. 3. 193 So auch Weiß, EuZW 2013, S. 287 (290). 189

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Grundrechtsschutzes in den einzelnen Ländern führen können. Ein Beispiel für diesen pluralistischen Ansatz ist der Fall Omega.194 In diesem Fall hat eine deutsche Stadt den Betrieb eines Laserdromes verboten, da sie das Nachspielen der Tötung von Menschen durch die von einem britischen Unternehmen vertriebenen Laserwaffen als einen Verstoß gegen die Menschenwürde qualifizierte. Der EuGH verneinte einen Verstoß gegen das Unionsrecht, obwohl im Vereinigten Königreich Laserdromes erlaubt sind und es damit zu unterschiedlichen Wertentscheidungen in den EU-Mitgliedstaaten kommt.195 Die Achtung der unterschiedlichen Wertmaßstäbe entfällt aber dann, wenn sich die Mitgliedstaaten im Interesse der Rechtseinheit in einem bestimmten Sachbereich auf eine Regelung geeinigt haben, die miteinander kollidierende Verfassungswerte auf unionsrechtlicher Ebene abschließend lösen soll. Im Fall Melloni war der EuGH zu dem Ergebnis gekommen, dass die streitgegenständliche Bestimmung in Art. 4 a des Rahmenbeschlusses eine abschließende Regelung zur Frage der Auslieferung eines in Abwesenheit Verurteilten getroffen hat, die das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren ebenso würdigt wie die Interessen der EU-Mitgliedstaaten an einer zügigen Vollstreckung.196 Schließlich wird sich der Anwendungsvorrang nur dann gegenüber dem Günstigkeitsprinzip durchsetzen können, wenn sichergestellt ist, dass die unionsrechtliche Regelung im Einklang mit der EMRK in der Auslegung durch den EGMR steht. Der europäische Mindestgrundrechtsschutz muss grundsätzlich gewahrt bleiben. Andernfalls wäre ein Zurückdrängen des weiterreichenden nationalen Verfassungsschutzes durch den Anwendungsvorrang nicht zu rechtfertigen. In der Rechtssache Melloni warf die Vereinbarkeit der Regelung zum Europäischen Haftbefehl mit dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK aus Sicht des EuGH keinen Zweifel auf. Der EuGH beschränkte sich insoweit auf einen kurzen Hinweis auf die einschlägige EGMR-Rechtsprechung.197 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR wäre an dieser Stelle zu wünschen gewesen. Werden die genannten Voraussetzungen ernst genommen, so kann jedoch von einer „Verabsolutierung“ des Vorrangs des Unionsrechts nicht gesprochen werden. Es ist die Aufgabe des EuGH die Rechtssprechung Melloni weiter zu präzisieren und klare Kriterien an die Hand zu geben, in welchen (Ausnahme-)Situationen das Günstigkeitsprinzip hinter dem Vorrangprinzip zurücktreten muss.

194

EuGH, Urteil v. 14.10.2004 – Omega, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609. EuGH, Urteil v. 14.10.2001 – Omega, a. a. O., Rn. 38. 196 Siehe die Ausführungen unter Teil 4 B. I. 2. a) dd) (3). 197 EuGH (GK), Urteil v. 26.2.2013 – Stefano Melloni/Ministerio Fiscal, Rs. C-399/ 11, Rn. 50. 195

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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bb) Nationaler Schutz bleibt hinter dem Konventionsschutz zurück Schwierigkeiten bereitet die Situation, in der die dem EGMR-Urteil zugrunde liegende Auslegung keinen engeren, sondern einen weitergehenden Grundrechtsschutz vorsieht als die nationale Regel. Häufig lässt sich der Konflikt durch eine neue Auslegung des nationalen Grundrechts lösen. So hat das BVerfG in seinem Görgülü-Beschluss darauf hingewiesen, dass die deutsche Verfassung konventionskonform ausgelegt werden muss.198 Das bedeutet, dass eine Abwehrfunktion des BVerfG eigentlich nur greifen kann, wenn die Rechtsprechung des EGMR im Widerspruch zu einer nicht weiter auslegungsfähigen deutschen Verfassungsnorm steht.199 Ist aber eine Verfassungsnorm nicht methodisch vertretbar in völkerrechtskonformer Weise auszulegen, wird eine Verfassungsänderung erforderlich sein.200 Ein Kontrollvorbehalt eines nationalen Verfassungsgerichts kann also für eine Übergangszeit relevant sein, das heißt bis zur Änderung der fraglichen Verfassungsnorm oder bis das zur Verfassungsänderung erforderliche Referendum eingeholt wurde. Ein echter, dauerhafter Konflikt ist nur dann denkbar, wenn das Konventionsrecht in der Auslegung durch den EGMR gegen ein tragendes nationales Verfassungsprinzip verstößt, also gegen ein Prinzip, dass die Verfassung selbst für unveränderlich erklärt. Das Eintreten einer solchen Situation ist aber sehr unwahrscheinlich, wie an dem Beispiel des Gewaltenteilungsgrundsatzes nachfolgend demonstriert werden soll. c) Verstoß gegen tragende Verfassungsprinzipien am Beispiel des Gewaltenteilungsgrundsatzes Der Gewaltenteilungsgrundsatz gehört nach deutschem Recht zu den tragenden Verfassungsprinzipien,201 die nach der Görgülü-Entscheidung des BVerfG Grund für eine Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR sein können.202 Auch im Vereinigten Königreich nimmt der Gewaltenteilungsgrundsatz eine besondere Bedeutung ein. So forderte Lord Hoffmann auf, von der Rechtsprechung des EGMR abzuweichen, wenn diese dem Grundsatz der Gewaltenteilung in der britischen Verfassung diametral zuwiderläuft.203

198 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, Rn. 32. 199 Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S. 440 f. 200 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 B. I. 3. c) bb) (3). 201 Das Rechtsstaatsprinzip wird in Art. 20 GG nicht ausdrücklich erwähnt. Gleichwohl normiert diese Bestimmung wesentliche Elemente des Rechtsstaats, die dem Schutz der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen, wie z. B. der Grundsatz der Gewaltentrennung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Zum Gewaltenteilungsgrundsatz siehe: Cornils, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, S. 657–702. 202 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b). 203 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. a).

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aa) Der Gewaltenteilungsgrundsatz im Wandel Bei der Bestimmung des wesentlichen Inhalts des Gewaltenteilungsgrundsatzes ist zu berücksichtigen, dass die Lehre einem steten Wandel unterlag. Der Grundsatz der Gewaltenteilung geht im Wesentlichen zurück auf Charles de Montesquieu und seine staatstheoretische Schrift „De L’Esprit des Lois“, die – anknüpfend an John Locke – zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehender Staatsgewalt unterscheidet. Grundgedanke seiner Lehre ist die Abwehr des Missbrauchs staatlicher Gewalt durch die Separierung dieser Gewalten und Aufgliederung auf verschiedene Träger der Staatsgewalt.204 Die Gesellschaft hat sich jedoch seither stark gewandelt. Während zur Zeit Montesquieus König, Adel und das Bürgertum Träger der Staatsgewalt waren,205 kennt die Demokratie heute nur einen Träger der Staatsgewalt, nämlich das Staatsvolk. Dabei wird in einer parlamentarischen Demokratie wie Deutschland nur das Parlament unmittelbar vom Volk gewählt; die übrigen Staatsorgane sind nur mittelbar demokratisch legitimiert.206 Die moderne Demokratie ist zudem eine Parteiendemokratie, in der verschiedene politische Gruppierungen um die parlamentarische Mehrheit ringen.207 Dies hat zur Folge, dass im parlamentarischen Regierungssystem die Grenzlinie nicht mehr primär zwischen dem Parlament und der Regierung liegt, sondern innerhalb des Parlaments, nämlich zwischen der Regierungs- und Parlamentsmehrheit einerseits und der Opposition andererseits.208 Die Opposition übernimmt damit die eigentliche Kontrollfunktion im Sinne Montesquieus. Die Gewaltenteilungslehre wird schließlich durch den Beitritt eines Staates zu einer inter- oder supranationalen Organisation beeinflusst. Dieses Phänomen ist aus dem Recht der Europäischen Union bekannt. Während auf der nationalen Ebene das Parlament das zentrale Gesetzgebungsorgan ist, ist auf der Ebene der Europäischen Union der Rat das wesentliche Entscheidungs- und Beschlussfassungsorgan. Bei dem Rat handelt es sich um ein Exekutivorgan, das aus den Vertretern der Mitgliedstaaten auf Ministerebene besteht. Die nationalen Regierungen haben über den Rat bedeutsamen Einfluss auf die Rechtsetzung innerhalb der Europäischen Union. Infolge der Unionszuständigkeiten wird die Exekutive zulasten der Legislative in den Mitgliedstaaten gestärkt. Überspitzt formuliert wird die parlamentarische Gesetzgebung in diesem Bereich durch eine „exekutive Gesetzgebung“ 209 ersetzt.210 204 Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Losebl. (Stand: Januar 2011), Art. 20, Rn. 3. 205 Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, a. a. O., Art. 20, Rn. 18 und 19. 206 Kirchhof, NJW 2001, S. 1332 (1332). 207 Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, a. a. O., Art. 20, Rn. 29–30. 208 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., § 10, Rn. 47 f. 209 Kirchhof, NJW 2001, S. 1332 (1332). 210 Allerdings wurden die Befugnisse des Europäischen Parlaments kontinuierlich gestärkt. Obwohl dem Europäischen Parlament ein Gesetzesinitiativrecht und die Letztent-

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bb) Beeinflussung der Gewaltenteilung auf nationaler Ebene durch die Rechtsprechung des EGMR Nicht nur das Recht der europäischen Union, auch das Konventionsrecht hat starken Einfluss auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ausgeübt. Dies betrifft beispielsweise das Verhältnis der Gerichtsbarkeit zur Verwaltung, welches durch die Rechtsprechung des EGMR zu den zivilrechtlichen Ansprüchen beeinflusst wurde sowie das Verhältnis der Gerichtsbarkeit zur Legislative/Exekutive, welches durch die Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine bedeutsame Wandlung erfahren hat. (1) Verhältnis Verwaltung und Gerichtsbarkeit Nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass Streitigkeiten die zivilrechtliche Ansprüche betreffen von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren entschieden werden. Der EuGH legt den Begriff „zivilrechtlicher Anspruch“ autonom aus, d.h. unabhängig von der Klassifikation in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung.211 Es werden nicht nur Streitigkeiten zwischen Privatpersonen erfasst, sondern auch Streitigkeiten zwischen einer Privatperson und einer Verwaltungsbehörde, wenn der streitgegenständliche Anspruch vermögenswerte Konsequenzen für den Beschwerdeführer hat.212 Fälle, die den Kernbereich hoheitlicher Befugnisse betreffen, wie etwa das Steuerrecht, werden jedoch vom Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK ausgeschlossen.213 Die autonome Auslegung durch den EGMR hat dazu geführt, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK sich heute auf zahlreiche Angelegenheiten erstreckt, die nach dem innerstaatlichen Recht zuvor von Verwaltungsorganen entschieden wurden.214 So musste Österreich weisungsfreie Ver-

scheidungsbefugnis im Gesetzgebungsverfahren fehlten, hat der EGMR unter Berücksichtigung der sui generis-Natur des Rechts der Europäischen Gemeinschaften das Europäischen Parlament bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon als echtes Legislativorgan im Sinne des Art. 3 des 1. ZP-EMRK qualifiziert, vgl. EGMR, Urteil v. 18.2.1999 – Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24833/94, EuGRZ 1999, S. 200 ff. Insbesondere durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von Maastricht und den Ausbau des Verfahrens durch den Vertrag von Amsterdam wurden die Befugnisse des Parlaments weiter gestärkt. Durch den Vertrag von Lissabon wurde das Mitentscheidungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemacht (Art. 294 AEUV). 211 EGMR (Plenum), Urteil v. 28.6.1978 – König ./. Deutschland, Nr. 6232/73, Rn. 88. 212 EGMR, Urteil v. 26.3.1992 – Editions Périscope ./. Frankreich, Nr. 11760/85, Rn. 40. 213 EGMR, Urteil v. 12.7.2001 – Ferrazzini ./. Italien, Nr. 44759/98, Rn. 29. 214 Öhlinger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 196 (205).

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waltungsbehörden einführen, um den Anforderungen des EGMR an ein „Gericht“ im Sinne des Art. 6 EMRK215 gerecht zu werden.216 (2) Verhältnis Gerichtsbarkeit – Exekutive/Legislative Maßgeblichen Einfluss auf das Verhältnis der Gerichtsbarkeit zur Exekutive hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genommen, den das BVerfG als ungeschriebener Rechtsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten entwickelt hat. Nach diesem Grundsatz muss jegliches staatliche Handeln, das in Grundrechte eingreift, verhältnismäßig, d.h. zur Förderung eines legitimen Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein. Die Maßnahme ist angemessen, wenn sie nicht zu Nachteilen führt, die zu dem erstrebten Zweck erkennbar außer Verhältnis stehen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip greift nicht nur gegenüber der Verwaltung, sondern auch gegenüber dem Gesetzgeber, da nur auf diese Weise ein umfassender Grundrechtsschutz gewährleistet wird.217 (a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kein allgemein anerkanntes Prinzip Eine dem deutschen Verfassungsgericht vergleichbare Institution, die nationale Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, existiert nur in wenigen Staaten.218 Im englischen Recht schließt der Gedanke einer absoluten Parlamentssuprematie eine solche Kontrolle aus.219 Auch eine Kontrolle der Exekutive durch die Gerichte ist im Vereinigten Königreich nur bedingt anerkannt. Zu den prüfbaren Bestandteilen des judicial review gehört die Vereinbarkeit des Handelns der Exekutive mit den Gesetzen, die Einhaltung eines fairen Verfahrens und in materieller Hinsicht eine Willkürkontrolle.220 Auch Frankreich war eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung des parlamentarischen Gesetzgebers lange Zeit fremd. Die französische Verfassung sah für den Conseil Constitutionnel nur die Möglichkeit der Prüfung eines Gesetzes vor seiner Ausfertigung, nicht aber nach seiner Ausfertigung und Verkündung vor.221 215 Zu dem Begriff des Gerichts im Sinne des Art. 6 EMRK und den Anforderungen, die an ein solches zu stellen sind, siehe EGMR, Urteil v. 29.4.1988 – Belilos ./. Schweiz, Nr. 10328/83, Rn. 64. 216 Öhlinger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, a. a. O., S. 196 (206). 217 Knill/Becker, Die Verwaltung 36 (2003), S. 447 (459). 218 Frowein/Peukert, EMRK, 3. Aufl., Einführung, Rn. 3. 219 Siehe die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. a). 220 Arnauld, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 (44 f.). Eine Entscheidung wird als willkürlich („unreasonable“) bezeichnet, wenn sie jeglicher Logik entbehrt oder den guten Sitten derart widerspricht, dass keine vernünftige Person, die diese Frage zu entscheiden hätte, zu einem solchen Ergebnis gekommen wäre, vgl. Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service [1983] UKHL 6, Lord Diplock. 221 Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (963).

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(b) Rezeptionsprozesse infolge des europäischen Einflusses Der EuGH und der EGMR haben den von dem BVerfG entwickelten Verhältnismäßigkeitgrundsatz mit geringen Abweichungen in der Praxis222 in ihre Rechtsprechung integriert.223 Infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts mussten die nationalen Gerichte in Fällen mit europarechtlichem Bezug das Verhältnismäßigkeitsprinzip übernehmen, auch wenn ihre nationale Rechtsordnung eine solche Kontrolle zuvor nicht kannte.224 Auch der EGMR übte Druck zur uneingeschränkten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus wie der Fall Chassagnou225 zeigt. Der EGMR prüfte in dieser Rechtssache eine jagdrechtliche Regelung („Loi Verdeille“), die die Möglichkeit der Gründung von Jagdvereinigungen auf kommunaler Ebene vorsah. Das Gesetz beinhaltete eine Zwangsmitgliedschaft für Grundstückseigentümer, deren Land eine bestimmte Größe nicht erreichte. Die Beschwerdeführer, die aus ethischen Gründen die Jagd ablehnen, machten eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 des 1. ZP-EMRK (Schutz des Eigentums), Art. 9 EMRK (negativen Vereinigungsfreiheit) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) geltend. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber das Allgemeininteresse und die individuellen Interessen der Beschwerdeführer nicht sachgerecht ausgewogen hat.226 Durch den europäischen Druck begannen die französischen Gerichte mittelbar Grundrechtsverletzungen durch nationale Gesetze zu prüfen, indem sie das nationale Gesetz nicht auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung, sondern auf die Vereinbarkeit mit der Konvention prüften.227 Die Entwicklung kulminierte in einer Änderung der französischen Verfassung, die erstmals eine nachträgliche Kontrolle bereits ausgefertigter und verkündeter Rechtsnormen einführt hat.228 Die neue Verfassung wurde am 21. Juli 2008 verabschiedet.229

222 Bei dem EuGH liegt der Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf der Erforderlichkeit. Der EGMR prüft die Geeignetheit nur ausnahmsweise ausdrücklich. Den Kern der Prüfung bildet bei dem EGMR – wie auch beim BVerfG – die Angemessenheit (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). 223 Stone Sweet, RTDH 80 (2009), S. 930; Öhlinger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 196 (204). 224 Öhlinger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 196 (203 f.); Arnauld, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 (45 f.). 225 EGMR (GK), Urteil v. 29.4.1999 – Chassagnou u. a. ./. Frankreich, Nr. 25088/94, 28331/95 und 28443/95. 226 EGMR, Urteil Chassagnou, a. a. O., Ziff. 117. 227 Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (964). 228 Hierzu: Franzke, EuGRZ 2010, S. 414 ff. 229 Loi constitutionnelle n ë 2008-724 de modernisation des institutions de la Ve République vom 23.7.2008, verkündet im Journal officiel n ë 0171 v. 24.7.2008, im Internet abrufbar über (Stand: 30.9.2015), S. 11890, dort Text n ë 2.

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Im Vereinigten Königreich konnte nach Inkorporation der EMRK der Grundsatz der Parlamentssouveränität äußerlich gewahrt werden, indem eine Pflicht zur konventionrechtskonformen Auslegung in Kombination mit der Möglichkeit einer Unvereinbarkeitserklärung begründet wurde.230 Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass die englischen Gerichte nunmehr nationale Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK überprüfen dürfen.231 Die englischen Gerichte haben bereits in zahlreichen Fällen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewandt und zwar sowohl in Bezug auf Verwaltungsakte als auch in Bezug auf Gesetze.232 Die Folge ist, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im englischen Recht sowohl in den vom Unionsrecht determinierten Fällen als auch im Anwendungsbereich des Human Rights Act anwendbar ist. Der beschränkte Kontrollmaßstab des judicial review greift nur noch für rein nationale Fälle. Diese künstliche Aufspaltung erscheint angesichts des weiten Anwendungsbereichs des Europarechts schwierig aufrechtzuerhalten. Es ist daher langfristig mit einem spill-over-Effekt zu rechnen, der zu einer vollständigen Adaption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in das nationale Recht führen kann.233 Ähnliche Anpassungsvorgänge haben auch in anderen europäischen Ländern stattgefunden.234 Die Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt wurde hierdurch erheblich verschärft und das Gewicht zwischen der gesetzgebenden Gewalt und den Gerichten deutlich zugunsten letzteren verschoben.235 d) Fazit Die Rechtsprechung des EGMR hat – unterstützt durch entsprechende Entwicklungen im Recht der Europäischen Union – zu wichtigen Modifikationen innerhalb der Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten geführt. Zentrale Verfassungselemente, wie der Grundsatz der Parlamentssouveränität, blieben nicht unberührt. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung als tragendes Verfassungsprinzip ist hierin nicht zu sehen. So wird der Gewaltenteilungsgrundsatz nirgends in absoluter Form verwirklicht.236 Ein gewisses Maß an Gewaltenvermischung ist unvermeidlich. Der Wesenskern des Gewaltenteilungsprinzips

230

Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. a). Grote, ZaöRV 58 (1998), S. 309 (347). 232 Arnauld, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 (47). 233 Arnauld, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 (50). 234 Zum Beispiel Italien, Österreich und Griechenland, vgl. Arnauld, EuR 2008, Beiheft 1, S. 41 (57). 235 Öhlinger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, Berlin 2006, S. 196 (203 f.). 236 Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Losebl. (Stand: Oktober 2010), Art. 20, Rn. 8. 231

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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bleibt gewahrt, solange die Staatsgewalt auf verschiedene Träger verteilt bleibt und die Konzentration der Gewalt in einer einzigen Institution durch entsprechende Vorkehrungen verhindert wird.237 Obwohl der Schutz der nationalen Verfassung ein wesentlicher Aspekt ist, darf dieser nicht als Vorwand genommen werden, um einem Urteil des EGMR die Gefolgschaft zu verweigern. Grundsätzlich wird eine konventionsrechtskonforme Auslegung der Verfassungsnorm möglich sein. Besteht ein klarer Widerspruch zwischen einer Verfassungsnorm und dem Konventionsrecht, der nicht im Wege der Auslegung überwunden werden kann, wird regelmäßig eine Änderung der nationalen Verfassung erforderlich sein. Sollte tatsächlich einmal die Situation eintreten, dass der Verfassungskern berührt und eine Anpassung an das Konventionsrecht nicht in verfassungskonformer Weise möglich ist, bliebe dem Konventionsstaat in letzter Konsequenz nur der Austritt. Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten der europäischen Verfassungen ist ein solcher Fall schwer vorstellbar. Das Beispiel des Gewaltenteilungsgrundsatzes verdeutlicht, dass auch tragende Verfassungsgrundsätze dem Wandel unterliegen, ohne dass ihr unveränderlicher Kern hierdurch verletzt wird. Denkbar bleibt der Gebrauch der Reservekompetenz lediglich in einer Übergangszeit bis zum Abschluss des für die Anpassung an das Konventionsrecht erforderlichen Verfahrens. Vor diesem Hintergrund hätte das BVerfG in seiner Görgülü-Entscheidung den Ausnahmecharakter einer Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR stärker betonen und eine der Solange-Rechtsprechung zum europäischen Integrationsprozess vergleichbare, zurückhaltendere Kautele finden müssen.238 2. Ultra-vires-Kontrolle Im engen Zusammenhang mit der Kontrolle der Wahrung der Identität der Verfassung steht die Kompetenzkontrolle durch die nationalen Gerichte. Es soll verhindert werden, dass der EGMR seine Auslegungsbefugnisse überschreitet und ultra-vires handelt. a) Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung des EGMR Der Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung wurde schon mehrfach im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EGMR erhoben und führte dazu, dass sich manche Staaten weigerten, ein Urteil des EGMR zu vollstrecken. Ein Bei237

Herzog/Grzeszick, a. a. O., Art. 20, Rn. 3. Etwa ähnlich der von Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 (19) vorgeschlagenen Formulierung: „Vorrang des Grundgesetzes, solange die zur Durchführung eines Straßburger Urteils (vielleicht einmal) erforderliche Verfassungsänderung noch nicht erfolgt ist.“. Für die Notwendigkeit einer Relativierung der Kontrollfunktion des BVerfG auch Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (53). 238

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

spiel ist der Fall Ilas¸cu u. a. ./. Moldawien und Russland,239 der das separatistische Regime Transnistrien im Osten Moldawiens betraf. Die Beschwerdeführer waren Gegner des Regimes und von transnistrischen Separatisten verhaftet worden. Die moldawische Regierung war die einzig rechtmäßige nach völkerrechtlichen Grundsätzen, hatte aber keine Herrschaftsgewalt über Transnistrien. Dennoch verurteilte der Gerichtshof Moldawien, weil die moldawische Regierung nicht ihre positive Verpflichtung nach Art. 1 EMRK nachgekommen sei und nicht alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet habe, um die Konventionsrechte der Beschwerdeführer sicherzustellen. Darüber hinaus verurteilte der EGMR Russland, weil es während des Konflikts seine Truppen in Transnistrien stationiert und die effektive Kontrolle ausgeübt habe und deshalb für die Konventionsverletzung mitverantwortlich sei. Russland wertete diese Entscheidung als „politisch“ und verweigerte den Urteilsvollzug. Erst nach Ablauf der 15-jährigen Haftstrafe kamen die letzten beiden der vier Inhaftierten im Juni 2007 frei.240 Ein weiteres berühmtes Beispiel der Weigerung eines Konventionsstaates, ein Urteil des EGMR zu vollstrecken, ist der Fall Loizidou, in dem die Beschwerdeführerin durch türkische Truppen gehindert worden war, ihre Grundstücke in Nordzypern zu nutzen.241 Der EGMR bejahte eine Konventionsverletzung242 und sprach ihr eine Entschädigung in Höhe von 320.000 Zypriotische Pfund zu.243 Trotz wiederholter Ermahnungen zahlte die Türkei diese Summe erst fünf Jahren später aus. Hintergrund für dieses Verhalten war, dass es sich um einen Präzedenzfall handelte. Die Türkei war sich bewusst, dass sie, wenn sie die Zahlung akzeptierte, die finanziellen Forderungen von tausend anderen zypriotischen Griechen, die an der Nutzung ihres Eigentums gehindert worden waren, entschädigen muss.244 Die einschneidenden wirtschaftlichen Folgen einer EGMR-Entscheidung können aber für sich die Verweigerung des Urteilsvollzugs nicht rechtfertigen. b) Parallele zur Diskussion im Recht der Europäischen Union Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Staaten eine ultravires-Entscheidung einer internationalen Rechtsprechungsinstanz unberücksichtigt lassen können, wird im Zusammenhang mit dem Unionsrecht eingehend diskutiert. Das BVerfG führte in seinem Lissabon-Urteil aus, dass es neben der Kontrolle des unabdingbaren Grundrechtsschutzes und der Identitätskontrolle 239 EGMR (GK), Urteil v. 8.7.2004 – Ilas ¸cu u. a. ./. Moldawien und Russland, Nr. 48787/99. 240 Nussberger/Marenkov, Russland vor dem EGMR, in: Russlandanalysen Nr. 140 v. 29.6.2007. 241 Siehe zum Fall Loizidou die Ausführungen unter Teil 2 A. III. 2. c). 242 EGMR (GK), Urteil v. 18.12.1996 – Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89. 243 EGMR (GK), Urteil v. 28.7.1998 – Loizidou ./. Türkei (Art. 50), Nr. 15318/89. 244 Flauss, Rev.trim.dr.h. 20 (2009), S. 27 (46).

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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eine ultra-vires-Kontrolle ausübt und überprüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe sich in den Grenzen der ihnen übertragenen Befugnisse halten.245 Die Union darf danach kein kompetenzwidriges Recht erlassen und muss bei der Inanspruchnahme ihrer Zuständigkeiten das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und den Subsidiaritätsgrundsatz wahren. Ein ultra-vires-Handeln des EuGH kommt nach Ansicht des BVerfG in Betracht, wenn er Unionsrecht nicht auslegt oder fortbildet, sondern kompetenzüberschreitend neu „erfindet“.246 Das BVerfG begründet die Kontrolle damit, dass das Unionsrechts allein über das deutsche Zustimmungsgesetz und den in ihm enthaltenen innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl in Deutschland Geltung erlangt. Das Zustimmungsgesetz kann deshalb als die „Brücke“ in das deutsche Rechtssystem bezeichnet werden mit der Folge, dass alles, was von dieser Brücke nicht getragen wird, keine Rechtsverbindlichkeit in Deutschland erhalten kann.247 Das BVerfG spricht sich in seinem Lissabon-Urteil die Befugnis zu, das Vorliegen eines ultra-vires-Handelns des EuGH letztverbindlich festzustellen und die Befolgung des Urteils zu verweigern.248 Dieser Ansatzpunkt ist in mehrfacher Hinsicht problematisch, da er die Europäische Union einer klassischen internationalen Organisation gleichsetzt und die rechtliche Unwirksamkeit eines Rechtsaktes im Falle eines ultra-vires-Handelns voraussetzt und weil das BVerfG sich die letztverbindliche Entscheidung über das Vorliegen eines solchen ultra-viresAktes zuspricht. Diese Annahmen sind aber keineswegs allgemein akzeptiert. Im Recht der internationalen Organisationen wird ein ultra-vires-Handeln bejaht, wenn das Organ einer internationalen Organisation eine Kompetenz für sich in Anspruch nimmt, die eindeutig einem anderem Organ zugewiesen ist oder wenn eine Kompetenz wahrgenommen wird, die sogar außerhalb der durch die Satzung der Organisation eingeräumten Befugnisse insgesamt liegt.249 Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Europäische Union aufgrund ihres erhöhten Integrationsgrades überhaupt wie eine klassische internationale Organisation behandelt werden darf und die ultra vires-Lehre Anwendung findet.250 Zudem ist problematisch, ob ein ultra vires-Handeln automatisch zur rechtlichen Unwirksamkeit des Rechtsaktes führt. Im allgemeinen Völkerrecht existiert regelmäßig keine

245 BVerfG, Urteil v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 u. a. – Lissabon, BVerfGE 123, 267, Rn. 234 ff. 246 Dies wurde etwa mit Blick auf das Alcan-Urteil des EuGH [Urteil v. 20. März 1997 – Land Rheinland-Pfalz ./. Alcan Deutschland GmbH, C-24/95, 1997, I-1591] behauptet, siehe Scholz, DÖV 1998, S. 261 (264 f.). 247 Zu diesem Brücken-Gleichnis siehe Kirchhof, Berichterstatter beim MaastrichtUrteil, DRiZ 1995, S. 253 (259). 248 BVerfG, Urteil Lissabon, a. a. O., Rn. 240, 241. 249 Köck, in: Böckstiegel (Hrsg.), FS Seidl-Hohenveldern, S. 279 (291). 250 Bryde, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS Jaeger, S. 65 (70).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

gerichtliche Entscheidungsinstanz, die das Vorliegen eines ultra vires-Aktes feststellen könnte, so dass die nationalen Gerichte diese Aufgabe übernommen haben. Sobald aber durch den völkerrechtlichen Vertrag eine internationale Gerichtsbarkeit eingeführt wurde, sind deren Entscheidungen grundsätzlich zu beachten.251 Dies muss auch dann gelten, wenn die Entscheidung fehlerhaft zustande gekommen ist. Auf der Ebene der Europäischen Union besteht mit dem EuGH eine solche Gerichtsbarkeit; die Urteile des EuGH sind grundsätzlich beachtlich. Selbst wenn von der rechtlichen Unwirksamkeit eines ultra-vires-Aktes ausgegangen wird, ist es mit dem Funktionieren einer internationalen Organisation nur schwer zu vereinen, dass jeder Vertragsstaat selbst über das Vorliegen eines ultravires-Aktes letztverbindlich entscheiden und den Vollzug verweigern können soll.252 Den Vertragsstaaten muss gestattet sein, Kritik zu üben und in den Dialog mit der internationalen Instanz zu treten. Hierzu sind aber die von der Organisation zur Verfügung gestellten Mechanismen zu nutzen. Es ist mit der Integrationsverantwortung unvereinbar, dass ein Staat „qua Faustrecht“ 253 seine Rechtsauffassung durchsetzt. Aus dem europarechtlichen Blickwinkel muss die Erklärung der Nichtbefolgung des Unionsrechts infolge einer Kompetenzkontrolle durch ein nationales Gericht grundsätzlich als Vertragsverletzung qualifiziert werden.254 Zwar ist ein Staat frei, einen Rechtsakt der Organe der Europäischen Union nicht zu befolgen, er hat dann aber auch die rechtlichen Konsequenzen zu tragen.255 Als ultima ratio bliebe dem Staat die Möglichkeit, aus der Union auszutreten. Eine Lösung von den vertraglichen Bindungen darf jedoch nur generell, nicht punktuell unter Berufung auf das Vorliegen eines ultra-vires-Aktes im Einzelfall geschehen.256 In Reaktion auf die deutliche Kritik an dem Lissabon-Urteil hat das BVerfG in der Honeywell-Entscheidung vom 6. Juli 2010257 die von ihm beanspruchte Kontrollkompetenz gegenüber dem Unionsrecht deutlich zurückgenommen. Das BVerfG hat erklärt, dass es die ultra-vires-Kontrolle europarechtsfreundlich ausüben werde.258 Bereits im Lissabon-Urteil hat das BVerfG von dem Erfordernis von „ersichtlichen Grenzüberschreitungen“ 259 gesprochen. Diesen Gedanken greift das BVerfG auf und präzisiert, dass die ultra vires-Kontrolle nur eingreift, 251

Bryde, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS Jaeger, S. 65 (71 f.). Ress, ZöR 64 (2009), S. 387 (393). 253 Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 400. 254 Everling, EuR, S. 91 (104); Bryde, Transnationale Rechtsstaatlichkeit, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS Jaeger, S. 65 (70). 255 Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen 2009, S. 399. 256 Ress, ZöR 64 (2009), S. 387 (393). 257 BVerfG (Zweiter Senat), Beschluss v. 6.7.2010 – Honeywell, 2 BvR 2661/06, EuR 2011, S. 226 ff. 258 BVerfG, Urteil Honeywell v. 6.7.2010, a. a. O., Rn. 58. 259 BVerfG, Urteil Lissabon v. 6.7.2010, a. a. O., Rn. 240. 252

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert ist, das heißt wenn das kompetenzwidrige Handeln „offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union (. . .) erheblich ins Gewicht fällt“.260 Dabei gesteht das BVerfG dem EuGH einen gewissen „Anspruch auf Fehlertoleranz“ zu.261 Überdies müsse vor einer ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG dem EuGH Gelegenheit gegeben werden, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zu der Frage Stellung zu nehmen.262 c) Konsequenzen für das Konventionsrecht Die Überlegungen im Zusammenhang mit dem Recht der Europäischen Union lassen sich auf das Konventionsrecht übertragen. Auch das Konventionsrecht weist infolge des kontinuierlichen Ausbaus des ordre public-Charakters einen gegenüber dem einfachen völkerrechtlichen Vertrag deutlich erhöhten Integrationsfaktor auf. Mit dem EGMR existiert eine internationale Gerichtsbarkeit, deren Urteile zu befolgen sind. Selbst wenn die Theorie der rechtlichen Unwirksamkeit eines Urteilsspruchs bei Überschreitung der Auslegungsbefugnisse des EGMR anerkannt wird, ist dem EGMR ein gewisses Maß an Fehlertoleranz zuzugestehen. Der einzelne Konventionsstaat hat nicht die Befugnis über das Vorliegen eines ultra-vires-Aktes letztverbindlich zu entscheiden. Diese Prüfungsbefugnis könnte dem Gerichtshof selbst oder dem Ministerkomitee als Summe der Vertragsstaaten zugesprochen werden.263 Vorzugswürdig erscheint aber die Schaffung einer unabhängigen europäischen Instanz, die zur Entscheidung über das Vorliegen eines ultra-vires-Aktes durch das europäische Gericht ausdrücklich ermächtigt wird. Eine ultra-vires-Kontrolle durch nationale Gerichte kann daher allenfalls solange gerechtfertigt werden, bis eine solche unabhängige Kontrollinstanz errichtet wird und unter der Bedingung, dass die Kontrolle konventionsfreundlich ausgeübt wird. 3. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse Neben dem Schutz der Verfassungsidentität und der ultra vires-Kontrolle macht das BVerfG in seiner Görgülü-Entscheidung geltend, dass in den Fällen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse Abweichungen von der Rechtsprechung des EGMR möglich sein müssen. Dies gilt nach Ansicht des BVerfG insbesondere 260

BVerfG, Urteil Honeywell v. 6.7.2010, a. a. O., Rn. 61. BVerfG, Urteil Honeywell v. 6.7.2010, a. a. O., Rn. 66. 262 BVerfG, Urteil Honeywell v. 6.7.2010, a. a. O., Rn. 60. Kritisch zur Reduktion der verfassungsrechtlichen Kontrolle Richter Landau in seinem Sondervotum zu dem Urteil. 263 Für eine Übertragung dieser Befugnis auf das Ministerkomitee: Ress, ZöR 64 (2009), S. 387 (394). In diesem Fall wäre zu klären, ob das Ministerkomitee über das Vorliegen eines ultra-vires-Aktes mit Mehrheit entscheiden darf. 261

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dann, wenn die Entscheidung des EGMR auf „durch differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme“ 264 trifft, die Fragen der Grundrechtskonkurrenz im innerstaatlichen Recht regeln. Solche Systeme seien im Bereich des Ausländer- und Familienrechts oder des Schutzes der Persönlichkeit anerkannt. Das BVerfG begründet diesen Ansatz damit, dass das Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK auf die Entscheidung konkreter Einzelfälle in einem zweiseitigen Verhältnis zwischen Beschwerdeführer und Vertragspartei ausgerichtet sei und nicht auf die Lösung mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse.265 Die prozessuale Ausgestaltung des Verfahrens kann jedoch ein Abweichen von den Straßburger Urteilen nicht rechtfertigen. a) Keine Beschränkung der Befolgungspflicht Obwohl das Individualbeschwerdeverfahren ein Zweiparteienverfahren ist, berücksichtigt es die Interessen Dritter. Nach Art. 36 Abs. 2 EMRK kann der EGMR jeden am Verfahren nicht beteiligten Staat und jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme oder Teilnahme an der mündlichen Verhandlung geben. Im Übrigen wendet der EGMR in seinen Urteilen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an und setzt den Interessen des Beschwerdeführers die Interessen der Allgemeinheit gegenüber, um einen gerechten Ausgleich zu finden.266 Der EGMR wacht als unabhängige europäische Instanz über die Einhaltung des europäischen Mindestschutzes im Bereich der Menschenrechte. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn nationale Gerichte unter Berufung auf mehrpolige Grundrechtsverhältnisse, die weite Teile des Privatrechts betreffen, von einer Entscheidung des EGMR abweichen könnten.267 Die Ausführungen des BVerfG im Zusammenhang mit mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen können als dogmatische Begründung einer Begrenzung der Befolgungspflicht nicht überzeugen. Sie sind nach Ansicht Grabenwarters eher als ein Appell des BVerfG an den EGMR zu verstehen, seine Kontrolldichte bei der Abwägungsentscheidung bezüglich konkurrierender Grundrechte zurückzunehmen.268 264 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 ff.; NJW 2004, S. 3404 ff., Rn. 58. Siehe zur Görgülü-Entscheidung auch die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b). 265 BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 – Görgülü, a. a. O., Rn. 50 und 57 ff. 266 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz siehe die Ausführungen oben unter Teil 4 B. II. 1. c) bb). 267 In diese Sinne auch: Grabenwarter, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), FS Tomuschat, S. 193 (197 ff.); Kadelbach, Jura 2005, S. 480 (485); Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 (17); Pernice, EuZW 2004, S. 705 (705). 268 Grabenwarter, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), FS Tomuschat, S. 193 (199) spricht von einer „verklausulierte[n] Botschaft über die Kontrolldichte der Straßburger Menschenrechtskontrolle“.

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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Die Fälle, über die der EGMR in seiner Rechtsprechungspraxis zu entscheiden hat, lassen sich in drei Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe betrifft strukturelle bzw. systemische Probleme (wie z. B. die überlange Verfahrensdauer der Gerichtsverfahren). Die zweite Gruppe umfasst massive Menschenrechtsverletzungen (wie z. B. Verstöße gegen das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK); die Aufgabe des Gerichtshofs zur Sicherung eines Mindestschutzes wird hier besonders deutlich. Die dritte Gruppe bezieht sich auf sog. fine-tuning-Fälle, in denen es trotz eines grundsätzlich hohen Schutzstandards um die komplexe Abwägung widerstreitender Interessen und Schutzgüter gehen kann.269 Das Anliegen des BVerfG ist offenbar, dass der EGMR sich auf die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen konzentrieren und die Feinfilterung in den Abwägungsfällen den nationalen Gerichten überlassen soll.270 b) Forderung nach einer Rücknahme der Kontrolldichte Die Forderung des BVerfG nach einer Rücknahme der Kontrolldichte entspricht einem Trend, der ein stärkeres Vertrauen in die Höchst- und Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten fordert. Art. 13 EMRK verlange, dass nationale Richter die Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen. Der EGMR habe lediglich in verfahrensrechtlicher Hinsicht sicherzustellen, dass die nationalen Richter diese Aufgabe tatsächlich wahrnehmen. Eine Überprüfung der nationalen Abwägungsentscheidung in materiell-rechtlicher Hinsicht sei auf wichtige Fälle zu beschränken.271 Der ehemalige Präsident des BVerfG Hans-Jürgen Papier hat vorgeschlagen, dass sich der EGMR auf eine Willkürprüfung beschränken könne, wenn der betroffene Staat über einen grundsätzlich gut funktionierenden Grundrechtsschutz verfüge.272 Zentrale Aufgabe des EGMR sei die Sicherung des europäischen Mindeststandards im Bereich der Grund- und Menschenrechte. Wurde ein Fall bereits hinreichend auf der nationalen Ebene geprüft, sei diese Entscheidung zu respektieren, ohne dass es einer erneuten Prüfung durch den EGMR bedürfe. Etwas anderes gelte nur dann, wenn der Grundrechtsschutz im nationalen Recht grundlegende Mängel aufweise oder es konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass im Einzelfall der Grundrechtsschutz willkürlich verweigert wurde.273 Hinter solchen Forderungen steht die Sorge, dass der EGMR über das Instrument der Verhältnismäßigkeitsprüfung weitgehende Eingriffs- und Gestaltungs269 Zu dieser Einteilung siehe Keller/Stone Sweet, in: dies. (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 13. 270 Kadelbach, Jura 2005, S. 480 (485). 271 Keller/Stone Sweet, in: dies. (Hrsg.), A Europe of Rights, S. 700. 272 Rede von BVerfG-Präsident H.-J. Papier anlässlich seiner Verabschiedung am 14.5.2010, EuGRZ 2010, S. 368. 273 Ebenda.

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möglichkeiten im innerstaatlichen Recht erhält und hierbei die Souveränität des betroffenen Staates mitsamt seinen historischen, politisch-kulturellen und religiösen Eigenheiten missachtet.274 Eine Rücknahme der Kontrolldichte stünde im Einklang mit dem Subsidiaritätsgedanken. Der EGMR würde von Bagatellfällen befreit werden und könnte die gesparte Energie und Zeit für die verbleibenden Fallgruppen, d.h. den strukturellen und den massiven Konventionsverletzungen, nutzen.275 Dennoch geht die Forderung nach einer Beschränkung auf eine bloße Willkürprüfung – oder gar die Aufmunterung, von der Rechtsprechung des EGMR bewusst abzuweichen276 – zu weit. Würde der EGMR die Kontrolldichte generell auf eine bloße Willkürprüfung reduzieren, würde der EGMR seiner primärer Aufgabe, nämlich die Gewährleistung von Individualschutz im Einzelfall, nicht mehr gerecht werden.277 Würde der EGMR die Kontrolldichte bezüglich einzelner Höchst- und Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten zurücknehmen, würden den nationalen Gerichten der Stempel eines grundsätzlich „guten“ bzw. „schlechten“ Grundrechtsschutzes aufgesetzt werden, was zwangsläufig zu Spannungen unter den Mitgliedstaaten führen würde. Der Überlastung des EGMR ist daher nicht durch eine generelle Zurücknahme der Kontrolldichte entgegenzuwirken, sondern durch strukturelle Reformen und einer Stärkung der objektiven Dimension des Konventionssystems. Der Forderung nach Beachtung der nationalen Eigenheiten muss durch Einräumung nationaler Einschätzungsspielräume Rechnung getragen werden.278 c) Zurückhaltung gegenüber mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen durch Achtung von Beurteilungsspielräumen Dem BVerfG ist zuzugestehen, dass im Zusammenhang mit mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen der Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten tendenziell größer ist als in den einfachen Fällen. In dem Verhältnis Staat-Bürger 274

Gerhardt, ZRP 2010, 161 (162). Cohen-Jonathan, La fonction quasi constitutionnelle de la CEDH, in: FS Louis Favoreu, S. 1127 (1152). 276 So Christoffersen, in: ders./Madsen, The European Court of Human Rights between Law and Politics, S. 181 (191): „Rather than being highly dependent on the Court in the interpretation of the ECHR, the pluralism of the ECHR should be recognized and domestic authorities should be willing and able to depart from the Court’s case law (. . .).“ 277 Sinngemäß auch Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (54), Rn. 89: „[Der Gerichtshof übt] Rücksichtnahme gegenüber den nationalen Entscheidungen, indem er ihnen bei der Einschränkung der Konventionsrechte einen weiten Einschätzungsspielraum zugesteht (margin of appreciation). Mehr richterliche Zurückhaltung ist in der Konvention nicht nur nicht angelegt – die EMRK steht einer solchen Kompetenzausübungsschranke sogar entgegen.“ 278 So bereits Baumann, EuGRZ 2011, S. 1 (10). 275

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bedeutet die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR stets eine Stärkung des Schutzes des Einzelnen. Dagegen wirkt die Feststellung einer Konventionsverletzung in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis in einem Zivilprozess in beide Richtungen: für den obsiegenden Beschwerdeführer bedeutet sie eine Verbesserung, für den Gegner jedoch eine Verschlechterung seines Grundrechtschutzes.279 Die nationalen Richter können in einer familienrechtliche Entscheidung wie sie dem Fall Görgülü zugrunde lag, sämtliche Beteiligten, d.h. Eltern, Kind, Behörden etc. anhören und auf dieser Basis ihre Entscheidung treffen. Dem EGMR hingegen, der auf einen von den nationalen Richtern aufbereiteten Fall trifft, fehlt diese Sachnähe.280 Der EGMR nimmt die Forderung nach mehr Zurückhaltung im Bereich mehrpoliger Grundrechtsverhältnissen ernst. Das zeigt der Fall Lautsi u. a. ./. Italien.281 Die Beschwerdeführer sahen in der Anbringung von Kruzifixen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen einen Verstoß gegen die Verpflichtung des Staates, bei Ausübung seiner Aufgaben auf dem Gebiet des Unterrichts das Recht der Eltern zu achten und die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Im Gegensatz zu dem – einstimmigen – Urteil der Kammer,282 verneinte die Große Kammer eine Konventionsverletzung. Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, falle in den Beurteilungsspielraum des Staates. In der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen gäbe es unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Übereinstimmung. Der Gerichtshof habe im Prinzip die Entscheidung der Staaten auf diesem Gebiet zu respektieren, sofern diese zu keiner Form der Indoktrinierung führe. Das an der Wand angebrachte Kruzifix sei ein passives Symbol, das im Fall Lautsi nicht im Zusammenhang mit einem verpflichtenden christlichen Religionsunterricht stand. Der Gerichtshof sah daher die Grenzen des Beurteilungsspielraums gewahrt. d) Kein generelles Zurückhaltungsgebot Auch wenn regelmäßig Zurückhaltung bei der Überprüfung mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse angebracht sein wird, besteht kein zwingendes Bedürfnis, diese als eigenständige Fallgruppe in die Lehre vom Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten aufzunehmen. Die Reichweite des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten hängt nach Ansicht des EGMR von der Natur des geschützten Konventionsrechts und seiner Wichtigkeit für den Beschwerde-

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Grabenwarter, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), FS Tomuschat, S. 193 (201 f.). Bryde, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS Jaeger, S. 65 (67). EGMR (GK), Urteil v. 18.3.2011 – Lautsi u. a. ./. Italien, Nr. 30814/06. EGMR, Urteil v. 3.11.2009 – Lautsi ./. Italien, Nr. 30814/06.

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führer,283 von der Bedeutung des Eingriffsziels,284 und dem Vorhandensein eines Konsensus unter den Mitgliedstaaten285 ab. Die vorhandenen Fallgruppen sind grundsätzlich ausreichend. Denn auch wenn mehrpolige Grundrechtsverhältnisse häufig besonderer Sensibilität bedürfen, ist eine Zurückhaltung des EGMR nicht immer angebracht. Im Fall Görgülü286 wurde der EGMR dafür kritisiert, dass er angeordnet hat, dem Beschwerdeführer mindestens den Umgang mit seinem Kind zu ermöglichen, statt sich auf die Feststellung der Konventionsverletzung zu beschränken.287 Zuzustimmen ist, dass es in Kindschaftssachen häufig um schwierige Entscheidungen geht und die Staaten aufgrund ihrer größeren Sachnähe einen großen Beurteilungsspielraum haben. Dennoch kann ein Einschreiten des EGMR geboten sein, denn Entscheidungen in diesem Bereich sind meist irreversibel. Kinder, die von ihrem Elternteil entfernt werden, können auch bei späterer Wiederaufnahme der Beziehung die verlorene Zeit nicht mehr zurückgewinnen. Es besteht deshalb ein erhöhtes Schutzbedürfnis. Auch der Fall Caroline von Hannover,288 den das BVerfG im Zusammenhang mit mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ausdrücklich benennt,289 ist kein Bagatellfall, der allein in den Verantwortungsbereich der nationalen Gerichte fällt. Die Frage, ob und inwieweit eine öffentliche Person trotz der hohen Bedeutung der Pressefreiheit ein Recht auf Privatsphäre hat, ist ein wesentlicher Aspekt der Grundrechtskonkurrenz.290 Die Regelungen in den Konventionsstaaten hierzu sind sehr unterschiedlich. Das französische Recht schützt in Art. 9 Code civil das Recht auf Achtung des Privatlebens. Während der deutsche Ansatz einen abgeschirmten Bereich fordert, greift das Recht auf Privatsphäre einer öffentlichen Person nach der herrschenden Ansicht in der französischen Literatur und Recht283 EGMR, Urteil v. 29.9.1996 – Buckley ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20348/92, Ziff. 74. 284 EGMR (Plenum), Urteil v. 22.10.1981 – Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, Ziff. 52. Der EGMR verweist auf den Umstand, dass der Beurteilungsspielraum der Staaten größer ist, wenn es um den Schutz moralischer Werte gehe, die in zeitlicher Hinsicht dem Wandel unterliegen und auch in räumlicher Hinsicht unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. 285 EGMR, Urteil v. 30.3.2004 – Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Nr. 74025/ 01, Ziff. 40. 286 EGMR, Urteil v. 26.2.2004 – Görgülü ./. Deutschland, Nr. 74969/01, EuGRZ 2004, S. 700. 287 Bryde, in: Hohmann-Dennhardt u. a. (Hrsg.), FS Jaeger, S. 65 (67). 288 EGMR, Urteil v. 24.6.2004 – Caroline von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/ 00, NJW 2004, S. 2647 ff. 289 Wie Kadelbach, Jura 2005, S. 480 (485) feststellt: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die gesamte Konstruktion rund um den Görgülü-Fall als Reaktion auf den an das BVerfG gerichteten (. . .) Vorwurf des EGMR zu verstehen ist, im Caroline-Fall die Menschenrechte verletzt zu haben.“ 290 Wildhaber, EuGRZ 2005, S. 743 (743).

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sprechung auch an öffentlichen Orten. Ist das Foto der Person klar dem privaten Bereich zuzuordnen, greift ein Abbildungsverbot ungeachtet der Frage, wo die Aufnahme gemacht wurde.291 Ganz im Gegensatz dazu steht das englische Recht, das weder ein eigenständiges Recht auf Schutz der Privatsphäre noch ein Recht am eigenen Bild kennt. Vielmehr verpflichtet Abschnitt 12 Abs. 4 HRA die englischen Gerichte, die Meinungsäußerungsfreiheit zu achten. Zwar ist auch im englischen Recht anerkannt, dass der Betroffene vor einer Veröffentlichung von vertraulichen Informationen und Bildern aus dem Privatleben geschützt werden muss. Soweit es sich aber um öffentlich zugängliche Informationen handelt und die betroffene Person im öffentlichen Bereich abgelichtet wurde, hat sie keinen Anspruch auf Schutz.292 Während der EGMR in seiner Rechtsprechung das Fehlen eines europäischen Konsensus in der Regel zum Anlass nimmt, den Konventionsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum einzuräumen,293 wird der Beurteilungsspielraum hier bewusst eingeschränkt, um eine richtungweisende Entscheidung zu treffen und den Standard des Persönlichkeitsschutzes in Europa zu erhöhen. Die Notwendigkeit einer Trendwende betonte Richter Zupancˇicˇ: „Außerdem scheint mir, dass die Gerichte in bestimmtem Maße und unter amerikanischem Einfluss aus der Pressefreiheit einen Fetisch gemacht haben. Die Doktrin des Persönlichkeitsrechts gibt den zwischenmenschlichen Beziehungen stärkeres Gewicht. Es ist an der Zeit, dass das Pendel zurückschlägt zu einer anderen Art Ausgleich zwischen dem, was privat und geschützt, und dem, was öffentlich und ungeschützt ist.“ 294

Eine Gefährdung für die Medienfreiheit geht mit der Stärkung des Persönlichkeitsschutzes nicht einher. Die Entscheidung des EGMR stärkt die Rolle der Presse als watchdog,295 schließt aber Beiträge über das Privatleben öffentlicher Personen nicht aus. Der Richter Cabral Barreto erklärt in seinem Sondervotum, dass man Caroline von Monaco durchaus als öffentliche Person qualifizieren kann.296 Solange eine Person keine öffentlichen Ämter ausübt und bei Alltags291 Zum Bildnisschutz in Frankreich Bartnik, AfP 2004, S. 489 (490 f.); Grabenwarter, AfP 35 (2004), S. 309 (314). 292 Grabenwarter, AfP 35 (2004),S. 309 (314). 293 EGMR, Urteil v. 30.3.2004 – Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Nr. 74025/ 01, Ziff. 40. 294 Sondervotum Richter Zupanc ˇicˇ, EGMR, Urteil v. 24.6.2004 – Caroline von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/00, NJW 2004, S. 2647 (2652). 295 EMGR, Urteil Caroline von Hannover, a. a. O., Ziff. 63. 296 Sondervotum Richter Cabral Barreto zum Caroline-Urteil mit Verweis auf Nr. 7 der Entschließung 1165 (1998) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Recht auf Achtung des Privatlebens und Ziff. 42 des Urteils: „Die Bf. ist eine Person des öffentlichen Lebens . . . Personen des öffentlichen Lebens sind Personen, die öffentliche Funktionen wahrnehmen oder über öffentliche Mittel verfügen, und allgemein die, die eine Rolle im öffentlichen Leben spielen, sei es in der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, im Sozialbereich, im Sport oder sonst wo.“

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handlungen aufgenommen wird, ist dem Schutz des Persönlichkeitsrechts bei der Interessenabwägung in Zukunft aber stärkeres Gewicht beizumessen und die Pressefreiheit nicht einseitig zu betonen. Bedenkt man einerseits, dass das Konventionssystem nicht nur auf die Einhaltung eines Mindestschutzes, sondern laut Präambel auch auf die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgerichtet ist und andererseits die Ausmaße, die die Sensationspresse angenommen hat – erinnert sei an die tödliche Paparazzi-Jagd auf Lady Diana oder an den Abhörskandal im Fall Murdoch – so ist diese Neuorientierung zu begrüßen. 4. Dynamik des Konventionsrechts Gegen eine strikte erga omnes-Bindung der Vertragsstaaten an die Urteile des EGMR spricht, dass die Abweichung von der Auslegung des EGMR durch die nationalen Gerichte der Fortentwicklung des Konventionsrechts dienen kann. Die EMRK ist ein lebendiges Dokument, und der EGMR kann aufgrund gewandelter Lebensanschauungen zu einer Änderung seines Auslegungsergebnisses gelangen. Der Straßburger Gerichtshof setzt sich aus Richtern mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund zusammen, die über eine Vielzahl von Fällen in 47 Ländern zu entscheiden haben. Die Fälle weisen regelmäßig spezifische Bezüge zum innerstaatlichen Recht auf. Obwohl der EGMR die Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten in seinen Urteilen berücksichtigt, sind ihm bei der Betrachtung von 47 unterschiedlichen Rechtstraditionen naturgemäß Grenzen gesetzt. Er ist deshalb auf die Mitwirkung der Staaten angewiesen, die durch ihre Erfahrung und Kenntnissen wichtige Impulse für die Auslegung der Konvention geben. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsgedankens können und müssen die nationalen Gerichte Verantwortung für den Schutz und die Fortentwicklung der in der EMRK gewährten Rechte übernehmen. Das Piloturteilsverfahren stärkt den Subsidiaritätsgrundsatz und die objektive Kontrollfunktion des EGMR.297 Hierbei nimmt der Dialog zwischen dem europäischen und dem nationalen Richter eine wichtige Rolle ein. So setzt sich der EGMR in seinen Piloturteilen mit der Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichte auseinander und stärkt ihre Schlagkraft auf der innerstaatlichen Ebene.298 Die Länderanalyse hat gezeigt, dass in Einzelfällen das begründete Abweichen von einer Rechtsprechung des EGMR durch nationale Gerichte zu einer Anpassung der Rechtsprechung des EGMR geführt hat.299 297

Siehe die Ausführungen unter Teil 4 A. II. Eine Auseinandersetzung mit und Bezugnahme auf die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte erfolgt beispielsweise in den Urteilen Broniowski ./. Polen (EGMR, Urteil v. 22.6.2004, Nr. 31443/96, Ziff. 79 ff., 131 ff. u. a.), Hutten-Czapska ./. Polen (EGMR, Urteil v. 19.6.2006, Nr. 35014/97, Ziff. 80 ff., 133 ff., 142 ff., 173, 184 u. a.); Burdov ./. Russland (EGMR, Urteil v. 15.1.2009, Nr. 33509/04, Ziff. 31 ff.); EGMR, Gerasimov u. a. ./. Russland, Urteil v. 1.7.2014, Nr 29920/05 u. a., Ziff. 95 ff.); M.C. u. a. ./. Italien (EGMR, Urteil v. 3.9.2013, Nr. 5376/11, Ziff. 23 ff.). 298

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Problematisch ist, dass das Konventionsrecht – anders als das Recht der Europäischen Union – aber kein Vorabentscheidungsverfahren oder ein vergleichbares Instrument zur verfahrensrechtlichen Sicherung des Dialogs der Richter beinhaltet. 5. Fazit Der Schutz der Grundrechte und der Verfassungsidentität, der Gedanke der ultra-vires-Kontrolle und der Verweis auf mehrpolige Grundrechtsverhältnisse können ein Abweichen von der Rechtsprechung des EGMR nicht rechtfertigen. Der Schutz der Verfassung als Herzstück eines jeden souveränen Staates ist zentrale Aufgabe der nationalen Gerichte. Ähnlich wie im Recht der europäischen Union haben sich mehrere Staaten eine Reservekompetenz zugesichert. Der Rechtfertigungsdruck für eine solche Reservekompetenz ist im Konventionsrecht aber größer, da es anders als das Recht der Europäischen Union nicht auf Einheitlichkeit, sondern auf die Wahrung eines Mindestgrundrechtsschutzes gerichtet ist. Die Konventionsstaaten können über den Konventionsschutz hinausgehen, wenn eine innerstaatliche Norm einen weiterreichenden Schutz gewährt. Bleibt der nationale Schutz hinter dem Konventionsschutz zurück und kann die Norm nicht konventionrechtskonform ausgelegt werden, müssen die Staaten ihr Recht anpassen; dies schließt auch eine Änderung der Verfassung ein. Der Fall, dass eine solche Änderung nicht möglich ist, weil ein tragender Verfassungsgrundsatz in seinem Wesenskern angegriffen wird, ist angesichts der gemeinsamen europäischen Verfassungstradition eher theoretischer Natur. Realistischer ist der Rückgriff auf die Reservekompetenz durch ein nationales Gericht innerhalb einer Transformationszeit bis die Änderung der fraglichen Verfassungsnorm erfolgt ist oder ein für eine solche Änderung notwendiges positives Referendum eingeholt wurde. Mit dem Gedanken einer Integrationsgemeinschaft unvereinbar ist, dass ein einzelner Staat für sich einen ultra vires-Akt feststellen und die Rechtsbefolgung im Einzelfall verweigern darf. Eine solche Befugnis sollte einer unabhängigen Instanz zustehen. Eine ultra vires-Kontrolle durch nationale Verfassungsgerichte kommt allenfalls solange in Betracht, wie eine solche Instanz noch nicht geschaffen wurde. Schon im Ansatz nicht überzeugend ist der Verweis auf mehrpolige Grundrechtsverhältnisse. Der prozessuale Einwand der zweiseitigen Ausgestaltung des Individualbeschwerdeverfahrens kann keine Begrenzung einer Bindungswirkung begründen. Für die Notwendigkeit einer Möglichkeit zur Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR sprechen gegenwärtig aber die Dynamik des Konventions299 Vgl. etwa EGMR (GK), Urteil v. 15.12.2011 – Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26766/05 u. a. und die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. a) cc).

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schutzes und das Fehlen eines Verfahrensmechanismus zur Sicherung des Dialogs der Richter. Damit sprechen im Wesentlichen verfahrensrechtliche, nicht materielle Einwände gegen die Einführung eines formellen erga-omnes-Effekts der Urteile des EGMR. Es gilt einen Weg zu finden, die Dynamik des Konventionsrechts durch Einbindung der nationalen Gerichte in die Fortentwicklung des Rechts sicherzustellen und gleichzeitig die Autorität des Gerichtshofs durch eine Bindungswirkung seiner Urteile zu stärken.

III. Idee der Sicherung der Dynamik des Konventionsrechts durch die Kombination eines erga omnes-Effekts mit einem Vorabentscheidungsverfahren Im Recht der Europäischen Union wird die Dynamik des Rechts durch das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV300 gewährleistet. Das Vorabentscheidungsverfahren wahrt die Einheitlichkeit des Rechts. Im innerstaatlichen Recht wird die Rechtseinheit dadurch gewahrt, dass übergeordnete Gerichte gegenüber den im Instanzenzug untergeordneten Gerichten eine verbindliche Entscheidung treffen. Da die Union kein staatenähnliches Gebilde ist, sondern ein Verbund souveräner Staaten,301 war es nicht möglich, den EuGH über die nationalen Gerichte zu setzen und zu einer Art europäische Revisionsinstanz zu machen. Stattdessen schuf das Vorabentscheidungsverfahren eine enge Kooperationsmöglichkeit zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten.302 Bestehen Zweifel hinsichtlich einer Frage des Unionsrechts, die für einen anhängigen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, ist das nationale Gericht befugt, dem EuGH diese vorzulegen und seine Entscheidung abzuwarten. Das Vorabentscheidungsverfahren dient auch dem Schutz des Einzelnen. Im Unionsrecht kann der Einzelne im Wege der Nichtigkeitsklage nur gegen eine an ihn gerichtete Entscheidung vorgehen oder gegen eine Entscheidung, die ihn unmittelbar und individuell betrifft. Dagegen ist ihm das Vorgehen gegen einen generell-abstrakte Rechtsakt der Unionsorgane (Verordnungen und Richtlinien) untersagt.303 Das Vorabentscheidungsverfahren schließt damit eine Lücke im

300

Ex-Art. 234 EG-Vertrag. So die Charakterisierung des BVerfG, BVerfGE 89, 155, 188 – Maastricht und BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, S. 2267 – Lissabon. 302 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren, S. 46 f. 303 Nach der sog. Plaumann-Formel des EuGH kann eine natürliche oder juristische Person einen Rechtsakt der Unionsorgane mit allgemeiner Wirkung nur ausnahmsweise bei individueller Betroffenheit anfechten, das heißt wenn die Maßnahme den Kläger wegen besonderer, ihn aus dem Kreis der Allgemeinheit heraushebender Umstände berührt – EuGH, Urteil v. 15.7.1963 – Plaumann & Co. ./. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Rs. 25–62. 301

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Rechtsschutzsystem der Union.304 Die großen Leitentscheidungen des EuGH sind in diesem Verfahren ergangen.305 Da das Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Union den Mitgliedstaaten das Unionsrecht nicht aufzwingt, sondern sie an der Rechtsfindung durch einen Dialog zwischen dem internationalen und dem nationalen Richter beteiligt, bietet sich der Ansatz auch für das Konventionssystem an. 1. Vereinbarkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens mit den Grundgedanken der EMRK Die Idee der Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach dem Modell der Europäischen Union in das Konventionssystem ist nicht neu. Bereits in den frühen 1960er Jahren wurde diskutiert, ob dem EGMR eine Befugnis zum Erlass von Vorabentscheidungen eingeräumt werden soll. Die Mehrheit der Staaten lehnte dies jedoch ab. Zum Schutz der nationalen Souveränität sollte die Kommission mit ihren Methoden des diplomatischen Interessenausgleichs die zentrale Rolle im Konventionssystem behalten und nicht der unabhängige Gerichtshof.306 In dem Zweiten Protokoll zur EMRK von 1963 wurde eine Befugnis des EGMR zum Erlass von Gutachten (advisory opinions) unter engen Voraussetzungen eingeführt; in der Praxis blieb sie weitgehend bedeutungslos.307 Im Jahr 1972 regte die Parlamentarische Versammlung an, eine Möglichkeit zur Vorlage einer Auslegungsfrage durch die nationalen Gerichte an den EGMR in das Konventionssystem einzuführen.308 Der Gerichtshof befürwortete in einer Stellungnahme ein solches Verfahren:

304 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren, S. 48 f. Allerdings hat der Einzelne keinen Anspruch auf Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens. 305 Z. B. Die Entscheidungen Costa ./. ENEL (EuGH, Urteil v. 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251) und Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung (EuGH, Urteil v. 5.2.1963, 26/62 – Slg. 1963, 1) bzgl. des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts; die Entscheidung Stauder ./. Stadt Ulm (EuGH, Urteil v. 12.11.1969, 29/69, Slg. 1969, 419) bzgl. der Geltung der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft; die Entscheidung Gebhard ./. Consiglio dell’ ordine degli avvocati e procuratori di Milano (EuGH Urteil v. 30.11.1995, Slg. 1995, I-4165) bzgl. der Dogamtik der Grundfreiheiten; die Entscheidungen Francovich u. a. ./. Italien (EuGH, Urteil v. 19.11.1991, C-6/90, Slg. 1991, I-5357) und Köbler ./. Republik Österreich (EuGH, Urteil v. 30.9.2003, Slg. 2003, I-10239) bzgl. der Staatshaftung; die Entscheidung Grzelczyk ./. Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve (EuGH, Urteil v. 20.9.2001, Slg. 2001, I-6193) bzgl. der Unionsbürgerschaft. 306 Schermers, in: Bos (Hrsg.), Realism in law-making 1986, S. 191 (191). 307 Schermers, in: Bos (Hrsg.), Realism in law-making 1986, S. 191 (191). 308 Parlamentarische Versammlung, Recommendation 683 (1972), Action to be taken on the conclusions of the Parliamentary Conference on Human Rights, angenommen anlässlich der 15. Sitzung am 23.10.1972, Abschnitt C 4, abrufbar unter (Documents/Adopted Texts/Recommendations), Stand: 30.9.2015.

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„In the Court’s view, such an innovation would have indisputable advantages: it would ensure unity in the interpretation of the Convention and make it possible to prevent – or correct in good time – the greater part of the violations instead of having to establish them after the event; the Convention, familiar to lawyers for the future, would be accepted by them as an important feature of the positive law in force; the Court itself, which would have frequent opportunities for interpreting and applying the Convention, would become fully integrated into the judicial system of the Contracting States“.309

Die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens würde die verfassungsrechtliche Rolle des EGMR stärken ohne den Individualschutz zu gefährden. Dies zeigt das Beispiel Deutschland, das neben der Verfassungsbeschwerde eine dem Vorabentscheidungsverfahren entsprechende konkrete Normenkontrolle kennt.310 Gegen die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in das Konventionssystem wird eingewandt, dass innerhalb der Konventionsgemeinschaft das Bedürfnis nach einer einheitlichen Auslegung geringer sei als in der Europäischen Union, da die EMRK nur einen Mindestschutz gewährleiste.311 Da ein Großteil der Fälle vor dem EGMR Abwägungsentscheidungen betreffe, die der EGMR nicht ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles überprüfen könne, sei ein Vorabentscheidungsverfahren, das auf die Herausarbeitung abstrakter Auslegungsgrundsätze zielt, wenig geeignet.312 Gegen diese Bedenken spricht jedoch, dass auch im Konventionsrecht zentrale Auslegungsfragen entschieden werden müssen, wie zum Beispiel die Frage, ob Art. 6 EMRK ein Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht gewährleistet.313 Ferner kann es auch im Rahmen der Überprüfung von Abwägungsentscheidungen zur Herausarbeitung allgemeiner Prinzipien kommen, wie der Fall Caroline von Monaco gezeigt hat.314 Für die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens spricht, dass die verfassungsrechtliche Rolle des EGMR und der präventive Konventionsschutz ausgebaut würden.315 Außerdem würde der Umgang mit repetitiven Fällen erleich309 Bericht der Schweizer Delegation, vorgelegt der Europäischen Ministerkonferenz zum Schutz der Menschenrechte, Wien 10./20. März 1985, abgedruckt in HRLJ 6 (1985), S. 97 (113). 310 Ritleng, RUDH 14 (2002), S. 288 (294); Benoît-Rohmer, RUDH 14 (2002), S. 313 (316). 311 Schermes, in: Bos (Hrsg.), FS Riphagen, S. 191 (195); Ritleng, RUDH 14 (2002), S. 288 (294). 312 Ritleng, RUDH 14 (2002), S. 288 (293 f.). 313 EGMR (Plenum), Urteil v. 21.2.1975 – Golder ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70. 314 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3 D. II. 2. b) und Teil 4 B. II. 3. 315 Zur Notwendigkeit einer Stärkung der präventiven Dimension des Konventionsschutzes, siehe den Bericht der Schweizer Delegation, vorgelegt auf der Europäischen

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tert.316 Die einheitliche Auslegungsentscheidung könnte die Entscheidung beschleunigen, da der innerstaatliche Rechtsweg nicht zuvor erschöpft werden müsste, sondern die Frage unmittelbar durch ein nationales Gericht in einem anhängigen Rechtsstreit gestellt werden könnte.317 Der EGMR müsste auch nicht die Zulässigkeit der Beschwerde untersuchen, sondern könnte sich auf die Prüfung der Begründetheit konzentrieren.318 2. Diskussion um die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens anlässlich des 14. Protokolls zur EMRK Die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens wurde im Rahmen der Vorarbeiten des 14. Protokolls zur EMRK diskutiert, aber verworfen. Es wurde befürchtet, dass solche Neuerungen mit der Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rahmen der streitigen Gerichtsbarkeit kollidieren und – jedenfalls kurzzeitig – zu einer erhöhten Arbeitsbelastung des Gerichtshofs führen würden.319 Diese Bedenken sind nicht unbegründet wie die Entwicklung im Recht der Europäischen Union zeigt. Das Vorabentscheidungsverfahren ist dort das zahlenmäßig häufigste Verfahren.320 Die Zahl der Vorlagefragen ist in den Jahren 1990 bis 1998 um 85% angestiegen.321 Der EuGH sieht sich mithin einer erhöhten Arbeitslast ausgesetzt, die durch die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Vorabentscheidungsverfahrens innerhalb der ehemals dritten Säule durch den Vertrag von Lissabon noch verstärkt wird.322 Dennoch plädiert der Bericht der Wise Persons für die Einführung eines Gutachtenverfahrens (advisory opinions) in das Konventionssystem.323 Das Gutachtenverfahren beruht auf dem gleichen Gedanken wie das Vorabentscheidungsverfahren, denn es ist auf den Austausch zwischen der europäischen und der nationalen Gerichtsbarkeit und die Klärung von bedeutsamen Auslegungsfragen gerichtet. In dem Bericht der Wise Persons werden aber strenge Anforderungen Ministerkonferenz zum Schutz der Menschenrechte, Wien 10./20. März 1985, HRLJ 6 (1985), S. 97 (112). 316 Benoît-Rohmer, RUDH 14 (2002), S. 313 (316). 317 Schermes, in: Bos (Hrsg.), FS Riphagen, S. 191 (195). 318 Benoît-Rohmer, RUDH 14 (2002), S. 313 (315). 319 Schürmann, SchweizJbEurR 2003, S. 78; Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 14 (Teil 1 Fn. 178), Rn. 34. 320 Skouris, EuGRZ 2008, S. 343 (347). 321 Ritleng, RUDH 14 (2002), S. 288 (295). 322 Für die ehemals dritte Säule des EG-Vertrages (d.h. die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) war ein Vorabentscheidungsverfahren in exArt. 35 EU-Vertrag vorgesehen, das den Prüfungsrahmen des EGMR im Vorabentscheidungsverfahren einschränkte. Diese Limitierung wurde aufgegeben. Nach Inkrafttreten des Reformvertrages gilt auch hier die allgemeine Regelung des Art. 267 AEUV. 323 Zum Bericht der Wise Persons siehe die Ausführungen unter Teil 1 B. III. 5.

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an ein Gutachtenverfahren gestellt. Danach sollen erstens nur Verfassungsgerichte oder letztinstanzliche Gerichte eine Gutachtenanfrage stellen dürfen, zweitens sollen die angefragten Gutachten Grundsatzfragen oder Fragen des Allgemeininteresses im Zusammenhang mit der Auslegung der EMRK und ihren Protokollen betreffen und drittens soll der Gerichtshof ein Ermessen haben, die Antwort auf die Frage abzulehnen, etwa weil sich die Frage mit einer anhängigen Rechtssache überschneidet, und ohne die Ablehnung begründen zu müssen.324 Nach dem Vorschlag der Wise Persons sollen die Gutachten keine Bindungswirkung entfalten. Der EGMR steht dem Vorschlag kritisch gegenüber, da er aktuell um seine Kapazitäten fürchtet, erachtet den Ansatz aber auf lange Sicht für realisierbar.325 3. Keine unveränderte Übernahme des Verfahrens Um einer – zeitweiligen – Überlastung des EGMR entgegenzuwirken, dürfte das Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Union jedenfalls nicht unverändert auf das Konventionssystem übertragen werden.326 Im Recht der Europäischen Union werden keine hohen Voraussetzungen an die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens gestellt. Der EuGH überprüft grundsätzlich nicht die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für den vor dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit.327 Ferner werden keine besonderen Formvorschriften gestellt. Der EuGH verlangt allein, dass die Vorlagefrage abstrakt und allgemein gefasst ist, weil er nicht den konkreten Ausgangsfall zu entscheiden hat. Aller324 Abschlussbericht der Group of Wise Persons, CM(2006)203, v. 15.11.2006 (Teil 1 Fn. 219), Rn. 86. 325 Stellungnahme des EGMR zum Bericht der Wise Persons („Opinion of the Court on the Wise Person’s Report“), angenommen am 2.4.2007, Abschnitt II Nr. 4: „The objective pursued by this proposal – fostering dialogue with the highest national courts is certainly a valid one (. . .) As an advisory jurisdiction would obviously entail more work for the Court, it considers that this is a proposal to be reserved for future consideration, when the current problems of the system will have been resolved through the necessary reforms.“ Abrufbar unter , Stand: 30.9.2015. 326 So bereits der Bericht der Schweizer Delegation, vorgelegt der Europäischen Ministerkonferenz zum Schutz der Menschenrechte, Wien 10./20. März 1985, HRLJ 6 (1985), S. 97 (112): „It would be wrong to think that the preliminary rulings procedure which permits the well-known judicial dialogue between the Court of Justice of the European Communities and the national courts of the Community’s member States can be transposed lock, stock and barrel to the framework of the European Convention on Human Rights.“ 327 Der EuGH prüft die Entscheidungserheblichkeit nur ausnahmsweise, wenn zwischen der Vorlagefrage und dem anhängigen Rechtsstreit offensichtlich kein Zusammenhang besteht, das Ausgangsverfahren bereits abgeschlossen ist oder das Ausgangsverfahren fingiert wurde – st. Rechtsprechung des EuGH, siehe z. B. EuGH, Urteil v. 15.12.1995 – Union royale belge des sociétés de football association ASBL ./. JeanMarc Bosman, Rs. C 415-93.

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dings kann der EuGH eine ungenau formulierte Frage auslegen und entsprechend umformulieren.328 Doch auch im Recht der Europäischen Union wird über die Einführung strengerer Zulässigkeitsvoraussetzungen nachgedacht; diese Überlegungen können für die Herausbildung eines Modells für das Konventionssystem fruchtbar gemacht werden. Hierzu gehört der Vorschlag, die Vorlagemöglichkeit auf letztinstanzliche innerstaatliche Gerichte zu beschränken. Der Vorschlag wird kritisch gesehen, weil in der Praxis zahlreiche Leitentscheidungen des EuGH auf Vorlage von erstinstanzlichen Gerichten ergangen sind.329 Im Hinblick auf das Konventionssystem dagegen wäre diese Einschränkung angesichts der hohen Beschwerdezahlen eine unumgängliche Voraussetzung für die Einführung eines Vorlageverfahrens. Sie stünde mit dem subsidiären Charakter der Konvention im Einklang, da der Gerichtshof erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges angerufen werden kann, Art. 35 Abs. 1 EMRK. Im Unionsrecht wird ferner erwogen, die Vorlagefragen zu filtern und in Anlehnung an das Certiorari-Verfahren des Supreme Court der Vereinigten Staaten dem EuGH die Möglichkeit einzuräumen, sich nach freiem Ermessen die Fälle auszusuchen, über die er entscheiden möchte. Hiergegen wird der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens in der Europäischen Union angeführt, das auch und gerade der Gewährung individuellen Rechtsschutzes diene; es verstoße gegen den Grundgedanken des Verfahrens, wenn der EuGH die Fälle sich nach der Wichtigkeit der Vorlagefrage für das Unionsrecht auswählen dürfe.330 Im Konventionssystem greift dieser Einwand nicht durch, da der individuelle Rechtsschutz ausreichend durch das Individualbeschwerderecht des Einzelnen geschützt wird, welches grundsätzlich neben die Vorlagemöglichkeit durch das nationale Gericht tritt.331 Die Einführung eines Vorlageverfahrens mit der Möglichkeit eine Vorlage abzulehnen in Kombination mit dem grundsätzlich unbeschränkten Recht einer Individualbeschwerde wäre eine wesentlich mildere Maßnahme als die Einführung eines generellen Annahmeverfahrens für alle (Individual-)Beschwerden.332 Schließlich ist auch eine Übertragung des Vorschlags der Einführung eines „Green-Light-Verfahrens“ denkbar, wonach das vorlegende Gericht nicht bloß Frage, sondern auch einen Antwortvorschlag vorformuliert.333 328 EuGH, Urteil v. 15.7.1964 – Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1259, 1268. 329 Skouris, EuGRZ 2008, S. 343 (348). 330 Skouris, EuGRZ 2008, S. 343 (348). 331 Nur wenn eine Vorlagefrage bereits eindeutig entschieden würde, müsste eine Individualbeschwerde auch aus diesem Grund zurückgewiesen werden können. 332 Zu der Frage einer generellen Beschränkung auf Leitenscheidungen durch Einführung eines certiori-Verfahrens vergleichbar dem amerikanischen Recht siehe die Ausführungen unter Teil 4 A. I. 333 Skouris, EuGRZ 2008, S. 343 (348).

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Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Verfahrens besteht mithin ein Spielraum. 4. Berücksichtigung eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK Die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens muss schließlich im Kontext eines möglichen Beitritts der Europäischen Union zur EMRK betrachtet werden. Das von Golsong bereits 1979 vorgeschlagene Beitrittsprotokoll zur EMRK sah keine besondere Regelung bezüglich der beiden Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg vor. Dies würde bedeuten, dass der EGMR erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges angerufen werden kann, Art. 35 Abs. 1 EMRK. Dieses Verfahren ließe sich verkürzen, wenn dem EuGH die Möglichkeit der direkten Vorlage einer Auslegungsfrage an den EGMR eingeräumt würde. Nationale Gerichte könnten dann den bei ihnen anhängigen Rechtsstreit auf der Basis der Antworten von EGMR und EuGH entscheiden. Der Lenkungsausschuss hat sich in seinem Bericht über die rechtlichen und technischen Fragen eines möglichen Beitritts der Union zur EMRK vom 2. April 2002 mit den Vor- und Nachteilen eines solchen Verfahrens auseinandergesetzt.334 Wesentlicher Vorteil eines Vorabentscheidungsverfahrens zwischen EuGH und EGMR wäre, dass die Gefahr divergierender Entscheidungen vermieden wird.335 Gegen die Einführung spricht die drohende Verfahrensverlängerung. Stellt ein nationales Gericht eine Vorlagefrage an den EuGH, beansprucht die Beantwortung eine gewisse Zeit. Das Verfahren würde zusätzlich in die Länge gezogen, wenn der EuGH seinerseits eine Vorlagefrage an den EGMR stellen könnte, mithin die Konstellation von mehreren hintereinandergeschalteten Vorabentscheidungsverfahren möglich wäre. Eine Verfahrensbeschleunigung könnte zwar durch die Einführung von Zeitvorgaben für die Beantwortung der Vorlagefrage erreicht werden. Solche Zeitvorgaben könnten sich aber nachteilig auf die Bearbeitung der übrigen Fälle vor dem EGMR auswirken.336 Als wesentliches Argument gegen die Einführung eines solchen Verfahrens wird schließlich die Gefahr der Ungleichbehandlung zwischen dem EuGH und 334 Lenkungsausschuss für Menschenrechte, Arbeitsgruppe über die rechtlichen und technischen Fragen eines möglichen Beitritts der EG/EU („Working Group on the legal and technical issues of possible EC/EU accession to the European Convention on Human Rights“), Tätigkeitsbericht („Activity Report“) v. 2.4.2002, GT-DH-EU(2002)012. 335 Lenkungsausschuss für Menschenrechte, GT-DH-EU(2002)012, a. a. O., Rn. 76. 336 Lenkungsausschuss für Menschenrechte, GT-DH-EU(2002)012, a. a. O., Rn. 77 (ii), (iii).

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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den nationalen Höchstgerichten genannt, die über eine solche Vorlagemöglichkeit nicht verfügen.337 Eine solche Ungleichbehandlung wäre bedenklich, da die Europäische Union nach einem Beitritt – trotz der aufgrund ihrer Rechtsnatur bestehenden Besonderheiten – prinzipiell den gleichen Status hätte wie die übrigen Konventionsstaaten und Vertragspartner der EMRK. Ferner könnte ein Vorabentscheidungsverfahren eine formelle Hierarchie zwischen EuGH und EGMR einführen, die mit der Rolle des EuGH als oberstes Gericht in der Europäischen Union nur schwer vereinbar sei.338 Im Falle eines Beitritts würde der EGMR letztinstanzlich über die Frage entscheiden, ob der europäische Mindestschutz gewahrt ist. Der EuGH bliebe aber oberste Instanz in allen unionsrechtlichen Fragen. Zudem wäre der EuGH nicht gehindert, einen über die in der EMRK gewährleisteten Garantien hinausgehenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Die drohende Verlängerung des Verfahrens ist ein Nachteil, der vor allem in Fällen konsekutiver Vorabentscheidungsverfahren relevant wird. Die Verlängerung des Rechtsstreits, der dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegt, wird jedoch dadurch aufgewogen, dass für ähnlich gelagerte Fälle in der Zukunft eine klare Rechtsprechungslinie entwickelt werden kann. Dies entspricht dem Erfordernis der Stärkung der objektiven Funktion des Konventionsschutzes. Die Gefahr einer Ungleichbehandlung von EuGH und nationalen Höchstgerichten könnte dadurch begegnet werden, dass neben der Vorlagemöglichkeit des EuGH eine Vorlagemöglichkeit für nationale letztinstanzliche Gerichte an den EGMR eingeführt wird. Mit der Einführung eines Vorabentscheidungsmechanismus im Verhältnis der nationalen Gerichte zum EGMR würde die Dynamik des Konventionsrechts gesichert. Gleichzeitig würde das zentrale Argument entfallen, das bislang gegen die Einführung eines formalen erga omnes-Effekts der Auslegungsurteile des EGMR spricht. Mit einem solchen Verfahren würde ein Instrument geschaffen, mit dem die nationalen Gerichte sich unmittelbar an den EGMR wenden könnten und müssten, wenn sie von einer Auslegungsentscheidung des EGMR abweichen wollen. 5. Protokoll Nr. 16 zur EMRK Die Idee der Einführung eines Vorlagemechanismus zwischen nationalen Gerichten und EGMR hat bereits konkrete Gestalt angenommen. Die Konventionsstaaten haben auf dem Treffen in Brighton im April 2012 intensiv mit der Frage der Einführung eines Gutachtenverfahrens auseinandergesetzt. Im Jahr 2013 wurden zwei neue Zusatzprotokolle zur Unterzeichnung aufgelegt, die beide aber noch nicht in Kraft getreten sind. Das Protokoll Nr. 15 zur EMRK enthält wenige 337 338

Lenkungsausschuss für Menschenrechte, GT-DH-EU(2002)012, a. a. O., Rn. 77 (i). Lock, ELR 2010, S. 777 (794).

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

und weitgehend unumstrittene Verfahrensänderungen.339 Das Zusatzprotokoll Nr. 16 zur EMRK führt anknüpfend an den Bericht der Wise Persons ein Gutachterverfahren (advisory opinions) ein. Danach können Verfassungsgerichte bzw. letztinstanzliche Gerichte den EGMR anrufen, um ein Gutachten des Gerichtshofs hinsichtlich Fragen zur Auslegung der EMRK zu erhalten. Voraussetzung ist, dass ein Verfahren bei dem nationalen Gericht anhängig ist, in dem diese Frage relevant wird. Die Anfrage muss begründet werden und durch Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Hintergründe aufbereitet sein. Ein Gremium von fünf Richtern der Großen Kammer entscheidet sodann, ob es die Anfrage annimmt oder ablehnt. Die Ablehnung der Gutachtenanfrage muss begründet werden. Bei Annahme erfolgt das Gutachten durch die Große Kammer. Bei der Gutachtenerstellung soll ex officio der Richter des Vertragsstaates teilnehmen, dem auch das anfragende Gericht angehört. Der Menschenrechtskommissar und der Vertragsstaat des anfragenden Gerichts sollen schriftliche Stellungnahme abgeben und an jeder mündlichen Verhandlung teilnehmen können. Der Gerichtshof kann auch andere Staaten einladen, an dem Verfahren teilzunehmen. Die Gutachten des EGMR sollen aber keine bindende Wirkung haben. Ziel des Zusatzprotokolls Nr. 16 zur EMRK ist es, den Dialog zwischen den nationalen Richtern und dem EGMR zu stärken und die verfassungsrechtliche Dimension des Gerichtshofs auszubauen.340 Der Mehrwert der Einholung eines nicht bindenden Gutachtens durch den EGMR kann aber durchaus kritisch gesehen werden. So ist der EGMR ohnehin bereits einer hohen Arbeitslast ausgesetzt, und die Verfahren vor der Großen Kammer, bestehend aus 17 Richtern, sind komplexer Natur. Vorzugswürdig erscheint es, anstelle der Möglichkeit eines nichtbindenden Gutachtens die Möglichkeit einer bindenden Vorabentscheidung einzuführen. Hierdurch könnte – auf lange Sicht – sogar eine deutliche Entlastung des EGMR erzielt werden.341 6. Gutachten des EuGH zur Vereinbarkeit des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK Dass das Zusatzprotokoll Nr. 16 allein den Dialog der Richter zwischen den europäischen und den nationalen Gerichten nicht zufriedenstellend löst, zeigt 339 Das Protokoll Nr. 15 zur EMRK kodifiziert insbesondere den Subsidiaritätsgrundsatz und den Grundsatz des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten. 340 Erläuternder Bericht zu Zusatzprotokoll Nr. 16 zur EMRK. 341 So auch Harmsen, in: Morison/McEvoy/Anthony (Hrsg.), Judges, Transition and Human Rights, S. 33 (52 f.): „Undeniably, the opening of a new channel of access to Strasbourg raises workload considerations, at least over the short-to-medium term. Nevertheless, it is difficult to escape the conclusion that the introduction of such a direct link between the Court and its national interlocutors forms a necessary institutional complement, over the longer term, to the wider rebalancing of institutional roles suggested by the recent turn in the European Court’s jurisprudence.“

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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nicht zuletzt die Kritik des EuGH an dem Protokoll, die er im Rahmen seines Gutachtens vom 18. Dezember 2014 über die Vereinbarkeit des Entwurfs des Beitrittsabkommens mit dem Unionsrecht geäußert hat. Am 5. April 2013 wurde eine Einigung über die Entwürfe der Beitrittsinstrumente erzielt.342 Teil dieser Entwürfe ist der „Revidierte Entwurf einer Übereinkunft über den Beitritt der Europäischen Union zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (nachfolgend „Übereinkunftsentwurf“),343 der die für einen reibungslosen Beitritt als erforderlich erachteten Bestimmungen enthält. Hierzu gehören wesentliche Änderungen in dem Verfahren vor dem EGMR bei Fällen mit Bezug zur Europäischen Union. Nach der Einigung über den Entwurf ersuchte die Kommission den EuGH, ein Gutachten über die Vereinbarkeit des Übereinkunftsentwurfs mit dem Unionsrecht zu erstellen. In seinem Gutachten vom 18. Dezember 2014344 stellte der EuGH eine Unvereinbarkeit mit zentralen Punkten des Unionsrechts fest.345 Hierbei setzt sich der EuGH unter anderem kritisch mit dem Zusatzprotokoll Nr. 16 zur EMRK auseinander, obwohl dieses noch nicht in Kraft getreten ist. Die Kritik an dem Protokoll Nr. 16 steht im engen Zusammenhang mit der Kritik an dem Mitbeschwerdegegner-Verfahren als Herzstück des Übereinkunftsentwurfs. Dieses Verfahren trägt dem Umstand Rechnung, dass das Unionsrecht von der Union erlassen, aber von den Mitgliedstaaten umgesetzt wird.346 Für den Beschwerdeführer ist infolge der aufgeteilten Verantwortung nicht ohne weiters ersichtlich, wer richtiger Beschwerdegegner ist. Art. 3 des Übereinkunftsentwurfs sieht daher die Beteiligung der Europäischen Union in einem Verfahren gegen einen Mitgliedstaat vor, wenn es um die Vereinbarkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung mit der EMRK geht.347 Voraussetzung für die Beteiligung der Europäischen Union als Mitbeschwerdegegner vor dem EGMR ist, dass die Beschwerdeführer zuvor den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft haben. Nach Ansicht der Verfasser des Übereinkunftsent342 Finaler Bericht „Fifth negotiation meeting between the CDDH Ad Hoc Negotiation Group and the European Commission on the Accession of the European Unione to the European Covention on Human Rights“ v. 5.4.2013, 7+1(2013)008rev2. 343 „Draft Revised Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms“, Anlage 1 zum finalen Bericht vom 5.4.2013, a. a. O. 344 Gutachten 2/13 des EuGH (Plenum) v. 18.12.2014. 345 Hierzu Wendel, NJW 2015, S. 921. 346 Erläuternder Bericht zum Übereinkunftsentwurf, „Draft explanatory report to the Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms“, Anlage 5 zum finalen Bericht vom 5.4.2013, Rn. 38 ff. 347 Auch der umgekehrte Fall, das heißt eine Beteiligung von Mitgliedstaaten in einem Verfahren gegen die Europäische Union, soll möglich sein.

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4. Teil: Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems

wurfs zählt das Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Union aber nicht zu den Rechtsbehelfen, die vor Anrufung des EGMR erschöpft sein müssen. Ohne die vorherige Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH besteht allerdings die Gefahr, dass der EGMR über die Vereinbarkeit von einem Rechtsakt der Europäischen Union mit den Konventionsrechten entscheiden muss, ohne dass der EuGH vorher Gelegenheit hatte, über die Gültigkeit des Sekundärrechtsaktes oder über die Auslegung einer Bestimmung des Primärrechts zu entscheiden.348 Art. 3 Abs. 6 des Übereinkunftsentwurfs sieht daher für den Fall, dass die Europäische Union Mitbeschwerdegegner ist, ein sog. Vorbefassungsverfahren vor, welches dem Gerichtshof ermöglichen soll, die Vereinbarkeit des Unionsrechts mit der fraglichen Konventionsbestimmung zu prüfen. Der Entwurf des Erläuternden Berichts stellt klar, dass unter der Formulierung „Prüfung der Vereinbarkeit der Bestimmung“ die Entscheidung über die Gültigkeit einer Bestimmung des Sekundärrechts oder über die Auslegung einer Bestimmung des Primärrechts zu verstehen ist. In seinem Gutachten kritisiert der EuGH, dass nach den Entwürfen eine Beteiligung der Mitbeschwerdegegner nur aufgrund eines begründeten Antrags stattfindet und dass der EGMR im Rahmen der Plausibilitätskontrolle die Voraussetzungen für die Einbeziehung und damit mittelbar die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten prüft. Der EuGH sieht hierin die Gefahr eines Eingriffs in die Regelungen über die Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, da es der Union und ihren Mitgliedstaaten überlassen bleiben muss zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen des Mitbeschwerde-Mechanismus erfüllt sind.349 Auch das Vorbefassungsverfahren berücksichtigt nach Auffassung des EuGH die Interessen des Unionsrechts nicht hinreichend. So schließe die Vorbefassung nur eine Entscheidung über die Gültigkeit einer Sekundärrechtsnorm oder eine Entscheidung über die Auslegung einer Primärrechtsnorm ein. Damit sei die Möglichkeit der Vorbefassung über eine Frage der Auslegung des abgeleiteten Rechts ausgeschlossen. Durch diese Beschränkung sieht der EuGH den Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts verletzt.350 Ferner besteht nach Ansicht des EuGH die Gefahr, dass das Protokoll Nr. 16 die Autonomie und Wirksamkeit des europäischen Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV als „Schlüsselelement“ 351 des Gerichtssystems beeinträchtigt. So sei nach Ansicht des EuGH nicht ausgeschlossen, dass das Ersuchen um 348 Entwurf des Erläuternden Berichts zu dem Übereinkommensentwurf, a. a. O., Rn. 65. 349 Gutachten des EuGH v. 18.12.2014, a. a. O., Rn. 220. 350 Gutachten des EuGH v. 18.12.2014, a. a. O., Rn. 236 ff. 351 Gutachten des EuGH v. 18.12.2014, a. a. O., Rn. 176.

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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ein Gutachten nach Maßgabe des Protokolls Nr. 16 durch einen dem Protokoll beigetretenen EU-Mitgliedstaat zur Einleitung eines Vorbefassungsverfahrens und zu einer Umgehung des Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Union führe.352 In dem Übereinkunftsentwurf fehlt es an einer Regelung, die das Verhältnis des Vorabentscheidungsverfahrens zu Protokoll Nr. 16 klärt. 7. Stellungnahme und Lösungsansatz Das Problem des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK und die Kritik des EuGH an den Entwürfen der Beitrittsinstrumente können und sollen angesichts ihrer enormen Komplexität nicht abschließend im Rahmen dieser Untersuchung erörtert werden. Die ausgewählten Punkte zeigen jedoch, dass der Entwurf des Beitrittsabkommens den Besonderheiten des Unionsrechts in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht hinreichend Rechnung trägt. Ansatz für eine sachgerechte Ausgestaltung des Richterdialogs in Grundrechtsfragen könnte die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens im Verhältnis der nationalen Gerichte zum EGMR in Kombination mit einem Vorabentscheidungsverfahren im Verhältnis des EuGH zum EGMR sein. Die Vorabentscheidungsverfahren auf der Ebene EuGH und EGMR und auf der Ebene nationale Gerichte und EGMR würde das bereits existierende Verfahren auf der Ebene der nationalen Gerichte und EuGH komplementieren und den Dialog der Richter durch Verflechtung der Vorlageverfahren verfahrensrechtlich verfestigen. a) Vorlagemechanismus im Verhältnis EuGH – EGMR Im Verhältnis des EuGH zum EGMR fehlt es bislang an einem Vorlagemechanismus. Es erscheint aber zweckmäßig, dem EuGH die Möglichkeit einzuräumen, dem EGMR in einem anhängigen Fall eine ungeklärte Rechtsfrage vorzulegen, die die Vereinbarkeit einer unionsrechtlichen Regelung mit dem konventionsrechtlichen Mindestschutz betrifft. Dies gilt maßgeblich bei einem Konflikt zwischen Anwendungsvorrang und Günstigkeitsprinzip, wie er dem Fall Melloni zugrunde liegt. Es wurde bereits gezeigt, dass sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber einer weiterreichenden nationalen Norm in einer bestimmten Sachfrage grundsätzlich nur durchsetzen kann, wenn die unionsrechtliche Regelung mit den Mindestgewährleistungen der EMRK in der Auslegung des EGMR im Einklang steht. Bestehen mangels einer klaren Rechtsprechung des EGMR hieran Zweifel oder ist der EuGH der Ansicht, dass diese den Besonderheiten des Unionsrechts nicht hinreichend Rechnung trägt, sollte der EuGH die Möglichkeit haben, sich vor seiner Entscheidung an den EGMR zu wenden und eine Vorabentscheidung einzuholen. 352

Gutachten des EuGH v. 18.12.2014, a. a. O., Rn. 196–199.

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b) Vorlagemechanismus im Verhältnis nationale Gerichte – EGMR Im Verhältnis der nationalen Gerichte zum EGMR sieht das Zusatzprotokoll Nr. 16 zur EMRK erstmals eine Art Vorlagemechanismus vor. Das Protokoll ist aber noch nicht in Kraft getreten. Das vorgesehene Gutachtenverfahren ist zudem nicht hinreichend. Während die Beschränkung der Vorlagemöglichkeit auf Verfassungsgerichte und letztinstanzlichen Gerichte der Konventionsstaaten sachgerecht erscheint, entfalten die Gutachten des EGMR nach Maßgabe des Protokolls Nr. 16 keine Bindungswirkung. Größere Wirkungskraft hätte die Einführung eines Vorlagemechanismus, der dem EGMR die Möglichkeit einräumt, allgemeine Rechtsfragen mit verbindlicher Wirkung zu klären. Die Vorlagemöglichkeit könnte mit einer Vorlagepflicht kombiniert werden, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht bzw. das Verfassungsgericht beabsichtigt, von einer ständigen Rechtsprechung des EGMR abzuweichen. Ist der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet und fehlt es an einer klaren und gefestigten EuGH-Rechtsprechung zu der streitgegenständlichen Frage, müsste die Vorlage an den EGMR zudem davon abhängig gemacht werden, dass zuvor eine Entscheidung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens eingeholt wird. Die Verflechtung der Vorlageverfahren würde dem Anliegen des EuGH Rechnung tragen, eine Vorbefassung des EuGH in sämtlichen Auslegungsfragen zu sichern und eine Umgehung des Vorabentscheidungsverfahrens im Recht der Europäischen Union zu verhindern. c) Folge der Verflechtung der Vorlagemechanismen Die Verflechtung der Vorlagemechanismen würde den Führungsanspruch des EGMR in Grundrechtsfragen verfahrensrechtlich absichern. Dies würde nicht zu einer Unterordnung des EuGH oder der nationalen Verfassungsgerichte gegenüber dem EGMR führen. Der EGMR hätte im europäischen Grundrechtsschutz das letzte Wort, soweit es um die Wahrung des europäischen Mindestschutzes geht. Da die EU-Grundrechte und die Verfassungen der Mitgliedstaaten zum Teil weiterreichende Grund- und Menschenrechte enthalten als die EMRK, bliebe der Zuständigkeitsbereich des EGMR aber begrenzt. Im Übrigen würde der EuGH auch nach einem Beitritt letztinstanzlich über das Unionsrecht in allen Fällen entscheiden, in denen die Einhaltung des europäischen Mindestgrundrechtschutzes außer Frage steht. Der EuGH und die nationalen Gerichte unterstützen den EGMR bereits bei der Wahrung und Fortentwicklung des europäischen Menschenrechtsschutzes. Durch die Zurverfügungstellung geeigneter Verfahrensvorkehrungen könnte der Richterdialog aber besser kanalisiert werden. Das Element der Zusammenarbeit würde stärker nach außen treten und die Fortbildung des Rechts weniger konfrontativ erfolgen, da divergierender Urteile vermieden werden könnten. Da mit der Verflechtung der Vorabentscheidungsverfahren ein probates Mittel zur Sicherung des Dialogs der Richter und der Dynamik des Konventionsrechts

B. Diskussion um die Einführung eines erga omnes-Effekts

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zur Verfügung stünde, würde das bisherige Hauptargument gegen die Einführung eines erga omnes-Effekts der Urteile des EGMR entfallen. Es bestünde daher die Möglichkeit, flankierend eine formelle erga omnes-Wirkung für die aufgrund einer Vorlage durch ein letztinstanzliches Gericht ergangenen Auslegungsentscheidungen des EGMR vorzusehen.

IV. Fazit Die Befürworter eines schnellen Beitritts haben das Gutachten des EuGH vom 18. Dezember 2014 als herben Rückschlag empfunden.353 In der Tat stellt das Gutachten des EuGH den Beitrittsprozess vor neue Herausforderungen. Letztendlich stellt sich der EuGH aber nicht gegen den Beitritt, sondern drängt lediglich auf die hinreichende Berücksichtigung der Besonderheiten des Unionsrechts, denen auch und gerade im Bereich des Verfahrensrechts Rechnung zu tragen ist. Der Gedanke der Einführung und Verflechtung von Vorabentscheidungsverfahren im europäischen Mehrebenensystem ist ein Ansatz zur Lösung der prozessualen Schwierigkeiten, die mit dem Beitritt der europäischen Union zur EMRK verbunden sind. Der Ansatz wirft zweifellos eine Reihe technischer und rechtlicher Fragen auf, die weiterer Erörterung und Bewertung bedürfen. Die Untersuchung der Piloturteile hat aber gezeigt, dass der Sicherung des Dialogs der Richter eine zentrale Rolle zukommt. Denn das Bedürfnis nach einem verfahrensrechtlich abgesicherten Dialog ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Konventionsstaaten die Piloturteile so schnell akzeptiert haben. Mit dem Piloturteilsverfahren nimmt der EGMR in eindrucksvoller Weise seine Verantwortung im europäischen Grundrechtsschutz wahr. Dabei ist er bestrebt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen judicial self-restraint durch Achtung des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten und judicial activism durch Wahrung und Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes zu gewährleisten. Das Piloturteilsverfahren ist jedoch nur ein Mittel zur Aufrechterhaltung des effektiven Rechtsschutzes im Zusammenhang mit strukturellen Problemen, um die bestehenden Schwächen im Konventionssystem, insbesondere den fehlenden erga omnes-Effekt der Auslegungsentscheide, zu überwinden. Denn die Pflicht zur Bereitstellung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen zur langfristigen Sicherung des Grundrechtsschutzes im europäischen Mehrebenensystem tragen letztlich die Konventionsstaaten. Das Gutachten des EuGH verschafft eine Atempause, die genutzt werden muss, um die Entwürfe der Beitrittsübereinkommen zu überdenken und erforderliche Nachjustierungen vorzunehmen. Hierbei ist auch dem Dialog der Richter und der Bedeutung des EGMR im europäischen Grundrechtsschutz Rechnung zu tragen. 353 In seinem Vorwort zum Jahresbericht 2014 des EGMR wertet der amtierende Präsident des EGMR Dean Spielmann das negative Gutachten des EuGH als große Enttäuschung („. . . the CJEU’s unfavourable opinion is a great disappointment“).

Zusammenfassung Teil 1: Rechtspolitischer Hintergrund der Piloturteile 1. Nach Unterzeichnung der EMRK am 4. November 1950 waren die ersten vierzig Jahre ihres Bestehens auf den kontinuierlichen Ausbau des Schutzmechanismus gerichtet. Die Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens, die Erweiterung der geschützten Rechte durch Zusatzprotokolle, die dynamische Auslegung der Konventionsgarantien durch den EGMR und der Beitritt neuer Staaten, insbesondere die rasche Osterweiterung ab den 90er Jahren, haben das Konventionssystem vor neue Herausforderungen quantitativer und qualitativer Art gestellt. Während die alten Konventionsstaaten über einen gut funktionierenden nationalen Grundrechtsschutz verfügten und der EGMR sich auf die Feinabstimmung konzentrieren konnte, sah sich der EGMR zunehmend mit systemischen Wiederholungsfällen konfrontiert, die mit den schwierigen politisch-historischen Gegebenheiten in den neuen Beitrittsstaaten nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes zusammenhingen. Strukturell bedingte gesetzliche und administrative Fehllagen sind aber auch in den alten Konventionsstaaten nicht unbekannt, wie das weit verbreitete Problem der überlangen Verfahrensdauer zeigt. Die massenhaften Parallelverfahren haben maßgeblich zum Anwachsen eines Rückstaus an Beschwerden beigetragen. 2. Während das 11. Protokoll zur EMRK institutionelle Änderungen gebracht hat, hat das am 1. Juni 2010 in Kraft getretene 14. Protokoll zur EMRK wichtige Entlastungsmaßnahmen eingeführt. Hierzu zählen die Einführung eines Einzelrichters und die Möglichkeit der mit drei Richtern besetzten Ausschüsse im Rahmen der Vorprüfung der Beschwerden über die Begründetheit entscheiden zu dürfen, wenn die der Rechtssache zugrunde liegende Frage Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist. Obwohl der positive Effekt dieser Maßnahmen spürbar ist, sind die Maßnahmen nicht ausreichend, um den EGMR zu entlasten. Die Konferenz von Interlaken leitete 2010 eine Phase ein, in der es gilt Lösungen für eine langfristige Sicherung des Konventionsschutzes auszuarbeiten und umzusetzen. Teil 2: Die Entwicklung der Piloturteile als Reaktion auf repetitve Beschwerden 3. Die Konvention enthält keine besonderen Regelungen für den Umgang mit massenhaften Wiederholungsfällen. Nach Art. 41 EMRK kann der EGMR eine

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Konventionsverletzung im Einzelfall feststellen und dem Opfer eine gerechte Entschädigung zuzusprechen, wenn die innerstaatliche Wiedergutmachung nicht ausreichend ist. Die Rechtskraft der Urteile des Gerichtshofs ist auf die im Verfahren beteiligten Parteien (inter partes) begrenzt. Die Urteile des EGMR entfalten keine unmittelbare Feststellungswirkung im innerstaatlichen Recht der Konventionsstaaten. Die Konvention wurde zwar mittlerweile durch alle Konventionsstaaten in das innerstaatliche Recht inkorporiert und entfaltet damit unmittelbare Geltung. Eine unmittelbare Anwendbarkeit der Konvention durch die staatlichen Stellen, mit der Folge, dass eine mit ihr kollidierende nationale Norm unangewendet bleiben müsste, hat sich aber nicht durchsetzen können. Dies ist insbesondere auf die unterschiedlichen Regeln zu dem Rang der EMRK im innerstaatlichen Recht der Staaten zurückzuführen, die zwischen Verfassungsrang, einfachem Gesetzesrang und Untergesetzesrang variieren. Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Befolgungspflicht nach Art. 46 EMRK im Sinne einer obligation of result zu verstehen ist. Den Konventionsstaaten ist es freigestellt, auf welche Weise sie die übernommenen Verpflichtungen erfüllen. 4. Aus Rücksicht auf diesen Beurteilungsspielraum der Staaten zeigte sich der EGMR lange Zeit zurückhaltend, die aus einer festgestellten Konventionsverletzung resultierenden Verpflichtungen zu konkretisieren, geschweige denn die zur Beseitigung der Konventionsverletzung erforderlichen Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Stattdessen konzentrierte der Gerichtshof sich auf die Feststellung der Konventionsverletzung und sprach dem Opfer eine finanzielle Entschädigung zu, wenn er die Feststellung der Konventionsverletzung allein als nicht ausreichend erachtete. Um den Umgang mit Wiederholungsfällen zu vereinfachen, arbeitete der Gerichtshof zunächst mit Appellentscheidungen und Beweislastumkehrungen sowie einer Betonung des Subsidiaritätsprinzips, welches die Konventionsstaaten an ihre primäre Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte erinnert. In der weiteren Rechtsprechung gab der Gerichtshof auch vermehrt Hinweise, wie die Konventionsverletzung zu beseitigen ist und schränkte den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten zunehmend ein. In dem Urteil Asanidse ./. Georgien vom 8. April 2004 formulierte der Gerichtshof erstmals eine Anordnung im Urteilstenor, die die Freilassung des inhaftierten Beschwerdeführers betraf und absolut galt. In dem Fall bestand keine Alternative zur Freilassung, um die Konventionsverletzung abzuwenden. Der Beurteilungsspielraum des beklagten Staates war insoweit auf null reduziert. 5. Wenige Wochen später erließ der EGMR am 22. Juni 2004 sein erstes Piloturteil Broniowski ./. Polen. In diesem Fall ging es um die Entschädigung polnischer Repatriierter. Der EGMR stellte eine Eigentumsverletzung nach Art. 1 des 1. ZP-EMRK fest und betonte, dass das zugrundeliegende Problem struktureller Natur sei. Zu seiner Beseitigung seien geeignete gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen auf der innerstaatlichen Ebene erforderlich, um sicherzu-

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stellen, dass die Anspruchsteller ihr Eigentumsrecht durchsetzen können oder stattdessen eine entsprechende Entschädigung erhalten. Die Feststellung der strukturellen Natur des Problems und die Anordnung der zu ergreifenden generellen Abhilfemaßnahmen wurden in den Urteilstenor aufgenommen und die Entscheidung über die parallelen Beschwerden suspendiert. Bei dem Urteil Broniowski handelt es sich um ein sog. echtes Piloturteil, das sich in formeller Hinsicht durch die ausdrückliche Anwendung des Piloturteilsverfahrens, in materieller Hinsicht durch das Aufzeigen eines strukturellen Problems in der innerstaatlichen Rechtsordnung und die Anordnung der zu ergreifenden generellen Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor kennzeichnet. Die Anordnung der Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor ist das entscheidende Merkmal der Piloturteile, welches sie von den sog. quasi-Piloturteilen unterscheidet, in denen der EGMR die zu ergreifenden Maßnahmen lediglich in den Urteilsgründen erläutert. Durch die Aufnahme der Anordnung in den Urteilstenor verdeutlicht der EGMR, dass er die Anordnung als verbindlich erachtet. Der EGMR suspendiert in einem Piloturteil regelmäßig die Entscheidung über die parallelen Beschwerden und die Entscheidung über die gerechte Entschädigung. Hierdurch gewinnt der beklagte Staat Zeit, um eine gütliche Einigung mit dem Beschwerdeführer herbeizuführen und die erforderlichen Abhilfemaßnahmen zur Beseitigung des strukturellen Problems einzuleiten. 6. Obwohl das Piloturteilsverfahren wegen seiner Wirkung über den Einzelfall ein enormes Entlastungspotential in sich birgt, hat der Gerichtshof in den ersten fünf Jahren nach dem ersten Piloturteil nur ein weiteres echtes Piloturteil gegen Polen erlassen. Grund für diese Zurückhaltung des EGMR sind die rechtlichen Unsicherheiten, die mit dem Verfahren einhergehen. Es wurde die Befürchtung geäußert, der EGMR habe seine Kompetenzen überschritten und ultra-vires gehandelt. Seit Beginn des Jahres 2009 ist es aber zu einer deutlichen Inflation der Piloturteile gekommen. Sowohl die Große Kammer als auch die einfachen Kammern des Gerichtshofs haben Piloturteile gegen alte wie neue Konventionsstaaten erlassen. Thematisch wurde der Anwendungsbereich von den Fällen der Eigentumsverletzung, die den ersten Piloturteilen zugrunde lagen, auf weitere Konventionsbestimmungen ausgeweitet. Anhaltspunkte, dass eine bestimmte Kategorie von Konventionsverletzungen vom Anwendungsbereich des Verfahrens ausgeschlossen wird, gibt es nicht. Hinsichtlich der Art der strukturellen Mängel lassen sich zwei Formen unterscheiden: strukturell-spezifische Mängel, die eine abgeschlossene Personengruppe betreffen (wie z. B. die Repatriierten im Fall Broniowski) und strukturell-systemische Mängel, die einen offenen Kreis an Personen erfassen (wie z. B. im Fall des Nichtvollzugs gerichtlicher Entscheidungen). Im März 2010 wurde das Piloturteilsverfahren in Art. 61 der EGMR-VerfO kodifiziert.

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Teil 3: Die rechtsdogmatischen Grundlagen des Piloturteilsverfahrens 7. Die Kodifikation in der Verfahrensordnung ersetzt nicht die Frage nach der Kompetenzgrundlage in der EMRK für das Piloturteilsverfahren, denn die Konventionsstaaten können durch die vom Gerichtshof erlassene Verfahrensordnung nicht weiter gebunden werden als durch die EMRK. Die EMRK räumt dem EGMR keine ausdrückliche Befugnis ein, die für die Beseitigung einer Konventionsverletzung erforderlichen Maßnahmen mit verbindlicher Wirkung anzuordnen. Die Pflicht der Konventionsstaaten zur Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen und die Befugnis des EGMR zur Anordnung dieser Maßnahmen lässt sich aber im Wege der Auslegung aus Art. 41 EMRK und die Verbindlichkeit der Maßnahmen aus einer vertragserweiternden Auslegung des Art. 46 EMRK herleiten. Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung der Konvention 8. Dem Gerichtshof obliegt die Kompetenz zur Auslegung der Konvention, die er in dynamischer und effektivitätssichernder Weise wahrnimmt. Der Begriff der Auslegung umfasst auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung. Die im deutschen Recht gängige Unterscheidung zwischen einer an der Wortlautschranke orientierten Interpretation und einer Rechtsfortbildung zur Schließung planwidriger Gesetzeslücken ist dem europäischen Recht fremd. Aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem Auswahlcharakter der in der Konvention garantierten Rechte folgt aber, dass der Gerichtshof keine unbegrenzte Kompetenz zur Lückenschließung besitzt. Grenze der Auslegung bildet die Vertragsänderung, die den Konventionsstaaten als Herren der Verträge obliegt. Im Grenzbereich zwischen Auslegung und Vertragsänderung nimmt die Staatenpraxis eine besondere Rolle ein. Die Richter können durch judicial activism die Herausbildung neuer Rechte vorantreiben oder sich durch judicial self-restraint in Zurückhaltung üben. Kompetenz zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen 9. Die Kompetenz des EGMR zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen setzt voraus, dass die Konventionsstaaten zur Ergreifung solcher Maßnahmen verpflichtet sind und der EGMR diese anordnen darf. Ausgangspunkt für die Bestimmung des Umfangs der Verpflichtungen der Konventionsstaaten ist der Begriff der Wiedergutmachung (reparation) in Art. 41 EMRK und für die Anordnungsbefugnis des Gerichtshofs der Begriff der Entschädigung (satisfaction) in Art. 41 EMRK. 10. Entsprechend der Chorzów-Rechtsprechung des IGH erfasst die Pflicht zur Wiedergutmachung eines Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verhaltensnorm im allgemeinen Völkerrecht die Pflicht zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes durch Naturalrestitution (restitutio in integrum), durch Schadensersatz

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(compensation) und für immaterielle Schäden durch Genugtuung (satisfaction). Die Naturalrestitution hat Vorrang gegenüber den anderen Wiedergutmachungsformen. Die Chorzów-Definition beschreibt die völkerrechtliche Wiedergutmachungspflicht im engeren Sinne. Sie ist aber nicht abschließend, da die völkerrechtliche Wiedergutmachungspflicht im weiten Sinne von einer umfassenden Unrechtsbeseitigung ausgeht, die neben den vergangenheitsbezogenen Maßnahmen der Wiedergutmachung im engeren Sinne auch die zukunftsbezogenen Pflichten der Beendigung einer andauernden Konventionsverletzung sowie der Ergreifung von Maßnahmen zur Vermeidung einer Wiederholung des Unrechts erfasst. Dies ergibt sich aus dem engen Zusammenhang mit der Primärverpflichtung, denn die Pflicht zur Beendigung eines andauernden Völkerrechtsverstoßes und die Nichtwiederholung des begangenen Unrechts sind zwingende Folge der festgestellten Konventionsverletzung. 11. Die herrschende Auffassung geht im Fall einer Konventionsverletzung durch rechtskräftiges Urteil davon aus, dass die völkerrechtliche Wiedergutmachungspflicht durch den Vorbehalt in Art. 41 EMRK („soweit die innerstaatliche Rechtsordnung dies ermöglicht“) als Spezialregelung dahingehend abgeändert wurde, dass eine Berufung des beklagten Konventionsstaates auf die rechtliche Unmöglichkeit anzuerkennen und der Staat nicht verpflichtet ist, ein als konventionswidrig erkanntes Urteil aufzuheben, wenn das nationale Recht keine solche Wiederaufnahmemöglichkeit vorsieht. Diesem Ansatz kann nicht gefolgt werden. Das allgemeine Völkerrecht kennt keinen Einwand rechtlicher Unmöglichkeit. Auch die Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Befolgung der Urteile des EGMR nach Art. 46 EMRK steht nicht unter dem Vorbehalt der Möglichkeit, sondern gilt unbedingt. Modifiziert und gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht speziell geregelt wird nur die Anspruchsinhaberschaft, da der EGMR dem individuell Betroffenen unmittelbar eine Entschädigung zusprechen kann. Ferner wird eine Kassationsbefugnis des EGMR ausgeschlossen. Dagegen wird den Konventionsstaaten nicht die Möglichkeit eingeräumt, sich von der Pflicht zur umfassenden Wiedergutmachung freizukaufen. Art. 41 EMRK beseitigt nicht das Primat der Naturalrestitution, sondern sieht lediglich für den Fall der Nichterfüllung eine Abhilfemöglichkeit für das Opfer vor. 12. Beruht die Konventionsverletzung auf einem Gerichtsurteil ist die Wiederaufnahme des Verfahrens regelmäßig die angemessenste Form der Wiedergutmachung. Die bisherige Zurückhaltung des EGMR hinsichtlich der Anordnung der Wiederaufnahme eines Verfahrens beruht auf dem Beurteilungsspielraum der Staaten und der Tatsache, dass die Wiederaufnahme keine Universallösung ist. Das wird besonders in dem Fall eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer evident, da die Wiederaufnahme in dieser Situation ad absurdum führen würde. Umgekehrt gibt es Situationen, in denen die Wiederaufnahme die einzige Möglichkeit der Beendigung einer Konventionsver-

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letzung ist, etwa wenn sich eine Verletzung der Verfahrensrechte des inhaftierten Beschwerdeführers auf die Verurteilung oder die Höhe des Strafmaßes ausgewirkt hat. In diesem Fall kann die Frage der Schuld oder der angemessenen Strafe nur durch ein neues Verfahren geklärt werden. Gibt es aber Fälle, in denen die Konventionsverletzung nur durch die Wiederaufnahme des Verfahrens angemessen wiedergutgemacht werden kann, so muss von einer Verpflichtung der Staaten gemäß Art. 13 EMRK ausgegangen werden, in ihrer Rechtsordnung die Voraussetzungen hierfür zu schaffen und eine Wiederaufnahmemöglichkeit vorzusehen. 13. Beruht die Konventionsverletzung unmittelbar auf einer Rechtsnorm, ergibt sich die Pflicht zur Änderung der Norm aus der Pflicht zur Beendigung eines andauernden Konventionsverstoßes nach Art. 46 EMRK. Beruht die Konventionsverletzung mittelbar auf einer Gesetzesbestimmung, wird die Änderungspflicht teilweise über Art. 1 EMRK begründet. Für einen Rückgriff auf Art. 1 EMRK besteht jedoch kein Bedürfnis, denn die Pflicht zur Änderung lässt sich unmittelbar über Art. 46 EMRK und der Pflicht zur Ergreifung von Maßnahmen der Nichtwiederholung des Unrechts begründen. 14. Es besteht somit eine umfassende Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Ergreifung genereller Abhilfemaßnahmen. Es ist nur konsequent, dass der Gerichtshof solche Maßnahmen auch anordnen kann. Aus dem Wortlaut des Art. 41 EMRK ergeben sich keine Einschränkungen, da die Befugnis des EGMR, eine Entschädigung auszusprechen, nach der maßgeblichen englischen bzw. französischen Sprachfassung (satisfaction) im Völkerrecht auch als Oberbegriff für sämtliche Haftungsfolgen verwendet wird. Für eine Befugnis zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen sprechen der Vergleich mit anderen internationalen Entscheidungsinstanzen und der Gedanke der Effektivität des Menschenrechtsschutzes, da nur auf diese Weise dem Vorrang der Naturalrestitution Nachdruck verliehen werden kann. 15. Die Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen impliziert keinen unzulässigen Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees. Die Urteilsüberwachung durch das Ministerkomitee ist historisch bedingt. Das Ministerkomitee besitzt aber nicht das Monopol der Urteilsüberwachung, denn auch die Parlamentarische Versammlung und der Kommissar für Menschenrechte sind beteiligt. Das Ministerkomitee ist auf Unterstützung angewiesen und hat den Gerichtshof in seiner Entschließung Res(2004)3 aufgefordert, in seinen Urteilen das Vorliegen eines strukturellen Problems aufzuzeigen. Die Urteilsüberwachung ist keine rein politische, sondern auch eine rechtliche Aufgabe, denn die Beurteilung, ob eine wirksame Befolgung der Urteile des EGMR vorliegt, hängt in entscheidendem Maße von der Auslegung der Konventionsbestimmung durch den Gerichtshof und der Klarheit seiner Urteile ab. Ein Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees ist nicht ersichtlich, da der Gerichtshof nicht die Details der Überwachung regelt, sondern sich auf eine Gesamtbetrachtung und Vorgabe des Rahmenprogramms beschränkt.

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16. Die Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen bedeutet keinen unzulässigen Eingriff in den Beurteilungsspielraum der Staaten. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR sind die Konventionsstaaten frei, die Mittel zu wählen, mit denen sie sicherstellen, dass ihre Rechtssysteme den Konventionsvorgaben entsprechen. Die Piloturteile beseitigen nicht diesen Freiraum der Mitgliedstaaten, sondern sind als Präzisierung der obligation of result zu verstehen. Die Staaten werden auf diese Weise vor einem langwierigen trail and error-Verfahren bewahrt, denn der EGMR hat nach den Art. 37, 38, 39 EMRK die Angemessenheit der ergriffenen Maßnahmen im Nachhinein ohnehin zu prüfen. Der Beurteilungsspielraum spricht auch nicht gegen die Verbindlichkeit der Anordnungen. Die Gewährung eines Beurteilungsspielraums setzt das normale Funktionieren der innerstaatlichen Ordnung voraus, welches hinsichtlich des von dem strukturellen Mangel betroffenen Teilbereichs aber gerade in Frage steht. Der Beurteilungsspielraum der Staaten besteht bei strukturellen Mängeln daher nur in eingeschränkter Form. Der EGMR berücksichtigt in seinen Piloturteilen diesen – eingeschränkten – Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten, indem er nur im Zusammenhang mit spezifischen Mängeln, die eine abgeschlossene Personengruppe betreffen, konkrete Anordnungen zur Beseitigung des Mangels im Urteilstenor erteilt. Bei echten systemischen Mängeln, deren Lösung besonders komplex ist und die keinen abgeschlossenen Personenkreis betreffen, beschränkt sich der EGMR hingegen regelmäßig auf die Anordnung der Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs gemäß Art. 13 EMRK, mit dem der strukturelle Mangel innerstaatlich geltend gemacht werden kann. 17. Die Überprüfung der von dem Staat ergriffenen generellen Abhilfemaßnahmen konterkariert nicht das Verbot der abstrakten Normenkontrolle. Aus dem Erfordernis der individuellen Beschwer in Art. 34 EMRK und der Vermeidung von Popularklagen folgt, dass der Gerichtshof im Rahmen der Individualbeschwerde nicht befugt ist, nationale Gesetze abstrakt auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu überprüfen. Dies hindert den Gerichtshof nicht daran, im Rahmen einer Beschwerde eine inzidente Kontrolle von Gesetzen vorzunehmen, wenn ein hinreichender Bezug zum konkreten Fall vorliegt. Die getrennte Entscheidung über Hauptsache und Entschädigung im Zusammenhang mit Piloturteilen steht in Einklang mit Art. 41 EMRK, wonach der Gerichtshof zunächst das Maß der erfolgten Restitution zu würdigen hat, bevor er für den nicht behobenen Teil Schadensersatz zuspricht. Kompetenz zur Suspendierung der parallelen Beschwerden und der rückwirkenden Anordnung der Abhilfemaßnahmen 18. Die Kompetenz zur Suspendierung der parallelen Beschwerden folgt aus Art. 37 Abs. 1 li. c EMRK. Die Suspendierung birgt die Gefahr einer vorübergehenden Rechtsverweigerung, da die Betroffenen nicht auf der internationalen

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Ebene und bis zum Bereitstellen eines entsprechenden Rechtsbehelfs auch nicht auf nationaler Ebene Wiedergutmachung erfahren. Einer übermäßigen Belastung des Einzelnen wird dadurch entgegengewirkt, dass die Suspendierung der parallelen Beschwerden kein konstitutives Element des Piloturteilsverfahrens ist und der EGMR von ihr absehen kann. Darüber hinaus differenziert der EGMR zwischen bereits anhängig gemachten und neuen parallelen Beschwerden und verweist nur die Beschwerdeführer der neuen Beschwerden auf den innerstaatlichen Rechtsweg während die Beschwerdeführer der bereits beim EGMR anhängigen Beschwerden unmittelbar von dem Staat Wiedergutmachung verlangen können. Zusätzlichen Druck übt der EGMR durch Fristsetzungen aus. Der einzuführende Rechtsbehelf muss Rückwirkung für die bereits anhängigen Beschwerden entfalten. Die Notwendigkeit der Rückwirkung folgt aus dem Wesen einer jeden Auslegungsentscheidung, denn der Gerichtshof stellt lediglich die richtige Auslegung fest, die der fraglichen Norm seit ihrem In-Kraft-Treten innewohnt. Die Bindungswirkung der Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen in einem Piloturteil 19. Die Anordnung der generellen Abhilfemaßnahmen in einem echten Piloturteil ist verbindlich. Zwar entfalten die Urteile des EGMR nur Rechtskraft inter partes. Die Bindungswirkung im Sinne einer auf echte Piloturteile beschränkte erga omnes-Wirkung folgt jedoch aus einer vertragserweiternden Auslegung des Art. 46 EMRK unter Berücksichtigung der nachfolgenden Staatenpraxis. Eine generelle erga omnes-Wirkung wird hierdurch nicht eingeführt. 20. Das Konventionsrecht kennt keine erga omnes-Wirkung der Auslegungsentscheidungen des EGMR. Während die Rechtskraft das Ergebnis eines Verfahrens durch Verbindlichkeit des Richterspruchs für alle Verfahren sichert, die denselben Streitgegenstand betreffen, geht es bei der erga omnes-Wirkung um die Verbindlichkeit der verallgemeinerungswürdigen Auslegung, die der EGMR anhand eines konkreten Falles entwickelt hat. Eine Präjudizbindung im Sinne einer stare decisis-Doktrin besteht im angloamerikanischen Recht und bedeutet, dass die Urteile der Höchstgerichte Rechtsquellen und die in ihnen enthaltenen tragenden Entscheidungsgründe (ratio decidendi) rechtsverbindlich für die Untergerichte sind. Eine so weitreichende Bindungswirkung ist nicht mit dem Wortlaut des Art. 46 EMRK vereinbar, da dieser die Bindungswirkung auf die Parteien des Verfahrens beschränkt. Ansatzpunkt für eine rechtliche Bindungswirkung im Konventionsrecht ist vielmehr die Teilnahme der Auslegung durch den EGMR an der Verpflichtungskraft der ausgelegten Konventionsbestimmung. Obwohl auch die Vertreter einer faktischen Bindungswirkung die Bedeutung der Auslegungsentscheidung durch den EGMR betonen, kann die Frage der rechtlichen Bindungswirkung nicht dahinstehen, da sie maßgeblich ist für die Frage, ob und in-

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wieweit nationale Gerichte von der Entscheidung des Gerichtshofs abweichen dürfen. 21. Die Frage der Bindungswirkung ist abhängig von der Rechtsnatur der EMRK. Die EMRK ist mehr wie ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag, denn sie weist einen ordre public-Charakter auf. Dieser kennzeichnet sich durch einen zwingenden Kernbestand an Konventionsbestimmungen und durch das in der Präambel verankerte übergeordnete Integrationsziel der Fortentwicklung der Menschenrechte sowie durch die Begründung objektiver Verpflichtungen. Die EMRK weist damit einen gegenüber einfachen völkerrechtlichen Verträgen erhöhten Integrationsgrad auf. Auch das Recht der Europäischen Union kennzeichnet sich durch ein besonderes Maß an Integration. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens entfalten die Auslegungsurteile des EuGH mit Bezug auf die letztinstanzlichen Gerichte eine echte erga omnes-Wirkung. Der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts wird weit verstanden und erfasst nicht nur die Gerichte, die an der Spitze der Gerichtshierarchie stehen und deren Entscheidungen generell unanfechtbar sind, sondern auch unterinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen im konkreten Fall nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können. Letztinstanzliche Gerichte in diesem Sinne sind zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn eine Frage der Auslegung des Unionsrechts für ein anhängiges Verfahren entscheidungserheblich ist. Demgegenüber haben unterinstanzliche Gerichte die Möglichkeit der Vorlage, sie sind aber nicht zur Vorlage verpflichtet. In Hinblick auf die letztinstanzlichen Gerichte wird teilweise nur von einer faktischen Wirkung der Auslegungsentscheide ausgegangen. Nach dem EuGH nimmt hingegen die Auslegungsentscheidung an der Verbindlichkeit der Konventionsbestimmung teil. Im Unterschied zum Recht der Europäischen Union kennt das Konventionssystem kein Vorabentscheidungsverfahren. Die Situation ist daher eher mit den unterinstanztlichen Gerichten im Recht der Europäischen Union vergleichbar für die keine Vorlagepflicht existiert. Die Annahme einer bloß faktischen Wirkung der Auslegungsentscheide – wie sie in Hinblick auf die unterinstanzlichen Gerichte im Recht der europäischen Union teilweise angenommen wird – wird den Urteilen des EGMR nicht gerecht. Denn auch wenn die unterinstanzlichen Gerichte nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sind, haben sie zumindest die Möglichkeit der Vorlage, wenn sie von einer Rechtsprechung des EuGH abweichen wollen. Im Recht der Europäischen Union wirkt ferner die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte als Korrektiv zu einem eigenmächtigen Abweichen durch ein unterinstanzliches Gericht. Dieses Korrektiv fehlt auf der Konventionsebene. Eine rein faktische Wirkung der Auslegungsentscheide des EGMR kommt für das Konventionsrecht daher ebenso wenig in Betracht wie eine echte Bindungswirkung im Sinne der stare decisis-Lehre. Vielmehr entfalten die Urteile des

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EGMR echte Bindungswirkung über die Teilnahme der Auslegung des EGMR an der Verpflichtungskraft der ausgelegten Norm, wenn und soweit die Rechtsprechung des EGMR hinreichend gefestigt ist. 22. Eine Modifikation des Auslegungsergebnisses und die Annahme einer echten erga omnes-Wirkung vergleichbar dem angloamerikanischen Recht lassen sich auch nicht über eine nachträgliche Staatenpraxis begründen. Der Wortlaut des Art. 46 EMRK beschränkt die Befolgungspflicht auf die Parteien. Eine Bindungswirkung gegenüber Dritte wäre nur im Wege einer sich über den Wortlaut hinwegsetzenden, derogierenden Staatenpraxis möglich. Voraussetzung für eine Derogation durch Staatenpraxis ist eine nahezu einheitliche Staatenpraxis der Konventionsstaaten (consuetudo), die von der Überzeugung getragen wird, dass eine Bindung an die Auslegungsentscheidung über die Parteien des Verfahrens hinaus rechtlich geboten ist (opinio iuris sive necessitatis). Die Analyse der Staatenpraxis der nationalen Höchst- und Verfassungsgerichte einiger ausgewählter Länder konnte eine solche Überzeugung nicht nachweisen. Die Gerichte sprechen nur von einer Pflicht zur Berücksichtigung der Auslegung und behalten sich oft ausdrücklich die Möglichkeit der Abweichung vor. In den Vorarbeiten zum 14. Protokoll zur EMRK wurde die Einführung einer echten erga omnes-Wirkung der Urteile des EGMR diskutiert, aber von einer Untergruppe des Lenkungsausschusses abgelehnt. 23. In Hinblick auf echte Piloturteile hat aber eine vertragserweiternde Staatenpraxis stattgefunden, die zu einer Erweiterung des Parteibegriffs in Art. 46 EMRK geführt hat und die Gruppe der von dem strukturellen Mangel betroffenen Personen erfasst. Wie das Beispiel der Rechtsprechung des EGMR zu den vorläufigen Maßnahmen zeigt, setzt eine vertragserweiternde Staatenpraxis voraus, dass die EMRK einen Anknüpfungspunkt für die Rechtsfortbildung enthält, dass kein entgegengesetzter Wille der Konventionsstaaten erkennbar ist und dass die vertragserweiternde Auslegung der ganz überwiegenden Praxis der Konventionsstaaten entspricht. Anknüpfungspunkt ist hier Art. 46 EMRK, der die Parteien verpflichtet, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Für die Ausdehnung des Parteibegriffs auf sämtliche von dem strukturellen Mangel betroffene Individuen sprechen der enge Zusammenhang und die Abgeschlossenheit der Gruppe bei Vorliegen von spezifischen Mängeln. Liegt ein echter systemischer Mangel vor, wie z. B. im Fall überlanger Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK), der keine abgeschlossene Personengruppe betrifft, fehlt die für eine Zusammenfassung unter dem Parteibegriff erforderliche enge Verbindung zwischen den Betroffenen. Anders als bei spezifischen Mängeln verzichtet der Gerichtshof im Zusammenhang mit systemischen Mängeln aber auf die Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen im Hinblick auf den eigentlichen strukturellen Mangel (z. B. Art. 6

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Abs. 1 EMRK) und beschränkt die Anordnung auf die Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs (Art. 13 EMRK). Da die Pflicht zur Schaffung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs nach Art. 13 EMRK nicht nur ein Individualrecht, sondern auch eine objektive Pflicht des Staates enthält, folgt die Verbindlichkeit dieser Anordnung unmittelbar aus Art. 46 EMRK, so dass es des Rückgriffs auf die vertragserweiternde Auslegung nicht bedarf. Die vertragserweiternde Auslegung widerspricht schließlich nicht dem Willen der Vertragsparteien. Anlässlich des 14. Protokolls zur EMRK haben sich die Vertreter der Staaten nicht gegen das Piloturteilsverfahren ausgesprochen, sondern eine Normierung nur deshalb unterlassen, weil sie der Meinung waren, dass die Konvention bereits eine ausreichende Grundlage bietet. Durch den Erlass des ersten echten Piloturteils ist der EGMR im Hinblick auf die Aufnahme der Anordnung von Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor mit einer neuen Auslegung des Art. 46 EMRK vorausgeschritten, die die Konventionsstaaten in der Folge akzeptiert haben. Die Untersuchung der Reaktionen der Konventionsstaaten auf die Piloturteile hat ergeben, dass die Staaten sich um eine umgehende Umsetzung der Anordnungen bemüht haben. Soweit es Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Piloturteile gab, waren diese tatsächlicher Natur und beruhten auf Verzögerungen bei der Umsetzung der Anordnungen infolge langwieriger Gesetzgebungsverfahren. Ein offener Widerstand gegen das Konzept der Piloturteile ging damit nicht einher. Durch vertragserweiternde Auslegung des Art. 46 EMRK wurde mithin ein auf echte Piloturteile beschränkter erga omnes-Effekt eingeführt. Teil 4: Die Rolle des Gerichtshofs in der Zukunft des Konventionssystems 24. Die Piloturteile stehen für eine Rechtsprechungsentwicklung, die sich von der reinen Einzelfallbetrachtung löst, um durch Herausbildung von Leitentscheidungen die verfassungsrechtliche Dimension des Schutzsystems zu stärken. Individualschutz und verfassungsrechtlicher Schutz schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. 25. Die Piloturteile verdeutlichen, dass im Rahmen dieses zweigleisigen Schutzes Art. 13 EMRK eine besondere Bedeutung einnehmen wird. Nach Art. 13 EMRK hat jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht bei einer innerstaatlichen Instanz wirksame Beschwerde zu erheben. Obwohl die Norm Ausdruck der primären Verantwortung der Konventionsstaaten für den Schutz der Konventionsrechte ist, spielte sie als akzessorisches Recht lange Zeit eine untergeordnete Rolle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Eine deutliche Aufwertung hat Art. 13 EMRK durch die Kudla-Rechtsprechung erfahren, wonach im Fall überlanger Verfahrensdauer Art. 13 EMRK nicht mehr neben der speziellen Verfah-

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rensgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK zurücktreten muss, sondern als eigenständige Konventionsverletzung gerügt werden kann. Die Piloturteile ziehen die prozessuale Konsequenz aus der Kudla-Rechtsprechung. Während der EMGR im Zusammenhang mit systemischen Mängeln von der Anordnung von Abhilfemaßnahmen hinsichtlich des Hauptverstoßes (z. B. Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer) aufgrund des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten absieht, ergeht die Anordnung im Urteilstenor und damit das Piloturteil, allein aufgrund der daneben festgestellten Verletzung des Art. 13 EMRK und der Verpflichtung zur Bereitstellung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs. Hierdurch wird der Anwendungsbereich des Piloturteilsverfahrens und damit die objektive Kontrollfunktion des EGMR deutlich aufgewertet. 26. Der Erfolg des Piloturteilsverfahrens spricht dafür, die Einführung einer generellen erga omnes-Wirkung der Urteile des Gerichtshofs zu überdenken. Für eine solche Bindungswirkung sprechen strukturelle Argumente. Der EGMR nimmt auf der europäischen Ebene die Funktion eines Verfassungsgerichts wahr. Gegenüber dem EuGH beansprucht der Gerichtshof die Rolle der Letztentscheidungsinstanz in Grundrechtsfragen. Obwohl eine unmittelbare Kontrolle von Unionsrechtsakten mangels Beitritts der Europäischen Union zur EMRK nicht möglich ist, übt der EGMR eine mittelbare Kontrolle über die Mitgliedstaaten aus. Nach der Bosphorus-Entscheidung des EGMR müssen die Staaten auch dann für eine Konventionsverletzung haften, wenn ihr Handeln durch das Unionsrecht determiniert war. Die Gefahr widerstreitender internationaler Verpflichtungen wird allerdings abgemildert durch die Vermutung, dass ein Handeln zur Erfüllung einer internationalen Verpflichtung gerechtfertigt ist, wenn innerhalb dieser Organisation ein der EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet wird. Für die Europäische Union hat der EGMR die Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes bejaht. Eine Widerlegung der Vermutung bleibt aber im Einzelfall möglich. Soweit die Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Unionsgrundrechte gebunden sind, nehmen die Konventionsbestimmungen in der Auslegung des EGMR mittelbar an dem Anwendungsvorrang im Anwendungsbereich des Unionsrechts teil. Denn nach Art. 53 GRCh darf keine Bestimmung der EUGrundrechtecharta als eine Einschränkung oder Verletzung der Konventionsrechte ausgelegt werden. Wie die Fransson-Rechtsprechung des EuGH verdeutlicht, legt der EuGH den Begriff des Anwendungsbereichs des Unionsrechts weit aus. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst demnach die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte. Es ist aber in jedem Fall ein hinreichend spezifischer Bezug zum Unionsrecht zu fordern. Durch den geplanten Beitritt der Europäischen Union zur EMRK würde der Führungsanspruch des EGMR in Fragen des europäischen Grundrechtsschutzes institutionalisiert, und der EGMR würde als spezielleres Gericht im Bereich der Grund- und Menschenrechte eine zusätzliche Kontrolle ausüben.

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27. Das Interesse der Konventionsstaaten am Schutz ihrer Verfassung spricht nicht gegen eine Bindungswirkung der Urteile des EGMR. Das BVerfG hat ausgeführt, dass die Pflicht zur Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung unter dem Vorbehalt steht, dass sie nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen einen tragenden Verfassungsgrundsatz, verstößt. Auch andere Staaten haben sich vergleichbar ihrer Rechtsprechung zum Recht der Europäischen Union eine Residualkompetenz vorbehalten, wonach der Schutz des Kerns der nationalen Verfassung der Kontrolle durch den EGMR entzogen und eine Abweichung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs gestattet werden soll. Eine solche Residualkompetenz lässt sich im Konventionsrecht aber nur schwer rechtfertigen. Anders als das Unionsrecht ist die EMRK nicht auf Einheitlichkeit, sondern auf die Gewährleistung eines – fortschreitenden – Mindestschutzes gerichtet. Die Mitgliedstaaten können nach dem Günstigkeitsprinzip gemäß Art. 53 EMRK über den in der EMRK enthaltenen Schutzstandard hinausgehen. Schwierigkeiten kann aber das Verhältnis des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zum Günstigkeitsprinzip bereiten. Nach Ansicht des EuGH in dem Urteil Melloni muss sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem Günstigkeitsprinzip durchsetzen, wenn das Risiko besteht, dass andernfalls der Anwendungsvorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet werden. Die Mitgliedstaaten müssen in dieser Situation im Interesse der Rechtseinheit einen EU-Grundrechtsschutz akzeptieren, selbst wenn dieser hinter dem nationalen Schutz zurückbleibt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird sich jedoch nur dann durchsetzen können, wenn die unionsrechtliche Regelung in einer bestimmten Sachfrage auf eine abschließende Normierung zielt und wenn sichergestellt ist, dass die maßgebliche unionsrechtliche Regelung im Einklang mit der EMRK in der Auslegung durch den EGMR steht. Problematischer aus Sicht der Konvention ist der Fall, dass der nationale Schutz hinter der EMRK zurückbleibt. In dieser Situation ist die nationale Norm konventionskonform auszulegen. Ist eine konventionskonforme Auslegung einer nationale Verfassungsnorm angesichts ihres klaren Wortlauts nicht möglich, muss die Verfassung geändert und an das Konventionsrecht angepasst werden. Der Verstoß gegen ein tragendes Verfassungsprinzip erscheint aber eher unwahrscheinlich, da – wie das Beispiel des Grundsatzes der Gewaltenteilung zeigt – auch tragende Verfassungsprinzipien durch den Beitritt zu einer internationalen Rechtsgemeinschaft modifiziert werden, ohne dass hierdurch ihr Wesenskern verletzt wird. Selbst wenn dieser theoretische Fall eintreten sollte und ein tragendes Verfassungsprinzip in seinem Wesenskern bedroht ist, müsste der betroffene Staat die rechtlichen Konsequenzen tragen und erforderlichenfalls aus der Rechtsgemeinschaft austreten. Denkbar bleibt das Eingreifen der Residualkompetenz in Fällen, in denen eine Verfassungsänderung nicht unmittelbar erfolgen kann, weil das für die Änderung erforderliche Referendum noch aussteht. Der

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Schutz der Verfassung steht aber nicht grundsätzlich im Widerspruch mit einer Bindung der Konventionsstaaten an die Auslegungsentscheidungen des EGMR. 28. Die These, dass der EGMR seine Auslegungsbefugnisse überschreitet und aufgrund des ultra vires-Handelns die Entscheidung des EGMR rechtlich unwirksam ist und keine Befolgungspflicht für die nationalen Gerichte und Behörden auslöst, ist schon im Ansatz fragwürdig. Haben die Beteiligten ein internationales unabhängiges Gericht zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen geschaffen, haben sie die Entscheidungen zu beachten, auch wenn diese fehlerhaft sind. Selbst wenn die Unwirksamkeit eines ultra-vires-Aktes akzeptiert wird, widerspricht es dem Charakter einer internationalen Rechtsgemeinschaft, dass jeder einzelne Staat über das Vorliegen eines solchen Aktes entscheiden und die Rechtsbefolgung verweigern kann. Die Letztentscheidung über das Vorliegen eines ultra vires-Aktes ist einer unabhängigen Instanz zu übertragen. Eine Residualkompetenz ist daher nur solange vertretbar, als eine solche Kontrollinstanz noch nicht eingeführt wurde. 29. Die prozessuale Ausgestaltung des Individualbeschwerdeverfahrens als Zweiparteienverfahren und die Sensibilität mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse bilden schon im Ansatz kein tragfähiges Argument für eine Abweichung von den Urteilen des EGMR. Der Sensibilität mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse kann durch Einräumung größerer Beurteilungsspielräume bei den Abwägungsentscheidungen Rechnung getragen werden, vermag aber nicht eine Grenze der Bindungswirkung der Urteile zu begründen. 30. Als Argument gegen die Annahme einer grundsätzlichen erga omnesWirkung der Urteile des EGMR überzeugt allein die Notwendigkeit der Dynamik des Konventionsrechts und einer Einbindung der nationalen Gerichte in die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes. Dem EGMR sind bei der Überwachung des Konventionsschutzes in 47 Ländern unter Berücksichtigung der nationalen Eigenheiten naturgemäß Grenzen gesetzt. Der EGMR ist auf die Kooperation durch die nationalen Gerichte und ihre Fachkenntnis angewiesen. Im Recht der Europäischen Union wird die Dynamik durch die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens aufrechterhalten. Im Konventionsrecht fehlt ein solcher Mechanismus. Gegen die Einführung eines erga omnes-Effekts der Urteile des EGMR sprechen somit prozessuale Einwände. Der Dialog der Richter und die Dynamik des Konventionsrechts werden verfahrensrechtlich nicht hinreichend gesichert. Das Piloturteilsverfahren ist eine Selbsthilfemaßnahme des Gerichtshofs, die diese Schwäche zu überbrücken sucht. 31. Die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in das Konventionssystem wurde diskutiert. Als Hauptargument gegen die Einführung wurde die Gefahr der Erhöhung der Arbeitslast für den EGMR genannt. Kombiniert man das Vorabentscheidungsverfahren aber mit einem erga omnes-Effekt der Urteile, kann langfristig sogar eine Entlastung bewirkt werden. Der EGMR könnte im

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Rahmen der Vorabentscheide Rechtsfragen allgemeinverbindlich klären, so dass der Einzelne von einer Beschwerde absehen wird bzw. die Beschwerde zurückgewiesen werden kann. Das Modell des Vorabentscheidungsverfahrens kann allerdings nicht ohne Modifikationen übertragen werden. Angesichts der drohenden Überlastung des EGMR müssen strengere Zulässigkeitsvoraussetzungen formuliert und die Vorlagemöglichkeit auf letztinstanzliche Gerichte beschränkt werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass im Zusammenhang mit dem Beitritt der Europäischen Union zur EMRK die Einführung einer Vorlagemöglichkeit des EuGH zum EGMR diskutiert wird. Im Sinne der Gleichbehandlung der Hohen Vertragsparteien, zu denen bei einem Beitritt auch die Europäische Union gehören würde, erscheint es konsequent, auch den letztinstanzlichen nationalen Gerichten eine Vorlagemöglichkeit zum EGMR einzuräumen. Durch die Verflechtung der Vorabentscheidungsmechanismen könnte der Dialog der Richter verfahrensrechtlich gesichert werden. Wird die Vorlagemöglichkeit für nationale Gerichte mit einem erga omnes-Effekt der Urteile des EGMR kombiniert, würde der besonderen Bedeutung des EGMR als Letztentscheidungsinstanz im europäischen Grundrechtsschutz Nachdruck verliehen, ohne die Dynamik des Konventionsrechts zu beeinträchtigen. Die verfassungsrechtliche Dimension des Konventionsschutzes könnte auf diese Weise erheblich gestärkt werden. Die Verzögerung des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK infolge des kritischen EuGH-Gutachtens verschafft Gelegenheit, die prozessualen Rahmenbedingungen für den Beitritt neu zu überdenken und die bestmögliche Lösung zur Sicherung des Richterdialogs auszuarbeiten.

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Stichwortverzeichnis Abhilfemaßnahmen – Befugnis des EGMR zur Anordnung genereller Abhilfemaßnahmen 175 ff. – Befugnis des EGMR zur Anordnung individueller Abhilfemaßnahmen 173 ff. – Befugnis des EGMR zur Überprüfung genereller Abhilfemaßnahmen 191 ff. – Kompetenz des EGMR zur rückwirkenden Anordnung von Abhilfemaßnahmen 197 ff. Adoption 70 Afrikanische Charta der Menschenrechte 28, 44 Allgemeine Erklärung für Menschenrechte (AEMR) 33, 34, 36 Amerikanische Menschenrechtskonvention 28 Annexkompetenz 133 f. Anwendungsvorrang der EMRK siehe Ranganspruch der EMRK Anwendungsvorrang des Rechts der Europäischen Union siehe Europäische Union Appellentscheidung 86, 88, 349 Auslegung – dynamische Auslegung 137, 139, 141 – Vertragsauslegung in Abgrenzung zur Vertragsänderung 139 ff. Auslegungsmethoden 135 ff., 141 Beendigungspflicht siehe Wiedergutmachung im weiten Sinne Befolgungspflicht 77 ff., 84, 145, 165, 170, 185, 210, 218, 221, 230, 254, 290, 308, 326, 349, 357, 361 Beitritt der Europäischen Union zur EMRK siehe Europäische Union

Beitritt zum Europarat siehe Europarat Beratende Versammlung siehe Parlamentarische Versammlung Berücksichtigung, Reichweite der Berücksichtigungspflicht 261 f., 308 Berücksichtigung der Urteile des EGMR – im Vereinigten Königreich 229 ff. – in Deutschland 238 ff. – in Frankreich 244 – in Italien 246 ff. – in Russland 250 ff. Beurteilungsspielraum 91, 101 f., 113, 172, 179 ff., 186 ff., 229, 268 f., 285, 312, 328 ff., 349 Binding authority 203, 229 Bindungswirkung der Auslegungsurteile des EuGH 215 ff. Bindungswirkung der Urteile des EGMR – beschränkte erga ommes-Wirkung 262 ff. – erga omnes-Wirkung 201 ff., 221 ff., 288 ff. – faktische Bindung 205 ff. Controlimiti-Lehre 248 f. Dialog der Richter 31, 103, 232, 342, 345, 361 Drittstaatenfälle 32, 262 Dualismus 69 f., 227 Effektivitätsgrundsatz 137 EGMR – Bosphorus-Rechtsprechung 304 ff., 359 – Kudla-Rechtsprechung 89 f., 163, 205, 284 f., 358 f.

Stichwortverzeichnis EMRK – gerechte Entschädigung 68, 75, 85, 95, 98, 101, 117, 156, 191 – Inkorporation 70 ff., 74, 79 163, 227, 320 – Innerstaatlicher Geltungsanspruch 69 ff. – Protokoll Nr. 8 52 – Protokoll Nr. 9 und Nr. 10 54 – Protokoll Nr. 11 55 ff. – Protokoll Nr. 12 42 – Protokoll Nr. 14 57 ff. – Protokoll Nr. 14bis 63 – Protokoll Nr. 16 341 ff. – Ranganspruch 74 ff. – unmittelbare Anwendbarkeit 41 EuGH – Gutachten von 1994 306, 342 ff. – Gutachten vom 18. Dezember 2014 306 ff. – Rechtsprechung Fransson/Melloni 295 ff., 359 – Rechtsprechung post-Fransson 391 ff. – zur Bindungswirkung der Auslegungsurteile siehe Bindungswirkung Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) 28, 36, 39 ff., 50, 53, 181, 210 ff., 285, 303 f. Europäische Union – Anwendungsvorrang des Unionsrechts 74, 291 ff., 311 ff., 345, 359 ff. – Beitritt der Europäischen Union zur EMRK 302, 306 ff., 340 ff. – Vorabentscheidungsverfahren 198, 215 ff., 333, 334 f. Europarat – Beitritt neuer Staaten 34, 45 ff., 54 – Gründung 33 ff. Evaluierungsgruppe 57 f. Extraterritoriales Handeln 43 Fakultativerklärungen 36 Feststellungsurteil 62, 75 ff., 191, 198, 290

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Filterorgan (judicial committee) 64 f. Fusionsmodell 54 f. Gewaltenteilung 140, 182, 186, 233, 315 ff. Gruppenklage 268, 286 ff. Günstigkeitsprinzip 299 ff., 311 ff., 345, 360 Gutachtenverfahren siehe Vorlagemechanismen Gütliche Einigung 29, 40, 58, 86, 99 ff., 131, 178, 268, 273, 350 Human Rights Act (HRA) 227 ff., 230, 312, 331 Identitätskontrolle 310, 322 Imbert, Pierre-Henri 109 f. Implied powers 134 Individualbeschwerde – Anerkennung und obligatorische Ausgestaltung 28, 37, 38 ff., 44 ff., 53 ff. – effektive Ausübung 264 ff. – Gang einer Individualbeschwerde 55 f. – Kernelement des Konventionsschutzes 281 ff. International Law Commission 149 Judicial activism/self-restraint 143 ff., 347 ff. Klonfälle siehe Parallelfälle Kompetenzüberschreitung siehe ultra vires-Handeln Lenkungsausschuss für Menschenrechte siehe Ministerkomitee Lex posterior derogat legi priori-Regel 74, 234, 258 Lord Woolf 64 f. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse 325 ff., 330, 333, 361

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Stichwortverzeichnis

Ministerkomitee – Empfehlungen 35, 48, 63 f., 93, 95, 128, 132, 163 f., 177, 267 – Funktion und Zuständigkeitsbereich, 35 f., 53 f., 83, 93, 100, 102, 113, 168 f., 176 ff., 190 – Lenkungsausschuss für Menschenrechte 57 ff., 60 f., 98, 200, 213, 266 f., 340 – Nichtbefolgungsverfahren 62, 66, 177, 199 Monismus 69, 249 Monitoring 48 Obiter dicta 203 Objektive Rechtsordnung (ordre public) 210 ff., 289, 325, 356 Obligation of result 79, 183 ff., 191, 349, 354 Parallelfälle – Begriff 32 – innerstaatliche Parallelfälle 262 ff. – Suspendierung von Parallelfällen 96 ff., 195 ff. Parlamentarische Versammlung (bis 1974: Beratende Versammlung) 35, 37, 48 f., 131, 179, 200, 265, 335 Parlamentssouveränität 226 ff., 258, 311, 320 Persuasive authority 203, 229 Piloturteile – Abgrenzung echte und unechte Piloturteile 96 f. – Charakteristika echter Piloturteile 96 ff. – erstes echtes Piloturteil Broniowski ./. Polen 93 ff., 98 ff. – Reaktionen auf echte Piloturteile 269 ff. – Strukturelle Mängel: systemische und spezifische 109 ff. – Überblick über echte Piloturteile 114 ff. – Unechte Piloturteile 96 f., 114 f., 130, 350

Piloturteilsverfahren – Entwicklung 93 ff. – Kodifizierung in der EGMR-Verfahrensordnung 130 f. – Zweck, Potential, Risiken 103 ff. Positive Handlungspflichten 42 Präjudizwirkung 202 ff., 219 Ratifikation 38, 42, 63 ff., 227, 252, 304 Ratio decidendi 203, 355 Recht auf wirksame Beschwerde – Ausdruck des Subsidiaritätsgedankens 89 – Bedeutungszuwachs Art. 13 EMRK 283 ff. – collective view, domestic view 162 f. Rechtsfortbildung 138 ff., 143, 264 f., 291, 351, 357 Rechtskraft, formelle, materielle 76 Rechtskrafterstreckung 77 f. Reflexionsgruppe 58, 260, 270 Repetitive Beschwerden siehe Parallelfälle Residualkompetenz 311 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 34 Resolution des Ministerkomitees siehe Ministerkomitee – Empfehlungen Rolin, Henri 72 Ryssdal, Rolv 47 Self-contained regime 146 f. Staatenbeschwerde 37, 77, 79, 135, 177, 210, 212, Staatenpraxis – Auslegungsfaktor 136 – derogierende Staatenpraxis 221 ff. – Vertragsänderung 142 f. – vertragserweiternde Staatenpraxis 262 ff. Stare decisis-Doktrin 202 f., 207, 209, 218, 221, 355 f. Struktureller Mangel siehe Piloturteile

Stichwortverzeichnis Subsidiaritätsgrundsatz 61, 89, 103, 162 f., 180 ff., 192, 283 ff., 323, 328, 332 Teitgen-Bericht 36 f., 154 Tragende Verfassungsgrundsätze 239, 308, 315, 320 f., 333 ultra-vires-Handeln des EGMR 264 ff. ultra-vires-Kontrolle 321 ff.

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Vorläufige Maßnahmen 262 ff., 357 Wiederaufnahme 49, 84 f., 91 f., 160 ff., 171, 278, 352 f. Wiedergutmachung, Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit 149 f. Wiedergutmachung im engen Sinne – Naturalrestitution (restitutio in integrum) 149 f. – Schadensersatz (compensation) 150 f.

Venedig-Kommission 185, 200, 219, 267 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 108, 170, 181, 242, 290, 293, 317 ff., 326 f. Vorlagemechanismen – Gutachtenverfahren 64, 337 f., 341 ff., 346 – Vorabentscheidungsverfahren der EU siehe Europäische Union – Vorabentscheidungsverfahren und EMRK 335 ff. – zum Vorlagemechanismus EuGH – EGMR 345 f. – zum Vorlagemechanismus nationale Gerichte – EGMR 346 f.

– Genugtuung (satisfaction) 151 Wiedergutmachung im weiten Sinne, einschließlich – Beendigungspflicht 133 f., 152 f., 156 ff., 169, 171, 352 f. – Garantien zur Nichtwiederholung des begangenen Unrechts 158 ff., 169, 171 Wiedergutmachungspflicht nach Art. 41 EMRK 153 ff. Wildhaber, Luzius 57, 96, 260, 281, 285 Wise Persons 64 f., 282 f., 338, 342 Working Party on Working Methods (WPWM) 56