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German Pages 938 [940] Year 2002
Robert Esser Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht
Robert Esser
Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht Die Grundlagen im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg
w DE
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RECHT
De Gruyter Recht · Berlin 2002
Dr. Robert Esser, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl f ü r Strafrecht, Strafprozeßrecht und Kriminologie der Universität Trier
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ( D F G )
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt ISBN 3-89949-0037
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Meinen Eltern
Vorwort I. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im September 2001 abgeschlossen. Mein Dank gilt allen voran meinem verehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hans-Heiner Kühne, der nicht nur das Thema der vorliegenden Arbeit angeregt, sondern diese auch durch zahlreiche fachliche Gespräche gefördert hat. Durch ihn habe ich während der Promotionszeit in vielfältiger Weise Unterstützung erfahren. Ganz besonders danke ich Herrn Professor Dr. Volker Krey für die Zweitbegutachtung der Arbeit. Herrn Professor Dr. Gerhard Robbers und Herrn Professor Dr. Franz Dorn möchte ich für ihre Mitwirkung am Rigorosum danken. Aufrichtigen Dank richte ich an das Land Rheinland-Pfalz für die Aufnahme in die Graduiertenförderung und das darin zum Ausdruck gebrachte Interesse an meinem Dissertationsvorhaben. Ohne die finanzielle Unterstützung in Form eines Promotionsstipendiums und die dadurch mögliche Konzentration auf die wissenschaftliche Arbeit wäre das Vorhaben nicht in angemessener Zeit zu bewerkstelligen gewesen. Für die Gewährung einer großzügigen Publikationsbeihilfe und die damit verbundene Anerkennung meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu danken. Bedanken möchte ich mich auch bei der Human Rights Library des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, beim Institut für Menschenrechte der Universität Potsdam sowie bei der Europäischen Rechtsakademie (ERA) in Trier, die mir im Rahmen meiner Literaturrecherche freundlicherweise Zugang zu ihren Bibliotheken gewährt haben. Frau Dr. Dorothee Walther danke ich für die Bereitschaft zur Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm des Walter de Gruyter Verlages. Ein lieber Dank geht an meine Freundin Regina. Sie hat die Fertigstellung der Arbeit und meine dadurch bedingte Abwesenheit mit bewundernswerter Geduld ertragen. Gewidmet ist diese Arbeit meinen lieben Eltern, die mich während meines gesamten Studiums in jeder Hinsicht unterstützt und immer an den Erfolg geglaubt haben.
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Vorwort
II. Bei Beginn der Arbeit war nicht abzusehen, welche enorme zahlenmäßige Entwicklung die Straßburger Rechtsprechung mit der Einrichtung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) seit dem 1.11.1998 nehmen würde. Um den Rahmen überschaubar zu halten, musste sich die im Hauptteil geleistete Zusammenstellung der Urteile mit strafprozessualem Bezug auf die im Zeitraum von 1960 bis 1999 ergangenen 1122 Urteile des Gerichtshofs beschränken. Thematisch unberücksichtigt geblieben sind Entscheidungen zur angemessenen Dauer von Strafverfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und zur Entschädigung für konventionswidrige Freiheitsentziehungen (Art. 5 Abs. 5 EMRK). Um auch dem Justizpraktiker den Zugang zur Straßburger Rechtsprechung zu erleichtern, orientiert sich der Aufbau der Arbeit an strafprozessualen Themen und Problemfeldern, also nicht vorrangig an den Artikeln der EMRK. Ein solcher Ansatz war auch deshalb erforderlich, weil der Gerichtshof in den letzten Jahren zunehmend dazu übergegangen ist, mehrere Konventionsbestimmungen im Zusammenhang zu prüfen. Die zwischen 1960 und 1995 ergangenen Urteile des EGMR sind in englischer und französischer Sprache in der Sammlung Publications de la Cour europeenne des droits de 1'komme / Publications of the european court of human rights (Serie A) erschienen. In den seit 1996 veröffentlichten Sammelbänden Reports of Judgments and Decisions / Recueil des Arrets et Dicisions sind die wichtigsten Urteile enthalten. Des weiteren ist die Straßburger Rechtsprechung auch auf der Homepage des EGMR zugänglich (www.echr.coe. int). Neben einer chronologischen Auflistung („Judgments and Decisions - List of Recent Judgments / Arrets et decisions - Liste des arrets recents") ist dort eine HUDOCEingabemaske eingerichtet, die eine Suche nach einzelnen Urteilen ermöglicht. Entscheidungen, mit denen ein Ausschuss des Gerichtshofs eine Beschwerde für unzulässig erklärt (Art. 35 Abs. 3 EMRK), sind in den monatlich erscheinenden Rechtsprechungsübersichten (General Information - Case-Law Information - Notes and Surveys) und Press Releases zusammengefasst, die allerdings nur eine Zusammenfassung der Kanzlei des Gerichtshofs enthalten und daher sprachlich nicht verbindlich sind. Das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. Zusatzprotokoll hat zu erheblichen Änderungen im Aufbau und in der Zusammensetzung der Straßburger Kontrollorgane geführt. 1 Die Regierungen der Schweiz, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland haben diesen weitreichenden Reformschritt zum Anlass genommen, die - allerdings nicht verbindliche - deutsche Fassung der Europäischen Menschenrechtskonvention sprachlich zu überarbeiten. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an dieser bereinigten deutschen Fassung.2 Bei der angegebenen deutschsprachigen Literatur aus der Zeit 1 2
Vgl. BGBl. 1995 II 578, 1998 II 2582, 2001 II 231. Die Arbeit wurde auf der Grundlage der seit 1999 umlaufenden, vorläufigen Neufassung der EMRK erstellt, die mittlerweile im Bundesgesetzblatt veröffentlicht ist (BGBl. 2002 II 1053). Eine sprachliche Änderung ergibt sich bei Art. 5 Abs. 2 EMRK (siehe dort). Die vorläufige Fassung hatten bereits im Vorgriff verwendet: Satorius II Nr. 130; Kleinknecht!Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 45. Auflage 2001, MRK (A 4); Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte - Dokumente und Deklarationen, 3. Auflage 1999.
Vorwort
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vor 1998 können sich dadurch gewisse terminologische und sprachliche Divergenzen ergeben. Vor dem Hintergrund des mit der vorliegenden Arbeit verfolgten Zieles waren bei der sprachlichen Darstellung Abweichungen von der deutschen Terminologie und Rechtsdogmatik unvermeidlich. Den Besonderheiten der verschiedenen europäischen Strafverfahrensordnungen wäre ein Verhaften an nationalen Denkstrukturen nicht gerecht geworden. So musste namentlich die für das deutsche Strafprozessrecht fundamentale Differenzierung zwischen den Begriffen Beschuldigter, Angeschuldigter und Angeklagter (§ 157 StPO) aufgegeben werden, weil Art. 6 in der deutschen Fassung von einer angeklagten Person spricht und damit - so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen - auch den Beschuldigten und Angeschuldigten meint. Der Verfasser hat sich daher für einen weiten Begriff des Beschuldigten entschieden. Auch an anderer Stelle wird der Leser solche terminologischen „Ungenauigkeiten" entdecken, die durchweg beabsichtigt sind. Verbunden ist dieser Hinweis mit der Erkenntnis, dass sich eine gewisse nationale Perspektive bei der Darstellung eines europäischen Strafverfahrensrechts wohl nie ganz vermeiden lässt. Trier, im Juli 2002
Robert Esser
Inhaltsübersicht Vorwort Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 1. Teil Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
VII XI XIII XXV
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2. Teil Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus den Jahren 1959-1999 § 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK §2 Art und Umfang der strafprozessualen Ermittlungen § 3 Festnahme und Freiheitsentzug § 4 Die Rechte des Beschuldigten § 5 Anforderungen an ein Gericht, das über strafrechtliche Anklagen entscheidet . . . . § 6 Verhandlung über die strafrechtliche Anklage vor einem Gericht § 7 Entscheidung des Gerichts über die strafrechtliche Anklage § 8 Einrichtung eines Rechtsmittelverfahrens § 9 Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche § 10 Beteiligung von Privatpersonen am Strafverfahren
51 51 95 199 374 535 606 732 767 798 805
3. Teil Zur Motorfunktion der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte . . . .
817
4. Teil Ausblick
875
Literaturverzeichnis
883
Sachregister
901
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa I. Uber die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts 1. Problematik eines uneinheitlichen Rechts trotz politischer Einheit 2. Transnationale Aspekte der Kriminalität 3. Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit statt Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen 4. Justitielle Zusammenarbeit als Gegenpol zur Verpolizeilichung des Strafverfahrens 5. Garantiefunktion für die Beschuldigtenrechte auf nationaler Ebene 6. Fazit II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte 1. Strafrechtswissenschaft 2. Vereinte Nationen/Internationale Organisationen 3. Europäische Union a) Kompetenzen im Amsterdamer Vertrag b) Betrugsbekämpfung (OLAF/Corpus Juris) c) Leitsätze einer europäischen Verfassung d) Fazit 4. Europarat III. Strategien einer Angleichung 1. Instrumente einer informellen Rezeption 2. Rezeption der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg
1 1 1 8 13 17 22 26 26 27 30 31 32 36 40 40 41 43 43 45
2. Teil Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus den Jahren 1959-1999
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§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der E M R K
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I. Die strafrechtliche Anklage iSv Art. 6 Abs. 1 1. Die materielle Konzeption der Anklage 2. Disziplinarmaßnahmen 3. Gerichtliche Ordnungsmittel 4. Steuerzuschläge und Steuerbußen 5. Verfahren vor Militärbehörden und-gerichten II. Erhebung und Wegfall der strafrechtlichen Anklage 1. Anknüpfungspunkte für die Erhebung der strafrechtlichen Anklage 2. Kriterien für den Wegfall der strafrechtlichen Anklage
51 51 71 74 79 81 81 85 89
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Inhaltsverzeichnis
§2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen I. Ne bis in idem II. Beachtung der Unschuldsvermutung im Ermittlungsstadium III. Intensität und Umfang strafrechtlicher Ermittlungen 1. Verhältnismäßigkeit des Einsatzes von Gewalt 2. Durchführung einer effektiven und gründlichen offiziellen Untersuchung gewaltsamer Tötungen 3. Pflicht zur Verhinderung von Straftaten IV. Vereinbarkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen mit der Konvention 1. Durchsuchung von Räumlichkeiten a) Rechtmäßigkeit der Durchsuchung (1) Angemessene und effektive Sicherheiten („adequate and effective safeguards") (2) Art und Weise der Durchführung einer Durchsuchung (3) Besonderheiten bei Terrorismusdelikten b) Verwertung von Dokumenten aus einer konventionswidrigen Durchsuchung c) Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der Durchsuchung 2. Betreten einer Wohnung 3. Beschlagnahme von Gegenständen a) Voraussetzungen einer konventionsgemäßen Beschlagnahme b) Aufsicht über beschlagnahmte Gegenstände c) Anspruch auf gerichtliche Überprüfung einer Beschlagnahme d) Beschlagnahme von Gegenständen aus der Privatsphäre (Art. 8) e) Beschlagnahme von Druckschriften, Presseerzeugnissen und Kunstwerken (Art. 10) f) Schutz journalistischer Quellen g) Beschlagnahme von Krankenakten h) Beschlagnahmeverbote 4. Telefonüberwachung a) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 (1) Gesetzliche Grundlage (2) Ausschluss bestimmter Berufsgruppen von der Telefonüberwachung . . . (3) Legitimer Zweck der Überwachung (4) Notwendigkeit der Überwachung b) Auswirkungen auf das deutsche Recht (1) Zugriff auf Mailboxen (2) Hörfalle (3) Überwachung der Telefongespräche eines Rechtsanwaltes 5. Einsatz von verdeckt ermittelnden Personen a) Verdeckte Ermittler („undercover agents") b) Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit privaten Kontaktpersonen c) Verwertbarkeit des von einer Privatperson aufgezeichneten Telefongesprächs 6. Einsatz technischer Mittel/Videoüberwachung 7. Erkennungsdienstliche Behandlung 8. Körperliche Eingriffe/DNA-Untersuchung 9. Auskunft aus Personenregistern und Übermittlung personenbezogener Daten .
95 95 99 102 102 105 108 110 111 111 117 121 122 122 123 125 126 129 133 134 135 136 141 142 144 145 145 150 157 160 160 164 164 165 167 168 168 178 182 185 188 191 192
Inhaltsverzeichnis V. Anspruch auf wirksame Überprüfung von Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung § 3 Festnahme und Freiheitsentzug I. Freiheitsentziehung - Freiheitsbeschränkung II. Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung III. Überschreitung einer im nationalen Recht vorgesehenen maximal zulässigen Haftzeit IV. Festnahme- und Haftgründe der E M R K 1. Unverzüglichkeit der Freilassung 2. Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 a) Art. 5 Abs. 1(a) b)Art. 5 Abs. 1(b) c) Art. 5 Abs. 1(c) (1) Zweck der Festnahme - Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde (2) Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) (a) Hinreichender Verdacht für die Begehung einer Straftat (aa) Straftat („offence") (bb) Hinreichender Verdacht („reasonable suspicion") (b) Gefahr der Begehung einer Straftat (c) Fluchtgefahr (3) Grundlage und Art der Freiheitsentziehung d) Art. 5 Abs. 1(d) e) Art. 5 Abs. 1(e) (1) Landstreicher (2) Unterbringung psychisch Kranker (a) Unterbringung während des Ermittlungsverfahrens (b) Unterbringung während des Rechtsmittelverfahrens f) Art. 5 Abs. 1(0 3. Beziehung zwischen dem Haftgrund und dem Ort der Unterbringung 4. Dokumentations- und Nachweispflicht bei Festnahmen und Freiheitsentziehungen 5. Tötung der festzunehmenden Person 6. Einsatz von Privatpersonen bei der Festnahme und Inhaftierung / Schutz vor Repressalien durch Dritte V. Mitteilung der Gründe für die Festnahme und der erhobenen Beschuldigungen (Art. 5 Abs. 2) VI. Verfahrensrechtliche Anforderungen an eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c) 1. Vorführung des Festgenommenen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1) a) Richter oder andere gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigte Person b) Unabhängigkeit/Unparteilichkeit (1) Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten (2) Unabhängigkeit von der Exekutive
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195 199 199 203 208 209 210 212 212 216 218 218 220 220 220 223 230 233 235 236 236 237 237 239 245 246 251 252 253 255 256 262 263 263 265 265 271
Inhaltsverzeichnis
XVI
c) Einhaltung gerichtlicher Verfahrensgarantien (1) Automatische Vorführung (2) Anhörung der festgenommenen Person d) Unverzüglichkeit der Vorführung („promptly"/„aussitöt") 2. Angemessene Dauer der Untersuchungshaft (Art. 5 Abs. 3 Satz 2) a) Abstrakte Berechnung der Inhaftierungszeit (1) Beginn der Frist (2) Ende der Frist (a) Freilassung gegen eine Sicherheit (b) Erstinstanzliches Urteil als Ende der Frist b) Angemessenheit der Inhaftierungszeit im konkreten Fall (1) Gründe für die fortdauernde Inhaftierung („reasons/grounds for continued detention") (a) Datum der Festnahme („date of arrest") (b) Schwere der Straftat („seriousness of the alleged offences") (c) Fluchtgefahr („danger of absconding") (d) Erfordernisse der Ermittlungen („needs/requirements of the inquiry") (e) Verdunklungs- und Kollusionsgefahr („danger of suppression of evidence"/„danger of collusion") (f) Wiederholungsgefahr („danger of repetition/reoffending") (g) Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (2) Berücksichtigung der Verfahrensführung („conduct of the proceedings") (a) Aspekte der Gerichtsorganisation (b) Verhalten des Beschuldigten (c) Komplexität des Falles c) Freilassung des inhaftierten Beschuldigten gegen eine Sicherheit d) Heilung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 e) Freiheitsentziehung und Art. 10 VII. Vollzug der Untersuchungshaft 1. Arbeitspflicht 2. Kontakt zur Familie und Angehörigen 3. Disziplinarmaßnahmen 4. Medizinische Behandlung 5. Zugang zu Lesestoff, Radio und Fernsehen 6. Überwachung des Briefverkehrs a) Briefkontrolle von Strafgefangenen (Art. 8) (1) Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und einem Rechtsanwalt (2) Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und der E K M R . . . . (3) Korrespondenz bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus b) Briefkontrolle eines Untersuchungsgefangenen (1) Anhalten von Schreiben an einen Untersuchungsgefangenen (2) Kontrolle von Privatbriefen zwischen Untersuchungshäftlingen VIII. Haftprüfung 1. Anforderungen an ein „Gericht" iSv Art. 5 Abs. 4 2. Häufigkeit der Überprüfung a) Unterbringung psychisch Kranker
272 272 272 275 281 283 283 285 286 287 289 289 293 293 294 297 298 299 300 301 302 304 306 307 309 310 312 312 313 314 315 316 317 317 321 323 325 325 325 326 327 329 332 332
Inhaltsverzeichnis
3. 4.
5. 6. 7.
8. 9.
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b) Maßregelvollzug (Art. 5 Abs. 1(a) c) Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer / Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung d) Überprüfung in angemessenen Abständen Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Untersuchungshaft Verfahrensgarantien bei der Überprüfung einer Freiheitsentziehung a) Allgemeine Grundsätze b) Effektivität des Verfahrens bei föderalen Strukturen c) Angemessene Beteiligung am Verfahren d) Informations- und Mitteilungspflichten e) Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung f) Kontradiktorischer Charakter des Verfahrens / Prinzip der Waffengleichheit g) Zugang zur Verfahrensakte h) Antragsrecht des Inhaftierten i) Anwaltlicher Beistand - gerichtliche Fürsorgepflicht Maßstab der Haftprüfung - Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung nach Flucht oder Freilassung Entscheidung innerhalb kurzer Frist („speedily"/„ä bref delai") a) Erstmalige Überprüfung b) Wiederholte Überprüfung Rechtsmittel im Haftprüfungsverfahren Überprüfung der Haftbedingungen
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
335 335 336 337 338 338 341 342 343 344 346 351 355 357 359 363 363 363 369 370 372 374
I. Recht auf eine der Konvention entsprechende Behandlung 374 1. Allgemeine Grundsätze 374 2. Folter 377 3. Erniedrigende und unmenschliche Behandlung 381 a) Erniedrigende Behandlung 381 b) Unmenschliche Behandlung 385 4. Gründliche und effektive Untersuchung 386 5. Anwendung physischer Gewalt gegenüber Personen, denen die Freiheit entzogen ist („person deprived of liberty") 388 6. Haftbedingungen 394 7. Durchführung einer Festnahme 396 8. Anlegen von Handschellen 398 II. Die Beschuldigtenrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3 1. Das Recht auf ein faires Verfahren 2. Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Offenbarung sämtlichen Beweismaterials 3. Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren a) Kenntnis und Möglichkeit der Stellungnahme zu Beweisen und Erklärungen (1) Erklärungen einer Justizbehörde (2) Erklärungen der Anklagebehörde (3) Stellungnahme eines Gerichts b) Einholung dienstlicher Erklärungen durch das Gericht
400 401 403 406 406 407 410 416 417
XVIII
Inhaltsverzeichnis
4. 5. 6.
7.
8. 9.
10.
11.
c) Mitteilung des Urteilsentwurfs d) Mitteilung der Person des Berichterstatters Aussetzung des Strafverfahrens bis zum Abschluss eines anderen Verfahrens . . Exkurs: Übertragbarkeit zivilprozessualer Grundsätze auf Strafverfahren . . . Zugang zur Verfahrensakte a) Beschränkung des Zugangs zur Akte auf die Person des Verteidigers b) Zugang zur Akte für den nicht verteidigten Beschuldigten Unterrichtung über Art und Grund der Beschuldigung (Art. 6 Abs. 3(a)) . . . . a) Art und Grund der Beschuldigung b) Pflicht zur Mitteilung der Anklageschrift c) Unterrichtung in einer verständlichen Sprache d) Mitwirkungspflichten Ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 (b)) . . . . Recht auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 1, Abs. 3(c)) a) Zugang zu einem Verteidiger im Ermittlungsverfahren („access to lawyer") . b) Gewährleistung einer effektiven Unterstützung durch einen Verteidiger . . . (1) Garantie einer wirksamen und effektiven Verteidigung („benefit of a practical and effective defence") (a) Unterbliebene Ladung des Verteidigers zu einem Verhandlungstermin (b) Ladung des verteidigten Beschuldigten zu einem Verhandlungstermin (c) Benachrichtigung des Verteidigers von einer Terminverschiebung . . (d) Verlegung eines Verhandlungstermins wegen Verhinderung des Verteidigers (e) Verteidigung eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Beschuldigten (f) Effektivität einer Verteidigerunterstützung (2) Pflicht der staatlichen Stellen zum Einschreiten gegen Verteidigungsmängel Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers a) Voraussetzungen für das Recht auf Verteidigerbeistand (1) Mittellosigkeit (2) Interesse der Rechtspflege („interests of justice") (a) Beiordnung im Ermittlungsverfahren (b) Schwere der Straftat/Höhe der zu erwartenden Strafe („severity of the penalty at stake") (c) Komplexität des Falles („complexity of the case") (d) Beistand eines Verteidigers in einem Rechtsmittelverfahren b) Pflicht zur Überwachung des Beistands c) Vereinbarkeit des Verteidigerbeistands mit der Konvention (1) Verteidigerzwang im Strafprozess (2) Bestellung eines Verteidigers gegen den Willen des Beschuldigten . . . . (3) Kriterien bei der Auswahl des Verteidigers (4) Beauftragung von noch in Ausbildung befindlichen Rechtsanwälten als Verteidiger d) Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands e) Pflichtverteidigung als Zwangsarbeit Kontakt des Beschuldigten mit dem Verteidiger
418 419 420 420 424 424 426 437 437 442 443 446 447 450 450 457 457 459 461 462 462 463 466 472 474 474 475 476 476 477 478 480 490 491 491 492 494 496 497 499 501
Inhaltsverzeichnis
XIX
a) Überwachung der Gespräche eines Untersuchungshäftlings mit seinem Verteidiger b) Überwachung der Korrespondenz eines Untersuchungshäftlings mit seinem Verteidiger 12. Beschränkung eines Verteidigungsvorbringens a) Furcht vor späterer Strafverfolgung b) Prozessuale Beschränkungen 13. Ladungs-/Fragerecht (Art. 6 Abs. 3(d)) 14. Unterstützung durch einen Dolmetscher (Art. 6 Abs. 3(e)) a) Umfang der Dolmetscherunterstützung b) Überwachungspflicht c) Ermittlungsverfahren d) Hauptverhandlung e) Übersetzung des Urteils f) Unentgeltlichkeit der Unterstützung 15. Schutz vor Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) a) Aufforderung zur Vorlage von Dokumenten b) Verwertung des Schweigens zum Nachteil des Beschuldigten (1) Belehrung über die Möglichkeit nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen (2) Berücksichtigung des Schweigens bei der Urteilsfindung c) Verwertung von Angaben des Beschuldigten (1) Angaben des Beschuldigten während einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren (2) Verbot von Zwang und Druck (3) Identifizierung des Beschuldigten auf einem Foto § 5 Anforderungen an ein Gericht, das über strafrechtliche Anklagen entscheidet
....
I. Materielle Anforderungen II. Formelle und organisationsrechtliche Anforderungen 1. Unabhängigkeit a) Unabhängigkeit von der Exekutive b) Unabhängigkeit von den Parteien c) Amtsdauer und Unabsetzbarkeit der Mitglieder eines Gerichts d) Entscheidungskompetenz e) Sonderfälle (1) Militärgerichte (2) Beteiligung von Laienrichtern und Privatpersonen an der Urteilsfindung (3) Teilnahme eines Verfahrensbeteiligten an den Urteilsberatungen 2. Unparteilichkeit a) Persönliche Unparteilichkeit b) Objektive und strukturelle Unparteilichkeit c) Ausschlussgrund nach nationalem Recht d) Rügepflicht e) Verzicht auf das Recht auf Verhandlung vor einem unparteiischen Gericht . f) Prüfungspflicht des Gerichts g) Einzelfälle
501 503 505 505 507 507 508 508 511 511 513 515 516 520 520 522 522 524 528 528 529 534 535 535 538 538 540 542 543 544 545 545 548 550 551 552 553 555 556 557 559 562
Inhaltsverzeichnis
XX (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Tatopfer als Mitglied des erkennenden Gerichts 562 Prozessführung des Richters bei Abwesenheit der Staatsanwaltschaft . . 562 Rekrutierung eines Richters aus dem Polizeidienst 563 Frühere Befassung mit der Sache als Staatsanwalt 564 Beteiligung von Zivilpersonen aus Interessengruppen 566 Persönliche Beziehungen eines Richters zu einem Zeugen 568 Ausübung mehrerer richterlicher Funktionen 570 (a) Teilnahme an zwei gerichtlichen Sachentscheidungen 570 (aa) Tätigkeit als erkennender Richter in zwei parallelen Strafprozessen zur selben Tat 570 (bb) Aufeinanderfolgende Entscheidung in einem Zivil- und Strafverfahren mit faktischem Bezug 571 (cc) Zweimalige Entscheidung über dieselbe strafrechtliche Anklage („judges sitting twice in the same capacity") 572 (aaa) Neuverhandlung in derselben Instanz bei Verurteilung in Abwesenheit („retrial") 572 (bbb) Zurückverweisung/Mitwirkung an einer aufgehobenen Entscheidung 574 (ccc) Aufhebung eines Einstellungsbeschlusses und spätere Tätigkeit als Richter in einem Rechtsmittelverfahren . . . 575 (b) Aufeinanderfolgende richterliche Tätigkeit in derselben Sache („successive exercise of different judicial functions") 577 (aa) Vornahme von Untersuchungen 579 (bb) Zeugenbefragung im Rahmen einer Voruntersuchung 581 (cc) Zwischenentscheidungen 582 (dd) Haftentscheidungen 586 (aaa) Erstmalige Anordnung der Freiheitsentziehung 586 (bbb) Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft 589 (8) Beratende und gerichtliche Funktion in derselben Angelegenheit 590 3. Kompensation und Reparation einer mangelnden Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit 591 4. Entscheidung über das Vorliegen einer Unparteilichkeit 593 III. Beruhen des Gerichts auf einer gesetzlichen Grundlage
596
IV. Umfassende Prüfungs- und Entscheidungskompetenz 1. Entscheidung über Tatsachengrundlage und Rechtsfragen 2. Vorverfahren
598 598 602
§ 6 Verhandlung über die strafrechtliche Anklage vor einem Gericht
606
I. Abschluss des Strafverfahrens ohne eine Verhandlung über die Anklage 1. Abschluss ohne Schulderkenntnis 2. Verzicht des Beschuldigten auf eine Verhandlung über die Anklage 3. Verhängung einer Strafe ohne Verhandlung über die Anklage II. Vorbereitung und Ablauf der Hauptverhandlung 1. Wechsel in der Besetzung des gerichtlichen Spruchkörpers 2. Befragung des Beschuldigten zu Beginn der Verhandlung über die Anklage 3. Akustische Probleme in der Hauptverhandlung
606 606 608 610 613 614 . . 615 616
Inhaltsverzeichnis 4. Verspätetes Vorbringen in der Hauptverhandlung 5. Dauer bzw. Kürze der Hauptverhandlung 6. Absprache im Strafprozess
XXI 618 619 620
III. Beweisaufnahme 623 1. Allgemeine Anforderungen der Konvention an die Beweiserhebung 623 2. Nichterhebung bzw. Nichtberücksichtigung von Beweisen 625 3. Verwertung von Beweisen, die nicht in der Hauptverhandlung erhoben wurden 626 4. Verzicht des Beschuldigten auf die unmittelbare Erhebung eines Beweises . . . 627 5. Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote 628 IV. Der strafprozessuale Zeugenbeweis 1. Der Zeugenbegriff der E M R K 2. Verwertung von Angaben eines Mitbeschuldigten 3. Regeln für die Erhebung des Zeugenbeweises 4. Ablehnung der Einvernahme eines Zeugen 5. Verwertung einer in der Hauptverhandlung widerrufenen Zeugenaussage . . . 6. Verwertung der Angaben eines Zeugen ohne dessen Einvernahme in der Hauptverhandlung a) Allgemeine Grundsätze b) Rügepflicht des Beschuldigten / Zurechnung des Verteidigerhandelns . . . . c) Gewährleistung der Verteidigungsrechte (1) Art und Umfang der Konfrontation / Befragung (2) Konfrontation des Zeugen mit dem Beschuldigten in Abwesenheit des Verteidigers (3) Ausnahmen vom Erfordernis der Konfrontation eines Belastungszeugen (a) Berücksichtigung weiterer Beweise (b) Unauffindbarkeit des Zeugen (c) Tod des Zeugen (d) Berufung des Zeugen auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (e) Schutz vor Repressalien im Drogenmilieu 7. Verwertung von Angaben anonymer Zeugen a) Existenz eines relevanten und ausreichenden Grundes für die Wahrung der Anonymität des Zeugen b) Wahrung der Rechte der Verteidigung („handicaps counterbalanced") . . . . (1) Allgemeine Grundsätze (2) Vernehmung einer Vernehmungsperson in der Hauptverhandlung . . . . (3) Richterliche Vernehmung des Zeugen in Anwesenheit des Verteidigers (Doorson) (4) Akustische Übertragung der richterlichen Vernehmung des Zeugen in einen Nebenraum (van Mechelen) (5) Akustische und visuelle Übertragung der Vernehmung des Zeugen in einen Nebenraum (6) Verkleidung / Schminken des anonymen Zeugen/Stimmverzerrung . . . . (7) Verwertung der Angaben eines anonymen Zeugen ohne Kompensation der Verteidigungsbeschränkungen (8) Heilung einer nicht kompensierten Beschränkung der Verteidigungsrechte vor den nationalen Gerichten
630 630 631 632 633 637 638 638 639 641 641 645 647 647 648 651 652 657 657 657 663 663 664 666 668 670 671 672 673
Inhaltsverzeichnis
XXII
c) Vorsicht bei der Verwertung von Angaben anonymer Zeugen 8. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung a) Ausschluss des Beschuldigten von der Verhandlung über die Anklage . . . . b) Vernehmung der Verhörsperson als Zeugen vom Hörensagen bei „gesperrten" Zeugen 9. Recht eines Zeugen zur Verweigerung der Aussage bei Gefahr der Selbstbelastung 10. Erhebung und Offenbarung medizinischer Daten eines Zeugen im Rahmen eines Strafverfahrens V. Der Sachverständigenbeweis 1. Auswahl und Bestellung einer Person zum Sachverständigen 2. Erhebung des Sachverständigenbeweises 3. Unterbliebene Einvernahme eines (bestimmten) Sachverständigen 4. Tätigkeit und Befragung eines Sachverständigen im Strafprozess 5. Beteiligung des Beschuldigten an der Tätigkeit des Sachverständigen 6. Beachtung der Unschuldsvermutung bei den Ausführungen des Sachverständigen VI. Öffentlichkeit der Verhandlung über die Anklage 1. Die öffentliche Verhandlung iSv Art. 6 Abs. 1 2. Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung 3. Heilung eines Verstoßes gegen den Offentlichkeitsgrundsatz 4. Ausschluss der Öffentlichkeit a) „Im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft" b) Schutz von Berufsgeheimnissen und des Privatlebens von Patienten 5. Verzicht des Beschuldigten auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung 6. Einflussnahme der Öffentlichkeit auf den Strafprozess 7. Öffentliche Kritik eines Verteidigers an der Justiz VII. Verhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten
674 675 675 677 681 687 693 693 696 697 700 703 705 707 707 708 710 711 711 712 713 714 719 721
VIII. Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten
729
§ 7 Entscheidung des Gerichts über die strafrechtliche Anklage
732
I. Das Verfahren der Urteilsbildung 732 1. Zulässigkeit von Vorberatungen des Gerichts 732 2. Teilnahme von Nichtmitgliedern des gerichtlichen Spruchkörpers an den Urteilsberatungen 734 3. Urteilsgrundlage 737 II. Inhalt und Aufbau des Urteils 1. Diskrepanz zwischen Anklage und Urteil 2. Nachweis der Tatschuld 3. Fehlerhafte Annahme einer Bindungswirkung einer gerichtlichen Entscheidung 4. Ausreichende Begründung a) Einlegung eines Rechtsmittels b) Begründung von Urteilen eines Rechtsmittelgerichts 5. Berücksichtigung eines nicht angeklagten Sachverhaltes bei der Strafzumessung
738 738 742 745 745 745 749 750
Inhaltsverzeichnis
XXIII
III. Öffentlichkeit der Urteilsverkündung IV. Mitteilung der Identität und des medizinischen Zustandes eines Zeugen im Urteil
752 . 756
V. Veröffentlichung der Verfahrensakte
756
VI. Beachtung der Unschuldsvermutung bei verfahrensbeendenden Entscheidungen . . 757 1. Verweigerung einer Kostenerstattung / Ablehnung einer Haftentschädigung . . 760 2. Auferlegung von Kosten in der verfahrensbeendenden Entscheidung 765 3. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung 765 § 8 Einrichtung eines Rechtsmittelverfahrens I. Pflicht der Vertragsstaaten zur Einrichtung eines Rechtsmittelverfahrens II. Zulässigkeit eines Rechtsmittels 1. Fristprobleme a) Frist für ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen eine Einstellungsverfügung b) Unterschiedliche Rechtsmittelfristen für die Verfahrensbeteiligten c) Sorgfaltspflichten des Beschuldigten bei der Einhaltung von Rechtsmittelfristen 2. Verhalten des Beschuldigten als Zulässigkeitskriterium des Rechtsmittels . . . . 3. Änderung der Verfahrensvorschriften nach Einlegung des Rechtsmittels . . . . 4. Mitteilung über den Termin, an dem über das Rechtsmittel entschieden wird . . 5. Mitteilung einer Frist zur Begründung des Rechtsmittels 6. Beschränkung der Rechtsmittelgründe 7. Zugang zum Protokoll bzw. Tonbandaufzeichnung von der Vorinstanz
767 767 768 768 770 771 772 773 775 776 777 778 779
III. Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung
780
IV. Abwesenheit des Beschuldigten in der Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht . . 1. Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts 2. Bedeutung / Auswirkung des Verfahrens („crucial importance") 3. Mitteilung über die Nichtzulassung des Beschuldigten zur Verhandlung . . . .
784 785 787 791
V. Nichtanrechnung der Haftzeit bis zur ablehnenden Entscheidung über ein erfolgloses Rechtsmittel VI. Änderung der strafrechtlichen Anklage im Verfahren vor einem Rechtsmittelgericht VII. Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der in einem anderen Land verhängten Strafe § 9 Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche I. Strafmündigkeit junger Menschen II. Gestaltung eines Strafverfahrens gegen Jugendliche III. Unterbringung Jugendlicher zum Zweck überwachter Erziehung (Art. 5 Abs. 1(d))
792 794 795 798 798 799 801
IV. Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer . . 803 § 10 Beteiligung von Privatpersonen am Strafverfahren
805
XXIV
Inhaltsverzeichnis
3. Teil Zur Motorfunktion der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte I. Funktionswandel in der Straßburger Rechtsprechung II. Nucleus eines Europäischen Strafverfahrensrechts (Zusammenfassung) III. Argumente für eine Motorfunktion der Straßburger Rechtsprechung 1. Bindungswirkung der Urteile für den verurteilten Vertragsstaat 2. Appellfunktion der Urteile für die am Verfahren nicht beteiligten Vertragsstaaten 3. Wahrung der staatlichen Souveränität 4. Kontroll- und Prüfungskompetenz des Gerichtshofs / Gebot der Zurückhaltung 5. Autonome Interpretation der Konventionsbestimmungen 6. Methodik der Rechtsvergleichung/Berücksichtigung bereits bestehender europäischer Standards 7. Flexibilität der Konventionsbestimmungen 8. Neutralität der Straßburger Rechtsprechung gegenüber allen europäischen Strafrechtsordnungen 9. Zugänglichkeit der Straßburger Rechtsprechung 10. Stärkung der Straßburger Rechtsprechung durch die Europäische Charta der Grundrechte
817 817 821 833 834 839 841 843 847 848 851 855 856 857
IV. Argumente gegen eine Motorfunktion der Straßburger Rechtsprechung 859 1. Gesamtansatz / Ungenauigkeiten bei der Formulierung der Entscheidungsgründe 860 2. Staatenbezogene Pflicht zur Gewährleistung der Konventionsgarantien 864 3. Sprachliche Fassung der Urteile 865 4. Konsistenz der Rechtsprechung - Abstimmung der Spruchkörper untereinander 867 V. Auswirkungen der Straßburger Rechtsprechung für die deutsche Rechtsordnung . . 868 1. Zur Rangstellung der E M R K im Normengefüge 868 2. Berücksichtigung der Straßburger Rechtsprechung durch die deutschen Gerichte 870 4. Teil Ausblick
875
Literaturverzeichnis
883
Sachregister
901
Abkürzungsverzeichnis a.A. aaO abl. AB1EG Abs. a.E. a.F. AG AIDP AJIL Alt Anm. Art. Aufl. BÄK BAnz. BayObLG Bf. Bd. BDSG BezG BF BGBl. BGH BGHSt BKA BMI BMJ BR-Dr BT-Dr BVerfG BVerfGE BVerwG bzgl. bzw. CJ CPP CPS ders.
anderer Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz am Ende alte Fassung Amtsgericht Association Internationale de Droit Penal American Journal of International Law Alternative Anmerkung Artikel Auflage Blutalkoholkonzentration Bundesanzeiger Bayerisches Oberstes Landesgericht Beschwerdeführer/in Band Bundesdatenschutzgesetz Bezirksgericht Belgische Francs Bundesgesetzblatt (Nr./Jahrgang/Seite) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundeskriminalamt Bundesministerium des Innern Bundesministerium für Justiz Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht bezüglich beziehungsweise Corpus Juris Code Procedure Penal Crown Prosecution Service derselbe
XXVI DM DOK DPP DRiZ Drucks. KOM DVB1. EUC/ECR EG
EGKS EGMR EGStGB EGV Einl EJN EKMR EMRK ERA ESC ESP ETS EU
EuAuslUbk EuGH EuGRZ EURhÜbk EuRhÜbk EUV EuZW EWG f./ff. FAZ FF/FRF Fn. FS g/L G10-Gesetz GA GBl.
Abkürzungsverzeichnis Deutsche Mark Dokument Public Prosecution Office Deutsche Richterzeitung Drucksache der Kommission Deutsches Verwaltungsblatt Charta der Grundrechte Europäische Gemeinschaft bzw. Gemeinschaften Vertrag über die Europäische Gemeinschaft (Fassung nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages) Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Fassung vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages) Einleitung Europäisches Justitielles Netz Europäische Kommission für Menschenrechte Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention) Europäische Rechtsakademie Trier Portugiesische Escudos Spanische Peseten European Treaty Series Europäische Union Vertrag über die Europäische Union (Fassung nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages) Europäisches Auslieferungsübereinkommen von 1957 Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Rechtshilfeübereinkommen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29.5.2000 Europäisches Rechtshilfeübereinkommen von 1959 Vertrag über die Europäische Union (Fassung vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Französische Francs Fußnote Festschrift Gramm pro Liter Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz) Goltdammer's Archiv für Strafrecht Gesetzblatt
Abkürzungsverzeichnis gem. GG ggf· GKG GMB1. GrS GVG GYIL Halbs./Hs. h.M. HRLJ Hrsg. idF idR i.E. iHv ILO IPBPR IRA iSd IstGH iSv iVm JA JGG JöR JR Jura JurBüro JuS JZ kg KG KK KOM krit. KritV KVGKG Lfg. LG m. MDR m.E. MRK mwN n.F. NJW
XXVII
gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Gemeinsames Ministerialblatt Großer Senat Gerichtsverfassungsgesetz German Yearbook of International Law Halbsatz herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber in der Fassung bzw. in der Form in der Regel im Ergebnis in Höhe von Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966 Irish Republican Army im Sinne des Internationaler Strafgerichtshof im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristisches Büro Juristische Schulung Juristenzeitung Kilogramm Kommanditgesellschaft Karlsruher Kommentar Dokument der Kommission kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kostenverzeichnis zum Gerichtskostengesetz Lieferung Landgericht mit Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Europäische Menschenrechtskonvention mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift
XXVIII NLG No./Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ NZV OECD OLAF OLG OrgKG OVG OWiG ÖJZ ÖRiZ ÖS öStGB öStPO öStVO PG PKK PTT RAF Rn. RiStBV ROW S. Satorius II SchwZStrR SDÜ SEK SF SKK Slg. s.o. sog. SIS sStGB spStGB StA StGB StPO str. StrEG StuW StV
Abkürzungsverzeichnis Niederländische Gulden Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungs Report Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung Oberlandesgericht Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Österreichische Juristenzeitung Österreichische Richterzeitung Österreichische Schilling österreichisches Strafgesetzbuch österreichische Strafprozessordnung österreichische Straßenverkehrsordnung Parlamentarisches Gremium Kurdische Arbeiter Partei Schweizerisches Post- und Fernmeldeamt Rote Armee Fraktion/Royal Air Force Randnummer Richtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren Recht in Ost und West Seite Loseblatt-Textsammlung „Internationale Verträge - Europarecht" Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Schengener Durchführungsübereinkommen Schwedische Kronen Schweizer Franken Slowakische Kronen Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften siehe oben sogenannte(r) Schengener Informationssystem Schweizerisches Strafgesetzbuch Spanisches Strafgesetzbuch Staatsanwaltschaft Strafgesetzbuch Strafprozessordnung streitig Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Steuern und Wirtschaft Der Strafverteidiger
Inhaltsverzeichnis St VAG 1999 StVO s.u. SZ TDSV TKG TÜ TV u.a. UCLAF UVollzO UWG UzE Übk V.
vgl. vo Vol. Vorbem. wistra ZaöRV ZBJI ZfStrVO zit. ZLR ZP ZPO ZRP ZStW
XXIX Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 Straßenverkehrsordnung siehe unten Süddeutsche Zeitung Telekommunikations-Datenschutzverordnung Telekommunikationsgesetz Telefonüberwachung Trierischer Volksfreund und andere/unter anderem Unite de coordination de la lutte anti-fraude Untersuchungshaftvollzugsordnung Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Entscheidung über die Unzulässigkeit einer Beschwerde Übereinkommen vom vergleiche Verordnung Volume Vorbemerkungen Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für Strafvollzug zitiert Zeitschrift für Lebensmittelrecht Zusatzprotökoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
1. Teil Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
I.
Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
1.
Problematik eines uneinheitlichen Rechts trotz politischer Einheit
Auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Privatrechts sowie in weiten Bereichen des Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsrechts ist der Aufbau einer europäischen Rechtsordnung schon weit fortgeschritten. Träger dieser Entwicklung sind im wesentlichen die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften, denen auf den genannten Rechtsgebieten weitreichende Kompetenzen zustehen, mit deren Hilfe sie eine Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften effektiv und zügig vorantreiben können. Ein Garant dieser Entwicklung ist sicherlich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg, der sich in vielen Entscheidungen als verlässlicher Rückhalt eines europäischen Einigungsgedankens erwiesen hat. Welche Rolle spielt das Strafrecht in diesem politischen Prozess der Vereinheitlichung nationaler Rechtsordnungen? Nationalstaatliche Souveränität kommt auf dem Gebiet des Strafrechts besonders stark zum Ausdruck. Gemeinhin gilt das Strafrecht der europäischen Staaten als national, als staatlich, ja gar als Spiegel über Jahrhunderte gewachsener unterschiedlicher Wertvorstellungen und Kulturbedingungen.1 Der Institution des Strafprozesses wird sogar die Rolle eines Prüfstands für den Stand der Grund- und Menschenrechte als auch für das Staats- und Gesellschaftsverständnis eines jeden Staates zugeschrieben.2 Dabei ist Europa am Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus auf dem Weg zu einer Wertegemeinschaft. Für das Erstarken gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele in Europa steht der im Dezember 2000 von den Staats- und Regierungschefs der derzeit fünfzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union proklamierte Entwurf einer Charta der Grundrechte. 3 Wenngleich diese Charta derzeit noch ohne jede rechtliche Verbindlich1 2 3
Zuleeg JZ 1992, 761,762. Jung StV 1990, 509. Siehe die Beilage zur NJW, Heft 49/2000, sowie die entsprechenden Beilagen zur NVwZ, EuZW und JuS.
2
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
keit ist und die Wege zu ihrer Integration in das Europäische Gemeinschaftsrecht lebhaft diskutiert werden, so ist sie doch ein Symbol für eine zusammenwachsende politische Gemeinschaft von fünfzehn, mit zum Teil ganz unterschiedlichen Rechtstraditionen ausgestatteten Staaten, in denen gesellschaftliche Grundwerte konsensfähig werden. Auch das Strafrecht kann und wird sich auf Dauer einer zunehmenden internationalen und europäischen Dimension nicht verschließen können. Wenn es tatsächlich den negativ formulierten Wertespiegel einer Gesellschaft abgibt4, ist in Zukunft einiges an strafrechtlicher Dynamik in Europa zu erwarten. Vor diesem Hintergrund muss die Notwendigkeit und der Nutzen einer zunehmenden Internationalisierung und Europäisierung der nationalen Strafrechtsordnungen kritisch hinterfragt werden. Als klassisches Einfallstor für die Internationalisierung des nationalen Strafrechts gelten die Regeln des sog. internationalen Strafrechts. Tatsächlich entscheiden diese Bestimmungen aber lediglich darüber, ob das nationale Strafrecht auf Strafsachen mit Auslandsbezug Anwendung findet. Sie stellen also in Wahrheit gerade kein „internationales Strafrecht" dar.5 Ein Bereich, in dem sich die internationalen Bezüge und Verflechtungen des Strafrechts besonders stark herauskristallisieren, ist die Internetkriminalität. Als Indiz dafür, dass das Strafrecht zunehmend internationalen Strömungen ausgesetzt ist, haben auch die vor deutschen Gerichten verhandelten Kriegsverbrechen aus dem ehemaligen Jugoslawien und die dabei ausgesprochenen Verurteilungen zu gelten.6 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auf die Regeln des Völkerstrafrechts hingewiesen.7 Hier konnte auf supranationaler Ebene mit dem am 17. Juli 1998 in Rom unterzeichneten Statut für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH) ein Meilenstein auf dem Weg zu einem internationalen Menschenrechtsschutz gesetzt werden.8 Ein aus Sicht der Rechtswissenschaft drängenderes Betätigungsfeld stellen die europäischen Einflüsse auf die nationalen Strafrechtsordnungen dar. Bereits im Mai 1997 4
5 6
7
8
Sojedenfalls: Tiedemann in: Kreuzer u.a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, S. 133, 134. In der Bundesrepublik Deutschland sind dies die §§ 3-9 StGB. Zur Internetkriminalität: BGH, NJW 2001, 624 (Verbreitung der Auschwitzlüge über das Internet); zur Verurteilung wegen Völkermordes (§ 220a StGB): BVerfG, NJW 2001,1848; BGHSt 45,64; BGH, NJW 2001, 2728. Siehe zur Bedeutung und Entwicklung des Völkerstrafrechts: Werle ZStW 109 (1997) 808ff.;ders. JZ 2000, 755ff.;Safferling JA 2000, 164ff.; Eisele JA 2000, 424ff. Vgl. hierzu: Gesetz zum Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 17. 7. 1998 (IStGHStatutgesetz) vom 4.12.2000 (BGBl. 2000 II 1393-1483). Auf einer Folgekonferenz im März 2001 wurde weitgehend Einigkeit über Immunitätsregeln, die Finanzverfassung sowie über das Verhältnis des Gerichts zu den Vereinten Nationen erzielt. Für die Arbeitsaufnahme des Tribunals müssen 60 der insgesamt 139 Unterzeichnerstaaten das Gerichtsstatut ratifizieren. Aus historischer Verantwortung ist es zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutschland das Errichtungsstatut bereits am 10.12.1998 unterzeichnet und als 25. Staat am 11.12.2000 ratifiziert hat. Mit Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde am 11.4.2002 tritt das Römische Statut am 1. Juli 2002 in Kraft. Als größter Beitragszahler (20 %) steuert Deutschland einen maßgeblichen Anteil zum Aufbau des Tribunals bei, das voraussichtlich Anfang 2003 seine Arbeit aufnehmen kann (SZ Nr. 59 v. 12.3.2001; Nr. 101 v. 3.5.2001, S. 6/7).
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
3
haben Nelles und Pieth in ihren Vorträgen auf der Berliner Strafrechtslehrertagung auf die zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen und den verschiedenen europäischen Ebenen (Europarat, Europäische Union, Schengen-Verbund) bestehenden Wechselwirkungen und Verflechtungen hingewiesen. Konkrete Kontakte der nationalen Strafrechtsordnungen mit den europäischen Ebenen bestehen über die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK) 9 , die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) 10 , die strafrechtlichen Konventionen des Europarates11, durch die beiden Schengener Übereinkommen nebst Assoziierungsabkommen 12 sowie über die auf Titel VI des Amsterdamer EU-Vertrages basierenden Rechtsakte und Übereinkommen auf dem Gebiet der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa. Auch das Strafverfahrensrecht kann sich dem Einfluss europäischer Rechtsinstitutionen und Gesellschaftsentwicklungen nicht entziehen. Die europäischen Bezüge der nationalen Strafverfahrensrechte haben mittlerweile eine Bandbreite erreicht, die eine Betrachtung des nationalen Strafprozessrechts - zumindest auch - aus europäischer Perspektive erforderlich macht. Um so erstaunlicher mutet es an, dass die nationalen Strafrechtswissenschaften die zunehmende Europäisierung ihrer Strafprozessordnungen lange Zeit nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit begleitet und durchleuchtet haben. Das mag sicherlich auch daran liegen, dass sich der wenig transparente Prozess der Europäisierung des Strafrechts nur sehr schleichend vollzogen hat und auch heute noch vollzieht, was ihn von nationalen Rechts- und Gesetzesreformen deutlich unterscheidet, die - zumindest in der Vergangenheit - von einer intensiven wissenschaftlichen Ausein-
9
Siehe hierzu das deutsche Zustimmungsgesetz vom 7.8.1952 (BGBl. 1952 II 685,953). Artikelangaben in dieser Arbeit ohne Gesetzesangabe sind solche der EMRK. 10 Die Aufgaben und Zuständigkeiten des EGMR sind in den Art. 19-51 der EMRK geregelt. " Siehe die Auflistung der Europaratskonventionen unter http://www.coe.int („Documentary Search European Treaties; jeweils mit aktuellem Ratifikationsstand); vgl. ebenso die Zusammenstellung der Konventionen zur Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts bei: Kühne § 3 Rn. 85. 12 Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14.6.1985 (GMB1. 1986, 79); Übereinkommen zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Durchführung des am 14.6.1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19.6.1990 - Schengener Durchführungsübereinkommen/SDÜ (BAnz. Nr. 217a v. 23.11.1990; Ratifizierungsgesetz v. 15.7.1993 (BGBl. 1993 II 1010,1994 II 631, 1996 II 242, 1997 I 1606); Übereinkommen vom 19. Dezember 1996 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zum Schengener Durchführungsübereinkommen; Assoziierungs-Übereinkommen mit der Republik Island und dem Königreich Norwegen vom 18. Mai 1999 (BGBl. 2000 II 1106-1129; BT-Dr 14/3247, 14/3389); Inkraftsetzung des SDÜ für die Staaten der Nordischen Passunion (AB1EG Nr. L 239 v. 22.9.2000) zum 25.3.2001 (SIS bereits zum 1.1.2001). Island und Norwegen dürfen nur an den Diskussionen über Schengen teilnehmen, haben aber bei den Beschlüssen kein Stimmrecht (Protokoll zum Schengen-Besitzstand vom 2.10.1997 als Anhang zum Vertrag von Amsterdam); vgl. auch: Schomburg NJW 2001,801,802.
4
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
andersetzung begleitet wurden. Internationale Abkommen werden nicht sofort mit ihrer Zeichnung in jedem Mitgliedstaat wirksam, sondern müssen einen zeitaufwendigen Prozess der Ratifizierung in den jeweiligen nationalen Parlamenten und Gremien durchlaufen. So ist beispielsweise das 1990 gezeichnete, seinerseits auf dem Schengener Übereinkommen vom 14.6.1985 beruhende Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19.6.1990 über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen am 1.9.1993 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten.13 Zudem leiden die europäischen Bezüge des Strafrechts immer noch unter einem gewissen Dokumentationsdefizit, an dem einige europäische Institutionen sicher nicht ganz schuldlos sind.14 Ein großes Hindernis für die Angleichung oder wenigstens Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen im Allgemeinen und des Strafprozessrechts im Besonderen ist, dass das Strafrecht immer noch als Festung nationaler Souveränitätsansprüche angesehen wird und nationale Eitelkeiten mit erstaunlicher Hartnäckigkeit verteidigt werden. Harmonisierungsvorhaben werden von den Staaten Europas mit einem Verlust an Souveränitätsrechten in Verbindung gebracht. Die Beschreibung dieses Zustandes, der oftmals auch als konkreter Vorwurf verklausuliert wird, ist keinesfalls neu. Er wird von Vertretern der Strafrechtswissenschaft schon seit Jahren kontinuierlich und gebetsmühlenartig beklagt.15 Richtig ist, dass das Strafverfahrensrecht, verstanden als Summe aller Rechtsregeln, mit denen ein Staat auf das delinquente Verhalten seiner Bürger reagieren kann, seit jeher als Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols verstanden wird. Ebenso zutreffend ist die Aussage, dass sich die staatliche Souveränität auch in Zukunft als schwer zu überwindende psychologische Hemmschwelle bei der Strafrechtsangleichung erweisen wird.16 Verwundern darf das nicht. Solange nämlich Modelle einer europäischen Strafverfahrensordnung fehlen, werden die nationalen Gesetzgeber auf das „bewährte" nationale Strafrecht zurückgreifen, um ihren staatlichen und verfassungsrechtlichen Schutzpflichten zu entsprechen. Hier rächt sich, dass dem politischen Prozess einer Europäisierung des Strafverfahrens der nötige wissenschaftliche Unterbau fehlt, mit dessen Hilfe eine Menge an Überzeugungsarbeit geleistet werden könnte. Davon abgesehen muss kritisch überprüft werden, ob der in der Frage nationaler Souveränitätsansprüche allgemein vorherrschende Pessimismus wirklich rational begründet ist. Derzeit bestehen in Europa höchst unterschiedliche Strafrechtsordnungen, die sich hinsichtlich des Zusammenspiels der unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten in die zwei Grundtypen des adversatorischen bzw. inquisitorischen Strafverfahrens und vier Grundmodelle einteilen lassen: das angelsächsische Rechtssystem, den romanisch-französischen
13 14
15
16
BGBl. 1994 II 631. Zur mangelhaften Dokumentation und kostenpflichtigen Information bei Rechtsakten der EU: Schomburg NJW 2000, 340, 341; ders. NJW 2001, 801, 802, Fn. 15. Vgl. JunglSchroth GA 1983, 241, 242 - „Reservat staatlicher Macht"; Nelles ZStW 109 (1997) 727; Dannecker Jura 1998, 79, 80; Weigend ZSW 105 (1993) 774, 775. So bereits: JunglSchroth GA 1983, 241, 253.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
5
Rechtskreis, die germanisch-deutsche Gruppe und die skandinavischen Länder.17 Gemeinsamkeiten in der Ausgestaltung nationaler Strafrechtsordnungen lassen sich vor allem bei Staaten nachweisen, die politisch eng miteinander verbunden sind, wie beispielsweise die skandinavischen Länder, oder gemeinsame historische Wurzeln haben. Untereinander sind die verschiedenen europäischen Strafrechtsmodelle, geschweige denn die einzelnen nationalen Strafrechtsordnungen, wenig kompatibel.18 Obwohl das Strafrecht in allen europäischen Staaten dem Schutz gesellschaftlich anerkannter Rechtsgüter dient, bestehen bereits zur Funktion des Strafrechts erhebliche Divergenzen. Das kann nicht ohne Folgen für das Strafverfahrensrecht bleiben, das europaweit in zum Teil sogar ganz wesentlichen Fragestellungen erheblich voneinander abweicht. Vor allem der Aufbau und die Zusammensetzung der Strafgerichte, die Voraussetzungen und Eingriffsschwellen für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, die Regeln zur Gewinnung und Verwertung von Beweisen und deren anschließende Verwertung im gerichtlichen Strafprozess sowie der Umfang von Beschuldigtenrechten, namentlich das Recht zur Aussageverweigerung, werden auf nationaler Ebene höchst unterschiedlich geregelt. Schon in der elementaren Frage, ob ein Strafverfahren vom Legalitäts- oder Opportunitätsprinzip geprägt ist, lässt sich europaweit keine einheitliche Linie ausmachen.19 Vielfach sind der justitiellen Praxis die in den jeweils anderen europäischen Staaten bestehenden Divergenzen und Inkompatibilitäten gar nicht im vollen Umfang bekannt. Sie werden meist erst bei der Bearbeitung eines Rechtshilfeersuchens oder im Rahmen eines Strafprozesses offenkundig, der eine Fragestellung mit Auslandsbezug aufwirft. Dann prallen nicht selten bisher unbekannte juristische Sprachstile und Argumentationsmuster aufeinander. Eine besondere Schwierigkeit auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts besteht noch darin, dass den einzelnen Stadien im Ablauf eines Strafverfahrens in den verschiedenen europäischen Strafverfahrensordnungen eine höchst unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird. So hat beispielsweise die in Frankreich oder den Niederlanden von einem Untersuchungsrichter durchgeführte Voruntersuchung für die Hauptverhandlung und den Ausgang des Strafverfahrens eine sehr viel größere Bedeutung als die Entscheidungen eines Ermittlungsrichters in Deutschland.20 Eine abschließende Bewertung, wie eine bestimmte strafprozessuale Fragestellung in einem anderen europäischen Staat be-
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Weigend unterscheidet noch einen dritten, konsensualen Verfahrenstyp (ZStW 104 (1992) 486, 489). Konsensuale Elemente enthalten jedoch sowohl der inquisitorische als auch der adversatorische Verfahrenstyp. Überhaupt können die einzelnen Verfahrenstypen nicht streng voneinander getrennt werden; vgl. allgemein: Götz JZ 1994, 265. Vgl. Rüter ZStW 105 (1993) 30, 32f., zur unterbliebenen Übernahme der niederländischen Regelungen in „Terroristen-Verfahren" auf RAF-Verfahren in Deutschland. Zur unterschiedlichen Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts in Europa: Kühne § 3 Rn. 47, 64; ders. StV 2001, 73, 74; van den Wyngaert (Hrsg.), Criminal Procedure Systems in the European Community; Perron (Hrsg.), Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands; ders. in: Dörr/ Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 142; Eser ZStW 108 (1996) 86ff.; Weigend ZStW 104 (1992) 486,489 ff. Kühne § 3 Rn. 48, § 72; Perron ZStW 112 (2000) 202, 212; Eser ZStW 108 (1996) 86, 88 f.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
handelt wird, lässt sich meist erst auf der Grundlage eines umfassenden Systemvergleichs erzielen. Dabei sind auch die Wechselwirkungen in Rechnung zu stellen, die zwischen dem materiellen Strafrecht, dem Strafverfahrensrecht, dem Sanktionenrecht und dem Strafvollstreckungsrecht bestehen. Weil die nationalen Strafverfahrensordnungen nicht nur komplexe, sondern auch dynamische Systeme darstellen, dürfte klar sein, dass im Rahmen eines Strafprozesses die erforderliche Analyse eines in ihrer Terminologie oft erheblich von der eigenen Rechtsordnung abweichenden ausländischen Strafverfahrensrechts gar nicht zu leisten ist. Mittlerweile tauchen Urteile deutscher Gerichte auf, aus denen hervorgeht, dass der Justiz eines anderen europäischen Staates bestimmte Rechtsfragen zur Begutachtung vorgelegt wurden. Eine solche Rechtsauskunft ist oftmals mit einem erheblichen Zeitverlust verbunden, der in Hinblick auf die von Art. 6 Abs. 1 geforderte Beendigung des Strafverfahrens innerhalb angemessener Frist nicht zu tolerieren ist.21 Unabhängig davon, dass die nationalen Strafrechtsordnungen bereits einem Prozess europäischer Infiltration unterliegen, muss man die Frage stellen, ob gegenwärtig überhaupt eine Notwendigkeit für eine umfassende Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte besteht. Möglicherweise ist der derzeitige Zustand einer Koexistenz mehrerer souveräner nationaler Strafverfahrensrechte gar nicht so beklagenswert, wie immer behauptet wird. So werden denn in der deutschen Strafrechtswissenschaft der Nutzen und die Notwendigkeit eines „Europäischen Strafrechts" im Allgemeinen und eines Europäischen Strafverfahrensrechts im Besonderen offen in Frage gestellt. Einige Stimmen sprechen sich sogar ausdrücklich gegen eine Nivellierung und Einebnung gewachsener Rechtskulturen, Traditionen und nationaler Besonderheiten durch ein europäisches Strafrecht aus.22 Vereinzelt wird bezweifelt, ob sich das nationale Strafrecht, welches die durch die jeweilige Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geprägten Rechtsgüter schützen soll, überhaupt als Gegenstand einer Rechtsvereinheitlichung eignet.23 Auch die deutsche Politik zeigt sich eher skeptisch. In ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass ihrer Ansicht nach eine Angleichung von Rechtsvorschriften in der Europäischen Union anzustreben ist, um die Organisierte Kriminalität, den Terrorismus, den illegalen Drogenhandel sowie den Betrug und die Korruption innerhalb der EU wirksam bekämpfen zu können. Zugleich hat sie erhebliche Zweifel daran angemeldet, dass es in absehbarer Zeit ein einheitliches europäisches Straf- oder Strafverfahrensrecht geben wird. Diese Zweifel hat sie mit den
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Vgl. den Anfragebeschluss des B G H v. 13.5.1997 (= N S t Z 1998, 149) zum Strafklageverbrauch nach Art. 54 S D Ü durch einen im belgischen Recht vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Vergleich („administratieve transactie") und das Urteil v. 2.2.1999. N S t Z 1999, 250. 22 Weigend ZStW 105 (1993) 774, 786; und zum Strafverfahrensrecht, 792: „sofern man überhaupt an dessen Vereinheitlichung denkt"; Jescheck, wiedergegeben in den Tagungsberichten von: Küpper ZStW 103 (1991) 980,992; Vitt ZStW 105 (1993) 803, 817; vgl. auch Rüter ZStW 105 (1993) 30, 3 3 f f ; Sieber JZ 1997, 369, 373; Klip N S t Z 2000, 626, 629; skeptisch zur Entstehung eines Strafgesetzbuchs für alle Staaten der Europäischen Union: Eisele JA 2000, 896, 897.
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JunglSchroth G A 1983,241, 242.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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Strukturunterschieden des Straf- und Strafverfahrensrechts begründet, die ihrerseits auf den verschiedenen Rechtstraditionen in den EU-Staaten beruhen.24 Die Forderung nach einer Angleichung des Straf- und Strafverfahrensrechts muss bei der Suche nach dem politisch Notwendigen und Realisierbaren beginnen.25 Bei der diesbezüglichen Debatte wird die Funktion des Strafrechts als Stabilitätsfaktor für eine politische Einheit der Staaten Europas vielfach unterschätzt. Dabei sind die kosmopolitischen und universellen Elemente des Strafrechts durchaus offenbar: die Suche nach Gerechtigkeit, die Gleichheit der Bürger vor dem Staat und nicht zuletzt die Rechtssicherheit.26 Dieser Befund deutet darauf hin, dass strafrechtliche Traditionen offensichtlich immer noch der nationalen Machterhaltung und Identitätsbildung dienen. Genährt wird die Inbesitznahme des Strafrechts durch die Nationalstaaten durch das Verständnis vom modernen Staat, in dem die Innere Sicherheit als spezifische Aufgabe des Staates angesehen wird, zu dessen Gunsten die Bürger auf die Ausübung von Gewalt weitestgehend verzichtet haben und dem dafür eine positive Pflicht zum Schutz seiner Untertanen vor strafbaren Handlungen obliegt.27 Die unterschiedliche Ausgestaltung nationaler Strafrechtsordnungen innerhalb einer immer weiter zusammenwachsenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einheit birgt die Gefahr regionaler Verschiebungen. Auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts wird das häufig transparenter als im Strafverfahrensrecht.28 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion über die Einführung der Regeln zum Schwangerschaftsabbruch in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung oder an die Debatte um den Abtreibungs- und Drogentourismus in die Niederlande. In jüngster Zeit haben die Schweiz und die Niederlande das Recht der Sterbehilfe entkriminalisiert. Ein ärztliches Verhalten, das in Deutschland ohne weiteres als aktive und damit strafbare Sterbehilfe angesehen würde, wird in beiden Ländern - unter bestimmten Voraussetzungen - straflos gestellt. Erste Fälle, in denen sich deutsche Patienten „zum Sterben" in die Schweiz begeben haben, sind bereits bekannt. 29 Ebenso hat die Schweiz die Zulassung verschiedener Hanfprodukte als Arzneimittel angekündigt. Mitte der 90er Jahre bemühte sich Frankreich, die durch das SDÜ weggefallenen Grenzkontrollen wieder einzuführen, da es einen Anstieg der Drogendelinquenz infolge der liberaleren niederländischen Drogenpolitik befürchtete. Solche Divergenzen auf dem Gebiet des Strafrechts können nicht im Interesse eines zusammenwachsenden Europas liegen. Am Ende steht die Gleichbehandlung der Unionsbürger auf dem Spiel. 24
25 26 27 28 29
Antwort der Bundesregierung (BT-Dr 14/4991) auf eine Große Anfrage der CDU/CSU (BT-Dr 14/1774), vgl. Blickpunkt Bundestag, Heft 1/2001, S. 43. Johannes ZStW 83 (1971) 531, 546. Ebenso: Sieber ZStW 103 (1991) 957, 959; kritisch hierzu: Weigend ZStW 105 (1993) 774, 785. Hierzu: Pitschas JZ 1993, 857, 858. Siehe die anschaulichen Beispiele bei: Räter ZStW 105 (1993) 30, 35-37; Sieber JZ 1997, 369, 375. Zur Euthanasie-Debatte betreffend die niederländische Gesetzgebung : SZ Nr. 66 v. 20.3.2001, S. 16 („Tipps für einen ,milden Tod'"); Nr. 82 v. 7./8.4.2001, S. 11 („Ein Kampf um Leben und Tod"); Nr. 175 v. 1.8.2001, S. 7 („UN rügen Den Haager Gesetz zur Sterbehilfe"). Das vom niederländischen Senat im April 2001 ratifizierte Gesetz zur Sterbehilfe ist am 1.4.2002 in Kraft getreten. Im Mai 2002 hat auch Belgien ein Gesetz zur aktiven Sterbehilfe verabschiedet.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Auch bei der Strafverfolgung können sich regionale Verschiebungen aufgrund uneinheitlicher Strafrechtssysteme einstellen. Auf die angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltung der europäischen Justizsysteme entstehende Problematik eines Befugnis-, Gerichtsstands- und Beweismittel-Shopping - Begriffe, die in Anlehnung an die parallelen Probleme beim zivilprozessualen Gerichtstandswechsels entstanden sind - hat Kühne bereits hingewiesen.30 Sie erlauben es dem Tatverdächtigen, sich in einem gewissen Grade zum „Herren des Ermittlungsverfahrens" aufzuschwingen. Die hierdurch europaweit bedingten Ungleichbehandlungen sind inakzeptabel. Eine zugleich den Erfordernissen einer effektiven Strafrechtspflege wie auch den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit Rechnung tragende Lösung lässt sich über eine Harmonisierung der nationalen Beweis- und Befugnisnormen erreichen. Die universelle Anerkennung sämtlicher auf nationaler Ebene zulässigerweise erhobenen Beweise in Strafverfahren in den jeweils anderen europäischen Staaten würde dagegen die Umgehung der auf nationaler Ebene bestehenden Verwertungsverbote und Eingriffsbeschränkungen erleichtern und - wenn überhaupt - einer Angleichung der nationalen Strafrechtsordnungen, speziell der Voraussetzungen für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, „auf niedrigstem Niveau" Vorschub leisten.31 Die Außerachtlassung nationaler Schranken bei der Verwertung international zusammengetragener Beweise begegnet erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken und wäre zugleich Wasser auf die Mühlen nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche im Bereich des Strafrechts. Andererseits ist aber im Interesse der Wahrheitsfindung und materiellen Gerechtigkeit eine wechselseitige und umfassende Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise durchaus wünschenswert. Die Berufung eines Strafgerichts auf einen strafprozessualen „ Ordre public" - also der „Verzicht" auf einen im Ausland gewonnenen Beweis wegen der dort fehlenden Anerkennung einer im eigenen nationalen Recht vorhandenen Beschränkung bei der Beweisgewinnung - wäre zwar mit dem Beschuldigtenschutz vereinbar, würde aber den Glauben der Bürger an die Gerechtigkeit auf Dauer nachhaltig in Frage stellen.
2.
Transnationale Aspekte der Kriminalität
Vielleicht der wichtigste Grund, der für eine Vereinheitlichung der nationalen Strafprozessordnungen und die Notwendigkeit eines harmonisierten europäischen Strafverfahrensrechts ins Feld geführt werden kann, ist die immer weiter zunehmende Internationalität der Kriminalität in Europa. Durch die Öffnung der gemeinsamen Grenzen in Europa, die im europäischen Gemeinschaftsrecht angelegte Freizügigkeit des Personen· und Warenverkehrs, die Verwirklichung des Konzepts eines europäischen Binnenmarktes und die sich europaweit verdichtenden Geschäfts- und Wirtschaftsbeziehungen ist in den letzten Jahren eine neue kriminalpolitische Situation entstanden. Die Zahl der 30
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Kühne in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 85, 92; ders. § 3 Rn. 48. Kühne § 3 Rn. 48.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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Straftaten mit internationalem Bezug hat zugenommen. Das gilt vor allem, aber nicht nur für den klassischen Bereich der grenzüberschreitenden Wirtschaftskriminalität, wo viele Strafverfahren aufgrund ihrer Auslandsberührung innerhalb der nationalen Grenzen eines Staates nicht mehr wirksam bekämpft werden können.32 Immer häufiger sind die nationalen Strafverfolgungsbehörden mit Sachverhalten befasst, die relevante Anknüpfungspunkte in mehreren europäischen Staaten besitzen und die europaweite Vornahme strafprozessualer Zwangsmaßnahmen erfordern. Die viel beschworene „innere" Sicherheit lässt sich nicht mehr allein im nationalen Rahmen garantieren. Ihr Auftrag zwingt nicht nur zu Verbesserungen auf dem Gebiet der internationalen Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden, sondern auch zur Angleichung elementarer Bereiche des Strafverfahrensrechts. Mafiöse Organisationen operieren längst mit professionellen Methoden und modernsten technischen Mitteln über die nationalen Grenzen hinweg. Wenn sie in Verdacht geraten, tauchen sie in Staaten unter, die keine Rechtshilfe gewähren und in denen sie vor Auslieferung sicher sind. Technische Innovationen wie etwa den bargeldlosen Zahlungsverkehr, das Online-Banking oder die Kommunikation über das Internet macht sich das organisierte Verbrechen zunehmend zunutze.33 Migration und Mobilität prägen das Leben unserer Zeit. Das Ansteigen der Straftaten mit internationalem Bezug hat die nationalen Strafverfolgungsbehörden für eine europäische Zusammenarbeit sensibilisiert. So herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass die transnationalen Aspekte der Kriminalität zumindest in einigen Bereichen eine Angleichung der Vorschriften des materiellen Strafrechts erforderlich machen. Bestes Beispiel hierfür sind die über das Internet verübte Kriminalität und der Kreditkartenmissbrauch. Hier zeichnet sich auf EU-Ebene ein Trend in Richtung einer Rechtsvereinheitlichung ab. Neben den materiellen Vorschriften zum Schutz bestimmter Rechtsgüter besteht auch ein Bedarf für eine Harmonisierung im Bereich der Verfolgung von Straftaten und der Bekämpfung der internationalen Kriminalität als solcher. Es ist vor allem die Durchführung des eigentlichen StrafVerfahrens, das die nationalen Justizbehörden vor erhebliche rechtliche und faktische Probleme stellt, vor allem bedingt durch parallele Zuständigkeiten und nicht aufeinander abgestimmte Verfahrensrechte. Im Bereich der Organisierten Kriminalität besteht immer die Gefahr, dass strafrechtliche Ermittlungen in verschiedenen Staaten parallel geführt werden. Will dann ein Strafgericht nach Abschluss der Ermittlungen über den Tatvorwurf verhandeln, stellt sich die Frage, ob die in anderen Staaten erlangten Beweise in das gerichtliche Verfahren eingeführt werden können. Die wechselseitige Kompatibilität und Anerkennung strafprozessualer Ermitt-
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33
Hierzu: Pieth ZStW 109 (1997) 756ff.; Sieber JZ 1995, 758, 761-763, 767; Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135,146 f.; zur Kontrollfunktion nationalstaatlicher Grenzen bereits: Kühne in: Müller-GrafT (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 85, 90; siehe auch den Bericht über das Forschungsprojekt „Europa und innere Sicherheit": Risch Kriminalistik 1997, 82 ff. Zum Einfluss der Informationsgesellschaft auf die Internationalisierung der Kriminalität: Sieber JZ 1997,369,370; Süddeutsche Zeitung Nr. 90 v. 17.4.2000, S. 2 („Kampfansage an Al Capones Erben").
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
lungsmaßnahmen und die europaweite Konvertierbarkeit der im Ermittlungsverfahren gewonnenen Beweise gehören zu den Forderungen, die von der täglichen strafprozessualen Praxis am häufigsten an eine europäische Strafrechtspolitik gestellt werden. Die Gefahr von Doppelverfahren und zeitaufwendiger Transformationsprozesse sowie der damit verbundene Verlust an Zeit und Ressourcen ist offensichtlich. Solche Doppel- und Parallelverfahren lassen sich nicht durch die Einführung eines europäischen Territorialitätsprinzips vermeiden, im Gegenteil. Das diesem Prinzip zugrunde liegende Verständnis von der Allzuständigkeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden für sämtliche Straftaten, die auf europäischem Territorium begangen werden, kann nationalstaatliches Selbstbewusstsein und Missionsdenken noch beflügeln. Nach Abschluss eines Strafverfahrens stehen weniger die polizeilichen und justitiellen Ressourcen, sondern die Person des Verurteilten im Mittelpunkt des Interesses. Es steht einem politisch immer mehr zusammenwachsenden Europa nicht gut zu Gesicht, wenn sich ein verurteilter Täter wegen derselben strafbaren Handlung in verschiedenen europäischen Staaten verantworten muss. Das würde die durch die Öffnung der Märkte geforderte Mobilität der Bürger in Europa ganz erheblich einschränken, weil jeder Verurteilte befürchten müsste, aufgrund eines Tatvorwurfs mit internationalen Bezügen mehrfach bestraft zu werden. Gleichwohl darf an dieser Stelle nicht übersehen werden, dass der Eintritt eines internationalen Strafklageverbrauchs für andere Staaten, deren Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte nach den nationalen Regeln des „internationalen Strafrechts" die Tat ebenfalls verfolgen und über den Tatvorwurf verhandeln könnten, zwangsläufig mit einem Strafklage- und damit Souveränitätsverzicht verbunden ist. Zu einem solchen Verzicht wird ein Vertragsstaat nur im Falle einer Kompensation in Form einer gleichwertigen - nicht notwendig gleichförmigen - Strafverfolgung durch die Organe eines anderen Staates bereit sein, wobei sich die Forderung nach Gleichwertigkeit weniger auf die verhängte Sanktion, sondern vielmehr auf den Verfahrensgang bezieht.34 Spricht ein Gericht den Beschuldigten frei oder verurteilt es ihn aus einem anderen Grund nicht, werden andere Staaten - unbeschadet etwaig bestehender internationaler Verpflichtungen - zum Verzicht auf eine Strafverfolgung und zur Anerkennung der Entscheidung nur dann bereit sein, wenn die unterbliebene Verurteilung - vor allem der nicht gelungene Nachweis der Tatschuld - für sie nachvollziehbar ist. Hier schließt sich der Kreis zu den Divergenzen in den nationalen Strafverfahrensordnungen. Nachvollziehbar ist die Entscheidung eines ausländischen Gerichts nämlich nur dann, wenn sie im wesentlichen auf der Grundlage von Beweisregeln, Verfahrensgarantien und Beschuldigtenrechten erfolgt ist, die auch dem anderen Staat geläufig sind. Die nationalstaatliche Souveränität ist auch im umgekehrten Fall berührt. Ein Staat wird zur Vollstreckung eines gegen einen seiner Bürger im Ausland ergangenen Urteils nur dann bereit sein, wenn in dem der Verurteilung zugrunde liegenden Strafverfahren der nationalen Rechts34
Zum Problem des Souveränitätsverzichts durch das Unterlassen eigener Strafverfolgungsmaßnahmen und die Anerkennung ausländischer Strafurteile: Johannes ZStW 83 (1971) 531, 539-541, 570f.; Weigend ZStW 105 (1993) 774, 794; Jung in: FS für Schüler-Springorum, S. 493, 501.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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Ordnung vergleichbare Beschuldigtenrechte und Verfahrensrechte zur Anwendung gekommen sind. Die Problematik eines Strafklageverzichts bzw. Strafklageverbrauchs - je nach Perspektive, aus der man das Problem betrachtet - zugunsten anderer europäischer Staaten war bereits Gegenstand von Entscheidungen deutscher Gerichte. In den Staaten, die dem Schengen-Verbund angehören, wird der Strafklageverbrauch durch das ne bis in idem Verbot des Art. 54 SDÜ geregelt. Die Vorschrift verlangt, dass der Beschuldigte in einem anderen Staat „rechtskräftig abgeurteilt" worden ist. Die zu diesem Tatbestandsmerkmal vorliegenden Entscheidungen deutscher Gerichte lassen erahnen, welchen Auslegungs- und Anwendungsproblemen sich die internationale Strafverfolgungspraxis aufgrund der in den europäischen Strafverfahrensordnungen zur Aburteilung strafbarer Handlung bestehenden Unterschiede gegenüber sieht.35 Ohne ausreichende Kenntnisse über die inhaltliche Ausgestaltung der ausländischen Strafrechtsordnung, in der über den Tatvorwurf bereits entschieden worden ist - oder auch nicht, lässt sich die Problematik eines Strafklageverbrauchs kaum abschließend klären. An die nationalen Strafgerichte werden hier erhebliche Anforderungen gestellt. Wie gerade die im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich entschiedenen Fälle zeigen, kann das Vorliegen einer „Aburteilung" oftmals nur mit Hilfe einer Auskunft über das Recht des anderen Staates geklärt werden. Die Einholung einer solchen Rechtsauskunft dauert derzeit noch recht lange. Hier könnte die von der EU geplante36 Dokumentations- und Informationsstelle EUROJUST einen wertvollen Beitrag leisten. Dennoch, Regelungen zum Strafklageverbrauch können dem durch unnötige Doppelverfahren drohenden Ressourcenverlust auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden nicht wirksam entgegenwirken, weil ein Verbot des ne bis in idem immer erst ab dem Vorliegen einer Ver- bzw. Aburteilung greift. Bis zu diesem Zeitpunkt lassen sich parallel geführte Strafverfahren also nicht vermeiden. Obwohl man es so nicht vermuten sollte, sprechen deshalb die in europäischen Übereinkommen vorhandenen Vorschriften zum Grundsatz ne bis in idem37 35
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37
OLG Saarbrücken, StV 1997, 359; BGH, NStZ 1998, 149 (belgische Transactie) m. Anm. van den fVyngaert/Lagodny NStZ 1998,153; Kühne JZ 1998,876ff.; BGH, StV 1999,244 (belgische Transactie); BGHSt 45, 123 = StV 1999, 478 („französische Ordonnance de non-lieu") m. Anm. Kühne StV 1999, 480 und Anm. BohnertlLagodny NStZ 2000, 636; BGH, NJW 2001, 692f. (Strafaussetzung zur Bewährung); BayObLG, StV 2001,263 (österreichisches Straferkenntnis); siehe auch: BGH, NJW 2001, 370; zu Art. 54 SDÜ: RadtkelBusch EuGRZ 2000, 421; Kühne in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, S. 85, 97; Perron ZStW 112 (2000) 202, 207; Schomburg NJW 1999, 540, 542; ders. NJW 2000, 1833, 1834ff. Der Ratsbeschluss über die Errichtung von EUROJUST zur Verstärkung der schweren Kriminalität erfolgte am 28.2.2002 und trat mit seiner Veröffentlichung im Amtsblatt am 6.3.2002 in Kraft (AB1EG Nr. L 63 v. 6.3.2002, S. 1). Art. 54 SDÜ (BGBl. 1990 II 1010); Übereinkommen vom 25.5.1987 über das Verbot der doppelten Strafverfolgung - EG-ne bis in idem-Übk (Gesetz v. 7.9.1998, BGBl. 1998 II 2226ff.); Art. 7 des Übereinkommens vom 26.7.1995 aufgrund von Art. K.3 des Vertrages über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (AB1EG Nr. C 316 v. 27.11.1995, S. 49); Art. 10 des Übereinkommens vom 26.5.1997 aufgrund von Artikel K.3 Abs. 2(c) des Vertrages über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (AB1EG Nr. C 195 v. 25.6.1997, S. 1). Art. 4 des von Deutschland noch nicht ratifizierten 7. ZP zur
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
nicht gegen, sondern für die Notwendigkeit eines harmonisierten europäischen Strafverfahrensrechts.38 Zur Vermeidung paralleler Ermittlungstätigkeit in verschiedenen europäischen Staaten ist die Einführung von Kollisionsnormen diskutiert worden, wie sie etwa das Internationale Privatrecht kennt. Praktisch laufen solche Vorschläge auf die Beibehaltung der unterschiedlichen Strafrechtssysteme in Europa hinaus, weil sie stillschweigend die Notwendigkeit eines einheitlichen - oder wenigstens in wesentlichen Punkten - harmonisierten europäischen Strafverfahrensrechts in Frage stellen. Für den Bereich des materiellen Strafrechts hat Rüter ein interlokales Strafrecht auf der Basis des Tatortprinzips propagiert.39 Parallele Ermittlungen bei Delikten mit mehrstaatlichem Bezug ließen sich bei diesem Ansatz nur durch international verbindliche Kollisionsnormen vermeiden, welche die Strafverfolgung einem bestimmten Staat nach dem Tatortprinzip zuweisen. Solche Kollisionsnormen müssten bereits die Ermittlungszuständigkeit der nationalen Strafverfolgungsorgane betreffen und ein europaweites Strafverfolgungshindernis zur Folge haben. Gerade bei mehraktigen Straftaten mit internationalem Bezug entstehen hier Probleme. Für die Staaten, in denen ebenfalls Anknüpfungspunkte für die Einleitung eines Strafverfahrens vorhanden sind, liefen derartige Kollisionsnormen faktisch auf eine Art stellvertretende Strafrechtspflege hinaus. Ein solcher Ansatz lag bereits dem 1972 im Europarat gezeichneten Europäischen Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung 40 zugrunde, das jedoch nur von wenigen Staaten ratifiziert wurde. Dies dürfte ein Indiz dafür sein, dass sich Vorhaben, die in praxi auf einen (Teil-)Verzicht der Strafverfolgung hinauslaufen, kaum durchsetzen lassen werden. Im übrigen ließe sich dem Problem transnationaler Kriminalität auf diese Weise nicht wirksam begegnen, weil der Wirkungskreis international agierender Täter nicht auf ein bestimmtes Staatsterritorium beschränkt ist und Ermittlungsmaßnahmen in mehreren Staaten erforderlich macht, deren Behörden aber kollisionsrechtlich die Zuständigkeit im Rahmen der Strafverfolgung entzogen wäre. Zwar könnte man Ermittlungen und die Gewinnung von Beweisen in anderen Staaten über die Vorschriften der Rechtshilfe erleichtern. Die verfahrensrechtliche Schiene eines interlokalen Strafrechts hätte aber im Bereich der internationalen Kriminalität eine willkürliche Aufspaltung komplexer, einheitlicher Deliktsmuster und Lebensvorgänge zur Folge. Vor allem bliebe das Problem des Befugnis- und Beweismittelshopping ungelöst, ebenso wie die Frage einer Verwertbarkeit international zusammengetragener Beweise. Praktische Schwierigkeiten dürften auch bei der Bestimmung und Festlegung der anzuwendenden Rechtsordnung nach dem Tatortprinzip entstehen, da sich zu Beginn des Ermittlungsverfahrens der Zusammenhang von Straftaten im Bereich der Organisierten Kriminalität kaum feststellen lassen wird.41 EMRK normiert das Verbot der Doppelbestrafung nur auf nationaler Ebene; vgl. Johannes ZStW 83 (1971) 531, 568 f.; Schomburg NJW 2000, 1833 ff. 38 Ebenso: Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 150. » Rüter ZStW 105 (1993) 30,46. 40 ETS Nr. 73; vgl. hierzu: JunglSchroth GA 1983, 241, 258 f. 41 Zu Recht ablehnend: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 748.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
3.
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Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit statt Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen
Gegen die Notwendigkeit eines supranationalen Europäischen Strafverfahrensrechts ließe sich einwenden, dass den praktischen Problemen bei der Bekämpfung internationaler und transnationaler Kriminalität auch durch verbesserte Formen der Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, namentlich auf dem Gebiet der Rechtshilfe, wirksam begegnet werden kann. Bisher wurden die an eine „grenzenlose" polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit gestellten Erwartungen und Hoffnungen weitgehend enttäuscht. Neben den praktischen Problemen, die sich auf dem Gebiet der internationalen Kooperation immer wieder einstellen, ist es vor allem die Gesamtentwicklung, die einen dem Rechtsstaat verpflichteten Juristen zunehmend mit Sorge erfüllt. Seit Mitte der 90er Jahre vollzieht sich die Europäisierung des nationalen Strafverfahrens vorrangig auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und Rechtshilfe, die auch heute noch maßgeblich durch die beiden erfolgreichsten strafrechtlichen Konventionen des Europarats dominiert wird: das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 (EuAuslÜbk) und das Europäische Rechtshilfeübereinkommen von 1959 (EuRhÜbk). 42 Daneben existieren mittlerweile auf regionaler Ebene zahlreiche bilaterale und multilaterale Abkommen zur operativen polizeilichen Zusammenarbeit.43 Wesentliche Verbesserungen auf dem Gebiet der Auslieferung und polizeilichen Zusammenarbeit hat das am 26.3.1995 in Kraft getretene Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19.6.1990 (SDÜ) bewirkt. Durch die Einbeziehung von Island und Norwegen in den Schengenverbund besteht seit dem 1.1.2001 - mit Ausnahme von Großbritannien, Irland und der Schweiz - in Westeuropa ein lückenloser Raum für Personenfahndungen nach dem Schengener Informationssystem (SIS).44 Ergänzend hat die Europäische Union im Bereich der 3. Säule mit EUROPOL eine Stelle ins Leben gerufen, der neben der Erfassung und Weitergabe von Daten Aufgaben einer operativen europäischen Polizeibehörde zugewiesen werden sollen.45 Mit Hilfe sog. „europäischer 42 43
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ETS 024 (BGBl. 1964 IL 1369) bzw. ETS 30 (BGBl. 1964 II 1369, 1386). Vgl. hierzu: Gesetz zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. 2001 II 726); Gesetz zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. 2001 II 733); Gesetz zu den Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe sowie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Durchgangsrechte (BGBl. 2001 II 946). Vgl. hierzu: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 735-739; Sturm Kriminalistik 1995, 162ff. Europol-Übereinkommen vom 26. Juli 1995 (AB1EG Nr. C 316 v. 27.11.1995, S. 1-32; Europol-Gesetz v. 16.12.1997, BGBl. 1997 II 2150).
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Strategien" bemüht sich die EU um die Entwicklung einheitlicher Standards bei der Kriminalitätsbekämpfung und polizeilichen Zusammenarbeit mit Ländern, die nicht oder noch nicht Mitglied der Union sind. Immer mehr in das Interesse der polizeilichen Zusammenarbeit rückt dabei die illegale Einwanderung und die Schleuserkriminalität.46 Der Vorschlag einer gemeinsamen Grenzpolizei ist durchaus bemerkenswert, galt doch in der Vergangenheit bei vielen europäischen Staaten die Tätigkeit von ausländischen Polizeibeamten auf dem eigenen Territorium als Synonym für einen Verlust staatlicher Souveränität, was die strengen Voraussetzungen und die unterschiedliche Umsetzung der im SDÜ geregelten grenzüberschreitenden polizeilichen Nacheile und Observation belegen.47 Die gemeinsamen Vorhaben mit den EU-Beitrittskandidaten können über die eigentliche Schwäche einer polizeilichen Zusammenarbeit nicht hinwegtäuschen. Sie ist im Kern auf die derzeit fünfzehn Mitgliedstaaten der Union beschränkt, von denen nicht der eigentliche Schwerpunkt einer internationalen Kriminalität ausgeht. Mit den Staaten Osteuropas bestehen dagegen zumeist nur bilaterale Abkommen, die im Einzelfall mit erheblichem Aufwand und Zeitverlust durchgesehen werden müssen. Alle in den letzten Jahren auf dem Gebiet der justitiellen Rechtshilfe erzielten Verbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auf europäischer Ebene ein immer stärker zu beobachtender nationaler Trend fortsetzt: die Verpolizeilichung des Strafverfahrens. Nicht nur auf dem Gebiet der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, sondern auch im Bereich der repressiven Strafverfolgung gewinnt die Arbeit der Polizei zunehmend an Bedeutung, zu Lasten der Justiz, unter Aufweichung nationaler Verfahrensgarantien und der zum Schutz des Beschuldigten bestehenden Beschränkungen.48 In der Bundesrepublik Deutschland werden europäische Strategien zur Inneren Sicherheit zunehmend aus der polizeirechtlichen Perspektive geführt. 49 Durch die beschlossene Einrichtung einer Europäischen Polizeiakademie (EPA) und der vorgeschlagenen opera46
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Angesichts einer wachsenden Zahl von illegalen Immigranten nach Europa und als Konsequenz aus der bevorstehenden Ost-Erweiterung der EU hat sich der deutsche Innenminister Schily auf einem Treffen der europäischen Innen- und Justizminister im März 2001 für die Gründung einer europäischen Grenzpolizei ausgesprochen, die aus Grenzschutz- und Polizeibeamten mehrerer EU-Staaten bestehen soll. Die Beamten sollen gemeinsam ausgebildet werden, später auch gemeinsam auf Grenzpatrouille geschickt werden und so die Beitrittskandidaten bei der Sicherung der EU-Außengrenze unterstützen. Österreich, Deutschland und Frankreich hatten Ende 1997 vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt, um die Einreise kurdischer Flüchtlinge zu verhindern. Belgien hatte im Januar 2000 unter Außerkraftsetzung des SDÜ zwischenzeitlich wieder verschärfte Kontrollen an seinen Grenzen durchgeführt, um dem Menschenschmuggel vorzubeugen. Zur Zeit spielt vor allem die Balkan-Region als Transit für den Menschenschmuggel eine immer bedeutendere Rolle. Schätzungsweise kommen zur Zeit etwa fünfzig Prozent aller illegalen Einwanderer über diesen Weg nach Europa. Obwohl bereits mehrere bilaterale und multilaterale Abkommen zwischen EU- und BalkanStaaten zur polizeilichen Zusammenarbeit vorliegen, soll jetzt eine europäische Strategie wirkungsvolle Gegenmaßnahmen ausarbeiten (SZNr. 63 v. 16.3.2001, S. 7). Zu den Voraussetzungen der polizeilichen Observation und Nacheile gemäß Art. 40, 41 SDÜ: Heinrich NStZ 1996, 361, 365; ScAwMNStZ 1997, 105, 108; Jung JuS 2000,417,421. Vgl. hierzu die Befunde von: Weigend ZStW 104 (1992) 486, 504f.; Eser ZStW 108 (1996) 86; Schübel aaO. So bereits: Pitschas JZ 1993, 857, 859.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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tiven Task Force europäischer Polizeichefs ist die polizeiliche Zusammenarbeit auch aus dem im Oktober 1999 im finnischen Tampere abgehaltenen EU-Sondergipfel gestärkt herausgegangen. Dagegen sind außer der geplanten Einrichtung von EUROJUST kaum substantielle Verbesserungen auf dem Gebiet der justitiellen Zusammenarbeit zu verzeichnen.50 Eine Bestandsaufnahme der täglichen Rechtshilfepraxis ist ernüchternd. Die Mühlen der nationalen Polizeidienste mahlen auch nach dem Inkrafttreten des SDÜ langsam. Auf allen Seiten werden die nach wie vor bestehenden Probleme beklagt, insbesondere die oft umständlichen Formalitäten und der damit einhergehende Zeitverlust. Noch immer bereiten nationalstaatliche Grenzen Straftätern weitaus weniger Probleme als den nationalen Polizeien und Strafverfolgungsbehörden. So berichtet der Chef des Bayerischen LKA in einem Zeitungsinterview im April 2000, dass die Bearbeitung eines Rechtshilfeersuchens in Tschechien oft schneller erfolge als in Frankreich oder Spanien.51 Vor allem lässt die Entwicklung eines computerunterstützten Programms zur Erleichterung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (CURIS) weiter auf sich warten.52 Viele Polizeibeamte sind immer noch in ihren nationalen Arbeitsmustern und Denkschablonen verhaftet. Genau hier muss die in Tampere auf deutschen Vorschlag hin beschlossene Einrichtung einer Europäischen Polizeiakademie (EPA) ansetzen. Ein Grund für die Probleme in der Rechtshilfepraxis ist sicherlich die zunehmende Zersplitterung der Rechtshilfevorschriften in den Übereinkommen der EU, dem SDÜ und den Konventionen des Europarats. Die Vielfalt der untereinander oftmals unzureichend abgestimmten Rechtsquellen erschwert das Auffinden der im Einzelfall relevanten Vorschriften. So bleiben weitergehende Bestimmungen zur Rechtshilfe, die in bilateralen Abkommen zwischen Vertragsstaaten vereinbart sind, neben den Bestimmungen des SDÜ bestehen (Art. 48 II SDÜ). Das eigentliche Problem polizeilicher Zusammenarbeit liegt aber an anderer Stelle. Aus rechtsstaatlicher Perspektive besonders bedenklich ist, dass ihre Instrumente keiner justitiellen Absicherung und Überwachung unterliegen. Verwundern kann das nicht, weil es den bis 2004 geplanten europäischen Rechtsraum - und vor allem den europäischen Rechtsstaat - noch nicht gibt. Weder im SDÜ noch in der EUROPOL-Konvention wird auf die rechtsstaatlichen Standards der EMRK verwiesen.53 Auf den geringen Stellenwert des Strafrechts in den beiden Schengener Übereinkommen insgesamt und
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Zur Umsetzung der in Tampere getroffenen Vereinbarungen vgl. die Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom 15.3.2000, NJW-Informationen (Heft 18/2000), S. XIV. Süddeutsche Zeitung Nr. 90 v. 17.4.2000, S. 2 („Von heute auf morgen verändert sich gar nichts"); vgl. aus der Praxis: Fätkinhäuer Kriminalistik 1994, 307 ff.; Schübel NStZ 1997, 105, 106; Wolters Kriminalistik 1997, 86fT.; Krause Kriminalistik 1998, 12ff.; Schomburg ZRP 1999, 237, 238; siehe ferner die Berichte zur französischen Rechtshilfe: Hertweck Kriminalistik 1995, 721 ff.; Huber Kriminalistik 1997, 396ff.; kritisch dagegen zur aktuellen Darstellung der Rechtshilfe: Klip NStZ 2000, 626, 628. Vgl. die Beschlüsse der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11. 2000 in Brüssel, abgedruckt in: NJW 2000, NJW-Informationen, Heft 51, XIV-XVIII. Vgl. hierzu die Entschließung des Europäischen Parlaments v. 23.11.1989 (BT-Dr 11/6119) betreffend die mangelnde Kontrolle der polizeilichen Tätigkeit und Datenbeschaffung durch das SDÜ.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
auf den Umstand, dass unterschiedlich hohe nationale Eingriffsschwellen für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und Beschuldigtenrechte durch einen parallel geführten Datenabgleich und Informationsaustausch mit Hilfe des SIS leicht umgangen werden können, wurde bereits hingewiesen.54 Art. 2 Abs. 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union 55 legt eindeutig fest, dass der Europäische Gerichtshof keinesfalls zuständig ist für Maßnahmen oder Beschlüsse, welche die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit betreffen. Auch eine umfassende gerichtliche Kontrolle der Tätigkeit von EUROPOL ist derzeit nicht vorgesehen. Art. 2 des Zusatzprotokolls zum EUROPOL-Übereinkommen56 beschränkt die Zuständigkeit des EuGH auf die Auslegung des Übereinkommens sowie auf Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten. Ein gerichtlicher Rechtsschutz für die Unionsbürger besteht dagegen nicht, im Gegenteil. Mitarbeiter von EUROPOL agieren weisungsfrei und sind von zivil- und strafrechtlicher Haftung für Tätigkeiten in Ausübung ihres Amtes weitestgehend freigestellt. Damit unterliegt die Tätigkeit von EUROPOL weder einer administrativen noch einer gerichtlichen Kontrolle.57 Wegen der zur Zeit noch unzureichenden rechtsstaatlichen Garantien auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit muss es mit Sorge betrachtet werden, dass grundrechtsrelevante Kriminaltechniken unter dem Mantel der Rechtshilfe europäisiert werden. So ist am 15.12.2000 als erster Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaft zum Asylrecht die EURODAC-Verordnung in Kraft getreten, auf deren Grundlage ein europaweites, computergestütztes Vergleichssystem für Fingerabdrücke von Asylbewerbern und illegal einreisenden Ausländern eingerichtet werden soll.58 Es dürfte nicht sehr lange dauern, bis Forderungen nach einer Ausdehnung dieses Systems auf Tatverdächtige und verurteilte Straftäter erhoben werden. Der Weg zu einer EU-weiten DNADatenbank ist dann nicht mehr fern, obwohl der EU dazu noch die erforderlichen Kom-
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Sehr plakativ zur Rolle des Strafrechts im SDÜ: SchomburglLagodny SDÜ, Vorbem. Art. 39 Rn. 2: „Wurmfortsatz in einer auf vorrangig polizeiliches Handeln ausgerichteten Gemeinschaft der offenen Grenzen"; zum „Befugnis-Shopping" mit Hilfe des SIS: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 738; Kühne § 3 Rn. 78. BGBl. 1998 II 429 ff. Protokoll vom 23.7.1996 aufgrund von Artikel K..3 des Vertrags über die Europäische Union betreffend die Auslegung des Übereinkommens über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamtes durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung (AB1EG Nr. C 299 v. 9.10.1996, S. 1). Protokoll vom 19.6.1997 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union und von Artikel 41 Abs. 3 des Europol-Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten für Europol, die Mitglieder der Organe, die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol (AB1EG Nr. C 221 v. 19.6.1997, S. 2); zur Immunität von Europol-Bediensteten: Hailbronner JZ 1998, 283 ff.; HölscheidtlSchotten NJW 1999, 2851 ff.; kritisch zur mangelnden gerichtlichen Kontrolle von EUROPOL: Albrecht StV 2001, 69; Perron ZStW 112 (2000) 202, 209; GleßlLüke Jura 2000, 400, 404f.; Jung JuS 2000,417,421,423. AB1EG Nr. L 316 v. 15.12.2000, S. 1; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Innenpolitik 1/2001, S. 12.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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petenzen fehlen. Aus Anlass der heftigen Krawalle, die den EU-Gipfel von Göteborg im Juni 2001 überschatteten, wird überlegt, wie europäische Polizeikräfte gemeinsam gegen das Phänomen grenzüberschreitender Kriminalität durch gewaltbereite Demonstranten vorgehen können. Forderungen nach einer schlagkräftigen europäischen Polizeitruppe und der Einrichtung einer gemeinsamen Informationskartei über politische Gewalttäter scheinen Auftrieb zu bekommen. Angesichts der unzureichenden Absicherung polizeilicher Zusammenarbeit durch rechtsstaatliche Standards ist die Forderung nach der Einrichtung eines „Gegenpols" zur Verpolizeilichung des Strafverfahrens nachdrücklich zu unterstützen.59
4.
Justitielle Zusammenarbeit als Gegenpol zur Verpolizeilichung des Strafverfahrens
Einen solchen Gegenpol könnte freilich auch die justitielle Rechtshilfe bilden, wenn sie denn auf europäischer Ebene aufgewertet und mit rechtsstaatlichen Garantien versehen würde. Auf dem EU-Sondergipfel am 15./16. Oktober 1999 im finnischen Tampere haben die europäischen Staats- und Regierungschefs die Entstehung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts proklamiert. Mit diesem Rechtsraum ist freilich nicht der „europäische Rechtsstaat" gemeint, sondern lediglich die Absteckung eines Rahmens für eine effektive justitielle Zusammenarbeit, vor allem auf dem Gebiet der Auslieferung und im Wege der Rechtshilfe.60 Das Anliegen der EU ist also gerade nicht die Harmonisierung der bestehenden Unterschiede in den europäischen Strafprozessordnungen, sondern die Gewährleistung und Sicherstellung einer effektiven Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden in Europa. Ansätze einer staatenübergreifenden justitiellen Zusammenarbeit bestanden bereits vor dem Tampere-Gipfel in Form des auf Initiative Belgiens geschaffenen Europäischen Justitiellen Netzes (EJN).61 Dieses aus Justizbehörden und anderen zuständigen Stellen mit spezifischen Aufgaben im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit bestehende Netzwerk ist mittlerweile etabliert. Es ergänzt die formalistischen Instrumente der Rechtshilfe und sorgt für feste Ansprechpartner in den Mitgliedstaaten. Regelmäßige Sitzungen zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch gehören ebenso zur Arbeitsweise des EJN wie der Aufbau eines eigenen Telekommunikationsnetzes. Ein weiteres Instrument der justitiellen Zusammenarbeit ist die Institution des Verbindungsrichters (Juge de liaison), eine Einrichtung, die 1993 im Zuge der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Italien und Frankreich zur gemeinsamen Bekämpfung der Mafia ins Leben gerufen und
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Nelles ZStW 109 (1997) 727, 746. Ebenso: Schomburg NJW 2000, 340. Gemeinsame Maßnahme 98/428/JI v. 29.6.1998 zur Einrichtung eines Europäischen Justitiellen Netzes, AB1EG Nr. L 191 v. 07.07.1998, S. 4-7.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
später von der EU übernommen wurde.62 Der Verbindungsrichter fungiert als Ansprechpartner für die nationalen Justizbehörden und soll so die Zusammenarbeit der beteiligten Staaten im Bereich der Auslieferung und der Rechtshilfe erleichtern. Die justitielle Zusammenarbeit muss dringend auf ein der polizeilichen Zusammenarbeit vergleichbares Niveau gebracht werden. Mittlerweile haben zumindest die deutschen (Länder)Justizminister erkannt, dass auch bei länderübergreifenden strafrechtlichen Ermittlungen die Sachleitungsbefugnis in den Händen der Justiz verbleiben muss.63 Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist der auf dem EU-Gipfel in Tampere beschlossene Aufbau der justitiellen Dokumentations-, Kooperations- und Clearingstelle EUROJUST.64 Die Einrichtung dieser Stelle trägt vor allem dem Umstand Rechnung, dass nach wie vor der unmittelbare Kontakt von Kollege zu Kollege bei der Rechtshilfe größten Stellenwert besitzt. Die aus den Mitgliedstaaten der EU entsandten Beamten sollen u.a. den Behörden aus den anderen Mitgliedstaaten sowie der EU-Kommission und EUROPOL Informationen über das Verfahrensrecht der Länder verschaffen, aus denen sie entsandt worden sind, und so die Ermittlungsverfahren in diesen Staaten unterstützen. Mittlerweile liegen Vorschläge zur konkreten Ausgestaltung von EUROJUST vor.65 Noch vor der Bildung des Stabs EUROJUST haben sich die EUJustizminister auf erste Maßnahmen für eine bessere Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung verständigt. Danach soll als Vorläufer eine gemeinsame Anlaufstelle für Staatsanwälte geschaffen werden (Pro-EUROJUST), die bis zur endgültigen Errichtung von EUROJUST die anfallenden Aufgaben übernehmen und helfen soll, die strafrechtliche Zusammenarbeit bei schwerer grenzüberschreitender Kriminalität zu erleichtern. Zur Errichtung des EUROJUST-Vorläufers werden die EU-Mitgliedstaaten je einen Staatsanwalt nach Brüssel entsenden, der mit dem jeweils eigenen Rechtssystem vertraut ist und mit Hilfe seiner speziellen Kenntnisse vom nationalen Recht und den jeweiligen nationalen Anspruchpartnern die Zusammenarbeit verbessern soll.66 In Wissenschaft und Praxis besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Einrichtung und Arbeitsweise von EUROJUST mit den anderen Strafrechtsinitiativen der EU abgestimmt werden muss. So dürfen vor allem die durch das Europäische Justitielle Netz (EJN) und die Verbindungsrichter geschaffenen Strukturen weder überlagert noch verdrängt werden. Wie
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Vgl. die Gemeinsame Maßnahme vom 22.04.1996, vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen, betreffend den Rahmen für den Austausch von Verbindungsrichtern/-staatsanwälten zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, AB1EG Nr. L 105 v. 27.04.1996, S. 1 f. Pressemitteilung des BMJ vom 29.9.2000, zitiert nach NJW 2000, Heft 44, LI; vgl. auch Beschlüsse der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11.2000 in Brüssel, abgedruckt in: N J W 2000, NJW-Informationen, Heft 51, XIV-XVIII. Zwischenzeitlich ist der Ratsbeschluss über die Errichtung von EUROJUST zur Verstärkung der schweren Kriminalität am 28.2.2002 erfolgt und mit seiner Veröffentlichung im Amtsblatt am 6.3.2002 in Kraft getreten (AB1EG Nr. L 63 v. 6.3.2002, S. 1). AB1EG Nr. C 206 v. 19.7.2000, S. 1-5. Pressemitteilung des BMJ vom 29.9.2000, zitiert nach N J W 2000, Heft 44, LI; vgl. auch die Beschlüsse der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11.2000 in Brüssel, abgedruckt in: N J W 2000, NJW-Informationen, Heft 51, XIV-XVIII.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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die Schlussempfehlungen des Europäischen Rates von Tampere klar zum Ausdruck bringen, soll EUROJUST die bereits bestehenden Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der justitiellen Rechtshilfe ergänzen und unter Fortführung des EJN mit EUROPOL zusammenarbeiten.67 Mit EUROJUST wird den nationalen Gerichten und Strafverfolgungsbehörden ein zusätzliches Instrument für den Informationsaustausch auf justitieller Ebene zur Verfügung stehen, welches die Verfolgung von Strafsachen mit internationalem Bezug erleichtern kann. Die konkrete Ausgestaltung von EUROJUST erweist sich jedoch vor dem Hintergrund der verschiedenen europäischen Rechtssysteme und vor allem angesichts der voneinander abweichenden institutionellen und verfassungsrechtlichen Regelungen zur Strafverfolgung in den europäischen Nationalstaaten als schwierig. Es steht daher zu befürchten, dass sich seine Arbeits- und Funktionsweise gegenüber den bereits gefestigten Strukturen polizeilicher Zusammenarbeit kaum wird behaupten können. Von deutscher Seite wird eine frühzeitige Beteiligung von EUROJUST an den Analyseprojekten von EUROPOL gefordert.68 Hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Polizei analysiert und die Justiz beteiligt wird. Ausdrücklich wird in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere der Institution EUROPOL eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der Kriminalitätsverhütung sowie der Analysen und Ermittlungen in Straftaten auf Unionsebene zugeschrieben (§ 45), wohingegen EUROJUST lediglich zur Unterstützung und Verstärkung der Bekämpfung der schweren organisierten Kriminalität eingerichtet werden soll (§ 46).69 Der Rat von Tampere hat damit die Rolle von EUROPOL gestärkt und den Kompass des europäischen Strafrechts weiter in Richtung einer polizeilichen Zusammenarbeit ausschlagen lassen.70 Von einer echten Kompensation der rechtsstaatlichen Defizite polizeilicher Zusammenarbeit kann auch deshalb nicht die Rede sein, weil § 47 der Schlussempfehlungen vorsieht, dass für die Schulung von hochrangigen Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden eine Europäische Polizeiakademie (EPA) eingerichtet werden soll.71 Aus heutiger Sicht ist es realistisch, dass EUROJUST mit Hilfe seiner umfangreichen Dolmetscherdienste die Funktion einer zentralen Dokumentations- und Auskunftsstelle für das Vertragsvölkerrecht und das Strafrecht der EU-Mitgliedstaaten übernehmen 67
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Nach dem Vertrag von Nizza soll die Rolle von EUROJUST in Art. 31 II EU geregelt werden, unter Einbeziehung des Europäischen Justitiellen Netzes (Art. 31 II (c) EU); vgl. Pache/SchorkopfNiW 2001, 1377, 1385. Beschlüsse der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11.2000 in Brüssel, abgedruckt in: NJW 2000, NJW-Informationen, Heft 51, XIV-XVIII. Dok. des Rates der EU Sn. 200/99/cab ("http://europa.eu.int/council/oiY/conclu/index.htm): auszugsweise abgedruckt in NJW 2001, 339. „In der nahen Zukunft sollte die Rolle von EUROPOL dadurch weiter verstärkt werden, dass es operative Daten von den Mitgliedstaaten erhält und ermächtigt wird, die Mitgliedstaaten um die Einleitung, Durchführung oder Koordinierung von Ermittlungen oder um die Einsetzung gemeinsamer Ermittlungsteams in bestimmten Deliktsbereichen zu ersuchen, wobei die Systeme der gerichtlichen Kontrolle in den Mitgliedstaaten zu beachten sind" (§ 45). Kritisch zur Idee der Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten durch Polizeibeamte: Hamm StV 2001,81,85.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
wird. Ob es darüber hinaus als Pendant zu EUROPOL einen wichtigen Beitrag für die Gewaltenteilung in Europa zu leisten vermag, erscheint derzeit mehr als fraglich. Es besteht die Gefahr, dass EUROJUST auf kurz oder lang zu einem reinen EUROPOLAnnex wird. Anlass zur Sorge bereitet, dass neben Richtern und Staatsanwälten auch Polizeibeamte aus den EU-Mitgliedstaaten in den Stab von EUROJUST entsandt werden können. Das gilt auch für den EUROJUST-Vorläufer, in den die EU-Staaten anstelle eines Staatsanwaltes auch einen Ermittlungsrichter oder Polizeibeamten als Vertreter der nationalen Strafverfolgungsbehörden entsenden können.72 Auch die sachlich beschränkte Zuständigkeit von EUROJUST auf strafrechtliche Ermittlungen in Fällen mit Organisierten Kriminalitäts-Bezug nährt Zweifel, ob sich mit seiner Einrichtung echte Verbesserungen auf dem Gebiet der justitiellen Zusammenarbeit erreichen lassen. Parallel zur Einrichtung von EUROJUST ist in jedem Fall eine Kodifizierung des „materiellen Rechtshilferechts" in einem einheitlichen Übereinkommen erforderlich, weil die zahlreichen Verträge und Übereinkommen zur Rechtshilfe mittlerweile eine für den Praktiker nicht mehr zu durchschauende Komplexität erreicht haben. Große Erwartungen richten sich an das am 29.5.2000 von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gezeichnete Rechtshilfeübereinkommen (EURhÜbk). 73 Aus strafprozessualer Sicht ist dieses Übereinkommen vor allem deshalb interessant, weil es Zeugenbzw. Sachverständigenvernehmungen per Video-/Telefonkonferenz (Art. 10 und 11), die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen (Art. 13) und die Vornahme verdeckter Ermittlungen gestattet (Art. 14) sowie Vorschriften für die Überwachung des Telefonverkehrs enthält (Art. 17-21). Sicherlich werden sich durch den Abbau bürokratischer Hemmnisse, den staatenübergreifenden Einsatz operativer Ermittlungsmethoden, die Verbesserung der technischen Ausstattung der Polizeidienststellen und Gerichte sowie durch flexible Organisationsstrukturen gewisse Verbesserungen bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität erzielen lassen. Solange jedoch die nationalen Polizei- und Justizbehörden nicht auf die Vornahme spezieller Rechtshilfehandlungen verklagt werden können, hängt die Effektivität der Rechtshilfe weiterhin vom Wohlwollen der Mitgliedstaaten und der für die Rechtshilfe zuständigen Stellen ab.74 Die auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe erzielten Verbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass derzeit in Europa zahlreiche geographisch wie inhaltlich konkurrierende Regelungswerke bestehen, welche die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden zusätzlich erschweren. Eine Angleichung der nationalen 72 73
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Pressemitteilung des BMJ vom 29.9.2000, zitiert nach NJW 2000, Heft 44, LI. Übereinkommen vom 29.5.2000 - gemäß Art. 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt - über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (AB1EG Nr. C 197 v. 12.7.2000, S. 3-23). Das Übereinkommen bedarf der Ratifikation und Notifizierung durch acht Mitgliedstaaten (§ 27 III); vgl. auch: Entwurf eines Rechtsaktes des Rates vom 14.07.1999 über die Erstellung des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (AB1EG Nr. C 251 v. 02.09.1999, S. 1-11). Zur Notwendigkeit einer weitreichenden Kompetenzzuweisung an den EuGH auf dem Gebiet der Rechtshilfe: Schomburg NJW 2000, 340, 341.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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Strafrechtsordnungen über den Weg der Rechtshilfe und mit Hilfe von EUROJUST, wie ihn Schomburg prognostiziert, wird sich allenfalls in einem sehr bescheidenden Umfang vollziehen. Maßstab für die Beurteilung, welche nationale Strafrechtsordnung sich insgesamt oder auf einem bestimmten Gebiet als „Beste" herausstellt75, wird im Bereich der Rechtshilfe kaum das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit oder der Schutz des Beschuldigten sein, sondern vielmehr die von der Praxis immer wieder angemahnte Effektivität der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung. Zu diesem Zweck werden EUROJUST und die zahlreichen Rechtshilfeabkommen geschaffen. Die rechtsstaatliche Absicherung des Strafverfahrens hat in Übereinkommen zur Rechtshilfe und Kooperation der Strafverfolgungsbehörden naturgemäß keine Lobby. Streng an der Effektivität der Strafverfolgung orientiert sind auch die auf dem Prinzip der Deregulierung beruhenden Vorschläge zur europaweiten Verkehrsfähigkeit strafprozessualer Entscheidungen (Haftbefehle, Durchsuchungsbeschlüsse).76 Solche Ansätze laufen auf eine Zusammenarbeit „auf niedrigstem rechtsstaatlichen Niveau" hinaus. Wenn überhaupt wird sich die Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte über die Vereinheitlichung der Rechtshilfe - um in der Wortwahl von Schomburg zu bleiben „auf dem Niveau der nationalen Strafrechtsordnungen" vollziehen. So ist etwa die Beachtung der Beschuldigtenrechte und der Zugang der Verteidigung sowohl zum EJN als auch zu EUROJUST, insbesondere zu den dort einzurichtenden Dokumenten und Registern, noch nicht geklärt.77 Was also zusammenfassend auf der Ebene der Europäischen Union fehlt, ist die rechtsstaatliche Absicherung der Verbesserungen des europäischen Rechtshilfeverkehrs auf hohem, supranationalen Niveau. Eine solche Absicherung kann die EU mangels entsprechender Kompetenzen derzeit nicht leisten. Ein zusätzliches Problem ist, dass Übereinkommen zur Rechtshilfe ihrer Art nach lediglich einen Teilbereich des Strafverfahrensrechts abdecken. Obwohl das im Mai 2000 gezeichnete EURhÜbk auf dem Gebiet der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen durchaus weit geht (s.o.), sind zahlreiche Zwangsmaßnahmen, wie etwa Durchsuchungen und Beschlagnahmen, auf europäischer Ebene immer noch nicht ausreichend operationalisiert. Von den Regeln der Beweisverwertung einmal abgesehen, besteht gerade bei ihnen der größte Harmonisierungsbedarf.78 Naturgemäß keine oder kaum verbindliche Aussagen enthalten die in Europa gezeichneten Rechtshilfeübereinkommen zur Struktur der Strafgerichte und zum Ablauf des gerichtlichen Strafprozesses. Vor allem die Verwertbarkeit der im vorgerichtlichen Stadium des Strafverfahrens - z.B. über EUROPOL - erlangten Auskünfte und Beweise sowie die wechselseitige Anerkennung prozessualer Handlungen sind einer Regelung durch Vorschriften der Rechtshilfe ihrem Wesen nach entzogen.
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Vgl. Schomburg NJW 2001, 801, 804. So: Sieber ZStW 103 (1991) 957, 962ff., ders. JZ 1997, 369, 375. Hierzu bereits: Schomburg NJW 2001, 801, 803. Ebenso: Sieber JZ 1997, 369, 375.
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5.
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Garantiefunktion für die Beschuldigtenrechte auf nationaler Ebene
Neben den aus „europäischer Perspektive" für eine Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte sprechenden Gründen lässt sich noch ein weiterer „nationaler" Gesichtspunkt für die Entwicklung europäischer Standards auf dem Gebiet der Strafverfolgung anführen. In Deutschland ist ein Trend zu beobachten, dass die Aufklärung und Bekämpfung von Verbrechen in der Praxis zunehmend von der Polizei und nicht von der zur Neutralität verpflichteten Staatsanwaltschaft dominiert wird.79 Begleitet von dieser Entwicklung geraten Verfahrensgarantien und Beschuldigtenrechte gegenüber dem Postulat der Funktionsfahigkeit und Effektivität der Strafrechtspflege unter einen immer stärkeren Rechtfertigungsdruck.80 Seit Jahrzehnten werden Änderungen der Strafprozessordnung an den Erfordernissen einer effektiven Verbrechensbekämpfung ausgerichtet. War es in den 70er Jahren der nationale Terrorismus, der zu einer erheblichen Ausweitung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen führte, stand in den 80er Jahren die Bekämpfung der Drogenkriminalität im Vordergrund. Letztere wurde in den 90er Jahren vom Kampf gegen die Organisierte Kriminalität abgelöst. Im Zuge dieser Entwicklung sind die Grenzen zwischen präventiver polizeilicher Tätigkeit, Verbrechensvorbeugung, repressiver Strafverfolgung und geheimdienstlicher Tätigkeit immer weiter aufgeweicht worden. Die effektive, schnelle und kostengünstige Strafverfolgung wurde zum Leitmotiv gesetzgeberischer Reformbemühungen.81 Als Zeugen einer immer repressiveren Strafverfolgung in den 90er Jahren sind die beiden Gesetze zur „Bekämpfung" des (organisierten) Verbrechens und das Gesetz zur „Entlastung" der Strafrechtspflege zurückgeblieben.82 Nun soll hier nicht der Eindruck entstehen, als hätten die in den 90er Jahren in der Strafprozessordnung erfolgten Änderungen tiefe Schneisen in einen zuvor bestehenden lückenlosen Beschuldigtenschutz geschlagen. Viele von ihnen spiegelten lediglich eine bereits etablierte Rechtsprechungspraxis wider und waren angesichts der Lehre vom Gesetzesvorbehalt, der seinerseits Ausdruck des im Grundgesetz verankerten
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Zur Rolle der Staatsanwaltschaft als Justitiar der Polizei: Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht, StV 2000, 460 fT. Zur Problematik dieses Begriffes und zur „Lage des Strafverfahrensrechts" insgesamt: Hassemer KritV 1988, 336, 342. Ebenso: Albrecht StV 2001, 69. Vgl. das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28.10.1994 (BGBl. 1994 I 3186); Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.1992 (BGBl. 1992 I 1302); Gesetz zur Entlastung der Strafrechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. 1993 I 50); siehe auch den Gesetzentwurf des Bundesrates (BT-Dr 14/6079) vom 30.3.2001 zur Entlastung der Justizorgane und zur Stärkung der Rolle der Polizei im Ermittlungsverfahren; Blickpunkt Bundestag 6/2001, S. 20); hierzu: Sieber JZ 1995, 758, 759; Meurer N J W 2000, 2936, 2944 - „rigide Verbrechensbekämpfungsgesetze"); kritisch zum Schlagwort der „Organisierten Kriminalität" in der politischen Diskussion: Kühne in: Kreuzer u.a. (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, S. 55, 57.
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
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Rechtsstaatsprinzips ist, durchaus zu begrüßen. Dazu gehören namentlich die §§ 110allOe StPO zum Einsatz Verdeckter Ermittler und die Regelung zum Einsatz geheimer Ermittlungsmaßnahmen mittels technischer Mittel (§ 100c StPO). Mit einigen Gesetzesänderungen betrat der deutsche Gesetzgeber allerdings auch strafprozessuales - und vor allem grundrechtsrelevantes - Neuland. Dazu zählen etwa die Verabschiedung des (repressiven) großen Lauschangriffs (§ 100c I Nr. 3 StPO) und die Vorschriften zur Untersuchung und Speicherung von DNA-Spurenmaterial für Ermittlungen in zukünftigen Strafverfahren (§ 81g StPO).83 Eine am Grundsatz der Effektivität der Strafverfolgung orientierte Ausweitung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen ist an sich nicht zu beanstanden und zum Schutz der Bürger mitunter sogar notwendig. Der Staat muss auf wechselnde Kriminalitätsphänomene angemessen reagieren können. Eine Verschärfung strafprozessualer Eingriffsbefugnisse muss aber von rechtsstaatlichen Garantien begleitet werden, die ihrerseits vom Übermaßverbot und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt sind. Eine dem effektiven Beschuldigtenschutz Rechnung tragende justizförmige Kontrolle strafprozessualer Zwangsmaßnahmen war in der Vergangenheit nicht immer gewährleistet. So hat beispielsweise der BGH seine dogmatisch wenig überzeugende Rechtswegspaltung bei der Überprüfung strafprozessualer Durchsuchungsmaßnahmen erst aufgegeben, nachdem das BVerfG die Fachgerichte unter Hinweis auf Art. 19 IV GG zur Klärung der unübersichtlichen Rechtslage und zur Beseitigung der in der gerichtlichen Praxis bestehenden Unterschiede aufgefordert hatte.84 Aktuelle Rechtsschutzdefizite sind ebenfalls nicht zu leugnen. Obwohl der Wortlaut des § 8le II StPO eine eindeutige Sprache spricht, lehnen einige Gerichte einen Richtervorbehalt für die Untersuchung von DNA-Spurenmaterial ausdrücklich ab, wenn dieses keiner bestimmten Person zugeordnet werden kann.85 Unter dem lautstarken Protest von Datenschützern wurde die Überwachung öffentlicher Plätze vorangetrieben, obwohl derartige Maßnahmen der Verbrechensvorbeugung lange Zeit eine ausreichende rechtsstaatliche Absicherung erfahren hatten.86 Strafprozessual höchst brisante Ermittlungsmaßnahmen besitzen auch nach dem Inkrafttreten des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1999 keine spezialgesetzliche Regelung. So wird der Einsatz von V-Leuten auch in Zukunft auf die zu einer Eingriffsgeneralklausel „ausgebauten" §§ 1611, 163 I StPO gestützt. Neuartige,
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Die molekulargenetische Untersuchung von DNA-Spurenmaterial wurde vor dem Erlass der §§ 81e und 81f StPO auf § 81a StPO gestützt (vgl. BVerfG, NStZ 1996,45). Vgl. BVerfGE 96, 44, 50; zur einheitlichen Anwendbarkeit des § 98 II 2 StPO: BGHSt 44, 265; BGH, NJW 1999, 3499; zum gerichtlichen Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Ermittlungsrichters beim BGH: BGH, NJW 2000, 85, 86. LG Hamburg, NJW 2001, 530; vgl. zu der ebenfalls umstrittenen Frage, ob eine richterliche Anordnung der DNA-Analyse bei Zustimmung des Betroffenen erforderlich ist: LG Wuppertal, NJW 2000, 2687. Durch §§ 6b und 6c des am 23.5.2001 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) v. 18.5.2001 werden gesetzliche Vorschriften für die Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume geschaffen (BGBl. 2001 I 904); vgl. hierzu: Innenpolitik (Hrsg. BMI), Heft Nr. 11/2001 Mai/Juni, S. 8 f.).
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
technisch hochentwickelte Kriminaltechniken lassen substantielle grundrechtsrelevante Eingriffe und Beschränkungen befürchten, ohne dass die Vorschriften der StPO einen wirksamen Schutz der Beschuldigtenrechte gewährleisten. Im Gegenteil, die Bereitschaft der Strafgerichte zu einer extensiven Auslegung strafprozessualer Eingriffsbefugnisse steigt. Es muss ernsthaft in Frage gestellt werden, ob man noch von einer „bereichspezifischen" Eingriffsermächtigung sprechen kann, wie sie das BVerfG in seinem Volkszählungsurteil gefordert hat, wenn die Auswertung einer Mailbox auf der Basis der Vorschriften zur Telefonüberwachung (§ 100a StPO) befürwortet wird und ein Gericht zu den nach § 100a StPO zu übermittelnden Informationen auch die Positionsmeldungen nicht genutzter Mobiltelefone zählt.87 In welche grundrechtsrelevanten Dimensionen mit Hilfe technischer Mittel durchgeführte Observationen mittlerweile vorgestoßen sind, macht die vom BGH auf § 100c I Nr. lb StPO gestützte satellitengesteuerte Observation von Kraftfahrzeugen deutlich.88 Besorgniserregend ist, dass strafprozessuale Eingriffe in sensible Grundrechte der Bürger nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ zunehmen.89 Auch die geplante Reform des Strafprozesses wird von dem Leitmotiv einer effektiven, schnellen und kostengünstigen Strafrechtspflege dominiert. Eine nachhaltige Stärkung des Beschuldigtenschutzes ist von ihr nicht zu erwarten. Der Deutsche Richterbund hat bereits angekündigt, was er neben einer angemessenen Personalausstattung der Gerichte von der Reform erwartet: längere Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung, eine Beschränkung des Beweisantragsrechts des Angeklagten sowie den Verzicht auf partizipatorische Elemente.90 Auch der BGH schlägt sich nicht (immer) auf die Seite eines rechtsstaatlichen Beschuldigtenschutzes. Seine Entscheidungen zur telefonischen Hörfalle sowie zur Ausforschung zeugnisverweigerungsberechtigter Familienangehöriger des Beschuldigten durch V-Personen sind hier nur zwei Beispiele.91 Wenn auch nicht in den beiden vorgenannten Fällen, so erweist sich insgesamt betrachtet allein das BVerfG als Garant grundrechtsrelevanter Positionen und rechtsstaatlicher Prinzipien im Straf-
87
BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 1935; kritisch hierzu: Palm/Roy NJW 1997, 1904f.; Nack in: KK-StPO, § 100a Rn. 7ff.; BGH, NJW 2001, 1587; LG Dortmund, NStZ 1998, 577. 88 BGH, NJW 2001, 1658; OLG Düsseldorf, NStZ 1998, 268. 89 Nach dem Datenschutzbericht 1999/2000 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist die Zahl von Telefonüberwachungen in der Bundesrepublik Deutschland von 4674 (1995), 7776 (1997), 9802 (1998) auf 12651 (2000) gestiegen. Auch die Anzahl von Wohnraumüberwachungen (§ 100c I Nr. 3 StPO) hat von 26 (1998) auf 142 Fälle (1999) zugenommen (jeweils zitiert nach: SZ Nr. 81 v. 6.4.2001, S. 1); vgl. den Anstieg strafrechtlicher Ermittlungsverfahren mit angeordneter Telefonüberwachung in Rheinland-Pfalz: 157 (1999), 194 (2000), Pressemitteilung des rheinland-pfälzischen Ministeriums der Justiz v. 15.3.2001 (zitiert nach: NJW 2001, Heft 15,XLVIII). 90 Siehe die Pressemitteilung des Deutschen Richterbundes v. 8.6.2001 (zitiert nach: NJW 2001, Heft 27, XVI; zur geplanten Reform des Strafverfahrens: Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens - Beschluss der Bundesregierung (Stand: 6.4.2001), in: StV 2001, 314. " Zur Hörfalle: BGHSt GrS 42, 139, 149; zur Ausforschung von Familienangehörigen: BGHSt 40, 211 (Sedlmayr); siehe hierzu den vom BVerfG, NStZ 2000, 489, in einem obiter dictum festgestellten Verstoß gegen die Verfahrensfairness. Die Verteidiger haben den Gang zum EGMR angekündigt (SZ Nr. 72 v. 27.3.2000, S. 43).
I. Über die Notwendigkeit eines europäischen Strafverfahrensrechts
25
verfahren. So hat es in einer richtungsweisenden Entscheidung aus dem Jahre 1997 nicht nur die verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen zu Inhalt und Begründung richterlicher Durchsuchungsbeschlüsse deutlich angehoben92, sondern im Februar 2001 auch die Voraussetzungen einer ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss bei Gefahr im Verzuge durchgeführten Wohnraumdurchsuchung deutlich verschärft.93 Auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Untersuchung und Speicherung von DNASpurenmaterial verdichten sich zusehends.94 Rechtsstaatliche Maßstäbe setzt die Entscheidung zu den durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 im G10-Gesetz erfolgten Änderungen.95 Solche Mahnrufe vom höchsten deutschen Gericht aus Karlsruhe sind wichtig. In welchem Umfang die Grundrechte zum Spielball der Politik geworden sind, macht nicht nur die im März 2000 als Reaktion auf einen Kindersexualmord entfachte Diskussion über die Erstellung einer Gendatei aller in Deutschland lebenden Männer deutlich, sondern auch die - im nicht strafprozessualen Bereich - beabsichtigten Beschränkungen des Versammlungsrechts aus Anlass mehrerer NPD-Kundgebungen. Weitere grundrechtsrelevante Eingriffe werden auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts diskutiert. So wird nicht nur die Einführung einer Videoüberwachung von Privatwohnungen und Hotelzimmern („visueller Lauschangriff"), sondern auch die Ausweitung des Straftatenkatalogs für DNA-Analysen gefordert.96 Aus deutscher Sicht ist daher eine Absicherung fundamentaler strafprozessualer Verfahrensgarantien und Beschuldigtenrechte auf europäischer Ebene dringend erforderlich. Ein solcher internationaler Schutz wird an sich bereits durch die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 und durch andere internationale Konventionen zum Schutz der Menschenrechte gewährleistet. Eine Harmonisierung der konkreten Ausgestaltung und Absicherung dieser strafprozessualen Standards in Europa wäre aber eine zusätzliche Garantie, vor der sich Abweichungen und Beschränkungen eines erreichten Schutzstandards legitimieren müssten. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass mit einer Harmonisierung nationaler Strafverfahrensrechte auch Risiken für gefestigte rechtsstaatliche Standards verbunden sind. So können die in einigen europäischen Ländern auf hohem Niveau geschützten Rechte und Verfahrensgarantien gerade vor dem Hintergrund supranationaler „Mindeststandards" unter Rechtfertigungsdruck geraten. Anzustreben ist daher ein auf hohem rechtsstaatlichen Niveau harmonisiertes europäisches Strafverfahrensrecht, das als Schranken-Schranke nationaler Grundrechtsbeschränkungen fungiert.
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95 96
BVerfGE 96, 44, 51 f.; vgl. außerdem zur Bestimmtheit richterlicher Durchsuchungsbeschlüsse: BVerfGE 51, 97; NStZ 1992, 91; NJW 1994, 2079; NJW 1994, 3281; NJW 2000,943f. BVerfG, NJW 2001, 1121; zu den sich daraus für die Praxis ergebenden Folgen: Einmahl NJW 2001, 1393. BVerfG, NJW 2001,879; StV 2001,378; vgl. außerdem: BVerfG, NJW 2000,273 f. (Vollzug der Beugehaft); NJW 2000, 649 (Nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs). BVerfG, NJW 2000, 55; vgl. zum G10-Gesetz: BVerfGE 30, 1. Vgl. SZ Nr. 109 v. 12./13.5.2001, S. 7 („Bayern will Wohnungen per Video überwachen"); Nr. 110 v. 14.5.2001, S. 44 („Weiß will DNA-Analyse bei Straftätern ausweiten").
26
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
6.
Fazit
Neben der Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit und justitiellen Rechtshilfe ist eine Harmonisierung der europäischen Strafverfahrensrechte notwendig. Ein an rechtsstaatlichen Prinzipien orientiertes harmonisiertes europäisches Strafverfahrensrecht wäre ein geeignetes Pendant zu einer immer stärker in den Vordergrund tretenden, durch rechtsstaatliche Prinzipien und Grundsätze aber nur unzureichend abgesicherten polizeilichen Dominanz im Rahmen der Strafverfolgung. Zugleich würde es die sich immer noch in der Gründungsphase befindliche, an der Effektivität und Funktionalität der Strafverfolgung orientierte justitielle Zusammenarbeit ergänzen und der auf nationaler Ebene zu beobachtenden Beschränkung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien und Beschuldigtenrechte Einhalt gebieten. Eine Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte ist in zwei Teilbereichen besonders dringlich: den Regeln zur Erhebung und Verwertung von Beweisen sowie den Voraussetzungen für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen.
II.
Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
Wie gesehen, wird eine wirksame und zugleich rechtsstaatlichen Ansprüchen entsprechende Bekämpfung der transnationalen Kriminalität allein über den Weg der justitiellen Rechtshilfe und die Schiene einer stetig verbesserten Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden dauerhaft nicht zu erreichen sein. Unabhängig von der Frage seiner Notwendigkeit wird die Entwicklung eines über den Schutz der Interessen der EU hinausgehenden gemeinsamen europäischen Straf- und Strafprozessrechts zunehmend als unmöglich oder wenig realistisch angesehen.97 Ob dieser Pessimismus angebracht ist, bedarf der Überprüfung. Da sich gesellschaftliche und politische Prozesse in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wiederholen, soll am Beginn aller Überlegungen über die Wege einer europäischen Strafrechtsvereinheitlichung ein kurzer Blick zurück in die Historie stehen. In Europa hat es zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches Strafrechtssystem gegeben. Strafrechtliche Bestimmungen fanden sich zunächst in den regional geltenden Partikularrechten. Die heute in den europäischen Staaten bestehenden Unterschiede gehen zumeist auf das Mittelalter zurück. Gefestigt worden sind sie durch die Entstehung der Nationalstaaten zu Beginn der Neuzeit. Ansätze zu einer Harmonisierung der europäischen Strafrechtsordnungen finden sich in der Vergangenheit kaum. Ein aus historischer Sicht bedeutendes Dokument eines gemeineuropäischen
97
Johannes ZStW 83 (1971) 531, 553; Tiedemann in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, S. 133, 136; Schomburg NJW 2001, 801 („zwischen untauglich und irreal anzusiedelnder Versuch"); Nelles ZStW 109 (1997) 727, 747; Klip NStZ 2000, 626.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
27
Strafrechts - so man es denn so bezeichnen will - ist die Constitutio Criminalis Carolina, die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. aus dem Jahre 1532. Im aufstrebenden Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts war dagegen für ein gemeinsames europäisches Strafrecht kein Platz. Der Nationalstaat bediente sich des Strafens - und damit auch des Strafrechts - zur Absicherung seiner Souveränität und Hegemonialansprüche. Das Strafen war das Synonym für Staatlichkeit und Nationalität. Der Nationalismus hat die bereits seit dem Mittelalter vorhandenen unterschiedlichen Ansichten zum Zweck und zur Art des Strafens gefestigt. Im Prinzip hat sich an diesem Zustand wenig geändert. Nur entsteht derzeit im Zuge der Europäischen Bewegung eine neue europäische Staatengemeinschaft. Der Schritt von den drei Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften zur politischen Gemeinschaft - der Europäischen Union - war hier das ausschlaggebende Ereignis. Wege einer Strafrechtsvereinheitlichung haben JunglSchroth bereits im Jahre 1983 aufgezeigt, wobei der Schwerpunkt auf den materiellen Regelungen des Strafrechts lag.98 Obwohl die dort angestellten Überlegungen zur Angleichung des Strafrechts nach mittlerweile 18 Jahren immer noch Gültigkeit besitzen, gilt es zu bedenken, dass Europa seither eine rasante Entwicklung genommen hat. Vor allem den politischen Rahmen, in dem sich eine Strafrechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene vollziehen kann - die Europäische Union - gab es 1983 noch nicht. Zu dieser Zeit war Gesamteuropa noch von einem Blockdenken beherrscht und Rechtsvereinheitlichungen kaum zugänglich. Vor dem Hintergrund der mittlerweile erfolgten gesellschaftlichen und politischen Umbrüche muss man sich aufs Neue die Frage stellen, welche Quellen und Institutionen als Impulsgeber für die Harmonisierung des Strafverfahrensrechts in Betracht kommen.
1.
Strafrechtswissenschaft
Prädestiniert als Motor für die Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte scheint auf den ersten Blick die Strafrechtswissenschaft zu sein, vor allem deshalb, weil die sämtlichen Harmonisierungsbemühungen zwingend vorgeschaltete Rechtsvergleichung zu ihrem klassischen Aufgabengebiet gehört. Nun bestehen aber in Europa nicht nur wenig kompatible Strafrechtsordnungen, sondern auch Strafrechtswissenschaften, die sich in ihrer Dogmatik, Arbeitsweise und Intention deutlich voneinander unterscheiden." Selbst die mittlerweile stattliche Zahl von Veröffentlichungen zur Europäisierung der nationalen Strafrechtsordnungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich eine europäische Strafrechtswissenschaft noch in der Aufbauphase befindet.100 Im Jahre 1997 beschrieb Kühl die Rechtswissenschaft als nationale Angelegenheit, die sich in erster Linie an den innerstaatlichen Gesetzen orientiere und in ihrer Arbeitsmethode von den Traditionen der nationalen Kulturen bestimmt sei. Diese Erkenntnis hat auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Wenig Erfolge sind bei der Suche nach einer ein98 99 100
JunglSchroth GA 1983, 241, 254ff. Gegen diese These jedoch: Bacigalupo in: FS für Roxin, S. 1361, 1373 f. Siehe hierzu JunglSchroth aaO, 241, 265-268; Jung JuS 2000,417,424.
28
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
heitlichen Wissenschaftssprache zu verzeichnen.101 Auch die deutsche Strafrechtswissenschaft hat das Potential, das in den europäischen Einflüssen auf die nationalen Strafverfahrensrechte steckt, leider erst sehr spät entdeckt. Anstoß für eine Diskussion nationaler Fragestellungen in der europäischen Dimension mussten Rechtsetzungsakte der Europäischen Gemeinschaften oder die Entscheidungen ihrer Organe geben.102 Als Urknall für die Entdeckung der europäischen Einflüsse auf die deutsche Strafrechtswissenschaft gilt gemeinhin der von Jescheck auf der Münchener Strafrechtslehrertagung 1953 zur „Strafgewalt übernationaler Gemeinschaften" gehaltene Vortrag.103 Die dort angeklungenen Zweifel an der Notwendigkeit eines harmonisierten „europäischen Strafrechts" sind nach wie vor aktuell. Auch in der Gegenwart werden in der Wissenschaft die Vorteile eines universellen europäischen Strafrechts in Frage gestellt.104 Diese Vorbehalte gegen eine Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung zur Europäisierung des Strafrechts in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat.105 In vielen Beiträgen wird allerdings nicht zwischen einer Angleichung materiell-rechtlicher Fragestellungen und den Prinzipien des Verfahrensrechts differenziert. Bei einer Rückschau über die deutsche Strafrechtswissenschaft sind unterschiedliche „europäische" Forschungsschwerpunkte zu erkennen. Wie die Entwicklung des europäischen Strafrechts insgesamt, so sind auch die Anfänge einer europäischen Strafrechtswissenschaft auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe zu verzeichnen. Offensichtlich war auch die Wissenschaft in den 60er und 70er Jahren noch nicht bereit, sich aus den Fängen der nationalen Strafprozesssysteme und Denkmuster zu lösen. Verbesserung der Zusammenarbeit statt Angleichung der nationalen Strafprozessordnungen war das Modell eines europäischen Strafverfahrensrechts bis in die frühen 90er Jahre.106 Erst als Reaktion auf den von Tiedemann auf der Bochumer Strafrechtslehrertagung 1991
101
Zu den elementaren Voraussetzungen einer gemeineuropäischen Strafrechtswissenschaft: Kühl ZStW 109 (1997) 777, 780, 792-795; Klip NStZ 2000, 626, 630; siehe zur Berliner Strafrechtslehrertagung auch die Tagungsberichte von: Zieschang ZStW 109 (1997) 830ff.; Renzikowski JZ 1999, 889 f. 102 Zur Auslegung der §§ 263, 264 StGB im Lichte des Gemeinschaftsrechts: Kühl ZStW 109 (1997) 777, 781-783; Zieschang ZStW 113 (2001) 255,266; zur richtlinienkonformen Auslegung des BegrifTs „Abfall" in § 326 StGB: BGHSt 37, 333, 336; Dannecker JZ 1996, 869ff. 103 Jescheck ZStW 65 (1953) 496ff.; vgl. zur Bedeutung dieses Vortrage für die europäische Ausrichtung der deutschen Strafrechtswissenschaft: Kühl ZStW 109 (1997) 777f.; Weigend ZStW 105 (1993) 774. 104 Sieber ZStW 103 (1991) 975 (Bochumer Strafrechtslehrertagung); Weigend ZStW 105 (1993) 774 f. (Baseler Strafrechtslehrertagung). 105 Vgl. Z/ejcAangZStW113(2001)255f.; Literaturübersichten: Weigend SW 2001,63, Fn. 1; Jung ZStW 112 (2000) 866ff; grundsätzlich positiv zur Europäisierung der Strafrechtswissenschaft: Bacigalupo in: FS für Roxin, S. 136Iff. 106 Weigend ZStW 105 (1993) 774, 793; Eser in: BKA (Hrsg.), Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension, S. 21; siehe auch die Tagungsberichte von: Weigend ZStW 96 (1984) 624ff.; KoeringJoulin ZStW 93 (1981) 1094ff.; CorveslBartsch ZStW 96 (1984) 505IT.; Vogler ZStW 96 (1984) 531 ff.; Epp ZStW 97 (1985) 724ff.; Schutte ZStW 104 (1992) 725 ff.; Vogel ZStW 110 (1998) 974ff. - Bericht zum Vorkolloquium zu Sektion IV des XVI. AIDP-Kongresses (Thema IV - Internationale Zusammenarbeit in Strafsachen.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
29
gehaltenen Vortrag107 entdeckte die Wissenschaft das Potential des materiellen Strafrechts als Gegenstand der Rechtsvereinheitlichung. Von nun an setzte eine intensive Suche nach gemeinsamen Prinzipien in den europäischen Strafrechtsordnungen ein, die sich für die Zusammenstellung eines „Allgemeinen Teils" eignen.108 Parallel dazu wurde im Mai 1992 in Würzburg die Vereinigungfür Europäisches Strafrecht gegründet.109 Mittlerweile ist auch das Strafverfahrensrecht in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Als Schwerpunkt der Forschung kristallisiert sich die europaweite Harmonisierung des vorgerichtlichen Ermittlungsverfahrens heraus.110 Immer häufiger beschäftigen sich Arbeitsgruppen, hochrangige Praktikerseminare und Diskussionsforen mit den europäischen Bezügen des deutschen Strafrechts und der Europäisierung des Strafrechts insgesamt.111 Die deutsche Strafrechtswissenschaft ist derzeit noch zu sehr mit der Frage beschäftigt, mit welcher Strategie und auf welchem Weg sie den Schritt der Europäisierung wagen soll. In den 90er Jahren haben Denkmodelle an Boden gewonnen, wie eine europäische Zusammenarbeit der nationalen Strafrechtswissenschaften zu bewerkstelligen sein könnte.112 Auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts sind erste Ansätze einer intensiven Rechtsvergleichung zu verzeichnen, die sich als Wegbereiter und Vorläufer einer Rechtsvereinheitlichung erweisen werden.113 Weil sich rechtsvergleichende Forschungsvorhaben derzeit noch auf die Strukturen des Ermittlungsverfahrens beschränken, sind von den nationalen Strafrechtswissenschaften erst in geraumer Zeit Impulse für eine umfassende Harmonisierung des gesamten Strafverfahrensrechts zu erwarten.
107
Ausweislich des Tagungsberichts von Küpper ZStW 103 (1991) 980, 993. los vgl. Weigendm: FS für Roxin, S. 1375 ff; Dannecker in: FS für Hirsch, S. 141 ff.; Tiedemann ZStW 110 (1998) 497; Vogel JZ 1995, 331 ff., sowie die Tagungsberichte von: Ruegenberg JZ 1998, 453f.; Zieschang JZ 1998, 1000; Waßmer JZ 1999, 1099ff. 109
110
Siehe den Tagungsbericht von Lenz zum Symposium anlässlich der Gründung der Vereinigung für Europäisches Strafrecht, in: ZStW 105 (1993) 230ff. Siehe hierzu: Walther Diskussionsbericht über die Arbeitssitzung der Fachgruppe Strafrechtsvergleichung bei der Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung am 23.9.1999 („Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ermittlungsverfahren?"), ZStW 112 (2000) 2 2 5 f f ; Hoffmann, Bericht über die Tagung zum Zeugenbeweis in der EU, ZStW 109 (1997) 2 6 5 f f ; Perron, ZStW 112 (2000) 202ff. sowie die einzelnen Landesberichte.
Ul
So beschäftigten sich zwei Arbeitsgruppen des 23. Strafverteidigertages in Bremen (12.-14.3.1999) unter den Überschriften „Grundrechtsgefährdung und Rechtsschutz auf europäischer Ebene" und „Europa im Amtsgericht" mit dem zunehmenden Einfluss europäischer Institutionen auf das nationale deutsche Strafprozessrecht. Auf dem 24. Strafverteidigertag in Würzburg (10.-12.3.2000) war „Die Europäische Menschenrechtskonvention 1950-2000" Gegenstand einer Tagungsgruppe (vgl. N J W 2000, Heft 1, XXV). U m die „Strafverteidigung im europäischen Rechtsraum" ging es schließlich auf dem 25. Strafverteidigertag vom 9.-11.3.2001 in Berlin. Vgl. auch: Esser, 6. Symposium für Richter und Staatsanwälte, ZStW 112 (2000) 928 ff.
112
Vgl. Zuleeg JZ 1992,761,768 f.; Kühl ZStW 109 (1997) 777,797 ff.; Perron ZStW 109 (1997) 281,286 ff. Siehe den Tagungsbericht von: Zieschang ZStW 104 (1992) 513ff.
113
30
2.
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Vereinte Nationen / Internationale Organisationen
Im 18. und 19. Jahrhundert war die Harmonisierung des Rechts noch durch die territorialen Grenzen des Nationalstaats gehemmt. Weil die europäischen Nationalstaaten aber mittlerweile Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen sind oder Staatengemeinschaften angehören, vollzieht sich Rechtsvereinheitlichung heute immer mehr auf internationaler Ebene. Völkerrechtliche Verträge und Übereinkommen werden zu einem immer wichtigeren Faktor der Rechtsangleichung in Europa. Als Quelle für die Harmonisierung des europäischen Strafverfahrensrechts kommen deshalb auch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen114 oder die OECD in Betracht. Auf dem Gebiet des Strafrechts sind solche Übereinkommen allerdings nur in dem Umfang möglich, in dem die Mitgliedstaaten die Organisation mit einer entsprechenden Kompetenz ausgestattet haben. Der Umfang der Rechtsvereinheitlichung ist deshalb meist von vornherein auf den Zweck der Organisation beschränkt. Davon zu unterscheiden sind solche internationalen Übereinkommen, die ein bestimmtes internationales Gremium oder Gericht mit eigener Strafgewalt ausstatten, welches selbst auf ein originäres Strafverfahrensrecht zurückgreifen muss.115 Zwar können Übereinkommen der UN und der OECD Impulse für die Entwicklung weltweit oder europaweit geltender strafprozessualer Standards setzen. Schwerpunkt der internationalen Rechtsangleichung über derartige Übereinkommen ist jedoch das materielle Strafrecht, weil über den Schutz bestimmter Rechtsgüter noch am ehesten weltweiter Konsens zu erzielen ist. Unabhängig von der Frage, ob der Abschluss umfangreicher strafprozessualer Abkommen auf der Ebene der Vereinten Nationen überhaupt vorstellbar ist, würde das Aushandeln - man denke auch an die zu erwartende hohe Zahl von Vorbehalten - und der anschließende, meist zeitraubende Prozess der Ratifizierung und Umsetzung solcher Konventionen auf nationaler Ebene viel zu lange dauern, als dass man sie als geeignetes Instrument für die Angleichung der einem per1,4
115
Das im April 2000 in Wien auf dem Zehnten UN-Kongress für Verbrechensbekämpfung und den Umgang mit Kriminellen beratene und am 15.12.2000 in Palermo gezeichnete UN-Abkommen gegen Transnationale Organisierte Kriminalität zielt auf die Bekämpfung international operierender krimineller Vereinigungen ab und hat zwei Hauptziele: Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften gegen Organisiertes Verbrechen und Korruption sowie die Verpflichtung der Staaten, gegen Geldwäsche vorzugehen, etwa durch die Aufhebung des Bankgeheimnisses und die Abschaffung anonymer Konten. Drei ergänzende Zusatzprotokolle sollen die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Menschenhandel mit Frauen und Kindern für Billigarbeit und Prostitution, die Ausbeutung von Flüchtlingen durch Schleuserbanden und den Schmuggel von Feuerwaffen regeln (vgl. den Bericht „Kampfansage an Al Capones Erben" in der SZ Nr. 90 v. 17.4.2000, S. 2; BMI (Hrsg.), Innenpolitik Nr. 1/2001, S. 10); siehe zu den Vorarbeiten den Tagungsbericht von: Plachta ZStW 110 (1998) 819fT. Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 17.7.1998; Statut des Internationalen Gerichts zur Verfolgung der Verantwortlichen für die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 25.5.1993; Schaffung des Internationalen Gerichts für Rwanda, Resolution 955 (1994) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 8.11.1994; weitere Beispiele bei Jung/ Schroth GA 1983,241,261.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
31
manenten gesellschaftlichen Wandel unterliegenden nationalen Strafverfahrensrechte ansehen könnte. Naturgemäß steigen die Probleme mit der Zahl der Unterzeichnerstaaten. So kann es nicht verwundern, dass die unter dem Mantel der UN und der OECD geschlossenen strafrechtlichen Abkommen ausschließlich Rahmenabkommen sind, die sich auf die Einführung bestimmter Verbrechenstatbestände oder allgemeiner strafrechtlicher Leitlinien beschränken. 116 Regelmäßig sind die in internationalen Übereinkommen gewährleisteten Rechte nicht vor einer unabhängigen Instanz einklagbar. So enthält beispielsweise der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 zahlreiche klassische Justizgrundrechte. 117 Weil er jedoch kein individuelles Beschwerdeverfahren, sondern lediglich eine eingeschränkte Möglichkeit der Staatenbeschwerde vorsieht, hat der IPBPR niemals eine solche Bedeutung wie etwa die E M R K erlangt. Am Ende steht die Erkenntnis, dass internationale Abkommen nicht als Instrument für eine umfassende Harmonisierung des Strafverfahrensrechts geeignet sind. Das gilt freilich nicht für das materielle Strafrecht. Hier gilt es, die Versuche der Vereinten Nationen zur Entwicklung eines „Weltstrafgesetzbuchs" aufmerksam zu verfolgen. Ansätze eines „Allgemeinen Teils des Völkerstrafrechts" finden sich beispielsweise schon im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. 118
3.
Europäische Union
Aufgrund des auch für das Strafrecht geltenden Grundsatzes vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht kommt als Institution für die Harmonisierung des Strafprozessrechts auch die Europäische Union in Betracht. Dass nationale strafrechtliche Bestimmungen nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fallen, gleichwohl „gemeinschaftsfreundlich" interpretiert und angewandt werden müssen, hat der EuGH im Urteil Cowan klargestellt.119 Indes ist die von der Europäischen Union angestrebte politische Einheit der europäischen Staaten nicht zwingend mit der Forderung nach Rechtseinheit verbunden. Die Schaffung und gegebenenfalls Kodifizierung eines gemeinsamen Rechts gehört per se weder zu den Zielsetzungen der Europäischen Gemeinschaften noch zu denen der Europäischen Union (Art. 2 EU). Im Gegenteil, Rechtsvereinheitlichung stellt allenfalls ein Instrument zum Erreichen der angestrebten Ziele
116
117 118 119
UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9.12.1948 (BGBl. 1954 II 729); UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen vom 20.12.1988 (Gesetz vom 22.7.1993; BGBl. 1993 II 1136); OECD-Übereinkommen vom 17.12.1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung - IntBestG - v. 10.9.1998 (BGBl. 1998 II 2327); hierzu: Taschke StV 2001, 78 ff. BGBl. 1973 II 1533. Dazu: Werte JZ 2000, 755, 758; Reichart ZRP 1996, 134 ff. EuGH, Slg. 1989, 195, 221 - Cowan (Entschädigungsanspruch bei Gewalttaten).
32
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
dar: die Sicherstellung eines funktionierenden Binnenmarktes und die Herausbildung einer politischen Union.120 a)
Kompetenzen im Amsterdamer
Vertrag
Ein Grund dafür, warum die Schaffung eines gemeinsamen Rechts nicht zu den Zielen des europäischen Einigungsprozesses zählt, ist der Umstand, dass Rechtseinheit historisch betrachtet mit dem Begriff des Nationalstaates verbunden ist. Deshalb unterliegen sämtliche rechtsvereinheitlichende Vorhaben der EG bzw. EU nicht nur dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 EU, Art. 5 EG), sondern auch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Demzufolge darf eine Harmonisierung und Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen lediglich punktuell und nur auf solchen Gebieten erfolgen, für die der EU-Vertrag bzw. EG-Vertrag den jeweiligen EU- bzw. EG-Organen eine entsprechende Kompetenz zuweist. Auf dem Sondergipfel von Tampere im Oktober 1999 haben die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsraums bis zum Jahr 2004 beschlossen. Vorrangiges Ziel auf dem Gebiet des Strafrechts ist die Verbesserung der nationalen Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung. Das Ziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hat bereits in den am 1.5.1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag Eingang gefunden und zu einigen wichtigen Änderungen auf dem Gebiet der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen geführt. Erstmals besitzt die Union nun strafrechtliche Kompetenzen.121 Diese befinden sich jedoch im Titel VI des EU-Vertrages und damit in der intergouvernementalen 3. Säule der Union, die - wie schon der Wortlaut des Titels und Art. 29 EU unmissverständlich zum Ausdruck bringen - von der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) und nicht vom Prinzip der Angleichung oder Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften geprägt ist.122 Immerhin sind aber die Ziele der erstmals durch den Maastrichter Vertrag institutionalisierten und zuvor in Art. Kl Nr. 7 EUV lediglich pauschal angeführten justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen nun in einem eigenen Vertrags-Artikel aufgeführt (Art. 31 EU). Weiterhin ausgeschlossen im Bereich der 3. Säule bleibt das für die Rechtsharmonisierung auf dem
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Vgl. Götz JZ 1994, 265, 266; für eine Beschränkung der EWG auf eine Angleichung des Wirtschaftsstrafrechts bereits: Johannes ZStW 83 (1971) 531, 532. Nicht zu verwechseln sind diese strafrechtlichen Kompetenzen mit der umstrittenen Kompetenz der EG/EU zum Erlass von Strafnormen. Der „strafrechtliche" Charakter von Geldbußen für Kartellund Wettbewerbsverstöße, die auf Art. 83 II (a) EG gestützt werden, sowie andere im EG-Recht vorgesehene verwaltungs(straf-)rechtliche Sanktionen spielen für die Vereinheitlichung der nationalen Strafverfahrensordnungen allenfalls eine Nebenrolle und sollen deshalb außer Betracht bleiben; vgl. hierzu: EuGH, NJW 1993, 47; Tiedemann in: FS für Roxin, S. 1401, 1406ff; Dannecker ZStW 108 (1996) 577ff.; Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 138f.; Vogel JZ 1995, 331, 332f.; zu den Neuerungen des Amsterdamer Vertrags auf dem Gebiet des Strafrechts: AlbrechtlBraum KritV 1998,460,467. Zum Aufbau und zur Struktur der Europäischen Union: Streinz Rn. 64ff.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
33
Gebiet des Verbraucherschutzes äußerst erfolgreiche Instrument der Richtlinie (Art. 249 III EG). Art. 34 II (b) und (c) EU sehen als neue Instrumente der Zusammenarbeit den Erlass von verbindlichen Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen vor.123 Das Rechtsinstrument des Rahmenbeschlusses ähnelt zwar der Richtlinie, weist aber einige signifikante Unterschiede auf. Rahmenbeschlüsse müssen einstimmig beschlossen werden. In den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind sie nicht unmittelbar wirksam, sondern bedürfen ebenso wie Richtlinien und die in Art. 34 II (d) EU vorgesehenen Übereinkommen einer Umsetzung auf nationaler Ebene. Aufgrund konkret gesetzter Umsetzungsfristen dürfte sich mit ihnen zwar eine gewisse Verfahrensbeschleunigung erzielen lassen. Indes ist die Kontrolle durch den EuGH bei Rahmenbeschlüssen deutlich geringer als bei Richtlinien. Der EU-Vertrag sieht keine Möglichkeit zur Überwachung ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vor. Das zeigt, wie weit die Union von der Entwicklung eines europäischen Rechtsstaats noch entfernt ist. Art. 35 EU gestattet die Anrufung des EuGH lediglich den Gerichten der Mitgliedstaaten und nur im Wege eines Vorabscheidungsverfahrens zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der nach Art. 34 II (c)-(e) EU erlassenen Beschlüsse, Rahmenbeschlüsse und Abkommen aus Anlass eines konkreten Rechtsstreits.124 Ausdrücklich sieht Art. 35 V EU vor, dass der Gerichtshof keine Kompetenz für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Strafverfolgung hat. Aus rechtsstaatlicher Sicht äußerst bedenklich ist, dass das Europäische Parlament nur ein Anhörungs-, Unterrichtungsund Empfehlungsrecht besitzt (Art. 39 EU). Für die Umsetzung von Übereinkommen hat der Amsterdamer Vertrag insofern eine Erleichterung gebracht, als für deren Inkrafttreten - freilich nur in den ratifizierenden Staaten - lediglich eine Ratifikation durch die Hälfte der Mitgliedstaaten erforderlich ist, soweit das Übereinkommen keine abweichende Regelung enthält. Die Annäherung des Strafrechts der EU-Mitgliedstaaten hat durch den Amsterdamer Vertrag eine deutliche Aufwertung erfahren.125 Dennoch kann von der Europäischen Union kein nachhaltiger Impuls für die Vereinheitlichung der europäischen Strafverfahrensordnungen erwartet werden. Die EU unterliegt auch auf dem Gebiet der Strafrechtsannäherung dem Subsidiaritätsprinzip und ist streng an den bereichspezifisch beschränkten Kompetenzkatalog der Art. 29 bis 31 EU gebunden. Eine über diese enumerativ aufgelisteten Einzelkompetenzen hinausgehende, bereichsunabhängige Kompetenz für das Straf- oder Strafverfahrensrecht - geschweige denn für dessen supranationale Angleichung - besitzt die Union derzeit nicht.126 Der Kompetenzkatalog des 123
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Vgl. Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 29.5.2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfalschung im Hinblick auf die Einführung des Euro (AB1EG Nr. L 140 v. 14.6.2000, S. 1); hierzu: Eisele JA 2000, 991, 996f. Siehe hierzu: EuGHG v. 6.8.1998 (BGBl. 1998 I 2035); Schomburg NJW 1999, 540, 543. So: Musil NStZ 2000, 68; HilftPache NJW 1998, 705, 707. Vgl. Kühne § 3 Rn. 54; Sieber ZStW 103 (1991) 957, 969; Zuleeg JZ 1992, 761, 762; Tiedemann NJW 1993, 23, 31; Weigend ZStW 105 (1993) 774, 779; Dannecker JZ 1996, 869; Vogel JZ 1995, 331, 332, 335. Auf die Kompetenz der EG-Organe zum Erlass strafrechtlicher Sanktion als Mittel der Betrugsbekämpfung (Art. 280 EG) wird später eingegangen.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Art. 31 EU liefert allenfalls Ansätze für eine Harmonisierung der nationalen Strafprozessrechte. Wie der gesamte Titel VI des EU-Vertrages steht auch er unter dem Primat der Zusammenarbeit.127 Mit welcher Skepsis und Zurückhaltung die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten einer Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Strafrechts gegenüberstehen, zeigen Formulierungen des Amsterdamer Vertragstextes recht deutlich. So gestattet Art. 31 (e) EU nur die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen Organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel. Art. 29 EU erlaubt eine Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten nach Art. 31 (e) EU nur, soweit dies erforderlich ist. Art. 31 (c) EU spricht von einer Gewährleistung der Vereinbarkeit, nicht aber von der Vereinheitlichung nationaler Rechtsvorschriften. Schließlich dürfen Beschlüsse nach Art. 34 II (c) EU ausdrücklich keine Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffen. Auch über die Vorschriften zur polizeilichen Zusammenarbeit lassen sich kaum Quellen für eine Vereinheitlichung der nationalen Strafprozessordnungen finden. Art. 30 II EU sieht zwar eine Weiterentwicklung von EUROPOL vor. Ein institutioneller Ausbau der Justiz auf EU-Ebene ist damit aber nicht verbunden. Hinzu kommt das rechtsstaatlich relevante Problem, dass die Institutionen nicht an die Garantien der EMRK gebunden sind, sondern diese gemäß Art. 6 II EU lediglich zu achten haben. Dass die Union in näherer Zukunft zusätzliche Kompetenzen auf dem Gebiet des (materiellen) Strafrechts oder gar des Strafverfahrensrechts erhält, ist eher unrealistisch, zumal einige EU-Staaten wie Frankreich, Portugal und Spanien oder Beitrittskandidaten wie Polen und Tschechien Mitte der 90er Jahre neue, nationale Strafgesetzbücher geschaffen haben.128 Schon die Vorgaben durch den Amsterdamer Vertrag machen
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Auch die Förder- und Austauschprogramme der Europäischen Kommission sind vorrangig auf die Verbesserung der Zusammenarbeit der nationalen Justizbehörden ausgerichtet. GROTIUS ist ein Förder- und Austauschprogramm für die Rechtsberufe. Der größte Teil des Geldes ist für die Unterstützung von Seminaren, Kolloquien und Konferenzen sowie für Austauschmaßnahmen vorgesehen (AB1EG Nr. L 287 v. 8.11.1996; Nr. C 87 v. 18.3.1997, S. 19). Mit dem Programm OISIN fördert die Kommission die Zusammenarbeit zwischen Polizei-, Zoll- und Strafverfolgungsbehörden durch Seminare, Kolloquien, operative Projekte, Ausbildung und Austausch (AB1EG Nr. L 7 v. 10.1.1997, S. 5). Neben diesen Ausschreibungen hat die Kommission einen „Aufruf zur Interessenbekundung" für die Aktion „Robert Schuman" veröffentlicht. Ziel des Pilotprogramms ist es, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte stärker an das Gemeinschaftsrecht heranzuführen. So unterstützt die Kommission Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für die Rechtsberufe (AB1EG Nr. C 2 v. 06.01. 1998, S. 8). FALCONE ist ein Austausch-, Ausbildungs- und Kooperationsprogramm für Personen, die in der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität tätig sind (Gemeinsame Maßnahme 98/245/JL, AB1EG Nr. L 99 v. 31.3.1998, S. 8). Das Programm STOP dient der Verstärkung der Kontakte zwischen Personen, die für die Bekämpfung des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Kindern zuständig sind. Siehe auch die aktuellen Programme unter: http://europe.eu.int/comm/ justice_home. 128 Zu den Reformen auf nationaler Ebene: Eser ZStW 108 (1996) 86ff.; zur Strafprozessrechtsnovelle in Tschechien (NJW-aktuell Heft 11/2000, X).
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
35
deutlich, dass die Vorhaben der Union auf dem Gebiet des Strafrechts überwiegend politisch motiviert sind. Strategien für eine Verbesserung der strafrechtlichen Zusammenarbeit oder Vorgaben für eine Vereinheitlichung der nationalen Vorschriften in den in Art. 31 EU genannten Teilbereichen des Strafrechts orientieren sich an aktuellen Kriminalitätserscheinungen. So soll zur Bekämpfung des zunehmenden Rechtsradikalismus im Internet auf Initiative des deutschen Justizministeriums unter Einbindung der USA eine EU-weite Abstimmung der Strafvorschriften erreicht werden.129 Erwähnt seien auch die Vorhaben zur Bekämpfung des Kreditkartenmissbrauchs, des internationalen Menschenhandels und der Internetkriminalität, die in erster Linie eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts betreffen.130 Zur internationalen Verfolgung von Straftaten aus klassischen Deliktsfeldern wird die Europäische Union aufgrund ihres begrenzten Kompetenzkatalogs keinen entscheidenden Beitrag leisten können. Auswirkungen auf das nationale Strafverfahrensrecht dürften sich allenfalls als Annex feststellen lassen131 - was vor der Forderung nach einer speziellen Regelungsermächtigung höchst problematisch ist - und selbst dann auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden abzielen. Immerhin zeichnet sich derzeit eine Verbesserung des Opferschutzes in der Union ab.132 Dass von der EU in absehbarer Zeit kein entscheidender Beitrag für eine Vereinheitlichung des Strafrechts - geschweige denn des Strafprozessrechts - erwartet werden kann, machen auch die Schlussempfehlungen des Europäischen Rates von Tampere deutlich. Ausdrücklich hat der Rat geäußert, „dass sich in Bezug auf das nationale Straf recht die Bemühungen zur Vereinbarung gemeinsamer Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktionen zunächst auf eine begrenzte Anzahl von besonders relevanten Bereichen, wie Finanzkriminalität (Geldwäsche, Bestechung, Fälschung des Euro), illegaler Drogenhandel, Menschenhandel, insbesondere die Ausbeutung von Frauen, sexuelle Ausbeutung
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Süddeutsche Zeitung Nr. 90 v. 17.4.2000, S. 1. So haben die europäischen Justiz- und Innenminister auf einem Treffen im März 2001 eine Einigung über Einzelheiten eines Rahmenbeschlusses zur Strafbarkeit der Schleuserkriminalität erzielt. Künftig soll europaweit die Höchststrafe für Menschenschmuggel bei mindestens sechs Jahren, in besonders schweren Fällen bei zehn Jahren liegen. Umstritten ist aber noch die Einführung einer sog. humanitären Klausel, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt, unter besonderen Bedingungen von einer Bestrafung des Schleusers abzusehen, etwa für den Fall, dass humanitäre Organisationen und nicht gewerbsmäßige Schlepper dem Flüchtling geholfen haben (SZ Nr. 63 v. 16.3.2001, S. 7). Zur Annexkompetenz bezüglich „bereichsspezifischer Zurechnungs- und Geltungsfragen": Vogel SZ 1995, 331,335. Rahmenbeschluss des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (AB1EG Nr. L 82 v. 22.3.2001). Mit Hilfe einheitlicher Mindeststandards sollen Opfer, die in einem anderen Land geschädigt wurden, über den Gang des Verfahrens informiert und möglicherweise rechtlich beraten werden. Zudem soll die Privatsphäre besser geschützt und die Sicherheit gewährleistet werden. Daneben ist der Ausbau des Täter-Opfer-Ausgleichs vorgesehen, so dass die materiellen und immateriellen Folgen der Tat zu Gunsten der Opfer durch den Täter behoben oder wenigstens verringert werden können. Verbessert werden soll schließlich auch die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden (Pressemitteilung des BMJ vom 29.9.2000, zitiert nach: NJW 2000, Heft 44, LI / WEISSER R I N G , Heft 3/2001, S. 15).
36
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
von Kindern, High-Tech-Kriminalität und Umweltkriminalität, konzentrieren sollten" (§48).'" b)
Betrugsbekämpfung
( OLAF / Corpus
Juris)
Eine gesonderte Betrachtung verdienen die Maßnahmen der Europäischen Union im Rahmen der Betrugsbekämpfung.134 Auf der Grundlage des durch den Amsterdamer Vertrag geschaffenen Art. 280 IV EG kann die Gemeinschaft die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Weil der Wortlaut des Art. 280 EG strafrechtliche Sanktionen als Reaktionsform einerseits nicht ausschließt, Art. 280 IV EG andererseits aber festschreibt, dass die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege von diesen Maßnahmen unberührt bleiben, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob die Vorschrift den Organen der EG tatsächlich eine bereichsspezifische Kompetenz zum Erlass von Strafrechtsnormen gewährt.135 Jedenfalls lösen die bestehenden Instrumente der europäischen Betrugsbekämpfung strafprozessual gesehen keine Euphorie aus, sondern bieten eher Anlass zur Sorge. Bereits 1988 hatte die EU-Kommission auf der Grundlage von Art. 209 EGV eine Direktion zur Bekämpfung von Betrügereien zu Lasten der Gemeinschaft eingerichtet (Unite de coordination de la lutte anti-fraude - UCLAF). Ursprünglich konnten die UCLAFMitarbeiter lediglich die Beamten der Mitgliedstaaten bei entsprechenden Kontrollen begleiten. Durch eine Verordnung wurde UCLAF 1997 als erste Gemeinschaftsbehörde mit eigenen Ermittlungskompetenzen in den Mitgliedstaaten ausgestattet.136 Obwohl die UCLAF-Kontrolleure selbst keine Beschlagnahmen oder Festnahmen vornehmen durften, wurde durch ihre externen Befugnisse praktisch ein dem nationalen Strafverfahren vorgelagertes „Ermittlungsverfahren" installiert.137 Durch die Bindung der Ermittlungskompetenzen an die nationalen Verfahrensrechte entstand auch hier die Gefahr eines Befugnis- bzw. „Procedure shopping".138 Die Ablösung von UCLAF durch OLAF 139 hat dieses Problem keineswegs entschärft. Auch die OLAF-Kontrolleure dürfen Kontrollen 133
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Dok. des Rates der EU Sn. 200/99/cab (http://europa.eu.int/council/off/conclu/index.htm): auszugsweise abgedruckt in NJW 2001, 339, 340. Siehe hierzu: „Betrügereien in der EU geschehen zum Nachteil des Steuerzahlers", in: Blickpunkt Bundestag 5/2000, S. 49. Zum Meinungsstreit: Eisele JA 2000, 896,897 f.; für eine Kompetenz zum Erlass strafrechtlicher Normen: Tiedemann in: FS für Roxin, S. 1401, 1406ff.; ders. GA 1998, 107, 108; Zieschang ZStW 113 (2001) 255, 261; gegen eine solche Kompetenz: AlbrechtlBraum KritVj 1998, 460, 470f.; Musil NStZ 2000, 68; zu den verfassungsrechtlichen Problemen: Braum JZ 2000,493, 500. Dieser Streit soll durch die Einführung eines neuen Art. 280a EG entschärft werden, der dem Rat ausdrücklich die Kompetenz zur Festlegung bestimmter Straftatbestände und Strafen gestatten soll. Siehe hierzu die geplante Fassung des Art. 280a EG bei: Tiedemann in: FS für Roxin, S. 1401, 1413. Siehe: Verordnung der EG/EURATOM Nr. 2185/96, AB1EG Nr. L 292 v. 11.11.1996, S. 2. Vgl. zu den „strafprozessualen" Kompetenzen der UCLAF-Kontrolleure: Kühne § 3 Rn. 95; Kühl Kriminalistik 1997, 105, 108fT. So: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 744; Kühne aaO; zum Einsatz der UCLAF-Kontrolleure: Gleß/Lüke Jura 1998, 70, 78.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
37
und Überprüfungen bei Wirtschaftsteilnehmern in sämtlichen Mitgliedstaaten durchführen, wenn die begründete Annahme besteht, dass Unregelmäßigkeiten oder Betrügereien begangen worden sind (Art. 3, 4 III VO). Die von OLAF gesammelten Beweise und Berichte können in nationalen Strafverfahren verwendet werden (Art. 9 II, III VO). Obwohl gerade durch den Begriff der „begründeten Annahme" einer Unregelmäßigkeit oder Betrügerei jeder Verdacht eines durch OLAF-Kontrolleure bereits in Gang gesetzten Strafverfahrens vermieden werden sollte, muss man die Personen, deren Rechte durch eine externe OLAF-Kontrolle betroffen sind, als „Beschuldigte" bezeichnen. 140 Genau hierin, in dem Ableugnen der Tatsache, dass für ein Handeln von OLAF im Prinzip ein strafprozessualer Anfangsverdacht erforderlich ist, besteht das eigentliche Problem dieser Behörde. Welche Rechte der von OLAF-Untersuchungen betroffenen Personen oder Unternehmen im Stadium der OLAF-Ermittlungen „zu wahren" sind, wird von der Verordnung ebenso offengelassen wie die Frage, nach welchen Vorschriften sich etwaige Beweisverwertungsverbote richten.141 Betrugsfalle und andere Unregelmäßigkeiten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft verursachten im Jahr 2000 einen auf insgesamt über eine Milliarde Euro geschätzten Schaden.142 Im Juni 2000 billigte die Europäische Kommission einen Vorschlag zur strategischen Ausrichtung der Betrugsbekämpfungspolitik der Union. In Zukunft sollen Betrugsbekämpfungsbestimmungen in alle legislativen und politischen Initiativen der Kommission einbezogen werden. Zugleich soll OLAF durch eine Stärkung seiner strafrechtlichen Kompetenzen zu einem fachbereichsübergreifenden Knotenpunkt werden. In ihrer Presseerklärung vom 29.6.2000 kommt die EU-Kommission zu dem Ergebnis, dass OLAF nur dann ein schlagkräftiges Instrument für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften sein kann, wenn die vorhandenen Informationen besser ausgewertet werden. Die Inanspruchnahme wirksamer strafrechtlicher Instrumente gerade in schwerwiegenden Betrugsfallen stößt derzeit noch auf Hindernisse, weil die Komplexität der Betrugsfälle und die unterschiedlichen Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten allzu oft zur Folge haben, dass sich die Mitgliedstaaten nur auf ihre eigenen Ermittlungen stützen. Bedauerlicherweise sieht die Kommission die Lösung des Problems allein in einer engen und regelmäßigen Zusammenarbeit zwischen OLAF und den Justizbehörden der Mitgliedstaaten.143 Für die Entwicklung eines europäischen Strafprozessrechts weitaus interessanter ist die von der Kommission im Oktober 2000 vorgeschlagene und im Zuge der Reform des Ge139
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Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), AB1EG Nr. L 136 v. 31.5.99, S. 1. Zu den Schwierigkeiten in Hinblick auf die strafprozessualen Terminologien bereits bei der UCLAF-VO: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 744-745. Zum unzureichenden Rechtsschutz gegen OLAF-Kontrollen durch den EuGH: Albrecht StV 2001, 69, 72. Vgl. zur Schadensbilanz für das Jahr 1996: Kohl in: Krevert/Kohl (Hrsg.), Europäische Beiträge zur Kriminalität und Prävention, S. 30, 37, Fn. 31. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 29.6.2000; zur Entstehung und Arbeitsweise des OLAF-Vorgängers UCLAF: Nelles ZStW 109 (1997) 727, 742-745; Kohl aaO, 37f.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
richtssystems der Europäischen Gemeinschaften auf der Basis eines neuen Art. 280a EG geplante Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften. Mit ihrer Hilfe soll der Organisierten Kriminalität im Rahmen grenzüberschreitender Betrugshandlungen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft wirksamer entgegengetreten werden, weil sich die Schwierigkeiten beim Kampf gegen Betrugshandlungen durch die derzeit bestehende Zusammenarbeit und Kooperation zwischen den nationalen Justiz- und Polizeibehörden aufgrund der unterschiedlichen materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften häufig nicht überwinden lassen. Die dem europäischen Staatsanwalt übertragenen Befugnisse sollen allerdings strikt auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft begrenzt sein. Die europäische Staatsanwaltschaft soll eine dezentralisierte Struktur erhalten. Neben ihren wesentlichen Strukturmerkmalen (Ernennung, Entlassung, Aufgabe, Unabhängigkeit) sollen sich die Modalitäten und Einzelheiten ihrer Arbeitsweise aus dem abgeleiteten Recht ergeben. Die Verzahnung zwischen der Gemeinschaftsebene und den Gerichtssystemen der Mitgliedstaaten soll dadurch gewährleistet werden, dass der europäische Staatsanwalt in den Mitgliedstaaten von bevollmächtigten europäischen Staatsanwälten unterstützt wird. 144
Diese strafprozessual höchst interessanten Ansätze weichen jedoch einer gewissen Ernüchterung. Anklage erheben kann der europäische Staatsanwalt nämlich lediglich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten. Auch spricht der fast schon „salvatorisch" anmutende Schlusssatz der Pressemitteilung der Europäischen Kommission v. 2.10.2000 Bände, wonach eine Vergemeinschaftung der Rechtsprechungsfunktion der Strafjustiz mit der Schaffung des europäischen Staatsanwalts nicht beabsichtigt sei und diese weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.145 Obwohl über die Notwendigkeit einer effizienten Bekämpfung länderübergreifender Betrugsfalle vielfach Konsens besteht, ist der Vorschlag zur Einsetzung eines für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zuständigen europäischen Staatsanwaltes und die damit verbundene Zentralisierung der Strafverfolgung in einem strafrechtlichen Teilbereich, für den es noch kein einheitliches materielles und formelles Recht gibt, in der Praxis mit Vorsicht und Zurückhaltung aufgenommen worden. Vor allem der drohende Souveränitätsverlust, eine fehlende institutionelle Anbindung des europäischen Staatsanwaltes, die Frage nach der politischen Verantwortung für eine derartige Institution und schließlich die Frage des gesetzlichen Richters werden gestellt.146 144
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Der Vorschlag einer europäischen Staatsanwaltschaft geht auf Art. 18 des Corpus Juris zurück (dazu sogleich). Auf der EU-Regierungskonferenz in Nizza wurde der Vorschlag der Kommission (noch) nicht umgesetzt. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 02.10.2000 (NJW 2000, Heft 44 LI); Drucks. KOM (2000) 608, S. 10. Beschlüsse der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11.2000 in Brüssel, abgedruckt in: NJW 2000, Heft 51, XIV-XVIII; kritisch zur Einrichtung immer neuer Institutionen bei gleichzeitiger mangelnder Abstimmung der Aufgabenbereiche: Schomburg NJW 2001, 801.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
39
Der Vorschlag zur Errichtung des Amtes eines Europäischen Staatsanwaltes geht auf das im Auftrag der Europäischen Kommission von einer Expertengruppe unter der Leitung von Delmas-Marty zum Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaften entworfene Corpus Juris zurück, dem für die Entwicklung eines Europäischen Strafverfahrensrechts durchaus Schrittmacherfunktion zukommen kann, wobei das nationale Recht eine subsidiäre Bedeutung behält.147 Neben Vorschriften des materiellen Strafrechts 148 enthält das Corpus Juris strafprozessuale Regelungen, die auf den Grundsätzen des Europäischen Territorialitätsprinzips beruhen und von den Grundsätzen der richterlichen Rechtskontrolle und des kontradiktorischen Verfahrens geprägt sind. Dazu gehören Vorschriften zum Beschuldigtenschutz und Regelungen zum Beweisrecht. Außerdem sieht das Corpus Juris - wie bereits erwähnt - die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vor, die mit europaweiten Ermittlungsbefugnissen ausgestattet (Art. 18-24 CJ) und, was die Rechtsstaatlichkeit ihrer Tätigkeit betrifft, von einem Juge des liberies überwacht werden soll (Art. 25-26 CJ). Als Quelle und Katalysator für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte kann sich das Corpus Juris vor allem deshalb erweisen, weil es in seinem Regelungsgehalt über das Ermittlungsstadium hinausgeht und auch Vorschriften zum Ablauf der Hauptverhandlung enthält. Letztere soll vor den nationalen Strafgerichten stattfinden. Hervorhebung verdienen die uneingeschränkte Garantie der in der E M R K enthaltenen Verteidigungsrechte (Art. 29 CJ), die Unschuldsvermutung (Art. 31 CJ), das Selbstbelastungsprivileg (Art. 31 CJ) sowie Regelungen zur Beweisverwertung, darunter das allgemeine Verbot der Verwertung unrechtmäßig erlangter Beweise (Art. 33 CJ). Die in Art. 33 § 2 CJ vorgesehene Beweisverwertung „auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner" und die „nationale" Anklageerhebung auf nationaler Ebene sowie die dadurch bedingte Rechtswegspaltung haben allerdings berechtigte Kritik hervorgerufen. 149 Aus strafverfahrensrechtlicher Sicht besteht außerdem noch Klärungsbedarf beim Zusammenspiel der nationalen Strafverfolgungsbehörden mit der europäischen Staatsanwaltschaft sowie bei der Kontrolle der europäischen Staatsanwaltschaft durch nationale Ermittlungs- und Untersuchungsrichter. 150 Obwohl und gerade weil das Corpus Juris in der Wissenschaft auf teilweise harsche Kritik gestoßen ist, gilt es seine Entwicklung mit großem Interesse weiter zu verfolgen.151 In dem Vorwurf der unnötigen Kriminalisierung und den
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151
Vgl. Kühne § 3 Rn. 64; Zieschang ZStW 113 (2001) 255, 258; Jung JuS 2000, 417, 423: „Stimuluswirkung"; Sieber in: Delmas-Marty, Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, S. 1,7; Perron ZStW 112 (2000) 202, 203, 221 f.; zur Ausarbeitung des Corpus Juris siehe auch den Tagungsbericht von: HuberlRuegenberg ZStW 110 (1998) 279 ff. Hierzu ausführlich: Otto Jura 2000, 98 ff. Kritisch: Kühne § 3 Rn. 66; zum Entwurf des Corpus Juris insgesamt: Hassemer KritV 1999, 136. Hierzu: Weigend StV 2001, 63, 65, Fn. 37; Perron ZStW 112 (2000) 202, 222, insbesondere mit Vorschlag zur Einführung eines europäischen Ermittlungsrichters. Selbst die Art und Weise, in der ein konsensfahiges Corpus Juris „vergemeinschaftet" werden könnte, ist derzeit Gegenstand wissenschaftlicher Kontroverse. Es ist umstritten, ob es in der 1. Säule der Union auf der Basis des Art. 280 E G als Richtlinie oder Verordnung verankert werden kann oder im
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
Zweifeln an der Notwendigkeit eines eigenen strafrechtlichen Schutzes der EG-Vermögensinteressen auf europäischer Ebene, außerhalb der nationalen Strafrechtsordnungen152, spiegeln sich die auf dem Gebiet des Strafrechts immer noch bestehenden Souveränitätsvorbehalte, mit denen auch das Corpus Juris in den nächsten Jahren sicher noch zu kämpfen haben wird. c)
Leitsätze einer europäischen Verfassung
Gelegentlich werden auch die vom EuGH entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte und Leitsätze einer europäischen Verfassung als Quelle für eine Angleichung der nationalen Strafprozessordnungen ins Spiel gebracht, die sich ihrerseits aus den gemeinsamen überlieferten Verfassungstraditionen und den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zusammensetzen (vgl. Art. F II EUV, Art. 6 II EU) und in den im Dezember 2000 in Nizza proklamierten Entwurf einer EU-Charta der Grundrechte Eingang gefunden haben. Indes mangelt es an einer Institution, die den eher abstrakten Leitsätzen und Verfassungsprinzipien strafprozessuales Leben einhauchen könnte. Der EuGH besitzt auch nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages für eine strafprozessuale Auslegung dieser Verfassungsprinzipien keine Kompetenz.153 d)
Fazit
Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Die Europäische Union hat von ihren Mitgliedstaaten bisher keinen allgemeinen Auftrag zur Herstellung einer Rechtseinheit oder eines europäischen Rechtsstaats erhalten, sondern soll sich auf die Entwicklung eines Europäischen Rechtsraums beschränken. Aus diesem Grund folgt die Angleichung und Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen keinem allgemeinen Prinzip, sondern definiert sich über die Erreichung bestimmter politischer oder ökonomischer Ziele. Außer auf dem Gebiet der Betrugsbekämpfung besteht derzeit für die Europäische Union - und die hinter ihr stehenden Staaten - offensichtlich kein Bedürfnis für eine Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte. Aufgrund ihrer beschränkten strafrechtlichen Kompetenzen (Art. 29-31 EU, Art. 280 EG) kann von der Europäischen Union allenfalls ein Harmonisierungsbeitrag erwartet werden, der sich auf ihre eigenen Interessen beschränkt. Das ist im wesentlichen der Schutz des eigenen Vermögens. Die Angleichung nationaler Strafverfahrensrechte auf EU-Ebene wird unter der Maßgabe polizeilicher Effektivität erfolgen. Dagegen ist die Entstehung eines dem Beschuldigtenschutz verpflichteten Europäischen Strafverfahrensrechts auf EU-Ebene nicht zu erwarten.
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Rahmen der 3. Säule als Übereinkommen bzw. Rahmenbeschluss von den nationalen Parlamenten ratifiziert bzw. umgesetzt werden muss (Art. 34 II (b), (d) EU). Mit der geplanten Einfügung eines Art. 280a EG dürfte sich dieser Streit allerdings erledigen. Skeptisch zur Machbarkeit und weiteren Entwicklung des Corpus Juris: Braum JZ 2000,493, 500; siehe auch: Kühne StV 2001, 73, 74. Vgl. Manoledakis KritV 1999, 181, 185; Hassemer KritV 1999, 137f.; Braum JZ 2000, 493, 499; kritisch zu den formellen Regelungen des Corpus Juris: Wattenberg StV 2000, 95, 100ff.; für einen Schutz der EG-Vermögensinteressen auf europäischer Ebene dagegen: Weigend StV 2001, 63, 68. Vgl. Nelles ZStW 109 (1997) 727, 751 Fn. 119; Jung JuS 2000, 417,422.
II. Quellen für die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte
41
Das Corpus Juris, der bisher einzige strafprozessuale Lichtblick, hat von der Rechtswissenschaft leider nicht die Unterstützung erfahren, die es ihm erlauben würde, sich zu einem rechtsstaatlichen Gegenpol zu den sich einer justitiellen Kontrolle weitgehend entziehenden Institutionen EUROPOL, OLAF und EUROJUST zu entwickeln. Überdies scheint die Union derzeit einer Harmonisierung der nationalen Bestimmungen zum Asylrecht und damit der äußeren Sicherheit einen größeren politischen Stellenwert beizumessen.154 Der Entwurf einer Europäischen Verfassung in Form einer Charta der Grundfreiheiten ist sicherlich ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Solange aber die Staatlichkeit der Europäischen Union weiterhin ungeklärt ist, kann die Entstehung des so dringlichen europäischen Rechtsstaats nicht erwartet werden. Schon gar nicht dürfte von der Union ein über die in den Art. 29 bis 31 EU genannten Bereiche hinausgehender Anpassungsdruck ausgehen.155 Die beabsichtigte und auf einigen Gebieten auch schon in Angriff genommene Schaffung eines Europäischen Rechtsraums bis zum Jahr 2004 wird sich kaum als wirksames Instrument zur Überwindung nationaler Souveränitätsvorbehalte erweisen.
4.
Europarat
Anders als die Europäische (Wirtschafts-)Gemeinschaft versteht sich der mit dem Beitritt Armeniens und Aserbaidschans am 25.1.2000 aus nunmehr 43 Staaten156 bestehende Europarat seit seiner Gründung am 5. Mai 1949 als eine Institution, die sich losgelöst von wirtschaftlichen Zielen den Grundsätzen der Freiheit, den Prinzipien der Demokratie, dem Schutz der Menschenrechte und dem Rechtsstaat verschrieben hat. Auf das einheitsstiftende und zugleich integrative Element, das der Satzung des Europarates innewohnt, wurde bereits mehrfach hingewiesen.157 So kann es nicht verwundern, dass der Europarat immer häufiger als geeignete Institution für eine Vereinheitlichung und Kodifizierung des materiellen Rechthilferechts ins Spiel gebracht wird. Neben der politischen Erfahrung, die er durch den Abschluss zahlreicher Konventionen auf dem Gebiet des internationalen Strafrechts erlangt hat, prädestinieren ihn vor allem seine im Verhältnis zur Europäischen Union größere Zahl an Mitgliedern und die dadurch bedingte kriminalgeographische Abdeckung.158 Letzteres ist vor allem deshalb wichtig,
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Die Harmonisierung des Asyl- und Einwanderungsrechts kommt derzeit nur sehr schleppend voran; vgl.: SZ Nr. 122 v. 29.5.2001, S. 8 („EU noch uneins über gemeinsame Asylpolitik"). So aber: Perron ZStW 109 (1997) 281, 297. Nach dem Beitritt von Bosnien-Herzegowina am 24.4.2002 besteht der Europarat aus 44 Mitgliedstaaten. So etwa: Götz JZ 1994, 265, 269; Kälin in: FS für Schindler, S. 529, 531. Vgl. Schomburg NJW 1999, 550; ders. NJW 2001, 801, 804; Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 147; zur Einbeziehung von Staaten außerhalb der Europäischen Union auch: Eisele JA 2000, 991, 999.
42
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
weil Ost-, Mittel- und Westeuropa mittlerweile zu einem zusammenhängenden kriminalgeographischen Aktionsraum geworden sind.159 Dem Europarat ist es in der Vergangenheit gelungen, auch solche Staaten in den Prozess der Internationalisierung des Strafrechts einzubinden, die derzeit (noch) nicht Mitglied der Europäischen Union sind, bei der internationalen Kriminalität aufgrund verschiedener Faktoren aber eine bedeutende Rolle spielen. Das gilt vor allem für die Staaten Ost- und Südosteuropas, die aufgrund des nach wie vor hohen Wohlstandsgefalles zu den EU-Staaten besonders relevante kriminogene Faktoren aufweisen. Wie wichtig die Einbeziehung von Nicht-EU-Staaten in ein grenzüberschreitendes Konzept zur Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung ist, zeigt sich bereits bei der Arbeit mit dem auf dem SDÜ beruhenden System der internationalen Personenfahndung, dem Schengener Informationssystem (SIS).160 Dennoch sind die Erfolge, die der Europarat auf dem Gebiet der Rechtshilfe und strafrechtlichen Zusammenarbeit zu verzeichnen hat, begrenzt.161 Zwar haben das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 (EuAuslÜbk) und das Europäische Rechtshilfeübereinkommen von 1959 (EuRhÜbk) selbst in den Staaten, in denen 1995 das SDÜ in Kraft getreten ist - kaum an Bedeutung eingebüßt. Wie viele andere internationale Organisationen musste aber auch der Europarat in der Vergangenheit schmerzlich erfahren, dass die Ratifizierung und Umsetzung internationaler Übereinkommen vom politischen Willen der Unterzeichnerstaaten abhängt. So haben viele Staaten das Zusatzprotokoll zum EuRhÜbk vom 17.3.1978 (ETS 99) und das Zusatzprotokoll vom 18.12.1997 zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (ETS 167)162 nicht ratifiziert.163 Angesichts der Tatsache, dass sich die Rechtsangleichung bereits in der Gründungssatzung vom 5. Mai 1949 als Instrument für die Herstellung einer engeren Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten findet, ist es mehr als bedauerlich, dass dem Europarat derzeit offensichtlich nur eine Kompetenz zur Vereinheitlichung der Rechtshilfe zugetraut wird. Das überrascht umso mehr, als einige Vertreter, die für eine Vereinheitlichung der Rechtshilfe unter dem Dach des Europarats plädieren, den Stand der Europäischen Menschenrechtskonvention - und mittelbar damit auch die Rechtsprechung
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Kohl in: Krevert/Kohl (Hrsg.), Europäische Beiträge zur Kriminalität und Prävention, S. 30; vgl. auch den Lagebericht zur KfZ-Verschiebung: Reinhardt Kriminalistik 1996, 573 ff. Zur Arbeit mit dem SIS: Scheller JZ 1992, 904fT.; Hemesath Kriminalistik 1995, 169ffi; Wilkesmann NStZ 1999, 68 ff.; zur Konkurrenz mit INTERPOL- bzw. EUROPOL-Fahndungen: Sturm Kriminalistik 1997, 99 ff. Vgl. die Aufstellung der strafrechtlichen Übereinkommen bei: Vogler Jura 1992, 586ff. Für Deutschland noch nicht in Kraft getreten, jedoch wächst mittlerweile der innenpolitische Druck auf die Bundesregierung (vgl.: Beschlüsse der Justizministerinnen und Justizminister vom 22.-24.11. 2000 (NJW-Informationen, Heft 51/2000, XIV-XVIII). Der Bundesrat hat die Bundesregierung in einer Entschließung vom 17.3.2000 gebeten, die Ratifizierung mit Nachdruck voranzutreiben (vgl. NJW-Informationen, Heft 12/2001, XVI-XVII); siehe auch: Schomburg NJW 2000, 340, 341. Mittlerweile hat die Bundesregierung entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht (14/8995 und 14/8996), denen der Bundesrat am 12.7.2002 im Wesentlichen zugestimmt hat. Zur zögerlichen Ratifikation der Europaratsübereinkommen: Jung JuS 2000, 417,418.
III. Strategien einer Angleichung
43
des EGMR - durchaus in einem positiven Licht zeichnen.164 Zwar ist es eine ernst zu nehmende Vision, als Parallele zum Internationalen Strafgerichtshof auch die Errichtung eines Europäischen Strafgerichtshof zu fordern. Nur, auf welches Strafverfahrensrecht, auf welche Beweisregeln, auf welche Beschuldigtenrechte dieser Gerichtshof zurückgreifen soll, bleibt offen.165 Der Europarat ist eine geeignete Institution, um die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte voranzutreiben. Das führt uns zu der Frage, über welche Strategien diese Angleichung vonstatten gehen soll.
III.
Strategien einer Angleichung
1.
Instrumente einer informellen Rezeption
Als Quelle für ein an rechtsstaatlichen Prinzipien und der Garantie von Beschuldigtenrechten orientiertes europäisches Strafverfahrensrecht kommt derzeit allein der Europarat in Frage. Vom Umfang her müsste dieses Strafverfahrensrecht harmonisierte Eingriffsstandards im Bereich der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen bieten, eine freie Konvertierbarkeit der vorgerichtlich gesammelten Beweise garantieren, einen dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit entsprechenden Beschuldigtenschutz bieten sowie verbindliche strukturelle und organisationsrechtliche Anforderungen an die Gerichte stellen, die über den konkreten strafrechtlichen Vorwurf entscheiden. Solange sich in Europa kein politisch nach außen und durch eine Verfassung nach innen gefestigter Staatenbund herausgebildet hat, werden die Staaten nicht bereit sein, unter Aufgabe rechtskultureller Eigenheiten und strafverfahrensrechtlicher Kompetenzen völkerrechtliche Abkommen zum Strafverfahrensrecht auf der Ebene des Europarats zu schließen. Eine weitreichende Harmonisierung der europäischen Strafverfahrensrechte im Wege einer freiwilligen, sei es formellen oder informellen, Rezeption wird an den Souveränitätsansprüchen der Nationalstaaten scheitern, wenngleich es immer wieder Beispiele gibt, in denen sich Staaten bei der Reform ihres nationalen Strafrechts an der Strafrechtsordnung eines anderen Staates maßgeblich orientiert haben.166 Eine solche „bilaterale" Angleichung ist aus gesamteuropäischer Sicht sicher nicht der große Wurf. Sie hat nämlich den Nachteil, dass sich die Blockbildung zwischen den vier Grundtypen europäischer Strafverfahrensordnungen eher noch verschärfen wird, weil der Beitritt eines weiteren Staates zu einem dieser vier Typen von den anderen Staaten als Bestätigung der eigenen nationalen Rechtsordnung empfunden werden kann: Was
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Vgl. Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 136; Schomburg NJW 2001, 801 („lebendige, judizierte Menschenrechtskonvention"); Jung ZStW 112 (2000) 866, 873. Für die Gründung eines Europäischen Strafgerichtshofs: Schomburg NJW 2001, 801, 803. Zu Beispielen aus dem Bereich des materiellen Strafrechts: Jung/Schroth GA 1983, 241, 248 f.
44
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
andere übernehmen, kann so schlecht gar nicht sein. Solche „bilateralen" Angleichungsprozesse sind die logische Folge einer auf dem Gebiet des Strafrechts immer noch unvollständigen Rechtsvergleichung. Letztere ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass man nunmehr eine verlässliche Aussage darüber treffen könnte, welcher der vier Grundtypen - oder welche seiner Bestandteile - als Grundmodell für eine Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte in Betracht kommt.167 Die Suche nach einem Instrument für die informelle und freiwillige Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte, wie sie beispielsweise Sieber bei der Bewertung der unterschiedlichen Vorzüge eines Supranationalen Modellgesetzes anstellt, ist im Grunde müßig.168 Weder ein Modellgesetz noch eine Konvention sind mit einer Zwangswirkung ausgestattet, mit deren Hilfe sich die politischen Vorbehalte der europäischen Staaten auf dem Weg zu einem supranationalen Strafverfahrensrecht überwinden ließen. In Ermangelung des für die nationalstaatliche Umsetzung erforderlichen kriminalpolitischen Konsenses dürften sie das Schicksal des bereits 1971 im Europarat behandelten Model Penal Code teilen.169 Selbst wenn die Zeichnung eines Übereinkommens oder die Einigung auf ein Modellgesetz gelänge, dürfte spätestens im Stadium der Ratifizierung deutlich werden, was von Absichtserklärungen - trotz ihrer völkerrechtlichen Verbindlichkeit - am Ende bleibt. Dafür dass eine Vereinheitlichung des Strafverfahrensrechts durch eine Konvention des Europarats derzeit nicht zu erwarten ist, stehen die überaus zähen Verhandlungen bei der Zeichnung des Zusatzprotokolls zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen vom 17.3.1978.170 Da die nationalen Rechtsordnungen auf dem Gebiet der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen eine Eingriffsschwelle von ganz unterschiedlicher Intensität vorschreiben, wäre auch zu klären, ob eine Harmonisierung der nationalen Vorschriften auf der Basis der höchsten oder niedrigsten Eingriffsschwelle erfolgen soll. Die Vor- und Nachteile einer Deregulierung nationaler Strafprozessrechte bzw. einer Angleichung auf dem Höchststandard wurden bereits diskutiert.171 In dieser Frage einen vertraglichen Konsens herzustellen, dürfte in absehbarer Zeit kaum zu realisieren sein. Die Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte wird sich daher nicht auf breiter Ebene, sondern in vielen kleinen Schritten vollziehen müssen.172
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Kritisch zum Stand der Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts bereits: Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 153. Sieber JZ 1997, 369 fT. Skeptisch auch: Weigend ZStW 105 (1993) 774, 790; Jung JuS 2000, 417, 423: „Orientierungsfunktion"; zum Model Penal Code: Vogel JZ 1995, 331, 334. Zum Konkurrenzverhältnis zwischen dem am 29.5.2000 von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gezeichneten Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (AB1EG Nr. C 197 v. 12.7. 2000, S. 3-23) und dem Zusatzprotokoll vom 17.3.1978 zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen - des Europarats-vom 20.4.1959 (BGBl. 1990 II 124; 1991 II 909): Schomburg NJW 2001, 801. Vgl. Sieber ZStW 103 (1991) 961; Nelles ZStW 109 (1997) 727, 749-750. Ebenso: Otto Jura 2000, 98, 99.
III. Strategien einer Angleichung
2.
45
Rezeption der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg
Auf der Suche nach einem mit der erforderlichen Zwangswirkung ausgestatteten Katalysator, der die Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte auf einem rechtsstaatlich hohen Standard beschleunigen kann, stößt man auf die am 4.11.1950 unterzeichnete und am 3.9.1953 in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den am 21.1.1959 eingerichteten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Obwohl die Menschenrechte ihrem Wesen nach eigentlich als Schranke nationaler strafprozessualer Eingriffsbefugnisse gelten, hat die Idee einer Vereinheitlichung des nationalen Strafrechts auf der Grundlage der Menschenrechte durchaus historische Vorläufer. So haben in der Vergangenheit vor allem die Naturrechtsbewegung der Aufklärung und die im Zuge der französischen Revolution verfasste Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Anstöße für eine Harmonisierung des Strafrechts in Europa geliefert. Auch der Ansatz einer Vereinheitlichung der Strafverfahrensrechte in Europa auf der Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg ist eigentlich nicht neu. Auf die Bedeutung der EMRK im strafprozessualen Gefüge der europäischen Nationalstaaten hat Kühne bereits 1978 ausdrücklich hingewiesen.173 Den Gedanken einer Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte über die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR haben JunglSchroth 1983 formuliert.174 Weitere fünf Jahre später haben sich Kühl und andere Vertreter der nationalen europäischen Strafrechtswissenschaften mit dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention auf die nationalen Strafverfahrensrechte befasst.175 Eine erste Zusammenstellung und Analyse der Urteile des EGMR wurde 1993 von Uerpmann vorgelegt.176 Diese Arbeiten haben eine breite wissenschaftliche Diskussion über die Eignung des strafprozessualen Potentials der Straßburger Rechtsprechung für die Harmonisierung der europäischen Strafverfahrensrechte nicht in Gang zu bringen vermocht. Spätestens nach dem Abschluss der beiden Schengener Übereinkommen von 1985 und 1990 hätte eine vertiefte Auseinandersetzung über die Notwendigkeit und Problematik einer Europäisierung des Strafverfahrensrechts einsetzen müssen, weil die durch die Öffnung der Grenzen entstandenen Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der transnationalen Kriminalität vorhersehbar waren. Dagegen ist das strafprozessuale Potential der EMRK erst Ende der 90er Jahre in
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Kühne Strafprozeßlehre, 1978, § 2 S. 7ff.;zur Rolle der EMRK als Rechtsquelle des formellen Strafrechts: Krey JA 1983, 638 ff. JunglSchroth GA 1983, 241, 259-261. Siehe: Kühl ZStW 100 (1988) 406ff; 601 ff, sowie die Tagungsberichte von: Mitsch JZ 1989, 1047, 1048 - Strafrechtslehrertagung 1989; Spaniol JZ 1988, 398f.; dies. ZStW 100 (1988) 712ff; Hemeling JZ 1986, 327; siehe auch: Boulan La Convention europeenne des droits de l'homme et le droit penal procedural. Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993.
46
1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
das Bewusstsein der Wissenschaft gerückt.177 Das muss um so mehr überraschen, als Uerpmann schon in seiner 1993 vorgelegten Arbeit zu dem Ergebnis kam, dass vor allem die strafprozessualen Urteile des Gerichtshofs einen Schwerpunkt der Rezeption bilden.178 Perron hält zwar das Potential für eine gegenseitige Annäherung oder gar Angleichung der nationalen Strafverfahrensordnungen allein auf der Basis der EMRK für „nicht mehr allzu groß", räumt jedoch ein, dass von der Rechtsprechung des EGMR „noch manche Konkretisierung der Beschuldigtenrechte wie auch der Anforderungen an ein faires Gesamtverfahren zu erwarten sei".179 Insgesamt gesehen muss es verwundern, mit welcher Leichtfertigkeit ein Beitrag des Gerichtshofs zu einer Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte ignoriert wird, wo doch allgemein dem Europarat die größte Kompetenz im Rahmen der Vereinheitlichung der Vorschriften der Rechtshilfe zugetraut wird. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass sich der Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. ZP180 erheblich verbessert hat. Aus dem Straßburger „Doppelorchester" 181 ist ein Solist geworden: der ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Bereits mit dem Inkrafttreten des 9. ZP am 1.10.1994 konnten Individualbeschwerden - nach der Entscheidung durch die EKMR - unmittelbar vor dem Gerichtshof erhoben werden. Allerdings sahen Art. 5 Abs. 1(e) und Abs. 2 des 9. ZP eine Annahme der Beschwerde durch einen mit drei Richtern besetzten Ausschuss vor.182 Aufgrund des am 11.5.1994 gezeichneten und - ein Jahr nach Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunde durch Italien - am 1.11.1998 in Kraft getretenen 11. ZP183 sind die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) und der früher nur bei Bedarf tagende Gerichtshof durch einen ständigen Gerichtshof für Menschenrechte ersetzt worden. Auf eine Unterwerfungserklärung der Vertragsstaaten hinsichtlich der Gerichtsbarkeit des EGMR wird nun verzichtet. Das Ministerkomitee ist jetzt lediglich für die Überwachung der Durchführung der Urteile zuständig (Art. 46 Abs. 2). Das der Öffentlichkeit weitestgehend entzogene „Vorverfahren" vor der EKMR ist entfallen. Aufgrund einer Ubergangsregelung hat die Kommission noch ein weiteres Jahr lang die bei ihr bereits registrierten Beschwerden bearbeitet, bevor ihre Tätigkeit mit Ablauf des 31.10.1999 endete.184 Die Reform des Europäischen Menschenrechtssystems war not177
Simon Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, 1998; Krauß V-Leute im Strafprozeß und die Europäische Menschenrechtskonvention, 1999. 178 Uerpmann aaO, S. 26ff., 137ff. Die Arbeit berücksichtigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs bis Mai 1991. 179 So: Perron ZStW 112 (2000) 202, 220; ders. ZStW 109 (1997) 281, 298f. 180 Das 12. ZP vom 4.11.2000 (umfassender Schutz vor Diskriminierung) und das 13. ZP vom 3.5.2002 (vollständige Abschaffung der Todesstrafe) sind noch nicht in Kraft getreten. 181 Jung StV 1990,509,514. 182 Vgl. das deutsche Vertragsgesetz zum 9. ZP v. 6.11.1990 (BGBl. 1994 II 491). 183 Vgl. das deutsche Vertragsgesetz zum 11. ZP v. 11.5.1994 (BGBl. 1995 II 578; 1998 II 2582); BR-Dr 42/95. 184 Über den Gang und die einzelnen Stadien des Reformprozesses geben der Erläuternde Bericht zu Protokoll Nr. 11 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EuGRZ 1994, 328ff.; BT-Dr 13/858) und das Europaratsdokument „Reform des Kontrollsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention Auskunft (HRLJ 1993, S. 31-48); vgl. zur institutionellen Reform der Straßburger Kon-
III. Strategien einer Angleichung
47
wendig geworden, weil das Verfahren vor den Straßburger Kontrollorganen mit einer durchschnittlichen Dauer von 5 Jahren nicht mehr den Ansprüchen genügte, die der Gerichtshof bei der Überprüfung der Verfahrensdauer (Art. 6) an die Vertragsstaaten stellt.185 Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird im Prozess der Europäisierung der nationalen Strafverfahrensrechte noch zu wenig gewürdigt, wenngleich ein positiver Trend durchaus zu erkennen ist.186 Zumeist erhalten die EMRK und die sie konkretisierende Rechtsprechung des EGMR das Prädikat Mindeststandards oder Mindestgarantien verliehen.187 Nun wäre eine solche Auszeichnung an sich nicht zu beanstanden, würde sich dahinter nicht allzu oft eine gewisse Geringschätzung verbergen. Zumindest im Unterton wird der Zusatz „mindest" häufig nur im Sinne eines Minimalkonsenses über strafprozessuale Freiheiten und Verfahrensrechte verstanden, was wiederum aus dem Blickwinkel des Schutzes der Menschenrechte immer noch tolerabel wäre, stünde dahinter nicht der Gedanke, dass die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR lediglich einen internationalen Rahmen setzen, den es national auszufüllen gilt. Richtig an dieser Einschätzung ist, dass die strafverfahrensrechtlichen Bestimmungen der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle einen Rahmen setzen, innerhalb dessen sich eine Angleichung der nationalen Strafverfahrensrechte vollziehen kann und - wie zu zeigen sein wird - auch muss. Falsch ist dagegen der Eindruck, dass EMRK und EGMR demokratische und rechtsstaatliche Strukturen in den Vertragsstaaten garantieren wollen. Im Gegenteil, solche Strukturen werden von der Konvention und vom EGMR gerade vorausgesetzt.188 Urteile aus Straßburg, die gegen andere Vertragsstaaten der Konvention ergehen, werden oftmals nicht als Konkurrenz zum eigenen nationalen Recht empfunden. Dafür können zwei Gründe sprechen. Zum einen ist es bei einigen europäischen Staaten der
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trollinstanzen durch das 11. ZP: Cameron Yearbook of European Law 15 (1995) 219ff.; Bernhardt The American Journal of International Law 98 (1995) 145ff.; Schiene ZäöRV 56,2 (1996) 905ff.; ders. JZ 1999, 2191Γ.; de Vey Mestdagh in: FS für Schermers, S. 337ff.; Meyer-Ladewig ΝJW 1995, 2813ff.; ders. NJW 1998, 512f.; Meyer-LadewiglPetzoldNJW 1999, 1165f.; Staebe JA 1996, 75, 77f.; siehe zur Aufhebung der Kommission die Mitteilung in: EuGRZ 1999, 616; zum Kontrollverfahren vor dem Inkrafttreten des 11. ZP ausführlich: Murswiek JuS 1986,8 (f.; ders. JuS 1986, 175 ff.; Fahrenhorst Jura 1987, 130ff.; Rogge EuGRZ 1996, 341 (F.; Konstantinov ROW 1998, 21, 22fT. Zur Notwendigkeit einer Verkürzung der Verfahrensdauer vor den Straßburger Kontrollorganen: Frowein in: FS für Carstens, S. 327, 330; Peukerl EuGRZ 1993, 173, 174. Zur wachsenden Bedeutung der EMRK im nationalen Rechtsbewusstsein: Jung JuS 2000, 417, 418; vgl. auch den Tagungsbericht von: Huber ZStW 110 (1998) 570, 572 f. Vgl. ScholzlHofmann ZRP 1998, 295, 301 - „strafrechtlichen und -prozessualen Minimalkonsens"; JunglSchroth GA 1983, 241, 259 - „Katalog strafrechtlicher Grundrechte"; Perron in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 135, 136 - Mindeststandards; Sieber JZ 1997, 369, 376 Mindeststandards im Bereich des Prozessrechts; Ulsamer in: FS für Zeidler, S. 1799 („Mindeststandard an Menschenrechtsschutz"); Weiß JZ 1998, 289, 290. Kritisch bzw. ausdrücklich gegen die Charakterisierung der Konventionsgarantien als Mindeststandards: Peukert EuGRZ 1993,173,175; Scheuner in: FS für Schlochauer, S. 899,922; zum Problem der Absteckung des Gebietes, auf dem die Rechtsangleichung erfolgen soll: JunglSchroth GA 1983, 241,248.
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1. Teil: Zum Stand des Strafverfahrensrechts in Europa
fehlende Wille, der Konvention einen größeren Stellenwert als den eines (unverbindlichen völkerrechtlichen Vertrages einzuräumen. Offenbar wird hier im Hinterkopf immer noch zwischen der internationalen staatlichen Verpflichtung im Außenverhältnis und der Ausgestaltung der internen Rechtsordnung differenziert. Bestes Beispiel hierfür ist das Vereinigte Königreich, das die Konvention zwar bereits 1951 unterzeichnet, jedoch erst 1998 mit dem Human Rights Act in innerstaatliches Recht überführt hat, und auch dies nur mit einer Rangwirkung, die irgendwo zwischen dem nationalen Recht und dem völkerrechtlich verbindlichen Text der EMRK einzuordnen ist.189 Die Vertragsstaaten müssen erkennen, dass sie sich nicht länger auf die Sichtweise zurückziehen können, dass die Rechtsprechung des EGMR wichtig und - für den am Verfahren beteiligten Vertragsstaat - verbindlich ist, sie selbst aber eben nicht betrifft. Auf diesem schwierigen Feld der staatlichen Erziehung war und ist es außerordentlich wichtig, dass Art. 41 (Art. 50 a.F.) dem Gerichtshof die Kompetenz zur Festsetzung einer gerechten Entschädigung gewährt. Drohende finanzielle Folgen führen offenbar in nahezu jedem Lebensbereich zu Einsicht und Vernunft. In seinem Vortrag auf dem Zweiten Symposium der Zeitschrift Strafverteidiger im Oktober 2000 hat Kühne eine verstärkte Auseinandersetzung mit der EMRK angemahnt. Erste Absichtserklärungen für eine stärkere Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit der Rechtsprechung des EGMR waren noch während der Veranstaltung zu verzeichnen. Während Albrecht die Zusammenführung der EMRK und der gesamteuropäischen Strafrechtsentwicklung forderte, hat Weigend den Ausbau des Menschenrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EGMR als „die gute Seite der europäischen Rechtsentwicklung" bezeichnet und ausdrücklich angeregt, „den materiellrechtlichen Gehalt der EMRK herauszuarbeiten und ihn als Gegengewicht gegenüber einer umfassenden Inkriminisierungsstrategie wirksam werden zu lassen" und darin eine „notwendige und fruchtbare Zukunftsaufgabe einer europäisch denkenden Strafrechtswissenschaft" gesehen.190 Die Ausarbeitung eines gesamteuropäischen Katalogs „Strafprozessualer Menschenrechte" auf der Basis der EMRK hat Kühne bereits 1998 unternommen.191 Diesen Ansatz will der Verfasser im sich nun anschließenden Hauptteil der Arbeit in Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR vertiefen. Anhand einer Zusammenstellung der Urteile des EGMR aus der Zeit zwischen 1960 und 1999 soll dem strafprozessualen Potential, das die Straßburger Rechtsprechung aus der EMRK entwickelt hat, nachgegangen und einer kritischen Überprüfung hinsichtlich seiner Eignung für eine Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte unterzogen werden. Dabei wird anhand einiger ausgewählter Beispiele aufgezeigt, in welchem Umfang die Straßburger Rechtsprechung das deutsche Recht beeinflusst hat bzw. einen wichtigen Beitrag zu einigen derzeit aktuell
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Zur Geltung der EMRK in Großbritannien: Kühne StV 2001, 73, 77; Kühne/Nash JZ 2000, 996, 997, Fn. 9; Sommermann Der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarats, S. 29. Albrecht StV 2001, 69, 73; Weigend StV 2001, 63, 68; siehe auch den Tagungsbericht von: Schulz StV 2001, 85flf. Kühne in: Kreuzer u.a. (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, S. 55, 71.
III. Strategien einer Angleichung
49
diskutierten rechtlichen Problemen liefern kann.192 Von diesem strafprozessualen Potential der Straßburger Rechtsprechung wird es abhängen, ob der Europäischen Menschenrechtskonvention tatsächlich eine „herausragende Bedeutung" für die Europäisierung des Strafrechts zukommt und ob die Zukunft den verschiedenen Bemühungen gehört, die der EMRK zu mehr Geltungskraft verhelfen wollen.193 Der Schlussteil der Arbeit ist den Möglichkeiten und Vorzügen einer Umsetzung dieses Nucleus eines Europäischen Strafprozessrechts in die nationalen Verfahrensrechte gewidmet.
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Die Darstellung beschränkt sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Auf Entscheidungen der EKMR wird nur insoweit eingegangen, als sie für das Verständnis der Rechtsprechung des EGMR notwendig sind oder eine Abweichung enthalten. Siehe: Jung ZStW 112 (2000) 866, 873; ders. JuS 2000, 417, 422.
2. Teil Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus den Jahren 1959-1999
§1
Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
I.
Die strafrechtliche Anklage iSv Art. 6 Abs. 1
1.
Die materielle Konzeption der Anklage
Bevor die Suche nach dem strafprozessualen Potential der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beginnen kann, muss ein Blick auf das Terrain geworfen werden, das der Straßburger Rechtsprechung zugrunde liegt. Es sind dies die Bestimmungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 nebst Zusatzprotokollen.1 Die EMRK definiert den Begriff des Strafverfahrens nicht. Nur wenige der von ihr verbürgten Rechte und Freiheiten sind speziell auf strafprozessuale Fragestellungen zugeschnitten. Art. 6 Abs. 2 und 3 sprechen explizit von einer Person, die einer Straftat angeklagt ist („everyone charged with a criminal offence"). Auf den strafrechtlichen Kontext des Art. 7 deuten dessen Überschrift und Wortlaut hin („no punishment without law"). Viele andere Vorschriften der Konvention - dazu gehören etwa Art. 3 und Art. 5 - orientieren sich dagegen nicht an der Art des Verfahrens, sondern verbürgen allgemeine Garantien, die von den Vertragsstaaten entweder gar nicht oder nur unter engen Voraussetzungen beschränkt werden dürfen. Diese Garantien beanspruchen in allen Verfahren Geltung, unabhängig von einer strafrechtlichen Klassifizierung. Von herausragender Bedeutung für die europäische Ausrichtung strafprozessualer Problemstellungen auf nationaler Ebene sind die Garantien des Art. 6. Ihre Einhaltung sicherzustellen, ist Teil der den Vertragsstaaten obliegenden umfassenden Gewährleistungspflicht (Art. 1), die dann greift, wenn das betreffende Verfahren unter den sachlichen Schutzbereich der Vorschrift fallt. Hier soll allein der strafrechtliche Schutzbereich im Vordergrund stehen, wobei in Strafverfahren selbstverständlich auch 1
Im folgenden lediglich als EMRK oder „Konvention" bezeichnet. Artikel ohne Angabe sind solche der EMRK.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
zivilrechtliche Rechte zur Disposition stehen, vor allem die von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen betroffenen Rechte Dritter. Mit der Auslegung der Konventionsbestimmungen betraut (Art. 32 Abs. 1), hat der Gerichtshof in den letzten Jahren Leitlinien zum strafrechtlichen Schutzgehalt der EMRK entwickelt. Im Zuge dieses Prozesses nehmen die originär als Beschuldigtenrechte konzipierten Garantien der Art. 6 Abs. 1 und 2 - öffentliche und faire Verhandlung über die Anklage vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht; Unschuldsvermutung - durch die sie konkretisierende Straßburger Rechtsprechung immer mehr den Charakter von Verfahrensgrundsätzen an, ohne dabei die Bindung an ihren Rechtsinhaber - die angeklagte Person - zu verlieren. So hat sich ein von den nationalen Rechtsordnungen losgelöstes, autonomes Strafrechtsverständnis entwickelt. Ausgangspunkt ist der zentrale, aber abstrakte Begriff der „criminal charge". Bereits in seinen ersten Urteilen hat der EGMR darauf hingewiesen, dass Art. 6 Abs. 1 neben Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen nur auf erhobene strafrechtliche Anklagen Anwendung findet. Angelegenheiten, die sich keinem dieser beiden Schutzbereiche zuordnen lassen, sind dem Anwendungsbereich des Art. 6 entzogen. Hingegen schließen sich dessen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Schutzgehalt nicht gegenseitig aus. Gerade darin liegt eines der Hauptprobleme bei der Abgrenzung strafrechtlicher Anklagen von rein zivilrechtlichen Streitigkeiten. Die exakte Unterscheidung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich nur angeklagte Personen auf die Garantien der Art. 6 Abs. 2 und 3 berufen können. Der Gerichtshof hat zwar im Urteil Albert u. Le Compte einer analogen Anwendung des Art. 6 Abs. 3 auf zivilrechtliche Streitigkeiten das Wort geredet.2 Dieses Vorgehen widerspricht aber dem klaren Wortlaut der Konvention und ist daher nicht mehr von der Befugnis zur „interpretation and application of the Convention" (Art. 32 Abs. 1) gedeckt. Für die Vertragsstaaten ist es deshalb wichtig zu erfahren, was unter einer „criminal charge" zu verstehen ist. Bei der Suche nach Kriterien für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage bleibt die jeweilige nationale Rechtsordnung keinesfalls unberücksichtigt. In ihr erblickt der Gerichtshof allerdings nicht mehr als einen Ausgangspunkt für die Charakterisierung des jeweiligen Fehlverhaltens bzw. des für seine Ahndung vorgesehenen Verfahrens.3 Er interpretiert die Begriffe „criminal charge" / „accusations en matierepinale" (Art. 6 Abs. 1), „charged with a criminal offence" / „accuse" (Art. 6 Abs. 3) und „accuse d'une infraction" (Art. 6 Abs. 2) autonom im Kontext der Konvention („portee autonome dans le contexte de la Convention"). Auf nationale Besonderheiten kommt es also nicht entscheidend an. Die mit der autonomen Auslegung verbundene Ausweitung des strafrechtlichen Schutzbereichs der Konvention auf Ordnungswidrigkeiten und verwaltungs-
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EGMR, Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, §§ 25, 30, 39. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 18; Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 81; Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, § 42; Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, § 30; Demicoli./. Malta, Serie Α Nr. 210, § 31; Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 44; Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 67; Serves ./. Frankreich, Reports 1997-VI, § 42; Tejedor Garcia ./. Spanien, Reports 1997-VIII, § 27.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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rechtliche Übertretungen ist in den betroffenen Vertragsstaaten auf zum Teil erhebliche Kritik gestoßen. Zurückschauend bleibt aber die Erkenntnis, dass die Straßburger Rechtsprechung den ihr mittlerweile zugeschriebenen Status vor allem deshalb erlangen konnte, weil sie sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt in einer für die Arbeit mit der Konvention elementaren Fragestellung von den Fesseln des nationalen Rechts gelöst hat. Das autonome Verständnis der strafrechtlichen Anklage iSv Art. 6 Abs. 1 kann auch für strafrechtliche Problemstellungen außerhalb der EMRK fruchtbar gemacht werden, etwa bei der Interpretation des Begriffs „Strafrecht" iSv Art. 280 IV EG.4 Aufgrund der herausragenden Stellung, die das von Art. 6 Abs. 1 gewährte Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt, hat sich der EGMR im Urteil Deweer zugunsten einer materiellen Konzeption der Anklage entschieden („conception materielle, et non formelle"). Er definiert den Begriff der strafrechtlichen Anklage als die offizielle amtliche Anzeige der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer strafbaren Handlung zur Last gelegt wird („official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence").5 Weder in der Systematik des Art. 6 noch darin, dass die Rechte des Art. 6 Abs. 3 nach dem französischen Wortlaut nur einem „accuse' zustehen, sieht der EGMR ein Hindernis für diesen weiten, materiellen Ansatz. Die englische Fassung des Art. 6 Abs. 3 („charged with a criminal offence") und der französische Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 („accusations en matiere penale") sprechen in der Tat dafür, dass „accusation" bzw. „accuse" lediglich auf das Erfordernis einer Straßaren Handlung hindeuten („infraction penale").6 Damit nehmen die Schwierigkeiten aber erst ihren Anfang, denn der Begriff der strafbaren Handlung ist ebenso abstrakt wie die von Art. 6 Abs. 1 geforderte strafrechtliche Anklage. Diese ist keinesfalls mit der Anhängigkeit einer
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Vgl. hierzu: Musil NStZ 2000, 68 f. EGMR, Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, §§ 44,46; Adolf./. Österreich, Serie A Nr. 49, § 30; Eckle./. Deutschland, Serie A Nr. 51, § 73; Foti u.a. /. Italien, Serie A Nr. 56, § 52; Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 55; Imbrioscia./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; A.P., M.P. u. T.P../. Schweiz, Reports 1997-V, § 39; E.L., R.L. u. J.O.-L. ./. Schweiz, Reports 1997-V, § 44; Serves ./. Frankreich, Reports 1997-VI, § 42; Tejedor Garcia ./. Spanien, Reports 1997-VIII, § 27; Reinhardt u. Ka'id ./. Frankreich, Reports 1998-11, § 93; Hozee ./. Niederlande, Reports 1998-III, § 43; Malige ./. Frankreich, Reports 1998-VII, §34. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer „criminal charge" können sich nicht nur aus den Grundsätzen zu Art. 6 Abs. 1, sondern auch aus den Urteilen zum Begriff der „penalty" in Art. 7 Abs. 1 Satz 2 ergeben; vgl.: EGMR, Welch ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 307-A, § 28; Jamil./. Frankreich, Serie A Nr. 317-B, § 32; Malige ./. Frankreich, Reports 1998-VII, §§ 34-35: „The concept of a „penalty" in Article 7, like the notion of „criminal charge" in Article 6 § 1, is an autonomous concept. In its analysis it is not bound by the classifications in domestic law, which have only relative value. With regard to the existence of a „penalty" the wording of Article 7 § 1, second sentence, indicates that the starting-point in any assessment of the existence of a penalty is whether the measure in question is imposed following conviction for a,criminal offence'. Other factors that may be taken into account as relevant in this connection are the nature and purpose of the measure in question; its characterisation under national law; the procedures involved in the making and implementation of the measure; and its severity." Zur extensiven Auslegung des Begriffs der strafrechtlichen Anklage bereits: Weh EuGRZ 1985, 469, Am. Zu diesem Problem: EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 47.
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Strafsache bei Gericht gleichzusetzen. Entsprechend dem Urteil Deweer kann eine strafrechtliche Anklage auch dann vorliegen, wenn die betroffene Person durch ein bestimmtes Verhalten die Einleitung einer Strafverfolgung verhindern will, die ihr gegenüber getroffenen Maßnahmen aber aufgrund mehrerer übereinstimmender Anzeichen Strafcharakter („caractere penal") haben. Für die in einer Metzgerei festgestellten Verstöße gegen das Wirtschaftslenkungs- und Preisgesetz (Auszeichnung unzulässiger Höchstpreise) waren Freiheitsstrafen von 1 Monat bis zu 5 Jahren, Geldstrafen von 3.000 bis 30.000.000 BF sowie verschiedene andere Sanktionen bis hin zur Schließung des Betriebes angedroht. Aufgrund eines Berichtes über die Preiskontrolle hatte die StA die vorläufige Schließung der Metzgerei angeordnet. Bevor ein Gericht mit der Sache befasst wurde, konnte der Betroffene die Strafverfolgung durch die Erbringung einer bestimmten Leistung vermeiden, z.B. durch die Zahlung einer Geldbuße, die den Höchstbetrag der angedrohten Geldstrafe übersteigen konnte. Bei fristgemäßer Erbringung erlosch das Strafklagerecht. Die nicht als Strafe geltende Geldbuße wurde nicht ins Strafregister eingetragen. Die vorläufige Schließung wurde von den belgischen Gerichten als Verwaltungsmaßnahme qualifiziert und war nicht auf eine im Strafverfahren ausgesprochene Schließung anzurechnen. Die StA hatte dem Bf. angeboten, bei Zahlung einer Geldbuße iHv 10.000 BF von der Einleitung eines Strafverfahrens abzusehen und die Schließung der Metzgerei aufzuheben. Für eine Zuwiderhandlung gegen die vorläufige Schließungsanordnung sah das Gesetz Geld- und Gefängnisstrafe vor. Obwohl die Preiskontrolle eine Maßnahme der allgemeinen Wirtschaftskontrolle war, ging der EGMR von einer strafrechtlichen Anklage aus. Zwar sei dem Bf. ein Mittel zur Vermeidung des Strafverfahrens angeboten worden, von dem er Gebrauch gemacht habe, so dass das staatliche Strafklagerecht erloschen sei. In den gesetzlichen Bestimmungen, im Bericht an die StA und den Mitteilungen an den Bf. fanden sich jedoch Begriffe wie „contrevenant", „infraction", „en contravention" und „infraction". Neben der Tatsache, dass sowohl die Preisauszeichnung als auch ein etwaiges Zuwiderhandeln gegen die vorläufige Schließungsanordnung strafbewährt waren, berücksichtigte der EGMR auch, dass die Schließung des Geschäfts ohne die Zahlung der Geldbuße bis zum Erlass eines Urteils angedauert hätte und die Geldbuße für fünf Jahre in den von den Gemeinden zu den Strafakten gelieferten Auskunftsblättern registriert wurde. Ob ein Fehlverhalten und das zu seiner Ahndung vorgesehene Verfahren strafrechtlichen Charakter haben, hängt nicht von der Art oder Aufgabe der staatlichen Stelle ab, die über die Verfolgung und Ahndung des Verhaltens entscheidet. Eine strafrechtliche Anklage setzt nicht etwa die Entscheidung einer Strafverfolgungsbehörde im engeren Sinne voraus. Dies wäre eine zu formelle Betrachtungsweise, die sich nicht mit der vom E G M R entwickelten materiellen Konzeption der Anklage verträgt und den Vertragsstaaten eine allzu leichte Umgehung der elementaren Garantien des Art. 6 durch eine bestimmte Behördenorganisation ermöglichen würde. 7 7
Wird ein Fehlverhalten im nationalen Recht „lediglich" als Ordnungswidrigkeit oder Übertretung eingestuft, so ist die strafrechtliche Anklage - spätestens - in der Festsetzung einer Sanktion durch eine Verwaltungsbehörde zu sehen: E G M R , Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 55 (Bußgeldbescheid eines Landratsamtes).
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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Bei mehreren aufeinanderfolgenden Entscheidungen zur Ahndung eines Fehlverhaltens hat der EGMR im Fall Engel zum niederländischen Militärstrafverfahren für die Erhebung der strafrechtlichen Anklage auf die Entscheidung abgestellt, die endgültig festlegt, was für den Betroffenen auf dem Spiel steht („decision that settled once and for all what was at stake"). Im konkreten Fall war das die Entscheidung des Truppenkommandeurs, in der Form wie sie der Beschwerdeoffizier bestätigt oder gemildert hatte.8 Dieser Ansatz dürfte jedenfalls für nichtmilitärische Strafverfahren kaum noch Relevanz haben, weil der Gerichtshof mittlerweile den Schutzbereich des Art. 6 in zeitlicher Hinsicht auch auf das Ermittlungsverfahren erstreckt hat und in diesem Verfahrensstadium regelmäßig noch nicht von endgültigen Entscheidungen über den Inhalt der Anklage gesprochen werden kann. Mittelbar über die zeitliche Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 hat auch der materielle Begriff der Anklage eine Erweiterung erfahren, indem nun auch den endgültigen Tatvorwurf vorbereitende Maßnahmen und Entscheidungen, wie etwa Festnahmen und polizeiliche Ermittlungen, für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage ausreichen können. Allerdings sind in der neueren Rechtsprechung auch Tendenzen zu erkennen, die einer umfassenden Geltung von Art. 6 im Ermittlungsverfahren offenbar Einhalt gebieten wollen (dazu sogleich). Gesicherte Erkenntnis ist, dass die strafrechtliche Anklage nicht immer - wie im Urteil Deweer - in der Form einer offiziellen amtlichen Anzeige über den Vorwurf der Begehung einer strafbaren Handlung ergehen muss. Auch andere Maßnahmen, die einen derartigen Vorwurf enthalten und sich auf die Lage des Verdächtigen erheblich auswirken („measures which carry the implication of such an allegation and which likewise substantially affect the situation of the suspect"), können zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage führen. 9 Von dem Kriterium der erheblichen Auswirkungen schien sich der E G M R zunächst entfernt zu haben. Das war zu begrüßen, weil es an sich ein wenig aussagekräftiges Kriterium ist und nicht zur Beschränkung des materiellen Gehalts der Garantien des Art. 6 herangezogen werden darf. 10 Mittlerweile drängt sich der Eindruck auf, dass der E G M R die Formulierung „substantially affect the situation of the suspect" im Sinne einer zeitlichen Beschränkung der Anklage versteht. Dass sich der strafrechtliche Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 zumindest auf wesentliche Teile des dem gerichtlichen Strafprozess vorgelagerten Ermittlungsverfahrens erstreckt, ist zwar mittlerweile ebenfalls gesichert, so dass die Entstehung eines Tatverdachts und die Erhebung der Anklage durchaus zusammenfallen können. Ebenso ist aber auch ein Zeitraum denkbar, in dem ein „suspect" noch nicht „charged" ist, mit der Folge, dass die Garantien des Art. 6 (noch) nicht einschlägig sind. Der E G M R ist hier offensichtlich bemüht, die isolierte Überprüfung „vorläufiger" strafprozessualer Zwangsmaßnahmen und Ermittlungen dem Schutzbereich des Art. 6 weitestgehend zu entziehen, was im Kern sicherlich richtig ist, weil ein sämtlichen
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EGMR, Engel u.a. ./. Niederlande, Serie Α Nr. 22, § 83. EGMR, Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999; zu eng daher für den Begriff der Anklage: Weigend StV 2000, 384, 387, der allein auf die Unterrichtung/Mitteilung abstellt. So auch: Espenhain EuGRZ 1981, 15, 16.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Anforderungen des Art. 6 entsprechendes gerichtliches Verfahren über Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen etc. der ebenfalls von der Konvention geforderten Verfahrensbeschleunigung zuwider laufen würde.11 Soweit sie keine zivilrechtliche Streitigkeit begründen, wohl aber mit einem plausibel behaupteten Eingriff in ein Recht der Konvention verbunden sind, muss für solche Maßnahmen lediglich eine wirksame Beschwerde iSv Art. 13 zur Verfügung stehen. Dennoch sollte der EGMR Formulierungen vermeiden, die den Eindruck erwecken, als beginne die strafrechtliche Anklage erst am Ende der Ermittlungen. Das hier angesprochene Problem berührt sowohl den sachlichen als auch den zeitlichen Schutzgehalt des Art. 6. Auf letzteren wird später detailliert eingegangen. Zunächst soll den Kriterien für das Vorliegen einer strafrechtlichen Handlung nachgegangen werden. Das Vorliegen einer strafrechtlichen Handlung bzw. Anklage beurteilt der EGMR anhand der Umstände und Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens unter Berücksichtigung der Lage und Situation, in der sich die betroffene Person befindet.12 Im wesentlichen entscheiden drei Kriterien darüber, ob eine staatliche Reaktion auf das Fehlverhalten einer Person als strafrechtliche Anklage anzusehen ist: die Klassifizierung des Verfahrens bzw. der verhängten Maßnahme im nationalen Recht („classification of the proceedings/measure in question under national law"), die Art des Vergehens („very nature of the offence/proceedings/measure") sowie die Art und Schwere der vorgesehenen Sanktion („nature and degree of severity of the penalty that the person concerned risked incurring").13 Als weiteren Faktor für die strafrechtliche Klassifizierung eines Fehlverhaltens berücksichtigte der EGMR im Urteil Öztürk, dass das betreffende Verhalten in der Mehrzahl der Vertragsstaaten als strafrechtlich relevant eingestuft („ressortir au droit penal") und - soweit rechtswidrig und verwerflich - mit einer Kriminalstrafe geahndet wurde („sanctionne par des peines").14 Ein rechtsvergleichender Ansatz ist als Korrektiv
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Vgl. EGMR, Escoubet ./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999, § 34 („vorläufige Entziehung" der Fahrerlaubnis als rein präventive, nicht strafrechtliche Maßnahme): „The procedural safeguards laid down in Article 6 do not, as a rule, apply to the various preliminary measures which may be taken as part of a criminal investigation before bringing a .criminal charge', such as the arrest or interviewing of a suspect, measures which may, however, be governed by other provisions of the Convention, in particular Articles 3 and 5." EGMR, Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, § 30; Minelli./. Schweiz, Serie A Nr. 62, § 28. EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 82; Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, §§ 48, 50; Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 70-72; Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, §§ 31-34; Demicoli ./. Malta, Serie A Nr. 210, §§ 31-35; Ravnsborg ./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, § 30-35; Bendenoun ./. Frankreich, Serie A Nr. 284, § 47; Gradinger./. Österreich, Serie A Nr. 328-C, § 35; Pfarrmeier ./. Österreich, Serie A Nr. 329-C, § 31; Pramstaller ./. Österreich, Serie A Nr. 329-A, § 32; Umlauft./. Österreich, Serie A Nr. 328-B, § 30; Schmautzer ./. Österreich, Serie A Nr. 328-A, § 27; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 56; A.P., M.P. u. T.P. ./. Schweiz, Reports 1997-V, § 39; E.L., R.L. u. J.O.-L../. Schweiz, Reports 1997-V, § 44; Kadubec./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 52; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 56; Malige ./. Frankreich, Reports 1998-VII, § 35; Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999, § 32. EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 53.
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zum autonomen Verständnis vieler Konventionsgarantien durchaus zu begrüßen. Nur spricht eben die mehr- oder einheitliche Behandlung einer bestimmten Problemstellung in den Staaten Europas nicht immer für eine rechtsstaatlich einwandfreie Lösung. Weil der Vergleich im konkreten Fall ein „Mehr" an menschenrechtlicher Absicherung zur Folge hatte, war er im Ergebnis nicht zu beanstanden. Gemäß ihrer materiellen Konzeption haben Anhaltspunkte, die sich aus dem Recht eines Vertragsstaates ergeben, nur ein relatives Gewicht für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage („relative value/weight"). Als „starting-point" bei der Beurteilung des strafrechtlichen Charakters einer Maßnahme oder Verfahrens zur Ahndung eines Fehlverhaltens ist zunächst zu prüfen, ob die Norm bzw. der Text, der die fragliche Zuwiderhandlung umschreibt, in der nationalen Rechtsordnung dem Strafrecht angehört („belongs, in the legal system ... , to the criminal law" / „ressortit au droit penal").15 Ob eine Norm zum Strafrecht gehört, ist anhand einer grammatischen und systematischen Auslegung zu ermitteln. Dabei kann es eine Rolle spielen, dass die betreffende Vorschrift in einem speziellen „strafrechtlichen" Abschnitt eines Gesetzbuches oder unter einer Überschrift mit einem strafrechtlichen Bezug niedergelegt ist. Dass eine Maßnahme in einem „Strafgesetz" geregelt ist, ist aber für sich betrachtet nicht ausreichend, um auf ihren strafrechtlichen Charakter schließen zu können.16 Wird ein Fehlverhalten im nationalen Recht nicht als strafrechtlich relevant angesehen, so kann seine Art oder die Art und Schwere der Sanktion für das Vorliegen einer strafbaren Handlung sprechen. Auch in diesem Zusammenhang ist das jeweilige nationale Recht zu berücksichtigen. Das zweite und dritte Kriterium stehen in einem alternativen Verhältnis zueinander („alternative and not cumulative"). Eine kumulative Betrachtungsweise („cumulative approach") ist jedoch erlaubt, wenn die separate Analyse jedes einzelnen Kriteriums keinen eindeutigen Schluss auf das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage zulässt. Beiden Kriterien kommt im allgemeinen ein größeres Gewicht zu („carries more weight", „factor of greater import") als der Klassifizierung des Vergehens im nationalen Recht. Von einer strafrechtlichen Anklage ist auszugehen, wenn entweder die Art des Fehlverhaltens strafrechtlich einzustufen ist oder die vorgesehene Sanktion ihrer Art und Schwere nach in der strafrechtlichen Sphäre einzuordnen ist.17 15
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EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 82; Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 50; Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 71; Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, § 31; Demicoli./. Malta, Serie A Nr. 210, § 33; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 56; Garyfallou AEBE ./. Griechenland, Reports 1997-V, § 32; Kadubec ./. Slowakei, Reports 1998VI, §§ 50-51; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§ 56-57. EGMR, Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, § 31;Demicoli ./. Malta, Serie A Nr. 210, § 32; PierreBloch./. Frankreich, Reports 1997-VI, §§ 54, 60; Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999, § 34. EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, §§ 50, 52, 54; Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 71; Lutz ./. Deutschland, Serie A Nr. 123, § 55; Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, § 32; Demicoli./. Malta, Serie A Nr. 210, § 33; Bendenoun ./. Frankreich, Serie A Nr. 284, § 47; Ravnsborg./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, §§ 30-35; Benham./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 56; Garyfallou AEBE ./. Griechenland, Reports 1997-V, §§ 32-33; Kadubec ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§ 50-51; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§ 56-57; in früheren Entscheidungen hatte der EGMR noch von „three alternative criteria" gesprochen.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Zwischenzeitlich hatte der Gerichtshof beim zweiten Kriterium auf die Art des Verfahrens („nature of the proceedings") abgestellt, sich dann aber wieder auf die Art des Vergehens konzentriert. Dies ist auch konsequent, weil die Art des Verfahrens erst das Ergebnis der Prüfung aller drei Kriterien darstellt und bereits innerhalb des ersten Kriteriums Berücksichtigung findet. Im Urteil Escoubet spricht der EGMR wieder von der „nature of the measure" und berücksichtigt dabei vor allem Elemente des Verfahrens. Das hat zur Folge, dass die nicht gerade trennscharfen Konturen zwischen dem zweiten und dritten Kriterium weiter aufgeweicht werden.18 Die mit der autonomen Konzeption der strafrechtlichen Anklage verbundenen Schwierigkeiten zeigen sich vor allem im Bereich der Ordnungswidrigkeiten und bei der Ahndung verwaltungsrechtlicher Übertretungen (Verwaltungsunrecht). Im Einzelfall können Nuancen darüber entscheiden, ob Verfehlungen, deren Ahndung in der nationalen Rechtsordnung dem Kriminalstrafrecht ausdrücklich entzogen ist, als strafbare Handlungen anzusehen sind. Die Frage ist nicht nur im Bereich des Art. 6 Abs. 1, sondern auch für das in Art. 4 des 7. ZP enthaltene Verbot der Doppelbestrafung von Relevanz (ne bis in idem). Nicht selten werden in der Praxis wegen desselben Fehlverhaltens ein Straf- und Verwaltungsverfahren eingeleitet, die mit unterschiedlichen Sanktionen enden können. Eine in beiden Verfahren erhobene strafrechtliche Anklage führt zu einem Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZP, sobald in einem der Verfahren eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung vorliegt. 19 Die Vertragsstaaten dürfen Verfehlungen nach bestimmten Kategorien unterscheiden und dementsprechend unterschiedlich ahnden. Diversions- und Entkriminalisierungstendenzen widersprechen also nicht per se der Konvention. Schranken für die Straflosstellung bestimmter Verhaltensweisen ergeben sich aus der E M R K bei besonders hochwertigen Individualrechtsgütern, wie etwa beim Recht auf Leben (Art. 2). Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass der E G M R einigen Bestimmungen der Konvention positive staatliche Schutzpflichten entlehnt, auf die an späterer Stelle näher eingegangen wird. So darf man sicher davon ausgehen, dass die staatliche Hinnahme und Nichtahndung vorsätzlicher Tötungshandlungen einen Konventionsverstoß bedeutet. Zum anderen folgt aus dem autonomen Verständnis der strafrechtlichen Anklage, dass die innerstaatliche Einteilung eines normabweichenden Verhaltens für die Anwendbarkeit der Konvention nicht ausschlaggebend sein darf. Zwar kann es im Interesse der betroffenen Person sein und zugleich den Geboten einer ordentlichen Rechtspflege entsprechen, wenn ein nationaler Gesetzgeber bestimmte Handlungen aus den Kategorien des Strafrechts ausklammert. So hat der E G M R im Fall Öztürk die mit einer Entkriminalisierung verbundene Entlastung der Strafgerichte als legitimes Ziel einer Kategorisierung von Verfehlungen anhand ihres Schweregrades angesehen, jedoch zugleich betont, dass die Gewährleistung der in Art. 6 enthaltenen Garantien - vor allem der gerichtliche Rechts-
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Vgl. etwa: EGMR, Benham./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 56 („nature of the proceedings"); Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§ 56-57 („nature of the offence"); Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999, §32. Vgl. EGMR, Marte u. Achberger ./. Österreich, Reports 1998-1, §§ 7-9, 15-16.
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schütz - nicht vom Willen der Vertragsstaaten abhängen darf.20 Weder mit dem Sinn noch mit dem Zweck der Konvention wäre es vereinbar, wenn die Vertragsstaaten nach freiem Belieben die Anwendbarkeit elementarer Konventionsbestimmungen ausschließen könnten, indem sie ein Vergehen nicht als strafbare Handlung, sondern als Ordnungswidrigkeit oder als „contravention/infraction d'administrative" einstufen.21 Das schließt nicht aus, die Verfolgung und Ahndung minderschwerer Vergehen auf Verwaltungsbehörden zu übertragen, und zwar auch dann, wenn es sich bei ihnen um eine straftiare Handlung handelt. Weil aber derartige „minor offences" dem Schutzbereich des Art. 6 unterliegen, muss die betroffene Person jede zu ihrem Nachteil ergehende Entscheidung vor einem Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 anfechten können.22 Damit der vom EGMR geforderte gerichtliche Rechtsschutz nicht faktisch leer läuft, können die Vertragsstaaten im Ergebnis also lediglich darüber entscheiden, welche Verhaltensweisen einer Person auf nationaler Ebene dem Kriminalstrafrecht entzogen sind. Soll das entsprechende Verhalten jedoch geahndet werden, so beurteilt sich der strafrechtliche Charakter des Vergehens und die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens autonom nach der Konvention, wobei die nationale Rechtsordnung lediglich den Ausgangspunkt der Prüfung bildet. Im allgemeinen spricht es für den strafrechtlichen Charakter eines Fehlverhaltens, wenn sich die Norm, gegen die der Betroffene verstoßen hat und die sein Verhalten sanktioniert, nicht - wie es dem Wesen disziplinarrechtlicher Regelungen entspricht - an eine abgrenzbare Gruppe mit besonderem Status richtet („group possessing a special status"), sondern mit einem bestimmten allgemeinen Verhaltensgebot an alle Bürger wendet („directed towards all citizens", „general character") und dieses Gebot im Falle seiner Nichtbefolgung mit einer ahndenden Sanktion verbindet („sanction punitive"). Von geringer Bedeutung ist dagegen, ob die Vorschrift Rechte und Interessen anderer Personen schützen oder der Bewahrung eines übergeordneten Interesses dienen will, z.B. der Ordnung im Straßenverkehr. Eine strafbare Handlung muss keinen bestimmten Schweregrad erreichen. Selbst eine geringfügige Zuwiderhandlung („infraction legere"), die kaum geeignet ist, dem Ansehen der betreffenden Person zu schaden, kann eine strafbare Handlung sein. Auch in diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof rechtsvergleichend darauf hin, dass delinquentes Verhalten in vielen Vertragsstaaten nach dem Schweregrad unterschieden wird („crimes, delits et contraventions"), die Verfehlungen gleichwohl aber als strafbare Handlungen klassifiziert werden („infractions penales"). 20
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Für eine Vereinbarkeit von Entkriminalisierung und Rechtsschutzgarantien auch: Jung EuGRZ 1996, 370, 372. EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, §§ 49,56; kritisch hierzu das Sondervotum Bernhardt, der einer innerstaatlichen Klassifizierung einer Zuwiderhandlung als Ordnungswidrigkeit höheres Gewicht beimisst; vgl. auch: EGMR, Lutz ./. Deutschland, Serie A Nr. 123, § 57. Vgl. hierzu: EGMR, Kadubec ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 57 („while entrusting the prosecution and punishment of minor offences to administrative authorities is not inconsistent with the Convention, it is to be stressed that the person concerned must have an opportunity to challenge any decision made against him before a tribunal that offers the guarantees of Article 6"); Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 64; Malige ./. Frankreich, Reports 1998-VII, §45.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Damit hat der EGMR dem Argument der Tatschwere jegliches Argumentationspotential genommen und etwaigen staatlichen Versuchen zur Umgehung der Konventionsbestimmungen bei der Ahndung minderschwerer Delikte einen deutlichen Riegel vorgeschoben.23 Diese Erkenntnis darf jedoch nicht in dem Sinne verstanden werden, dass sämtliche Garantien des Art. 6 auch bei der Ahndung minderschwerer Vergehen durch Verwaltungsbehörden zur selben Zeit und in demselben Umfang sichergestellt sein müssen wie bei „herkömmlichen" strafrechtlichen Anklagen. Für die durch Art. 6 Abs. 3(e) garantierte Dolmetscherunterstützung hat sich der EGMR zwar im Urteil Öztürk für eine Gleichförmigkeit entschieden. Das muss aber nicht für jede andere Garantie des Art. 6 gelten, so dass zeitliche und inhaltliche Beschränkungen durchaus möglich erscheinen. Dass der Konvention gewisse Verfahrenslimitierungen bei Straftaten geringfügiger Art nicht völlig fremd sind, zeigt die Beschränkung der Rechtsmittelbefugnis in Art. 2 Abs. 2 des 7. ZP. Hier sind freilich im einzelnen noch viele Fragen ungeklärt. An dieser Stelle soll es deshalb nur um den sachlichen strafrechtlichen Schutzbereich des Art. 6 gehen. Bei der Art des Verfahrens - dem zweiten Kriterium für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage - kann es eine Rolle spielen, dass für die Ahndung des Verhaltens bestimmte Ermittlungen, Untersuchungen oder die Bewertung einer Schuld erforderlich sind. Umgekehrt ist der EGMR bemüht, Maßnahmen, die vor der Einleitung des eigentlichen Strafverfahrens ergehen und in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den späteren strafrechtlichen Ermittlungen stehen, vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 auszuschließen. Wie schon gesagt, mag die Vermeidung einer isolierten gerichtlichen Überprüfung solcher Ermittlungshandlungen sinnvoll sein, zumal Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 bzw. Art. 13 eigenständige Überprüfungsmöglichkeiten und -verfahren vorsehen. Davon zu unterscheiden ist aber die Frage, ab welchem Zeitpunkt die eigentliche strafrechtliche Anklage erhoben ist. Diese beiden Gesichtspunkte muss der Gerichtshof zukünftig besser aufeinander abstimmen, indem er lediglich die isolierte Anfechtbarkeit von Ermittlungshandlungen aus dem Schutzbereich des Art. 6 ausscheidet, die Maßnahmen selbst aber als Anknüpfungspunkt für die Erhebung der strafrechtlichen Anklage zulässt. Weil der an einem Unfall beteiligte Bf. Escoubet im Verdacht einer Trunkenheitsfahrt stand, hatte die StA die sofortige Einziehung seines Führerscheins angeordnet („immediate withdrawal of a driver's licence"). D e n Führerschein erhielt der Bf. sechs Tage nach der Einziehung zurück. Als Reaktion auf eine Trunkenheitsfahrt sieht das belgische Recht neben der sofortigen Einziehung des Führerscheins für maximal 45 Tage die Verhängung eines bis zu sechs Stunden dauernden Fahrverbots („ban on driving") und die Entziehung der Fahrerlaubnis vor („disqualification from driving"). Letztere kann von einem Gericht als Strafe für maximal 5 Jahre angeordnet werden. D i e sofortige Ein-
23
EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 53; hiergegen Richter Bernhardt in seinem Sondervotum, der für Verkehrsverstöße und Bagatelldelikte die Einhaltung der von Art. 6 gewährten Garantien nicht für erforderlich hält; EGMR, Kadubec ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 52; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 58.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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Ziehung des Führerscheins wird in Belgien nicht als Strafe, sondern als Präventiv- und Sicherheitsmaßnahme angesehen, mit der gefährliche Fahrer für eine bestimmte Zeit an der Teilnahme am Straßenverkehr gehindert werden sollen. Weil der Einziehung des Führerscheins keinerlei Untersuchungen vorgeschaltet waren, die in einem Zusammenhang mit den späteren strafrechtlichen Ermittlungen standen („totally independent of any criminal proceedings"), sah der E G M R die Einziehung des Führerscheins als actus contrarius zu dessen administrativ geprägter Erteilung an. Als „precautionary" bzw. „emergency measure" grenzte er sie von der Entziehung der Fahrerlaubnis ab.24 E i n F e h l v e r h a l t e n , d e s s e n A r t n i c h t s t r a f r e c h t l i c h e r N a t u r ist, k a n n d u r c h d a s d r i t t e K r i t e r i u m - d i e A r t u n d S c h w e r e d e r ( d r o h e n d e n ) S a n k t i o n - in d i e s t r a f r e c h t l i c h e S p h ä r e rücken. Aus d e m strafrechtlichen C h a r a k t e r einer Sanktion k a n n allerdings nur d a n n auf e i n e strafrechtliche
Anklage
geschlossen werden, w e n n die S a n k t i o n tatsächlich G e g e n -
s t a n d d e s b e t r e f f e n d e n V e r f a h r e n s ist. E s r e i c h t n i c h t aus, d a s s e i n e i m n a t i o n a l e n R e c h t v o r g e s e h e n e S a n k t i o n e i n d e u t i g als strafrechtlich
e i n z u o r d n e n ist, j e d o c h n i c h t d e n
G e g e n s t a n d des Verfahrens bildet u n d d e m Betroffenen daher auch nicht droht. Gegen den Bf. Pierre-Bloch waren wegen einer rechtswidrigen Wahlkampffinanzierung verschiedene Sanktionen festgesetzt worden. Der Entzug des passiven Wahlrechts, der Verlust des Abgeordnetenmandats und eine Geldzahlung wurden vom E G M R nicht als strafrechtliche Sanktionen eingestuft. Obwohl die Strafgerichte auch eine Buße von 25.000 F F und/oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verhängen konnten und diese im Abschnitt „Strafrechtliche Vorschriften" des Wahlgesetzbuchs vorgesehenen Sanktionen strafrechtlicher Natur waren, ging der E G M R nicht von einer strafrechtlichen Anklage aus, da kein Verfahren auf der Grundlage dieser Vorschriften eingeleitet worden war.25 Bei d e r P r ü f u n g d e s d r i t t e n K r i t e r i u m s k o m m t es d a r a u f a n , o b das, w a s f ü r d e n B e t r o f f e n e n a u f d e m Spiel s t e h t , e i n e s o h i n r e i c h e n d e B e d e u t u n g h a t , d a s s m a n sein F e h l v e r h a l t e n als s t r a f r e c h t l i c h k l a s s i f i z i e r e n k a n n . 2 6 D a b e i ist n i c h t a u f d i e S a n k t i o n a b zustellen, die im k o n k r e t e n Fall vermutlich v e r h ä n g t w e r d e n wird, s o n d e r n auf die im u n g ü n s t i g s t e n Fall d r o h e n d e S a n k t i o n . W i e b e i m Interesse
der Rechtspflege
A b s . 3(c) o r i e n t i e r t sich d e r E G M R a u c h h i e r a n d e r „maximum
penalty".27
in A r t . 6 Herkömm-
liches W e s e n s m e r k m a l e i n e r s t r a f r e c h t l i c h e n S a n k t i o n ist i h r b e s t r a f e n d e r u n d
ab-
s c h r e c k e n d e r C h a r a k t e r ( „ p u n i t i v e c h a r a c t e r " , „ d e s t i n e e s ä exercer u n efTet d i s s u a s i f ' ) . D a h e r z ä h l e n i n s b e s o n d e r e F r e i h e i t s e n t z i e h u n g e n z u d e n strafrechtlichen
24 25
26 27
S a n k t i o n e n , es
EGMR, Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999, § 36. EGMR, Pierre-Bloch ./. Frankreich, Reports 1997-VI, §§ 8-21, 38, 60 („these penalties are n o t . . . in issue ... as no proceedings were brought against the applicant on the basis of that Article"). EGMR, Ravnsborg ./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, § 35; Putz ./. Österreich, Reports 1996-1, § 37. EGMR, Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 85; Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 72; Demicoli./. Malta, Serie A Nr. 210, § 33; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-IH, § 56. In den Fällen Campbell u. Fell und Benham hat der EGMR auch darauf hingewiesen, dass ein „Freiheitsentzug" dem Bf. nicht nur drohte, sondern auch tatsächlich verhängt worden war („forfeiture actually awarded", „and did in fact incur", „was in fact ordered").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
sei denn, dass sie aufgrund ihrer Art, Dauer oder der Art und Weise ihrer Vollstreckung nicht mit einem wesentlichen Nachteil für die betroffene Person verbunden sind. 28 Der Schluss von der strafrechtlichen Sanktion auf das Vorliegen einer strafbaren Handlung bereitet vor allem bei Geldzahlungspflichten erhebliche Schwierigkeiten. Ein rein praktisches Problem stellen die verschiedenen Währungen in Europa und die unterschiedliche K a u f k r a f t in den einzelnen Vertragsstaaten dar, die einen europaweiten Vergleich der mit einer Zahlungspflicht verbundenen Sanktionsschwere kaum ermöglichen. Schon aus diesem Grund macht es Sinn, den strafrechtlichen Charakter einer Zahlungspflicht nicht von der abstrakten Höhe der Buße abhängig zu machen. Zum anderen muss eine exakte Abgrenzung zu ausschließlich öffentlich-rechtlichen Zahlungspflichten erfolgen, die weder eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch noch eine strafrechtliche Anklage betreffen, wie etwa Steuer- und Abgabenzahlungen. Geldzahlungspflichten werden nur strafrechtlich relevant, wenn sie als strafrechtliche Sanktion verhängt werden („fines imposed by way of criminal sanction"). 29 Hier darf jedoch kein Missverständnis entstehen. Für die strafrechtliche Klassifizierung einer Sanktion ist weder die (drohende) Verhängung einer freiheitsentziehenden M a ß n a h m e noch die Eintragung der Sanktion in ein Strafregister erforderlich. Auch eine Geldzahlungspflicht lässt sich als strafrechtliche Sanktion beschreiben, wenn sie den Zweck einer Bestrafung erfüllen und vor einer Wiederholung des Verhaltens abschrecken soll („intended as a punishment to deter reoffending"). Dabei können Regelungen zur Höhe der zu zahlenden Geldsumme durchaus aufschlussreich sein. In diesem Punkt ist die Straßburger Rechtsprechung allerdings noch uneinheitlich. So hat der E G M R auch solche Geldbußen nicht vom Prädikat strafrechtliche Sanktion ausgeschlossen, deren Höhe nicht vom Einkommen der betreffenden Person abhängt („income-based", „based on earnings"), da Geldbußen in vielen Strafrechtssystemen nicht notwendigerweise einkommensabhängig seien. Gleichwohl könne dieser Umstand ein Indiz dafür sein, dass die „Geldbußen" in der betreffenden Rechtsordnung nicht als gewöhnliche strafrechtliche Sanktion angesehen werden. 30 Auch die mögliche Umwandlung einer Geldbuße in eine Freiheitsstrafe soll nicht zwingend für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage sprechen. So hat der EGMR im Fall Ramsborg den strafrechtlichen Charakter von Geldbußen verneint, weil deren Umwandlung in eine Freiheitsstrafe nur „in limited circumstances" und nur nach einer separaten gerichtlichen Verhandlung möglich war. Ebenso hat er der im Fall Pierre-Bloch verhängten Geldbuße einen strafrechtlichen Charakter abgesprochen, weil ihre Höhe keinem festen Bewertungsmaßstab entsprach und nicht vorher festgelegt war, keine Eintragung in ein Strafregister erfolgte, die Regel, wonach bei mehreren Straftaten keine aufeinanderfolgenden Strafen zu verhängen waren, nicht galt und bei Nichtzahlung der Buße keine Ersatzfreiheitsstrafe drohte.31 28
29 30 31
EGMR, Kadubec ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 52; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 58; Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, § 53. EGMR, Schouten u. Meldrum ./. Niederlande, Serie A Nr. 304, § 50. EGMR, Ravnsborg ./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, § 33. EGMR, Ravnsborg ./. Schweden, Serie Α Nr. 283-B, § 35; Pierre-Bloch ./. Frankreich, Reports 1997VI, § 58.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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Die Vertragsstaaten dürfen das zweite und dritte Kriterium für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage keineswegs gegeneinander ausspielen. Die mangelnde Schwere einer Sanktion kann einem Fehlverhalten nicht den ihm immanenten strafrechtlichen Charakter nehmen. Auch eine Verfehlung, die nicht mit einer „Geldstrafe" sondern mit einer „Geldbuße" geahndet wird, kann eine strafbare Handlung sein. Voraussetzung ist allerdings, dass die Geldbuße den Charakter einer Bestrafung hat („caractere punitif"), durch den sich strafrechtliche Sanktionen gewöhnlich auszeichnen. Auch in diesem Punkt löst sich der Gerichtshof von den Begrifflichkeiten der nationalen Rechtsordnungen. Liegt nach dem zweiten oder dritten Kriterium eine straßare Handlung vor, so ist es ohne Bedeutung, dass der nationale Gesetzgeber eine Verfehlung früher als „Straftat" eingestuft, dann aber im Zuge einer Gesetzesreform ausdrücklich dem Bereich des (Kriminal-) Strafrechts entzogen hat. 32 Bei ihrer Art nach strafrechtlichen Verfehlungen - und seien die für sie vorgesehenen Sanktionen auch geringfügig - sind keine Fälle denkbar, die dem Anwendungsbereich des Art. 6 entzogen sind. Der E G M R geht immer mehr dazu über, die im nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen, ohne dabei allerdings einen verbindlichen Katalog der für oder gegen die Annahme einer strafrechtlichen Sanktion sprechenden Umstände aufzustellen. So gehört die strafrechtliche Anklage weiterhin zu den Begriffen innerhalb der Konvention, zu denen die Straßburger Rechtsprechung trotz der mittlerweile stattlichen Zahl an Urteilen immer noch gewisse Überraschungen bereit hält. Einerseits ist es zu begrüßen, dass der Gerichtshof einer autonomen Auslegung der Konvention hier klar den Vorzug einräumt. Auf der anderen Seite macht gerade dieser Ansatz eine Antizipation der unter den strafrechtlichen Schutzbereich der Konvention fallenden Verfahren durchaus schwierig. Das dem Bf. Öztärk zur Last gelegte Vergehen (Verursachung eines Verkehrsunfalls) war nach nationalem Recht eine Ordnungswidrigkeit. Nach Ansicht des EGMR ist im deutschen Recht keine vollständige Trennung zwischen dem Recht der Ordnungswidrigkeiten und dem Kriminalstrafrecht erfolgt, insbesondere dort nicht, wo eine Straftat mit einer Ordnungswidrigkeit zusammentrifft oder wo strafprozessuale Vorschriften auf das Bußgeldverfahren sinngemäß Anwendung finden. Obwohl die Sanktion lediglich in das Verkehrszentralregister eingetragen wurde, beurteilte der EGMR das dem Bf. zur Last gelegte Verhalten als strafbare Handlung. Er stellte dabei auf den allgemeinen Charakter der das Verhalten betreffenden Norm sowie auf den abschreckenden und ahndenden Zweck des Bußgeldes ab. Das Urteil Öztürk aus dem Jahre 1984 ist in Deutschland mit Kritik und Unverständnis aufgenommen worden. Die Einbeziehung von Ordnungswidrigkeiten in den Schutzbereich der Konvention hat die nationalen Denkmuster in ihren Grundfesten erschüttert. Noch im Jahre 1979 hatte Vogler die Ansicht vertreten, dass Art. 6 weder auf Strafbefehle noch auf ein Verfahren
32
EGMR, Öztürk ./. Deutschland, Serie A Nr. 73, §§ 53-54 (vgl. die Sondervoten Matscher und Bernhardt, die aufgrund der Besonderheiten des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts von einer unterschiedlichen Rechtsnatur der „Ordnungswidrigkeit" ausgingen); Kadubec./. Slowakei, Reports 1998VI, § 52; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, § 58 („the relative lack of seriousness of the penalty at stake cannot deprive an offence of its inherently criminal character").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten anzuwenden sei.33 Der deutsche Gesetzgeber hat mit der Umsetzung der Unentgeltlichkeit der Dolmetscherunterstützung lange gezögert, dann aber - für das gerichtliche Bußgeldverfahren - die notwendigen Konsequenzen gezogen. 34 Das ebenfalls gegen Deutschland ergangene Urteil Lutz zur Beachtung der Unschuldsvermutung bei der Abfassung verfahrensbeendender Entscheidungen hat die strafrechtliche Klassifizierung des deutschen Bußgeldverfahrens bestätigt. 35 Die Garantien des Art. 6 gelten deshalb ab Erhebung der Anklage. Wann dieser Zeitpunkt im Verfahren über Ordnungswidrigkeiten anzunehmen ist, bleibt aber Gegenstand einer Kontroverse. Während einige Stimmen von einer Geltung des Art. 6 bereits im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden ausgehen 36 , bezieht die Kommentarliteratur zum OWiG das Urteil Öztürk lediglich auf das gerichtliche Bußgeldverfahren, unter Berufung auf den E G M R , der den Bf. Öztürk „spätestens" mit der Mitteilung des Bußgeldbescheides als angeklagt ansah. 37 Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Ausklammerung solcher der gerichtlichen Verhandlung über die strafrechtliche Anklage vorgelagerter „Vorverfahren" oder „Vorermittlungen" weder sachgerecht noch mit dem von der Konvention bezweckten Schutz des Beschuldigten vor staatlicher Willkür zu vereinbaren. Weil die Funktion des verwaltungsrechtlichen Bußgeldverfahrens der des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens entspricht, muss es ebenfalls in den Schutzbereich des Art. 6 einbezogen werden. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass der E G M R - abhängig von der jeweiligen Verfahrensgarantie - im Inhalt und Umfang des von der Konvention gewährten Schutzes immanente Beschränkungen zulässt, was allerdings ein gewisser Systembruch innerhalb der Konvention wäre.
Wegen der Teilnahme a n einer nicht genehmigten K u n d g e b u n g h a t t e eine Städtische Polizeikommission gegen die Bf. Belilos eine G e l d b u ß e i H v 200 S F festgesetzt, die später auf 120 S F reduziert wurde. D e r E G M R ging auch hier von einem strafrechtlich relev a n t e n Verhalten aus. 38 In mehreren Entscheidungen gegen Österreich hat er die E r s t r e c k u n g des strafrechtlichen Schutzbereichs der K o n v e n t i o n auf Verwaltungsverfahren bestätigt. D i e meisten Fälle betrafen geringfügige Verstöße gegen d a s Straßenverkehrsrecht. 33
34
35 36 37 38
Gegen eine Anwendbarkeit von Art. 6 auf (Bußgeld-)Verfahren zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten plädierten etwa: Vogler EuGRZ 1979, 640, 645; Meyer ZStW 93 (1981) 507, 526; wohl auch: Peukert EuGRZ 1979, 261, 269. Für eine Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 auf Ordnungswidrigkeitenverfahren dagegen: LG Ansbach, NJW 1979, 2484; Espenhain EuGRZ 1981, 15, 17, Fn. 16 a.E.; zu der europaweit kaum nachvollziehbaren Unterscheidung zwischen dem (Kriminal-)Strafrecht einerseits und Ordnungswidrigkeiten andererseits: Johannes ZStW 83 (1971) 531, 538. Vgl. hierzu die gesetzlichen Änderungen im Bereich der Dolmetscherunterstützung, § 4 II 14; zur Reaktion der deutschen Gerichte auf das Urteil Öztürk: Kühl ZStW 100 (1988) 406,422, Fn. 95; ders. ZStW 100 (1988) 601,638f.; kritisch zum Urteil Öztürk: Vogler in: Internationaler Kommentar Art. 6 Rn. 237; zustimmend dagegen: Schroth EuGRZ 1985, 557ff. EGMR, Lutz./. Deutschland, Serie A Nr. 123, §§ 56-57. Weiß JZ 1998, 289,291. Siehe: RebmannlRoth!Herrmann § 107 Rn. 12. EGMR, Belilos ./. Schweiz, Serie A Nr. 132, §§ 10-12, 62; vgl. auch das Urteil Societe Stenuit ./. Frankreich (Serie A Nr. 232-A) zu ministeriell festgesetzten Geldbußen („administrative fines") für Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht. Die EKMR nahm einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 an. Der EGMR strich den Fall wegen einer „Rücknahme" der Beschwerde aus dem Register.
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Die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten hatte gegen den Bf. Gradinger wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in einem Straferkenntnis eine Geldbuße iHv 12.000 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: 2 Wochen) verhängt. 39 Im Fall Palaoro hatte die Bezirkshauptmannschaft Imst Geldbußen iHv 4.000 und 6.000 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafen: 8 bzw. 10 Tage) wegen Geschwindigkeitsübertretungen festgesetzt, die mit einer Geldbuße von bis zu 10.000 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe bis zu zwei Wochen) geahndet werden konnten. 40 Weil sich die Bf. Umlauf und Pfarrmeier einem polizeilichen Atemtest widersetzt hatten, setzte die Bezirkshauptmannschaft Bregenz Straferkenntnisse mit Geldbußen iHv 9.000 bzw. 10.000 ÖS fest (Ersatzfreiheitsstrafen von 360 bzw. 480 Stunden). 41 Wegen baurechtswidriger Errichtung eines Gebäudes hatte die Bezirkshauptmannschaft Lienz gemäß der Tiroler Bauordnung eine Geldbuße iHv 50.000 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: 50 Tage) gegen den Bf. Pramstaller verhängt. 42 Weil der Bf. Schmautzer ohne Anlegen des Sicherheitsgurtes gefahren war, hatte die Bundespolizeidirektion Graz eine Geldbuße iHv 300 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: 24 Stunden) festgesetzt.43 Im Fall Mauer hatte die Bundespolizeidirektion Wien eine Strafverfügung („provisional penal order") mit einer Geldbuße iHv 800 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: 48 Stunden) erlassen, weil der Bf. als Fahrzeughalter nicht die Identität eines Fahrers offenbart hatte, der über eine rote Ampel gefahren war. Diese Verwaltungsübertretung konnte mit einer Geldbuße von bis zu 30.000 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: bis zu sechs Wochen) geahndet werden. In einem weiteren Verfahren hatte die Polizei am Reifen eines dem Bf. gehörenden Taxis eine zu geringe Profiltiefe festgestellt und wegen Verletzung der Halterpflichten eine Geldbuße iHv 500 ÖS (Ersatzfreiheitsstrafe: 30 Stunden) verhängt. 44 Obwohl die den Bf. zur Last gelegten Verfehlungen u n d die zu ihrer A h n d u n g eingeleiteten Verfahren in die verwaltungsrechtliche Sphäre fielen („administrative sphere"), waren die Vergehen strafrechtlicher N a t u r („criminal in nature"), wofür sowohl die im
39
EGMR, Gradinger ./. Österreich, Serie A Nr. 328-C, §§ 6-26 („It shall be an administrative offence ( Verwaltungsübertretung), punishable with a fine of not less than 8,000 and not more than 50,000 schillings or, in default of payment, with one to six weeks' imprisonment, for any person: (a) to drive ...a vehicle when under the influence of drink ...").
40 41
EGMR, Palaoro ./. Österreich, Serie A Nr. 329-B, §§ 9-26. EGMR, Pfarrmeier ./. Österreich, Serie A Nr. 329-C, §§ 6-23; Umlauft ./. Österreich, Serie A Nr. 328-B, §§ 6 - 2 2 : („It shall be an administrative offence (Verwaltungsübertretung), punishable with a fine of not less than 8,000 and not more than 50,000 schillings or, in default of payment, with one to six weeks' imprisonment, for any person •••(b) to refuse to submit to a breath test where the conditions laid down in section 5 are satisfied.").
42
EGMR, Pramstaller ./. Österreich, Serie A Nr. 329-A, §§ 9-24 („It shall be an administrative offence ( Verwaltungsübertretung) (a) to carry out without planning permission a building project that requires planning permission ... punishable with a fine not exceeding A TS 100,000 or with imprisonment for up to three months...".).
43
EGMR, Schmautzer./. Österreich, Serie A Nr. 328-A, §§ 6-21 („... It shall be an administrative offence ... punishable, in a sentence order without a hearing ( Organstraf verfügung) pursuant to section 50 of the Administrative Criminal Justice Act 1950, with a fine of ATS 100 for (a) the driver of a motor vehicle or (b) a passenger in a motor vehicle not to comply with the requirement in subsection (1), first sentence. In the event of refusal to pay the fine, the authority may impose a fine of up to ATS 300, with up to twenty-four hours' imprisonment in default of payment.").
44
EGMR, Mauer ./. Österreich, Reports 1997-1, §§ 10-24, 31.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
österreichischen Recht verwendete Terminologie „Verwaltungsstraftaten" bzw. „Verwaltungsstrafverfahren" als auch die drohenden Ersatzfreiheitsstrafen sprachen. Diese beiden Gründe hielt der EGMR für ausreichend, um die den Bf. zur Last gelegten Vergehen als strafrechtlich zu klassifizieren.45 In einigen Fällen waren die Geldbußen und Ersatzfreiheitsstrafen im Instanzenzug reduziert worden, worauf der EGMR jedoch nicht einging· Den Bf. Kadubec und Lauko waren Verstöße gegen den slowakischen Minor Offences Act zur Last gelegt worden (Störung von Besuchern einer Badeanstalt durch Lärm und Nichtbefolgung polizeilicher Anordnungen bzw. falsche Verdächtigung einer anderen Familie). Die örtliche Verwaltung hatte Geldbußen (1.000 bzw. 300 SKK) festgesetzt und die Bf. zur Zahlung der Verfahrenskosten (150 SKK) verpflichtet. Obwohl die Vergehen im nationalen Recht als nicht strafrechtlich eingestuft wurden, ging der EGMR wegen des allgemeinen Charakters der ihnen zugrunde liegenden Normen sowie aufgrund der bestrafenden und abschreckenden Wirkung der verhängten Sanktionen von strafbaren Handlungen aus. Dabei prüfte er das zweite und dritte Kriterium nicht streng voneinander getrennt, sondern zog den Charakter der Sanktion zur Begründung seiner Entscheidung heran, obwohl er zugleich hervorhob, „ there is no need to examine it also in the light of the third criterion" 46 Für die dem Bf. Foucher vorgeworfene Beleidigung und Bedrohung („fifth-class minor offence") war ein Strafrahmen von 10 Tagen bis zu einem Monat Freiheitsstrafe und/oder eine Geldstrafe zwischen 2.500 und 5.000 FF vorgesehen. Ein Berufungsgericht hatte Geldstrafen in Höhe von jeweils 3.000 FF verhängt. Der EGMR stellte lediglich deklaratorisch fest, dass der Fall eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand hatte.47 Auch eine Sanktion, die nicht von den Strafgerichten ausgesprochen, sondern erst als automatische Folge der strafgerichtlichen Verurteilung von der Exekutive im Anschluss an das Urteil vollzogen wird, kann für den strafrechtlichen Charakter einer Verfehlung sprechen 48 Der vom EGMR im Fall Malige gewählte Ansatz ist jedoch dogmatisch wenig überzeugend. Ein Gericht hatte den Bf. wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 1.500 FF verurteilt und ihm für 15 Tage die Fahrerlaubnis entzogen. Der Bf., dem ein Punktabzug im Straßenverkehrsregister drohte, legte Berufung gegen das
45
46
47 48
EGMR, Gradinger./. Österreich, Serie A Nr. 328-C, §§ 34-36; Palaoro./. Österreich, Serie A Nr. 329-B, §§ 34-35; Pfarrmeier ./. Österreich, Serie A Nr. 329-C, §§ 31-32; Pramstaller ./. Österreich, Serie A Nr. 329-A, §§ 32-33; Umlauft./. Österreich, Serie A Nr. 328-B, §§ 30-31; Schmautzer ./. Österreich, Serie A Nr. 328-A, §§ 27-28; Mauer ./. Österreich, Reports 1997 I, § 31; zu beachten ist aber, dass der EGMR z.B. im Fall Gradinger den Begriff „administrative offence" einmal mit „Verwaltungsübertretung" und ein weiteres mal mit „Verwaltungsstraftat" übersetzt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Fall Marte u. Achberger ./. Österreich (Reports 1998-1), den der EGMR wegen einer zwischen den Verfahrensbeteiligten erzielten gütlichen Einigung aus dem Register strich (Widerstand gegen Polizeibeamte). EGMR, Kadulec ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§ 7-30, 50-53; Lauko ./. Slowakei, Reports 1998-VI, §§8-17, 56-59. EGMR, Foucher ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 6-8, 13, 29. EGMR, Malige ./. Frankreich, Reports 1998-VII, § 39.
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Urteil ein, weil der automatische Punktabzug nicht mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf anfechtbar sei. Das Berufungsgericht sah den Punktabzug weder als unmittelbare strafrechtliche Sanktion noch als eine mittelbare Folge der Verurteilung, sondern als verwaltungsrechtliche Sanktion an, deren Durchführung nicht von den Strafgerichten zu überprüfen sei. Zu Recht beurteilte der EGMR das Vergehen, das Anlass für den Punktabzug war - die Geschwindigkeitsübertretung - als strafrechtlich. Nicht überzeugend ist aber die ebenfalls angenommene „criminal charge" in Hinblick auf den automatischen Punktabzug. Obwohl dieser im französischen Recht als eine nicht strafrechtliche Sanktion angesehen wurde („administrative sanction not connected with the criminal law"), sprachen nach Ansicht des EGMR für das Vorliegen einer ihrer Art nach strafrechtlichen Sanktion, dass der Punktabzug im Zusammenhang und als Ergebnis einer strafrechtlichen Verfolgung erfolgt und daher als automatische Folge der vom Strafgericht ausgesprochenen Verurteilung anzusehen war („automatic consequence of the conviction"). Bei der Schwere der Sanktion berücksichtigte der EGMR neben der allgemeinen Bedeutung der Fahrerlaubnis im täglichen Leben, dass die Reduzierung der Punkte zur Unwirksamkeit der Fahrerlaubnis führen konnte, neben einem präventiven Element eine bestrafende wie abschreckende Wirkung hatte und daher einer Nebenstrafe gleichkam. Diese Argumentation entspricht weder der Systematik des Art. 6 noch den vom Gerichtshof aufgestellten Prüfungsgrundsätzen. Tatsächlich beurteilt der E G M R hier nicht das Vorliegen einer zweiten strafbaren Handlung, sondern die Erforderlichkeit einer gerichtlichen Verhandlung über eine strafrechtliche Sanktion. Alle Argumente, die für den strafrechtlichen Charakter des automatischen Punktabzugs im Verkehrsregister sprachen, sind nachvollziehbar und überzeugend. Tatsächlich sprechen sie aber lediglich für den strafrechtlichen Charakter der Verfehlung, die Grundlage für den Punktabzug war - die Geschwindigkeitsüberschreitung. Art. 6 Abs. 1 verlangt aber keine Verhandlung über eine „ criminal sanction", sondern über eine „ criminal charge". Die Verhängung einer „criminal sanction" ist zwar ein Kriterium für das Vorliegen einer „criminal charge". Umgekehrt führt aber der strafrechtliche Charakter einer Sanktion nicht zur Entstehung einer zweiten „criminal charge" bzw. strafbaren Handlung. Aus der Entscheidung ergeben sich allerdings kaum praktische Konsequenzen. Der E G M R war der Ansicht, dass der automatische Punktabzug im Verkehrsregister keiner erneuten Verhandlung bedurfte, weil seine von Art. 6 Abs. 1 geforderte gerichtliche Überprüfung bereits in der strafgerichtlichen Verurteilung enthalten war. Aus dem Satz „moreover, it is open to the applicant to seek judicial review in the administrative courts, in order to ascertain whether the administrative authority acted after following a lawful procedure" wird man aber schließen müssen, dass zumindest das beim Punktabzug angewandte Verfahren gerichtlich kontrollierbar sein muss. Die Vollziehung einer strafrechtlichen Sanktion hat jedoch nichts mit dem Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage zu tun. Die vom E G M R gewählte Einleitung „in the first place, the Court must determine whether the sanction of deducting points from driving licences is a punishment, and accordingly whether it is „criminal" within the meaning of Article 6 § 1" und die Tatsache, dass eine zweite Verhandlung über das „Ob" des automatischen Punktabzugs entbehrlich war, weil die diesbezüglichen Einwände bereits in dem die Geschwindigkeitsüberschreitung betreffenden
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Strafverfahren geltend gemacht werden konnten, sprechen ebenfalls dafür, dass nur eine strafrechtliche Anklage vorlag. Der Ansatz des EGMR würde konsequent weitergedacht dazu führen, dass nahezu jede automatische Folge eines Strafurteils (z.B. Wegfall des passiven Wahlrechts, Einziehung von Gegenständen) ihrerseits als selbständige „strafrechtliche Anklage" anzusehen wäre. Das würde dem Verurteilten eine gerichtliche Kontrolle der gegen ihn verhängten Sanktionen eröffnen, obwohl Art. 6 Abs. 1 gerade nicht die Einrichtung eines Rechtsmittelsystems verlangt. Der EGMR hat den von Art. 6 geforderten gerichtlichen Rechtsschutz im Ansatz überdehnt, ihn dann aber im Ergebnis auf das gebotene Maß beschränkt. Dass eine „criminal charge" in allen Lebensbereichen auftreten kann, in denen der Staat normabweichendes Verhalten sanktioniert, machen die folgenden Urteile deutlich. Den Widerruf einer Genehmigung zum Ausschank alkoholischer Getränke sah der EGMR im Fall Tre Traktörer Aktiebolag nicht als Erhebung einer strafrechtlichen Anklage an, da der Widerruf im konkreten Fall zwar als strenge Maßnahme, nicht aber als strafrechtliche Sanktion angesehen werden konnte.49 Zollbeamte hatten das Haus des Bf. Funke durchsucht und Gegenstände beschlagnahmt. Gegen den Bf. wurde zwar kein Strafverfahren, wohl aber ein Verfahren wegen der Vorenthaltung von Unterlagen eingeleitet, in dem er zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt wurde. Der EGMR sah in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen das jeder angeklagten Person aus Art. 6 Abs. 1 zustehende Schweigerecht und Selbstbelastungsprivileg („right ... to remain silent and not to contribute to incriminating himself). Diese Aussage setzt die Annahme einer strafrechtlichen Anklage zwingend voraus, obwohl die Zollbehörden den Bf. zu keinem Zeitpunkt eines konkreten Gesetzesverstoßes beschuldigt hatten.50 Im Fall Garyfallou AEBE war gegen ein Transportunternehmen wegen eines Verstoßes gegen Import-/Exportbestimmungen eine Geldbuße in Höhe von 500.000 Drachmen festgesetzt worden. Obwohl die Geldbuße im griechischen Recht nicht als „Strafsanktion" eingestuft wurde, sprach nach Ansicht des Gerichtshofs - unabhängig von der Art der Zuwiderhandlung - die Art und Schwere der gegenüber der Bf. verhängten und ihren Repräsentanten drohenden Sanktion (Freiheitsentzug bis zu einem Jahr) für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage, vor allem weil die maximal zulässige Höhe der Geldbuße den Wert der importierten Ware erreichen konnte und dem Unternehmen im Falle einer Zahlungsverweigerung die Beschlagnahme der Vermögenswerte drohte.51 Dem Bf. Pierre-Bloch war wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Wahlkampffinanzierung das passive Wahlrecht für ein Jahr entzogen worden. Sein Sitz im Parlament wurde für verfallen erklärt. Zusätzlich musste er den über der zulässigen Grenze liegenden Betrag iHv 59.572 FF an die Staatskasse zahlen. Das Verfahren betraf weder eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch noch eine strafrechtliche Anklage, da die Regelungen im Wahlgesetzbuch zur Wahlkampffinanzierung, auf denen auch die verhängten Sanktionen beruhten, zum Wahlrecht und nicht zum Straf-
49 50 51
EGMR, Tre Traktörer Aktiebolag ./. Schweden, Serie A Nr. 159, §§ 27-28,46. EGMR, Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, §§ 7-13, 30-31,44. EGMR, Garyfallou AEBE ./. Griechenland, Reports 1997-V, §§ 7-21, 32-35.
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recht gehörten. Der Gerichtshof orientierte sich an der sprachlichen Fassung des Titels im Gesetzbuch und stellte fest, dass die Sanktionen den ordnungsgemäßen Ablauf von parlamentarischen Wahlen und die Gleichheit der Abgeordneten gewährleisten sollten und daher von ihrem Zweck her betrachtet nicht in die „strafrechtliche" Sphäre gehörten. Hiergegen sprach nicht, dass der Entzug des passiven Wahlrechts zugleich eine Sanktion des französischen Strafrechts war, weil er dort nur als „Neben-" oder „Zusatzstrafe" verhängt wurde und seinen strafrechtlichen Charakter durch die „Hauptstrafe" erhielt. Weil der Entzug des Wahlrechts auf ein Jahr beschränkt war und sich lediglich auf die konkrete Wahl bezog, sprachen weder sein Charakter noch sein Schweregrad für eine strafrechtliche Klassifizierung. 52 Im Fall Hentrich hatte die Finanzverwaltung ein im Steuergesetzbuch geregeltes Vorkaufsrecht ausgeübt, weil sie den im Rahmen einer Grundstücksveräußerung vereinbarten Kaufpreis als zu niedrig ansah. Die nationalen Gerichte hatten eine Eigentumsverletzung abgelehnt, da die Finanzbehörden das Vorkaufsrecht nach ihrem Ermessen ausüben konnten, ohne dabei die behauptete Geringfügigkeit des Kaufpreises beweisen zu müssen. Die Möglichkeit eines Gegenbeweises - das Handeln in gutem Glauben und die Angemessenheit des Kaufpreises - bestand für den aus dem Vertrag gedrängten Käufer nicht. Nach der Rechtsprechung des Cour de Cassation konnten die Gerichte den von den Finanzbehörden als zu niedrig beurteilten Kaufpreis nicht überprüfen. In der Ausübung des Vorkaufsrechts sah der Bf. eine Anklage wegen Steuerhinterziehung und einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Der E G M R bewertete die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht als Feststellung einer Schuld iSv Art. 6 Abs. 2, ließ aber offen, ob und ab welchem Zeitpunkt die Bf. überhaupt angeklagt war. Zuvor hatte er Art. 6 Abs. 1 lediglich pauschal für anwendbar erklärt. 53 F ü r eine strafrechtliche Anklage ist i m m e r d a s Vorliegen einer k o n k r e t e n s t r a f b a r e n H a n d l u n g erforderlich. A n d e r s gewendet, eine staatliche M a ß n a h m e eröffnet nur d a n n den strafrechtlichen Schutzbereich des A r t . 6, wenn sie im k o n k r e t e n Z u s a m m e n h a n g mit einem strafrechtlich relevanten Verhalten erfolgt. In der A n o r d n u n g präventiver M a ß n a h m e n zur V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g ist dagegen nicht die E r h e b u n g einer strafrechtlichen Anklage zu sehen, a u c h w e n n diese M a ß n a h m e n mit gewissen freiheitsb e s c h r ä n k e n d e n Auflagen v e r b u n d e n sind. D a s h a t zur Folge, dass weite Bereiche der in d e n Polizeigesetzen der deutschen B u n d e s l ä n d e r geregelten v o r b e u g e n d e n Verbrechensb e k ä m p f u n g d e m Schutzbereich des A r t . 6 entzogen sind. F ü r sie gelten aber die strengen Eingriffsvoraussetzungen des Art. 8. Gegen den Bf. Raimondo war wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer mafiaähnlichen Vereinigung ein Strafverfahren eingeleitet und im Juli 1985 Anklage erhoben worden. Die seit November 1984 vollzogene Untersuchungshaft wurde in Hausarrest umgewandelt, der nach einem Freispruch Ende Januar 1986 aufgehoben wurde. Auf einen von der StA gestellten Antrag hatte ein Distriktgericht im Oktober 1985 die Einziehung mehrerer Gegenstände sowie eine polizeiliche Überwachung angeordnet, die erst im Anschluss an den Freispruch wirksam wurde. Diese präventive
52 53
EGMR, Pierre-Bloch ./. Frankreich, Reports 1997-VI, §§8-21, 52-61. EGMR, Hentrich ./. Frankreich, Serie A Nr. 296-A, §§ 6-12, 20-23, 62-64.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Überwachungsmaßnahme konnte gegenüber Personen angeordnet werden, von denen eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Ordnung ausging, ab 1965 auch auf Mitglieder mafioser Vereinigungen. U m die Einhaltung der mit der Überwachungsmaßnahme verbundenen Beschränkungen sicherzustellen, musste der Bf. eine Sicherheit von 2.000.000 Lira hinterlegen, außerdem der Polizei an bestimmten Tagen Bericht abstatten und sich in der Zeit zwischen 21.00 Uhr und 7.00 Uhr im Haus aufhalten, welches er nur aus besonderen Gründen und nach vorheriger Mitteilung verlassen durfte. Nach Ansicht des EGMR war die Überwachungsmaßnahme nicht mit einer strafrechtlichen Sanktion vergleichbar, da sie auf die Verhinderung von Straftaten abzielte.54
Das Urteil Raimondo verlangt in zweifacher Hinsicht nach Klarstellung. Nicht verwechselt werden darf die Anordnung präventiver Überwachungsmaßnahmen mit einer auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Unterbringung eines Tatverdächtigen, die aus Anlass der Begehung einer strafbaren Handlung erfolgt. Hier liegt ebenso eine strafrechtliche Anklage vor wie bei der Verhandlung über ein Rechtsmittel. Außerdem besteht eine strafrechtliche Anklage fort, wenn über ein Rechtsmittel der Anklagebehörde gegen einen erstinstanzlichen Freispruch verhandelt wird. Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen bei der Beschlagnahme und anschließenden Einziehung von Gegenständen („forfeiture of the goods"), die als solche keine strafrechtliche Anklage begründen. Nicht ausgeschlossen ist damit freilich, die Beschlagnahme eines Gegenstandes als Anknüpfungspunkt für die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage zu wählen, wenn die Art des zugrunde liegenden Vergehens oder die drohende Sanktion auf das Vorliegen einer strafbaren Handlung schließen lassen. Dass die Konvention einen individuellen, d.h. personenbezogenen Bezug der strafrechtlichen Anklage voraussetzt, zeigt sich vor allem dort, wo eine staatliche Maßnahme verschiedene Personen betreffen kann, etwa dann, wenn im Zuge eines Ermittlungsverfahrens eine Beschlagnahme erfolgt und die Gegenstände im Eigentum eines Dritten stehen. Selbst wenn gegenüber der Person, gegen die sich das Ermittlungsverfahren richtet und deren Verhalten Grund zur Beschlagnahme und Einziehung der Gegenstände gegeben hat, vom Vorliegen einer Anklage auszugehen ist, hat der Umstand, dass die Eigentumsrechte des Dritten nachhaltig betroffen sind, nicht zur Folge, dass auch ihm gegenüber eine strafrechtliche Anklage vorliegt.55 Diesen in der Entscheidung A GOSI entwickelten Grundsatz hat der E G M R überraschenderweise auch im Fall Air Canada angewandt. Beim Entladen einer Maschine der Air Canada war ein mit 331kg Cannabisharz gefüllter Container (Wert ca. £ 800.000) entdeckt worden. Die Flugrechnungsnummer des Containers war falsch und im Computer der Bf. waren keinerlei Transportdaten gespeichert. Die 60 Millionen £ teure Maschine wurde von den britischen Zollbehörden zum Zwecke der Einziehung beschlagnahmt („seized as liable to forfeiture"), nach Zahlung einer „Geldbuße" in Form einer Bankanweisung iHv £ 50.000 aber noch am selben Tag
54 55
EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, §§ 7-20, 43. EGMR, AGOSI ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, §§ 65-66; Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, §§ 6-16, 52-55.
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wieder an die Bf. übergeben. Ein Gericht entschied, dass das Flugzeug zum Zeitpunkt der Beschlagnahme wegen seiner Benutzung zum Transport eines der Einziehung unterliegenden Gegenstandes selbst als eingezogen anzusehen war („condemned as forfeited"). Aufgrund der geleisteten Strafzahlung hatte diese Entscheidung jedoch nicht zur Folge, dass die Bf. ihr Eigentum an dem Flugzeug verlor. Unter Bezugnahme auf das Urteil AGOSI vertrat der EGMR die Ansicht, dass „the matters complained of did not involve the determination of [a] criminal charge". Gerade wegen der zur Freigabe der Maschine geforderten Strafzahlung hätte es aber nahegelegen, die Voraussetzungen für das Vorliegen einer strafbaren Handlung auf Seiten der Bf. näher zu prüfen. Anders als in dem der Entscheidung AGOSI zugrunde liegenden Sachverhalt richtete sich hier das Verfahren der Zollbehörden nämlich unmittelbar gegen Gegenstände, die im Eigentum der Bf. standen, so dass Verfehlung und Sanktion dieselbe Person betrafen. Sowohl die Art der Verfehlung, welche die Zollbehörden der Bf. zur Last legten (Verstöße gegen Transportbestimmungen), als auch die Schwere der drohenden Sanktion sprachen eigentlich eher für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage.
2.
Disziplinarmaßnahmen
Ähnlich wie bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten und Verwaltungsübertretungen entsteht durch die autonome Auslegung der strafrechtlichen Anklage ein Spannungsfeld zwischen Straf- und Disziplinarverfahren, vor allem dann, wenn ein Fehlverhalten im nationalen Recht sowohl straf- als auch disziplinarrechtlich verfolgt und geahndet werden kann. Disziplinarrechtliche Verfolgungsmaßnahmen („poursuites disciplinaires") gehören als solche nicht zum Strafrecht („matiere penale"). 56 Deshalb bedarf es eindeutiger Kriterien, mit deren Hilfe rein disziplinarrechtliche Maßnahmen von solchen mit (auch) strafrechtlichem Charakter abgegrenzt werden können. Dass unter bestimmten Voraussetzungen auch disziplinarische Maßnahmen zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage führen können, hat der E G M R unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Zwar ist den Vertragsstaaten auch eine Unterscheidung zwischen dem Strafund Disziplinarrecht gestattet („right to distinguish between criminal offences and disciplinary offences in domestic law"). Probleme bereitet aber die Konstellation, dass ein Vertragsstaat ein Verhalten seiner Bürger „lediglich" disziplinarrechtlich ahnden will. Hier besteht die Gefahr, dass die von Art. 6 und Art. 7 verbürgten Garantien umgangen werden. Dass eine solche Gefahr der Umgehung fundamentaler Konventionsgarantien nicht nur theoretisch besteht, zeigt die im April 2001 verabschiedete Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts. Durch die Neustrukturierung der Disziplinarordnung von 1967 werden die Vorschriften über das behördliche und gerichtliche Disziplinarverfahren zusammengefasst, das Disziplinarrecht insgesamt verfahrensrechtlich vom Strafprozess-
56
EGMR, Le Compte, van Leuven u. De Meyere ./. Belgien, Serie A Nr. 43, § 42; Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 25.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR recht gelöst und eng an das Verwaltungsverfahrensrecht und -Prozessrecht angelehnt. 57 Hier muss im Einzelfall sehr genau geprüft werden, o b nach den vom E G M R herangezogenen Grundsätzen eine strafrechtliche Anklage vorliegt. Ist dies der Fall, müssen die Garantien des Art. 6 Beachtung finden.
Die Vertragsstaaten müssen sich bei ihrer Entscheidung, ob sie ein Vergehen strafrechtlich oder lediglich disziplinarrechtlich ahnden wollen, an einer Grenzlinie orientieren, die den Sinn und Zweck des Art. 6 nicht beeinträchtigt („dividing line between the „criminal" and the „disciplinary"). Insbesondere die rein disziplinarrechtliche Ahndung eines Verhaltens muss einer strengen Kontrolle unterzogen werden. O b die Ahndung eines Fehlverhaltens in der nationalen Rechtsordnung dem Strafrecht, dem Disziplinarrecht oder beiden Bereichen zuzurechnen ist, dient auch hier lediglich als „relativer" Ausgangspunkt. Vor allem die Art des Vergehens oder die drohende Sanktion kann für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage sprechen. Ein wichtiges Kriterium für die Abgrenzung disziplinarrechtlicher Verfehlungen von strafbaren Handlungen ist die Frage, wer Normadressat der das Fehlverhalten regelnden N o r m ist. Wie der Gerichtshof zu Recht feststellt, sollen Disziplinarmaßnahmen üblicherweise sicherstellen, dass Mitglieder spezieller Gruppen die für sie bestehenden Verhaltensregeln einhalten („members of particular groups comply with the specific rules governing their conduct"). Deshalb sind Regelungen, die eine innere Angelegenheit bzw. das ordnungsgemäße Funktionieren einer Gruppe betreffen, meist als disziplinarrechtlich anzusehen („internal regulation and orderly functioning"). Ist der Charakter des Vergehens weder eindeutig allgemein noch gruppenspezifisch, entscheidet die Art und Schwere der drohenden Sanktion. 58 Das Urteil Campbell u. Fell betraf die von einem Board of Visitors gegenüber Strafgefangenen verhängten Disziplinarmaßnahmen, die nach nationalem Rechtsverständnis als rein disziplinarrechtlich angesehen wurden. Die Prison Rules 1964 schlossen eine gleichzeitige strafrechtliche und disziplinarrechtliche Verfolgung bestimmter Vergehen nicht aus. Die schwersten Sanktionen bestanden in der Verwirkung eines Straferlasses und anderer Privilegien für eine unbegrenzte Zeit sowie im Ausschluss von der Gemeinschaftsarbeit, der Sperre des Verdienstes und in der Verhängung von Zellenhaft bis zu 365 Tagen. Gegenüber dem Gefangenen Campbell war eine Verwirkung von 570 Tagen Straferlass ausgesprochen worden. Außerdem war er für die Dauer von 91 Tagen anderen Sanktionen unterworfen worden. Wegen der bei einer Verwirkung des Straferlasses drohenden Verlängerung der Haft sah der E G M R den Bereich des „Disziplinarrechtlichen" als überschritten an, obwohl Grundlage für die Aufrechterhaltung des Freiheitsentzuges die ursprünglich verhängte Strafe blieb.
57 58
Siehe: Blickpunkt Bundestag 3/2001, S. 52. EGMR, Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22, §§ 81-82; Campbell u. Fell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 69, 72; Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, §§ 30-34; Demicoli./. Malta, Serie A Nr. 210, §§ 31, 33; zur frühen Rechtsprechung des EGMR betreffend „Disciplinary Proceedings": Kidd International and Comparative Law Quarterly 36 (1987) 856 ff.
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Auch die Ahndung von Verstößen gegen Parlamentsprivilegien kann als disziplinarrechtlich angesehen werden, wenn das entsprechende Fehlverhalten die inneren Angelegenheiten und das ordnungsgemäße Funktionieren des Parlamentsbetriebs betrifft. Das maltesische Parlament hatte den Bf. Demicoli, der selbst kein Mitglied des Parlaments war, wegen der Verletzung von Parlamentsprivilegien mit einer Geldstrafe von 250 maltesischen Liri belegt, weil er ehrenrührige Aussagen über Abgeordnete in einer satirischen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Obwohl das dem Bf. zur Last gelegte Verhalten nach maltesischem Recht nicht als Straftat einzustufen war, qualifizierte es der EGMR als strafrechtlich, weil es außerhalb des Parlaments erfolgt war, potentiell die gesamte Bevölkerung betraf und mit bis zu 60 Tagen Gefängnis und/oder einer Geldbuße von bis zu 500 maltesischen Liri geahndet werden konnte. Vor diesem Hintergrund erfahren die Konventionsgarantien und die Straßburger Rechtsprechung zu wenig Beachtung in der aktuellen Diskussion um das Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Das muss eigentlich verwundern, wo doch Art. 44 II 1 G G ausdrücklich auf die Vorschriften der StPO verweist. Statt dessen kreist die überwiegend rechtspolitische Diskussion um das Zeugnisverweigerungsrecht des § 55 StPO und das Recht des Beschuldigten zur Verweigerung der Aussage (§ 13612 StPO). 59 Dabei ist das Urteil Demicoli ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Handeln eines Parlaments die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage zur Folge haben kann. Das muss ebenso für seine Untergliederungen und Ausschüsse gelten. Aufgrund des vom E G M R vertretenen materiellen Begriffs der Anklage ist es durchaus denkbar, dass die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses - je nach Untersuchungsauftrag die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage zur Folge haben kann. Das wird man freilich nur annehmen können, wenn der Ausschuss selbst mit der Verfolgung - nicht notwendigerweise Feststellung - eines strafrechtlich relevanten Verhaltens befasst ist, was in der Bundesrepublik nicht der Fall sein kann, weil die Feststellung eines strafbaren Verhaltens nicht zu den Aufgaben des Parlaments gehört. In anderen Vertragsstaaten ist das aber möglicherweise anders. Unabhängig davon kann sich eine bereits angeklagte und als Zeuge geladene Person vor einem Untersuchungsausschuss auf ihre Beschuldigtenrechte aus Art. 6 berufen, zu denen auch das Schweigerecht und das Selbstbelastungsprivileg gehören. 60 Eine eigenständige Kategorie bilden berufsständische Disziplinarverfahren, über die der Gerichtshof bereits mehrfach zu befinden hatte. Es ist mittlerweile ständige Rechtsprechung, dass Disziplinarverfahren, in denen die Ausübung eines Berufs auf dem Spiel steht, eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch iSv Art. 6 betreffen. 61 Obwohl
59 60 61
Hierzu: Pabel NJW 2000, 788 ff.; Schröder NJW 2000, 1455, 1458; Schneider NJW 2000, 3332, 3333. Vgl. hierzu: § 4 II 15. So etwa: EGMR, König ./. Deutschland, Serie A Nr. 27, §§ 87-95; Le Compte, van Leuven u. De Meyere ./. Belgien, Serie A Nr. 43, §§ 41-51; Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, §§ 25-29; Diennet ./. Frankreich, Serie A Nr. 325-A, § 27; Philis ./. Griechenland, Serie A Nr. 209, §§ 7-9; Philis ./. Griechenland, Reports 1997-IV, § 45; Gautrin u.a. ./. Frankreich, Reports 1998-III, §33.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
in den Disziplinarverfahren Berufsverbote von z.T. erheblicher Dauer verhängt worden waren, ließ es der EGMR in einigen Fällen ausdrücklich dahinstehen, ob das den Bf. zur Last gelegte Fehlverhalten (auch) strafrechtlicher Natur war. Dass solche Ungenauigkeiten zur Herausbildung verlässlicher und nachvollziehbarer Kategorien für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage wenig geeignet sind, liegt auf der Hand. Sie begegnen auch deshalb erheblichen Bedenken, weil die Beschuldigtenrechte des Art. 6 Abs. 2 und 3 nur für angeklagte Personen gelten. Die analoge Anwendung der Beschuldigtenrechte des Art. 6 Abs. 3 auf berufsständische Disziplinarverfahren wurde bereits kritisiert. Sie kann hier nicht die Lösung des Problems sein. Den Bf. Diennet hatten die Disziplinarorgane einer Ärztekammer von der Ärzteliste gestrichen bzw. ein 3-jähriges Berufsverbot verhängt. Ihm wurde vorgeworfen, unter Verstoß gegen die Berufsordnung Patienten ausschließlich im Wege der Korrespondenz beraten zu haben. Der EGMR hielt Art. 6 für einschlägig, ließ es aber dahinstehen, ob eine strafrechtliche Anklage erhoben war. Gegen den Ingenieur Philis hatte das griechische Chamber of Technology ein zehnmonatiges Berufsverbot verhängt. Auch hier ging der EGMR lediglich auf das Vorliegen einer zivilrechtlichen Streitigkeit ein. Im Fall van Orshoven hatte der Ausschuss einer Ärztekammer die Registerstreichung des Bf. angeordnet, wohingegen der Regionalrat ein Berufsverbot von insgesamt 147 Tagen ausgesprochen hatte. Der vom Bf. angerufene Berufungsausschuss ordnete wiederum die Streichung aus dem Ärzteregister an. Hier ließ es der EGMR ganz offen, ob das Verfahren lediglich eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine Anklage betraf.62 Der bei einer Studenteneinrichtung als Hausverwalter angestellte Bf. Gallo hatte gegen eine Disziplinarstrafe geklagt, welche die Einrichtung wegen einer Verletzung seiner Sorgfaltspflichten verhängt hatte. Er war für einen Monat vom Dienst suspendiert worden, weil er unberechtigterweise nicht zum Dienst erschienen war. Durch die Suspendierung hatte er einen Teil seines Gehaltes eingebüßt. Nach Ansicht des EGMR lag keine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch iSv Art. 6 Abs. 1 vor, weil es sich um ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis handelte. Gerade aus diesem Grund hätte die Prüfung einer strafrechtlichen Anklage nahegelegen. Diese Frage hatten weder der Bf. noch der Gerichtshof aufgeworfen.63
3.
Gerichtliche Ordnungsmittel
Eine Art Sonderdisziplinarrecht stellen Vorschriften dar, die es einem Gericht zur Sicherstellung des ordnungsgemäßen Ablaufs eines Strafverfahrens gestatten, bestimmte Verhaltensweisen der Verfahrensbeteiligten durch „Ordnungsmittel" zu ahnden. Als solche kommen namentlich Geldbußen und freiheitsentziehende Sanktionen in Betracht (§§ 177-179 GVG, Art. 6-9 EGStGB). Ob die Verhängung eines Ordnungsmittels eine
62
63
E G M R , van Orshoven ./. Belgien, Reports 1997-III, §§ 7-12, 37 („independently of whether the case is a civil, criminal or disciplinary one"); vgl. auch: E G M R , W.R. ./. Österreich, Urteil v. 21.12.1999 (Anwaltstätigkeit). E G M R , Gallo ./. Italien, Reports 1997-V, §§ 7-10, 19-20.
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strafrechtliche Anklage iSv Art. 6 Abs. 1 darstellt und damit einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen muss, richtet sich nach den bereits genannten drei Kriterien. In den Urteilen Weber, Ravnsborg und Putz ging es ausschließlich um die Verhängung von Geldbußen. Werden als Ordnungsmittel verhängte Geldbußen („pecuniary penalties") nicht in ein Strafregister eingetragen und richtet sich ihre Höhe nicht nach dem Einkommen der von ihr betroffenen Person, so spricht dies dafür, dass diese Sanktionen im nationalen Recht nicht als strafrechtliche Sanktionen angesehen werden. Diese Tendenz wird verstärkt, wenn die Ahndung eines ungebührlichen Verhaltens vor Gericht zwar auf der Basis der „Strafprozessordnung" erfolgt, sonstige nach dem Strafrecht des betreffenden Staates ausdrücklich als strafrechtlich eingestufte Verfehlungen aber in einem separaten Verfahren geahndet werden („provide for a separate procedure"). 64 In der Entscheidung Ravnsborg hat der E G M R die Klassifizierung von Ordnungsmitteln mit Hilfe einer Rechtsvergleichung unternommen und dabei festgestellt, dass in nahezu allen Vertragsstaaten Vorschriften zu finden sind, die es einem Gericht erlauben, ein ungebührliches Verhalten zu sanktionieren. Die Legitimation derartiger Sanktionen sieht der Gerichtshof in der für jedes Gericht unentbehrlichen Gewalt, den einwandfreien und ordentlichen Ablauf des vor ihm stattfindenden Verfahrens sicherzustellen („indispensable power of a court to ensure the proper and orderly functioning of its own proceedings"). Den Vertragsstaaten steht es zwar frei, gravierende Fälle ungebührlichen Verhaltens vor Gericht in die Sphäre des Strafrechts zu rücken. Im allgemeinen stellt sich die Verhängung gerichtlicher Ordnungsmittel eher als Ausübung disziplinarischer Gewalt dar („more akin to the exercise of disciplinary powers"). Der E G M R argumentiert hier mit der täglichen Gerichtspraxis und hebt Fälle hervor, in denen ein Gericht auf ein ungebührliches Verhalten reagieren muss, obwohl eine strafrechtliche Sanktionierung weder notwendig noch praktikabel erscheint. 65 Dem nationalen Recht misst der E G M R bei gerichtlichen Ordnungsmitteln offenbar ein höheres Gewicht bei. Dieser Eindruck setzt sich beim zweiten Kriterium fort. Bei Beurteilung der Art und Schwere der im Falle eines ungebührlichen Verhaltens drohenden Sanktion gibt der E G M R zu bedenken, dass gerichtliche Ordnungsmittel in den nationalen Rechtssystemen unterschiedlich ausgestaltet sein können und regelmäßig die Besonderheiten dieser Rechtssysteme widerspiegeln. Auch hier kommt es darauf an, ob unter Berücksichtigung sämtlicher mit der Verhängung der Sanktion verbundenen Folgen das, was für den Betroffenen auf dem Spiel steht, von so großer Bedeutung ist, dass man die mit dem Ordnungsmittel verbundene Sanktion als strafrechtlich bezeichnen kann. 66 Die Möglichkeit der Umwandlung eines Ordnungsgeldes in eine freiheitsentziehende Sanktion im Falle seiner Nichtzahlung soll nicht zwingend für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage sprechen, insbesondere dann nicht, wenn diese Umwandlung nur „in limited circumstances" und nur nach einer mündlichen Verhandlung vor
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EGMR, Putz ./. Österreich, Reports 1996-1, § 32. EGMR, Ravnsborg ./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, § 34; Putz ./. Österreich, Reports 1996-1, § 33. EGMR, Putz ./. Österreich, Reports 1996-1, § 37.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
einem Gericht - d.h. nach Anhörung des Betroffenen - möglich ist.67 Im übrigen hängt es von den verfahrensrechtlichen Garantien und Beschränkungen - namentlich von der Höchstdauer der drohenden Freiheitsentziehung und dem gegen die Umwandlung statthaften Rechtsschutz - ab, ob eine ersatzweise angedrohte freiheitsentziehende Sanktion strafrechtlichen Charakter hat. Die Bedeutung für den ordnungsgemäßen Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, die der Gerichtshof gerichtlichen Ordnungsmitteln allgemein beimisst, wird in der Entscheidung Putz besonders deutlich. 68 Unter bestimmten Voraussetzungen führt sogar die Verhängung einer freiheitsentziehenden Sanktion in der Verhandlung („custodial sentences imposed straight away at the hearing") nicht dazu, dass das ungebührliche Verhalten als strafbare Handlung anzusehen ist. Die Verhängung eines gerichtlichen Ordnungsmittels kann aber in der strafrechtlichen Sphäre liegen, wenn Anknüpfungspunkt für die Sanktionierung ein Verhalten außerhalb des Gerichtssaals ist, das einem an die gesamte Bevölkerung gerichteten Verhaltensgebot widerspricht. Dem ist zwar durchaus zuzustimmen, nur lässt sich genauso vertreten, dass die Pflicht zu gebührlichem Verhalten - zumindest für die Zuhörer an der Verhandlung über die Anklage - ein allgemeines, für alle Personen geltendes Verhaltensgebot ist. Betrachtet man die Fälle Weber und Ravnsborg näher, gelangt man zu dem Ergebnis, dass sich die vom E G M R herangezogenen Kriterien bei der Klassifizierung gerichtlicher Ordnungsmittel nicht als praxistauglich erwiesen haben. Warum nicht auch über gerichtliche Ordnungsmittel „gerichtlich" verhandelt werden soll, ist nicht ersichtlich. Ein Kantonsgericht hatte gegen den Bf. Weber eine Geldbuße iHv 300 SF verhängt, weil dieser in einer Pressekonferenz vertrauliche Einzelheiten über ein auf seine Anzeige hin eingeleitetes Ermittlungsverfahren veröffentlicht hatte. Rechtsvergleichend stellte der Gerichtshof fest, dass die Mitteilung von Informationen über laufende Ermittlungsverfahren in zahlreichen Vertragsstaaten strafrechtlich geahndet werde. Im Gegensatz zu Richtern, Rechtsanwälten und allen anderen Personen, die mit dem Gerichtswesen eng verbunden und aufgrund ihres Berufes Disziplinarmaßnahmen unterworfen seien, unterlägen die an einem Verfahren beteiligten Parteien nicht der Disziplinarsphäre des Justizsystems. Das Fehlverhalten sah der E G M R auch deshalb als strafbare Handlung an, weil die Geldbuße von bis zu 500 SF unter bestimmten Umständen in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden konnte. 69 Im Fall Ramsborg hatte ein Vormundschaftsamt bei Gericht die Bestellung eines Vermögensverwalters für die Adoptivmutter des Bf. beantragt. Der Bf. hatte daraufhin in einer im eigenen und im Namen seiner Adoptivmutter erhobenen „Widerklage" die Entlassung der Mitglieder des Amtes gefordert und sich in Schriftsätzen mehrfach beleidigend über die Mitarbeiter des Amtes und die Gerichte geäußert. Diese hatten ohne vorherige Durchführung einer Verhandlung insgesamt drei Geldbußen iHv jeweils 1.000 SEK wegen „ungebührlicher Bemerkungen" festgesetzt. Obwohl das schwedische Recht den Begriff „straff" verwendete - ein Kriterium für das Vorliegen eines „Ver-
67
68 69
EGMR, Ravnsborg ./. Schweden, Serie A Nr. 283-B, § 35 („necessary to summon the applicant to appear ... for an oral hearing in separate proceedings"). EGMR, Putz ./. Österreich, Reports 1996-1, § 37. EGMR, Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, §§ 29-35.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
77
brechens" - und die Zuständigkeit des für die Verhängung der Geldbuße zuständigen Gerichts im Gerichtsverfahrensgesetz unter der Überschrift „Über das Verfahren in Strafsachen" geregelt war, bewertete der Gerichtshof die schwedische Rechtslage als „open to differing interpretations". Die Art des Vergehens sprach ebenfalls nicht für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage, da die für die Verhängung der Geldbußen maßgebliche Vorschrift lediglich ungebührliche mündliche oder schriftliche Bemerkungen gegenüber dem Gericht durch eine am Verfahren teilnehmende oder anwesende Person, nicht jedoch solche Bemerkungen betraf, die in einem anderen Zusammenhang oder von anderen Personen gemacht wurden. Der Gerichtshof betonte, dass hier - im Gegensatz zum Fall Demicoli - das erkennende Gericht selbst von Amts wegen prüfen musste, ob das vor ihm eingetretene Fehlverhalten unter die Vorschrift des Gerichtsverfahrensgesetzes fiel. Aus der Höhe der Geldbußen konnte nicht auf das Vorliegen einer strafrechtlichen Sanktion geschlossen werden, zumal diese nicht in ein Polizeiregister eingetragen wurden. Bemerkenswert ist, dass der EGMR selbst die Möglichkeit einer Umwandlung der Geldbuße in eine Freiheitsstrafe nicht für „strafrechtlich" ausschlaggebend hielt (s.o.). Eine besondere Konstellation entsteht, wenn Ordnungsmittel gegenüber dem Beschuldigten verhängt werden. In diesem Fall muss der strafrechtliche Charakter der Ordnungsmittel und des Vergehens, welches Anlass für ihre Verhängung war, unabhängig vom eigentlichen Tatvorwurf geprüft werden. Im wesentlichen gelten hier die Grundsätze, die der Gerichtshof im Urteil Ramsborg aufgestellt hat. Wegen eines ungebührlichen Verhaltens hatte das Kreisgericht Wels gegen den Beschuldigten Putz Ordnungsgelder iHv 5000 und 7500 ÖS verhängt. Der Bf. hatte die Verhandlungsführung kritisiert, schwere Vorwürfe gegen die Person des Vorsitzenden Richters erhoben und diesem zahlreiche gravierende Rechtsverstöße (Eidbruch, Vorverurteilung) vorgeworfen. Die Ordnungsgelder hatte der Bf. bezahlt, nachdem sie in einen 3 bzw. 5 Tage dauernden Freiheitsentzug umgewandelt worden waren. Im Juli 1991 setzte das Oberlandesgericht Linz eine Geldbuße iHv 10000 ÖS fest, weil der Bf. in einem Schreiben die Strafverfahren vor dem Kreisgericht mit den Rechtsverletzungen der Hitler- bzw. Stalinzeit verglichen hatte. Gegen die strafrechtliche Klassifizierung der Geldbußen sprach, dass die Strafprozessordnung für Straftaten nach dem Strafgesetzbuch ein gesondertes Verfahren vorsah, die Ordnungsstrafen nicht in ein Strafregister eingetragen wurden und ihre Höhe nicht vom Einkommen der betroffenen Person abhingen. Der EGMR vertrat die Ansicht, dass die Ordnungsmittel lediglich einen ordnungsgemäßen Ablauf des gerichtlichen Verfahrens sicherstellen sollten. Bei Beurteilung der Art und Schwere der Sanktion ergaben sich zwar gewisse Unterschiede zum Fall Ravnsborg. So war dort die Höhe der Geldbußen auf 1000 SEK beschränkt und eine Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe nur nach vorheriger Anhörung der betroffenen Person möglich. Das, was für den Bf. Putz auf dem Spiel stand, hielt der EGMR aber nicht für so bedeutend, dass man die Verfehlungen als „strafbar" bezeichnen konnte, zumal die Geldbußen nur im Falle einer Zahlungsverweigerung in einen Freiheitsentzug umgewandelt werden konnten und gegen diese Entscheidung - ebenso wie gegen einen in der Verhandlung ersatzweise verhängten Freiheitsentzug - ein Rechtsbehelf zur Verfügung stand. Während die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe im Fall Ravnsborg zwischen 14 Tagen und 3 Monaten betragen konnte, war sie in der österreichischen Rechtsordnung auf 10 Tage beschränkt.
78
2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Zur Verhängung von Ordnungsmitteln gegenüber Zeugen findet sich im untersuchten Zeitraum lediglich die Entscheidung Serves, die aber für die Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 auf gerichtliche Ordnungsmittel kaum relevante Anhaltspunkte liefert. Ein Militäruntersuchungsrichter hatte gegen den als Zeugen geladenen Bf. Serves Geldbußen iHv 500, 2000 und 4000 FF verhängt, weil dieser dreimal die Aussage und die Ableistung eines Eides verweigert hatte. Einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(b) lehnte der EGMR ab, weil ein vom Bf. gegen die Verhängung der Ordnungsgelder angerufenes Rechtsmittelgericht sich in einem den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 entsprechenden Verfahren mit den Argumenten des Bf. auseinandergesetzt hatte. Bedauerlicherweise ließ der EGMR offen, ob die Verhängung der Geldbußen zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage geführt hatte, was die französische Regierung in Frage stellte.70 Man wird die Urteile zu gerichtlichen Ordnungsmitteln dahingehend zusammenfassen können, dass gerichtlich verhängte Maßnahmen, die den ordnungsgemäßen Ablauf des gerichtlichen Verfahrens betreffen, regelmäßig disziplinarischen Charakter haben und der strafrechtlichen Sphäre entzogen sind. Das gilt jedenfalls für Geldbußen und einen ersatzweise angedrohten Freiheitsentzug, gegen den ein gerichtlicher Rechtsschutz besteht. Diese Erkenntnis ist gleichsam überraschend wie problematisch, werden so doch freiheitsentziehende Sanktionen von nicht unerheblicher Dauer dem Anwendungsbereich des Art. 6 entzogen. Es bleibt abzuwarten, wie der E G M R bei nationalen Rechtsordnungen entscheiden wird, in der alternativ neben der Verhängung eines Ordnungsgeldes das Festhalten der betroffenen Personen (vgl. § 177 Satz 1 GVG), die Anordnung von Arrest bzw. eine Inhaftierung als originäre Ordnungsmittel in Betracht kommen (§ 178 GVG). Angesichts dessen, was dann für den Betroffenen auf dem Spiel steht, dürfte am Eintreten in die strafrechtliche Sphäre kein Zweifel bestehen, mit der Folge, dass nicht nur die Garantien des Art. 6 Abs. 1, sondern prinzipiell auch die des Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 beachtet werden müssen. Es bedarf dann der Klärung, ob es ausreicht, dass das Gericht der betroffenen Person rechtliches Gehör gewährt, bevor es das Ordnungsmittel verhängt oder ob die Erhebung der strafrechtlichen Anklage erst in der Verhängung des Ordnungsmittels selbst zu sehen ist, so dass ein Zugang zu einem Gericht gegen die gerichtliche Entscheidung erforderlich wäre. Für letzteres spricht jedenfalls das Argument, dass das erkennende Gericht nicht unanfechtbar über eine von ihm selbst erhobene Anklage entscheiden sollte. Einen solchen Rechtsschutz sieht § 181 GVG nur für Ordnungsmittel iSv § 178 GVG vor, wohingegen ein Festhalten von bis zu 24 Stunden Dauer (§ 177 GVG) unanfechtbar ist.71 70
E G M R , Serves./. Frankreich, Reports 1997-VI, §§ 8-24, 30-31, 51 („Anyone summoned to be examined as a witness shall be required to appear, to take the oath and to give evidence ...If a witness fails to appear, the investigating judge may, on an application by the public prosecutor, have the witness brought before him by the police and order him to pay a fine of FRF3,000 to FRF6,000 ... The same penalty may, on an application by the public prosecutor; be imposed on a witness who appears but refuses to take the oath and give evidence ....").
71
Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner
§ 177 Rn. 15.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
4.
79
Steuerzuschläge und Steuerbußen
Gesonderte Betrachtung verdienen sog. Steuerzuschläge, die von der Finanzverwaltung als Sanktion für eine unterbliebene Steuerzahlung verhängt werden („tax surcharges"). Ihre Festsetzung stellt eine strafrechtliche Anklage dar, wenn bei einer Gesamtbetrachtung die strafrechtlichen Aspekte überwiegen und - wohl kumulativ - folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (1) Die nationale Vorschrift, nach der die Zuschläge festgesetzt werden, betrifft sämtliche Bürger in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler - nicht aber als Mitglieder einer Gruppe mit besonderem Status - und sieht Strafen für die Nichtbeachtung bestimmter Bedingungen vor, (2) die Zuschläge dienen nicht der finanziellen Kompensation eines Schadens, sondern der Abschreckung vor einer wiederholten Tatbegehung, (3) die Zuschläge werden nach einer allgemeinen Regel festgesetzt, die abschrecken und bestrafen soll, (4) die Zuschläge erreichen einen beträchtlichen Umfang („very substantial") und im Falle ihrer Nichtbezahlung droht dem Steuerschuldner die Verhängung einer Freiheitsstrafe durch die Strafgerichte.72 Ein solches Ahndungssystem ist mit Art. 6 vereinbar, wenn der Steuerschuldner eine solche Entscheidung vor ein Gericht bringen kann, welches die von der Konvention geforderten Sicherheiten und Garantien bietet. Die vom EGMR angeführten Argumente und Gesichtspunkte vermögen in der Sache durchaus zu überzeugen. Kritisieren am Urteil Bendenoun muss man allerdings, dass sich den Urteilsgründen nicht mit Sicherheit entnehmen lässt, ob der Gerichtshof lediglich eine „Gesamtbetrachtung" vorgenommen hat oder immer alle vier genannten strafrechtlichen Kriterien erfüllt sein müssen.73 Gegen den Bf. Bendenoun und seine Firma waren Steuernachzahlungen festgesetzt worden. Die in beiden Summen enthaltenen Steuerzuschläge machten jeweils etwas mehr als die Hälfte der geforderten Gesamtsumme aus. Die französische Regierung hatte die Zuschläge als Verwaltungs- bzw. Steuersanktion charakterisiert. Die Zuschläge wurden durch die Finanzverwaltung auf der Grundlage der Steuernachzahlung festgesetzt und waren proportional zu der ursprünglich hinterzogenen Steuerschuld. Obwohl für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Zuschläge nicht die Strafgerichte, sondern die Verwaltungsgerichte zuständig waren, bewertete der E G M R die Festsetzung der Zuschläge als strafrechtliche Anklage.
Der strafrechtliche Charakter von Steuerbußen richtet sich dagegen nach den drei allgemeinen Kriterien. In den Fällen A.P., M.P. u. T.P. sowie E.L., R.L. u. J.O.-L. waren gegenüber den Erben eines Steuerschuldners (S) Geldbußen festgesetzt worden, weil dieser Steuern hinterzogen hatte. Nach Ansicht des E G M R war gegen die Bf. durch die Festsetzung der Steuerbußen eine strafrechtliche Anklage erhoben worden. Die Höhe der Bußen
72
73
EGMR, Bendenoun ./. Frankreich, Serie A Nr. 284, §§ 46-47; siehe auch: Gantzner ./. Frankreich, UzE v. 5.10.1999. Gegen eine kumulative Betrachtung der vier Kriterien und zu den Auswirkungen der Entscheidung Bendenoun auf das deutsche Steuerrecht: Frommel/Füger StuW 1995, 58, 67; allgemein zum Einfluss der EMRK auf das deutsche Steuerrecht: Laule EuGRZ 1996, 357ff.
80
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
(3.875.85, 2.882.90, 5.513.80 SF) bezeichnete der E G M R als „not inconsiderable", wobei diese viermal so hoch hätten ausfallen können. Auch die A r t des Vergehens sprach f ü r eine strafrechtliche Anklage, weil die in den Steuergesetzen vorgesehenen Sanktionen nicht der finanziellen Schadenswiedergutmachung dienten, sondern ihrer Art nach repressiv u n d abschreckend waren. Weil selbst das Schweizerische Bundesgericht die G e l d b u ß e n als ihrer A r t nach strafrechtlich bzw. als echte Strafe einordnete u n d als von der Schuld des Steuerschuldners abhängig bezeichnet hatte, war es irrelevant, dass ihre Festsetzung unabhängig von der Schuld der Erben u n d o h n e eine Eintragung im Strafregister erfolgte. 74 I m Urteil J.J. bewertete der Gerichtshof eine Steuerbuße als strafrechtliche Sanktion, deren H ö h e der S u m m e der nachträglich erhobenen Steuern entsprach. 7 5 D a g e g e n sind Steuern u n d s o n s t i g e öffentlich-rechtliche A b g a b e p f l i c h t e n d e m Schutz der K o n v e n t i o n e n t z o g e n , die w e d e r die M e r k m a l e einer strafrechtlichen S a n k t i o n in sich tragen, n o c h eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen A n s p r u c h z u m G e g e n s t a n d haben, s o n d e r n ausschließlich der öffentlich-rechtlichen Sphäre a n g e h ö r e n („realm o f public law"). 7 6 Eine solche öffentlich-rechtliche Z a h l u n g s p f l i c h t k a n n j e d o c h strafrechtlich relevant werden, w e n n d e m Betroffenen für d e n Fall der Zahlungsverweigerung eine strafrechtliche S a n k t i o n droht. S o ist der strafrechtliche Schutzbereich des Art. 6 eröffnet, w e n n d a s nationale Recht zur Beitreibung einer öffentlich-rechtlichen Forderung eine A r t Beuge- u n d E r z w i n g u n g s h a f t vorsieht. Weil der Bf. Benham eine „community charge" iHv £ 325 nicht bezahlen wollte, hatte ein Gericht eine Liability order erlassen, auf deren G r u n d l a g e das Vollstreckungsverfahren eingeleitet werden konnte. N a c h einem erfolglosen Pfändungsversuch ordnete ein Magistrates' Court die Inhaftierung des Bf. bis zur Bezahlung der Forderung, höchstens aber f ü r die D a u e r von 30 Tagen an. Die Nichtbezahlung der Forderung beruhte nach Ansicht des Gerichts auf einer schuldhaften Nachlässigkeit des Bf. Dieser wurde nach elf Tagen gegen K a u t i o n aus der H a f t entlassen. Obwohl das Verfahren vor dem Magistrates' Court im nationalen Recht eher als zivilrechtlich betrachtet wurde, sprachen sowohl seine A r t als auch die A r t u n d Schwere der Sanktion f ü r das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage. Neben der möglichen Freiheitsstrafe von bis zu drei M o n a t e n D a u e r u n d der angeordneten I n h a f t i e r u n g berücksichtigte der E G M R , dass das Verfahren auf alle Bürger a n w e n d b a r war und strafende Elemente enthielt, d a eine H a f t a n o r d n u n g nur bei vorsätzlicher Zahlungsverweigerung oder schuldhafter N a c h lässigkeit des Schuldners ergehen durfte. 7 7
74
75 76 77
EGMR, A.P., M.P. u. T.P. ./. Schweiz, Reports 1997-V, §§ 7-21, 39-43; E.L., R.L. u. J.O.-L. ./. Schweiz, Reports 1997-V, §§ 7-26, 44-48. EGMR, J.J../. Niederlande, Reports 1998-11, §§ 7-8, 37. EGMR, Schouten u. Meldrum ./. Niederlande, Serie A Nr. 304, § 50. EGMR, Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, §§ 9-17, 19-20, 56.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
5.
81
Verfahren vor Militärbehörden und -gerichten
D e r strafrechtliche Schutzbereich des A r t . 6 unterscheidet nicht zwischen Strafverf a h r e n , die von Strafverfolgungs- oder M i l i t ä r b e h ö r d e n betrieben bzw. vor ordentlichen Strafgerichten oder Militärstrafgerichten verhandelt werden. Soweit d a s Fehlverhalten einer Person n a c h den drei g e n a n n t e n Kriterien eine strafbare Handlung u n d seine Verfolgung die E r h e b u n g einer strafrechtlichen Anklage mit sich bringt, fallen auch Militärs t r a f v e r f a h r e n u n t e r den sachlichen A n w e n d u n g s b e r e i c h des A r t . 6. D i e Vertragsstaaten k ö n n e n die Regelungen der Konvention also nicht d a d u r c h u m g e h e n , dass strafrechtliche Verfehlungen von Militärangehörigen o d e r Privatpersonen vor Militärgerichten verh a n d e l t werden. 7 8 A b z u g r e n z e n sind M i l i t ä r s t r a f v e r f a h r e n von militärischen Disziplin a r v e r f a h r e n , deren strafrechtlicher C h a r a k t e r n a c h den allgemeinen f ü r Disziplinarverfahren entwickelten G r u n d s ä t z e n zu beurteilen ist. Die Sanktionen des niederländischen Militärdisziplinarrechts waren Gegenstand der Entscheidung Engel. Obwohl den Bf. für das ihnen vorgeworfene Verhalten die Verhängung von bis zu vier Tagen einfachen bzw. zwei Tagen strengen Arrestes drohte, sah der E G M R keine Veranlassung, diese Sanktionen wegen ihrer Dauer oder ihres Schweregrades als strafrechtlich zu beurteilen, obwohl er den strengen Arrest wegen des mit ihm verbundenen Einschlusses in einer Zelle über Tag und während der Nacht als Freiheitsentzug iSv Art. 5 einstufte. Mit der Überstellung in eine Strafkompanie war dagegen die Stufe des Strafrechtlichen überschritten, da keine Trennung von Strafgefangenen stattfand, eine Uberstellung zwischen drei und sechs Monaten dauerte, die Betroffenen die Einrichtungen der Strafkompanie mindestens einen Monat lang nicht verlassen durften und zumindest über Nacht in einer Zelle eingesperrt waren. 79 Angesichts der mittlerweile fortgeschrittenen Rechtsprechung zum Begriff der strafrechtlichen Anklage erscheint es fraglich, ob der E G M R auch heute noch einem mehrtägigen Arrest unter Einschluss in einer Zelle nicht strafrechtlichen Charakter beimessen wird. 80
II.
Erhebung und Wegfall der strafrechtlichen Anklage
D e r sachliche Schutzbereich der strafrechtlichen A n k l a g e b e a n t w o r t e t n o c h nicht die Frage, auf welche Konventionsgarantien sich die angeklagte Person in den einzelnen Stadien eines S t r a f v e r f a h r e n s b e r u f e n k a n n . W ä h r e n d es bisher u m die Feststellung ging, o b ein Verfahren bzw. eine staatliche M a ß n a h m e ü b e r h a u p t als strafrechtlich iSv A r t . 6 anzusehen ist, soll n u n d a s P r o b l e m im Vordergrund stehen, ab bzw. bis zu welchem Z e i t p u n k t i n n e r h a l b eines solchen strafrechtlichen Verfahrens v o n einer „criminal
78
79 80
Vgl.: EGMR, Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22, §§ 80-81; Sutter ./. Schweiz, Serie A Nr. 74, §§ 18-20, 28; Findlay ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-1. EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, §§ 61-64, 85. Zum auf das Militärwesen beschränkten Aussagegehalt der Entscheidung vgl. auch: Triffterer EuGRZ 1976, 363, 369.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
charge" gesprochen werden kann. Schon die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass der sachliche und zeitliche strafrechtliche Schutzgehalt des Art. 6 eng miteinander verknüpft sind. Dazu gesellt sich eine „persönliche" Schutzrichtung der Anklage, die sich bei genauerem Hinsehen als rechtsschutzbeschränkend erweist, weil sie den Kreis der von einem Strafverfahren betroffenen Personen, die sich auf die Garantien des Art. 6 berufen können, begrenzt. Aus einer Zusammenschau von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 folgt, dass eine Person (nur dann) angeklagt ist, wenn sie zum Gegenstand einer Anklage geworden ist („subject of a charge"). 81 Letzteres ist dann der Fall, wenn sich das betreffende Verfahren konkret gegen sie richtet. In einem dem gerichtlichen Strafprozess vorgelagerten Ermittlungsverfahren, das sich gegen mehrere Tatverdächtige richtet, ist daher stets zu prüfen, ob das Verhalten einer bestimmten Person überhaupt (schon) Gegenstand des Verfahrens ist. Der E G M R hat diesen personenbezogenen Ansatz im Urteil Reinhardt u. Slimane-Kai'd streng formal interpretiert. Selbst eine ihrem Wesen nach eindeutig strafrechtliche Ermittlungsmaßnahme führt nicht zur Anklage der von ihr betroffenen Person, wenn die Maßnahme in Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen steht, die sich - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - ausschließlich gegen eine andere Person richten. Die Bf. Reinhardt (R) war in Polizeihaft genommen worden. Ihre Wohnung, die als Büro einer vom Bf. Slimane-Kai'd (S) betriebenen Firma registriert war, wurde durchsucht. Beide Ermittlungsmaßnahmen erfolgten im Rahmen einer strafrechtlichen Voruntersuchung, die zu diesem Zeitpunkt lediglich dem S galt. Selbst wenn die Durchsuchung der Sicherung von Beweisen für die dem S zur Last gelegten Vergehen gedient haben sollte, sah der E G M R weder in der Inhaftierung noch in der Durchsuchung eine „offizielle Mitteilung" an R, dass ihr gegenüber der Verdacht einer strafbaren Handlung bestand. 82
Ein solcher auf die persönliche Rechtsstellung eines Individuums ausgerichteter Ansatz ist vor allem dann von Relevanz, wenn eine Person Gesellschafter oder Inhaber eines Geschäftsbetriebes ist und sich das Strafverfahren zunächst nur gegen die Gesellschaft oder den Betrieb richtet. Da auch Verwaltungs- und Steuerverfahren unter den Begriff der strafrechtlichen Anklage fallen, ist es durchaus denkbar, dass ein Strafverfahren zunächst gegen eine Firma geführt wird und sich erst zu einem späteren Zeitpunkt auf die dahinterstehende natürliche Person erstreckt. Diese wird erst dann zum Gegenstand einer „criminal charge", wenn ihr gegenüber eine offizielle Mitteilung über ein sie betreffendes Strafverfahren oder eine andere Maßnahme mit entsprechendem Inhalt erfolgt. Art. 6 Abs. 1 verlangt also die persönliche strafrechtliche Betroffenheit einer Person. Im September 1980 hatten Steuerbehörden die Konten von Reinigungsfirmen überprüft, deren geschäftsführender Direktor der Bf. Hozee war. Gegenüber zwei Firmen 81
82
Vgl. hierzu: EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; Wemhoff./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 19; Messina./. Italien, Serie A Nr. 257-H, § 25; Tejedor Garcia./. Spanien, Reports 1997-VIII, §27. EGMR, Reinhardt u. Kai'd ./. Frankreich, Reports 1998-11, § 93 („neither measure was... an .official notification' to Mrs Reinhardt of an .allegation' that she had committed a criminal offence").
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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setzten die Finanzbehörden am 31.12.1981 Steuernachzahlungen und Steuerstrafen fest. Der Bf. wurde erstmals am 14.6.1984 als Verdächtiger befragt. Da die Steuerstrafe lediglich gegenüber den Firmen, nicht aber gegenüber dem Bf. persönlich verhängt worden war, konnte dieser nach Ansicht des EGMR zwischen 1981 und 1984 nicht von einer gegen seine Person geführten Untersuchung („investigation in his personal capacity") oder von einem gegen ihn bestehenden Tatverdacht ausgehen, so dass ihn die von den Finanzbehörden getroffenen Maßnahmen gar nicht substantiell betrafen. Da er von dem gegen ihn bestehenden Tatverdacht offiziell erst am 14.6.1984 erfahren habe, sei er von diesem Zeitpunkt an zum Verdächtigen geworden („when he became a suspect for the first time"). Die Anklage begann daher mit diesem Datum.83 Dieser individuelle Ansatz ist auch maßgeblich, wenn es um die Frage geht, ob eine formell als Zeuge geladene Person bereits angeklagt ist. Die Annahme einer gegen einen Zeugen erhobenen „criminal charge" liegt vor allem dann nahe, wenn der Zeuge eine Beziehung zu dem Verfahren hat, in dem er aussagen soll. Bei möglichen Mittätern oder Teilnehmern an einer Straftat ist daher besonderes Augenmerk darauf zu richten, ob sie zum Zeitpunkt ihrer Aussage bereits angeklagt sind. Diese Problematik ist keinesfalls rein akademischer Natur, weil sich eine angeklagte Person, die außerhalb des sie betreffenden Verfahrens „als Zeuge" aussagen soll, auf ihr Schweigerecht und Selbstbelastungsprivileg berufen kann. Aufgrund der autonomen Interpretation der „criminal charge" darf es für den Angeklagtenstatus eines Zeugen nicht auf die Förmlichkeiten und Besonderheiten der nationalen Verfahrensordnung ankommen. Konsequent stellt der E G M R auf den objektiven Stand des gegen den Zeugen betriebenen Verfahrens ab.84 Richtet sich ein Strafverfahren gegen eine Person, bleibt immer noch zu klären, wann genau das Fehlverhalten dieser Person zum Gegenstand einer „criminal charge" wird bzw. gemacht werden muss. Schon im Urteil Imbrioscia hat der E G M R klargestellt, dass eine Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 auf das dem gerichtlichen Strafprozess vorgelagerte Ermittlungs- oder Untersuchungsverfahren keinesfalls ausgeschlossen ist („pre-trial proceedings"). 85 Insbesondere die Garantien des Art. 6 Abs. 3 können relevant sein, bevor eine Strafsache bei Gericht anhängig wird, wenn ihre Nichtbeachtung im Ermittlungsstadium die Fairness des Verfahrens ernsthaft beeinträchtigen kann („may also be relevant before a case is sent for trial if and in so far as the fairness of the trial is likely to be seriously prejudiced by an initial failure to comply with them"). 86 Das
83 84
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86
EGMR, Hozee ./. Niederlande, Reports 1998-III, § 44. EGMR, Serves ./. Frankreich, Reports 1997-VI, § 42; vgl. hierzu die Ausführungen zum „Schweigerecht" des angeklagten Zeugen: § 6 I V 9. EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; die Anwendbarkeit des Art. 6 auf das Ermittlungsverfahren war lange Zeit umstritten; vgl.: Espenhain EuGRZ 1981,15,17; Peukert EuGRZ 1980, 247, 259; Trechsel SchwZStrR 96 (1979) 337, 389 ff. EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; vgl. hierzu: Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 91; Luedicke, Belkacem u. Κος./. Deutschland, Serie A Nr. 29, § 48; Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 95-99; Can ./. Österreich, Serie A Nr. 96, § 17; Lamy ./. Belgien, Serie Α Nr. 151, § 37; Delta ./. Frankreich, Serie A Nr. 191-A, § 36; Quaranta .1. Schweiz, Serie A Nr. 205, §§ 28, 36; S ./. Schweiz, Serie A Nr. 220, §§ 46-51.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Urteil Escoubet dürfte keine prinzipielle Beschränkung der Konventionsgarantien im vorgerichtlichen Stadium zur Folge haben, sondern lediglich den Ausschluss einer isolierten Anfechtbarkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen nach den Kriterien und Garantien des Art. 6 zum Ziel haben (s.o.).87 Stellt man sich den Ablauf eines Strafverfahrens bildlich gesehen auf einem Zeitstrahl vor, so meint „charge" jedenfalls nicht (nur) die förmliche Anklage und Überstellung eines Beschuldigten an ein Strafgericht. Etwas konkreter formuliert der EGMR im Urteil Hozee den Zeitpunkt der Anklage als den Moment, zu dem eine Person „became a suspect for the first time, that his situation was substantially affected"}9 Entsprechend dieser Formulierung kann das Vorliegen einer „charge" auch nicht mit der Entstehung eines Tatverdachts gleichgesetzt werden. Wie schon erwähnt, sind durchaus Zeiträume denkbar, in denen eine Person „suspect", aber noch nicht „charged" ist, mit der Folge, dass die Konvention in diesem Stadium (noch) keinen Schutz über die Garantien des Art. 6 bietet. Im Kontext der Konvention liegt zu diesem Zeitpunkt noch gar kein „Strafverfahren" vor. Hier zeigt sich das Problem, dass Art. 6 Abs. 1 keine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Erhebung einer „criminal charge" statuiert. Auch die Unterrichtungspflicht des Art. 6 Abs. 3(a) setzt das Vorliegen einer Anklage voraus. Einen effektiven Beschuldigtenschutz über die Garantien des Art. 6 Abs. 3 kann die Konvention deshalb nur dann entfalten, wenn die Anforderungen an die „officialnotification" über den Tatverdacht bzw. an die „measures which carry the implication of such an allegation" niedrig angesetzt werden. Jedenfalls dann, wenn sich Verdachtsmomente gegen eine tatverdächtige Person erhärten, sollte für die Strafverfolgungsbehörden eine Pflicht zur Erhebung der strafrechtlichen Anklage, d.h. zur offiziellen Mitteilung über den Tatvorwurf bestehen. Nur so lässt sich die monatelange Betreibung eines Strafverfahrens unter Ausschluss des Beschuldigten wirksam verhindern. Zum Bestehen einer solchen „Pflicht zur Anklage" hat sich der EGMR im untersuchten Zeitraum nicht explizit geäußert. Es bedarf deshalb der Überprüfung, ob sich eine solche Pflicht aus den Urteilen zur angemessenen Verfahrensdauer herleiten lässt. Als zeitlicher Rahmen spielen Beginn und Ende der strafrechtlichen Anklage bei der Beurteilung der angemessenen Frist iSv Art. 6 Abs. 1 eine wichtige Rolle. Die mittlerweile vorliegenden Urteile zur Angemessenheit der Verfahrensdauer enthalten durchaus brauchbare Anhaltspunkte für die Erhebung und die Fortdauer der strafrechtlichen Anklage. Als problematisch erweist sich jedoch, dass der EGMR eine Verfahrensdauer meist nach Jahren, Monaten und Tagen berechnet, wohingegen die Gewährleistung der Beschuldigtenrechte nach einer zeitlich genaueren Differenzierung verlangt. Aus diesem Grund können die für den Beginn und das Ende der angemessenen Frist ermittelten Zeitpunkte nur als Anhaltspunkte für die Erhebung der Anklage dienen.
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EGMR, Escoubet./. Belgien, Urteil v. 28.10.1999. EGMR, Hozee ./. Niederlande, Reports 1998-III, §§ 43, 45; diesen auf die Perspektive und Situation der „tatverdächtigen" Person abstellenden Ansatz hat der EGMR im Urteil Escoubet ./. Belgien (Urteil v. 28.10.1999) bestätigt; vgl. auch: EGMR, Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, § 46; Eckle ./. Deutschland, Serie Α Nr. 51, § 73; Serves ./. Frankreich, Reports 1997-VI, § 42; Reinhardt u. Kai'd ./. Frankreich, Reports 1998-11, § 93.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der E M R K
85
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass ein Strafverfahren - und damit auch die Frist iSv Art. 6 Abs. 1 - zwar regelmäßig vor Anhängigkeit der Strafsache bei Gericht beginnt („date prior to the case coming before the trial court"), der Gerichtshof aber hinsichtlich des genauen Zeitpunktes uneinheitlich verfährt. Ohne erkennbare Linie stellt er auf die Festnahme, die offizielle Mitteilung über die Strafverfolgung oder auf den Beginn einer gerichtlichen Voruntersuchung ab.89 Mitunter lässt er den genauen Zeitpunkt des Fristbeginns auch offen („at the latest").90 Solche Ungenauigkeiten wirken sich bei der Beurteilung einer Verfahrensdauer kaum aus, insbesondere wenn zwischen den einzelnen Zeitpunkten lediglich einige Tage liegen und das Verfahren insgesamt mehrere Jahre gedauert hat. Bei der Suche nach dem Zeitpunkt und der Art der Erhebung einer strafrechtlichen Anklage gegen eine tatverdächtige Person sind jedoch verlässlichere Maßstäbe notwendig. Schließlich ist zu bedenken, dass der EGMR die ihm vorliegenden Sachverhalte naturgemäß aus der Retrospektive, d.h. nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs, beurteilt. Er kann daher nicht nur den gesamten Verfahrensgang, sondern auch eine spätere Verurteilung des Beschuldigten berücksichtigen, wohingegen die Strafverfolgungsbehörden aus ex-ante Sicht entscheiden müssen, ob sie eine Person von einem Tatvorwurf offiziell in Kenntnis setzen.
1.
Anknüpfungspunkte für die Erhebung der strafrechtlichen Anklage
Schwierig zu beurteilen ist der exakte Zeitpunkt für die Erhebung der „criminal charge", wenn dem Strafverfahren eine verwaltungsrechtliche Untersuchung („administrative investigation") vorgeschaltet ist, die erst den Anstoß für das Strafverfahren liefern soll. Zwar können auch solche „Vorermittlungen" zu einer Anklage führen („capable of involving ... a „criminal charge"). Der EGMR lehnt das jedoch ab, wenn sie im wesentlichen recherchierender Art sind („essentially investigative in nature"), die beteiligten Personen weder förmlich noch in der Sache eine Entscheidung fällen („adjudicate either in form or in substance"), sondern lediglich Tatsachen ermitteln und sichern sollen, die später möglicherweise als Grundlage des von einer Strafverfolgungs-, Regulierungsoder Disziplinarbehörde bzw. von einem Gesetzgebungsorgan eingeleiteten Verfahrens dienen können.91 89
90
91
E G M R , Reinhardt u. Ka'fd ./. Frankreich, Reports 1998-11, § 93 („date of arrest, the date when the person concerned was officially notified that he would be prosecuted or the date when preliminary investigations were opened"); Hozee ./. Niederlande, Reports 1998-III, § 43. Vgl.: E G M R , Angelucci./. Italien, Serie A Nr. 196-C, §§ 9, 13 („spätestens mit der Bestellung des Verteidigers"); Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, §§ 11, 31; Eckle ./. Deutschland, Serie Α Nr. 51, § 74; Dobbertin ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-D, §§ 30-32, 38; M a j . / . Italien, Serie A Nr. 196-D, §§ 9, 13. E G M R , Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 67 („their purpose was to ascertain and record facts which might subsequently be used as the basis for action by other competent authorities").
86
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Dass dieser den zeitlichen Beginn der Anklage einschränkende Ansatz die Strafverfolgungsbehörden dazu verleiten könnte, Vorermittlungen unter Außerachtlassung der in Art. 6 niedergelegten Garantien durchzuführen, ist offensichtlich. Er bedarf deshalb seinerseits eines wirksamen Korrektivs. Er steht auch im Widerspruch zu dem Grundsatz, dass bei „minor offences" - welche das sind, lässt der E G M R leider offen ein administratives Vorverfahren statthaft ist, wenn die am Ende dieses Verfahrens gefällte Entscheidung einer den Anforderungen des Art. 6 entsprechenden gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Eine solche Forderung impliziert, dass schon während des Vorverfahrens vom Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage ausgegangen werden muss. Die Entscheidung Saunders leistet der Einrichtung eines den strafprozessualen Ermittlungen vorgelagerten Verfahrens Vorschub, in denen die Ermittlungsbehörden oder sonstige staatliche Stellen wichtige Beweise sammeln, ohne dass der Betroffene die Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 verbürgten Garantien verlangen kann. Die Gefahr einer „Vorwirkung" solcher dem eigentlichen Strafverfahren vorgelagerter Verfahren hat der E G M R im Ergebnis auch gesehen. Dass der Beschuldigte Saunders die später im Strafverfahren verwerteten Angaben zu einem Zeitpunkt gemacht hatte, als er noch nicht angeklagt war („prior to his being charged"), hat der Gerichtshof ausdrücklich als für die Verletzung des Selbstbelastungsprivilegs unbeachtlich bezeichnet. 92 Man wird deshalb berücksichtigen müssen, dass dem Urteil Saunders ein kartellrechtlicher Sachverhalt zugrunde lag. Der E G M R argumentiert, dass die im öffentlichen Interesse bestehende effektive Regulierung komplexer finanzieller und kommerzieller Aktivitäten in einem ungebührlichen Maße behindert würde, wenn die justitiellen Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 auch auf eine vorbereitende Untersuchung im Rahmen der Fusionskontrolle von Unternehmen Anwendung fänden. 93 Dies deutet darauf hin, dass der Gerichtshof das Vorliegen einer Anklage im „vorbereitenden Verfahren" gerade deshalb verneint hat, um die Effektivität der Fusionskontrolle nicht zu gefährden. Die Beschränkung von Verfahrensgarantien zugunsten der Effektivität des Verfahrens ist aber schon aus sich selbst heraus problematisch und widerspricht den mit Art. 6 angestrebten Zielen, namentlich dem Fairnessgebot. Zudem ist die Formulierung „guarantees of a judicial procedure set forth in Article 6" missverständlich, weil seit den Urteilen Imbrioscia und John Murray kein Zweifel mehr besteht, dass die Garantien des Art. 6 auch im vorgerichtlichen Verfahren Anwendung finden. Die Entscheidung Saunders muss daher eine auf die unternehmerische Fusionskontrolle beschränkte Ausnahmeentscheidung bleiben. Der Bf. Saunders hatte Gerüchten zufolge bei einer unrechtmäßigen Aktienspekulation
mitgewirkt. Die vom Secretary of State for Trade and Industry mit der Untersuchung des Falles beauftragten „inspectors"
92 93
begannen im Dezember 1986 mit der Vernehmung
Vgl. zur „Vorwirkung" auch: EGMR, Ninn-Hansen ./. Dänemark (Nr. 28972/95), UzE v. 18.5.1999. EGMR, Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 67 („a requirement that such a preparatory investigation should be subject to the guarantees of a judicial procedure as set forth in Article 6 para. 1 would in practice unduly hamper the effective regulation in the public interest of complex financial and commercial activities").
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der E M R K
87
mehrerer Zeugen und teilten im Januar 1987 dem Ministerium mit, dass sich ein konkreter Tatverdacht ergeben habe. StA und Ministerium kamen überein, die Untersuchungen fortzusetzen. In der Folgezeit leiteten die Beamten Vernehmungsprotokolle und andere Dokumente an den Minister weiter. Es kam zu einem Treffen, an dem die Beamten, Vertreter des Ministeriums, der Direktor des Public Prosecution Office (DPP) und ein Vertreter des Crown Prosecution Service (CPS) teilnahmen. Dabei wurden mögliche Beschuldigte - u.a. der Bf. - ermittelt, Anschuldigungen diskutiert, über den Termin zur Einleitung eines Strafverfahrens beraten und zugleich ein enges gemeinsames Vorgehen vereinbart. Im Februar 1987 ließ der CPS ein Team zusammenstellen, das über die strafrechtlichen Aspekte der Untersuchungen beraten sollte. Die Vernehmungsprotokolle und Dokumente wurden diesem Ermittlungsteam zur Verfügung gestellt, nachdem sie vom Handelsministerium ausgewertet worden waren. Der Bf. wurde von den Untersuchungsbeamten zwischen dem 10.2. und 12.6.1987 neunmal vernommen. Nach dem Companies Act 1985 übten die Beamten eine nichtjustitielle Funktion aus („inquisitorial and not a judicial function"). Im Mai 1987 wurde die Polizei vom DPP offiziell zur Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung aufgefordert. Die Vernehmungsprotokolle und übrigen Dokumente wurden ihr übergeben. Gegen den Bf. wurde Anklage wegen Vergehen im Zusammenhang mit der illegalen Aktienmanipulation erhoben. Der EGMR hielt die Anwendung der in Art. 6 Abs. 1 enthaltenen Garantien auf die „preparatory/non-judicial investigation" nicht für geboten und beschränkte sich auf die Verwertung der Berichte im Strafverfahren. Vorermittlungen kennt das deutsche Strafprozessrecht nicht nur vor der Entstehung eines Anfangsverdachts, sondern auch bei der Entscheidung über das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Tat (§ 376 StPO; Nr. 86 III RiStBV). 94 F ü r dieses strafprozessual sensible Stadium muss der E G M R f ü r das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage verlässlichere Kriterien entwickeln, die den Zielen der Konvention, vor allem dem Schutz vor willkürlicher Strafverfolgung Rechnung tragen. Wie problematisch die Ausklammerung solcher „Vorermittlungen" aus dem strafrechtlichen Schutzbereich der Konvention auch in der „europäischen Dimension" ist, haben GießtLüke a n h a n d der von Art. 41 S D Ü gestatteten grenzüberschreitenden Nacheile gezeigt. 95 Die aktuellen Vorgänge u m die Aufklärung der Datenvernichtung im deutschen Kanzleramt nach dem Regierungswechsel 1998 sprechen ebenfalls Bände. Die Bonner Staatsanwaltschaft hat zwar ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verwahrungsbruchs und der Computersabotage geführt, selbst jedoch keine Ermittlungen angestellt, sondern sich auf den Bericht des von der Bundesregierung eingesetzten Sonderermittlers Hirsch gestützt. Dieser hatte Vorermittlungen auf der Grundlage der Bundesdisziplinarordnung geführt und Zeugen vernommen. Die zwangsweise Einvernahme von Zeugen war ihm jedoch ebenso verwehrt wie die Durchsuchung von Wohnungen. Am strafrechtlichen Charakter derartiger Sonderermittlungen kann hier kein vernünftiger Zweifel bestehen, am Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage bedauerlicherweise schon.96 94
Vgl. KleinknechtlMeyer-Goßner § 376 Rn. 5.
95
Gieß!Lüke Jura 2000,400, 403, Fn. 41. Vgl. SZ Nr. 129 v. 7.6.2001, S. 5 („Hirsch fordert Staatsanwälte zu Ermittlungen auf").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Ähnliche Bedenken bestehen gegen die Ermittlungen der Sonder-Task-Force des deutschen Finanzministeriums zur BestechungsgeldafFäre Leuna/Minol. Diese Task-Force war im Sommer 2000 eingesetzt worden, weil sich keine Staatsanwaltschaft mit dem Themenkomplex befassen wollte. Anfang Mai 2001 sind der StA Magdeburg erste Ergebnisse dieser ministeriellen Ermittlungen übergeben worden. Mitunter wird der Task-Force vorgeworfen, sie operiere im „rechtfreien Raum". Davon kann jedoch keine Rede sein. Da sich diese „Vorermittlungen" bereits gegen konkrete Personen gerichtet haben, muss von der Erhebung einer strafrechtlichen Anklage ausgegangen werden, so dass sich die Ermittlungen „im Raum der EMRK" bewegt haben.97
Wann geht nun der E G M R von der Erhebung einer strafrechtlichen Anklage aus? Anknüpfungspunkte sind die Festnahme und Inhaftierung einer Person. Wird eine Person wegen des Verdachts der Begehung einer strafbaren Handlung festgenommen, beginnt die Frist des Art. 6 regelmäßig mit Festnahme 98 , unabhängig davon, o b die festgenommene Person zunächst in Polizeihaft verbleibt und erst aufgrund einer richterlichen Entscheidung in Untersuchungshaft genommen wird." Die Frist kann schon zu einem vor der Festnahme liegenden Zeitpunkt an zu laufen beginnen, wenn die Festnahme aufgrund einer Haftanordnung erfolgt. Hier hat der E G M R auf den Tag der Haftanordnung abgestellt. 100 Für das Verhältnis von Verhaftung, Haftanordnung und der Einleitung polizeilicher Ermittlungen lässt die Straßburger Rechtsprechung keine klare Linie erkennen. 101 Als Anknüpfungspunkte für die Erhebung einer Anklage kommen außerdem in Betracht: konkret geäußerte Beschuldigungen gegenüber einem Tatverdächtigen, die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung 102 , strafprozessuale
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99
100
101
102
Siehe den Bericht in: Blickpunkt Bundestag 5/2001, S. 79. Vgl.: EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 19; Moreira de Azevedo ./. Portugal, Serie A Nr. 189, §§ 12-13, 70; Alimena ./. Italien, Serie A Nr. 195-D, §§ 10, 15; Viezzer ./. Italien, Serie A Nr. 196-B, §§ 9, 15; Maj ./. Italien, Serie A Nr. 196-D, §§ 9, 13; Abdoella ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-A, §§ 6, 19; Dobbertin ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-D, §§ 9, 38; Bunkate ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-B, §§ 8, 21; Ferrantelli u. Santangelo ./. Italien, Reports 1996-III, §§ 12, 38. EGMR, Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, §§ 7-8, 58; Mitap u. Müftüoglu ./. Türkei, Reports 1996-11, §§9, 31. EGMR, Girolami./. Italien, Serie A Nr. 196-E, §§ 9, 13; Ferraro ./. Italien, Serie A Nr. 197-A, §§ 9, 15 (Tag der Festnahme nicht mehr festzustellen); Triggiani./. Italien, Serie A Nr. 197-B, § 9 (12), 15. EGMR, Messina ./. Italien, Serie A Nr. 257-H, §§ 10, 25; Boddaert ./. Belgien, Serie A Nr. 235-D, §§ 10, 35; der Bf. Messina war am 18.10.1985 - nach Ansicht des EGMR der Fristbeginn - aufgrund einer am Vortag erlassenen Anordnung verhaftet worden. Nach Angaben des Bf. hatte die Untersuchung der Tatvorwürfe bereits im Januar 1980 bzw. September 1984 begonnen. Gegen den Bf. Boddaert waren am 18.7.1980 polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und am 19.7. ein Haftbefehl erlassen worden, dessen Vollstreckung sich der Bf. jedoch bereits am 18.7. entzogen hatte. Am 30.7. wurde er den belgischen Behörden übergeben und inhaftiert. Maßgeblich für den Beginn der Frist war der Erlass des Haftbefehls am 19.7.; vgl. hierzu: EGMR, Colacioppo./. Italien, Serie A Nr. 197-D, § 9, 13: offizielle Mitteilung über die Strafverfolgung geht der Verhaftung vor. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, §§ 7, 18; Ringeisen ./. Österreich, Serie A, Nr. 13, § 110; Foti u.a. ./. Italien, Serie A Nr. 56, §§ 16, 19, 22, 25, 28, 53; Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, §§ 10, 25, 59; Allenet de Ribemont./. Frankreich, Serie A Nr. 308, §§ 9, 37; zu den Anknüpfungspunkten für den Begriff der Anklage: Ulsamer in: FS für Zeidler, S. 1799,1806: Eröffnung eines Durchsuchungs-, Beschlagnahmebeschlusses oder Haftbefehls.
89
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
Zwangsmaßnahmen (Durchsuchung, Beschlagnahme von Gegenständen)103 sowie staatsanwaltliche Ermittlungen, die allerdings den Grad einer „wirklichen Ermittlungstätigkeit" erreichen müssen.104 Der Eingang einer Strafanzeige oder die Aufnahme polizeilicher Ermittlungen dürften regelmäßig nicht für die Anklageerhebung ausreichen. Dass selbst eine polizeiliche Vernehmung nicht in jedem Fall die Frist des Art. 6 Abs. 1 in Gang setzt, zeigt der Fall Ferraro™5 Teilweise hat der EGMR auch ausdrücklich auf die Kenntnis des Beschuldigten von den gegen ihn geführten Ermittlungen abgestellt, obwohl diese bereits längere Zeit liefen.106 Fristauslösende Wirkung kann der Beschluss oder die Entscheidung einer Behörde haben, die selbst keine Strafverfolgungsbehörde ist.107 Im Fall Mansur hat der EGMR auf die Abgabe der Strafsache an das Strafgericht und nicht auf die Voruntersuchungen abgestellt, weil der Bf. erst nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen worden war.108 Trotz bereits laufender staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen bewertete der Gerichtshof im Fall Frau erst den Antrag der StA auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität als maßgeblich für den Fristbeginn.109
2.
Kriterien für den Wegfall der strafrechtlichen
Anklage
Weil Art. 6 nicht zwischen „nicht strafbaren", „nicht bestraften" und sonstigen Straftaten differenziert, entfällt eine strafrechtliche Anklage nicht rückwirkend, wenn das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt110 oder mangels Strafwürdigkeit beendet wird.111 Gleiches gilt, wenn Ermittlungen, die für das Vorliegen einer Anklage sprechen, für nichtig erklärt werden, solange einige von ihnen in Kraft und Grundlage für das weitere Verfahren bleiben.112 Eine andere Frage ist dagegen, bis zu welchem Zeitpunkt noch von einer strafrechtlichen Anklage gesprochen werden kann. Ohne Zweifel erfasst der Schutz des Art. 6 das erstinstanzliche gerichtliche Verfahren. Zeiträume, in denen der Strafprozess zur Vornahme weiterer Ermittlungen unterbrochen wird, rechnet der Gerichtshof in die Frist des Art. 6 Abs. 1 ein, da die erhobenen Beschuldigungen in dieser Zeit
103
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107 108 109 110 111 112
EGMR, Vendittelli./. Italien, Serie A Nr. 293-A, §§ 8-10, 21 (gerichtliche Bestätigung der Versiegelung einer Wohnung); Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, § 11. EGMR, Eckle ./. Deutschland, Serie A Nr. 51, § 74. EGMR, Ferraro ./. Italien, Serie A Nr. 197-A, §§ 9, 15. EGMR, Eckle ./. Deutschland, Serie Α Nr. 51, § 74; Corigliano ./. Italien, Serie A Nr. 57, §§ 14, 35; Milasi./. Italien, Serie A Nr. 119, §§ 8, 14; Motta./. Italien, Serie A Nr. 195-A, §§ 9,15; Pugliese ./. Italien, Serie A Nr. 195-C, §§ 10, 14; Ficara ./. Italien, Serie A Nr. 196-A, §§ 9, 15; Mori./. Italien, Serie A Nr. 197-C, §§ 9, 14; Adiletta ./. Italien, Serie A Nr. 197-E, §§ 10, 15. EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22; §§ 83, 89. EGMR, Mansur./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 7-20, 28-32, 60. EGMR, Frau ./. Italien, Serie A Nr. 195-E, §§ 9 (18, 21), 14. EGMR, Tejedor Garcia ./. Spanien, Reports 1997-VIII, § 27. EGMR, Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, § 33. EGMR, Serves ./. Frankreich, Reports 1997-VI, §42.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
weiterbestehen.113 Gleiches gilt für das Verfahren vor einem Rechtsmittelgericht 114 , auch dann, wenn die Strafsache nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils automatisch an dieses Gericht übertragen wird115 oder das Rechtsmittel bzw. die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts lediglich eine prozessuale Vorfrage betreffen („preliminary question of a procedural nature"), solange die Entscheidung des Gerichts noch als ausschlaggebend für die Verhandlung über die Anklage angesehen werden kann („decisive for the determination"). 116 Wird das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen, so fällt auch das sich nun anschließende Verfahren in die Frist des Art. 6 Abs. I. 117 Als Zeitpunkt für das Ende der Frist stellt der E G M R auf den Erlass des (letzten) Urteils über die Anklage („gave judgment") 118 oder auf die Eintragung des Urteils in das Gerichtsregister ab („filed with the registry"). 119 Zwischen beiden Zeitpunkten lagen mitunter mehrere Monate. In einigen Fällen hat der E G M R auf den Eintritt der Rechtskraft rekurriert („became final in relation to the applicant", „time-limit for an appeal on a point of law ... expired"). 120 Wird der Beschuldigte teilweise freigesprochen und die Strafsache zur weiteren Entscheidung über die verbliebenen Anklagepunkte an ein anderes Gericht verwiesen, endet die Frist des Art. 6 Abs. 1 mit der Rechtskraft des Urteils über die verbliebenen Anklagepunkte.121 Nimmt die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel zurück, endet sie an dem Tag, an dem das angefochtene Urteil rechtskräftig wird („became final").122 Ergeht ein Urteil in Abwesenheit des Beschuldigten, endet die Frist - je nach den Umständen des Einzelfalls - erst dann, wenn der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger - von der Entscheidung Kenntnis erlangt.123
113 114
115 116 117 118
119
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121 122 123
So etwa: E G M R , Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 19. Siehe vor allem die Argumente im Urteil Delcourt ./. Belgien, Serie A Nr. 11, §§ 25-26; vgl. auch: EGMR, Neumeister ./. Österreich,, Serie A Nr. 8, § 19; Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 18; König ./. Deutschland, Serie A Nr. 27, § 98; Eckle ./. Deutschland, Serie Α Nr. 51, § 76; Baggetta ./. Italien, Serie A Nr. 119, §§ 10, 20; Foti u.a. ./. Italien, Serie A Nr. 56, §§ 18, 54; Monnell u. Morris./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 115, § 54 („application for leave to appeal"); Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, §§ 17, 48. EGMR, Mitap u. Müftüoglu ./. Türkei, Reports 1996-11, §§ 13-16, 31. E G M R , J.J. ./. Niederlande, Reports 1998-11, §40. E G M R , Corigliano ./. Italien, Serie A Nr. 57, §§18-21. E G M R , Motta ./. Italien, Serie A Nr. 195-A, §§ 9, 15; Manzoni ./. Italien, Serie A Nr. 195-B, §§ 10 (24-25), 11,16; Boddaert./. Belgien, Serie A Nr. 235-D, §§ 29, 35; Abdoella ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-A, §§ 7-10, 19; Bunkate ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-B, §§ 14, 21; Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 7-20, 28-32, 60. E G M R , Milasi./. Italien, Serie A Nr. 119, §§ 9, 14; Baggetta ./. Italien, Serie A Nr. 119, §§ 10, 20; Ferrantelli u. Santangelo ./. Italien, Reports 1996-III, §§ 32, 38. E G M R , Frau ./. Italien, Serie A Nr. 195-E, §§ 9 (25, 31), 10, 14; Ficara ./. Italien, Serie A Nr. 196-A, §§ 9, 15; Girolami./. Italien, Serie A Nr. 196-E,§§9,13;Ferraro ./. Italien, Serie A Nr. 197-A,§§9, 15; Triggiani ./. Italien, Serie A Nr. 197-B, § 9 (12), 15; Dobbertin ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-D, §§ 30-32, 38; Vendittelli./. Italien, Serie A Nr. 293-A, §§ 9-13, 21. EGMR, Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie Anr. 317-B, §§ 27-28, 58. EGMR, Adiletta ./. Italien, Serie A Nr. 197-E, §§ 10, 15. EGMR, Alimena ./. Italien, Serie A Nr. 195-D, §§ 10 (23-25), 15.
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der EMRK
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Die strafrechtliche Anklage muss nicht zwingend durch ein Urteil enden. Sie kann durch jede Entscheidung wegfallen, in der abschließend über sie entschieden wird. So kann die Angemessenheit der Verfahrensdauer auch überschritten sein, wenn das Strafverfahren im Ermittlungsverfahren („at the investigation stage") oder mit einem Freispruch („discharge") endet. 124 Im Fall Foti fiel das Fristende auf die gerichtlich angeordnete Freilassung des inhaftierten Beschuldigten. 125 Dagegen war im Urteil Pugliese die Gewährung einer Amnestie das für das Fristende maßgebliche Ereignis.126 Auch die Entscheidung eines Untersuchungsrichters oder eines Gerichts, das Strafverfahren mangels Straftat, aus Mangel an Beweisen, aus Gründen der Verjährung oder einer zwischenzeitlich erlassenen Amnestie einzustellen, bedeutet das Ende der Anklage)21 Welche Schwierigkeiten hier in der Praxis auftreten können, zeigt die Entscheidung Adolf. Dort hatte ein Gericht das Ermittlungsverfahren durch einen „Beschluss" vom 24.11.1977 eingestellt, der nicht begründet war und lediglich auf die Vorschrift Bezug nahm, nach der die Einstellung erfolgt war. Weder der StA noch dem Bf. war der Beschluss bekannt gemacht worden. Drei Monate später wurde dem Bf. ein begründeter „Beschluss" vom 10.1.1978 über die Einstellung des Verfahrens zugestellt, welcher nicht auf den in den Akten befindlichen Beschluss vom 24.11.1977 Bezug nahm. Der E G M R sah in dem Beschluss vom 24.11.1977 und dessen begründeter schriftlicher Ausfertigung vom 10.1.1978 einen einzigen, in mehreren Stufen ausgeführten Verfahrensakt und kam zu dem Ergebnis, dass der Bf. einer strafrechtlichen Anklage ausgesetzt war, auf die sich der begründete Beschluss vom 10.1.1978 bezog. Die Anklage dürfte daher bis zum 10.1.1978 bestanden haben. 128
Weil die Verhandlung über die erhobene Anklage erst dann endgültig ist, wenn die Strafe abschließend bestimmt ist, kann in Einzelfallen das nach Art. 6 zu prüfende Verfahren nach der Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts enden. 129 Entscheidungen über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe bzw. über die Anrechnung einer Untersuchungshaft sind in die Frist des Art. 6 einzurechnen. Ist gegen die Entscheidung über die nachträgliche Festsetzung einer Einheits- oder Gesamtstrafe noch ein Rechtsmittel statthaft, so gehört auch dieses Rechtsmittelverfahren noch zur Frist des Art. 6 Abs. 1.13° Hingegen hat der Gerichtshof ein Verfahren zur Reduzierung der verhängten Strafe wegen einer zwischenzeitlich in Kraft getretenen Gesetzesänderung nicht eingerech-
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125 126 127
128 129 130
EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; vgl. hierzu die Fälle Maj ./. Italien, Serie A Nr. 196-D, §§ 13-15; Viezzer ./. Italien, Serie A Nr. 196-B, §§ 15-17. EGMR, Foti u.a../. Italien, Serie A Nr. 56, §§ 21, 54. EGMR, Pugliese ./. Italien, Serie A Nr. 195-C, §§ 10, 14. EGMR, Eckle ./. Deutschland, Serie A Nr. 51, §§ 55, 78; Maj ./. Italien, Serie Α Nr. 196-D, §§ 9, 13; Angelucci ./. Italien, Serie A Nr. 196-C, §§ 9, 13; Mori ./. Italien, Serie A Nr. 197-C, §§ 9, 16; Colacioppo ./. Italien, Serie A Nr. 197-D, §§ 9, 13. EGMR, Adolf ./. Österreich, Serie A Nr. 49, §§ 11-12, 32-34. EGMR, Eckle ./. Deutschland, Serie A Nr. 51, § 77. EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie Α Nr. 13, §§ 110, 48; Eckle ./. Deutschland, Serie Α Nr. 51, §77.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
net. 131 Einige europäische Rechtsordnungen besitzen neben ihrem Gerichtssystem auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Strafverfahren nach Erschöpfung des Rechtswegs vor den Strafgerichten angerufen werden kann. Grundsätzlich ist auch das Verfahren vor einem Verfassungsgericht in die Frist des Art. 6 Abs. 1 einzubeziehen. Daran dürfte bei einer Normenkontrolle oder bei einem Vorlageverfahren während des laufenden Strafverfahrens kein Zweifel bestehen. Wird das Verfassungsgericht erst nach Ablauf des Rechtsmittelverfahrens mit dem Fall befasst, kommt es darauf an, ob seine Entscheidung den Ausgang des Strafprozesses beeinflussen kann („capable of affecting the outcome of the case ... litigated before the ordinary courts"). 132 Auch dies dürfte regelmäßig der Fall sein, insbesondere wenn die Strafsache im Falle eines festgestellten Verfassungsverstoßes neu aufgerollt werden muss. Dagegen fallt die Verhandlung über ein vom Beschuldigten gestelltes Gnadengesuch nicht mehr in die nach Art. 6 Abs. 1 zu prüfende Frist. 133 Wie problematisch der Schluss von dem für das Ende der angemessenen Frist maßgeblichen Zeitpunkt auf den Wegfall der strafrechtlichen Anklage ist, zeigt eindrucksvoll das Urteil Guzzardi. Demnach gehört eine gerichtlich angeordnete Überwachungsmaßnahme, die rein präventiven Charakter hat und zur Vermeidung einer Überschreitung der national zulässigen Dauer einer Untersuchungshaft ergeht, nicht mehr zur Verhandlung über die strafrechtliche Anklage, selbst wenn der ursprüngliche Tatverdacht in dieser Zeit fortbesteht und weiterhin ermittelt wird. Der Fall betraf die im Jahre 1975 angeordnete Verbannung eines mutmaßlichen Mitgliedes einer kriminellen Vereinigung auf eine schwer zugängliche Mittelmeerinsel. Diese Verbannung beruhte auf einem Gesetz, das die Anordnung verschiedener Präventionsmaßnahmen gegenüber Personen erlaubte, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellten. Ab 1965 konnten die Maßnahmen auch gegen Mitglieder mafioser Vereinigungen angewandt werden. Die Verbannung war für die Dauer von drei Jahren angeordnet worden und begann im Anschluss an eine Untersuchungshaft, nachdem diese die innerstaatlich zulässige Höchstdauer erreicht hatte. 134
Vorsicht ist immer dort geboten, wo der E G M R bestimmte Zeiträume nicht in die nach Art. 6 Abs. 1 zu überprüfende Frist einbezieht. Ein Grund hierfür kann sein, dass sich der Beschuldigte auf der Flucht befand oder aus einem anderen Grund nicht dem Zugriff der nationalen Behörden unterlag („effectively out of reach"). Diese Urteile sind für die Frage, zu welchem Zeitpunkt eine strafrechtliche Anklage beginnt oder endet,
131
EGMR, Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B. EGMR, Bock ./. Deutschland, Serie A Nr. 150, § 37; Buchholz ./. Deutschland (Serie A Nr. 42, § 48 (arbeitsrechtliche Kündigungsschutzklage); Deumeland ./. Deutschland, Serie A Nr. 100, § 77 (sozialversicherungsrechtliche Streitigkeit); Poiss ./. Österreich, Serie A Nr. 117, § 52; Ruiz-Mateos ./. Spanien, Serie A Nr. 262, §§ 35-36; Süßmann ./. Deutschland, Reports 1996-IV, §§ 39, 41; zur Anwendbarkeit des Art. 6 auf verfassungsgerichtliche Verfahren: Matscher EuGRZ 1993,449ff. 133 EGMR, Abdoella ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-A, §§ 7-10, 19. 13" EGMR, Guzzardi 7. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 44-52, 108. 132
§ 1 Der Begriff des Strafverfahrens im Lichte der E M R K
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kaum von Relevanz, weil bei ihnen die Beurteilung der Angemessenheit der Frist unter Zurechnungsgesichtspunkten im Vordergrund stand. Der Bf. Manzoni war im Januar 1981 aufgrund einer Drogenrazzia in den Niederlanden festgenommen worden. Die italienische Polizei leitete eine Untersuchung ein, auf deren Basis die StA am 19.8.1981 Haftbefehl erließ und am 21.8. die Auslieferung des Bf. beantragte, die Ende Juli 1982 erfolgte. Der Gerichtshof stellte für den Beginn der Frist auf den 19.8.1981 ab und rechnete die Inhaftierungszeit in den Niederlanden nicht mit in die nach Art. 6 Abs. 1 zu prüfende Frist ein.135 Auch gegen die flüchtigen Bf. Girolami und Boddaert konnten Haftbefehle nicht vollstreckt werden. Die Zeit der Flucht berücksichtigte der EGMR bei der Verfahrensdauer nicht.136 Der Bf. Bunkate war am 5.1.1984 verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hatten sowohl er als auch die StA Rechtsmittel eingelegt. Zwei Tage nach der Urteilsverkündung verließ der Bf. die Niederlande und hielt sich für elf Monate im Ausland auf. Der Zeitraum vom 7.1. bis zu seiner Rückkehr am 19.11.1984 blieb bei der zu überprüfenden Zeitspanne außer Betracht.137 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass schon im Ermittlungsstadium vom Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage ausgegangen werden muss, wenn der Beschuldigte über einen gegen ihn bestehenden Tatverdacht offiziell informiert wird oder ihm gegenüber eine Maßnahme ergriffen wird, die einen solchen Vorwurf beinhaltet. 138 Hinsichtlich der als Anknüpfungspunkte für die Erhebung der Anklage in Betracht kommenden Maßnahmen lässt die Straßburger Rechtsprechung keine verlässliche Linie erkennen. Hier sind noch viele Fragen offen, wie etwa die, wann eine Person bei der Anordnung und Durchführung geheimer Überwachungsmaßnahmen (z.B. Telefonüberwachung und Lauschangriff) zum Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage wird. Hier passt das Abstellen auf eine offizielle Mitteilung nicht, weil die Maßnahme ihren Sinn verliert, wenn die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, von der Durchführung erfährt. Unabhängig davon, dass solche strafprozessualen Überwachungsmaßnahmen den Anforderungen des Art. 8 genügen müssen, ist ihre Einbindung in den Schutzbereich des Art. 6 zu fordern. Das setzt voraus, dass sich der Anklagestatus vom Erfordernis der offiziellen Mitteilung löst und an die Art der Strafverfolgungsmaßnahme angelehnt wird. 139 Vom Zeitpunkt der Erhebung der strafrechtlichen Anklage greift der Schutz des Art. 6, wobei aber gewisse Abstufungen und Einschränkungen hinsichtlich des Umfangs der einzelnen Konventionsgarantien je nach Verfahrensstadium wahrscheinlich sind. Zu Recht restriktiv steht der Gerichtshof einer isolierten Anfechtbarkeit strafprozessualer
135 136
137 138 139
E G M R , Manzoni./. Italien, Serie A Nr. 195-B, §§ 10 (14-17), 16. E G M R , Girolami./. Italien, Serie A Nr. 196-E, §§ 9,15; Boddaert./. Belgien, Serie A Nr. 235-D, §§ 10, 35. E G M R , Bunkate ./. Niederlande, Serie A Nr. 248-B, §§ 8—11, 21. Ebenso: Weiß JZ 1998, 289, 290. Die reine Betroffenheit von der Maßnahme kann für eine Anklage iSv Art. 6 dagegen nicht ausreichen, weil geheime Kommunikationsüberwachungen häufig auch Personen betreffen, gegen die sich das Strafverfahren gar nicht richtet. Diese Personen sind über die Eingriffsklausel des Art. 8 Abs. 2 ausreichend geschützt.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Zwangsmaßnahmen in einem den Garantien des Art. 6 entsprechenden Verfahren gegenüber. Hier bieten Art. 5 Abs. 4 und Art. 13 einen angemessenen Schutz. Nicht gelungen ist dem EGMR dagegen die Entwicklung trennscharfer Kriterien für den Übergang vom Verdächtigen- zum Angeklagtenstatus. Hier besteht vor allem hinsichtlich administrativer Vorverfahren eine erhebliche Unsicherheit. Eine „Pflicht zur Anklage" ab dem Erreichen eines bestimmten Verdachtsgrades lässt sich der Straßburger Rechtsprechung bisher nicht entnehmen.
§2
Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
I.
Ne bis in idem
Vor der Einleitung eines Strafverfahrens müssen die staatlichen Stellen prüfen, ob das Verbot des ne bis in idem dem entgegensteht. Gemäß Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP darf niemand wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden. Ihrem Wortlaut nach untersagt die Vorschrift hinsichtlich der abgeurteilten „einen" Straftat die doppelte Strafverfolgung, d.h. die Durchführung eines zweiten Strafverfahrens und nicht erst die erneute Verurteilung durch ein Strafgericht („liable to be tried or punished", „etre poursuivi ou puni"). 1 Die vom EGMR im Urteil Gradinger gewählte Formulierung „that provision does not therefore apply before new proceedings have been opened" bedeutet deshalb nicht, dass das Verbot der Doppelbestrafung erst nach der Einleitung eines zweiten Verfahrens greift. Der Gerichtshof zieht bei der Bestimmung der Straftat eindeutige Parallelen zur strafrechtlichen Anklage des Art. 6 Abs. 1. Deshalb kann prinzipiell auch ein Verfahren vor einer Verwaltungsbehörde zu einem Verstoß gegen das Prinzip des ne bis in idem führen, wenn sich dieses Verfahren auf die bereits abgeurteilte Straftat bezieht.2 Die Zusammenhänge zwischen dem Verbot der Doppelbestrafung und der Erhebung der strafrechtlichen Anklage führen dazu, dass das Verbot des ne bis in idem nicht nur die Erhebung einer „zweiten" Anklage verbietet, sondern weiter reicht und praktisch die Wirkung eines Strafverfolgungshindernisses annimmt, wie es im deutschen Recht der Fall ist (Art. 103 III GG). 3 Das bringt die Formulierung „the aim ... is to prohibit the repetition of criminal proceedings, that have been concluded by a final decision" klar zum Ausdruck. Noch nicht geäußert hat sich der Gerichtshof zu der Frage, in welchem Umfang „Vorermittlungen" zulässig sind, mit deren Hilfe geklärt werden soll, ob sich die beabsichtigte Strafverfolgung tatsächlich auf eine bereits abgeurteilte Straftat erstreckt. Mit Spannung ist auch zu erwarten, wie er den Begriff der „final decision" interpretieren wird. Hier können sich durchaus fruchtbare Ansätze für die bei Art. 54 SDU aufgetretenen Auslegungsschwierigkeiten ergeben.4
1
2 3 4
Die frühere deutsche Fassung „ vor Gericht gestellt oder bestraft werden " war deshalb irreführend. Die Bundesrepublik Deutschland hat das 7. Z P noch nicht ratifiziert; vgl. hierzu den Ratifikationsstand der Zusatzprotokolle auf der Homepage des E G M R unter www.echr.coe.int. E G M R , Gradinger ./. Österreich, Serie A Nr. 328-C, §§ 7-9, 36, 53, 55. Siehe: Roxin § 50 Β I; KleinknechtlMeyer-Goßner Einl. Rn. 171. Vgl. hierzu: BGH, NStZ 1998, 149; BGH, NJW 1999, 250 (belgische „Transactie"); BGH, StV 1999, 478 (französische „Ordonnance de non-lieu") m. Anm. Kühne StV 1999,480; Hecker StV 2001, 306 ff.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Im Mittelpunkt des strafprozessualen Interesses steht die Frage, wann ein Verfahren eine bereits abgeurteilte Straftat betrifft. Prüfungsmaßstab des EGMR im Urteil Gradinger war, ob beide Verfahren auf demselben Verhalten einer Person beruhen („based on the same conduct").5 Dabei kann das neuerliche Verfahren auch dann die abgeurteilte Straftat betreffen, wenn die dem Beschuldigten zur Last gelegten Verfehlungen bzw. die Gesetze, auf denen die zu ahndende Verfehlung beruht, eine andere Bezeichnung haben, von unterschiedlicher Art sind oder einen anderen Zweck verfolgen als die Bestimmungen, auf deren Grundlage die rechtskräftige Verurteilung bzw. der Freispruch erfolgt ist. Eine Straftat kann deshalb auch dann vorliegen, wenn das Vergehen, das dem Beschuldigten nun zur Last gelegt wird, einen 7ez7aspekt des bereits abgeurteilten Delikts ausmacht („offence ... represents only one aspect of the offence punished ..."). Damit hat der E G M R den Umfang des „same conduct" zunächst sehr beschuldigtenfreundlich
interpretiert. Ne bis in idem gilt nicht nur dann, wenn der Beschuldigte von dem Delikt, das Gegenstand des zweiten Verfahrens wäre, ausdrücklich freigesprochen worden ist. Ein Verfolgungshindernis besteht bereits dann, wenn ein Gericht das betreffende Delikt geprüft und im Urteil festgestellt hat, dass dessen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, und zwar auch - und gerade - wenn es dabei einem Irrtum erlegen ist und sich nach der Verurteilung herausstellt, dass ein als nicht erfüllt angesehenes Tatbestandsmerkmal tatsächlich doch vorlag. Auch in diesem Fall darf dasselbe Verhalten nicht wegen eines anderen Delikts verfolgt werden, das dieses Tatbestandsmerkmal ebenfalls enthält.6 Der Bf. Gradinger hatte einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Radfahrer getötet worden war. Im Mai 1987 verurteilte ihn ein Landesgericht wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen ä 160 ÖS. Im Urteil wurde festgestellt, dass die von einem Sachverständigen ermittelte BÄK des Bf. zur Tatzeit für eine Verurteilung wegen des höher bestraften Delikts der fahrlässigen Tötung unter Alkoholeinfluss nicht ausreichte (Art. 81 II öStGB). Hierfür wäre eine BÄK von 0.8 g/L erforderlich gewesen. Aufgrund eines neuen Sachverständigengutachtens (BÄK 0.95 g/L) erließ die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten im Juli 1987 ein Straferkenntnis wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss (Geldbuße von 12.000 ÖS). Das Straferkenntnis beruhte u.a. auf § 5 öStVO, der das Führen eines Fahrzeugs mit einer BÄK von 0.8 g/L untersagte. Nach Ansicht des Bf. beruhte das Straferkenntnis auf Tatsachen, die mit denen identisch waren, auf deren Grundlage das Landesgericht einen Verstoß gegen Art. 81 II ÖStGB verneint hatte. Obwohl sich Art. 81 II ÖStGB und § 5 ÖStVO hinsichtlich der Art und Bezeichnung der Vergehen unterschieden (Bestrafung von Handlungen, die zum Tod von Menschen führen können und die öffentliche Sicherheit bedrohen/Garantie der Leichtigkeit des Verkehrs) und das Vergehen des § 5 ÖStVO lediglich einen Aspekt des in
5
6
EGMR, Gradinger./. Österreich, Serie A Nr. 328-C, § 55. Nur der Klarstellung halber sei darauf hingewiesen, dass der Beschuldigtenstatus der Person nur aus dem ersten Verfahren herrühren kann. Ob ein zweites Verfahren eingeleitet, d.h. eine zweite strafrechtliche Anklage erhoben werden darf, ist gerade die Frage, die es zu beantworten gilt. EGMR, Gradinger./. Österreich, Serie Α Nr. 328-C, §§ 7-9, 36, 55; zur Kritik in Österreich an diesem Urteil: Giese in: Grabenwarter (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der EMRK, S. 97, 101.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
97
Art. 81 II öStGB mit Strafe bedrohten Vergehens darstellte, nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZP an, weil Urteil und Straferkenntnis auf demselben Verhalten des Bf. beruhten („both impugned decisions were based on the same conduct").7 Mit der beschuldigtenfreundlichen Tendenz bei der Beurteilung der abgeurteilten Straftat hat der Gerichtshof im Urteil Oliveira gebrochen. Seither stellt er eine formale Betrachtungsweise an, die - aus deutscher Sicht - das Prinzip des ne bis in idem in der strafprozessualen Praxis erheblich entwertet. Der Regelungs- und Schutzgehalt des Art. 4 des 7. ZP ist darauf beschränkt, dass eine Person nicht wegen derselben Straftat erneut verfolgt werden darf („being tried twice for the same offence"). Dagegen fallen Fälle aus dem Schutzbereich heraus, in denen eine strafbare Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt („one criminal act/a single act constituting various/two separate offences", ,,concours ideal d'infractions"). 8 Die Bf. Oliveira war mit ihrem Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn geraten und dort mit zwei Fahrzeugen kollidiert. Ein Fahrer (M) wurde schwer verletzt. Nachdem ein Polizeirichteramt eine Bußenverfügung über 200 SF wegen eines Vergehens nach dem Straßenverkehrsgesetz (Nichtbeherrschen des Fahrzeuges infolge Nichtanpassens der Geschwindigkeit) erlassen hatte, erging ein Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft über 2.000 SF wegen fahrlässiger Körperverletzung (Art. 125 sStGB). Ein Bezirksgericht setzte die Geldstrafe auf 1.500 SF herab. Es war der Ansicht, dass aufgrund der Bußenverfügung kein zweites Übertretungsstrafverfahren eingeleitet werden durfte, wohl aber ein Verfahren zum Nachweis einer schwereren Straftat. Es hob die Bußenverfügung auf und reduzierte die Geldstrafe entsprechend auf 1.300 SF. Das Schweizerische Bundesgericht bestätigte dieses Vorgehen, da dem Polizeirichteramt die Verletzungen des Μ offensichtlich nicht bewusst gewesen seien, weil es sonst mangels Zuständigkeit eine Geldbuße nicht hätte verhängen dürfen, sondern die Akte an die Bezirksanwaltschaft hätte zurückgeben müssen. Eine doppelte Verurteilung sei durch die Anrechnung der Geldbuße vermieden worden. Überraschend und im Gegensatz zur EKMR lehnte der EGMR hier einen Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZP ab, weil der Bf. nicht dasselbe Vergehen zur Last gelegt worden sei („same offence"). Der Gerichtshof ging von einer einzigen Handlung aus, die verschiedene Straftatbestände erfüllt habe („single act constituting various offences"). Er differenzierte dabei zwischen dem Verlust der Kontrolle über das Fahrzeug und der fahrlässigen Verursachung der Verletzungen. Obwohl ein Gericht beide Strafen hätte aussprechen und aufeinander anrechnen sollen und - unter Verstoß gegen das nationale
7
8
Vgl. hierzu auch den Fall Marte u. Achberger, den der EGMR aus dem Register strich, nachdem es zwischen den Verfahrensbeteiligten zu einer gütlichen Einigung gekommen war (Reports 1998-1). Die Bf. waren wegen Widerstands gegen Polizeibeamte verurteilt und später im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens zur Zahlung von 6.000 bzw. 11.000 ÖS aufgefordert worden. Ihnen wurden Verstöße gegen das Verwaltungsverfahrensgesetz und den Public Morality Act zur Last gelegt (Verhalten gegen die öffentliche Ordnung / Beleidigung der öffentlichen Moral durch einen Angriff auf Polizeibeamte in Gegenwart anderer Personen). Die EKMR hatte einen Verstoß gegen Art. 6 und Art. 4 des 7. ZP angenommen. EGMR, Oliveira ./. Schweiz, Reports 1998-V, § 26.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Recht - zwei Verfahren parallel geführt worden waren, lehnte der EGMR einen Konventionsverstoß ab. Festzuhalten bleibt also, dass die aufeinanderfolgende Verhandlung und Verfolgung verschiedener Delikte durch mehrere Gerichte nicht gegen Art. 4 des 7. ZP verstößt, selbst wenn diese auf einer einzigen strafrechtlich relevanten Handlung beruhen („single criminal act"). Zwar hat sich der Gerichtshof nicht von der Entscheidung Gradinger distanziert. Dennoch stellt das Urteil Oliveira eine Abkehr von der praxisfreundlichen, am Verhalten einer Person ausgerichteten Bestimmung der abgeurteilten Straftat dar. Die Differenzierung nach „offences" innerhalb eines „single criminal act" mutet nicht nur lebensfremd an. Sie wird weder dem Sinn und Zweck eines Doppelbestrafungsverbots gerecht, noch verträgt sie sich mit den Bedingungen für die als Ausnahme zum ne bis in idem Verbot vorgesehene Wiederaufnahme des Strafverfahrens (Art. 4 Abs. 2 des 7. ZP). Die Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts (Verkehrsunfall) nach Tathandlung und Tatfolgen lässt keinerlei Raum für ein schutzwürdiges Vertrauen des Beschuldigten auf eine bereits erfolgte Aburteilung seines Verhaltens. In Vertragsstaaten, in denen das Doppelbestrafungsverbot eine inhaltlich stärkere Ausprägung als das der EMRK erfährt, dürfte das Urteil Oliveira zu einer erheblichen Verunsicherung führen. Auch die Anrechnung der später verhängten Sanktion erweist sich nicht als überzeugendes Argument für den vom EGMR vertretenen Ansatz. Das ne bis in idem Verbot macht nur dann Sinn, wenn es den Beschuldigten vor Nachlässigkeiten der staatlichen Stellen bei der Sachverhaltsermittlung und vor der Verhängung einer schärferen Sanktion schützt. Der EGMR sollte sich seines beschuldigtenfreundlichen Ansatzes aus dem Urteil Gradinger besinnen. Das schließt freilich nicht aus, den „single criminal act" als Ausgangspunkt für die abgeurteilte Straftat zu nehmen. Nur muss sich dann der „conduct" des Beschuldigten am Lebenssachverhalt orientieren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der ohnehin auf die nationale Ebene beschränkte Schutzgehalt des Art. 4 des 7. ZP hinter dem des Art. 54 S D Ü und dem des EU-ne bis in idem-Übereinkommens zurückfällt
oder - schlimmer noch - die Auslegung des Schutzgehaltes dieser Vorschriften beeinflusst.9 Weiteren Grund zur Sorge bereitet die Entscheidung des E G M R vom 14.9.1999 über die Unzulässigkeit der Beschwerde Ponsetti u. Chesnel ./. Frankreich. Hier hatten Steuerbehörden Verwaltungsstrafen in Form von Steuerzuschlägen festgesetzt, weil die Bf. keine Steuererklärungen abgegeben hatten. Die Bf. wurden außerdem wegen Steuerbetrugs verurteilt. Der E G M R hielt die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 4 des 7. ZP für offensichtlich unbegründet, weil beide „Verurteilungen" auf unterschiedlichen Bestim-
9
Zur „nationalen" Beschränkung des Art. 4 des 7. ZP: Trechsel in: FS für Ermacora, S. 195, 207 f.; vgl. auch Art. 14 VIIIPBPR v. 19.12.1966 (BGBl. 1973 II 1553); dagegen: Gesetz zu dem Übereinkommen vom 25.5.1987 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung (EG-ne bis in idem-Übk) vom 7.9.1998 (BGBl. 1998 II 2227ff.); siehe auch die Denkschrift der Bundesregierung (BR-Dr 283/97); Übereinkommen zur Durchführung des am 14.6.1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19.6.1990 (SDÜ): BAnz. Nr. 217a v. 23.11.1990); BT-Dr 12/2453; Ratifizierungsgesetz v. 15.7.1993 (BGBl. 1993 II 1010).
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
99
mungen des Steuergesetzbuchs beruhten, die sich ihrerseits auf zwei völlig unterschiedliche Vergehen mit jeweils anderen Tatbestandsmerkmalen bezogen („punish only a failure to declare one's tax liability within the time-limit/punish an intentional failure to do so"). Auch hier hätte eine Orientierung am „same conduct" zu einem anderen Ergebnis führen müssen. Der auf die nationale Ebene beschränkte Regelungsgehalt des Art. 4 des 7. ZP steht einer Harmonisierung der nationalen Strafverfahrensrechte diametral entgegen. Die im deutschen Recht nur auf EU-Ebene geltende Anerkennung eines Strafklageverbrauchs ausländischer Urteile (Art. 54 SDÜ; §§51 III StGB; 153c I Nr. 3 StPO) erweist sich zwar als konventionskonform, genügt jedoch nicht den Ansprüchen einer staatenübergreifenden Strafverfolgung. 10 Der sachliche Schutzgehalt des in der deutschen Verfassung verbürgten ne bis in idem Verbots (Art. 103 III GG) geht über den des Art. 4 des 7. ZP hinaus, weil er an den Begriff der strafprozessualen Tat (§§ 264 StPO; 84 OWiG) anknüpft und damit die normative Aufspaltung einheitlicher Lebensvorgänge untersagt. 11 Allerdings gilt das Verbot nur für die Kriminalstrafe, nicht jedoch im Verhältnis zur Disziplinarstrafe. Ein disziplinarisch bereits geahndetes Verhalten kann also strafrechtlich verfolgt werden. Aufgrund der Autonomie von strafrechtlicher Anklage (Art. 6 Abs. 1) und Straftat (Art. 4 des 7. ZP) darf dies allerdings nicht für Disziplinarverfahren gelten, die - nach den drei vom E G M R entwickelten Kriterien - strafrechtlichen Charakter haben. 12 Die Entscheidungen Oliveira und Ponsetti u. Chesnel lassen jedoch ernstlich befürchten, dass der Gerichtshof auch hier die rechtliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges akzeptieren wird.
II.
Beachtung der Unschuldsvermutung im Ermittlungsstadium
Der Schutzbereich der Unschuldsvermutung erstreckt sich über den gesamten Zeitraum der - autonom zu bestimmenden - strafrechtlichen Anklage. Der E G M R orientiert sich hierbei streng am Wortlaut des Art. 6 Abs. 2, wonach jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt. Deshalb ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass die Unschuldsvermutung auch in einem Stadium zu berücksichtigen ist, das zeitlich gesehen vor der Anhängigkeit der Strafsache bei einem Gericht liegt. Bereits nach der Erhebung der strafrechtlichen Anklage müssen die
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11
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Vgl. Schomburg NJW 2000, 1833. Weil die Bundesrepublik Deutschland das 7. ZP noch nicht ratifiziert hat, handelt es sich hier um eine „präventive" Betrachtung. Siehe zu den Unterschieden zwischen dem deutschen Verständnis des ne bis in idem Verbots und den normativ geprägten ausländischen Positionen: VogelZStW 110 (1998) 970, 977, Fn. 10. Vgl. BVerfGE, 21, 378, 383 ff.; 21, 391,400ff.; 43, 101, 105; zu diesem Problem auch: Frowein/Peukert Artikel 4 des 7. ZP, Rn. 2.
100
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Strafverfolgungsbehörden und sonstige mit der Strafsache befassten staatlichen Stellen jede Handlung oder Aussage vermeiden, die den Eindruck erweckt, dass eine Tatschuld des Beschuldigten bereits feststeht, bevor sie gesetzlich nachgewiesen ist. Dass die Unschuldsvermutung nicht nur durch einen Richter oder ein Gericht, sondern auch durch andere staatliche Stellen verletzt werden kann, hat der E G M R im Urteil Allenet de Ribemont unmissverständlich klargestellt. 13 Die Unschuldsvermutung ist auch im Ermittlungsverfahren zu beachten. Aussagen in einer polizeilichen oder staatsanwaltlichen Pressekonferenz im vorprozessualen Stadium des Strafverfahrens müssen sich an Art. 6 Abs. 2 messen lassen. Zwar darf die Unschuldsvermutung vor dem Hintergrund der von Art. 10 geschützten Informationsfreiheit staatliche Stellen nicht davon abhalten, die Öffentlichkeit über Strafverfahren zu informieren. Anderseits muss der Unschuldsvermutung aber dahingehend Rechnung getragen werden, dass über anhängige Strafverfahren nur mit der gebotenen und erforderlichen Vorsicht und Rücksichtnahme berichtet wird („all the discretion and circumspection necessary"). Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 liegt jedenfalls dann vor, wenn die Stellungnahme eines ermittelnden Polizeibeamten in einer Pressekonferenz auf die Feststellung der Schuld des Beschuldigten hinsichtlich einer bestimmten Straftat hinausläuft („declaration of ... guilt"), die dazu führt, dass die Öffentlichkeit die Person, gegen die sich das Strafverfahren richtet, für schuldig hält und die Beurteilung der Tatsachen durch die zuständige gerichtliche Stelle vorwegnimmt („prejudged the assessment of the facts"). Eine solche konventionswidrige Feststellung der Tatschuld liegt vor, wenn eine Person ohne jede Einschränkung und Zurückhaltung als Urheber bzw. Mittäter einer Straftat bezeichnet wird („without any qualification or reservation"). 14 Hier ergeben sich Parallelen zur Problematik der Presseberichterstattung über anhängige Strafprozesse. Aus Anlass eines Tötungsdelikts war eine Voruntersuchung gegen Unbekannt eingeleitet worden, in deren Verlauf mehrere Personen - darunter der Bf. Allenet de Ribemont festgenommen worden waren. Anlässlich einer Pressekonferenz über die im Haushalt für die Polizeiarbeit eingeplanten Finanzmittel nahmen der französische Innenminister (P) sowie die Leiter zweier Pariser Polizeibehörden (D, O) zu den laufenden Ermittlungen Stellung. Über die Pressekonferenz wurde v.on mehreren Fernsehanstalten in den Nachrichtensendungen berichtet. Das Verfahren gegen den Bf. wurde später eingestellt. Obwohl er zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch nicht der Anstiftung und Beihilfe zum Totschlag beschuldigt worden war, sah ihn der EGMR aufgrund der Verhaftung und Inhaftierung bereits als angeklagte Person an. Da Ο und D die Ermittlungen im konkreten Fall führten und ihre - vom Innenminister bestätigten - Angaben parallel zu der wenige Tage zuvor eingeleiteten Voruntersuchung erfolgten, nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 an, da der Bf. als Urheber und Mittäter eines Mordes bezeichnet worden war.
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So bereits: Ulsamer in: FS für Zeidler, S. 1799, 1806ff.; zur Bedeutung des Urteils Allenet de Ribemont: Callewaert EuGRZ 1996, 366, 369. EGMR, Allenet de Ribemont./. Frankreich, Serie A Nr. 308, §§ 11, 38,41.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
101
Aus der Hervorhebung des EGMR, es habe sich bei den an der Pressekonferenz teilnehmenden Polizeibeamten um hochrangige Offiziere gehandelt, darf nicht geschlossen werden, dass für Beamte mit niedrigem Dienstgrad geringere Anforderungen an die Beachtung der Unschuldsvermutung gelten. Eine solche Unterscheidung würde dem Beschuldigtenschutz nicht gerecht und in der Praxis zu kaum auflösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führen. Der Unschuldsvermutung, die auch im deutschen Recht eine hohe Rangstellung besitzt und aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, entnimmt das BVerfG eine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur gemäßigten Berichterstattung über anhängige Strafverfahren.15 Dass die Unschuldsvermutung nicht nur in der Hauptverhandlung vor Gericht, sondern für jede staatliche Äußerung über den Beschuldigten gilt, ist mittlerweile einhellige Auffassung. Die Mitteilung eines bestehenden Tatverdachts wird als zulässig angesehen, solange sie nicht mit einer konkreten Schuldzuweisung verbunden wird.16 Diese Rechtslage erweist sich als konventionskonform, zumal der EGMR Verdachtsklauseln „sogar" nach Beendigung oder Einstellung des Verfahrens toleriert. Die deutschen Gerichte nehmen bei der Beurteilung polizeilicher oder staatsanwaltlicher Presseerklärungen über anhängige Strafverfahren eine Abwägung zwischen der Unschuldsvermutung und dem Persönlichkeitsrecht des Verdächtigen auf der einen Seite und dem Informationsanspruch der Presse auf der anderen Seite vor. Letzterer soll überwiegen, wenn es sich bei dem Tatverdächtigen um eine Person der Zeitgeschichte handelt und es bei der strafrechtlichen Anklage um eine bedeutende bzw. gewichtige (Wirtschafts-) Straftat geht. Die Namensnennung des Beschuldigten wird als zulässig angesehen, wenn das Berichtsgeschehen der Zeitgeschichte zuzuweisen ist.17 Bei der Abwägung zwischen der Presseberichterstattung und der Verfahrensöffentlichkeit hat der EGMR solche Abstufungen und Differenzierungen toleriert. Ob sie auch für die Wahrung der Unschuldsvermutung in staatlichen Presseerklärungen gelten, bleibt abzuwarten, denn während es sich bildlich gesprochen bei der Presseberichterstattung um einen Angriff auf das Strafverfahren „von außen" handelt, stellt die Berichterstattung über strafrechtliche Ermittlungen - insbesondere die Namensnennung einer tatverdächtigen Person - durch Polizei und Staatsanwaltschaft einen „staatsinternen" Eingriff in die Beschuldigtenrechte dar. Weil auch Personen der Zeitgeschichte einen Anspruch auf Schutz gegen eine Vorverurteilung in der Öffentlichkeit haben, wird man gegen ihre Namensnennung nur dann nichts einwenden können, wenn die Unschuldsvermutung durch andere Verfahrenssicherheiten gewahrt ist. Bei einer Namensnennung wird man deshalb fordern müssen, dass auf die Herausstellung des Tatverdachts sehr genau geachtet wird. In Extremfallen kann sogar als Ausprägung einer staatlichen Schutzpflicht die entsprechende Belehrung der Presse geboten sein.
15 16 17
Vgl. hierzu: BVerfGE 19, 342, 347; 71,206; 74,358,369; Krey JA 1983,638,639; Gropp JZ 1991,804 ff. Frowein in: FS für Huber, 553, 555; Geppert Jura 1993, 160, 161. OLG Koblenz, StV 1987, 430; OLG Hamm, NJW 2000, 1278, 1279; siehe hierzu: Marxen GA 1980, 365 ff., Roxin NStZ 1991, 153 ff.
102
III.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Intensität und Umfang strafrechtlicher Ermittlungen
Die mit einem Strafverfahren verbundenen Rechtseingriffe und Beschränkungen der Privatsphäre haben nicht nur für den Beschuldigten, sondern auch für betroffene Dritte eine erheblich belastende Wirkung. Deshalb müssen sich die Bestimmungen einer Konvention zum Schutze der Menschenrechte in erster Linie am Schutz vor willkürlicher staatlicher Repression orientieren. Aus Sicht der Bürger und vor allem des Tatopfers verfolgt die staatliche Strafverfolgung aber auch einen öffentlichen Zweck. Sie dient der Herstellung gesellschaftlichen Friedens und fungiert als Ausgleich für den Gewaltverzicht der Bürger zugunsten eines staatlichen Gewaltmonopols. Zu dieser strafprozessualen Schutzkomponente schweigen die Bestimmungen der Konvention. Die E M R K normiert im wesentlichen Beschuldigtenrechte und Verfahrensgarantien, die vor einem übermäßigen und willkürlichen Handeln staatlicher Strafverfolgungsorgane schützen sollen. Die Intensität eines Strafverfahrens betrachtet die Konvention eher als Gefahr denn als Garantie. Sie enthält keine Anhaltspunkte, mit welchem Mindestumiang strafprozessuale Ermittlungen durchzuführen sind, sondern setzt die Strafverfolgung unter einen Rechtfertigungszwang. Die Normierung eines allgemeinen strafprozessualen Verfolgungs- oder gar Anklagezwawgs als Ausdruck eines das gesamte Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzips (§§ 152 II, 170 I StPO) entspricht sicherlich nicht dem Wesen eines völkerrechtlichen Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dennoch sind gewisse strafprozessuale Schutzpflichten und Verfolgungszwänge nicht per se unvereinbar mit der E M R K und ihren Zusatzprotokollen. So verlangt der E G M R beispielsweise eine effektive und gründliche staatliche Untersuchung, wenn es - auch und gerade außerhalb einer Strafverfolgung - zu schwerwiegenden, nicht notwendigerweise staatlichen „Eingriffen" in von der Konvention geschützte Individualrechte kommt. Die sich nun anschließende Darstellung wird zeigen, dass sich Art und Umfang der von der Konvention erlaubten bzw. geforderten Strafverfolgung nicht nur über die speziellen Eingriffs- und Befugnisklauseln (Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2), sondern auch über den Konventionsbestimmungen immanente Schutzpflichten definieren.
1.
Verhältnismäßigkeit des Einsatzes von Gewalt
Im Schutz des Lebens sieht der E G M R einen fundamentalen Wert der Konvention („one of the basic values"). Dies impliziert eine strenge Auslegung der in Art. 2 vorgesehenen Beschränkungen, die nicht nur bei vorsätzlichen Tötungshandlungen, sondern auch gelten, wenn es beim Einsatz von Gewalt zu einem unbeabsichtigten Verlust von Menschenleben kommt. Der E G M R verlangt eine eingehende und strenge Überprüfung der Notwendigkeit von Tötungen, die infolge einer Gewaltanwendung zu einem der von Art. 2 Abs. 2 erlaubten Zwecke eintreten („stricter and more compelling test of necessity"). Zugleich nimmt er bei der Überprüfung gewaltsamer Tötungen eine intensivere Kontrolldichte für sich in Anspruch („most careful scrutiny"). Jede staatliche Gewalt-
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
103
anwendung muss zu dem mit ihr verfolgten und von der Konvention erlaubten Zweck verhältnismäßig sein. Wo staatliche Organe planmäßig tödliche Gewalt einsetzen („deliberate lethal force"), kommt es nicht nur auf die Gewaltanwendung als solche, sondern auf die gesamten Begleitumstände sowie auf die Planung und Kontrolle einer solchen Aktion an. Der EGMR geht noch weiter und leitet aus Art. 2 iVm Art. 1 eine konkrete staatliche Schutzpflicht ab. Die Konvention verbietet staatlichen Stellen daher nicht nur die vorsätzliche und unrechtmäßige Tötung eines Menschen, sondern verpflichtet alle staatlichen Stellen, die an einer Strafverfolgung beteiligt sind, angemessene Maßnahmen zum Schutz von Menschenleben zu ergreifen („take appropriate steps to safeguard the lives of those within its jurisdiction").18 Weil auch die unbeabsichtigte Tötung eines Menschen durch ein staatliches Handeln an Art. 2 zu messen ist, müssen die Strafverfolgungsbehörden Maßnahmen ergreifen, die verhindern, dass Menschenleben einer vermeidbaren Gefahr ausgesetzt werden.19 Ihre Verantwortlichkeit ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen eine Person bei einem SchusswafTeneinsatz ums Leben kommt, sondern auch dann berührt, wenn bei der Wahl der Mittel und Methoden eines Festnahme- oder Befreiungseinsatzes nicht alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen werden, um das Risiko eines Verlustes an Menschenleben zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren („all feasible precautions in the choice of means and methods of a security operation"). Dabei sind nicht nur die vom staatlichen Schusswaffeneinsatz ausgehenden Gefahren für unbeteiligte Dritte, sondern sämtliche mit dem Einsatz verbundenen Risiken zu berücksichtigen, also auch die Gefahren, die von Personen ausgehen, gegen die sich der Einsatz richtet.20 Im Urteil Andronicou u. Constantinou hat der EGMR klargestellt, dass polizeiliche Befreiungsaktionen zur Beendigung einer Geiselnahme mit einer dem Schutz des Lebens angemessenen Sorgfalt geplant und durchgeführt werden müssen, um die Risiken für das Leben der Geisel und des Geiselnehmers zu minimieren („appropriate care"). Bei der Wahl der Mittel, Einsatzkräfte und der einzusetzenden Waffen darf den Behörden keinerlei Nachlässigkeit vorzuwerfen sein. Etwaige Risiken für das Leben der von der Aktion betroffenen Personen müssen bereits bei der Planung und Koordinierung der Befreiungsaktion berücksichtigt und in ausreichendem Maße in Rechnung gestellt werden.21 Bemerkenswert ist
18
19
20
21
EGMR, McCann u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, §§ 147-150; Andronicou u. Constantinou ./. Zypern, Reports 1997-VI, § 171; Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 79; Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 78; vgl. zur Entwicklung der staatlichen Schutzpflicht in der Spruchpraxis der EKMR: Frowein/Peukert Art. 2 Rn. 7. EGMR, L.C.B. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-III, § 36 („all that could have been required of it to prevent the applicant's life from being avoidably put at risk"). EGMR, Ergi ./. Türkei, Reports 1998-IV, § 79; Ogur ./. Türkei, Reports 1999-V, §§ 79-84 (Berücksichtigung der äußeren Umstände bei der Schussabgabe: Dunkelheit, Nebel, Aufenthalt von Menschen); zu eng hinsichtlich der Sorgfaltsanforderungen bei positivem staatlichen Handeln: Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, Art. 2 MRK/Art. 6 IPBPR Rn. 7; zum Gebrauch der Schusswaffe bei der Befreiung von Geiseln: Krey/Meyer ZRP 1973, 1, 3ff. Vgl. EGMR, Andronicou u. Constantinou ./. Zypern, Reports 1997-1, § 181; eine eigene Bewertung der alternativen Befreiungsversuche hat der EGMR jedoch abgelehnt.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
allerdings, dass weder die Konvention noch der EGMR eine gesetzliche Grundlage für den staatlichen Einsatz von Schusswaffen verlangen. 22 Sowohl der negative als auch der positive-Schutzgehalt des Art. 2 setzen dem polizeilichen Schusswaffeneinsatz enge Grenzen. Andererseits ist der Einsatz staatlicher Gewalt für einen in Art. 2 Abs. 2 genannten Zweck schon dann gerechtfertigt, wenn seine Erforderlichkeit auf einer redlichen ex-ante Prognose der Einsatzkräfte beruht, selbst wenn sich diese später als fehlerhaft herausstellt („honest belief which is perceived, for good reasons, to be valid at the time"). Den Einsatzkräften scheint der EGMR bei der Entscheidung über die Notwendigkeit eines Einsatzes möglicherweise tödlicher Gewalt eine durch die Augenblickssituation bedingte Einschätzungsprärogative zuzubilligen. Darauf deuten jedenfalls Formulierungen hin wie „the Court cannot with detached reflection substitute its own assessment of the situation for that of the officers who were required to react in the heat of the moment", „unique and unprecedented operation" und „the officers were entitled to open fire for this purpose and to take all measures which they honestly and reasonably believed were necessary to eliminate any risk either to the young woman's life or to their own lives". Dieses Zugeständnis trägt den Erfordernissen der Praxis in einer mit dem Lebensschutz des Art. 2 vertretbaren Weise Rechnung. An die dem konkreten Einsatz vorgelagerte Planung einer Befreiungsaktion müssen allerdings strengere Maßstäbe angelegt werden. Andronicou (A) hatte die Constantinou (C) bedroht und sich mit ihr in der gemeinsamen Wohnung verschanzt. Bei einem Befreiungsversuch durch eine Spezialeinheit der Polizei waren beide getötet worden. Der EGMR prüfte sowohl die Planung und Kontrolle der Polizeiaktion als auch den konkreten Gewalteinsatz und hob hervor, dass der Augenblicksituation eines solchen Polizeieinsatzes angemessen Rechnung getragen werden müsse. Er beschränkte sich auf die Prüfung, ob die konkrete Befreiungsaktion mit der von Art. 2 geforderten Sorgfalt durchgeführt worden war. Trotz gewisser Mängel (z.B. die unterbliebene Einrichtung einer speziellen Telefonverbindung mit Α beanstandete der EGMR die Verhandlungen zwischen Α und Polizei nicht. Aufgrund der Unnachgiebigkeit des A, seines drohenden Tons und der Hilfeschreie der C sei die Polizei berechtigterweise von einem Scheitern der Verhandlungen ausgegangen. Ausdrücklich billigte der EGMR den Einsatz einer professionell trainierten Polizeieinheit als letzten Ausweg („at a last resort"). Gleiches galt für den Einsatz von Maschinenpistolen, weil die Einsatzkräfte nur schießen sollten, wenn ihr oder das Leben der C in Gefahr war. Da der Einsatz von Waffen niemals beabsichtigt war, jede Schädigung von Α und C verhindert werden sollte und nicht auszuschließen war, dass der Α über weitere Schusswaffen verfügte, entsprach sowohl die Planung als auch die Organisation der Befreiungsaktion den Schutzpflichten des Art. 2, so dass die Tötung von Α und C die Folge einer unbedingt notwendigen Gewaltanwendung iSv Art. 2 Abs. 2(a) war.
22
Zum Gesetzesvorbehalt für den polizeilichen Schusswaffeneinsatz: Krey ZRP 1971, 224, 225.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
2.
105
Durchführung einer effektiven und gründlichen offiziellen Untersuchung gewaltsamer Tötungen
Zur Gewährleistung eines effektiven Lebensschutzes müssen die Vertragsstaaten ein Verfahren vorsehen („procedural requirement"), mit dessen Hilfe die Rechtmäßigkeit des Einsatzes tödlicher Gewalt ex-post unabhängig und öffentlich überprüft werden kann („independent and public scrutiny").23 Bereits aus der Formulierung „use of force by, inter alios, agents of the State" ist ersichtlich, dass eine offizielle Untersuchung gewaltsamer Tötungen nicht nur in den Fällen erforderlich ist, in denen die Tötung mutmaßlich auf ein Handeln staatlicher Stellen zurückzuführen ist. Letzte Zweifel haben die Urteile Ergi und Yasa beseitigt. Die Untersuchung obliegt den Vertragsstaaten von Amts wegen. Es kommt nicht darauf an, ob Angehörige die Tötung förmlich anzeigen oder explizit ihre Aufklärung verlangen. Allein die Kenntniserlangung von der Tötung eines Menschen („mere knowledge") macht die Einleitung einer effektiven Untersuchung der Begleitumstände erforderlich. Das gilt nicht nur bei einer vollendeten, sondern auch bei der versuchten Tötung, jedenfalls wenn sie zu schwerwiegenden körperlichen Verletzungen geführt hat.24 An die Art der von Art. 2 geforderten Untersuchungen stellt der Gerichtshof sowohl formelle als auch materielle Anforderungen. Sie muss offiziell („official"), unabhängig („independent"), angemessen sowie effektiv sein („adequate and effective/thorough") und sich auf die Umstände erstrecken, die zum Tod der betroffenen Person geführt haben („circumstances surrounding the death"). Hinsichtlich der Tatverdächtigen muss sie offen gehalten und in alle Richtungen geführt werden. Ohne besondere Anhaltspunkte dürfen sich bestimmte Ermittlungen nicht von Anfang an auf eine bestimmte Tätergruppe konzentrieren. Umgekehrt dürfen Personen nicht ohne besonderen Grund von vornherein als mögliche Täter ausgeschlossen werden („excluded from the outset"). Bestehen Anzeichen für eine Beteiligung staatlicher Stellen an der Tötung, muss sich die Untersuchung auch und gerade auf sie erstrecken.25 Art. 2 verlangt damit nicht zwingend die Einleitung eines Sira/verfahrens im klassischen Sinne. Erforderlich ist aber eine offizielle, d.h. dem Staat zurechenbare Untersuchung. Ausschließlich von Privatpersonen oder nichtstaatlichen Institutionen durchgeführte Ermittlungen - hier ist vor allem an Menschenrechtsorganisationen zu denken - können einen Vertragsstaat nicht von seiner Untersuchungspflicht entlasten, selbst wenn dieser sich die gewonnenen Ergebnisse zu eigen macht. Als für die Untersuchung geeignete Stellen kommen
23
24
25
EGMR, Gülec ./. Türkei, Reports 1998-IV, § 78; Kaya ./. Türkei, Reports 1998-1, § 87; siehe auch. EGMR, Cakici./. Türkei, Reports 1999-IV, §§ 85-87 (vermuteter Tod nach Festnahme und Inhaftierung). EGMR, Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 82; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 100; Tanrikulu ./. Türkei, Urteil v. 8.7.1999, § 103. EGMR, McCann u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, § 161; Kaya ./. Türkei, Reports 1998-1, § 86; Gülec ./. Türkei, Reports 1998-IV, § 78; Ergi ./. Türkei, Reports 1998-IV, §§ 82, 85-86; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, §§ 98, 105; Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 89-90.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Militäreinrichtungen, Parlamente - hier namentlich Untersuchungsausschüsse - oder Gemeinderäte in Betracht, sofern sie die erforderliche Unabhängigkeit besitzen. Die Forderung nach einer „independent and public scrutiny" verlangt auch die Gewährleistung eines gewissen Zugangs der Öffentlichkeit zu der Untersuchung. Form und Umfang dieser Öffentlichkeit hat der EGMR bisher nicht genau konkretisiert. Anhaltspunkte ergeben sich aus Art. 13, weil eine wirksame Beschwerde bei einem plausibel behaupteten Verstoß gegen Art. 2 ebenfalls die Einleitung einer „thorough and effective investigation" erfordert, die zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Personen führt und den Angehörigen einen effektiven Zugang ermöglicht („effective access for the relatives/complainant to the investigatory procedure")·26 Zumindest den Angehörigen der getöteten Person - bzw. bei einem versuchten Tötungsdelikt dem Tatopfer selbst - muss also ein effektiver Zugang zur Untersuchung gewährt werden. Ein Zugang zum UntersuchungsergeÄMW genügt angesichts der Wortwahl „investigatory procedure" nicht. Im Urteil Ogur hat der EGMR u.a. bemängelt, dass die nahen Angehörigen keinen Zugang zur Verfahrensakte erhalten hatten.27 Das dürfte der erste Schritt in Richtung eines Aktenzugangsrechts und konkreter Beteiligungsrechte für das Opfer einer Straftat sein, wie es die §§ 406d ff. StPO vorsehen. Es bleibt der Inhalt und Umfang der von Art. 2 geforderten Untersuchung zu klären. Nicht effektiv ist eine Untersuchung, wenn wichtige Zeugen nicht vernommen werden oder eine Rekonstruktion der Geschehnisse unterbleibt, die Aufschluss über den Tod geben könnten.28 Geht die Tötung auf einen Polizeieinsatz zurück, muss sich die Untersuchung auch auf die Planung des Einsatzes und die Ermittlung der Örtlichkeiten erstrecken.29 Die Effektivität einer Untersuchung ist daran zu messen, ob nach Ablauf einer gewissen Zeit konkrete und glaubhafte Fortschritte bei der Aufklärung der Tötung erkennbar sind.30 Bei tödlichen Schussverletzungen ist neben der Einholung eines ballistischen Gutachtens eine Obduktion der Leiche erforderlich, wenn sich auf diese Weise Anhaltspunkte auf den Standort des Schützen und die genaue Todesursache ergeben können. Der EGMR verlangt eine vollständige Autopsie, an der forensische Spezialisten
26 27
28
29
30
EGMR, Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 98. EGMR, Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 92 („the case file was inaccessible to the victim's close relatives"). EGMR, Gülec ./. Türkei, Reports 1998-IV, § 79 („a reconstruction of the events would have made it possible to determine the trajectory of the bullet fragment and the position of the weapon that had fired it. Similarly a metallurgical analysis of the fragment would have made it possible to identify its maker and supplier, and consequently the type of weapon used. Furthermore, no one seems to have taken any interest in the source of the bullet which passed through Ahmet Güleij's body, following a downward trajectory, which is perfectly consistent with fire having been opened from the Condor's turret"); Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 90. EGMR, Ergi ./. Türkei, Reports 1998-IV, §§ 84-85 („whether the security forces had conducted the operation in a proper manner", „inquiry was conducted into whether the plan and its implementation had been inadequate in the circumstances of the case"). EGMR, Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 107 („concrete and credible progress").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
107
teilnehmen müssen. 31 Für die Untersuchung gelten gewisse Dokumentationspflichten. Die einzelnen Untersuchungsvorgänge müssen angemessen und genau dokumentiert werden. Der Abschlussbericht der Untersuchung darf keine unpräzisen Informationen enthalten, die durch die festgestellten Tatsachen nicht gestützt werden. 32 Selbst bürgerkriegsähnliche Zustände erlauben keine Einschränkung dieser Grundsätze. So hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Verpflichtung der Türkei zur Untersuchung gewaltsamer Tötungen weder durch die zahlreichen gewalttätigen Übergriffe der PKK noch durch eine Häufung von Todesfällen in einer bestimmten Region entfallen war. Auch die durch terroristische Anschläge erschwerte Suche nach schlüssigen Beweisen macht entsprechende Untersuchungen nicht entbehrlich, weil sich die Instabilität in einer Region noch verschlimmern kann, wenn bei der Bevölkerung der Eindruck entsteht, dass gewaltsame Tötungen nicht aufgeklärt werden.33 Das Fehlen einer effektiven Untersuchung gewaltsamer Tötungen führt regelmäßig auch zu einem Verstoß gegen Art. 13.34 Dogmatisch gesehen ist das allerdings nicht zwingend. Bei der vertretbaren Behauptung einer Verletzung des Art. 2 („grievances ... which are arguable") im Rahmen des Art. 13 kann es nämlich nur auf die Tötung selbst, nicht aber auf die Mangelhaftigkeit der Untersuchung ankommen, denn deren Unterbleiben oder Mangelhaftigkeit trotz einer vertretbar behaupteten Tötung ist die Voraussetzung für den Verstoß gegen Art. 13, kann also nicht zugleich Tatbestandsmerkmal sein. Weil der Konvention eine unmittelbare Drittwirkung fremd ist, wird man einen Vertragsstaat nur dann für eine Tötung verantwortlich machen können, wenn seine Organe oder eine dem Staat zurechenbare Person die Tötung selbst verursacht haben oder der Staat die Tötungshandlung einer Privatperson pflichtwidrig nicht verhindert hat. 35 Der von Art. 13 geforderte „arguable complaint" hinsichtlich Art. 2 dürfte deshalb nur angenommen werden, wenn „strong inferences" oder „significant evidence" dafür vorliegen, dass die betreffende Person durch ein aktives Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen staatlicher Stellen ums Leben gekommen ist. Diesen Schluss zieht der E G M R aber nicht. Er
31
E G M R , Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 89 („proper post-mortem examination"); Tanrikulu ./. Türkei, Urteil v. 8.7.1999, § 106 („regrettable that no forensic specialist was involved and that no full autopsy was performed"). 32 E G M R , Tanrikulu ./. Türkei, Urteil v. 8.7.1999, §§ 104-105 („investigation was characterised by inadequate and imprecise reporting of the steps that were taken"). Der E G M R bemängelte, dass sich im Untersuchungsbericht keinerlei Fotos vom Fundort des Toten befanden und eine polizeiliche Skizze unpräzise und undetailliert war; E G M R , Ogur ./. Türkei, Reports 1999-III, § 89 („infomation ... very imprecise ... findings mostly unsupported by any established facts"). 33 E G M R , Gülec./. Türkei, Reports 1998-IV, § 81; Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 85; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 104; Tanrikulu ./. Türkei, Urteil v. 8.7.1999, § 110. 34 Vgl. zum Schutzbereich des Art. 13: E G M R , Boyle u. Rice./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 131, § 52; Aksoy./. Türkei, Reports 1996-VI, § 95; Aydin./. Türkei, Reports 1997-VI, § 103; Mentes./. Türkei, Reports 1997-VIII, § 89; Kaya ./. Türkei, Reports 1998-1, § 106; Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 96; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 112. 35 Vgl. zur Problematik und den Anforderungen an ein pflichtwidriges Unterlassen bei Tötungen: E G M R , Osman ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VIII.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
nimmt einen „arguable complaint" auch bei der plausiblen Behauptung einer nichtstaatlichen Tötung an.36 Art. 13 verlangt - neben der Gewährung einer finanziellen Entschädigung - auch die Durchführung einer „ thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible", zu der die Angehörigen der getöteten Person - bzw. im Falle einer versuchten Tötung das Tatopfer („complainant") - einen effektiven Zugang erhalten. Die von Art. 2 und 13 geforderte Beteiligung von Angehörigen bzw. des Tatopfers an der Aufklärung gewaltsamer Tötungen ist ein wichtiges Einfallstor für eine Harmonisierung der nationalen Vorschriften zum Opferschutz. Einen derartigen verfahrensrechtlichen Schutz für das Opfer einer Straftat bzw. seine Angehörigen hat der EGMR bei den Rechtsgütern Leben (Art. 2), körperliche Integrität (Art. 3), Privat- und Familienleben (Art. 8) und Eigentum (Art. 1 des 1. ZP) angenommen, in letzteren beiden Fällen allerdings nur bei wirklich gravierenden Eingriffen, z.B. beim gezielten Niederbrennen von Häusern oder Wohnungen durch staatliche Einsatzkräfte.37
3.
Pflicht zur Verhinderung von Straftaten
Ein weiteres Element der positiven staatlichen Pflicht zum Schutz des Lebens aus Art. 2 ist das Gebot der Verhinderung von Straftaten gegen das Leben. Die Vertragsstaaten müssen das Leben der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen durch effektive, abschreckende strafrechtliche Bestimmungen schützen und ein System zur Vorbeugung, Vermeidung und Sanktionierung von Verstößen gegen diese Bestimmungen vorsehen („effective criminal-law provisions"). Die vom EGMR aus Art. 2 abgeleitete Schutzpflicht geht über die repressive Ahndungspflicht hinaus. Unter ganz bestimmten Umständen („certain well-defined circumstances") besteht für die Vertragsstaaten eine über diese „primary duty" hinausgehende Pflicht, präventive Maßnahmen zum Schutz einer Person zu ergreifen, deren Leben durch ein strafrechtlich relevantes Verhalten einer anderen Person bedroht ist („positive obligation ... to take preventive operational measures").38 Allerdings darf diese Pflicht zum Schutz des Lebens nicht zu einer für die staatlichen Stellen unerfüllbaren oder unverhältnismäßigen Belastung werden („impossible or disproportionate burden"). Strafverfolgungsbehörden besitzen deshalb einen Ent36 37
38
E G M R , Tanrikulu ./. Türkei, Urteil v. 8.7.1999, §§117-119 („was the victim of an unlawful killing"). E G M R , Mentes u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VIII, § 89 („Accordingly, where an individual has an arguable claim that his or her home and possessions have been purposely destroyed by agents of the State, the notion of an "effective remedy" entails, in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible and including effective access for the complainant to the investigative procedure"); Selguk u. Asker./. Türkei, Reports 1998-11, § 96; Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, § 79 (Misshandlung in Polizeihaft). Vgl. zu den in den 80er Jahren in der Literatur diskutierten Ansätzen einer staatlichen Schutzpflicht bzw. „indirect Drittwirkung" der Konventionsbestimmungen: Mosler in: Gedächtnisschrift für van Panhuys, S. 149, 166.
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scheidungsspielraum, der es ihnen gestattet, bei der Verteilung ihrer Ressourcen und im Rahmen der Verbrechensbekämpfung Prioritäten zu setzen („operational choices"). Andererseits nimmt der EGMR einen Verstoß gegen Art. 2 nicht erst bei einer grob fahrlässigen oder willkürlichen Fehleinschätzung der für das Leben einer Person bestehenden Gefahr an. Bei der konkreten Ausgestaltung der Präventionspflicht kommen die übrigen Konventionsgarantien ins Spiel. Die Strafverfolgungsbehörden müssen bei ihrer Tätigkeit nicht nur die Rechte und Freiheiten einer mutmaßlich bedrohten Person, sondern auch die Rechte von Personen beachten, gegen die sich ein entsprechender Verdacht richtet. Zu diesen Rechten gehört neben der Freiheit (Art. 5) und der Privat- bzw. Familiensphäre (Art. 8) auch die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2). Polizei und Staatsanwaltschaft müssen also nicht auf jede behauptete Gefahr für das Leben einer Person mit einer Durchsuchung, Beschlagnahme, Verhaftung oder gar Zwangseinweisung eines Verdächtigten reagieren. Derartige Ermittlungsmaßnahmen dürfen von einem bestimmten Tatverdacht bzw. von einer Erfolgsprognose abhängig gemacht werden. Zu einem Eingreifen sind die staatlichen Stellen vielmehr erst verpflichtet, wenn ihnen bekannt ist oder sein müsste, dass das strafbare Verhalten eines Dritten eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben einer bestimmten Person bedeutet („real and immediate risk to the life"). Erst dann müssen sie Maßnahmen ergreifen, von denen nach Lage des Einzelfalls vernünftigerweise die Beseitigung der Gefahr erwartet werden kann („measures ... which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk"). 39 Nicht nur aus polizei-präventiver, sondern auch aus strafprozessualer Sicht sind diese Aussagen von allerhöchstem Interesse, weil sie Aufschluss über eine in der Konvention selbst nicht angelegte Eingriffsschwelle für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen geben. Eine graduelle Abstufung nach einem anfanglichen (§ 152 II StPO „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte"), hinreichenden (§ 170 II StPO „genügenden Anlass") oder dringenden Tatverdacht (§112 StPO) ist der E M R K an sich fremd. Einen bestimmten Verdachtsgrad verlangt sie ausdrücklich nur bei Freiheitsentziehungen nach Art. 5 Abs. 1(c) („reasonable suspicion"). Ansonsten lassen sich Verdachtsgrade und Eingriffsschwellen allenfalls über abstrakte Verhältnismäßigkeitsklauseln ableiten (Art. 2 Abs. 2 „unbedingt erforderlich", Art. 8 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig"). Die Herleitung „negativer" Eingriffsschwellen aus staatlichen Schutzpflichten ist jedoch nicht unproblematisch, weil die staatlichen Stellen erst bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen einschreiten müssen, so dass damit nicht zwangsläufig gesagt ist, dass sie nicht auch bei einem geringeren Verdachtsgrad einschreiten dürfen. Aus einem staat39
EGMR, Osman ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VIII, §§ 115-117, 120-122. Ein Lehrer (L) hatte den Vater eines Schülers (S) erschossen und den S verletzt, mit dem er sexuelle Kontakte gehabt haben soll. Dass es zwischen L und dem S Probleme gab, war sowohl der Schule als auch der Polizei bekannt. In der Schule waren Akten verschwunden, die persönliche Daten des S enthielten. Bei seiner Familie war es vor der Tat zu erheblichen Beschädigungen durch Vandalismus gekommen. Auch Drohungen des L gegenüber dem S standen im Raum. Der EGMR konnte indes keinen Zeitpunkt erkennen, von dem an die Polizei davon hätte ausgehen müssen, dass für das Leben der Familie eine reale und unmittelbare Gefahr bestand.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
liehen Handlungsgebot kann nicht zwangsläufig auf eine Befugnis zum Eingriff in die Rechte Dritter geschlossen werden. Trotz dieser Bedenken gilt es diesen vom EGMR eingeschlagenen Weg sorgsam zu verfolgen.
IV.
Vereinbarkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen mit der Konvention
Die nationalen Strafrechtsordnungen sehen meist eine Fülle strafprozessualer Zwangseingriffe vor, die sich nach Art und Intensität erheblich voneinander unterscheiden. Demgegenüber stellt die Konvention nicht die staatliche Befugnis eines Staates zum Eingriff in die Rechte seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen an die Spitze, sondern die Verbürgung der Individualrechte. Dieser Befund kann indes nicht überraschen. Während die nationalen Strafprozessordnungen tendenziell staatsbezogen sind und den Beschuldigtenschutz über tatbestandlich formulierte staatliche Eingriffsbefugnisse definieren, dient die Konvention dem Schutz der von einem solchen Eingriff betroffenen Personen.40 Folgerichtig weist der erste Abschnitt der Konvention auf einen Katalog von Rechten und Freiheiten hin. Mit diesem Katalog verfolgt die EMRK nicht die Perspektive eines Strafverfolgers. Sie betrachtet das Strafverfahren aus der Sicht der angeklagten Person (Art. 6) und normiert Schranken staatlicher Eingriffsbefugnisse. Dass ein europaweit verbindlicher Beschuldigtenschutz nicht von den Besonderheiten einer nationalen Rechtsordnung abhängen darf, liegt auf der Hand. Aus diesem auf die angeklagte Person fokussierten Ansatz und der von nationalen Besonderheiten losgelösten Formulierung und Auslegung der Konventionsbestimmungen schöpfen die EMRK und die sie konkretisierende Straßburger Rechtsprechung ihre Kraft und Dynamik für eine Harmonisierung der nationalen Strafprozessordnungen. Auf welche Maßnahmen eine Strafverfolgungsbehörde zur Aufklärung einer Straftat im Einzelfall zugreifen darf, wird weder durch die Konvention noch durch die Rechtsprechung des EGMR vorgeschrieben. Abstrakte Anhaltspunkte ergeben sich aus den bereits skizzierten Grundsätzen zum Lebensschutz und der von einigen Konventionsgarantien geforderten „thorough and effective investigation". Namentlich bei der Verfolgung terroristischer Straftaten besitzen die staatlichen Stellen einen gewissen Spielraum bei der Entscheidung, welche Maßnahmen zur Aufklärung einer speziellen Straftat zu ergreifen sind.41 Das gilt prinzipiell für jede Art der Strafverfolgung. Strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen müssen sich jedoch an den durch die Konvention gesetzten Schranken messen lassen: den Rechten und Freiheiten der angeklagten und anderer Personen. Auch der Grundsatz, dass die Konvention so auszulegen und anzuwenden ist,
40
41
Vgl. zum Aufbau der Konventionsbestimmungen: Jescheck N J W 1954, 783, 784; dagegen zur Staatsbezogenheit des nationalen Strafrechts: AlbrechtlBraum KritV 1998,460,463. E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 90-91.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
111
dass die von ihr verbürgten Garantien praktisch und effektiv sind („interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective"), setzt Intensität und Umfang der Strafverfolgung Grenzen.42 Der nun folgende Teil der Arbeit ist strafprozessualen Zwangsmaßnahmen gewidmet, mit denen sich der Gerichtshof im untersuchten Zeitraum auseinander zu setzen hatte.
1.
Durchsuchung von Räumlichkeiten
a)
Rechtmäßigkeit
der
Durchsuchung
Die Durchsuchung von Räumlichkeiten berührt in erster Linie die von Art. 8 Abs. 1 gegen willkürliche staatliche Eingriffe geschützten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie den Schutz des Eigentums (Art. 1 des 1. ZP). Zunächst ist zu klären, welche Räumlichkeiten vom Schutzbereich des Art. 8 erfasst werden. Den Begriff der Wohnung legt der Gerichtshof weit aus. Maßgebliches Kriterium ist der Aufenthalt („residence") einer Person. Eine Stätte kann aber auch dann Wohnung einer Person sein, wenn sie für einen längeren Zeitraum nicht deren Aufenthalt dient. Dabei kommt es weniger auf den tatsächlichen Aufenthalt, sondern auf den (dauerhaften) Aufenthalts- bzw. Rückkehrwillen der betreffenden Person an („establish her residence", „lived in it with a view to taking up permanent residence", „intending to return"). Selbst eine mehrjährige Abwesenheit lässt die Wohnungseigenschaft einer Räumlichkeit nicht entfallen, wenn während dieser Zeit eine ausreichende Verbindung zu dieser Räumlichkeit besteht, wofür schon das Zurücklassen von Mobiliar ausreichen kann. Auch eine rechtswidrige Bewohnung oder Errichtung einer Räumlichkeit steht ihrer Charakterisierung als Wohnung nicht entgegen.43 Wohnungen sind jedoch nur bereits existierende, bewohnbare Stätten und Räumlichkeiten. Ein unbebautes Grundstück, auf dem eine Person ein Haus bauen will, ist daher ebenso wenig eine Wohnung iSv Art. 8 wie eine „Gegend", in der eine Person aufgewachsen ist oder aus der ihre Familie stammt, aber nicht mehr lebt.44 Für das Strafverfahrensrecht von besonderem Interesse ist die Frage, in welchem Umfang teilweise oder ausschließlich beruflich genutzte Räumlichkeiten - wie etwa Presseredaktionen, Arztpraxen oder Anwaltskanzleien - unter den Schutzbereich des Art. 8 fallen. Häufig werden von den Strafverfolgungsbehörden gerade dort Dokumente oder Objekte vermutet, die für die Ermittlungen von Bedeutung sein können. Ob in einer Räumlichkeit vertrauliche Angelegenheiten behandelt werden, ist für die Abgrenzung des Schutzbereichs von Art. 8 nicht entscheidend, weil fast alle beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten vertrauliche Angelegenheiten betreffen. Auf die drohenden 42
43
44
E G M R , Soering ./.Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, 87; Loizidou ./. Türkei, Serie A Nr. 310, § 72; McCann u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, § 146. E G M R , Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 109, § 46; Buckley ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-IV, §§ 7-13, 54-55. E G M R , Loizidou ./. Türkei, Reports 1996-VI, §§ 65-66.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Abgrenzungsschwierigkeiten hat der E G M R zu Recht hingewiesen. Auch das Vertrauensverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten ist in dieser Hinsicht kein taugliches Kriterium. 45 Diese Erwägungen dürften für sämtliche Berufsgruppen gelten, in denen ein besonderes Vertrauensverhältnis im Vordergrund steht. Gerade auf dem Gebiet beruflich genutzter Räume ist der E G M R um einen möglichst lückenlosen Schutz durch die Konvention bemüht. Das gelingt ihm vor allem über eine extensive Auslegung des Privatlebens. Ausdrücklich abgelehnt hat er die Beschränkung des Privatlebens auf einen „inneren Kreis", in dem der Einzelne seine persönliche Lebensführung nach Belieben gestalten kann („inner circle"). Weil sich zwischen dem Privatleben im engeren Sinne und den beruflichen bzw. geschäftlichen Tätigkeiten eines Menschen häufig keine klare Trennlinie ziehen lässt, bezieht er berufliche und geschäftliche Tätigkeiten („activities of a professional or business nature") in den Schutz des Art. 8 mit ein. Dabei denkt er insbesondere an die Vertreter freier Berufe, bei denen Berufs- und Privatleben häufig ineinander übergehen. Geschäftsräume und beruflich genutzte Stätten fallen darüber hinaus unter den Schutz der Wohnung. Für den Opferstatus aus Art. 8 wird man aber fordern müssen, dass sich die Räumlichkeiten einer bestimmten Person zuordnen lassen. Der Gerichtshof weist auch hier darauf hin, dass bei der Charakterisierung einer Stätte als Wohnung Ungleichbehandlungen und Schwierigkeiten bei der Suche nach klaren Abgrenzungskriterien entstehen können („precise distinctions"), weil berufs- oder geschäftsbezogene Tätigkeiten auch in der Privatwohnung einer Person betrieben werden können, während andererseits in Geschäftsräumen auch nichtberufliche Tätigkeiten ausgeführt werden können. 46 Vor allem objektive Kriterien sind hier von Bedeutung. So fallen Räumlichkeiten, in die private Post ausgeliefert wird, unter den Schutz des Art. 8. Im Fall Miailhe hatten Mitarbeiter des Zolls die Zentrale mehrerer Wirtschaftsunternehmen durchsucht, die von einem der Bf. geleitet wurden. Dabei waren mehrere tausend Dokumente beschlagnahmt worden. Die durchsuchten Räumlichkeiten dienten zugleich als Konsulat der Philippinen in Bordeaux. Bf. waren der damalige Honorarkonsul der Philippinen, seine Frau und seine Mutter. Obwohl alle drei Bf. nicht in den Räumen wohnten, wurde ihre private Post teilweise auch dorthin ausgeliefert. O b die Räume als Wohnung der Bf. anzusehen waren, ließ der E G M R dahinstehen, da
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EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, § 28 (Durchsuchung einer Anwaltskanzlei). EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie Α Nr. 251-B, §§ 30-32 („activities which are related to a profession or business may well be conducted from a person's private residence and activities which are not so related may well be carried on in an office or commercial premises"). Für eine weite Auslegung des Privatlebens und der Wohnung spricht nach Ansicht des EGMR auch, dass sich die Durchsuchung von Räumlichkeiten nicht selten auf Briefe oder sonstige Materialien erstreckt, die als Korrespondenz angesehen werden können, und Art. 8 das einschränkende Adjektiv „privat" nur beim „Leben", nicht aber bei der „Korrespondenz" enthält („it is sufficient to note that that provision does not use, as it does for the word „life", any adjective to qualify the word „correspondence"); der Auslegung des Art. 8 durch den EGMR zustimmend: Laule EuGRZ 1996, 357, 362; zum Begriff der Wohnung iSv Art. 13 GG im Zusammenhang mit der Durchsuchung gewerblicher und betrieblicher Räume: BVerfGE 32, 54, 68 ff.; gegen die Anwendung von Art. 8 auf Geschäftsräume: EuGH, Slg. 1989, 2859, 2924, Rn. 18 (Hoechst).
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
113
jedenfalls ein Eingriff in das Privatleben und die Korrespondenz der Bf. vorlag. Leider differenzierte der Gerichtshof dann nicht exakt zwischen der Durchsuchung und der Beschlagnahme.47 In zahlreichen Entscheidungen hat der E G M R ganz oder teilweise beruflich genutzte Räume unter den Schutz des Art. 8 gestellt, dabei aber leider nicht immer klargestellt, welche Rechte im Einzelfall betroffen waren. Im Fall Chappel hielt er das Recht auf Achtung des Privatlebens für einschlägig, obwohl die Hausdurchsuchung ausschließlich geschäftliche Tätigkeiten betraf. Ebenso bejahte er im Urteil Huvig einen Eingriff in das Privatleben. Die dort angeordnete Telefonüberwachung bezog sich sowohl auf geschäftliche als auch auf private Anrufe.48 Durchsuchungen von Räumlichkeiten im Zuge eines Strafverfahrens, die nach den oben genannten Kriterien einen Eingriff in die Rechte des Art. 8 bedeuten, müssen den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 genügen. Man wird den Argumenten zur extensiven Auslegung der Begriffe Privatleben und Wohnung im Interesse eines wirksamen und effektiven Schutzes beruflich genutzter Räume zustimmen können. Für die vom E G M R quasi als Kehrseite der Medaille angestellten Erwägungen zu den staatlichen Eingriffsvoraussetzungen kann das jedoch nicht so ohne weiteres gelten. Der Gerichtshof hat sich nämlich auch deshalb für eine extensive Auslegung des Art. 8 entschieden, weil die Vertragsstaaten „retain their entitlement to „ interfere" to the extent permitted by paragraph 2 of Article 8". Diese Aussage ist problematisch, weil sie den Eindruck erweckt, als könnte die Reichweite eines Schutzbereichs über die Eingriffsbefugnisse bestimmt werden. Der E G M R geht sogar noch einen Schritt weiter. Bei beruflich genutzten Räumen billigt er den Behörden auf den ersten Blick sogar weitreichendere Eingriffsbefugnisse zu („that entitlement might well be more far-reaching where professional or business activities or premises were involved than would otherwise be the case"). 49 Zu solchen Überlegungen hat er sich ausgerechnet bei der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei hinreißen lassen. Gerade bei Anwaltskanzleien, Arztpraxen oder Redaktionsräumen handelt es sich aber um „hochsensible" Räumlichkeiten, die der Ausübung anderer Konventionsgarantien dienen. Erwähnt sei hier nur die von Art. 10 geschützte Pressefreiheit oder der Schutz privater Daten - ein gesonderter Aspekt des Privatlebens. Im Regelfall müssen daher die Anforderungen an die Durchsuchung beruflich genutzter Räumlichkeiten - gerade wegen ihrer beruflichen Nutzung - höher eingestuft werden. Dass die Anforderungen an die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs steigen, je mehr von Art. 8 geschützte Rechte betroffen sind, ist im Urteil Niemietz deutlich geworden. Doch zunächst zu der Frage, welchen Eingriffscharakter die Durchsuchung hat. 47 48
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EGMR, Miailhe./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, §§ 7, 28. EGMR, Chappel./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 152-A, §§ 26, 51; Huvig./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, §§ 8, 25; Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, § 29; vgl. auch die Urteile Schönenberger u. Durmaz ./. Schweiz (Serie A Nr. 137, § 23-24) und Campbell ./. Vereinigtes Königreich (Serie A Nr. 233, § 33), in denen der EGMR einen Ausschluss des Art 8 nicht einmal erwogen hat, obwohl sie die berufsmäßige Korrespondenz eines Rechtsanwalts mit einem Gefangenen betrafen. EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie Α Nr. 251-B, § 31.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Die Durchsuchung von Räumlichkeiten, in denen sich eine Person regelmäßig privat oder beruflich - aufhält, stellt einen Eingriff in die von Art. 8 geschützten Rechte auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung dar, unabhängig davon, ob sich das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Inhaber dieser Rechte richtet. Der Eingriffscharakter entfallt nicht dadurch, dass der Wohnungsinhaber den Strafverfolgungsorganen - etwa auf Vorlage eines Durchsuchungsbeschlusses - den Zutritt zu seiner Wohnung gestattet. 50 Für die Annahme eines Verzichts auf die Rechte des Art. 8 ist also kein Raum. Halten sich in den durchsuchten Räumen mehrere Mitglieder einer Familie auf, ist regelmäßig auch ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens anzunehmen. Bereits das Betreten einer Wohnung und das Durchsuchen der Räume bedeutet einen Eingriff in die von Art. 8 geschützten Rechte sämtlicher Familienmitglieder auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens sowie ihrer Wohnung, auch wenn sich die Durchsuchung nicht auf die Einrichtung der Wohnung erstreckt. Gleiches gilt für die Aufforderung, sich zum Zwecke der Festnahme eines Familienangehörigen für kurze Zeit in einen bestimmten Raum zu begeben („confinement for a short time"). 51 Die Bf. Murray (M) war wegen des Verdachts der Beteiligung an einer Sammlung von Geldern für IRA-Waffenkäufe festgenommen worden. Vier Soldaten hatten das Haus aufgesucht, in dem Μ zusammen mit ihrem Ehemann und vier Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Jahren lebte. Die Familienmitglieder wurden geweckt und aufgefordert, sich im Wohnzimmer zu versammeln. Die Soldaten nahmen keinerlei Durchsuchungen der Hauseinrichtung vor, fertigten jedoch schriftliche Notizen zum Inneren des Hauses und protokollierten persönliche Angaben über die Familie. Den Begriff der Familie legt der E G M R autonom und extensiv aus, so dass auch nichteheliche Lebensgemeinschaften unter den Schutz des Familienlebens fallen. 52 Reine Wohngemeinschaften genießen einen derartigen Schutz regelmäßig nicht. Bei ihnen greift aber für jeden individuell bewohnten Raum der Schutz des Privatlebens und der Wohnung. Jedes individuell bewohnte Zimmer stellt für die betreffende Person eine Wohnung dar. Nicht selten werden aber im Zuge eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens wegen der zwischen den Mitgliedern einer solchen Wohngemeinschaft bestehenden engen sozialen Kontakte mehrere oder sämtliche Zimmer einer Gesamtwohnung durchsucht, obwohl sich das Ermittlungsverfahren nur gegen ein Mitglied der Gemeinschaft richtet. Für die übrigen Mitglieder stellt die Durchsuchung ihrer Zimmer einen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung ihrer Wohnung dar. Eine andere Frage ist, ob auch die Person, gegen die sich das Ermittlungsverfahren und damit die Durch50
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Vgl. E G M R , Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, § 10 („allowed officials... into the hall of the flat"). Vgl. einerseits: E G M R , Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, §§ 7, 48; Creraieux ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, §§7-9,31: Eingriff in das Familienleben jeweils verneint; dagegen: E G M R , Murray./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 36-38, 84, 86 („it was not contested that the impugned measures interfered with the applicants' exercise of their right to respect for their private and family life and their home"). Vgl. zum weiten Begriff des Familienlebens etwa: E G M R , Marckx ./. Belgien, Serie A Nr. 31, § 31; Johnston u.a. ./. Irland, Serie A Nr. 112, § 55; Keegan ./. Irland, Serie A Nr. 290, § 44.
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suchung richtet, geltend machen kann, dass die Durchsuchung der von den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaft bewohnten Zimmer für sie einen Eingriff in Art. 8 bedeutet. Diese Frage hat der E G M R im Fall Camenzind ausdrücklich offen gelassen. Der Bf. stand im Verdacht, eine für die Luftfahrt reservierte Funkfrequenz ohne die erforderliche Genehmigung zu nutzen. Der Direktor einer Fernmeldekreisdirektion hatte einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung erlassen, wo der Bf. zusammen mit einigen anderen Personen lebte. Die Durchsuchung erstreckte sich auf sämtliche Räume, von denen der Bf. nur einen bewohnte. Die übrigen fünf Räume hatte er untervermietet. Die Beschwerdebefugnis für die von ihm nicht bewohnten Räume leitete er aus der vertraglichen Bindung mit seinen Mietern ab, die er vor ungerechtfertigten Eingriffen Dritter bewahren müsse. Bedauerlicherweise hat der EGMR diese Frage nicht entschieden, weil jedenfalls hinsichtlich des vom Bf. bewohnten Raums ein Eingriff in seine Wohnung vorlag. Die Durchsuchung von Räumlichkeiten, die unter den Schutz des Art. 8 fallen, entspricht nur dann der Konvention, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck dient und als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden kann. Allgemein verlangt der Ausdruck gesetzlich vorgesehen („in accordance with the law"), dass die Maßnahme eine Grundlage im nationalen Recht hat („some basis in domestic law") und rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht („compatible with the rule of law"). Die gesetzliche Grundlage - hier kommen sowohl das geschriebene als auch das ungeschriebene Recht in Betracht - muss für die von der Maßnahme betroffene Person zugänglich („accessible") und so ausreichend präzise formuliert sein, dass diese - nach angemessener Beratung - in der Lage ist, die mit dem Eingriff verbundenen Folgen vorherzusehen („formulated with sufficient precision to enable them - if need be, with appropriate advice - to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail"). 53 Wegen der von der Konvention geforderten Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1) haben regelmäßig bereits die nationalen Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung entschieden. Deren Ansicht berücksichtigt der E G M R bei der Frage, ob die Durchsuchung eine spezielle gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht hat. 54 Auch eher unbestimmte Rechtsbegriffe stehen der Annahme einer gesetzlichen Regelung nicht entgegen, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung hinreichend konkretisiert sind. So hat der Gerichtshof im Fall McLoed, in dem es um das Betreten einer Privatwohnung durch Polizeibeamte ging, das im common law entwickelte und in Section 17(6) des Police and Criminal Evidence Act 1984 niedergelegte Betretungsrecht der Polizei zur Verhinderung eines „breach of the peace" als gesetzliche Grundlage für den Eingriff in das Privatleben und die Wohnung angesehen, weil das Prinzip des „breach of the peace" von den englischen Gerichten über zwei Jahrhunderte präzisiert worden sei.
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E G M R , Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, § 37; McLoed ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, § 41; siehe auch: Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, § 27. E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 30, 88.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Die qualitativen Anforderungen an die von Art. 8 Abs. 2 geforderte gesetzliche Grundlage hat der EGMR - anders als bei der Telefonüberwachung - bisher nicht näher beschrieben. In den Fällen Crimieux, Funke und Miailhe ließ er es ausdrücklich dahinstehen, ob für die Durchsuchung von Räumlichkeiten und die Beschlagnahme von Schriftstücken eine gerichtlichen Ermächtigung („judicial authorisation in advance") gesetzlich vorgesehen sein muss.55 Bei Durchsuchungen scheint er den Schutz der betroffenen Personen eher auf der dritten Schutzebene - der Notwendigkeit des Eingriffs stärken zu wollen, wohingegen bei der Telefonüberwachung eindeutig die erste Ebene die gesetzliche Regelung - dominiert. Zu beachten ist aber, dass die „adequate and effective safeguards against abuse", die der EGMR bei der Notwendigkeit einer Durchsuchung anspricht, nahezu den Kriterien entsprechen, die im Bereich der Telefonüberwachung für die gesetzliche Regelung erforderlich sind. Der Strafrechtspraktiker wird überrascht feststellen, dass von den in Art. 8 Abs. 2 genannten legitimiten Zwecken keiner so recht auf strafprozessuale Zwangsmaßnahmen passt. Der EGMR stellt hier jedoch keine hohen Anforderungen und akzeptiert die Verhütung von Straftaten als legitimen Zweck für repressive Durchsuchungsmaßnahmen, obwohl der Wortlaut „prevention of crime" eher eine rein präventive Ausrichtung vermuten lässt. Auf ihn können sich die Strafverfolgungsbehörden auch berufen, wenn sie eine Räumlichkeit betreten, um eine Person festzunehmen, für die der nach Art. 5 Abs. 1(c) erforderliche hinreichende Tatverdacht besteht.56 Bei steuerstrafrechtlich veranlassten Durchsuchungen kommt auch das wirtschaftliche Wohldes Landes („economic well-being of the country") als legitimer Zweck in Betracht. Problematisch ist dagegen, dass der EGMR strafprozessuale Zwangsmaßnahmen mit präventivem Einschlag auf den Schutz der Rechte anderer stützt („protection of the rights of others"). Auf diese Weise werden die Konturen präventiver Verbrechensbekämpfung und repressiver Strafverfolgung aufgeweicht. Eine solch extensive Auslegung des Art. 8 Abs. 2 kann auf Dauer dazu führen, dass die Vorschrift zu einer allgemeinen Eingriffsgeneralklausel erodiert. Durchsuchungen und Beschlagnahmen zur Gewinnung physischer Beweise für den Nachweis einer bestimmten Straftat müssen im konkreten Fall notwendig sein. Eine Durchsuchung muss einem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprechen („corresponds to a pressing social need") und zu dem mit ihr verfolgten Zweck verhältnismäßig sein („proportionate to the legitimate aim pursued"). Die Strafverfolgungsbehörden besitzen aber bei der Beurteilung dieser Notwendigkeit einen gewissen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation"), der seinerseits einer „European supervision" unterliegt.57 Die
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EGMR, Miailhe ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, §§ 30-32; Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 51; Cremieux ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, § 34. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 63, 90. EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, §§ 37-38; Miailhe ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, § 36; Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 55; Cremieux ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, § 38; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, §§ 90, 92; Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, §44.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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von ihnen für die Durchsuchung angeführten Gründe müssen relevant und ausreichend sein.58 Wie bei der Überprüfung von Haftentscheidungen stellt sich auch hier die Frage, ob man aus der Formulierung „reasons adduced!given" eine Pflicht zur Begründung von Durchsuchungsmaßnahmen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme ableiten muss oder ob die Gründe eher als Anknüpfungspunkte für die nachträgliche Überprüfung der Maßnahme im Rahmen der besagten „European supervision" zu verstehen sind. Letzteres hätte zur Folge, dass sie noch im Verfahren vor dem Gerichtshof „nachgeschoben" werden könnten. Bisher hat der EGMR zu diesem Problem nicht eindeutig Stellung genommen, so dass man nicht ohne weiteres von einer „materiellen" Begründungspflicht ausgehen kann. Gleiches gilt für die Formulierung, dass die Notwendigkeit des Eingriffs im konkreten Fall überzeugend dargelegt sein muss („need for them in a given case must be convincingly established").59 Auch hier ist der Zeitpunkt, zu dem diese Darlegung geschehen muss, nicht eindeutig erkennbar. Sowohl die den Strafverfolgungsbehörden von der gesetzlichen Grundlage eingeräumten Befugnisse als auch die Ausführung der konkreten Durchsuchung müssen notwendig sein.60 Dabei sind im Rahmen einer Gesamtschau die Besonderheiten des Einzelfalls, der Zweck der Durchsuchung („purpose of the search"), die gesetzlich vorgesehenen Sicherheiten („safeguards provided by ... law") und die Art und Weise ihrer Durchführung („manner in which the search was conducted") zu berücksichtigen.61 Im Fall Funke hat der E G M R angeführt, dass gegen den Bf. zu keinem Zeitpunkt eine Anzeige gestellt oder ihm ein Verstoß gegen die Regeln über die Finanzgeschäfte mit dem Ausland vorgeworfen worden war. Diese ex-post-Betrachtung ist für die Strafverfolgungsbehörden wenig hilfreich, da sie eine Notwendigkeit der Durchsuchung unabhängig von ihrem Erfolg bzw. dem Ausgang der späteren Strafverfolgung bewerten müssen.
(1) Angemessene und effektive Sicherheiten („adequate and effective safeguards") Für die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung kommt es vor allem darauf an, dass für die von ihr betroffenen Personen sowohl in den einschlägigen Gesetzen als auch in der Praxis ausreichende und effektive Sicherheiten gegen einen Missbrauch vorhanden sind („relevant legislation and practice afford individuals adequate and effective safeguards against abuse"). Wie bei Telefonüberwachungen stellt sich auch hier die Frage nach der Erforderlichkeit eines Richtervorbehalts. Ungeachtet des den Vertragsstaaten zustehenden Beurteilungsspielraums hält der EGMR besondere Aufmerksamkeit für geboten, wenn Durchsuchungen ohne eine richterliche Anordnung durchgeführt werden 58
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EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, § 37 („reasons given ... can be regarded as relevant in terms of the legitimate aims pursued"); Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, § 45 („whether the reasons adduced to justify such measures were relevant and sufficient and whether the aforementioned proportionality principle has been adhered to"). EGMR, Klaas u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 42; Miailhe ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, § 36; Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 55; Cremieux ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, § 38. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 92. EGMR, Miailhe./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, § 37; Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 55; Cremieux./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, § 39; Camenzind ./. Schweiz, Reports 1998-VIII, §§ 45-46.
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können. Zum Schutz gegen Willkür müssen solche Befugnisse einem rechtlichen Rahmen und strengen Beschränkungen unterliegen („legal framework and very strict limits on such powers").62 Von „adequate safeguards" kann keine Rede sein, wenn das nationale Recht eine Durchsuchung und die anschließende Beschlagnahme ohne eine gerichtliche Ermächtigung gestattet und die zuständigen Behörden weitreichende Befugnisse besitzen, wie etwa die ausschließliche Kompetenz, die Zügigkeit, Anzahl, Dauer sowie das Maß der Untersuchungen zu bestimmen („very wide powers; in particular, ... exclusive competence to assess the expediency, number, length and scale of inspections").63 Das spricht jedoch nicht zwingend für die generelle Erforderlichkeit eines Richtervorbehalts. Das Urteil Camenzind hat gezeigt, dass die Durchsuchung einer Wohnung auch ohne eine vorherige richterliche Ermächtigung oder nachträgliche richterliche Kontrolle den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 entspricht, wenn sich die übrigen gesetzlichen Schutzvorkehrungen als relevant und ausreichend erweisen und der Umfang der Durchsuchung beschränkt ist.64 Ob die gegen Missbrauch vorhandenen Sicherheiten ausreichend sind und in ihrer Summe einen fehlenden Richtervorbehalt kompensieren können, ist im Rahmen einer Gesamtschau zu beurteilen. So hat der EGMR im Fall Niemietz die Anwesenheit eines
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E G M R , Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, § 45 („notwithstanding the margin of appreciation ... it must be particularly vigilant where ... the authorities are empowered under national law to order and effect searches without a judicial warrant"). E G M R , Miailhe./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, § 37; Funke./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, § 55; Cremieux ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-B, § 40. Da für die Durchsuchungen der französischen Zollbehörden keine gerichtliche Ermächtigung erforderlich war, erschienen dem E G M R die vorhandenen Sicherheiten als zu lasch, voller Schlupflöcher und unangemessen („too lax and full of loopholes"). Dabei unterschied er nicht zwischen der Durchsuchung und der Beschlagnahme, sondern ging von einem einheitlichen, unzulässigen Eingriff in die Rechte des Art. 8 aus. E G M R , Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, §§ 46-47 („having regard to the safeguards provided by ... legislation and especially to the limited scope of the search ..."). Als derartige Sicherheiten hat der E G M R folgende Aspekte bezeichnet: „a search may, subject to exceptions, only be effected under a written warrant issued by a limited number of designated senior public servants and carried out by officials specially trained for the purpose; they each have an obligation to stand down if circumstances exist which could affect their impartiality. Searches can only be carried out in „dwellings and other premises ... if it is likely that a suspect is in hiding there or if objects or valuables liable to seizure or evidence of the commission of an offence are to be found there"; they cannot be conducted on Sundays, public holidays or at night „except in important cases or where there is imminent danger". At the beginning of a search the investigating official must produce evidence of identity and inform the occupier of the premises of the purpose of the search. That person or, if he is absent, a relative or a member of the household must be asked to attend. In principle, there will also be a public officer present to ensure that „[the search] does not deviate from its purpose". A record of the search is drawn up immediately in the presence of the persons who attended; if they so request, they must be provided with a copy of the search warrant and of the record. Furthermore, searches for documents are subject to special restrictions. In addition, suspects are entitled, whatever the circumstances, to representation; anyone affected by an „investigative measure" who has „an interest worthy of protection in having the measure ... quashed or varied" may complain to the Indictment Division of the Federal Court. Lastly, a „suspect" who is found to have no case to answer may seek compensation for the losses he has sustained."
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„independent observer" während der Durchsuchung als besondere Verfahrensgarantie angesehen. Wichtig für die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung ist ihre gegenständliche Beschränkung. Beruht die Durchsuchung auf einem (richterlichen) Durchsuchungsbeschluss, so hat die von Art. 8 Abs. 2 geforderte Beschränkung bereits aus dem Beschluss hervorzugehen. Insbesondere ihr Ziel und Zweck müssen dort inhaltlich klar und eindeutig beschrieben werden. D a s dürfte nicht nur bei der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei gelten, sondern eine verallgemeinerungsfähige Aussage sein. 65 Allerdings hat der E G M R im Urteil Niemietz erwähnt, dass für die dort durchgeführte Durchsuchung keine speziellen Verfahrensgarantien vorhanden waren. D a s deutet zumindest an, dass ein weit und unbestimmt gefasster Durchsuchungsbeschluss durch andere „special procedural safeguards" kompensiert werden kann. Diese waren nur im konkreten Fall offensichtlich nicht vorhanden. Der E G M R hätte gut daran getan, etwaige kompensationsfähige Sicherheiten zu benennen, um hier nicht Spekulationen Tür und Tor zu öffnen. Die Kanzlei des Rechtsanwaltes Niemietz war von Polizeibeamten und Staatsanwälten durchsucht worden. Der Bf. war über mehrere Jahre Vorsitzender einer im Stadtrat vertretenen Bunten Liste (BL) gewesen. Ein Teil der Post für die „Bunte Liste" war bei der Bürogemeinschaft des Bf. eingegangen. Ein Amtsrichter (R) hatte ein von „Klaus Wegner" im Namen der BL unterschriebenes Telefax erhalten. In dem betreffenden Arbeitskreis hatte der Bf. eine besondere Rolle gespielt, ihm aber niemals als Mitglied angehört. Als Absender war auf dem Fax lediglich die Postfachadresse der BL angegeben. Das Schreiben, in dem R Befangenheit und Amtsmissbrauch vorgeworfen wurde, bezog sich auf ein anhängiges Strafverfahren. Es schloss mit der Drohung, das Vorgehen des R unter Ausnutzung sämtlicher internationaler Kontakte an die Öffentlichkeit zu bringen. R wurde aufgefordert, den Beschuldigten freizusprechen. In dem gegen „Klaus Wegner" eingeleiteten Strafverfahren erließ das AG München einen Durchsuchungsbeschluss, mit dem Zweck, die Identität von „Klaus Wegner" festzustellen. Der Beschluss ordnete ohne nähere Bezeichnung oder Begrenzung die Durchsuchung der Kanzlei des Bf. und seines Kollegen sowie der Wohnungen zweier weiterer Personen und die Beschlagnahme von „Schriftstücken" an, welche die Identität von K.W. enthüllten. 66 Die 1 Stunden dauernde Durchsuchung der Kanzlei fand in
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EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, § 37 („the warrant was drawn in broad terms ...without any limitation ...; this point is of special significance where, as in Germany, the search of a lawyer's office is not accompanied by any special procedural safeguards"). Der Beschluss war wie folgt begründet: „... Reasons On 9 December 1985 a letter insulting Judge Miosga of the Freising District Court was sent by telefax from the Freiburg post office. It was sent by the Anti-clerical Working Group of the Freiburg Bunte Liste. The letter was signed by one Klaus Wegener. Until now it has not been possible to identify the signatory. The Freiburg Bunte Liste could not be contacted by mail otherwise than through a box number. Until the end of 1985 such mail was forwarded to the office of Niemietz and.... and since the start of 1986 to Ms [D.J. It has therefore to be assumed that documents throwing light on the identity of Klaus Wegener can be found at the premises of the abovementioned persons. Furthermore, it is to be assumed that there are such documents in the home of Ms [G. ], the Chairwoman of the Freiburg Bunte Liste. For these reasons, it is to be expected that evidence will be found in the course of a search of the premises indicated in this decision."
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Gegenwart von zwei Angestellten statt. Über eine Stunde war auch der Bf. zugegen. Aktenschränke, vier Karteien mit Mandantendaten sowie sechs einzelne Akten wurden durchgesehen. Die Durchsuchung blieb erfolglos, eine Beschlagnahme fand nicht statt, das Strafverfahren wurde eingestellt. Die Durchsuchung war gesetzlich vorgesehen (§ 103 StPO) und zur Verhütung von Straftaten sowie zum Schutz der Rechte des R erfolgt. Obwohl er die Beleidigung und versuchte Nötigung des R als nicht geringfügig ansah, hielt der E G M R die Durchsuchung für nicht verhältnismäßig („not proportionate to those aims"), vor allem wegen der weiten Fassung des Durchsuchungsbeschlusses, der ohne jede Beschränkung die Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten anordnete, die zur Feststellung des Urhebers des Telefaxes führen konnten. Die mangelnde inhaltliche Beschränkung hielt der E G M R besonders deshalb für gravierend, da die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei keinen besonderen Verfahrensgarantien unterlag, wie z.B. der Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters. Den mit der Durchsuchung verbundenen Eingriff in das Berufsgeheimnis sah er ebenfalls als unverhältnismäßig an, da er Auswirkungen auf die ordnungsgemäße Rechtspflege und die von Art. 6 garantierten Rechte haben konnte und die mit der Maßnahme verbundene Aufmerksamkeit geeignet gewesen sei, die Berufsehre des Bf. bei seinen Mandanten wie auch in der allgemeinen Öffentlichkeit negativ zu beeinflussen.
O b w o h l der Fall Chappel keinen unmittelbaren strafrechtlichen Bezug hat, d ü r f t e er f ü r strafprozessuale Durchsuchungsbeschlüsse gleichwohl von B e d e u t u n g sein. Er betraf die Vollziehung einer wegen vermuteter Urheberrechtsverstöße erlassenen einstweiligen Verfügung. Die Anton-Pillar-Order erlaubte dem Antragsteller die Betretung und Durchsuchung der Geschäftsräume des Antragsgegners sowie die Entfernung der dort vermuteten Raubkopien. Weil die Order ohne Anhörung des Antragsgegners ergangen war und ihr Vollzug nicht wiedergutzumachende Folgen haben konnte, forderte der E G M R angemessene und wirksame Schutzmechanismen gegen einen willkürlichen Eingriff und Missbrauch. Bei der Prüfung ihrer Notwendigkeit wies er auf die in der Verfügung enthaltenen Beschränkungen hin („incorporated significant limitations on its scope"): eine kurze Vollziehungsfrist; eine Angabe der Tageszeit, innerhalb der die Vollziehung stattfinden durfte; eine Beschränkung der Personenzahl, mit deren Hilfe der Antragsteller die Verfügung vollziehen durfte; die Beschränkung des Verwendungszwecks des aus den Räumen des Antragsgegners entfernten Materials. Ferner enthielt die Order Obliegenheiten für die Anwälte des Antragstellers. Aufgrund dieser Sicherheiten und der Tatsache, dass dem Antragsteller zahlreiche Rechtsbehelfe gegen eine rechtswidrige Vollziehung zur Verfügung standen („variety of remedies"), sah der E G M R den Erlass der Verfügung als mit Art. 8 Abs. 2 vereinbar an. 67 O b w o h l sich der Gerichtshof in den Urteilen Chappel, Niemietz, Camenzind, Funke, Cremieux u n d Miailhe z u m Teil sehr ausführlich mit den jeweils v o r h a n d e n e n „safeguards" befasst hat, wird m a n die Angemessenheit v o r h a n d e n e r Sicherheiten gegen Willkür u n d M i s s b r a u c h nur im R a h m e n einer G e s a m t s c h a u bewerten k ö n n e n . Es wäre zu wünschen, dass der G e r i c h t s h o f möglichst bald - wie bei der Telefonüberwachung - a u c h f ü r strafprozessuale D u r c h s u c h u n g e n einen positiven o d e r negativen K a t a l o g gesetzlicher Minί/esianforderungen erstellt ( „ m i n i m u m safeguards"). 67
EGMR, Chappel./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 152-A, §§11, 26(b), 27, 57, 60.
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(2) Art und Weise der Durchführung einer Durchsuchung Neben der Existenz ausreichender Sicherheiten gegen Missbrauch spielen für die Notwendigkeit einer Durchsuchung auch die Art und Weise ihrer Durchführung sowie ihr Umfang („scope") eine Rolle. Es spricht für die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung, wenn sie in Gegenwart der von ihr betroffenen Person stattfindet, diese zuvor Einblick in die Verfahrensakte nehmen und einen Anwalt konsultieren darf, und sie von einer begrenzten Zahl von Personen durchgeführt wird. Beim Umfang der Durchsuchung kommt es weniger auf die Dauer und die Anzahl der erfassten Räume, sondern auf die konkret durchsuchten Gegenstände und darauf an, ob Dokumente durchgesehen oder Gegenstände beschlagnahmt werden. Erfolgt die Durchsuchung zur Beschlagnahme eines Gegenstandes, mit dessen Hilfe der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat vermutlich begangen hat, so ist sie auch dann verhältnismäßig, wenn die Strafverfolgungsbehörden bereits Beweise für die Begehung der Tat besitzen und der Beschuldigte einräumt, den Gegenstand benutzt, ihn aber nicht mehr in seinem Besitz zu haben.68 Der EGMR hat zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung folgende Gesichtspunkte berücksichtigt: die Schwere bzw. Geringfügigkeit der Straftat („offence in connection with which the search was effected"), den Umfang bzw. die inhaltliche Fassung des Durchsuchungszwecks bzw. das Fehlen einer diesbezüglichen Beschränkung („warrant ... drawn in broad terms", „without any limitation"), die Existenz spezieller Verfahrensgarantien während der Durchsuchung („accompanied by any special procedural safeguards") - wie etwa die Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters („such as the presence of an independent observer") und das im konkreten Fall durchgesehene Material („materials ... in fact inspected"). Bei der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei sind darüber hinaus zu berücksichtigen: der Eingriff in das Berufsgeheimnis („encroachment on professional secrecy"), die Auswirkungen auf die Rechtspflege („repercussions on the proper administration of justice") bzw. auf die von Art. 6 geschützten Rechte sowie die mit der Maßnahme verbundene öffentliche Aufmerksamkeit und ihr negativer Einfluss auf die Berufsehre des Anwalts bei seinen Mandanten und in der Öffentlichkeit.69 Im Urteil Camenzind war in der Durchsuchungsanordnung ausdrücklich geregelt, dass der Zweck der Durchsuchung das Auffinden und die Beschlagnahme des ungenehmigten Mobiltelefons war. Nach Vorlage der Anordnung gestattete der Bf. zwei PTT-Mitarbeitern den Zutritt zur Wohnung. Ihm wurden die rechtlichen Umstände der Durchsuchung mitgeteilt, er konnte Einblick in die Verfahrensakte nehmen und mit einem Rechtsanwalt sowie einem leitenden Angestellten der PTT telefonieren. Die Suche nach dem Telefon wurde in seiner Gegenwart durchgeführt. Sie erstreckte sich auf sämtliche Räume der Wohnung, auch auf diejenigen, die der Bf. an andere Personen untervermietet hatte. Der PTT-Mitarbeiter überprüfte lediglich, ob sämtliche Telefon- und Fernsehanlagen von der PTT genehmigt worden waren, berührte jedoch keinerlei
68 69
EGMR, Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, §§ 7-11,46 („had some evidence of the offence"). EGMR, Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, § 37.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Gegenstände, öffnete keine Schränke und sah auch keine Unterlagen durch. Nach erfolglosem Abschluss der Durchsuchung wurde ein Protokoll erstellt, in dem der Bf. auf die Möglichkeit einer Beschwerde hingewiesen wurde. Nach Ansicht des EGMR beruhte die Durchsuchung auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage. Aufgrund der in den gesetzlichen Bestimmungen vorhandenen Sicherheiten, vor allem aber aufgrund ihres beschränkten Umfangs sowie der Art und Weise ihrer Durchführung sah er die Durchsuchung als notwendig an, obwohl der PTT bereits einige Beweise für das dem Bf. zur Last gelegte Vergehen vorlagen.70 (3) Besonderheiten bei Terrorismusdelikten Die Verhältnismäßigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus wird durch zwei zusätzliche Aspekte beeinflusst. Zum einen hat jede demokratisch gewählte Regierung die Aufgabe, ihre Bürger und Einrichtungen gegen die Bedrohungen des Terrorismus zu schützen und terroristischen Straftaten vorzubeugen. Erfolgt das Betreten eines Hauses zum Zwecke der Festnahme einer Person, die einer terroristischen Straftat verdächtigt wird, so muss bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auch eine aufgeheizte Atmosphäre („conditions of extreme tension") berücksichtigt werden, wie sie in Nordirland in den 70er und 80er Jahren geherrscht hat. Der EGMR toleriert es, wenn sich die Durchsuchung eines Hauses nicht auf die Suche dieser Person beschränkt, sondern auch Aktionen umfasst, die darauf abzielen, eine Festnahme ohne Zwischenfälle sicherzustellen.71 Im Fall Murray stellte er fest, dass die Maßnahmen anlässlich der Festnahme der Bf. einen Eingriff in die Rechte sämtlicher Familienmitglieder auf Achtung ihres Privatund Familienlebens sowie ihrer Wohnung darstellten, aber ausdrücklich von der Festnahmevorschrift erlaubt und mit Art. 8 Abs. 2 vereinbar waren, da sie der Verhütung von Straftaten dienten - was einen gewissen Widerspruch zu den Feststellungen im Rahmen von Art. 5 Abs. 1(c) bedeutet - und wegen des Verdachts der Begehung eines mit dem Terrorismus verbundenen Delikts notwendig waren. Die nationalen Gerichte hatten festgestellt, dass die Bf. ernsthaft und aufrichtig einer terrorismusbezogenen Straftat verdächtigt worden war, und diesen Verdacht als hinreichend iSv Art. 5 Abs. 1(c) eingestuft. Ein Gericht hatte die Maßnahmen als vernünftig, angemessen und geeignet bezeichnet, um die Festnahme mit einer minimalen Gefahr und Beeinträchtigung für alle betroffenen Personen durchzuführen. Der Gerichtshof sah darin „legitimate considerations". b)
Verwertung von Dokumenten
aus einer konventionswidrigen
Durchsuchung
Im Urteil Miailhe (Nr. 2) ging es auch um die Frage, ob Unterlagen, die aus einer mit Art. 8 unvereinbaren Durchsuchung und Beschlagnahme stammen, zum Nachteil des Beschuldigten verwertet werden dürfen. Diese fundamentale strafprozessuale Problematik hätte der EGMR dazu nutzen können, um aus dem abstrakten Fairnessgebot des Art. 6 konkrete Vorgaben für die Erhebung von Beweisen vor den nationalen Straf-
70 71
EGMR, Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, §§7-11, 16-22, 37-38,46-47. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 91-92 („must also embrace a search whose object is to secure that the arrest should be peaceable").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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gerichten zu entwickeln. Unverständlicherweise hat er sich allein auf das Zugangsrecht zur Akte konzentriert, die Verfahrensfairness im Zuge einer Gesamtbetrachtung bewertet und zu dem Problem, ob konventionswidrig beschlagnahmte Unterlagen einem Verwertungsverbot unterliegen, am Ende gar nicht Stellung genommen. Mit dem Rückzug auf den Grundsatz „ it is not for the Court to substitute its view for that of the national courts which are primarily competent to determine the admissibility of evidence" dürfte er den an anderer Stelle durchaus gebotenen judicial self-restraint überdehnt haben. 72 Mag man noch darüber streiten können, ob die Herleitung von Beweisverwertungsverboten für unter Verstoß gegen nationales Recht erlangte Beweismittel auf der Basis des Fairnessgebots tatsächlich in den Aufgabenbereich des Gerichtshofs fallt, so darf die Frage, wie mit konventionswidrig erlangten Beweisen zu verfahren ist, insbesondere ob und mit welcher Wirkung sich ein Verstoß gegen Art. 8 bei der Beweiserhebung in einem späteren Stadium des Strafverfahrens fortsetzt, keinesfalls den nationalen Gerichten überlassen bleiben. Es handelt sich hierbei um eine elementare, in der Konvention selbst wurzelnde Problematik, die über eine Auslegung der Konventionsgarantien (Art. 8 und Art. 6 Abs. 1) einer sowohl dem Beschuldigtenschutz als auch den Erfordernissen der Strafverfolgung Rechnung tragenden Lösung zugeführt werden muss, weil sie eindeutig in die Kompetenz des Gerichtshofs fallt (Art. 32). c)
Anspruch auf eine gerichtliche
Überprüfung der Durchsuchung
Von dem Erfordernis eines Richtervorbehalts zu unterscheiden ist die Frage, ob die von einer Durchsuchung betroffene Person die Möglichkeit erhalten muss, die Rechtmäßigkeit einer (abgeschlossenen) Durchsuchung überprüfen zu lassen. Als Anknüpfungspunkte für einen derartigen Anspruch kommen Art. 8 und Art. 13 in Betracht. Im Urteil Camenzind hat sich der EGMR bei Wohnungsdurchsuchungen für eine extensive Auslegung des Art. 13 entschieden. Die Behauptung, die Durchsuchung einer Räumlichkeit verstoße gegen Art. 8, ist bereits dann „arguable" iSv Art. 13, wenn die Durchsuchung einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Wohnung darstellt. Aufgrund der extensiven Auslegung der Begriffe Privatleben und Wohnung ist praktisch kein Fall denkbar, bei dem die Durchsuchung einer Räumlichkeit keinen Eingriff in die von Art. 8 geschützten Rechte darstellt. Das nationale Recht muss deshalb für die Durchsuchung von Räumlichkeiten, die unter den Schutzbereich des Art. 8 fallen, eine wirksame Beschwerde vorsehen. Diese muss so ausgestaltet sein, dass sich die zuständige Stelle sowohl mit dem behaupteten Konventionsverstoß befassen als auch für angemessene Abhilfe sorgen kann. Auch hier gilt aber der Grundsatz, dass die innerstaatliche Instanz iSv Art. 13 kein Gericht sein muss, sondern jede Stelle sein kann, die eine effektive Kontrolle bietet.73 Da Durchsuchungen zumeist ohne vorherige Benachrichtigung erfolgen, stellt sich häufig das Problem der strafprozessualen Überholung. Der Anspruch auf eine wirksame Be-
72 73
EGMR, Miailhe ./. Frankreich, Reports 1996-IV, §§ 7-24,41-46. Vgl. allgemein zu den Voraussetzungen an den von Art. 13 geforderten Rechtsbehelf bei der Überprüfung strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen: § 2 V.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
schwerde entfällt jedenfalls nicht durch die Beendigung der Durchsuchung. Ein Rechtsbehelf, der für die Überprüfung einer Durchsuchung ein aktuelles Rechtsschutzbedürfnis („present interest") verlangt, eine Person nach Abschluss der Durchsuchung nicht mehr als betroffen („affected") ansieht und ein Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht als schutzwürdig anerkennt, ist keine wirksame Beschwerde iSv Art. 13.74 Auch bei Durchsuchungen ist die Wirksamkeit einer Beschwerde unabhängig von ihren Erfolgsaussichten im konkreten Fall zu bewerten („feeble prospects of success").75 Die StPO normiert für Durchsuchungen keinen zwingenden Richtervorbehalt, sondern gestattet bei einer Gefahr im Verzuge die Anordnung der Durchsuchung durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 105 I StPO). Eine ohne richterlichen Beschluss durchgeführte Durchsuchung wird der EGMR nur akzeptieren, wenn sich die im deutschen Recht vorhandenen Sicherheiten gegen Missbrauch und Willkür als relevant und ausreichend erweisen. Als relevante Sicherheiten gegen Missbrauch sind einzustufen: Zeitbeschränkung (§ 104 StPO); Hinzuziehung neutraler Personen (§ 105 II StPO); Anwesenheitsrecht des Inhabers (§ 106 StPO); Mitteilung über Grund der Durchsuchung und Aushändigung eines Beschlagnahmeverzeichnisses (§ 107 StPO); gerichtliche Uberprüfbarkeit von Anordnung und Durchführung der Durchsuchung (§§ 304, 98 II StPO), und zwar auch nach ihrer Beendigung.76 Keine Sicherheit gegen Missbrauch ist dagegen der „StA-Vorbehalt" des § 105 I StPO. Unabhängig davon, ob die Strafverfolgungs- und Anklagebehörde zur Neutralität verpflichtet ist, wird sie vom EGMR als „opponent" des Beschuldigten angesehen. Das ist vor allem in den Fällen deutlich geworden, in denen es um die zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigte Person iSv Art. 5 Abs. 3 ging.77 Prinzipiell bestehen auch bei nichtrichterlich angeordneten Durchsuchungen ausreichende Sicherheiten gegen staatlichen Missbrauch. Weil aber das deutsche Recht im Grundsatz von einer richterlichen Durchsuchungsanordnung ausgeht und insofern ein gewisses Vertrauen bei den von einer Durchsuchung betroffenen Personen entstehen kann, dürfte eine ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss durchgeführte Durchsuchung nur dann mit der Konvention vereinbar sein, wenn der Ermittlungserfolg ohne die vorherige Einschaltung eines Richters 74
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E G M R , Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, §§ 23, 54-55 („effective remedy, allowing the competent „national authority" both to deal with the complaint and to grant appropriate relief"). Das Schweizerische Bundesgericht hatte den Antrag des Bf. Camenzind, die Durchsuchung für nichtig zu erklären, zurückgewiesen: „... since the applicant has no present interest in invoking the protection of the courts as the measures have ceased and he is no longer affected by them. ... Only persons who are (still) affected, at least in part, by the impugned decision and as a result have an interest in its being varied have locus standi to lodge a complaint." Dem Bf. hatte daher keine wirksame Beschwerde vor einer nationalen Instanz zur Verfügung gestanden. E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 9-12, 99-100. Die Bf. Murray hatte behauptet, das Verfahren zur Überprüfung der Durchsuchung ihres Hauses hätte keinen Erfolg gehabt, da das nationale Recht eine Rechtfertigung für derartige Maßnahmen enthielt. Nach Ansicht des Gerichtshofs stand aber mit einer „action for the tort of unlawful trespass to property" ein „appropriate remedy" zur Verfügung. Vgl. die zu Überprüfung erledigter Durchsuchungen geänderte Rechtsprechung: BGHSt 44, 265; 45, 183. Kritisch zur Einordnung der Staatsanwaltschaft in die „Exekutive": Schaefer N J W 2001, 1396f.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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gefährdet wäre. Zu Recht hat das BVerfG das in § 105 StPO angelegte Regel-AusnahmeVerhältnis hervorgehoben und die Anforderungen für die Annahme einer Gefahr im Verzuge präzisiert. 78 Den vom E G M R geforderten inhaltlichen Beschränkungen von Durchsuchungsbeschlüssen tragen die Vorgaben des BVerfG ebenfalls Rechnung. 79 Berücksichtigt man die Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, ist die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der §§ 102 ff. StPO als solche in ihrer Gesamtheit betrachtet mit Art. 8 Abs. 2 vereinbar. Da mittlerweile auch ein Rechtsschutz gegen prozessual „überholte" Hausdurchsuchungen besteht, ist auch die frühere in Hinblick auf Art. 13 eindeutig konventionswidrige deutsche Rechtslage beseitigt. 80 Der E G M R wird aber darüber zu befinden haben, ob von relevanten und ausreichenden Sicherheiten gegen Missbrauch und Willkür die Rede sein kann, wenn ein Verstoß gegen diese Sicherheiten nach nationalem Recht nicht zu einem Verbot der Verwertung der durch die Durchsuchung erlangten Beweise und Erkenntnisse führt. Auch hier sollte er sich nicht auf eine Willkürkontrolle zurückziehen, sondern das Potential der Konvention zur Verwertbarkeit rechtswidrig bzw. konventionswidrig erlangter Beweise deutlich herausstellen. 81
2.
Betreten einer Wohnung
D a s Betreten einer Privatwohnung d u r c h Polizeibeamte stellt auch o h n e eine anschließende D u r c h s u c h u n g der Räumlichkeiten einen Eingriff in d a s Recht des Inhabers auf A c h t u n g seines Privatlebens u n d seiner Wohnung dar. N o t w e n d i g ist d a s Betreten einer W o h n u n g , wenn n a c h d e n U m s t ä n d e n des Einzelfalls ein faires Gleichgewicht zwischen den betroffenen Interessen besteht: d e m Recht des Inhabers auf A c h t u n g seines Privatlebens u n d seiner Wohnung auf der einen Seite u n d d e m mit d e m Betreten der W o h n u n g verfolgten legitimen Zweck. 8 2 D a s Betreten der W o h n u n g m u s s zu d e m verfolgten Zweck erforderlich sein. D e r E G M R legt diesbezüglich strenge M a ß s t ä b e an. Im Fall McLoed hatten zwei Polizeibeamte für kurze Zeit die Wohnung der Bf. betreten, nachdem ihnen deren Mutter die Tür geöffnet hatte. Die Bf. war von ihrem geschiedenen Ehemann (E) auf Herausgabe bestimmter Gegenstände verklagt worden. Weil Ε seine Sachen aus dem Haus der Bf. holen wollte, dabei jedoch einen „breach of the peace" von Seiten der Bf. befürchtete, hatte er die beiden Beamten als Verstärkung beigezogen. In Abwesenheit der Bf. entfernte Ε die ihm gehörenden Sachen aus der Wohnung. Das Handeln der Polizeibeamten sah der E G M R als nicht notwendig an, da sie auf die vermeintliche Berechtigung des Ehemanns zur Entfernung der Gegenstände vertraut hatten ohne sich den entsprechenden Gerichtsbeschluss vorlegen zu lassen, und ein „breach of the peace" wegen der Abwesenheit der Bf. nicht drohte. 78 79
80 81
82
BVerfG, NJW 2001,1121, 1122; hierzu: Einmahl NJW 2001, 1393 ff. BVerfGE 42, 212, 220f., NJW 1997, 2165; NStZ 2000, 601; siehe zum Missbrauch der „Gefahr im Verzug": AG Offenbach, NStZ 1991, 247. Hierzu auch: Frowein DÖV 1998, 806, 809. Vgl. hierzu: BVerfG, NJW 1999, 273, 274; ein besonders bedenkliches Beispiel: BGH, NStZ 1989, 375, 376 („Weimar") EGMR, McLeod ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 36, 53.
126
3.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Beschlagnahme von Gegenständen
In vielen Fällen schließt sich an die Durchsuchung einer Räumlichkeit die Beschlagnahme von Gegenständen an, die ihrerseits das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie vor allem das in Art. 1 des 1. ZP83 geschützte Eigentum berührt. Je nach Art und Herkunft des beschlagnahmten Gegenstandes können auch andere Rechte betroffen sein, wie etwa bei Presseerzeugnissen das in Art. 10 garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Voraussetzungen einer der Konvention entsprechenden Beschlagnahme hat der Gerichtshof vorrangig auf der Grundlage der Eigentumsgarantie herausgearbeitet. Da sich Gegenstände jedoch nicht immer im Gewahrsam ihres Eigentümers befinden bzw. im Eigentum mehrerer Personen stehen können, muss zunächst geklärt werden, ob der einer Beschlagnahme unterliegende Gegenstand zum Schutzbereich des Art. 1 gehört. Die Vorschrift enthält im wesentlichen eine Garantie des Eigentums an beweglichen Gegenständen („ownership of physical goods"). Da der EGMR den Begriff „bienslpossessions" autonom auslegt, können auch andere Rechte und Vermögenswerte („certain other rights and interests constituting assets") als „property rights" und „possessions" angesehen werden. Dies dürfte bei der Versiegelung von Wohnungen oder beim Absperren eines Grundstücks im Zuge strafprozessualer Ermittlungen von Bedeutung sein. Auch das Nutzungsrecht und der Besitz an einer unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Sache stellen ein von Art. 1 geschütztes Recht dar.84 Die Vorschrift geht über eine reine Bestandsgarantie hinaus. So hat der EGMR beispielsweise anerkannt, dass das Recht, über sein Vermögen zu verfügen, zu den traditionellen und grundlegenden Bestandteilen des Eigentums gehört.85 Das ist nicht nur bei Beschlagnahmen, sondern auch bei Sicherstellungen und Pfändungen von Gegenständen zu beachten, wie sie die §§ 11 lbff. StPO vorsehen. Ob der bloße Besitz an einem Gegenstand unter den Schutz des Eigentums fallt, hat der EGMR im Fall Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ausdrücklich offen gelassen. An welcher Bestimmung des Art. 1 sich die Beschlagnahme eines Gegenstandes messen lassen muss, hängt davon ab, ob man in ihr die Entziehung des Eigentums an dem Gegenstand oder lediglich eine Regelung zur Nutzung des Eigentums sieht. Während Art. 1 Abs. 1 Satz 2 den Entzug des Eigentums regelt, ermächtigt Art. 1 Abs. 2 die Vertragsstaaten, die Nutzung des Eigentums entsprechend dem öffentlichen Interesse und durch Gesetze zu regeln, die sie für notwendig halten. Eine Entziehung des Eigentums liegt vor, wenn einer Person das Eigentum an einer Sache formell entzogen wird. Maßnahmen, die eine Vorstufe einer Eigentumsentziehung darstellen, die Nutzung des Eigentums selbst aber weder beschränken noch kontrollieren wollen, fallen weder unter Art. 1 Abs. 1 Satz 2, noch unter Art. 1 Abs. 2, stellen damit aber nicht automatisch einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff dar, sondern müssen sich an Art. 1 Abs. 1 Satz 1 mes83 84 85
Art. 1 in diesem Kapitel meint Art. 1 des 1. ZP zur EMRK. EGMR, Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Serie A Nr. 306-B, §§7-11, 53. EGMR, Marckx ./. Belgien, Serie A Nr. 31, § 63; Sporrong u. Lönnroth ./. Schweden, Serie A Nr. 52, § 57; vgl. auch: EGMR, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 63.
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sen lassen. 86 Der E G M R sieht in der Beschlagnahme eines Gegenstandes zur Beweissicherung lediglich eine M a ß n a h m e vorläufiger Natur („un caractere provisoire"), weil sie regelmäßig nicht das Ziel verfolgt, einer Person das Eigentum an d e m betreffenden Gegenstand zu entziehen, sondern lediglich für eine bestimmte Zeit die N u t z u n g und Verfügung über den Gegenstand verhindern will („prevent ... from using"), bis ein Gericht endgültig über die Einziehung des Gegenstandes entscheidet. Beschlagnahmen im Rahmen eines Strafverfahrens stellen deshalb regelmäßig Nutzungsregelungen iSv Art. 1 Abs. 2 dar. 87 Die Wohnung des Bf. Vendittelli war von der Polizei versiegelt worden, weil er angeblich gegen stadtplanerische Vorschriften verstoßen hatte. Ein Pretore bestätigte die Beschlagnahme der Wohnung und leitete ein Strafverfahren ein. Weil die Beschlagnahme nicht das Eigentum an der Wohnung entziehen, sondern den Bf. lediglich von deren Nutzung abhalten sollte, fiel sie unter Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP.88 Die Beschlagnahme eines Flugzeugs hat der Gerichtshof ebenfalls als Nutzungsregelung klassifiziert, weil sie lediglich eine vorübergehende Beschränkung des Gebrauchs, nicht aber die Übertragung des Eigentums zur Folge hatte. Nach Leistung einer Strafzahlung war die Maschine wieder freigegeben worden. Die Freigabe der Maschine gegen Zahlung einer Geldsumme betrachtete der E G M R als M a ß n a h m e zur Kontrolle des Gebrauchs des Eigentums, um Fluggesellschaften von der Einfuhr illegaler Drogen abzuschrecken, so dass insgesamt Art. 1 Abs. 2 des 1. Z P einschlägig war. 89 D i e Beschlagnahme eines Gegenstandes im Rahmen eines Strafverfahrens stellt auch dann eine Nutzungsregelung dar, wenn der Gegenstand im Eigentum eines Dritten steht, der nicht Beschuldigter in dem Strafverfahren ist, welches Anlass zu der Beschlagnahme gegeben hat. D a s gilt auch, wenn die Beschlagnahme präventiv zur Verhinderung von Straftaten erfolgt. 9 0 Im Fall AGOSI hatten die Zollbehörden im Eigentum der Bf. stehende Krügerrandmünzen beschlagnahmt, die von Dritten (D) widerrechtlich eingeführt werden sollten. Nachdem die D verurteilt worden waren, erklärten die nationalen Gerichte den Verfall des Eigentums an den Münzen. Die Zollbehörden verweigerten daraufhin deren Herausgabe. An sich stellte die Verfallsanordnung eine Entziehung des Eigentums dar. D a es sich jedoch bei dem Einfuhrverbot um eine Nutzungsregelung handelte, betrachtete
86
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EGMR, Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Serie A Nr. 52, §§ 61-63, 65, 73. Hier ging es um Bauverbote und das Bestehen von Enteignungsgenehmigungen für Grundstücke über einen mehrjährigen Zeitraum. Der EGMR ließ Erschwernisse beim Verkauf einer Sache und ein erhöhtes Investitionsrisiko nicht für eine „tatsächliche Enteignung" genügen; vgl. auch: EGMR, Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Serie A Nr. 306-B, § 55; Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, §§ 29-30. EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, § 27; Vendittelli./. Italien, Serie A Nr. 293-A, § 38. EGMR, Vendittelli./. Italien, Serie Α Nr. 293-A, §§ 9-10, 38. EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 316-A, § 33. EGMR, AGOSI ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, §§ 49, 51; Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, § 27 (vgl. auch: Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 44-52); Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Serie Α Nr. 306-B, § 59; Vasilescu ./. Rumänien, Reports 1998-III, §§48-54; kritisch zur Dogmatik des Gerichtshofs: Peukert EuGRZ 1988, 509, 510.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
der EGMR die Beschlagnahme der Münzen und die Verfallsanordnung zur Durchsetzung dieses Verbots ebenfalls als solche, was dogmatisch äußerst fragwürdig ist. Gegen den Bf. Raimondo bestand der Verdacht der Mitgliedschaft in einer mafiaähnlichen Vereinigung. Die StA hatte die Anordnung einer polizeilichen Überwachung des Bf. und die präventive Beschlagnahme mehrerer Vermögenswerte zum Zwecke ihrer späteren Einziehung beantragt. Am 13.5.1985 ordnete ein Gericht die Beschlagnahme von sechzehn Immobilien und sechs Fahrzeugen an, auf die der Bf. Zugriff zu haben schien. Einige der Immobilien standen im Miteigentum seiner Ehefrau. Die Beschlagnahme wurde am 15.5. in ein Register eingetragen. Am 16.10. hob das Gericht die Beschlagnahme mehrer Gegenstände auf, die im Eigentum Dritter standen. Die Beschlagnahmeanordnung beruhte auf einem Gesetz aus dem Jahre 1956, welches verschiedene Präventionsmaßnahmen gegenüber Personen erlaubte, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellten. Der EGMR beurteilte die Beschlagnahme als vorläufige Maßnahme („provisional measure"), die sicherstellen sollte, dass Vermögenswerte später eingezogen werden konnten. Da sie nicht das Eigentum, sondern lediglich die Nutzung der Gegenstände verhindern sollte, fiel sie unter Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP und erfolgte wegen der äußerst gefährlichen wirtschaftlichen Stärke einer Organisation wie der Mafia im Einklang mit dem Allgemeininteresse. Dabei unterschied der EGMR nicht zwischen den dem Bf. gehörenden und den im Eigentum Dritter stehenden Gegenständen, sondern hielt die Beschlagnahmeanordnung insgesamt für rechtmäßig. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Beschlagnahme allerdings den Grad einer Enteignung erreichen, selbst dann, wenn sich die Eigentumsverhältnisse an dem Gegenstand nach der Beschlagnahme nicht ändern. Dass der Eigentümer einen beschlagnahmten Gegenstand nach mehrmaliger erfolgloser Inanspruchnahme nationaler Behörden und Gerichte nicht zurückerhält, kann so schwere Konsequenzen mit sich bringen, dass man von einer de facto confiscation ausgehen muss. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein Gericht die Beschlagnahme mangels Rechtsgrundlage für rechtswidrig gehalten und die Freigabe der Gegenstände angeordnet hat, der betroffene Eigentümer gleichwohl über mehrere Jahre vergeblich versucht hat, die Herausgabe der Gegenstände zu erreichen. Eine derartige Form der Enteignung verstößt immer gegen die Konvention. Für die Freigabe beschlagnahmter Gegenstände müssen deshalb Regelungen vorhanden sein, die sicherstellen, dass die Gegenstände im Anschluss an eine gerichtlich angeordnete Freigabe herausgegeben werden. Die Anforderungen für die Annahme einer de facto-Enteignung dürften aber eher hoch anzusiedeln sein, weil sonst das Gefüge des Art. 1 des 1. ZP aufzuweichen droht. 91
91
EGMR, Vasilescu ./. Rumänien, Reports 1998-III, §§ 7-23, 48-54; die Goldmünzen waren bereits 1966 beschlagnahmt worden; vgl. demgegenüber die Entscheidung AGOSI, in der sich die Bf. über drei Jahre vergeblich vor den britischen Gerichten und Zollbehörden um die Herausgabe beschlagnahmter Münzen bemüht hatten; hier nahm der EGMR - allerdings dogmatisch äußerst fragwürdig nicht einmal eine Enteignung iSv Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des 1. ZP an.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
a)
129
Voraussetzungen einer konventionsgemäßen Beschlagnahme
Als Nutzungsregelung muss eine Beschlagnahme gesetzlich vorgesehen sein und im Einklang mit dem Allgemeininteresse erfolgen. Sie verstößt bereits dann gegen die Konvention, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit den Vorschriften des nationalen Rechts ergeht. Auch an dieser Stelle ist in der Konvention ein gewisser Durchgriff auf das nationale Recht angelegt. 92 Als gesetzliche Regelung kommen auch Bestimmungen unter dem Rang von Parlamentsgesetzen in Betracht. Die Grundsätze, die der E G M R zu Art. 8 und 10 entwickelt hat, gelten bei Art. 1 des 1. Z P entsprechend. 93 Das gilt auch für die Qualitätsanforderungen: die Zugänglichkeit der gesetzlichen Grundlage und die Vorhersehbarkeit der mit der Beschlagnahme verbundenen Folgen. Die staatlichen Stellen besitzen bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Nutzungsregelung einen gewissen Spielraum. Das gilt sowohl hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Durchsetzung der gesetzlichen Bestimmungen als auch hinsichtlich der Frage, ob die mit der Maßnahme verbundenen Folgen im Allgemeininteresse gerechtfertigt sind.94 Jede Beschlagnahme muss aber in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit ihr erstrebten Zweck stehen („reasonable relationship") und darf - insbesondere aufgrund ihrer Dauer - keine für den Eigentümer unverhältnismäßige Belastung darstellen („disproportionate burden"). Der EGMR fordert darüber hinaus die Herstellung eines fairen Ausgleichs zwischen dem Allgemeininteresse und den Interessen des betroffenen Eigentümers („fair balance").95 Welche Anforderungen an die Beschlagnahme eines Gegenstandes zu stellen sind, der nicht im Eigentum des Beschuldigten steht, hatte der E G M R im untersuchten Zeitraum nicht zu entscheiden. Jedoch stellte er bezüglich der Einziehung des von einem Dritten geschmuggelten Gegenstandes im Fall /IGOS/fest, dass es zur Rechtfertigung der „Einziehung" nach Art. 1 Abs. 2 des 1. Z P genüge, wenn die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllt sind und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem öffentlichen Interesse und den Interessen der betroffenen Personen besteht. Die Herstellung dieses Gleichgewichts hängt u.a. vom Verhalten des Eigentümers, vom M a ß seines Verschuldens und der von ihm in der Angelegenheit angewandten Sorgfalt ab.96 Auf die der Konfiskation vorgelagerte Beschlagnahme ist der E G M R nicht gesondert eingegangen. Im Fall Raimondo (s.o.) hielt er die auch das Eigentum Dritter betreffende Beschlagnahmeanordnung für insgesamt rechtmäßig. 97 Zur Art und Weise, insbesondere zum zulässigen
92 93 94
95 96 97
EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, § 40. Ebenso: FroweinlPeukert Art. 1 des 1. ZP, Rn. 56/57. EGMR, Handyside./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 24, § 62; Marckx./. Belgien, Serie A Nr. 31, § 64; AGOSI./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, § 52; Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, § 27; Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Serie Α Nr. 306-B, § 62; Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 316-A, § 36. EGMR, Vendittelli./. Italien, Serie A Nr. 293-A, § 40. EGMR, AGOSI./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, § 54. EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie Α Nr. 281-A, §§ 7-13, 16-20, 27; vgl. auch: EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 44-52.
130
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Umfang einer Beschlagnahme hat sich der Gerichtshof bisher lediglich im Fall Air Canada geäußert. 98 Ob eine Beschlagnahme von Schriftstücken oder sonstigen Gegenständen einer gerichtlichen Ermächtigung bedarf, hat der E G M R in den Urteilen Funke, Cremieux und Miailhe offen gelassen. D a er aber das Fehlen einer gerichtlichen Anordnung bei der Beschlagnahme von Krankenakten für entbehrlich hält, wenn andere Sicherheiten vorhanden sind, die in ihrer Gesamtheit einen ausreichenden Schutz gegen Missbrauch gewähren, wird man dies auch bei weniger sensiblen Dokumenten und Gegenständen annehmen müssen." Die Beschlagnahme von Gegenständen der Privatsphäre muss auf die für das Verfahren erforderlichen Gegenstände beschränkt werden. Deshalb kann die massenhafte Beschlagnahme zur Privatsphäre gehörender Schriftstücke nicht als notwendig angesehen werden („wholesale and ... indiscriminate"). Ein Indiz für den konventionswidrigen Umfang einer Beschlagnahme dürfte es sein, wenn die Strafverfolgungsbehörden einen Großteil der beschlagnahmten Dokumente als für die Untersuchung unergiebig einstufen und diese an die betroffene Person zurückgeben. 100 Zollbeamte hatten das Haus des Bf. Funke (F) und seiner Ehefrau durchsucht, um Hinweise auf ein Auslandsvermögen zu erhalten. F hatte die Existenz von Bankkonten im Ausland zugegeben, jedoch behauptet, nicht im Besitz entsprechender Kontoauszüge zu sein. Daraufhin wurden Kontoauszüge und Scheckbücher ausländischer Banken sowie eine Kamera und eine deutsche Autoreparaturrechnung beschlagnahmt. F wurde aufgefordert, für die zurückliegenden drei Jahre Kontoauszüge von insgesamt sechs Auslandskonten vorzulegen, was er zunächst zusicherte, später jedoch verweigerte. Durchsuchung und Beschlagnahme führten nicht zu einer Strafverfolgung. Allerdings wurde gegen F ein Verfahren wegen der Vorenthaltung von Unterlagen eingeleitet, in dem er zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt wurde. Im Fall Cremieux hatten Zollbeamte Unterlagen einer Firma beschlagnahmt, die Geschäftsbeziehungen mit einer Weinfirma betrafen, deren Geschäftsführer der Bf. war. Zwischen Januar 1977 und Februar 1980 erfolgten insgesamt 83 Ermittlungsmaßnahmen, darunter auch Befragungen und Razzien. Dabei wurde die Hauptverwaltung der Weinfirma, das Wohnhaus des Bf., mehrere von ihm bewohnte Adressen sowie Wohnräume anderer Personen durchsucht und weitere Gegenstände beschlagnahmt. Die Durchsuchung des Wohnhauses des Bf. begann in Gegenwart seines Sohnes. Später war auch der Bf. selbst 98
EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A. Der EGMR bewertete sowohl die Beschlagnahme als auch die zur Freigabe des Flugzeugs erforderliche Strafzahlung als Nutzungsregelungen iSv Art 1 Abs. 2, weil die Beschlagnahme lediglich die vorübergehende Beschränkung des Gebrauchs zur Folge gehabt habe und die Freigabe des Flugzeugs gegen die Zahlung einer Geldsumme Fluggesellschaften von der Einfuhr illegaler Drogen abschrecken sollte. Beide Maßnahmen standen im Einklang mit dem allgemeinen Interesse an einer Bekämpfung des internationalen Drogenhandels und waren angesichts der Menge (331 kg) und des Marktwertes des gefundenen Cannabis verhältnismäßig, zumal die Bf. von den Zollbehörden über drohende Strafzahlungen sowie auf die Möglichkeit der Beschlagnahme bzw. Einziehung des Flugzeugs hingewiesen und auf diese Maßnahmen nur zurückgegriffen worden war, um die Sicherheitsbedingungen der Airline zu verbessern, die bereits mehrfach gegen Transportbestimmungen verstoßen hatte.
99
Vgl.: EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1. EGMR, Miailhe ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-C, §§ 7-8, 16-18, 28, 37-40.
100
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
131
anwesend. Insgesamt wurden 518 Dokumente mitgenommen. Im Haus einer Geschäftspartnerin wurden zahlreiche persönliche Papiere beschlagnahmt. In der Hauptverwaltung der Weinfirma öffneten die Zollbehörden den privaten Tresor des Bf. und entnahmen diesem 17 Dokumente. Nach Ansicht des EGMR war in sämtliche von Art. 8 geschützten Rechte des Bf. eingegriffen worden, mit Ausnahme des Familienlebens. Dabei unterschied der EGMR weder nach Durchsuchungen und Beschlagnahmen noch hinsichtlich der verschiedenen Örtlichkeiten. Bei Durchsuchungen der Zollbehörden im Fall Miailhe waren etwa 15000 Schriftstücke beschlagnahmt, unsortiert in Kartons verpackt, versiegelt und zum Zollhauptamt verbracht worden. Die Entsiegelung der Kartons und die Durchsicht der Unterlagen begann zwei Wochen nach der Durchsuchung in Gegenwart des Bf. Letzterer erhielt Kopien der Unterlagen, die er dringend für seine Arbeit benötigte. Insgesamt registrierte die Zollbehörde 9 478 Dokumente, die übrigen wurden dem Bf. zurückgegeben. Zwar waren die Durchsuchungen und die Beschlagnahmen in allen drei Fällen für das wirtschaftliche Wohl des Landes erfolgt. Gleichwohl nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 an, da die einschlägigen Bestimmungen des Zollgesetzes keine angemessenen und effektiven Sicherheiten gegen einen möglichen Missbrauch boten. Hinsichtlich der Anforderungen, die an das Verfahren oder die gesetzliche Grundlage einer Beschlagnahme konkret zu stellen sind, lässt die Straßburger Rechtsprechung noch keine klare Linie erkennen. Anhaltspunkte ergeben sich aber aus dem Urteil Hentrich, auf die der E G M R wahrscheinlich bei der Überprüfung der Bestimmtheit gesetzlicher Regelungen zur strafprozessualen Beschlagnahme von Gegenständen zurückkommen wird. Dort erklärte der Gerichtshof die Ausübung eines staatlichen Vorkaufsrechts für konventionswidrig, weil sie willkürlich, ausnahmsweise, kaum vorhersehbar und ohne grundlegende verfahrensrechtliche Sicherheiten erfolgt war („basic procedural safeguards"). Zudem genügten die Vorschriften, auf denen die Ausübung des Vorkaufsrechts beruhte, nicht den Bestimmtheits- und Vorhersehbarkeitsanforderungen der Konvention.101 Wird ein im Eigentum eines Dritten stehender Gegenstand zum Zwecke seiner späteren Einziehung beschlagnahmt, leitet der E G M R aus dem Recht auf Eigentum gewisse verfahrensrechtliche Anforderungen ab. Die für die Anwendung und Ausführung einer Nutzungsbeschränkung vorgesehenen Verfahrensregelungen müssen so gestaltet sein, dass u.a. das Verhalten, das Maß des Verschuldens oder die Sorgfalt des Eigentümers in angemessener Weise Berücksichtigung finden. Das Verfahren muss dem Eigentümer eine angemessene Möglichkeit geben, seine Rechtsstandpunkte vorzutragen. 102 Eine Beschlagnahme müssen die Strafverfolgungsbehörden nicht in jedem Fall begründen. Der Gerichtshof hat im Urteil Air Canada zwar anerkannt, dass die Angabe von Gründen bei der Vornahme einer Beschlagnahme zur Klärung der Situation beitra-
101 102
E G M R , Hentrich ./. Frankreich, Serie A Nr. 296-A, §§ 35, 39,45,49. E G M R , AGOSI./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, § 55 (vgl. das Sondervotum des Richters Vilhjälmsson, der diese Anforderungen dem Art. 6 Abs. 1 entnimmt).
132
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
gen kann. Er hält die Begründung aber nicht für erforderlich, wenn die von der Beschlagnahme betroffene Person aufgrund der Umstände des Falles keinerlei Zweifel hinsichtlich der für die Maßnahme sprechenden Gründe haben kann und die Umstände der Beschlagnahme - wenn auch eingeschränkt - gerichtlich überprüfbar sind.103 Die bereits im Zusammenhang mit der de facto confiscation angesprochene Dauer einer Beschlagnahme ist ein Umstand, der bei der Beurteilung ihrer Verhältnismäßigkeit besonderes Gewicht zukommt. Exakte Kriterien, nach denen man die zulässige Höchstdauer einer strafprozessualen Beschlagnahme bestimmen könnte, fehlen bisher. Die absolut zulässige Höchstdauer dürfte freilich mit dem Eintritt einer de facto confiscation erreicht sein. Nur hilft diese Erkenntnis kaum weiter, weil eine solche faktische Enteignung zwar im Fall Vasilescu vorlag. Dort waren aber seit der angeordneten Freigabe der beschlagnahmten Münzen bereits mehrere Jahre vergangen. Der E G M R geht die Problematik mit einer höchst interessanten Parallele zur Angemessenheit der Verfahrensdauer an. Demzufolge verstößt die Dauer einer strafprozessualen Beschlagnahme nicht gegen Art. 1 des 1. ZP iVm Art. 6 Abs. 1, wenn sie als Begleitmaßnahme des Strafverfahrens erfolgt („measure ancillary to the criminal proceedings") und über die strafrechtliche Anklage insgesamt in angemessener Frist verhandelt wird. Dieser Ansatz impliziert, dass nicht nur die Strafverfolgungsbehörden, sondern auch die Gerichte gehalten sind, die mit einer Beschlagnahme verbundenen Folgen möglichst gering zu halten. Den Gedanken führt der Gerichtshof in zwei verschiedene Richtungen weiter. Stellt das Gericht fest, dass für das dem Beschuldigten zur Last gelegte Vergehen eine Amnestie greift und das Strafverfahren verjährt ist, so kann die Beschlagnahme bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung aufrechterhalten bleiben, da - ebenso wie im Rahmen der angemessenen Frist - die Zeit, in der die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel einlegen könnte, mitberücksichtigt werden muss. Es ist demnach nicht zu beanstanden, wenn der Staatsanwaltschaft gegen die gerichtlich angeordnete Freigabe beschlagnahmter Gegenstände eine Beschwerdemöglichkeit zusteht. Im Falle eines Freispruchs oder einer Einstellung des Verfahrens muss das Gericht - ohne einen Antrag des Beschuldigten abzuwarten - die Aufhebung der Beschlagnahme spätestens bei Eintritt der Rechtskraft seiner Entscheidung anordnen. Die Aufrechterhaltung der Beschlagnahme über diesen Zeitpunkt hinaus stellt für den Eigentümer eine mit Art. 1 des 1. ZP unvereinbare, unverhältnismäßige Belastung dar. 104 Mehrere Anträge des Bf. Vendittelli auf Aufhebung der Beschlagnahme waren aus Gründen der Beweissicherung zurückgewiesen worden. Ein Pretore verurteilte ihn u.a. zu einer Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ein Berufungsgericht entschied am 4.7.1990, dass die Tat unter eine Amnestie fiel und die Strafverfolgung 103
104
EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, § 44. Die Begründung war entbehrlich, da die Beschlagnahme im Zusammenhang mit einer Reihe von Sicherheitsproblemen und Unregelmäßigkeiten im Frachtverkehr der Airline erfolgt war, die zuvor ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Beschlagnahme hingewiesen worden war und deren Umstände im Wege des judicial review überprüfen lassen konnte. EGMR, Vendittelli./. Italien, Serie A Nr. 293-A, §§ 34,39 („time allowed for the prosecution to appeal on points of law must be taken into account").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
133
verjährt war. Das Urteil wurde am 30.10. rechtskräftig, ordnete jedoch nicht die Aufhebung der Beschlagnahme an. Der Bf. beantragte mehrmals die Freigabe seiner Wohnung. Erst am 17.5.1991 gab das Gericht dem Antrag statt. Der EGMR bezeichnete die Beschlagnahme der Wohnung als Begleitmaßnahme des Strafverfahrens und verneinte einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP iVm Art. 6 Abs. 1, da das Strafverfahren (20.5. 1986-30.10.1990) innerhalb angemessener Frist erfolgt war. Hinsichtlich der über das Ende des Strafverfahrens hinaus aufrechterhaltenen Beschlagnahme nahm er jedoch einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP an, weil das Berufungsgericht die sofortige Aufhebung der Beschlagnahme spätestens mit dem Eintritt der Rechtskraft seines Urteils hätte anordnen sollen. Ordnet ein Gericht während der laufenden Ermittlungen oder nach Abschluss eines Strafverfahrens die Freigabe beschlagnahmter Gegenstände an, stellt sich die Frage, wie diese zu erfolgen hat. Einen Konventionsverstoß können die staatlichen Stellen nicht allein durch die Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände vermeiden. Erforderlich ist die vollständige Wiederherstellung des früheren rechtlichen Status („regularising the legal status"). Dazu gehört die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen und sonstiger Belastungen, die hinsichtlich der beschlagnahmten Gegenstände bestehen. Namentlich ist an Umschreibungen in Registern zu denken. Ein Zeitraum von mehr als sieben Monaten bei beschlagnahmten Fahrzeugen bzw. vier Jahren und acht Monaten bei beschlagnahmten Immobilien genügt nicht mehr den Anforderungen der Konvention an die Korrektur des rechtlichen Status an beschlagnahmten Gegenständen. Sind für die Freigabe einer beschlagnahmten Immobilie Registerumschreibungen erforderlich, ist hierfür ein Zeitraum von zwei Monaten nicht zu beanstanden. Aus dem Hinweis im Urteil Raimondo, dass die zunächst unterbliebenen Registerumschreibungen weder gesetzlich vorgesehen noch im Einklang mit dem Allgemeininteresse erfolgt waren, wird man schließen müssen, dass für die Rückgabe bzw. „Legalisierung" beschlagnahmter Gegenstände gesetzliche Regelungen mit den von der Konvention geforderten Zugänglichkeitsund Bestimmtheitsmerkmalen erforderlich sind.105 b)
Aufsicht
über beschlagnahmte
Gegenstände
Bei der Rückgabe beschlagnahmter Gegenstände entstehen oftmals Streitigkeiten zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem Eigentümer über während der Beschlagnahme eingetretene Schäden. Hier stellt sich die Frage, ob sich aus der Konvention gewisse staatliche Aufsichts- oder Sorgfaltspflichten hinsichtlich beschlagnahmter Gegenstände ableiten lassen („surveillance of property seized"). Die Aussage des E G M R im Fall Raimondo, dass jede Beschlagnahme oder Einziehung eines Gegenstandes unvermeidlich einen gewissen Schaden zur Folge habe, muss man dahingehend interpretieren, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht für alle an den beschlagnahmten Gegenständen eingetretenen Beschädigungen verantwortlich sind. Zu einem konkreten Verschuldensmaßstab hat sich der E G M R aber nicht geäußert. 106 105 106
EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, §§ 7-15, 35-36. EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie Α Nr. 281-A, § 33.
134
c)
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Anspruch auf gerichtliche Überprüfung einer Beschlagnahme
Da das Eigentumsrecht ein ziviles Recht ist, stellt ein auf die Freigabe beschlagnahmter Gegenstände gerichtetes Begehren eine zivilrechtliche Streitigkeit dar, die vor einem Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 verhandelt werden muss.107 Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass dem Eigentümer eines beschlagnahmten Gegenstandes der Zugang zu einem Gericht bereits vor Abschluss des Strafverfahrens gewährt werden muss. Wie bei anderen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen dürfte auch die „zeitliche" Anfechtbarkeit einer Beschlagnahme gewissen immanenten Schranken unterliegen. Das ist durchaus tolerabel, weil ein gewisser Schutz der Eigentumsrechte bereits durch die antragsunabhängige Pflicht der staatlichen Stellen zur Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände nach Abschluss des Verfahrens besteht. Den Zugang zu einem Gericht zwecks Überprüfung einer Beschlagnahme kann der betroffene Rechtsinhaber nur verlangen, solange sein von Art. 1 des 1. ZP geschütztes Recht durch die Beschlagnahme betroffen ist. Eine Streitigkeit über das geschützte Recht an dem beschlagnahmten Gegenstand wird man auch nach Aufhebung der Beschlagnahme annehmen können, solange die Beschlagnahme Auswirkungen auf das Eigentumsrecht an dem betroffenen Gegenstand hat. Denkbar ist das etwa, wenn an dem Gegenstand während der Zeit der Beschlagnahme Substanzschäden eingetreten sind oder der Eigentümer durch die mit der Beschlagnahme verbundene Nutzungsbeschränkung Vermögensnachteile erlitten hat. Hingegen ist das Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer mittlerweile aufgehobenen Beschlagnahme nicht mehr vom Schutzbereich des Art. 1 des 1. ZP erfasst. In Anlehnung an die Entscheidung Camenzind dürfte ein solcher Anspruch auf nachträglichen Rechtsschutz aber aus Art. 13 abzuleiten sein. Die von dieser Vorschrift geforderte wirksame Beschwerde gewährt zwar nicht denselben Rechtsschutz wie Art. 6 Abs. 1. So muss das Verfahren vor der innerstaatlichen Instanz sicherlich nicht sämtliche Garantien des Art. 6 Abs. 1 aufweisen, wobei hier im einzelnen noch viele Fragen offen sind. Auch muss über die Beschwerde nicht unbedingt ein Gericht verhandeln. Der E G M R verlangt jedoch, dass die innerstaatliche Instanz eine gewisse Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten hat. 108 Auch zum Rechtsschutz aus Art. 6 Abs. 1, speziell zur Art und Ausgestaltung des bei der Überprüfung von Beschlagnahmen anzuwendenden Verfahrens, liefert die Straßburger Rechtsprechung wenig Anhaltspunkte. So soll es mit dem von Art. 6 geforderten Zugang zu einem Gericht vereinbar sein, wenn die Beteiligten übereinstimmend die streitgegenständlichen Gesichtspunkte auf einzelne Fragen beschränken. 109
Wird ein Gegenstand beschlagnahmt, welcher nicht im Eigentum des Beschuldigten steht, so führt das nicht zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage gegenüber dem 107
108 109
EGMR, Sporrong u. Lönnroth ./. Schweden, Serie A Nr. 52, § 79; Vasilescu ./. Rumänien, Reports 1998-III, § 39 („action ... designed to secure the return of property of which the applicant had been dispossessed"). Vgl. EGMR, Khan ./. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 12.5.2000, §§ 41-47. EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, §§ 61-62 („with the agreement of the parties, were limited to the determination of specified questions of law ... ").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
135
Eigentümer des Gegenstandes. Eine so weitgehende Interpretation der strafrechtlichen Anklage hat der EGMR zu Recht abgelehnt. Aus dem Recht auf Eigentum ergeben sich die bereits oben genannten verfahrensrechtlichen Anforderungen. Mit Sicherheit wird man das jedoch nur sagen können, wenn der Gegenstand der späteren Einziehung unterliegt. Im Urteil AGOSI ist offen geblieben, ob der von Art. 1 des 1. ZP geforderte Verfahrensschutz immer die Einrichtung eines gerichtlichen Verfahrens verlangt. Im Ergebnis dürfte der Rechtsschutz aus Art. 1 des 1. ZP jedenfalls nicht über den zivilrechtlichen Rechtsschutz des Art. 6 hinausgehen, auf den sich selbstverständlich auch strafprozessual unbeteiligte Dritte berufen können. 110 d)
Beschlagnahme
von Gegenständen
aus der Privatsphäre
(Art.
8)
Die Beschlagnahme stellt einen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens dar, wenn die betreffenden Gegenstände Aufschluss über das Privatleben einer Person geben, insbesondere wenn zu diesem Privatleben die Vornahme strafbarer Handlungen gehört und die Beschlagnahme Anlass zu weiteren Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gibt. Betrifft eine solche Maßnahme einen sehr intimen Bereich des Privatlebens („most intimate aspect of private life"), müssen zu ihrer Rechtfertigung schwerwiegende Gründe vorliegen.111 Die Entscheidung Dudgeon ist für die Beschlagnahme von Briefen oder Tagebüchern von Bedeutung. Die hier vom BGH vorgenommene Abwägung zwischen dem Schutz der Persönlichkeitssphäre des Tagebuchverfassers und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung entspricht dem Ansatz des Art. 8 Abs. 2. Die Verwertung von Tagebüchern oder sonstiger Aufzeichnungen aus der Privatsphäre dürfte vom EGMR als in einer demokratischen
110
E G M R , AGOSI ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 108, §§ 56-60, 65. Ob ein zivilrechtlicher Anspruch des Dritten iSv Art. 6 Abs. 1 betroffen war, hatte der E G M R nicht zu entscheiden (vgl. Sondervotum Vilhjälmsson, der die verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht auf Art. 1 des 1. ZP, sondern auf Art. 6 stützt). Das Verhalten der Eigentümerin der in einem Strafverfahren beschlagnahmten Münzen war in einer gerichtlichen Verfallsentscheidung nicht berücksichtigt worden, wohl aber in dem späteren Zollverfahren, das die Frage betraf, ob die Münzen an die Bf. herauszugeben waren. Der E G M R hielt dieses Verfahren für mit Art. 1 des 1. ZP vereinbar, da die Ermessensentscheidung der Zollbehörden hinsichtlich aller ermessensrelevanter Umstände und der Wahrung der Eigentümerinteressen gerichtlich überprüfbar war. Vgl. auch: Gasus Dosier- und Fördertechnik G m b H ./. Niederlande, Serie A Nr. 306-B, § 73 (Beschlagnahme und Verkauf eines von der Bf. an eine niederländische Firma unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Betonmischers durch niederländische Steuerbehörden; der Bf. konnte die Beschlagnahme in einem den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 entsprechenden Verfahren überprüfen lassen. Der englische Rechtsbehelf des Judicial review genügt den Anforderungen von Art. 1 Abs. 2, da die Gerichte das behördlich ausgeübte Ermessen auf „illegality, irrationality or procedural impropriety" überprüfen können (EGMR, Air Canada ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-A, §§ 20-22,46).
111
E G M R , Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 45, § 33,41, 52. Im Verlauf einer wegen des Verdachts der Begehung eines Drogendeliktes durchgeführten Hausdurchsuchung waren persönliche Papiere, Briefe und Tagebücher des Bf. beschlagnahmt worden, in denen strafbare homosexuelle Handlungen beschrieben wurden. Aufgrund dieses Fundes war der Bf. mehr als eine Stunde von der Polizei über sein Sexualleben verhört worden.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Gesellschaft notwendig angesehen werden, wenn es um die Aufklärung schwerer Kriminalität geht.112 e)
Beschlagnahme von Druckschriften, und Kunstwerken (Art. 10)
Presseerzeugnissen
Handelt es sich bei den beschlagnahmten Gegenständen um Kunstwerke, Druckschriften oder sonstige Presseerzeugnisse, so sind die Besonderheiten des Art. 10 zu beachten. Da die Konvention die Freiheit der Presse nicht in einem eigenen Artikel schützt, fällt sie unter den Schutzbereich des Art. 10, der sowohl natürliche als auch juristische Personen schützt, sogar wenn deren Tätigkeit gewinnorientiert und kommerzieller Natur ist.113 Ein Eingriff in ein von Art. 10 geschütztes Recht durch die Beschlagnahme und Einziehung eines Gegenstandes kann auch von einer Person oder Gesellschaft geltend gemacht werden, die weder ein Urheberrecht an dem Gegenstand besitzt, noch dessen Eigentümer ist, aber auf andere Weise unmittelbar durch die Maßnahme betroffen wird („directly affected"). Für die einer Einziehung vorausgehende Beschlagnahme gilt dies jedenfalls dann, wenn sie eine vorläufige Maßnahme darstellt, die durch die Einziehung des Gegenstands bestätigt wird, so dass beide Entscheidungen letztlich nicht voneinander getrennt werden können.114 Im Fall Otto-Preminger-Institut - das für seine Mitglieder Filmveranstaltungen durchführte - ging es um die medienrechtliche Beschlagnahme und Einziehung eines Films. Wegen dessen Inhalts war gegen den Manager der Bf. (M) ein Strafverfahren wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren" eingeleitet worden. Nachdem der Film in einer Veranstaltung vorgeführt worden war, erging eine gerichtliche Beschlagnahmeanordnung. Der Film, den Μ bereits wieder an die Verleihgesellschaft zurückgesandt hatte, wurde in deren Räumen beschlagnahmt. Nachdem das Verfahren gegen Μ eingestellt worden war, ordnete ein Gericht die Einziehung des Films an. Obwohl das Institut weder Inhaber des Urheberrechts noch Eigentümer der eingezogenen Filmkopie war, konnte es geltend machen, wegen der Einziehung und Beschlagnahme des Films Opfer eines Eingriffs in Art. 10 zu sein, da es den Film nicht mehr zeigen konnte.
Bei der Beschlagnahme eines Kunstwerkes ist ebenfalls der Schutzbereich des Art. 10 berührt. Sowohl der Künstler als auch die Veranstalter einer Ausstellung, auf der das Kunstwerk der Öffentlichkeit präsentiert wird, machen von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Art. 10 Abs. 2 stellt an die Beschlagnahme von Druckerzeugnissen und Kunstwerken strenge Anforderungen. Die Beschlagnahme muss gesetzlich
112
113
114
Vgl. hierzu: BGHSt 19, 325 (keine Verwertung bei Meineid); dagegen: BGHSt 34, 397, 401: Verwertbarkeit bei „schwerster Kriminalität". EGMR, Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 95 (Wehrdisziplinarmaßnahme wegen Herausgabe einer Zeitschrift); Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 43; Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, § 45; Autronic ./. Schweiz, Serie A Nr. 178, § 47. EGMR, Otto-Preminger-Institut ./. Österreich, Serie A Nr. 295-A, § 40 („seizure was a provisional measure the legality of which was confirmed by the decision on forfeiture; the two cannot be separated").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
137
vorgesehen sein. Wie in Art. 8 Abs. 2 meint gesetzlich nicht nur das geschriebene, d.h. gesetzte Recht, sondern auch das ungeschriebene Recht. Diese geschriebenen oder ungeschriebenen Regelungen müssen ausreichend zugänglich sein, damit der von einer Beschlagnahme betroffene Rechtsinhaber in hinreichendem Maße erkennen kann, welche Vorschriften und Regelungen auf einen bestimmten Sachverhalt Anwendung finden. Die gesetzliche Regelung muss mit hinreichender Bestimmtheit, d.h. so präzise formuliert sein („formulated with sufficient precision"), dass der Rechtshinhaber sein Verhalten nach ihr einrichten kann. Er muss - gegebenenfalls nach entsprechender Beratung mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können, welche Folgen ein bestimmtes Verhalten nach sich zieht. Auch hier gilt, dass der unbestimmte Wortlaut eines Gesetzes durch eine gefestigte Rechtsprechung konkretisiert sein kann.115 Da dem EGMR nicht die Überprüfung des nationalen Rechts als solches obliegt, ist die Frage, ob eine Beschlagnahme auf eine hinreichend bestimmte und ausreichend zugängliche gesetzliche Grundlage gestützt werden kann, in erster Linie von den nationalen Stellen zu beurteilen. Erfolgt eine Beschlagnahme im Zusammenhang mit dem Verdacht einer Straftat, beschränkt sich der EGMR darauf, ob das nationale Recht insgesamt korrekt angewendet worden ist („... law was wrongly applied", „no reason to suppose ... law was not correctly applied").116 Der nationale Gesetzgeber und die staatlichen Stellen besitzen bei der Beschlagnahme von Kunstgegenständen und Presseerzeugnissen einen gewissen, aber begrenzten Beurteilungsspielraum („certain margin of appreciation"). Die vom EGMR ausgeübte „europäische Kontrolle" erstreckt sich sowohl auf die Gesetzgebung als auch auf die Rechtsanwendung, selbst wenn es sich um Entscheidungen unabhängiger Gerichte handelt." 7 Höchst bedenklich ist jedoch, dass eine Beschlagnahme auch dann gesetzlich vorgesehen sein soll, wenn sie eindeutig nicht vom Wortlaut einer EingrifTsermächtigung gedeckt ist, jedoch eine geringere Eingriffsintensität besitzt als der dort ausdrücklich gestattete Eingriff und von den nationalen Gerichten als von dieser Vorschrift gedeckt angesehen wird. Sicherlich ist es aus rechtsstaatlicher Sicht zu tolerieren, wenn die nationale Rechtsprechung zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen wird. Es geht aber zu weit, einen wesensverschiedenen Eingriff auf eine Norm des geschriebenen Rechts zu stützen, mag dieser auch eine mildere Eingriffsintensität besitzen. In diesem Punkt hat der EGMR die Qualitätsanforderungen an die gesetzliche Grundlage des Art. 8 Abs. 2 zu niedrig angesetzt. Hier zeigt sich zugleich das Problem, dass er 115
116
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EGMR, Müller u.a. ./. Schweiz, Serie A Nr. 133, §§ 27, 29; Markt Intern Verlag GmbH u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 165, § 30 (§ 1 UWG); Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, §§ 50, 51 („contempt of court"); Chappel./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 152-A, §§ 52, 56. EGMR, Chorherr ./. Österreich, Serie A Nr. 266-B, § 25; Otto-Preminger-Institut./. Österreich, Serie A Nr. 295-A, § 45; Vereniging Weekblad Bluf! ./. Niederlande, Serie A Nr. 306-A, § 32. EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 100; Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, §§ 48, 49; Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, § 59; Müller u.a. ./. Schweiz, Serie A Nr. 133, § 32.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
das Verhältnis von geschriebenem und ungeschriebenem Recht bei der Suche nach einer gesetzlichen Grundlage noch nicht zufriedenstellend geklärt hat. Im Fall Müller ging es um die von einem Untersuchungsrichter angeordnete Entfernung und Beschlagnahme von drei öffentlich ausgestellten Gemälden mit sexuellen Darstellungen im September 1981. Der Maler sowie neun Veranstalter und Organisatoren der Ausstellung wurden im Februar 1982 wegen „Unzüchtiger Veröffentlichung" verurteilt. Das Gericht ordnete die Verwahrung der beschlagnahmten Bilder in einem Museum an. Es verfügte im Januar 1988 die Rückgabe der Bilder an den Maler, der die Bilder im März 1988 zurückerhielt. Sowohl in der Verurteilung - und deren Bestätigung durch zwei Rechtsmittelgerichte - als auch in der Beschlagnahme („confiscation") der Bilder sah der EGMR einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Malers und der Aussteller. Das den Bf. zur Last gelegte Delikt war durch zahlreiche Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts konkretisiert. Die vom nationalen Gericht herangezogene Vorschrift des Art. 204 III sStGB gestattete die Vernichtung unzüchtiger Gegenstände. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts konnten die Gerichte jede Maßnahme auf diese Norm stützen, die geeignet erschien, den Gegenstand der Öffentlichkeit zu entziehen. Aufgrund dieser zugänglichen und von den Untergerichten befolgten Rechtsprechung sah der EGMR die Verwahrung („confiscation") der beschlagnahmten Gemälde als gesetzlich und trotz ihrer Dauer von insgesamt sieben Jahren (9/1981 3/1988) für mit Art. 10 Abs. 2 vereinbar an." 8 Das Argument, der Künstler habe schon früher einen Antrag auf Aufhebung der Verwahrung stellen können, steht allerdings im Widerspruch zum Urteil Vendittelli, wo der EGMR eine Freigabe beschlagnahmter Gegenstände auch ohne einen entsprechenden Antrag des Beschuldigten für erforderlich hielt. Für die Beschlagnahme von Druckerzeugnissen oder Kunstwerken kommen von den in Art. 10 Abs. 2 genannten legitimen Gründen die Aufrechterhaltung der Ordung und die Verhütung von Straftaten in Betracht. Der Begriff Ordnung meint nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern auch die Ordnung innerhalb einer sozialen Gruppe. 119 Wenig aussagekräftig ist dagegen der Schutz der Moral, zumal sich kein einheitlicher europäischer Moralbegriff feststellen lässt. Wie der E G M R hervorhebt, wechseln die diesbezüglichen Vorstellungen nach Zeit und Ort. 120 Die Beschlagnahme - und Einziehung - eines Gegenstandes kann auch zum Schutz der Rechte anderer erfolgen. Namentlich kann es sich bei diesen Rechten um andere Konventionsgarantien handeln. Werden die Anhänger einer Religionsgemeinschaft mit einem bestimmten Gegenstand oder Druckerzeugnis in strafrechtlich relevanter Weise angegriffen, so kommt eine Beschlagnahme dieses Gegenstandes zum Schutz der von Art. 9 garantierten Rechte dieser Gemeinschaft in Be-
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Der E G M R spricht missverständlich von der „confiscation" der Bilder, meint aber die im Urteil getroffene Verwahrungsanordnung. Die Beschlagnahme der Bilder war bereits anlässlich ihrer Entfernung aus der Ausstellung erfolgt und 10 Tage später vom zuständigen Untersuchungsrichter bestätigt worden (§ 13). E G M R , Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 98 (Streitkräfte). E G M R , Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 48.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
139
tracht. 121 Den Schutz der nationalen Sicherheit kann die Beschlagnahme zum Ziel haben, wenn der betreffende Gegenstand geeignet ist, Sicherheitsinteressen eines Staates zu gefährden. Weil sich ein Staat vor Aktivitäten schützen muss, die darauf abzielen, die grundlegenden Werte einer demokratischen Gesellschaft zu untergraben, kann die Beschlagnahme und Einziehung der gesamten Druckausgabe einer Zeitung zum Schutz der nationalen Sicherheit erfolgen, wenn in dieser Ausgabe ein vertraulicher Bericht eines nationalen Geheimdienstes veröffentlicht werden soll. Das gilt auch, wenn der Bericht bereits im Wege eines Nachdrucks veröffentlicht worden ist. Die Entscheidung über die zulässige Dauer einer Beschlagnahme ist eine Frage ihrer Notwendigkeit, nicht aber ihres Eingriffszwecks.122 Schließlich müssen strafprozessuale Beschlagnahmen eines dem Schutz des Art. 10 unterliegenden Gegenstandes notwendig sein („necessary in a democratic society"). Das setzt - unter Berücksichtigung der Gesamtsituation des Falles - ein zwingendes soziales Bedürfnis für die Beschlagnahme voraus („pressing social need").123 Auch bei der Beurteilung der Notwendigkeit billigt der EGMR den Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum zu, solange die Gründe, die zur Rechtfertigung des Eingriffs herangezogen werden, relevant und ausreichend sind („relevant and sufficient") und gegen die von Art. 10 geschützten Rechte abgewogen werden („weighed against"). 124 Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Beschlagnahme muss zu dem mit ihr verfolgten Zweck verhältnismäßig sein („proportionate"), ihre Notwendigkeit muss überzeugend feststehen („convincingly established").125 Auch hier begegnet uns das Problem, ob die Formulierung „ whether the reasons adduced by the national authorities to justify it are relevant and sufficient" auf eine Begründungspflicht der staatlichen Stellen zum Zeitpunkt der Beschlagnahme hinausläuft. Bei der Beschlagnahme von Presseerzeugnissen und Kunstwerken müssen die Strafverfolgungsbehörden dem Umstand Rechnung tragen, dass der Gerichtshof das Recht der freien Meinungsäußerung als einen Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft ansieht, andererseits aber klargestellt hat, dass jeden, der sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausübt, eine von den Umständen des Einzelfalls abhängende Pflicht und Ver-
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EGMR, Kokkinakis ./. Griechenland, Serie A Nr. 260-A; Otto-Preminger-Institut ./. Österreich, Serie A Nr. 295-A; wie schwierig die Abwägung zwischen mehreren in der Konvention anerkannten Rechten sein kann, verdeutlichen die Ausführungen des Gerichtshof im Fall Otto-Preminger-Institut zur Gewährleistung der in Art. 9 garantierten Religionsfreiheit. EGMR, Vereniging Weekblad Bluf!./. Niederlande, Serie A Nr. 306-A, §§ 35-36. EGMR, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 48; Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, § 59; Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 45, §§ 51-52; Müller u.a. ./. Schweiz, Serie A Nr. 133, § 32. EGMR, Müller u.a. ./. Schweiz, Serie A Nr. 133, § 32; Markt Intern Verlag GmbH u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 165, § 33; Groppera./. Schweiz, Serie A Nr. 173, §§ 72-73; Autronic./. Schweiz, Serie Α Nr. 178, §61. EGMR, Otto-Preminger-Institut./. Österreich, Serie Α Nr. 295-A, § 50.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
antwortung trifft („duties and responsibilities").126 Zwischen der Beschlagnahme eines Gegenstandes und dem Ausgang des Strafverfahrens besteht eine gewisse Wechselwirkung. Bei der Abwägung, ob die Beschlagnahme notwendig ist, spielt auch die Art des Tatvorwurfs eine Rolle. Wird durch die Beschlagnahme eine andere Person in der Ausübung eines von der Konvention garantierten Rechts geschützt, so sind die beiden von der Konvention gewährten Freiheiten gegeneinander abzuwägen („weighing up the conflicting interests"). Im Rahmen dieser Abwägung besitzen die staatlichen Stellen und Gerichte wiederum einen Beurteilungsspielraum. Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung auf die Einhaltung dieses Spielraums („overstepped their margin of appreciation") sowie auf die angemessene Berücksichtigung des Schutzgehalts von Art. 10 durch die nationalen Gerichte („due regard").127 Sowohl Umfang als auch die Art und Weise einer Beschlagnahme müssen notwendig sein. Für die Zulässigkeit des Umfangs kann es von Bedeutung sein, ob die Beschlagnahme neben der Beweissicherung noch einen weiteren Zweck verfolgt. Im Fall Handyside beschlagnahmte die Polizei neben der Matrize sämtliche 1 200 Exemplare eines Schulbuchs. Die Bücher wurden nach der Verurteilung des Verlegers wegen eines Verstoßes gegen den Obscene Publications Act eingezogen und vernichtet. Der E G M R sah in der Beschlagnahme einen zum Schutz der Moral der Jugend notwendigen Eingriff in das Recht des Verlegers auf freie Meinungsäußerung. Die Beschlagnahme war sowohl zur Durchführung des Strafverfahrens, aber auch präventiv zur Verhinderung der bereits angekündigten Auslieferung der vorhandenen Exemplare erfolgt. Darauf ging der E G M R jedoch im einzelnen nicht näher ein. 128 Im Fall OttoPreminger-Institut (s.o.) dienten sowohl die Beschlagnahme als auch die Einziehung des Films dem Schutz der Rechte anderer vor einer Verletzung ihrer religiösen Gefühle. Bei Abwägung der Interessen hatten die nationalen Gerichte ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Aufgrund des Filminhalts sowie der Art und Weise seiner Ankündigung und Darbietung ging der E G M R von einem notwendigen Eingriff in die Meinungsfreiheit des Filminstituts aus.
Bei der Prüfung, ob es notwendig ist, die gesamte Druckauflage einer Zeitung zu beschlagnahmen und später aus dem Verkehr zu ziehen, um die Veröffentlichung eines staatssicherheitsrelevanten Berichtes zu verhindern, nimmt der EGMR keine genaue Prüfung der nationalen Strafvorschriften vor, sondern beschränkt sich auf die Frage, ob die in dem Bericht enthaltenen Informationen so sensibel sind, dass sie eine Untersagung seiner Verbreitung rechtfertigen. Dabei spielen das Alter des Berichtes zum Zeitpunkt der Beschlagnahme, sein Inhalt, die Ansicht des Geheimdienstes über das Fortbestehen seiner Vertraulichkeit, der dem Bericht zugewiesene Vertraulichkeitsgrad sowie sein Verwendungszweck eine Rolle. Grundsätzlich ist es nicht notwendig, die Veröffentlichung
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EGMR, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 49; Young, James u. Webster ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 44, § 63; Otto-Preminger-Institut./. Österreich, Serie A Nr. 295-A, § 49; vgl. auch: EGMR, Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, § 65. EGMR, Otto-Preminger-Institut./. Österreich, Serie Α Nr. 295-A, §§ 55-56. EGMR, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 43.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
141
bestimmter Informationen zu verhindern, die bereits veröffentlicht oder nicht mehr vertraulich sind („extent of publicity").129 Sehr problematisch ist die Bewertung der Notwendigkeit einer Beschlagnahme durch einen Vergleich mit der späteren Verurteilung. Im Urteil Müller entsprach die Verurteilung einem von Art. 10 Abs. 2 geforderten sozialen Bedürfnis. Dieselben Gründe trafen nach Ansicht des Gerichtshofs auch auf die Beschlagnahmeverfügung zu.130 Weil strafprozessuale Zwangsmaßnahmen regelmäßig der Sicherung von Beweismaterial für die spätere Verurteilung dienen, muss die Notwendigkeit der Beschlagnahme eines Presseerzeugnisses auch am konkreten Tatvorwurf gemessen werden. Dennoch darf man die Notwendigkeit einer beabsichtigten Beschlagnahme nicht immer im Vorgriff auf die spätere Verurteilung sehen, vor allem dann nicht, wenn die dabei anzustellende Prognose erst auf der Grundlage der zu beschlagnahmenden Gegenstände möglich ist.131 Dennoch, vor jeder Beschlagnahme eines von Art. 10 geschützten Gegenstandes ist zu prüfen, ob zwischen dem Tatverdacht und dem Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung ein angemessenes Verhältnis besteht. Aus der ex-posi-Perspektive, d.h. nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs, fallt es dem EGMR natürlich leicht, aus der Rechtmäßigkeit der Verurteilung auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme zu schließen. Für die Strafverfolgungsorgane gilt das aber nicht, weil sie ex-ante über die Notwendigkeit einer Beschlagnahme zu entscheiden haben. f)
Schutz journalistischer
Quellen
Besonders problematisch ist die Beschlagnahme von Gegenständen, die als journalistische Quellen anzusehen sind oder Rückschlüsse auf derartige Quellen zulassen. Per se steht Art. 8 einer Durchsuchung von Zeitungsredaktionen oder Medienanstalten nicht entgegen. Um so bedauerlicher ist, dass sich der EGMR noch nicht explizit zum Schutz journalistischer Quellen im Rahmen strafprozessualer Durchsuchungen und Beschlagnahmen äußern konnte. Anhaltspunkte dafür, nach welchen Kriterien die Rechtmäßigkeit einer Beschlagnahme presserechtlich relevanter Informationen zulässig ist, liefert das Urteil Goodwin. Dort ging es um die Pflicht eines Journalisten zur Herausgabe von Informationen über eine Firma, deren vertrauliches und geheimes Material ihm zugespielt worden war. Die Entscheidung betraf die Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Verfügung. Sie hat damit keinen strafprozessualen Bezug, lässt aber erkennen, welchen besonderen Schutz der Gerichtshof für die Pressefreiheit im Allgemeinen und journalistische Quellen im Besonderen verlangt.132 Weil der Schutz journalistischer Quellen
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130 131 132
E G M R , Vereniging Weekblad Bluf!./. Niederlande, Serie A Nr. 306-A, §§ 41,44-45 (Beschlagnahme einer Zeitungsausgabe, in der ein Dokument des niederländischen Geheimdienstes veröffentlicht werden sollte); vgl. auch: Weber ./. Schweiz, Serie A Nr. 177, §49; Observer u. Guardian ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 216, §§ 66-70. E G M R , Müller u.a../. Schweiz, Serie A Nr. 133, § 42. Vgl. hierzu: E G M R , Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 52. E G M R , Jersild ./. Dänemark, Serie A Nr. 298, § 31 („safeguards to be afforded to the press are of particular importance").
142
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
nach Ansicht des Gerichtshofs eine grundlegende Voraussetzung für die Pressefreiheit ist, muss für die Pflicht zur Preisgabe einer journalistischen Quelle ein überragendes öffentliches Interesse bestehen („overriding requirement in the public interest"). Der E G M R legt damit höhere Maßstäbe an als bei der Beschlagnahme von Druckerzeugnissen. Die Umstände, die für den besonderen Schutz derartiger Quellen sprechen - vor allem, dass die Presse für die exakte und verlässliche Information der Öffentlichkeit auf die Unterstützung aus derartigen Quellen angewiesen ist - dürften bei der Beschlagnahme von Schriftstücken oder sonstigen Informationsträgern, die Rückschlüsse auf die jeweilige Quelle zulassen, ebenfalls gelten. Der den Vertragsstaaten zustehende Beurteilungsspielraum wird vom öffentlichen Interesse an der Sicherung und Aufrechterhaltung einer freien Presse begrenzt („interest will weigh heavily in the balance"). Welche sorgfältige Kontrolle der Gerichtshof dieser Problematik widmet, zeigt sich in der Formulierung „limitations on the confidentiality of journalistic sources call for the most careful scrutiny by the Court".m Berücksichtigt man, dass es im Fall Goodwin um die Preisgabe der Quelle gegenüber einer Firma ging, die unmittelbar von der journalistischen Tätigkeit betroffen war, also ein direktes privates und durchaus anerkennenswertes Interesse an der Preisgabe der Quelle hatte, darf der Schutz journalistischer Quellen im Strafverfahren nicht mit dem Argument eingeschränkt werden, die Beschlagnahme erfolge im öffentlichen Interesse. g)
Beschlagnahme
von
Krankenakten
Mit der Beschlagnahme von Krankenakten hatte sich der Gerichtshof im Urteil Ζ zu befassen. D a solche Akten fast immer Daten enthalten, die Aufschluss über den Gesundheitszustand oder die körperlichen Eigenschaften einer Person geben, fallen sie unter den Schutz des Privatlebens. Eine auf Anordnung der Strafverfolgungsbehörden durchgeführte Beschlagnahme von Krankenakten, Laborberichten und ärztlichen Gutachten, die eine HIV-Infektion eines Zeugen betreffen und Aufschluss über die Kenntnis des Beschuldigten von seiner eigenen HIV-Infektion geben sollen, sowie der anschließende gerichtliche Beschluss, diese Dokumente zur Verfahrensakte zu nehmen, stellen daher Eingriffe in das von Art. 8 Abs. 1 geschützte Recht des Zeugen auf Achtung seines Privatlebens dar. Handelt es sich bei dem Zeugen um den Ehegatten des Beschuldigten ist auch das Familienleben betroffen. 134 Wegen der besonderen Bedeutung, die der Gerichtshof dem Schutz persönlicher Daten beimisst, ist ein derartiger Eingriff nur dann mit Art. 8 Abs. 2 vereinbar, wenn er einem legitimen Zweck dient und für ihn relevante und ausreichende Gründe vorliegen, deren Bedeutung das Interesse des Zeugen/ Ehegatten an der Geheimhaltung seiner Daten überwiegt. 135 Deutlicher als sonst hat der E G M R im Fall Ζ den von Art. 8 geforderten verfahrensrechtlichen Schutz betont. Auch 133 134 135
EGMR, Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-11, §§ 39-40. EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, § 71. EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, § 110 („relevant and sufficient reasons, the weight of which was such as to override the applicant's interest in the information in question not being communicated").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
143
ohne eine vorherige Anhörung des Zeugen genügt das Verfahren dem Art. 8, wenn sich beispielsweise aus einem in der Hauptverhandlung verlesenen Brief ergibt, dass der Zeuge nicht nur der Vernehmung seiner ihn behandelnden Ärzte, sondern auch der Beschlagnahme seiner Krankenakten widerspricht, sein Rechtsvertreter auf die gegen die Verwertung der Daten sprechenden Aspekte hinweist und die Beschlagnahme gerichtlich anfechtbar ist.136 Der Umstand, dass Krankenunterlagen eines im Verfahren gegen den Beschuldigten zeugnisverweigerungsberechtigen Ehegatten ohne eine vorherige richterliche Genehmigung beschlagnahmt werden, führt nicht zu einem Verstoß gegen Art. 8, wenn der mit der Beschlagnahme verfolgte Zweck ein gewichtiges öffentliches Interesse betrifft („weighty public interests"), die Beschlagnahme nur unter engen Voraussetzungen erfolgen darf und zugleich Beschränkungen bzw. Vorkehrungen gegen einen eventuellen Missbrauch unterliegt. 137 Es spielt hier eine wichtige Rolle, wenn die sich aus den beschlagnahmten Unterlagen ergebenden Daten in ein unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindendes Strafverfahren eingeführt werden („submitted in the context of proceedings held in camera") und die gesamte Verfahrensakte vertraulich behandelt wird („treated as confidential"). Auch hier kommt es auf eine Gesamtbetrachtung der gesetzlichen Regelung und der Art und Weise an, wie die Beschlagnahme der Krankendaten erfolgt. Der E G M R stellt hier eine interessante Verbindung zwischen den rechtlichen Voraussetzungen für die Beschlagnahme und der Aussageberechtigung bzw. -Verpflichtung der den Zeugen behandelnden Ärzte her. Demzufolge ist die vorherige richterliche Genehmigung der Beschlagnahme von Krankenunterlagen - in einem Ermittlungsverfahren - jedenfalls dann entbehrlich, wenn das nationale Recht die Beschlagnahme nur unter den gleichen Voraussetzungen erlaubt, unter denen auch die Ärzte des Zeugen berechtigt oder verpflichtet sind, zu den in den Akten enthaltenen Angaben auszusagen („ the legal conditions for the seizure were thus essentially the same as those for the orders on the doctors to give evidence", that the applicant's doctors would be „entitled or obliged to give evidence in the pre-trial investigation about the matter contained in the document [s]"). Ein Verstoß gegen Art. 8 liegt deshalb nicht vor, wenn das Gericht bereits vorder Beschlagnahme entschieden hat, dass die Ärzte des Ehegatten als Zeugen aussagen sollen und nach der Beschlagnahme sämtliche beschlagnahmten Krankenunterlagen zur Akte nimmt. Dieser Ansatz ist aus zwei Gründen problematisch. Die Kopplung der Zulässigkeit der Beschlagnahme an den ärztlichen Zeugenbeweis suggeriert, dass der Gerichtshof eine richterliche Anordnung für die Beschlagnahme deshalb für entbehrlich hält, weil diese wegen der Aussagebereitschaft bzw. Aussageverpflichtung der Ärzte keinen zusätzlichen Schaden anrichten kann. An anderer Stelle hat der E G M R dagegen mehrfach betont, dass ein Konventionsverstoß gerade nicht vom Eintritt eines Schadens beim
136 137
EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, §§ 49, 101 („challenge the seizure before ... Court"). EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, §§ 106-107 („the fact that the seizure was ordered by the prosecution and not by a court cannot of itself give rise to any misgivings under Article 8", „substantive conditions on which the material in question could be seized were equally restrictive", „subject to limitations and safeguards against abuse").
144
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Betroffenen abhängt. Im übrigen kann der in der Beschlagnahme der Krankenakten liegende Eingriff in das Privatleben deutlich über die mit der Aussage der Ärzte verbundenen Folgen hinausgehen, erlaubt doch die schriftliche Dokumentation eines Krankheitsbildes gerade - wenn sie zeitlich vor der Aussage der Ärzte vorliegt - die Überprüfung der Vollständigkeit der von den Ärzten gemachten Angaben. Zudem kann sie Grundlage für entsprechende Vorhalte während der Vernehmung sein. Bei der Frage, in welchem Umfang Krankenunterlagen eines Zeugen beschlagnahmt werden dürfen, billigt der EGMR den Strafbehörden einen erstaunlich weiten Beurteilungsspielraum zu.138 Auch die Gefahr der Umgehung eines auf nationaler Ebene bestehenden Zeugnisverweigerungsrechts durch die Beschlagnahme sieht der Gerichtshof offensichtlich nicht. Im Gegenteil, die Entscheidungsgründe im Fall Ζ lassen vielmehr den Schluss zu, dass der EGMR die Weigerung des Zeugen, in der Hauptverhandlung Angaben über seinen Gesundheitszustand zu machen, als einen die Beschlagnahme von Krankenunterlagen rechtfertigenden Umstand ansieht.139 Eine lediglich der Ausforschung eines Zeugen dienende Beschlagnahme von Krankenakten gegen den Willen des Zeugen und des ihn behandelnden Arztes sieht der B G H als einen unverhältnismäßigen Eingriff in einen besonders sensiblen Bereich der Privatsphäre an.' 4 0
h)
Beschlagnahmeverbote
Beschlagnahmeverbote - wie sie § 97 StPO ausdrücklich normiert - enthält die Konvention dagegen nicht. Die Beschlagnahmefreiheit eines Gegenstandes kann sich aber über die Eingriffs- und Rechtfertigungsklauseln der Art. 8 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 2 ergeben. Vor allem die Schranke der Notwendigkeit kann zu einem Eingriffsverbot erstarken, wenn für die Beschlagnahme keine relevanten und ausreichenden, in einigen Fällen sogar überwiegende Gründe sprechen. Das gilt bei Gegenständen der Privatsphäre (Tagebücher, Briefe, Krankenakten, Daten) ebenso wie für Gegenstände, die dem Schutzbereich der Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 10) zuzuordnen sind (Zeitungen j o u r n a listische Quellen, Flugblätter). Für die Unterlagen eines Verteidigers kann sich ein Beschlagnahmeverbot auch aus dem Verkehrs- und Kontaktrecht des Beschuldigten mit seinem Verteidiger oder allgemein aus dem Gebot einer effektiven und wirksamen Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3(b) und (c) ergeben.141
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EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, §§ 108-109. Der EGMR zieht sich auf den Standpunkt zurück, „ the expediency of the adducing and admission of evidence by national authorities in domestic proceedings is primarily a matter to be assessed by them and that it is normally not within its province to substitute its views for theirs in this respect". EGMR, Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1, § 106. BGH, StV 1997, 622f. Ob eine dem Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO entsprechende allgemeine Freistellung von der Beschlagnahme nach § 97 StPO auch bei Krankenunterlagen in Betracht kommt, die nicht den Beschuldigten, sondern einen Zeugen betreffen, hat er dagegen offen gelassen. Zum Beschlagnahmeverbot von Verteidigerunterlagen: LG Fulda, NJW 2000, 1508.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
4.
Telefonüberwachung
a)
Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8
145
Ein strafprozessual besonders sensibler Bereich ist die Überwachung von Telefongesprächen. Umso erstaunlicher ist, dass die Konvention keine spezielle Regelung zur Achtung des Fernmeldegeheimnisses enthält. Ausdrücklich garantiert Art. 8 Abs. 1 lediglich einen Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz. Der EGMR legt jedoch die Begriffe Privatleben und Korrespondenz weit aus, so dass vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 auch Telefongespräche erfasst werden, unabhängig davon, ob die Gespräche von einem Privatanschluss („made from the home"), von oder zu einem geschäftlich genutzten Anschluss („calls made from or to business premises") oder von einer Anwaltskanzlei aus geführt werden.142 Telefongespräche zwischen Mitgliedern einer Familie fallen zudem unter den Schutz des Familienlebens.143 Telefonate, die von einem bzw. über ein behördeninternes Telekommunikationsnetz geführt werden, sind jedenfalls dann vom Schutz des Art. 8 Abs. 1 erfasst, wenn den Nutzern keinerlei Warnung gegeben wird, dass die Gespräche möglicherweise einer Überwachung unterliegen, so dass über dieses Netz in der verständlichen Erwartung ihrer Vertraulichkeit telefoniert wird („reasonable expectation of privacy"). Der Nutzer eines behördeninternen Telekommunikationsnetzes kann eine Vertraulichkeit seiner Telefonate erwarten, wenn er ein Büro zur alleinigen Verfügung hat („sole use"), in dem sich ein Telefon befindet, das speziell für den privaten Gebrauch bestimmt ist, und ihm vom Behördenleiter die Zusicherung gegeben worden ist, dass er die Bürotelefone im Rahmen eines seine dienstliche Beförderung betreffenden gerichtlichen Verfahrens benutzen darf.144 Darüber hinaus hat der EGMR erwogen, in der geheimen Überwachung eines Telefonanschlusses einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Wohnung zu sehen.145 Telefongespräche unterliegen damit einem nahezu lückenlosen Schutz durch die Konvention. Jedes staatlich veranlasste Abhören eines Telefongesprächs stellt einen Eingriff in den von Art. 8 geschützten Telefonverkehr dar.146 In ihrem Privatleben betroffen sind auch 142
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EGMR, Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 41; Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 64; Huvig./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 25; Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §§ 44, 52; Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, § 50; Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, § 21; Niemietz ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-B, §§ 29-33. EGMR, Margareta u. Roger Andersson ./. Schweden, Serie A Nr. 226-A, § 72; siehe auch: EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 41. EGMR, Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §§ 44-46 („been given the assurance ... that she could use her office telephones for the purposes of her sex-discrimination case"). EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 41 - der EGMR hat die Frage aber ausdrücklich nicht entschieden. EGMR, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 64 (ministerielle Ermächtigung); Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, § 26; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 25; Lüdi ./. Schweiz, Serie A Nr. 238, § 39; Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, § 53; Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, § 46; zum Nachweis einer Telefonüberwachung im Verfahren vor dem EGMR: Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, § 59.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Personen, die das abgehörte Gespräch von der Wohnung einer anderen Person aus führen, deren Telefonanschluss überwacht wird. Im Fall Kruslin hatte ein Untersuchungsrichter die Überwachung des privaten Telefonanschlusses eines Tatverdächtigen angeordnet. Der Bf. hielt sich zum Zeitpunkt der Telefonüberwachung bei diesem Tatverdächtigen auf und benutzte gelegentlich dessen Telefon. Auf diese Weise wurden mehrere seiner Gespräche aufgezeichnet. In einem Gespräch hatte der Bf. Einzelheiten zu einer anderen Tat erwähnt. Daraufhin wurden gegen ihn strafrechtliche Untersuchungen eingeleitet. Der EGMR bejahte einen Eingriff in die Rechte des Bf. auf Achtung seines Privatlebens und seiner Korrespondenz. Betroffen von einer Telefonüberwachung ist jeder Teilnehmer eines überwachten Gesprächs. Das gilt auch für Personen, die an dem Telefonat von einem Anschluss aus teilnehmen, der selbst nicht der Überwachung unterliegt. 147 Um einen „behördlichen" Eingriff handelt es sich auch, wenn Telefongespräche abgehört werden, die ein Mitarbeiter einer Behörde über ein behördeninternes Kommunikationssystem führt, um so an Informationen zu gelangen, die im Rahmen einer von diesem Mitarbeiter gegen die Behörde erhobenen Diskriminierungsklage verwandt werden sollen.148 Die Art und Weise, in der die im Rahmen einer Telefonüberwachung aufgezeichneten Gespräche verwertet werden, lässt den Eingriffscharakter der Überwachung unberührt. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 liegt auch dann vor, wenn keines der aufgezeichneten Gespräche an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wird, sämtliche Aufzeichnungen vernichtet und vorher zu keinem anderen Zweck genutzt werden. 149 Eine Telefonüberwachung kann schon auf der Ebene der Beweiserhebung - also unabhängig von der Verwertung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse - aufgrund der Art und Weise ihrer Durchführung gegen die Konvention verstoßen. Von der Statuierung eines Beweiserhebungsverbotes hat der E G M R aber bisher abgesehen. Das mag damit zusammenhängen, dass er bei der Bewertung der vor den nationalen Behörden und Gerichten erhobenen Beweise insgesamt eine deutliche Zurückhaltung zeigt und immer wieder betont, dass die Zulässigkeit und Erhebung der Beweise in erster Linie den nationalen Stellen obliegt. Die Ausführungen im Urteil Kopp gehen aber - zumindest nach deutschem Rechtsverständnis - eindeutig in die Richtung eines Beweiserhebungsverbotes.150 Dafür, dass der E G M R eine Trennung zwischen der Durchführung der Telefonüberwachung und der Verwertung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse vornimmt, spricht auch die Entscheidung Schenk, in der es um die Verwertung des von einer Privatperson aufgezeichneten Telefongesprächs ging. Hier prüfte der Gerichtshof allein Art. 6,
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149 150
EGMR, Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, § 21. EGMR, Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, § 48 („with the primary aim of gathering material to assist in the defence of the sex-discrimination proceedings"). EGMR, Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 51-53. Vgl. zum Ansatz des EGMR in Richtung eines Beweiserhebungsverbots: Kühne StV 98, 683, 686.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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obwohl er als Maßstab für die Verwertbarkeit der aus der Telefonüberwachung gewonnenen Erkenntnisse auch Art. 8 hätte heranziehen können. 151 Ein behördlicher Eingriff in die Rechte des Art. 8 liegt auch dann vor, wenn die Gespräche nicht von den Strafverfolgungsbehörden, sondern von einer Telekommunikationsbehörde oder von Mitarbeitern einer Telefongesellschaft abgehört werden. 152 Erfolgt der unmittelbare Zugriff auf das Gespräch oder die entsprechenden Daten durch Mitarbeiter eines privaten Telekommunikationsunternehmens, ist ein behördlicher Eingriff jedenfalls dann anzunehmen, wenn staatliche Stellen einen wesentlichen Beitrag hierfür geleistet haben, was regelmäßig der Fall ist, wenn das Abhören des Gesprächs oder die Weitergabe der Daten durch staatliche Stellen veranlasst ist. Unabhängig von der konkreten Überwachung eines einzelnen Telefongesprächs kann schon die bloße Existenz einer nationalen Gesetzeslage und die auf ihr beruhende Praxis, die eine geheime Überwachung des Telefonverkehrs erlaubt und etabliert hat, einen Eingriff in die Ausübung der einer Person durch Art. 8 gewährten Rechte darstellen, wenn diese Person Gefahr läuft, von dieser Praxis unmittelbar erfasst zu werden („potentially liable to be directly affected by this practice"). Hinter einer konkreten Überwachungsmaßnahme tritt der Eingriff durch die gesetzliche Regelung regelmäßig zurück. 153 Dennoch ist dieser auf die abstrakte Gesetzeslage abstellende Ansatz zu begrüßen, weil er den Druck auf die Vertragsstaaten erhöht, das nationale Recht zur Telefonüberwachung den Straßburger Vorgaben anzupassen. Schon im Fall Klass hatte der E G M R zu entscheiden, o b eine Gesetzeslage in die von Art. 8 Abs. 1 geschützten Rechte eingreift, wenn sie zu einer geheimen Überwachung von Korrespondenz und Telefonverkehr ermächtigt, ohne dass die betroffenen Personen in Erfahrung bringen können, o b eine derartige Maßnahme auf sie angewendet worden ist. Der E G M R entschied, „in the mere existence of the legislation itself there is involved, for all those to whom the legislation could be applied, a menace of surveillance; this menace necessarily strikes at freedom of communication between users of the postal and telecommunication services and thereby constitutes an ,interference by a public authority' with the exercise of the applicants' right to respect for private and family life and for correspondence".154
Auch die Weitergabe der von einer Telefongesellschaft erstellten Einzelverbindungsnachweise an die Strafverfolgungsbehörden („Metering") ohne Zustimmung des Teilnehmers stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Telefonverkehrs dar.
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E G M R , Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, § 53; hinsichtlich der Vereinbarkeit der Herstellung der Tonbandaufnahme mit Art. 8 hatte die Kommission den innerstaatlichen Rechtsweg nicht als erschöpft angesehen. E G M R , Valenzuela Contreras./. Spanien, Reports 1998-V, §§ 14,46-47. E G M R , Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, §§ 64, 86 („the existence ... of laws and practices which permit and establish a system for effecting secret surveillance of communications amounted in itself to an interference"); vgl. auch: E G M R , Halford./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §§ 56-57; zum eingeschränkten Schutz der Privatsphäre im englischen Recht: von Gerlach JZ 1998,741,746. E G M R , Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 41.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Im Fall Malone ging es um die in den 70er Jahren im Vereinigten Königreich von der Postverwaltung bzw. später von der British Telecommunications durchgeführte „Registrierung", bei der unter Verwendung einer Registrier- und Druckautomatik die gewählten Nummern, sowie die Uhrzeit und die Dauer des Gesprächs registriert wurden. Dabei bediente sich das britische Telekommunikationsunternehmen an sich selbst gerichteter Signale. Die Gespräche wurden bei diesem Vorgang weder überwacht noch in irgendeiner Weise abgehört. Die Strafverfolgungsbehörden konnten keine Erstellung von Einzelverbindungsnachweisen anordnen, jedoch die Postverwaltung zur Herausgabe bereits bestehender Verzeichnisse als Beweismittel zwingen. Üblicherweise gab die Postverwaltung die von ihr erstellten Einzelverbindungsnachweise an die Polizei heraus, wenn die aus den Aufstellungen hervorgehenden Informationen für die Ermittlungen in schweren Verbrechen („serious crimes") notwendig und nicht aus anderen Quellen zugänglich waren. Nach Ansicht des EGMR durfte das Telekommunikationsunternehmen die bei der „Registrierung" verzeichneten Informationen zu Recht erheben, um die Telefongebühren zu berechnen oder einen Missbrauch des Telekommunikationsnetzes aufzuspüren. In der Weitergabe der Aufstellung an die Polizei sah der EGMR einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Telefonverkehrs der betroffenen Personen, weil die in den Verzeichnissen enthaltenen Informationen - insbesondere die angewählten Nummern - Bestandteil des Telefongesprächs waren. Den der Hehlerei verdächtigen Bf. sah der EGMR als Opfer eines Eingriffs in Art. 8 an, unabhängig davon, ob die Polizei eine Registrierung seiner Telefonate veranlasst hatte oder die bei ihm durchgeführten Durchsuchungen auf Informationen beruhten, die mittels einer Registrierung erlangt worden waren. Auch mit der Problematik einer „Hörfalle" hatte sich der Gerichtshof bereits zu befassen. In der Entscheidung Α ging es um das Problem, ob bei der Beteiligung von Privatpersonen an der Überwachung und Aufzeichnung eines Telefongesprächs von einem behördlichen Eingriff iSv Art. 8 Abs. 2 ausgegangen werden kann. Geht das Abhören bzw. die Aufzeichnung eines Telefongesprächs durch die Polizei auf die Initiative einer Privatperson zurück, die sich an die Polizei wendet und anbietet, eine andere Person zum Zwecke der Aufzeichnung des Gesprächs anzurufen, liegt ein behördlicher Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung der Korrespondenz der angerufenen Person vor, wenn die Polizei und der Anrufer beim Abhören und Aufzeichnen des Gesprächs eng, fast untrennbar zusammenarbeiten („hardly be dissociated from each other") und die Polizei einen entscheidenden Beitrag zur Ausführung leistet („crucial contribution to executing the scheme"). Als einen solchen entscheidenden Beitrag hat es der E G M R angesehen, wenn die Polizei der Privatperson zur Aufzeichnung des Gesprächs ein Büro, ein Telefon und einen Kassettenrekorder zur Verfügung stellt („by making available for a short time his office, his telephone and his tape recorder"). In diesem Fall liegt ein behördlicher Eingriff auch dann vor, wenn die Privatperson bei der Aufzeichnung des Gesprächs insgesamt eine bedeutende Rolle spielt - indem sie den Plan zur Aufzeichnung des Gesprächs entwirft, in die Tat umsetzt und die Polizei aufsucht, um bei der anderen Person anzurufen („played a decisive role in conceiving and putting into effect the plan ..."). Auf den Inhalt des privat veranlassten Gesprächs oder das Einverständnis des Anrufers zur Aufzeichnung des Gesprächs als mögliche, gegen
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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die Annahme eines Eingriffs in das Recht auf Achtung der Korrespondenz sprechende Gründe, ist der E G M R nicht eingegangen. Im Fall A war eine Privatperson (G) bei der Polizei erschienen und hatte einen hochrangigen Abteilungsleiter (L) darüber informiert, dass die Bf. ihn angeheuert habe, eine dritte Person zu töten. G bot an, die Bf. zu Hause anzurufen, um die Ausführung des Verbrechens zu besprechen und das Gespräch aufzuzeichnen. L ging auf dieses Angebot ein. G rief vom Büro des L bei der Bf. an und veranlasste diese durch gezielte Fragen dazu, über das geplante Verbrechen zu sprechen. L zeichnete das Gespräch mit einem Kassettenrekorder auf und informierte seine Vorgesetzen über das bevorstehende Verbrechen, ohne dabei jedoch seinen Informanten und die Existenz der Kassette aufzudecken. Etwa ein Jahr später wurden die Bf. und fünf andere Personen - darunter G - von einem Untersuchungsrichter u.a. des versuchten Mordes beschuldigt. Das Verfahren gegen alle Tatverdächtigen wurde später aus Mangel an Beweisen eingestellt. Obwohl die Initiative zur Aufzeichnung des Gesprächs von G ausgegangen war und dieser eine bedeutende Rolle bei der Aktion gespielt hatte, bejahte der EGMR einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihrer Korrespondenz, weil die Aufzeichnung des Gesprächs auf einem Zusammenwirken von G und L beruhte und L als Vertreter einer staatlichen Behörde einen bedeutenden Beitrag zur Ausführung des Planes geleistet hatte, indem er für kurze Zeit sein Büro, sein Telefon und seinen Kassettenrekorder zur Verfügung gestellt hatte. Obwohl L weder seine Vorgesetzen über sein Handeln informiert noch die Genehmigung eines Untersuchungsrichters eingeholt hatte, sah der EGMR die staatlichen Stellen durch das Handeln des L in Ausübung seines Amtes als in einem so großen Maße an der Aktion beteiligt an, dass von einer staatlichen Verantwortlichkeit auszugehen war.155 Die Anforderungen an den entscheidenden Beitrag der Strafverfolgungsbehörden dürften mittlerweile eher niedriger einzustufen sein, da den staatlichen Behörden nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des E G M R positive Handlungspflichten zum Schutz des Privatlebens obliegen („positive obligations inherent in effective „respect" for private or family life"). 156 Auch auf dem Gebiet des Telefonverkehrs ist eine staatliche Schutzpflicht zur Abwehr privater Eingriffe in die von Art. 8 geschützten Rechte denkbar. Wegen des hohen Ranges, den die Achtung des Privatlebens in der Straßburger Rechtsprechung einnimmt, ist es sogar wahrscheinlich, dass der E G M R unter bestimmten Voraussetzungen auch das Abhören bzw. die Aufzeichnung eines Telefongesprächs durch eine Privatperson ohne jede Beteiligung einer staatlichen Stelle als behördlichen Eingriff iSv Art. 8 Abs. 2 ansehen wird, soweit der ausschließlich privat durchgeführte Zugriff auf das Gespräch in irgendeiner Form staatlich veranlasst ist.
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EGMR, A ./. Frankreich, Serie A Nr. 277-B, §§ 7-9, 14, 36-37 („acting in the performance of his duties as a high-ranking police officer ... it follows that the public authorities were involved to such an extent that the State's responsibility under the Convention was engaged"). Ob daneben noch ein Eingriff in das Privatleben der Bf. vorlag, hat der EGMR ausdrücklich dahinstehen lassen. Vgl. etwa: EGMR, Kroon ./. Niederlande, Serie A Nr. 297-C, § 31; Lopez Ostra ./. Spanien, Serie A Nr. 303-C, § 51; Ahmut ./. Niederlande, Reports 1996-VI, § 63; McGinley u. Egan ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-III, § 98.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Mit einer derartigen Problematik war der EGMR im Fall Schenk befasst. Dort hatte ein Gericht die von einer Privatperson hergestellte Tonbandaufnahme eines Telefongesprächs zum Nachteil des Bf. verwertet. Hier hätte der EGMR bereits zu den Voraussetzungen eines behördlichen Eingriffs iSv Art. 8 Abs. 2 Stellung nehmen können. Die Aufnahme war zwar nicht direkt von den Strafverfolgungsbehörden veranlasst worden, jedoch hatte die Privatperson immerhin um Anweisung gebeten, wie bei einem Kontakt mit dem Bf. zu verfahren sei.157 (1) Gesetzliche Grundlage Die Anordnung und Durchführung einer Telefonüberwachung muss gemäß Art. 8 Abs. 2 gesetzlich vorgesehen sein, eines der dort genannten legitimen Ziele verfolgen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Gesetzlich vorgesehen ist sie, wenn sie eine Grundlage im nationalen Recht besitzt („some basis in domestic law").158 Auch hier versteht der E G M R den Begriff Gesetz nicht formell, sondern materiell. Er meint sowohl Normen unter dem Rang von Parlamentsgesetzen als auch ungeschriebenes Recht („both enactments of lower rank than statutes and unwritten law"). Das gilt nicht nur für das ungeschriebene Recht in den vom common-law geprägten Staaten, sondern auch in den kontinentaleuropäischen Ländern, in denen die Rechtsprechung („case-law") ebenfalls eine große Rolle spielt. Nicht zuletzt wegen der Wechselbeziehungen zwischen dem positiven Recht und gerichtlichen Urteilen behandelt der E G M R den anglo-amerikanischen und kontinentaleuropäischen Rechtskreis gleich. Gesetze und Urteile nationaler Gerichte stellen deshalb keine konträren Pole dar. Im Gegenteil, die Rechtsprechung kann für die Auslegung der geschriebenen Gesetze eines Staates herangezogen werden. Unter gesetzlich versteht der Gerichtshof die geschriebenen Gesetze in der Form, wie sie die nationalen Gerichte auf neue Entwicklungen der Praxis auslegen, und zwar nicht nur in einer „sphere covered by the written law". Ob eine Telefonüberwachung eine ausreichende Rechtsgrundlage im nationalen Recht hat, kann auch vom Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung („settled case-law of this kind") und den in der nationalen Rechtswissenschaft geäußerten Ansichten abhängen („opinions of academic writers"). 159 Eine bloße Rechtspraxis, deren Ausführung keiner Kontrolle durch Gesetze oder Rechtsprechung unterliegt, genügt dagegen nicht den gesetzlichen Anforderungen der E M R K . Die Suche nach einer Rechtsgrundlage für eine Telefonüberwachung ist in erster Linie die Aufgabe der nationalen Behörden und Gerichte. Ist eine Telefonüberwachung nach deren Ansicht von einer bestimmten Vorschrift oder Regelung gedeckt, so stellt der
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E G M R , Schenk./. Schweiz, Serie A Nr. 140, §§ 12, 53; zur Vereinbarkeit der Herstellung der Tonbandaufnahme mit Art. 8 konnte der E G M R keine Stellung nehmen, weil die E K M R diesbezüglich den innerstaatlichen Rechtsweg nicht als erschöpft angesehen hatte. E G M R , Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, § 27; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 26; Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §49; Valenzuela Contreras./. Spanien, Reports 1998-V, § 46; Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, § 23. E G M R , Kruslin ./. Frankreich, Serie Α Nr. 176-A, § 29; Huvig./. Frankreich, Serie Α Nr. 176-B, § 28; Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, § 60.
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E G M R dies grundsätzlich nicht in Frage.160 Eine Grenze ist aber dort erreicht, wo eine Telefonüberwachung ganz offensichtlich im nationalen Recht keine Grundlage hat oder gegen innerstaatliches Recht verstößt. Ist dies der Fall, so liegt bereits aus diesem Grund ein Verstoß gegen Art. 8 vor. Im Fall Α hatte die Aufzeichnung des von einer Privatperson geführten Gesprächs durch die Polizei keine Grundlage im nationalen Recht („no basis in domestic law"). Sie verstieß gegen Art. 8, da sie außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens und ohne die nach französischem Recht erforderliche Erlaubnis eines Untersuchungsrichters durchgeführt worden war.161 Gesetzlich vorgesehen verlangt nicht nur eine Vereinbarkeit der Telefonüberwachung mit dem nationalen Recht („compliance with/merely refer back to domestic law"). Die gesetzliche Grundlage muss außerdem rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen und eine gewisse Qualität besitzen.162 Der Gerichtshof erkennt aber an, dass die Anforderungen der Konvention an das innerstaatliche Recht - insbesondere an die Vorhersehbarkeit der Folgen einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung - bei einer Überwachung der Kommunikation einer Person zum Zwecke polizeilicher oder gerichtlicher Ermittlungen nicht dieselben sein können wie bei anderen staatlichen Eingriffen in die Rechte des Art. 8. Die Vorhersehbarkeit eines Eingriffs und seiner Folgen auf dem Gebiet geheimer Kommunikationsüberwachung kann nicht bedeuten, dass eine Person vorhersehen können muss, ob und wann ihr Telefonverkehr von Behörden überwacht wird, damit sie ihr Verhalten danach ausrichten kann. 163 Andernfalls wäre eine geheime Kommunikationsüberwachung für die Strafverfolgung nicht nur ineffektiv, sondern praktisch wertlos. Wegen der fehlenden öffentlichen Kontrolle geheimer Überwachungs- oder Abhörmaßnahmen und der dadurch bedingten Gefahr einer Befugnisüberschreitung müssen im nationalen Recht aber Schutzvorkehrungen gegen willkürliche und missbräuchliche Eingriffe in die von Art. 8 Abs. 1 garantierten Rechte vorhanden sein („measure of protection", „adequate safeguards against various possible abuses"). Deshalb muss die gesetzliche Regelung der Telefonüberwachung für die von ihr betroffenen Personen zugänglich („accessible to the person concerned") und so ausreichend präzise formuliert sein, dass diese - notfalls nach Einholung entsprechender Beratung - die mit dem Eingriff verbundenen Folgen angemessen erkennen können („formulated with sufficient precision ... to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the con-
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E G M R , Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, §§ 29, 35; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, §§ 28, 34; Kopp./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 5 9 - 6 0 („it is ... not for the Court to express an opinion contrary to theirs"). E G M R , A ./. Frankreich, Serie A Nr. 277-B, §§ 38-39. E G M R , Halford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, § 49; Kopp./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 55, 64; Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, §46. E G M R , Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 67; Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, § 30; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 29 („in particular, the requirement of foreseeability cannot mean that an individual should be enabled to foresee when the authorities are likely to intercept his communications so that he can adapt his conduct accordingly").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
sequences which a given action may entailbe"). Bei der Prüfung der Zugänglichkeit des Gesetzes und der Vorhersehbarkeit der mit dem Eingriff verbundenen Folgen legt der EGMR strenge Maßstäbe an. Als Grund nennt er die im Bereich der geheimen Überwachung verfügbaren, immer hochentwickelteren Technologien, die nach klaren, detaillierten Regelungen verlangen („clear, detailed rules"), die dem Bürger einen angemessenen Hinweis darauf geben, unter welchen Voraussetzungen die staatlichen Stellen befugt sind, derartige Maßnahmen zu ergreifen („adequate indication as to the circumstances and conditions").164 Entsprechend dieser Grundsätze hätte man erwarten können, dass der EGMR hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung zur Telefonüberwachung keine Unterscheidung zwischen dem geschriebenen und ungeschriebenen Recht trifft. In den Fällen Kopp und Valenzuela Contreras hat er jedoch die in den nationalen Rechtsordnungen vorhandenen Bestimmungen zur Telefonüberwachung für zu unpräzise gehalten, obwohl die von den Regierungen vorgebrachten gegenteiligen Argumente teilweise von der nationalen Rechtsprechung oder Rechtswissenschaft gestützt wurden. Auch die vom EGMR gewählte Formulierung „minimum safeguards that should be set out in the statute ..." deutet darauf hin, dass zumindest die grundlegenden Verfahrensgarantien im geschriebenen Recht vorliegen müssen. Entscheidungen der nationalen Gerichte werden allenfalls dann eine ansonsten unklare Rechtslage konkretisieren können, wenn es sich bei ihnen - um in der Terminologie des EGMR zu bleiben - um eine gefestigte Rechtsprechung („settled case-law") handelt, die nicht auf eine weite Auslegung des geschriebenen Rechts oder anderer Urteile hinausläuft („wide construction of statutory provisions or court decisions").165 Auf dem Gebiet der Telefonüberwachung ist der EGMR einer analogen Anwendung anderer strafprozessualer Eingriffsbefugnisse entschieden entgegengetreten. Die Herleitung einer gesetzlichen Grundlage aus allgemeinen Gesetzen oder Rechtsgrundsätzen oder im Wege einer Analogie zu vorhandenen gesetzlichen Regelungen oder Gerichtsurteilen, die andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen - wie z.B. die Durchsuchung oder die Beschlagnahme von Gegenständen - zum Gegenstand haben, bewertet er als Extrapolation, die nicht die für eine Telefonüberwachung erforderliche rechtliche Sicherheit gewährleistet („sufficient legal certainty").166 Eine gesetzliche Regelung, die 164
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EGMR, Margareta u. Roger Andersson ./. Schweden, Serie A Nr. 226-A, § 75; Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 67; Leander ./. Schweden, Serie A Nr. 116, §§ 50-51; Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, §§ 27, 30, 33, 35; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, §§ 26, 29, 32, 34; Haiford./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §49; Kopp./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 55,64, 72; Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, § 23; Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, §46. EGMR, Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 60, 73; Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, §§46, 57. EGMR, Kruslin ./. Frankreich, Serie Α Nr. 176-A, § 34; Huvig ./. Frankreich, Serie Α Nr. 176-B, § 33; im Ergebnis auch: EGMR, Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, §§ 55-61(„to infer them either from general enactments or principles or else from an analogical interpretation of legislative provisions - or court decisions - concerning investigative measures different from telephone tapping, notably searches and seizure of property").
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lediglich die Überwachung von Telefonaten in einem öffentlichen Kommunikationsnetz regelt, ist keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Überwachung von Telefonaten in einem behördeninternen Kommunikationsnetz.167 Weil bei einer Telefonüberwachung nach deutschem Recht stets derjenige, der die Telekommunikationsdienste leistet, mitwirken muss (§ 100b III StPO), erfasst die Vorschrift keine Anlagen, die der Eigenversorgung ihres Betreibers (behörden- oder betriebsinterne Anlagen) oder einer geschlossenen Benutzergruppe dienen. Die Befugnisnorm des § 100a StPO gilt daher nicht für behördeninterne Kommunikationsnetze.' 68 D a für Telefonüberwachungen eine analoge Anwendung anderer strafprozessualer Eingriffsbefugnisse ausscheidet, besteht im deutschen Recht keine Rechtsgrundlage für strafprozessuale Abhörmaßnahmen in diesen Telekommunikationsnetzen.
Da eine Telefonüberwachung regelmäßig keiner Kontrolle durch die von ihr betroffenen Personen oder durch die Öffentlichkeit unterliegt, darf die gesetzliche Regelung den für die Anordnung und Durchführung der Überwachung zuständigen Stellen keinen unbegrenzten Ermessensspielraum zubilligen („terms of an unfettered power"). Das geschriebene und ungeschriebene Recht muss mit hinreichender Klarheit das Maß sowie die Art und Weise der Ausübung dieses Ermessens beschreiben („indicate with reasonable/sufficient clarity/precision the scope and manner of exercise of ... discretion"), um den von der Überwachung betroffenen Personen - unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Zieles - ein Mindestmaß an Schutz zu gewährleisten („minimum degree of protection"). Die Details des Verfahrens müssen jedoch nicht notwendigerweise im geschriebenen Recht niedergelegt sein („detailed procedures and conditions ... not necessarily have to be incorporated in rules of substantive law").169 Eine den oben genannten qualitativen Kriterien entsprechende gesetzliche Grundlage verlangt die Konvention nicht nur für das Abhören eines Telefongesprächs, sondern für sämtliche der mit einer Telefonüberwachung verbundenen Eingriffe in die von Art. 8 geschützten Rechte. Dazu gehört auch die Herausgabe der von einer Telekommunikationsgesellschaft erstellten Einzelverbindungsnachweise an die Strafverfolgungsbehörden. Es reicht nicht aus, dass ein solches Herausgabeverlangen erlaubt ist. Sein Umfang und seine Modalitäten müssen gesetzlich geregelt sein.170
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EGMR, Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, § 51. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner § 100a Rn. 2. EGMR, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 68; Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, §§ 30, 36; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, §§ 29, 35; Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, § 60; vgl. auch: Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 109, § 51; Leander ./. Schweden, Serie A, Nr. 116, § 51 (Auskunftsanspruch über die Weitergabe von Daten aus einem Polizeiregister); Margareta u. Roger Andersson ./. Schweden, Serie A Nr. 226-A, § 75. Vgl. zusammenfassend: EGMR, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, §§ 70, 87 („whether, under domestic law, the essential elements of the power to intercept communications were laid down with reasonable precision in accessible legal rules that sufficiently indicated the scope and manner of exercise of the discretion conferred on the relevant authorities").
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Das Urteil Lüdi war die erste Entscheidung, in der eine innerstaatliche Rechtslage zur Telefonüberwachung vom EGMR als gesetzlich iSv Art. 8 Abs. 2 angesehen wurde. Die Berner Kantonspolizei hatte einen Verdeckten Ermittler auf den Bf. angesetzt, weil sie vermutete, dass dieser einen Drogenankauf beabsichtigte. Ein Untersuchungsrichter hatte mit der Eröffnung einer Voruntersuchung die Überwachung der Telefongespräche des Bf. angeordnet. 171 Nach Ansicht des Gerichtshofs war die Telefonüberwachung zur Verhütung von Straftaten erfolgt. Der EGMR hat die nationalen Vorschriften ohne eine nähere inhaltliche Prüfung als mit Art. 8 vereinbar angesehen. Die zur Ablehnung eines Verstoßes gegen Art. 8 gewählte Formulierung „the use of the undercover agent did not, either alone or in combination with the telefone interception affect private life" zeigt, dass er das eigentliche Problem des Falles und den Schwerpunkt des behaupteten Konventionsverstoßes im Einsatz des Ermittlers erblickte. Die Entscheidung dürfte daher bei der Suche nach den Kriterien für die Gesetzlichkeit einer Regelung zur Telefonüberwachung wenig hilfreich sein.172 In den Urteilen Kruslin und Huvig hat der E G M R folgende Mindeststandards f ü r die gesetzliche Regelung einer Telefonüberwachung festgelegt: - Definition des Personenkreises, dessen Telefonanschluss Gegenstand einer Uberwachung sein kann („definition of the categories of people liable to have their telephones tapped by judicial order"), - Art der Delikte, die für eine solche Anordnung in Frage kommen („nature of the offences which may give rise to such an order"), - die Angabe einer höchstzulässigen Dauer („limit on the duration of telephone tapping"), - ein Verfahren für die Erstellung der Berichte über die abgehörten Gespräche („procedure for drawing up the summary reports containing intercepted conversations"), - Vorkehrungen dafür, dass die Mitschnitte unversehrt und vollständig übermittelt werden, um dem die Überwachung anordnenden Richter und der Verteidigung eine Überprüfung - insbesondere hinsichtlich Zahl und Länge der Originalmitschnitte zu gewährleisten („precautions to be taken in order to communicate the recordings intact and in their entirety for possible inspection by the judge and by the defence"), - Umstände, unter denen die Mitschnitte der Telefongespräche vernichtet bzw. die Tonbänder zerstört werden können oder müssen, etwa für den Fall, dass ein Beschuldigter nicht angeklagt oder freigesprochen wird („circumstances in which recordings
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Die Maßnahme beruhte auf der Berner StPO: Article 171b „ The investigating judge may order surveillance of a suspect's postal, telephone and telegraphic communications and have his mail seized if an offence whose seriousness or peculiar features justify the interference or an offence committed by means of the telephone is being investigated." Article 171c „1. The investigating judge shall within twenty-four hours of his decision submit to the Indictments Chamber for approval a duplicate copy of his order together with the case-fde and a short statement of reasons. 2. The order shall remain in force for three months at most; the investigating judge may extend it for a maximum of three months. The extension order is to be submitted to the Indictments Chamber for approval with the case-file and reasons ten days before the expiry of the period. 3. The investigating judge shall terminate the surveillance as soon as it becomes unnecessary or the period expires or if the order is withdrawn."
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E G M R , Lüdi ./. Schweiz, Serie A Nr. 238, §§ 9, 13, 21, 24, 26, 38-39.
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may or must be erased or the tapes destroyed, in particular where an accused has been discharged by an investigating judge or acquitted by a court").173 Aufgrund der bereits angesprochenen Trennung zwischen der Überwachung als solcher und der Verwertung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse verstößt eine Telefonüberwachung gegen Art. 8, wenn die im nationalen Recht vorgesehenen Bestimmungen diesen inhaltlichen Anforderungen nicht entsprechen, unabhängig davon, ob den von der Telefonüberwachung betroffenen Personen ein Nachteil entsteht. Da ein Konventionsverstoß auch ohne das Vorliegen eines Schadens angenommen werden kann („conceivable even in the absence of any detriment"), gilt dies auch, wenn die Mitschnitte einer Telefonüberwachung nicht als Grundlage einer Strafverfolgung herangezogen werden.174 Im Fall Lambert hat der EGMR die 1991 geänderte französische Rechtslage zur Telefonüberwachung als gesetzlich bezeichnet: „Articles 100 et seq. of the Code of Criminal Procedure, inserted by the Law of 10 July 1991 on the confidentiality of telecommunications messages, lay down clear, detailed rules and specify with sufficient clarity the scope and manner of exercise of the relevant discretion conferred on the public authorities" .17S An 173
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E G M R , Kruslin ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-A, § 35; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 34; zusammenfassend: Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, §46. E G M R , Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 35 („serve as a basis for the prosecution"). E G M R , Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, §§ 15,28: Article 100 „In the case of a serious crime or other major offence attracting a sentence of at least two years' imprisonment, the investigating judge may, where necessary for the investigation, order the interception, recording and transcription of telecommunications messages. Such operations shall be carried out under his authority and supervision. Decisions to intercept shall be in writing. They shall not constitute judicial decisions and no appeal shall lie against them." Article 100-1 „Decisions made pursuant to Article 100 shall contain all the information necessary for identifying the link to be monitored, the offence that justifies the interception and the duration of the interception." Article 100-2 „Such decisions shall be valid for a maximum duration of four months. Their validity may be extended only subject to the same procedural requirements and maximum duration." Article 100-3 „The investigating judge or a senior detective (officier de police judiciaire) acting on his instructions may call upon any qualified official of any department or body under the authority or supervision of the Minister for Telecommunications, or any qualified official of an authorised network operator or provider of telecommunications services, for the purpose of installing monitoring equipment." Article 100-4 „The investigating judge or the senior detective acting on his instructions shall draw up a report on each of the interception and recording operations. This report shall give the date and time of the beginning and end of each operation." Article 100-5 „The investigating judge or the senior detective acting on his instructions shall transcribe messages useful for establishing the truth. A report of the transcription shall be drawn up and the transcription placed in the case file. Any messages in a foreign language shall be transcribed in French with the help of an interpreter called upon for this purpose." Article 100-6 „The Public Prosecutor or Principal Public Prosecutor shall ensure that the recordings are destroyed when prosecution becomes time-barred. A formal report of the destruction shall be drawn up." Article 100-7 „The telephone line of a member of Parliament or senator shall not be tapped unless and until the Speaker of the relevant House has been informed by the investigating judge. The home or office telephone lines of a member of the Bar shall not be tapped unless and until the chairman of the Bar has been informed by the investigating judge. Any interception carried out in breach of the requirements of this Article shall be null and void." Zur Änderung der französischen Rechtslage unter dem Einfluss der E M R K und den Urteilen des E G M R : Eser ZStW 108 (1996) 86, 101.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
diesen Regelungen werden sich die Vertragsstaaten orientieren können. Indes ist nicht auszuschließen, dass auch andere Schutzmechanismen - sei es für sich betrachtet oder in Kombination mit anderen Sicherheiten - vom EGMR als gesetzlich und damit konventionskonform erachtet werden.176 Auffällig ist, dass der EGMR die in den Fällen Kruslin und Huvig geforderte „definition of the categories of people liable to have their telephones tapped by judicial order" im Fall Lambert als gegeben ansah, obwohl gerade Art. 100 - und dies hebt der EGMR sogar hervor - keine Unterscheidung hinsichtlich der Personen trifft, deren Telefonanschluss einer Überwachung zum Zwecke der Strafverfolgung unterliegt. Eine nationale Regelung zur Telefonüberwachung muss daher offensichtlich keine Unterscheidung zwischen tatverdächtigen und unbeteiligten Personen treffen, obwohl man dies von der Formulierung „ categories of people" hätte erwarten können. Ebenso scheint eine Angabe bestimmter Katalogtaten nicht erforderlich zu sein. Es genügt eine Orientierung an der Strafandrohung oder der Schwere eines Deliktes („serious crimes"). Hinsichtlich der Dauer der Überwachung scheint der EGMR keine absolute Höchstgrenze zu fordern, da nach der geänderten französischen Rechtslage eine Telefonüberwachung beliebig oft - aber jeweils befristet - verlängert werden kann. Eine andere Frage ist, ob gesetzlich geregelt sein muss, dass einer Person nachträglich die Durchführung einer Telefonüberwachung und die aus ihr gewonnenen Erkenntnisse mitgeteilt werden müssen. Nach der vom EGMR im Fall Klass - zur Notwendigkeit des Eingriffs - geäußerten Ansicht, ist die nachträgliche Bekanntgabe einer Überwachungsmaßnahme nicht erforderlich, wenn gerade die Geheimhaltung die Wirksamkeit des Eingriffs in den Brief- und Fernmeldeverkehr sicherstellt und ein gesetzliches System besteht, das garantieren soll, dass die Überwachung in völliger Übereinstimmung mit den gesetzlichen Regelungen erfolgt und ihre Auswirkungen auf ein unvermeidliches Maß beschränkt bleiben.177 Das Urteil Klass betraf nicht die ebenfalls durch das G10Gesetz eingeführten §§ 100a und 100b StPO, sondern die Kommunikationsüberwachung der Geheimdienste und des Verfassungsschutzes. Weil die vom EGMR angeführten Gesichtspunkte nur für Nachrichten- und Geheimdienste gelten, dürften sie auf eine strafprozessuale Telefonüberwachung nur sehr eingeschränkt übertragbar sein. In späteren Urteilen ist der Gerichtshof nicht mehr auf die Notwendigkeit einer nachträglichen Mitteilung der geheimen Kommunikationsüberwachung an die von ihr betroffenen Personen eingegangen. Da die nachträgliche Mitteilung nicht zu den vom EGMR in den Fällen Kruslin und Huvig genannten Mindeststandards gehört und auch die nationale Regelung im Fall Lambert eine derartige Bekanntgabe nicht vorsah, muss eine Bekannt-
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EGMR, Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, § 15; zu den für die Telefonüberwachung in Frankreich vor Juli 1991 geltenden Bestimmungen zur Telefonüberwachung siehe: Rambach JZ 1991, 78f. EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, §§ 58-59. Außerdem gab der EGMR zu bedenken, dass eine nachträgliche Bekanntgabe der Überwachung gegenüber jeder Person, die von ihr betroffen war, den langfristigen Zweck, der seinerzeit Grund für die Anordnung war, gefährden und zur Aufdeckung der Arbeitsweise und Einsatzfelder der Geheimdienste führen sowie möglicherweise sogar zur Identifizierung ihrer Agenten beitragen könnte.
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gäbe der Maßnahme an die von ihr betroffenen Personen zumindest nicht gesetzlich geregelt sein. Eine nachträgliche Bekanntgabe kann aber ein bei der Notwendigkeit der Maßnahme zu berücksichtigender Umstand sein (s.u.). Abschließend bedarf der Prüfung, ob ein Richtervorbehalt oder eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle zu den gesetzlichen Mindestanforderungen gehören. In den Fällen Kruslin, Huvig und Kopp hat der EGMR „ the requirement at the relevant stage of the proceedings that the prosecuting authorities' telephone-tapping order must be approved by ... an independent judge" bzw. „the need for a decision by an investigating judge" als „safeguard" bezeichnet.178 Der Richtervorbehalt findet jedoch in der Liste der „minimum safeguards" für eine gesetzliche Regelung keine Erwähnung. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass das französische Recht schon vor der Gesetzesreform im Jahre 1991 die Einschaltung eines Untersuchungsrichters bei der Anordnung der Telefonüberwachung vorsah und der Gerichtshof dementsprechend nur die Standards genannt hat, die damals noch nicht erfüllt waren. Abschließend lässt sich aus den Urteilen Kruslin, Huvig und Lambert keine verlässliche Aussage dazu herleiten, ob die Einschaltung eines Richters vor der Durchführung einer Telefonüberwachung gesetzlich geregelt werden muss. Dass der EGMR den Richtervorbehalt in der seine bisherige Rechtsprechung zur Telefonüberwachung zusammenfassenden Entscheidung Valenzuela Contreras - wo er von einer Positivliste an Mindestanforderungen spricht - ebenfalls nicht erwähnt hat, spricht eher gegen das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung. Gleiches gilt für die Überprüfung einer richterlich angeordneten Telefonüberwachung.'79 (2) Ausschluss bestimmter Berufsgruppen von der Telefonüberwachung Ein spezielles Problem ist, ob bestimmte Berufsgruppen von einer Telefonüberwachung auszunehmen sind und ein entsprechender Vorbehalt gesetzlich geregelt werden muss. Einerseits gehört ein solcher Ausschluss nicht zu den in den Urteilen Kruslin und Huvig genannten Mindeststandards, andererseits war er in der dem Fall Lambert zugrunde liegenden nationalen Regelung vorgesehen. Im Urteil Kopp hat der EGMR nicht per se den Ausschluss bestimmter Berufsgruppen von der Anordnung einer strafprozessualen Telefonüberwachung gefordert, sondern lediglich die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmheit einer nationalen Regelung zur Überwachung von Rechtsanwälten präzisiert. Ganz allgemein bestehen Bedenken hinsichtlich einer Telefonüberwachung gegenüber Personen, denen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Tatsachen oder Umstände anvertraut werden, hinsichtlich derer sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Das gilt vor allem dann, wenn diesen Personen als Berufsgeheimnisträger hinsichtlich der ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertrauten Geheimnisse nach nationalem Recht ein
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EGMR, Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, § 72; Huvig./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 33. EGMR, Lambert ./. Frankreich, Reports 1998-V, §§ 15, 28. Im Urteil Lambert hat der EGMR die Regelungen zur Telefonüberwachung in der französischen Strafprozessordnung für gesetzlich gehalten, obwohl die Anordnung einer derartigen Überwachung durch einen Untersuchungsrichter unanfechtbar war.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. Hier besteht offensichtlich die Gefahr, dass das Zeugnisverweigerungsrecht durch eine Kontrolle der Telefongespräche umgangen wird. Soweit Berufsgeheimnisträger nicht selbst einer bestimmten Straftat oder der Beteiligung an einer solchen verdächtig sind, unterliegen sie einer Telefonüberwachung als unverdächtige Dritte. Gestattet das nationale Recht - wie im Fall Kopp - auch die Überwachung von Gesprächen eines unverdächtigen Dritten („third party"), nimmt es von dieser Art der Überwachung aber ausdrücklich Personen aus, denen hinsichtlich der ihnen in ihrer beruflichen Tätigkeit anvertrauten Geheimnisse ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, ist es mit der von Art. 8 Abs. 2 geforderten inhaltlichen Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung nicht vereinbar, wenn die beruflich genutzten Telefonanschlüsse dieser Personen gleichwohl einer Überwachung unterliegen, bei der durch eine Inhaltskontrolle der Gespräche danach differenziert wird, in welcher Eigenschaft als Privatperson oder beruflich - sie das Gespräch führen („it is not to speculate as to the capacity in which ... had had his telephones tapped, since he was a lawyer and all his law firm's telephone lines had been monitored"), weil so ein Widerspruch zwischen dem eindeutigen Gesetzestext, durch den bestimmte Berufsgruppen wegen des ihnen zustehenden Aussageprivilegs ohne jede Einschränkung von einer Telefonüberwachung ausgenommen werden, und der Überwachungspraxis entsteht („contradiction between the clear text of legislation which protects legal profession privilege ... and the practice followed in the present case"). Auch eine nationale Rechtsprechung, die das Zeugnisverweigerungsrecht des Rechtsanwalts auf Mandate beschränkt, vermag hier weder den Bestimmtheitsmangel des geschriebenen Rechts zu kompensieren noch die diesbezügliche Inhaltskontrolle der Gespräche zu legitimieren. 180 Diese Aussage ist für das Verhältnis und Zusammenspiel von geschriebenem und ungeschriebenem Recht bei der Suche nach einer nationalen gesetzlichen Grundlage für Telefonüberwachungen durchaus aufschlussreich. Sie zeigt zumindest, dass nicht jeder Widerspruch zwischen dem geschriebenen Recht und einer Rechtspraxis durch eine gefestigte Rechtsprechung beseitigt werden kann. Das hätte der E G M R allerdings noch deutlicher herausstellen sollen. Im Fall Kopp konnte bei der Suche nach einer hinreichend präzisen Regelung für die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten gerade deshalb nicht auf die nationale Rechtsprechung zurückgegriffen werden, weil durch die von den Gerichten angenommene Beschränkung des Aussageprivilegs auf bestehende Mandate eine Telefonüberwachung entgegen dem eindeutigen Wortlaut von §§ 66, 77 sStPO möglich war und so der vom E G M R angeprangerte Widerspruch zwischen dem geschriebenen Recht und der Abhörpraxis entstand. Anders ausgedrückt, die Rechtsanwälte in der Schweiz konnten zwar keineswegs überrascht darüber sein, dass sich ihr Aussageprivileg nur auf konkrete Man-
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EGMR, Kopp ./. Schweiz, Reports 1998-11, §§ 71-73 („even though the case-law has established the principle, which is moreover generally accepted, that legal professional privilege covers only the relationship between a lawyer and his clients, the law does not clearly state how, under what conditions and by whom the distinction is to be drawn between matters specifically connected with a lawyer's work under instructions from a party to proceedings and those relating to activity other than that of counsel").
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date bezog, weil sich dies aus der Rechtsprechung der nationalen Gerichte ergab, wohl aber darüber, dass ihre Gespräche einer diesbezüglichen Inhaltskontrolle unterzogen wurden. Genau hierin bestand der Widerspruch zu der eindeutigen Gesetzeslage. Allerdings wird man die Ausführungen des Gerichtshofs nicht dahingehend interpretieren können, dass die Konvention jede Art der Überwachung zeugnisverweigerungsberechtigter Rechtsanwälte bzw. eine Inhaltskontrolle der von ihnen geführten Telefongespräche untersagt. Was der E G M R aber sowohl für die Überwachung der Telefonate eines Rechtsanwaltes als auch für eine Inhaltskontrolle dieser Gespräche verlangt, ist eine inhaltlich klare und zugängliche Regelung im geschriebenen und ungeschriebenen Recht, aus der ein Rechtsanwalt die Voraussetzungen, die Art und den Umfang der Überwachung seines Telefonanschlusses und die mit dieser Überwachung verbundenen Folgen erkennen kann. Hinsichtlich einer Inhaltskontrolle der Telefonate muss klar geregelt sein, unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Kriterien eine solche Kontrolle stattfindet. Ebenso bedarf es einer gesetzlichen Regelung, welche Stelle die Gesprächskontrolle vornimmt und darüber entscheidet, ob ein überwachtes Gespräch ein - vom Zeugnisverweigerungsrecht geschütztes - Mandat oder eine neutrale Tätigkeit des Anwalts betrifft. Die Inhaltskontrolle von Telefongesprächen eines Rechtsanwaltes darf jedenfalls nicht von Mitarbeitern einer staatlichen Post- oder Telekommunikationsbehörde durchgeführt werden. Diese Art der Abhörpraxis in der Schweiz hat der E G M R als „astonishing" bezeichnet. Für private Telekommunikationsunternehmen dürfte dies erst recht gelten. Ob eine Inhaltskontrolle der Gespräche durch die Strafverfolgungsbehörden als konventionskonform angesehen werden kann, erscheint zweifelhaft. Es spricht einiges dafür, dass die Inhaltskontrolle der Gespräche eines Rechtsanwaltes - so sie denn im nationalen Recht wegen der Beschränkung eines Zeugnisverweigerungsrechts auf Mandate vorgesehen ist - einem Richter oder einer vergleichbar unabhängigen und unparteilichen Stelle vorbehalten sein muss. Eine solche, den Qualitätsanforderungen des Art. 8 Abs. 2 entsprechende gesetzliche Regelung dürfte prinzipiell erforderlich sein und nicht etwa nur Beseitigung eines zwischen dem geschriebenen Recht und der Abhörpraxis bestehenden Widerspruchs. 181 Eine nationale Rechtsordnung, die überhaupt keine Regelung zur Telefonüberwachung von (zeugnisverweigerungsberechtigten) Rechtsanwälten enthält, diese aber gleichwohl zulässt, dürfte ebenfalls als konventionswidrig anzusehen sein, auch wenn insofern kein Widerspruch zwischen dem geschriebenen Recht und der Abhörpraxis entsteht. Im Fall Kopp waren sowohl die privaten als auch die beruflich genutzten Telefonanschlüsse eines Rechtsanwalts abgehört worden. Die Telefonüberwachung richtete sich gegen den Bf. als unverdächtigen Dritten. In der richterlichen Anordnung der Überwachung war ausdrücklich vermerkt: „the lawyers' conversations [were] not to be taken into account".182 Gemäß der üblichen Praxis hatte sich ein Spezialist der Post die
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Ebenso: Kühne StV 98, 683, 686. Die Überwachung beruhte auf den §§ 66 Abs. 1 bis und 77 der schweizerischen Strafprozessordnung: „ 1. The investigating judge may order monitoring of the accused's or suspect's postal correspondence and telecommunications ... 1 bis. Where the conditions justifying the monitoring of the accused or suspect are
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
aufgezeichneten Gespräche angehört, um die Gespräche zu erkennen, die sich auf noch laufende Verfahren des Rechtsanwaltes bezogen. Der EGMR bejahte einen Verstoß gegen Art. 8, weil das geschriebene und ungeschriebene schweizerische Recht nicht mit hinreichender Deutlichkeit das den Behörden bei der Telefonüberwachung zustehende Ermessen regelten. Obwohl sich das Berufsprivileg des Rechtsanwalts nach der nationalen Rechtsprechung nur auf Mandate erstreckte, bestand nach Ansicht des Gerichtshofs zwischen dem eindeutigen Wortlaut der Vorschriften zur Telefonüberwachung und der in der Schweiz gängigen Inhaltskontrolle der Gespräche ein Widerspruch, weil das nationale Recht nicht klar festlegte, unter welchen Voraussetzungen und von wem die Unterscheidung zwischen den ein Mandat betreffenden Angelegenheiten und den sonstigen Tätigkeiten des Rechtsanwalts zu treffen war. (3) Legitimer Zweck der Überwachung Kaum Probleme bereitet bei strafprozessualen Telefonüberwachungen die Suche nach einem legitimen Zweck. Regelmäßig ist hier die nationale oder öffentliche Sicherheit einschlägig. Soweit noch weitere Straftaten durch die von der Überwachung betroffenen Personen drohen, kommt auch die Verhütung von Straftaten in Betracht. 183 (4) Notwendigkeit der Überwachung Eine strafprozessuale Telefonüberwachung muss nicht nur gesetzlich vorgesehen, sondern auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Gegen gesetzliche Bestimmungen zur geheimen Überwachung des Post-, Brief- und Telefonverkehrs hat der E G M R an sich keine Bedenken. Er bezieht sich dabei auf einen seiner Ansicht nach bereits in der Konvention angelegten Kompromiss zwischen den Erfordernissen zur Verteidigung einer demokratischen Gesellschaft und dem Schutz individueller Rechte. Was er allerdings verlangt, ist ein Ausgleich zwischen der Ausübung der von Art. 8 Abs. 1 garantierten Rechte und der Durchführung geheimer Überwachungsmaßnahmen zum Schutz der Gesellschaft. Zwar besitzen die staatlichen Stellen bei der Durchführung einer geheimen Kommunikationsüberwachung einen gewissen Beurteilungsspielraum. Sie dürfen jedoch unter Berufung auf den Kampf gegen Spionage und Terrorismus nicht grenzenlos zu Maßnahmen geheimer Überwachung greifen. Übertragen auf die strafprozessuale Telefonüberwachung bedeutet dies, dass die geheime Überwachung von Telefongesprächen nur zulässig ist, wenn - zusätzlich zu den Mindestinhalten der gesetzlichen Grundlage - angemessene und wirksame Garantien gegen Missbrauch („adequate and effective guarantees against abuse") vorhanden sind, die den Eingriff auf das Notwendige begrenzen („whether the procedures for supervising the ordering and implementation of the restrictive measures are such as to keep the .interference' resulting from the contested legislation to what is ,necessary in a democratic society'"). Wie diese Garantien beschaffen sein müssen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Dabei
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satisfied, third parties may also be monitored if specific facts give rise to the presumption that they are receiving or imparting information intended for the accused or suspect or sent by him. Persons who, by virtue of section 77, may refuse to give evidence shall be exempt" (§ 66). „Clergymen, lawyers, notaries, doctors, pharmacists, midwives, and their auxiliaries, cannot be required to give evidence about secrets confided to them on account of their ministry or profession" (§ 77). Vgl.: E G M R , Lüdi./. Schweiz, Serie A Nr. 238, § 39.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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sind die Art, der Umfang und die Dauer der Überwachung, ihre Ziele, ihre Anordnung, Ausführung und Kontrolle durch die zuständigen Stellen sowie die Art der im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe zu berücksichtigen. Diese für die geheimdienstliche Überwachung entwickelten Grundsätze hat der EGMR später auch auf strafprozessuale Telefonüberwachungen übertragen. So hat er beispielsweise die Notwendigkeit einer geheimen Telefonüberwachung zur Verbrechensbekämpfung im Vereinigten Königreich anerkannt, insbesondere im Bereich des Organisierten Verbrechens.184 Unabhängig von einer inhaltlich und qualitativ ausreichenden gesetzlichen Regelung kann das Abhören eines Telefongesprächs oder eine andere Form der Überwachung nur dann als notwendig angesehen werden, wenn die von ihr betroffenen Personen die Maßnahme im Wege einer effektiven Kontrolle nachträglich anfechten können („effective control" ... to challenge the telephone tapping"). Die erforderliche effektive Kontrolle muss allerdings nicht zwingend durch ein Gericht erfolgen. Sie kann auch durch eine andere Stelle geschehen, die von den die Überwachung anordnenden Stellen unabhängig und mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet ist, um eine objektive und wirksame Kontrolle ausüben zu können. 185 Obwohl die durch Art. 2 des G10-Gesetzes vom 13.8.1968 in die StPO eingefügten §§ 100a und 100b nicht Gegenstand des Verfahrens waren, ergeben sich aus der Entscheidung Klass Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer strafprozessualen Telefonüberwachung. Auf die Möglichkeit, die getroffenen Überwachungsmaßnahmen gerichtlich oder auf sonstige Art und Weise überprüfen lassen zu können, hatte der Gerichtshof ausdrücklich hingewiesen. Das G10-Gesetz schloss den Rechtsweg zu den Gerichten hinsichtlich der Anordnung und Ausführung der Überwachungsmaßnahme ausdrücklich aus und sah statt dessen die nachträgliche Kontrolle durch das sog. Parlamentarische Gremium (PG) und die G10-Kommission vor. Das aus fünf Bundestagsabgeordneten bestehende PG hatte der zuständige Minister halbjährlich, die Kommission monatlich über die getroffenen Anordnungen zu informieren. Die Kommission konnte von der überwachten Person zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme angerufen werden. Sie bestand aus drei Personen, wobei der Vorsitzende die Befähigung zum Richteramt haben musste. Die Kommission, deren Mitglieder keinerlei Weisungen unterworfen waren, konnte eine Überwachungsmaßnahme für unzulässig erklären, worauf der zuständige Minister diese unverzüglich aufzuheben hatte. Nach Ansicht des EGMR ist die Überprüfung geheimer Überwachungsmaßnahmen des Brief- und Fernmeldeverkehrs zum Zeitpunkt ihrer Anordnung und während ihrer Durchführung dann nicht notwendig, wenn das Kontrollverfahren geeignete und gleichwertige Garantien zum Schutze der Rechte des Einzelnen bietet und die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft - insbesondere das Rechtsstaatsprinzip („rule of law") so gewissenhaft wie möglich beachtet werden. Die nachträgliche richterliche Kontrolle geheimer Überwachungsmaßnahmen hielt der EGMR zwar für wünschens-
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EGMR, Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, §§ 48-52, 59; Malone ./: Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 81; Lambert ./. Frankreich, Reports 1998-V, § 31; vgl. auch: EGMR, Leander ./. Schweden, Serie A, Nr. 116, §§ 60-67. EGMR, Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, §§ 25, 53, 55-56; Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, §§31, 34.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
wert, sah eine nichtrichterliche Kontrolle aber ebenfalls als zulässig an, wenn die kontrollierenden Organe unabhängig von den die Überwachung anordnenden Behörden sind und ausreichende Machtbefugnisse und Kompetenzen haben, um eine objektive und wirksame ständige Kontrolle ausüben zu können.186 Auch aus Art. 13 lässt sich das Erfordernis einer gerichtlichen Überprüfung von Telefonüberwachungen nicht ableiten. Diese Vorschrift verlangt lediglich eine wirksame Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz, die einen plausibel behaupteten Konventionsverstoß behandeln und ihm ggfs. abhelfen kann. Die Instanz muss jedoch nicht unbedingt ein Gericht im eigentlichen Sinne sein.187 Aus Art. 13 ergeben sich für die zu gewährleistende nachträgliche „effektive Kontrolle" keine zusätzlichen Anforderungen. Hinsichtlich der abgehörten Telefonate, welche die Bf. Haiford von ihrem Büro aus geführt hatte, nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 und gegen Art. 13 an, weil es im nationalen Recht keine Regelung für die Überwachung von Telefongesprächen über ein behördeninternes Kommunikationsnetz gab. Die Bf. konnte deshalb für die von ihr behauptete konventionswidrige Überwachung dieser Telefonate auf nationaler Ebene keine Abhilfe erlangen. Hinsichtlich der von ihrem Privatanschluss geführten Telefonate verneinte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 13, weil eine Überwachung dieser Gespräche nicht mit hinreichender Sicherheit („reasonable likelihood") angenommen werden konnte und daher auch kein „arguable claim" iSv Art. 13 vorlag.188 Wann die nachträgliche Kontrolle einer Telefonüberwachung effektiv ist, konnte der E G M R bisher nicht im Detail klären. So viel lässt sich aber sagen: Eine im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit zur Anfechtung einer Telefonüberwachung darf den gesetzlichen Garantien und Schutzvorkehrungen nicht die Substanz nehmen („in practice render the protective machinery largely devoid of substance"). Deshalb muss eine effektive Kontrolle allen Personen offen stehen, in deren Rechte durch eine Telefonüberwachung eingegriffen worden ist, also auch Gesprächsteilnehmern, deren Anschluss keiner Überwachung unterlag. Trifft das nationale Recht keine Unterscheidung hinsichtlich der Personen, deren Telefonanschluss zum Zwecke der Aufklärung einer Straftat einer Überwachung unterliegen darf („distinction according to whose line is being tapped"), verstößt es gegen Art. 8 Abs. 2, wenn dem Teilnehmer eines überwachten Gesprächs, dessen Anschluss nicht überwacht worden ist, die Anfechtbarkeit der Maßnahme versagt wird.189 Im Fall Lambert hatte ein Untersuchungsrichter (U) die Überwachung des Telefonanschlusses eines gewissen R.B. angeordnet. Aufgrund der mitgeschnittenen Gespräche, an denen auch der Bf. beteiligt war, wurde gegen diesen ein Tatvorwurf erhoben. Vor einer Anklagekammer machte der Bf. geltend, dass die gerichtlich angeordneten Verlängerungen der Überwachung unwirksam waren und ihre höchstzulässige 186
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EGMR, Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, §§ 53, 55-56; vgl. zur Fernmeldeüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst: BVerfG, NJW 2000, 55 ff. EGMR, Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 67. EGMR, Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §§ 21-37, 62-65, 69-70. EGMR, Lambert./. Frankreich, Reports 1998-V, §§ 36-41.
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Dauer zwischenzeitlich überschritten worden war. Das Gericht hielt die Anordnungen für inhaltlich ausreichend und sah die gesetzlichen Fristen als eingehalten an. Der Cour de Cassation bestätigte diese Entscheidung, da dem Bf. keine Beschwerdebefugnis („no locus standi") zur Art und Weise der Verlängerungsanordnungen zugestanden habe. Der EGMR sah in dieser Begründung einen Verstoß gegen Art. 8, weil dem Bf. eine „effektive Kontrolle" der Telefonüberwachung verwehrt worden sei, obwohl sich die Anklagekammer mit seinen Argumenten auseinandergesetzt hatte. Dass der EGMR die Ebene einer konkreten Einzelfallprüfung verlassen hat und einer konventionswidrigen Rechtspraxis in Frankreich Einhalt gebieten wollte, wird durch folgende Aussage belegt: Durch die Beschränkung der Beschwerdebefugnis habe die Gefahr bestanden, dass „a very large number of people are deprived of the protection of the law, namely all those who have conversations on a telephone line other than their own". Unabhängig von der Gewährleistung einer effektiven Kontrolle bleibt die Frage zu beantworten, ob Art. 8 für die Notwendigkeit der Telefonüberwachung - nicht f ü r die gesetzliche Grundlage (s.o.) - eine nachträgliche Bekanntgabe ihrer D u r c h f ü h r u n g an die von ihr betroffenen Personen verlangt. Werden die mitgeschnittenen Telefonate Gegenstand eines Strafverfahrens, müssen die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten zur W a h r u n g der Verfahrensfairness spätestens vor Gericht über die gegen ihn - oder eine dritte Person - durchgeführte Telefonüberwachung informieren u n d vorhandene Protokolle der aufgezeichneten Gespräche vorlegen. Für Mitschnitte oder Aufzeichnungen einer Telefonüberwachung hat der E G M R das bisher nicht explizit entschieden. Bei ihnen handelt es sich jedoch u m belastendes Beweismaterial, f ü r das eine umfassende Mitteilungspflicht aus Art. 6 Abs. 1 besteht. 190 D a m i t ist aber noch nichts darüber gesagt, o b eine Mitteilung auch gegenüber Personen erfolgen muss, denen gegenüber die Telefonüberwachung nicht zur Einleitung eines Strafverfahrens geführt hat. Entsprechend den vom E G M R im Fall Klass angestellten Überlegungen wird m a n die Geheimhaltung einer Telefonüberwachung als notwendig ansehen können, solange hinsichtlich der M a ß n a h m e ein strafprozessuales Geheimhaltungsinteresse besteht. Bei der Suche nach Kriterien f ü r ein solches Geheimhaltungsinteresse k a n n m a n sich allerdings an den Erwägungen zur Geheimhaltung nachrichtendienstlicher und verfassungsschutzrechtlicher Kommunikationsüberwachung nur sehr eingeschränkt orientieren. N a c h Wegfall eines solchen Geheimhaltungsinteresses dürfte eine Pflicht der staatlichen Stellen zur Bekanntgabe der Telefonüberwachung anzunehmen sein, weil sonst nicht ersichtlich ist, wie die vom E G M R geforderte „effektive Kontrolle" der Überwachung gewährleistet werden könnte. O b allerdings nur die M a ß n a h m e als solche oder auch die aus ihr gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen sind, bleibt abzuwarten. Aus Art. 13 k a n n sich keine Pflicht zur Bekanntgabe einer durchgeführten Telefonüberwachung herleiten lassen, wenn Art. 8 die Geheimhaltung der Überwachung erlaubt. Dies würde das innere Gefüge der Konventionsbestimmungen förmlich aus den Angeln heben. 191 190
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Zur Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Offenbarung sämtlichen Beweismaterials siehe: E G M R , Barberä u.a. ./. Spanien, Serie A Nr. 146, § 77; Edwards ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-B, § 36. E G M R , Klass u.a. ./. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 68.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Zu weiteren Kriterien, die für die Notwendigkeit einer Telefonüberwachung zu beachten sind, konnte der EGMR bisher nur am Rande Stellung nehmen, da er in den meisten Fällen nicht über den Prüfungspunkt der gesetzlichen Grundlage im nationalen Recht hinauskam. Bereits im Urteil Klass hat er darauf hingewiesen, dass der Eingriff in die von Art. 8 geschützten Rechte einem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprechen („correspond to a pressing social need") und angesichts des mit ihm verfolgten Zieles verhältnismäßig sein muss.192 An diesen Leitsätzen haben sich auch strafprozessuale Telefonüberwachungen zu orientieren. Jede geheime Überwachungsmaßnahme muss einen gewissen Anlass haben. Eine erkundende oder ausforschende geheime Kommunikationsüberwachung ohne jeden Anlass („exploratory or general surveillance") wird in Straßburg keine Gnade finden. Die vom G10-Gesetz vorgesehene Überwachung wurde vom Gerichtshof akzeptiert, weil für ihre Anordnung tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der Planung oder Begehung einer schwerwiegenden Straftat vorliegen mussten und die Durchführung nur zulässig war, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert war. Die Überwachung durfte sich zudem nur gegen den Verdächtigen oder seine mutmaßlichen Kontaktpersonen richten.193 Diese Aussagen zur Notwendigkeit laufen auf das Erfordernis eines Tatverdachts hinaus, dessen genauen Umfang der EGMR noch zu klären haben wird. Die Eingriffsschwelle für strafprozessuale Telefonüberwachungen dürfte nicht wesentlich niedriger anzusiedeln sein. Wenig Anhaltspunkte für die Beurteilung der Notwendigkeit einer Telefonüberwachung liefert auch das Urteil Lüdi. Mit Zustimmung der Anklagekammer eines Kantonsgerichts war die Überwachung der Telefongespräche des Bf. am 15.3.1984 angeordnet und am 20.6. von der Anklagekammer bis zum 15.9. verlängert worden. Nach der Festnahme des Bf. am 1.8. ordnete ein Untersuchungsrichter noch am selben Tage die Aufhebung der Überwachung an und informierte den Bf. am 22.8. über deren Anordnung und Dauer. Der EGMR lehnte einen Verstoß gegen Art. 8 ab. Die Formulierung „ the use of the undercover agent did not, either alone or in combination with the telefone interception affect private life" zeigt, dass er das eigentliche Problem im Einsatz eines Verdeckten Ermittlers sah.194
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Auswirkungen auf das deutsche Recht
(1) Zugriff auf Mailboxen Die Eingriffsermächtigung für die Überwachung der Telekommunikation (§ 100a StPO) erstreckt sich nicht nur auf die Überwachung von Telefongesprächen, sondern auch auf den Fernschreib- und Fernkopier-(Telefax-)Verkehr. Dass sich der Begriff der Telekommunikation nicht aus der Vorschrift des § 100a StPO selbst ergibt, sondern aus § 3 Nr. 16 und Nr. 17 TKG, dürfte mit dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 8 vereinbar sein. 192
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Vgl. etwa: EGMR, Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 109, § 55; Leander ./. Schweden, Serie Α Nr. 116, §58. EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 51. EGMR, Lüdi./. Schweiz, Serie A Nr. 238, §§ 9, 13, 21, 24, 26, 38-39.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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Anders wäre zu entscheiden, wenn es sich bei § 100a StPO um eine abschließende Regelung handelt. Das ist jedoch nur hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Telekommunikationsüberwachung der Fall, wohingegen der Begriff „Telekommunikation" von der Vorschrift nicht näher definiert wird. Ein Bestimmtheitsproblem ergibt sich jedoch beim Zugriff auf die in einer Mailbox gespeicherten Nachrichten, den der BGH (Ermittlungsrichter) ebenfalls auf § 100a StPO stützt, wohingegen andere Stimmen die Vorschriften zur Durchsuchung und Beschlagnahme für einschlägig halten.195 Dass die gesprochene Nachricht von ihrer Abgabe bis zu ihrem Eintreffen beim Empfänger unter den Schutzbereich der Korrespondenz fällt (Art. 8), dürfte nicht zu bestreiten sein. Das gilt auch für die auf der Mailbox „lagernde" Nachricht. Berücksichtigt man, dass der EGMR einer analogen Anwendung strafprozessualer Eingriffsbefugnisse nicht nur bei der Überwachung von Gesprächen in internen Kommunikationsnetzen, sondern allgemein auf dem Gebiet der (geheimen) Kommunikationsüberwachung eine klare Absage erteilt hat, ist eine Ermächtigungsgrundlage im deutschen Recht zu suchen, deren Wortlaut den Zugriff auf nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs in einer Mailbox „ruhende" Nachrichten deckt und die zugleich als so hinreichend bestimmt angesehen werden kann, dass der Bürger - und sei es nach entsprechender Beratung erkennen kann, dass auf ihrer Grundlage Zugriffe auf Mailboxen erfolgen dürfen. Diesbezüglich bestehen sowohl bei § 100a StPO iVm § 3 Nr. 16 TKG („Telekommunikation") als auch bei § 94 StPO („Gegenstände") erhebliche Zweifel. Der Forderung des EGMR nach einer klaren, präzisen gesetzlichen Regelung dürften beide Befugnisnormen nicht gerecht werden, jedenfalls solange nicht von einem „settled case-law" in dieser Frage gesprochen werden kann.196 Abgesehen von den Ansätzen im Urteil Kopp hat der EGMR das Verhältnis von geschriebenem und ungeschriebenem Recht bei der gesetzlichen Legitimation eines Eingriffs in die Rechte des Art. 8 noch nicht abschließend geklärt, vor allem nicht für die überwiegend vom geschriebenen Recht geprägten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. So müsste sich der EGMR vor allem zu der Frage äußern, ab welchem Umfang eine Rechtsprechung als „settled" angesehen werden kann. (2) Hörfalle Unter dem Begriff der telefonischen „Hörfalle" wird eine Konstellation verstanden, bei der die Ermittlungsbehörden eine Privatperson zu einem Telefongespräch mit dem Tatverdächtigen veranlassen und dieses Gespräch zwecks Erlangung von Angaben zum Untersuchungsgegenstand ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht „mithören", um die dabei gewonnenen Erkenntnisse später im Wege des Zeugenbeweises in die Hauptverhandlung einzuführen. Der Große Senat des BGH hat den jahrelangen Streit um die Zulässigkeit solcher Abhöraktionen dahingehend entschieden, dass der Inhalt des Gesprächs verwertet werden darf, wenn es um die Aufklärung einer Straftat von erheb-
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BGH (Ermittlungsrichter), NJW 1997, 1934; zustimmend: Vassilaki JR 2000, 446, 447; Kudlich JA 2000, 227, 231 f.; Beulke Rn. 253; vgl. dagegen das „Drei-Phasen-Modell" von Nack in: KK-StPO § 100a Rn. 7 ff. Vgl. auch: Palm/Roy NJW 1997, 1904, 1905.
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licher Bedeutung geht - hier verweist er auf die Kataloge der §§ 98a, 100a, 110a StPO und die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Das BVerfG hat Verfassungsbeschwerden zur telefonischen Hörfalle nicht zur Entscheidung angenommen. In der Literatur werden dagegen überwiegend Beweisverwertungsverbote entsprechend §§ 136, 136a StPO befürwortet, wenn die Belehrungspflicht des § 136 StPO durch einen konkreten Ausforschungsauftrag unterlaufen werden soll.197 Die Argumente kreisen zumeist um das von Art. 10 G G geschützte Fernmeldegeheimnis und das Vorliegen einer vernehmungsähnlichen Situation. Auf die E M R K wird nur selten Bezug genommen. Dabei hat der E G M R für eine solche „Hörfalle" im Urteil Α ausdrücklich eine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung iSv Art. 8 Abs. 2 gefordert. Bei jeder noch so geringen staatlichen Veranlassung eines solchen Gesprächs bedeutet schon das bloße Mithören des Telefonats einen Eingriff in die von Art. 8 geschützte Korrespondenz des Tatverdächtigen, unabhängig davon, ob der Anrufer dem „Mithören" des Gesprächs zustimmt oder dieses aufgezeichnet wird. Die Vorschriften zur Telefonüberwachung (§§ 100a, 100b StPO) stellen für eine derartige Hörfalle keine den Qualitätsanforderungen des Art. 8 Abs. 2 entsprechende gesetzliche Grundlage dar. Auch der BGH geht bei solchen Hörfallen nicht von einer Überwachung der Telekommunikation iSd §§ 100a f. StPO aus. Da ein Rückgriff auf die Generalklausel der §§ 161, 163 StPO im Bereich der geheimen Kommunikationsüberwachung ebenso ausscheidet wie eine analoge Anwendung anderer strafprozessualer Eingriffsbefugnisse, bleibt festzuhalten, dass das deutsche Recht keine Art. 8 Abs. 2 entsprechende gesetzliche Grundlage für derartige Hörfallen bereithält. 198 Dies dürfte auch nach der Entscheidung des Großen Senats gelten. Zwar berücksichtigt der E G M R für die Konkretisierung eines nicht hinreichend bestimmten geschriebenen Rechts auch eine gefestigte Rechtsprechung („settled caselaw"). Ob das aber auch gilt, wenn das geschriebene Recht eine detaillierte Regelung zur Telefonüberwachung enthält und die Rechtsprechung nicht der Auslegung dieser Regelung, sondern der Rechtsfortbildung dient, erscheint mehr als zweifelhaft. Ein anderer Gesichtspunkt, der telefonischen „Hörfallen" Grenzen setzen könnte, ist das vom E G M R aus Art. 6 Abs. 1 abgeleitete Selbstbelastungsprivileg. Im untersuchten Zeitraum hatte der Gerichtshof nicht explizit darüber zu entscheiden, ob das Nemo-tenetur-Prinzip auch in vernehmungsähnlichen Situationen gilt bzw. vor einer staatlich veranlassten, irrtumsbedingten Selbstbelastung schützt. 199 Die in dieser Fragestellung angelegte Irrtumsproblematik weist aber gewisse Parallelen zur polizeilichen Tatprovokation auf, die der E G M R über das strafprozessuale Fairnessgebot begrenzt. Insofern spricht viel dafür, dass als Anknüpfungspunkt für eine konventionswidrige Selbstbezich-
197
Siehe: BGHSt 39, 335; BGHSt GrS 42, 139; BVerfG, NStZ 2000, 488; NStZ 2000, 489; ablehnend: Lisken N J W 1994, 2069f.; kritisch in Hinblick auf den Vernehmungsbegriff des BGH: Bosch Jura 1998, 236; grundsätzlich zustimmend dagegen: Sternberg-Lieben Jura 1995, 299. 198 Ebenso: Tietje Μ D R 1994, 1078, 1080; Convery GYIL 38 (1995) 153, 158-171; zur gesamten Problematik: Beulke Rn. 138,254,481g. i " Das BVerfG hat diese Frage offen gelassen: BVerfG, NStZ 2000,488.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
167
tigung nicht nur das Vorliegen einer unzulässigen Zwangswirkung („improper compulsion"), sondern auch die - gezielte - staatliche Herbeiführung eines Irrtums in Betracht kommt. (3) Überwachung der Telefongespräche eines Rechtsanwaltes Wenngleich die Konvention die Überwachung von Telefongesprächen eines Rechtsanwaltes nicht generell untersagt, muss auch das deutsche Recht eine diesbezüglich hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung enthalten, aus der ein Rechtsanwalt die Voraussetzungen für die Überwachung seiner Telefonate und die sich aus ihr ergebenden Folgen erkennen kann. § 53 I Nr. 3 StPO normiert ein Zeugnisverweigerungsrecht für Rechtsanwälte hinsichtlich aller Umstände, die ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden sind. Anders als in der Schweiz wird dieses Aussageprivileg jedoch nicht durch eine Ausschlussvorschrift auf dem Gebiet der Telefonüberwachung untermauert. Wie für alle übrigen nichtverdächtigen Dritte gilt auch für Rechtsanwälte, dass ihnen gegenüber eine Telefonüberwachung (nur dann) angeordnet werden darf, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder dass der Beschuldigte ihren Anschluss benutzt (§ 100a Satz 2 StPO). Rechtsanwälte müssen daher unter diesen Voraussetzungen mit der Überwachung ihrer Telefonanschlüsse und -gespräche rechnen. Ein Widerspruch zwischen dem geschriebenen Recht und der Abhörpraxis, wie er vom E G M R im Urteil Kopp angeprangert wurde, besteht in Deutschland also nicht, weil es keine Vorschrift im geschriebenen Recht gibt, wonach (unverdächtige) Rechtsanwälte wegen des ihnen nach § 53 I Nr. 3 StPO zustehenden Zeugnisverweigerungsrechts explizit von einer Telefonüberwachung ausgenommen sind. Auch das Problem einer Inhaltskontrolle der Gespräche stellt sich im deutschen Recht nicht, da das Zeugnisverweigerungsrecht von Rechtsanwälten im Rahmen der Telefonüberwachung überhaupt nicht geschützt ist. Entnimmt man dem Urteil Kopp aber wie der Verfasser die Forderung nach einem inhaltlich qualifizierten Gesetzesvorbehalt für die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten, wird die für alle nicht tatverdächtigen Personen geltende Regelung des § 100a Satz 2 StPO den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 nicht gerecht. Erforderlich ist die Schaffung einer Gesetzesnorm - oder einer gefestigten Rechtsprechung - die explizit regelt, unter welchen Voraussetzungen die Telefongespräche eines nach § 531 Nr. 3 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Rechtsanwaltes überwacht werden dürfen. F ü r die Telefongespräche des Verteidigers, der über § 53 I Nr. 2 StPO ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht besitzt, besteht allerdings nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ein aus § 148 StPO abzuleitendes Überwachungsverbot, weil andernfalls der von dieser Vorschrift garantierte ungehinderte mündliche Verkehr des Verteidigers mit dem Beschuldigten ausgehöhlt würde. Die Überwachung eines Telefongesprächs ist daher sofort zu beenden, sobald erkennbar wird, dass der Verteidiger des Beschuldigten an diesem Gespräch beteiligt ist. Umstritten ist allerdings, ob das auch gilt, wenn der Verteidiger der Teilnahme an der Katalogtat des Beschuldigten verdächtig ist, was von der Literatur unter Hinweis auf die abschließende Regelung des Verteidiger-
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
ausschlusses vertreten wird (§ 138a I Nr. 1 StPO).200 Ob damit insgesamt eine qualitativ ausreichende gesetzliche Regelung zur Telefonüberwachung von Verteidigern besteht, ist zweifelhaft, denn auch im deutschen Recht ist nicht explizit geregelt, wer nach welchen Bedingungen darüber entscheidet, ob der Verteidiger an einem abgehörten Telefongespräch beteiligt ist. Anders als in der Schweiz findet in Deutschland zwar keine Inhalts-, sondern lediglich eine Personenkontrolle der Gespräche statt. Andererseits wird man die an einem Gespräch beteiligten Personen kaum ohne eine Kenntnisnahme vom Gesprächsinhalt ermitteln können. Soweit es den Verteidiger des Beschuldigten betrifft, entspricht § 148 StPO nicht den Anforderungen, die der EGMR an eine präzise Regelung zur Telefonüberwachung stellt.201
5.
Einsatz von verdeckt ermittelnden Personen
Verdeckte Ermittlungen sind auf vielen Kriminalitätsfeldern zu einem unverzichtbaren strafprozessualen Handwerkszeug geworden. Im Bereich der Drogenkriminalität und des Organisierten Verbrechens sind sie nahezu unentbehrlich, um an die Hintermänner und Auftraggeber krimineller Handlungen zu gelangen.202 Dabei ist zu unterscheiden zwischen Personen, die unmittelbar in der Verantwortlichkeit des Staates stehen - dazu gehören vor allem Polizeibeamte (im folgenden: Verdeckte Ermittler) - und Privatpersonen, die ohne eine rechtliche Bindung an den Staat in die strafprozessualen Ermittlungen eingeschaltet werden (im folgenden: V-Leute).203 a)
Verdeckte Ermittler („ undercover agents")
Mit dem Einsatz verdeckt ermittelnder Polizeibeamter im Rahmen der Strafverfolgung war der EGMR in den Urteilen Lüdi und Teixeira de Castro befasst. Beschränkungen für einen solchen Einsatz ergeben sich sowohl aus Art. 6 Abs. 1 als auch aus Art. 8. Im Urteil Teixeira de Castro hat der Gerichtshof klargestellt, dass zwischen dem Einsatz des Verdeckten Ermittlers als solchem und der späteren Verwertung der aus diesem Einsatz gewonnenen Erkenntnisse differenziert werden muss. Eingriffe, die der Verdeckte Er-
200
201 202 203
Vgl. hierzu: Krey 1/Rn. 635-648; Kleinknecht/Meyer-Goßner § 100a Rn. 13; Roxin § 34 C IV 3 Rn. 27; BGHSt 33, 347, 349 ff. Ebenso: Kühne StV 1998, 683, 686. Zur europäischen Dimension verdeckter Ermittlungen: Koriath Kriminalistik 1996, 535 fT. An dieser Stelle wird nicht der deutschen Terminologie gefolgt. Im Gegensatz zum deutschen Strafprozessrecht (§§ 110a ff. StPO) verwendet der Gerichtshof für verdeckt ermittelnde Polizeibeamte den Begriff des Undercover agent, der ohne einen konkreten Ermittlungsauftrag gerade kein Verdeckter Ermittler iSv § 110a StPO ist (siehe: Kleinknecht/Meyer-Goßner § 110a Rn. 4). Dass der E G M R im Fall Lüdi einen „V-Mann" als Undercover agent bezeichnet hat (§ 8), dürfte damit zusammenhängen, dass es an dieser Stelle um eine Verurteilung in Deutschland aus dem Jahre 1983 ging. Vor der Einführung des § 110a StPO herrschten auf diesem Gebiet terminologische Ungenauigkeiten. Zur Regelung des Einsatzes verdeckter Ermittler in den europäischen Strafprozessordnungen: Eser ZStW 108 (1996) 86, lOOf.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
169
mittler im Rahmen seiner Tätigkeit in von der Konvention geschützte Rechte vornimmt, müssen den jeweils geltenden Schranken entsprechen. Denkbar sind dabei vor allem Eingriffe in die von Art. 8 geschützten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Wohnung und Korrespondenz, wenn der Ermittler die Wohnung einer Person betritt oder sonstige, das Privatleben einer Person beeinträchtigende Ermittlungen vornimmt. Die Heimlichkeit seines Vorgehens lässt die mit seinem Handeln verbundenen Eingriffe in die einzelnen Konventionsgarantien nicht entfallen. Deshalb müssen das heimliche Betreten oder Durchsuchen von privaten Räumlichkeiten ebenso wie das Anbringen von Abhöreinrichtungen auf einer den Grundsätzen des Art. 8 Abs. 2 entsprechenden, also hinreichend bestimmten und ausreichend zugänglichen Ermächtigungsgrundlage beruhen. Ob und in welchem Umfang Art. 8 dem Einsatz eines Verdeckten Ermittlers als solchem, also den Ermittlungen im privaten Umfeld einer Person Grenzen setzt, hat der EGMR im Urteil Lüdi nicht entschieden, obwohl der Sachverhalt hierzu durchaus Anlass geboten hätte. Dort ging es u.a. um die Frage, ob der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers und die zeitgleiche Anordnung einer Telefonüberwachung, in deren Verlauf Gespräche des Ermittlers mit dem Beschuldigten aufgezeichnet wurden, gegen Art. 8 verstießen. Die deutsche Polizei hatte die Berner Kantonspolizei über einen vom Bf. beabsichtigten Drogenkauf in der Schweiz informiert. Ein Untersuchungsrichter eröffnete daraufhin eine Voruntersuchung und ordnete die Überwachung der Telefongespräche des Bf. an. Die Polizei wählte einen vereidigten Polizeibeamten („sworn officer") aus, um in den weitverzweigten Ring von Rauschgifthändlern einzudringen und die Verhaftung der Dealer sowie die Sicherstellung von Drogen zu ermöglichen. Vor seinem Einsatz war der Beamte (T) auf die strafrechtlich zulässigen Grenzen seines Handelns hingewiesen worden. Nachdem sich Τ mit dem Bf. in Verbindung gesetzt hatte, erklärte dieser sich bereit, 2 kg Kokain zu verkaufen. Zwischen dem 19.3. und 14.6.1984 kam es zu insgesamt fünf Treffen zwischen dem Τ und dem Bf., die jeweils auf Initiative des Τ stattfanden, da der Bf. die Identität, Adresse und Telefonnummer des Τ nicht kannte. Die Telefonüberwachung bewertete der EGMR als einen dem Art. 8 Abs. 2 entsprechenden Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens und seiner Korrespondenz. Der Einsatz des „ Undercover agent" habe weder allein noch in Verbindung mit der TÜ einen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Privatleben des Bf. dargestellt („did not affect private life"), da dem Bf. nach dem Verkaufsangebot bewusst gewesen sein müsse, dass er sich auf eine strafbare Handlung einließ („must therefore have been aware ... that he was engaged in a criminal act") und das Risiko einging, auf einen verdeckt ermittelnden Polizeibeamten zu treffen („running the risk of encountering an undercover police officer").204
Da der EGMR im Fall Lüdi den Einsatz des Ermittlers nur hinsichtlich Art. 8 überprüft hat - obwohl auch ein Verstoß gegen die Verfahrensfairness gerügt war - und insofern einen Eingriff in das Privatleben des Beschuldigten verneint hat, muss man den Eindruck gewinnen, dass sich verdeckte Ermittlungen nur dann an den Anforderungen des Art. 8 ausrichten müssen, wenn diese Ermittlungen mit konkreten Eingriffen in das Privatleben
204
EGMR, Lüdi./. Schweiz, Serie A Nr. 238, §§ 9-13,40-41.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
einer Person verbunden sind (Durchsuchung, Telefonüberwachung, Beschlagnahme). Außerdem muss die Verwertung der aus dem Einsatz eines Verdeckten Ermittlers gewonnenen Erkenntnisse dem Fairnessgebot entsprechen (Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(d)).205 Obwohl die Kontaktaufnahme mit dem Beschuldigten durch den Verdeckten Ermittler erfolgt war, sah der EGMR offensichtlich keine Bedenken gegen den Einsatz des Ermittlers als solchen, was die späteren Ausführungen im Urteil Teixeira de Castro zur Entscheidung Lüdi bestätigen. Das Urteil Lüdi musste man sogar so interpretieren, dass sich auch eine gewisse, mit den verdeckten Ermittlungen verbundene Tatprovokation im Rahmen der Konvention hält. Entsprechend seinem nur begrenzten Aussagegehalt wird das Urteil Lüdi bei der Suche nach den von der Konvention gesetzten Grenzen für den Einsatz Verdeckter Ermittler oftmals nur am Rande erwähnt. Das ist um so bedauerlicher, als sich die Forderung einer gesetzlichen Grundlage für den Einsatz Verdeckter Ermittler im Privatleben einer Person unmittelbar aus Art. 8 Abs. 2 herleiten ließe. Erstmals hat sich der EGMR im Urteil Teixeira de Castro zu den Voraussetzungen eines Einsatzes verdeckt ermittelnder Polizeibeamter geäußert, dabei aber interessanterweise die Problematik über die Frage der Verwertbarkeit der aus dem Einsatz gewonnenen Erkenntnisse („admissibility of evidence") aufgerollt und es versäumt, die rechtsstaatlichen Mindestanforderungen für verdeckte Ermittlungen mit Hilfe des Art. 8 zu präzisieren, was aber nahegelegen hätte, weil die Beamten auch private Räumlichkeiten betreten hatten.206 Zwei zivile Polizeibeamte (VE) hatten mehrmals den V.S. angesprochen, der im Verdacht stand, an kleineren Drogengeschäften zur Finanzierung seines Eigenkonsums beteiligt zu sein. Um an seine Lieferanten zu gelangen, boten die VE dem V.S. an, mehrere Kilogramm Haschisch kaufen zu wollen. V.S. sagte zu, einen Lieferanten zu finden, was ihm aber - obwohl durch die VE gedrängt - zunächst nicht gelang. Später suchten die VE den V.S. erneut in dessen Haus auf und gaben vor, an einem Ankauf von Heroin interessiert zu sein. V.S. erwähnte dabei den Namen des Bf. als mögliche Quelle. Nachdem V.S. die Adresse des Bf. von einem gewissen F.O. erhalten hatte, begaben sich alle vier Personen im Auto der VE zum Haus des Bf. Auf Bitte des F.O. bestieg der Bf. das Fahrzeug, in dem sich die VE und V.S. befanden. Die VE gaben vor, 20 g Heroin für 200000 ESC kaufen zu wollen und legten eine Rolle mit Banknoten vor. Der Bf. sagte zu, das Heroin zu besorgen, und fuhr mit seinem Fahrzeug in Begleitung des F.O. zum Haus eines gewissen J.P.O. Letzterer erhielt von einer weiteren Person drei Beutel Heroin und händigte diese dem Bf. gegen Zahlung einer Geldsumme aus, die 100000 ESC überstieg. Der Bf. brachte die Drogen zum Haus des V.S., vor dem die VE warteten. Das Drogengeschäft sollte im Haus stattfinden. Nachdem der Bf. einen Beutel mit Heroin aus der Tasche gezogen hatte, wurden er, V.S. und der F.O. im Haus verhaftet. Ein Gericht, das neben anderen Zeugen auch F.O. und die VE als Zeugen vernommen hatte, verurteilte den Bf. zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe. Der Gerichtshof nahm einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 an, weil „the two police officers' actions went beyond those of undercover agents because they instigated the offence and there is
205 206
Zu diesem Problem: § 6 IV 7. Siehe: EGMR, Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, § 43.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
171
nothing to suggest that without their intervention it would have been committed. That intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial".201 Obwohl der Bf. primär nicht die Verwertung der durch den Einsatz der Verdeckten Ermittler gewonnenen Erkenntnisse, sondern deren tatprovozierendes Verhalten gerügt hatte, stellt der Gerichtshof - wie schon in den Fällen Doorsen und van Mechelen - den Grundsatz an den Beginn seiner Überlegungen, dass die Konvention den Rückgriff auf anonyme Zeugen keineswegs ausschließt. A n dieser Stelle wird deutlich, dass verdeckte Ermittlungen mit einem anderen strafprozessualen Problem verknüpft sind. Die verdeckt ermittelnden Personen bleiben im R a h m e n des späteren Strafprozesses häufig anonym. Zwingend ist das jedoch nicht, so dass beide Problemfelder getrennt voneinander behandelt werden müssen. Auf anonyme Zeugen und Verdeckte Ermittler dürfen die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren - wohl nur d a n n - zurückgreifen, wenn die Art der aufzuklärenden Straftaten dies erfordert („at the investigation stage of criminal proceedings a n d where the nature of the offence so warrants"). D a m i t ist jedoch noch nichts darüber gesagt, o b die Angaben und Erkenntnisse eines anonymen Zeugen bzw. Verdeckten Ermittlers bei der Urteilsfindung verwertet werden dürfen („subsequent use of their statements ... to found a conviction"). 208 Dass der Gerichtshof hier zwischen einer präventiven Aufklärung von Feldern der Organisierten Kriminalität und repressiven Ermittlungen zum Zweck strafgerichtlicher Verfolgung differenzieren wollte 209 , ist eher unwahrscheinlich. Es spricht mehr für die Annahme, dass er - in Anlehnung an seine Entscheidungen zur Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen - verschiedene Abschnitte eines (repressiven) Strafverfahrens meint, das Ermittlungsverfahren u n d den späteren gerichtlichen Strafprozess. Die Unterscheidung zwischen der Zulässigkeit des Einsatzes von Verdeckten Ermittlern u n d der Verwertung der aus ihrem Einsatz gewonnenen Erkenntnisse ist wichtig f ü r die Frage, ob die Konvention - unter bestimmten Voraussetzungen - bereits den Einsatz verbietet. D e n k b a r ist nämlich, dass sie nur der Verwertung der aus einem konventionswidrigen Einsatz Verdeckter Ermittler gewonnenen Erkenntnisse Grenzen setzt. D a s liefe auf ein reines Beweisverwertungsverbot für solche Angaben hinaus, ließe aber die Einleitung eines Strafverfahrens aufgrund der Tatprovokation prinzipiell zu. Der E G M R hat gut daran getan, schon dem Einsatz Verdeckter Ermittler rechtsstaatliche Grenzen zu setzen („use of undercover agents"). So müssen verdeckte Ermittlungen als solche Beschränkungen unterliegen u n d gewisse Garantien bieten („must be restricted and safeguards put in place"). D a s gilt auch bei der Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität, dem klassischen Terrain verdeckter Ermittlungen. Ebenso wie beim Rückgriff auf die Angaben anonymer Zeugen darf auch hier die Verfahrens-
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209
E G M R , Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, §§ 8-22, 34-39. E G M R , Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, § 35; so schon: E G M R , Kostovski ./. Niederlande, Serie A Nr. 166, § 44. So: Kempf StV 1999, 128, 130.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
fairness („right to a fair administration of justice") nicht der Zweckmäßigkeit der Ermittlungen geopfert werden. Deshalb erlaubt auch das öffentliche Interesse an der Kriminalitätsbekämpfung - auf der zweiten Stufe - nicht die Verwertung von Erkenntnissen, die das Ergebnis einer polizeilichen Tatveranlassung sind („use of evidence obtained as a result of police incitement").210 Leider beschränkt sich der Gerichtshof an dieser Stelle auf die Beschreibung, unter welchen Voraussetzungen ein tatprovozierendes Verhalten Verdeckter Ermittler nicht mehr mit der Konvention vereinbar ist, sagt aber nicht, bis zu welchem Grad eine Tatprovokation bzw. verdeckte Ermittlungsmaßnahmen noch der Konvention entsprechen. Man wird die Urteilsgründe so verstehen müssen, dass der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers jedenfalls dann gegen die Konvention verstößt, wenn sein Verhalten über die Tätigkeit eines undercover agent hinausgeht. Ist das der Fall, so verstoßen sowohl sein Einsatz als auch die Verwertung der aus diesem gewonnenen Erkenntnisse in einem anschließenden Strafverfahren - so es denn zur Einleitung eines solchen kommt - gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens.211 Die Formulierung, die tatprovozierte Person werde durch den Einsatz des Verdeckten Ermittlers und seine Verwertung („intervention and its use") von Anfang an eines fairen Verfahrens beraubt, spricht dafür, dass der Gerichtshof den Verstoß gegen die Verfahrensfairness auf zwei eigenständige Anknüpfungspunkte stützt. Man wird diese Formulierung daher nicht so verstehen können, dass die Tatprovokation erst und nur bei einer späteren Verwertung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse gegen die Konvention verstößt. Die Aussage, der tatprovozierte Bf. Teixeira de Castro habe „right from the outset" kein faires Verfahren bekommen, deutet vielmehr darauf hin, dass neben dem Einsatz („intervention") eines - konventionswidrig - verdeckt ermittelnden Polizeibeamten auch die Verwertung („use") der aus diesem Einsatz gewonnenen Erkenntnisse gegen das Fairnessgebot verstößt. Anders ausgedrückt, auf die Verwertung der aus einer konventionswidrigen Tatprovokation gewonnenen Beweise kommt es für die Annahme eines Verstoßes gegen die Verfahrensfairness nicht zwingend an, wohl aber auf die Einleitung eines Strafverfahrens (dazu später). Umgekehrt besteht aber hinsichtlich der aus einer konventionswidrigen Tatprovokation gewonnenen Erkenntnisse ein umfassendes Verwertungsverbot, das - man beachte die weite Formulierung „intervention and its use" - nicht nur die Angaben des Lockspitzels umfasst, sondern sich auf alle aus der Provokation gewonnenen Ermittlungsansätze erstreckt. Bevor nun der Frage nachgegangen wird, ob die Vertragsstaaten im Falle einer konventionswidrigen Tatprovokation nicht nur einer Beweisverwertung, sondern auch der Einleitung eines Strafverfahrens vorbeugen müssen, um einen Konventionsverstoß zu verhindern, ist zu klären, wann ein tatprovozierendes Verhalten eines Verdeckten Ermittlers gegen die Konvention verstößt. Bei aller vom EGMR zum Einsatz Verdeckter Ermittler geforderten Restriktion wird man aus dem Urteil Teixeira de Castro im Um2,0 211
EGMR, Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, § 36. EGMR, Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, § 39 („that intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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kehrschluss folgern müssen, dass Aktionen, die sich auf den Einsatz eines undercover agent beschränken, prinzipiell mit Art. 6 Abs. 1 vereinbar sind. Was zur - konventionsgemäßen - Tätigkeit eines undercover agent gehört („activity ... of undercover agents"), lässt der Gerichtshof leider offen. Die Formulierung „police officers did not confine themselves to investigating Mr Teixeira de Castro's criminal activity in an essentially passive manner, but exercised an influence such as to incite the commission of the offence" lässt die
von der Konvention gesteckten Grenzen nur abstrakt erkennen. Offensichtlich geht das Verhalten eines Verdeckten Ermittlers dann über die Tätigkeit eines undercover agent hinaus („activity/action ... beyond that of undercover agents"), wenn der Ermittler im Rahmen seines Einsatzes eine Straftat veranlasst, die ohne sein Eingreifen nicht verübt worden wäre („instigated the offence and there is nothing to suggest that without their intervention it would have been committed"). Eine konventionswidrige Tatprovokation („incitement") liegt also vor, wenn sich der Beamte nicht darauf beschränkt, das strafrechtlich relevante Verhalten eines Tatverdächtigen in einer passiven Weise zu untersuchen, sondern eine Person zur Begehung einer strafbaren Handlung beeinflusst („not confine themselves to investigating ... criminal activity in an essentially passive manner, but exercised an influence such as to incite the commission of the offence"). Als Kriterien, die für eine mit Art. 6 Abs. 1 unvereinbare „Veranlassung" zur Begehung einer Straftat sprechen, hat der E G M R herangezogen: - der Einsatz der Polizeibeamten war nicht von einem Richter angeordnet oder überwacht („the officers' intervention took (not) place as part of an anti-drug-trafficking operation ordered and supervised by a judge") - die Strafverfolgungsbehörden hatten keinen Grund, den Bf. als Drogendealer zu verdächtigen („the competent authorities had (no) good reason to suspect that... was a drug trafficker") - der Bf. war nicht vorbestraft, bezüglich seiner Person war keine Voruntersuchung eingeleitet und er war den Beamten auch sonst nicht bekannt, die ihn nur durch Mittelsmänner kennengelernt hatten („had no criminal record and no preliminary investigation concerning him had been opened und was not known to the police officers, who only came into contact with him through ....") - der Bf. musste die von ihm angebotenen Drogen erst besorgen („the drugs were not at the applicant's home; he obtained them from a third party who had in turn obtained them from another person") - die sichergestellte Drogenmenge ging nicht über die bestellte Menge hinaus („at the time of his arrest, the applicant had (no) more drugs in his possession than the quantity the police officers had requested thereby going beyond what he had been incited to do by the police") - es gab keinerlei Anzeichen, dass der Bf. geneigt war, eine Straftat zu begehen („no evidence to support that the applicant was predisposed to commit offences"). 212
Den Entscheidungsgründen ist wegen der Verknüpfung „furthermore" nicht zu entnehmen, ob einzelne oder mehrere dieser Kriterien für die Annahme einer konventionswid-
212
EGMR, Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, §§ 38-39.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
rigen Tatprovokation genügt hätten oder ob die Umstände nur in ihrer Gesamtheit geeignet waren, einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 zu begründen. 213 Ein bestehender Tatverdacht - über den Grad mag man streiten - und eine Tatgeneigtheit der betroffenen Person bzw. das Verhältnis zwischen dem tatprovozierenden Verhalten und dem Umfang der letztlich begangenen Tat dürften die wichtigsten Kriterien in diesem Katalog sein. Dass der E G M R nur auf einen bestehenden Tatverdacht abstellt, wird man dagegen nicht ohne weiteres behaupten können. 214 Ein weiterer Punkt ist, dass der E G M R den Fall Teixeira de Castro ausdrücklich von der Entscheidung Lüdi abgegrenzt hat. Die Aussage, im Fall Lüdi „police officers' role had been confined to acting as an undercover agent", lässt vermuten, dass der E G M R den dortigen Einsatz des Polizeibeamten für konventionsgemäß erachtet hat, weil der Beamte vereidigt war („sworn"), sein Einsatz einem Untersuchungsrichter bekannt war („had not been unaware of his mission") und im Rahmen eines förmlichen Ermittlungsverfahrens stattgefunden hatte („preliminary investigation"). 215 Ob das auf einen Richtervorbehalt hinausläuft, erscheint eher zweifelhaft. Hier wird deutlich, dass sich rechtsstaatliche Förmlichkeiten über die Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage iSv Art. 8 Abs. 2 für verdeckte Ermittlungen im Privatleben einer Person leichter implementieren lassen als über das abstrakte Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1. Das abschließend vom E G M R für das Fairnessgebot angeführte Argument, die Verurteilung des Bf. habe hauptsächlich („mainly") auf den Angaben der Beamten beruht, betrifft im Kern die Verwertung der durch die verdeckten Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse, liefert aber kein taugliches Kriterium für das Vorliegen einer konventionswidrigen Tatprovokation, denn ein tatprovozierendes Verhalten wird nicht dadurch konventionswidrig, dass keine weiteren Beweise für die Schuld des Betroffenen vorliegen. Umgekehrt wird die Unfairness des auf einer konventionswidrigen Tatprovokation beruhenden Verfahrens nicht dadurch geheilt, dass sich später weitere Beweise für den Nachweis der provozierten Tat ergeben.216 Die Formulierung lässt aber zumindest befürchten, dass der Gerichtshof einen Konventionsverstoß möglicherweise abgelehnt hätte, wenn die Verurteilung der zur Tat verleiteten Person nicht hauptsächlich auf den Angaben des Verdeckten Ermittlers beruht hätte („convicted mainly on the basis of the statements"). Dies wäre jedoch ein offener Widerspruch zu dem Ansatz „intervention and its use", weil nicht ersichtlich ist, wie der bereits mit der Einleitung des Strafverfahrens „right from the outset" eingetretene Verstoß gegen das Fairnessgebot nachträglich entfallen soll, wenn die Verurteilung auch nur teilweise auf die Angaben des provozierenden Ermittlers zurückgeht. Wenngleich das Urteil Teixeira de Castro lediglich die konventionswidrige Tatprovokation Verdeckter Ermittler betraf, dürfen die Grundsätze zum „police incitement" nicht
213 214 215 216
Vgl. zu diesem Problem und der Abgrenzung vom Urteil Lüdi: Kinzig StV 1999, 288, 289. So: Kempf StV 1999, 128, 130. E G M R , Teixeira de Castro ./. Portugal, Reports 1998-IV, § 37. Vgl. hinsichtlich eines von der verleiteten Person abgegebenen Geständnisses: Taschke StV 1999, 632, 633.
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auf tatprovozierende Polizeibeamte beschränkt bleiben. Sie müssen auch für Staatsanwälte und alle übrigen in die Verbrechensbekämpfung eingebundenen Personen gelten, die auf staatliche Veranlassung tätig werden und dem Vertragsstaat aus diesem Grund zuzurechnen sind. Das Urteil des E G M R im Fall Teixeira de Castro hat in Deutschland eine lebhafte Diskussion darüber ausgelöst, wie auf eine konventionswidrige staatliche Tatprovokation mit den Instrumentarien und Rechtsinstituten des deutschen Strafverfahrensrechts zu reagieren ist. Überzeugend scheint dabei auf den ersten Blick allein die Annahme eines Prozess- bzw. Strafverfahrenshindernisses zu sein, weil sich nur mit seiner Hilfe verhindern lässt, dass die tatprovozierte Person „right from the outset" einem unfairen Verfahren ausgesetzt wird. Dass der E G M R eine solche Forderung nicht selbst erhoben hat, steht dem nicht entgegen, weil die Konvention den Ausspruch einer solch konkreten Vorgabe an den Vertragsstaat nicht gestattet (Art. 41).217 Betrachtet man die Konventionsbestimmungen jedoch genauer, begegnet dieser Ansatz dogmatischen Bedenken. Im Fall Teixeira de Castro war aufgrund der konventionswidrigen Tatprovokation ein Strafverfahren eingeleitet worden, an dessen Ende die tatprovozierte Person verurteilt worden war. Aus diesem Grund fiel es dem E G M R auch nicht schwer, von der Unfairness des Verfahrens „right from the outset" auszugehen. Umgekehrt lässt sich aus der Entscheidung jedoch nicht ohne weiteres folgern, dass die Konvention im Falle einer konventionswidrigen Tatprovokation bereits die Einleitung eines Strafverfahrens verbietet. Das wäre nur dann der Fall, wenn bereits der Beginn der Strafverfolgung als Reaktion auf die „erfolgreich" provozierte Straftat gegen das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 verstößt. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 setzt nun aber zwingend voraus, dass sowohl der sachliche als auch der zeitliche strafrechtliche Schutzbereich dieser Vorschrift eröffnet sind. Darauf gilt es bei der Suche nach der von der Konvention geforderten staatlichen Reaktion auf eine konventionswidrige Tatprovokation genau zu achten. Bleibt die Tatprovokation „erfolglos" und kann mangels Straftat gar kein Strafverfahren gegen die nichtprovozierte Person eingeleitet werden, fehlt es bereits begrifflich an der Erhebung einer strafrechtlichen Anklage. Zu einem Verfahren, welches fair sein müsste, kommt es gar nicht. Es mangelt bereits an einer Straßaren Handlung der zu provozierenden Person, die Gegenstand einer solchen Anklage sein könnte. Die versuchte Tatprovokation hat dementsprechend keine konventionsrechtlichen Folgen. Ist die Tatprovokation dagegen „erfolgreich" und reagiert die provozierte Person mit der Vornahme einer strafbaren Handlung, lässt sich ein Verstoß gegen Art. 6 nur annehmen, wenn es infolge der Provokation zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage kommt. 218 Zwar kann man in der Anordnung einer geheimen Kommunikationsüberwachung (Telefonüberwachung, Lauschangriff) die Erhebung einer Anklage iSv Art. 6 Abs. 1 sehen, wenn sie aus Anlass eines Tatverdachts erfolgt und man der Person, gegen die sich die Überwachung richtet, in diesem Stadium den Schutz aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 nicht
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So auch: Kudlich JuS 2000,951, 954. Ebenso: Usch JA 2000,450,453f.; ders. JR 2000,434,435.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
ganz versagen will. Das kann aber nicht für das tatprovozierende Verhalten eines Verdeckten Ermittlers gelten, denn streng genommen darf man hier gar nicht von einem Verdeckten „Ermittler" sprechen, weil dieser nicht ermittelt bzw. anklagt, sondern provoziert. Eine solche Provokation ist für sich allein betrachtet nicht geeignet, die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage auszulösen. Angeklagt iSv Art. 6 Abs. 1 wird eine tatprovozierte Person frühestens durch die ausdrückliche oder inzidente Mitteilung über die Einleitung der Strafverfolgung. Ein anfängliches Strafverfahrenshindernis verträgt sich deshalb weder mit der Systematik noch mit dem Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 1, der gerade die Einleitung eines Strafverfahrens - die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage - voraussetzt. Damit eine tatprovozierte Person in den Schutz dieser Vorschrift der Konvention kommt, müssten die Strafverfolgungsbehörden also gerade eine Anklage erheben, sprich Ermittlungen einleiten, den Tatverdächtigen hierüber informieren, ihn festnehmen etc. Diese erhobene Anklage wäre aber sofort wieder einzustellen, weil sich nur so verhindern lässt, dass der Beschuldigte „right from the outset" einem konventionswidrigen Strafverfahren ausgesetzt wird. Streng dogmatisch gesehen entsteht das Verbot der Strafverfolgung also erst, nachdem gegen die provozierte Person Anklage erhoben ist. Dieses Ergebnis mag aus rechtsstaatlicher Sicht höchst unbefriedigend sein, weil es die provozierte Person - und sei es nur für kurze Zeit - einem Strafverfahren aussetzt, das unmittelbar nach seiner Einleitung einzustellen ist. Dennoch lässt sich aus der Konvention kein Verbot der Einleitung eines Strafverfahrens infolge einer konventionswidrigen Tatprovokation entnehmen, weil Art. 6 Abs. 1 nicht die Nichteinleitung von Strafverfahren gebietet. Art. 6 Abs. 1 gewährt keinen Anspruch auf die Nichterhebung einer Anklage, sondern darauf, dass ein Gericht über erhobene Anklagen fair verhandelt. Letzteres wiederum ist aufgrund der konventionswidrigen Provokation gar nicht mehr möglich („right from the outset"). Wenngleich die Konvention nicht die Annahme eines Strafverfolgungshindernisses verlangt, macht es aus nationaler Perspektive keinen Sinn, den Strafverfolgungsbehörden zu „gestatten", zunächst ein Strafverfahren gegen eine konventionswidrig provozierte Person einzuleiten, damit diese zur angeklagten Person wird und dann die Einhaltung eines faires Verfahrens - sprich dessen sofortige Beendigung - verlangen kann. Deshalb liegt es trotz der oben aufgezeigten dogmatischen Bedenken nahe, auf nationaler Ebene von einem anfanglichen Strafverfahrenshindernis auszugehen. Der BGH ist diesen Weg bedauerlicherweise nicht gegangen. Schon vor der Entscheidung des EGMR im Fall Teixeira de Castro war der BGH der Ansicht, dass ein tatprovozierendes Verhalten gegen das Fairnessgebot verstößt, wenn der dem Staat zurechenbare Provokateur auf eine nicht tatgeneigte Person einwirkt und diese durch übermäßigen Druck zur Tatbegehung veranlasst. Davon sei auszugehen, wenn das tatprovozierende Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt, dass demgegenüber der Beitrag des Täters in den Hintergrund tritt. Im Falle einer unzulässigen Tatprovokation lehnte der BGH auf der Rechtsfolgenseite ein Strafverfolgungshindernis ebenso wie ein Verwertungsverbot ab, sondern verlangte als Ausgleich lediglich eine Strafmilderung, die auch das Maß der Schuldproportionalität unterschreiten und bis zur gesetzlichen Mindestgrenze herabreichen kann (sog. Strafzumessungs-
§ 2 Art und U m f a n g strafprozessualer Ermittlungen
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lösung).219 Die Reaktion des BGH auf das Urteil Teixeira de Castro ließ zunächst auf sich warten. Der 4. Senat sah sich nicht veranlasst, seine Rechtsprechung zu den Folgen eines tatprovozierenden Verhaltens polizeilicher Lockspitzel aus Anlass der Straßburger Rechtsprechung zu überdenken, weil in dem von ihm zu entscheidenden Fall der eigenen, nicht staatlich gesteuerten Initiative des Beschuldigten während eines nicht unerheblichen Tatzeitraums erhebliches Gewicht beizumessen war.220 Auch das BayObLG meinte, in den Gründen der Entscheidung Teixeira de Castro - vor allem wohl in der Formulierung „intervention and its use" - einen kumulativen Ansatz („zwei Säulen") erkennen zu können und nur dann von einem Verstoß gegen die Verfahrensfairness ausgehen zu müssen, wenn die Ergebnisse einer - konventionswidrigen - Tatprovokation zum Nachteil des Beschuldigten verwertet werden. Weil die Verurteilung im konkreten Fall nicht auf den Angaben des Provokateurs, sondern auf dem Geständnis des Beschuldigten beruhte, ließ es offen, ob die Nutzung von tatprovozierenden Vertrauenspersonen zu einem Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot führen kann.221 Unter Bezugnahme auf das Urteil Teixeira de Castro hat dann der 1. Senat des BGH in seiner Entscheidung vom 18.11.1999 die rechtsstaatlichen Grenzen für den Einsatz von V-Personen und die Kriterien für die Unzulässigkeit eines tatprovozierenden Lockspitzeleinsatzes präzisiert. Soweit er - wie schon zuvor - auf das Bestehen eines Tatverdachts (§§ 152 II, 160 StPO) und die Tatgeneigtheit der zu verleitenden Person abstellt, schließt er sich den vom E G M R aufgestellten Grundsätzen und Kriterien zur Beurteilung einer konventionswidrigen Tatprovokation an und setzt die Straßburger Vorgaben durchaus zufriedenstellend um. Bedauerlicherweise ist der BGH dann aber bei der Rezeption des Urteils Teixeira de Castro auf halber Strecke stehen geblieben. Er hat auf der Rechtsfolgenseite an seiner umstrittenen Strafzumessungslösung festgehalten und sich erneut - insofern eindeutig konventionswidrig - gegen ein Beweisverwertungsverbot ausgesprochen. Ein Verfahrenshindernis als Folge der Tatprovokation lehnt er ebenso ab wie einen persönlichen Straf-/Schuldausschließungsgrund. Stattdessen billigt er der konventionswidrig provozierten angeklagten Person lediglich eine wesentliche Strafmilderung bis zur Untergrenze der gesetzlich angedrohten Strafe zu, bei der auch die Unterschreitung der ansonsten schuldangemessenen Strafe geboten sein kann. Der durch die Tatprovokation hervorgerufene und bei der Festsetzung der Rechtsfolge zu kompensierende Verstoß gegen die Verfahrensfairness ist allerdings vom Tatgericht im Urteil festzustellen, wobei das Maß der Kompensation für das konventionswidrige Handeln gesondert zum Ausdruck kommen muss.222 Die Strafzumessungslösung hat zur Folge, dass
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BGHSt 32, 345, 348ff; N S t Z 1984, 78; StV 1995, 131; N S t Z 1995, 506; vgl. auch die historische Darstellung bei Kinzig StV 1999, 288, 290. B G H , Beschluss v. 2 0 . 5 . 1 9 9 9 - 4 StR 201/99, StV 1999, 631. BayObLG, Beschluss v. 29.6.1999 - 4 St R R 133/99, StV 1999, 631 f. BGHSt 45, 321 (Urteil v. 18.11.1999 - 1 StR 221/99) = N J W 2000, 1123. Im konkreten Fall ging es um die Tatprovokation eines bislang völlig unverdächtigen Italieners, der von einem Lockspitzel des Bayerischen Landeskriminalamtes erst nach drei Ablehnungen zur Vermittlung eines Drogenankaufs verleitet werden konnte. Er war wegen Drogenhandels zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. D a s LG München, an das der Fall zur erneuten Verhandlung und
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
der Beschuldigte nicht nur die Kosten seiner Verurteilung tragen muss, sondern auch keine Entschädigung für eine erlittene Untersuchungshaft erhält, obwohl er - um in der Diktion des EGMR zu bleiben - „right from the outset" kein faires Verfahren erfahren hat. Die vom BGH angeführten Argumente sind geprägt von dem offensichtlichen Bemühen um eine strafprozessuale Harmonie auf nationaler Ebene. So muss vor allem die in der StPO verwurzelte Systematik - man beachte neben den dogmatischen Bedenken für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes das Argument, dass selbst ein Verstoß gegen § 136a StPO nicht zu einem Verfahrenshindernis führte - als Schranke für die Umsetzung der Straßburger Vorgaben herhalten. Darin liegt der eigentliche Schwachpunkt des Urteils. Die vom BGH angesprochenen und zugegebenermaßen nicht zu leugnenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Reichweite eines Beweisverwertungsverbots lassen sich beheben: durch die Entscheidung für ein (anfangliches) Strafverfahrenshindernis. 223 Berücksichtigt man die Perspektive, aus der das Urteil geschrieben ist, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass der BGH das Urteil Teixeira de Castro in die deutsche Rechtsordnung eingefügt hat, anstelle das deutsche Recht dem europäischen Menschenrechtsstandard anzupassen. Zu Recht ist die Beibehaltung der Strafzumessungslösung in der Literatur auf zum Teil harsche Kritik gestoßen. Dort werden im wesentlichen drei Vorschläge für die Umsetzung der Straßburger Vorgaben gemacht - Prozesshindernis, Schuldausschließungsgrund, Beweisverwertungsverbot - , die alle im Ergebnis zu der konventionskonformen Lösung führen, dass der Tatprovozierte nicht bestraft wird.224 b)
Zusammenarbeit
der Strafverfolgungsbehörden
mit
Kontaktpersonen
Die aus Art. 1 bestehende Verpflichtung, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zu sichern, trifft nur die Vertragsstaaten. Das Verhalten von Privatpersonen im Rahmen der Strafverfolgung ist prinzipiell konventionsneutral, es sei denn, dass es den Strafverfolgungsbehörden in irgendeiner Form zuzurechnen ist. Problematisch ist vor allem die Tätigkeit von sog. V-Leuten, bei denen es sich regelmäßig um Privatpersonen handelt, die aus unterschiedlichen Motiven mit der Polizei zusammenarbeiten. Dass nicht jede Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit Privatpersonen automatisch zur Annahme eines Konven-
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Entscheidung zurückverwiesen worden war, verurteilte den Angeklagten im September 2000 zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen ä 20 D M (vgl. SZ Nr. 205 v. 6.9.2000, S. 47); vgl. zur Entscheidung des BGH die ablehnenden Anmerkungen von: EndrißlKinzig NStZ 2000, 271, 272f.; Roxin JZ 2000, 369; Sinnerl Kreuzer StV 2000, 114; der Strafzumessungslösung zustimmend dagegen: Kleinknecht I Meyer-Goßner Einleitung Rn. 148—148a; Lesch JR 2000,434; offen gelassen, ob die Strafzumessungslösung der Konvention entspricht: Weigend StV 2001, 63, 64. Hierzu: Kudlich JuS 2000, 951, 954, der die Argumentation des BGH in diesem Punkt ebenfalls für angreifbar hält. Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Beulke Rn. 288; für eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 II StPO: Taschke StV 1999, 632f.; ein Beweisverwertungsverbot fordern: Kühne Rn. 537; Kinzig StV 1999, 288, 292; siehe zu den in der Literatur vertretenen Ansichten zur Strafzumessungslösung auch die Nachweise bei BGHSt 45, 321, 326.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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tionsverstoßes führt, zeigt das Urteil Stocke. D o r t waren die Verhaftung und letztlich auch die spätere Verurteilung des Bf. durch die Täuschungshandlung einer Privatperson ermöglicht worden. Der E G M R n a h m zwar eine zwischen den deutschen Strafverfolgungsbehörden und der Privatperson bestehende „cooperation" an, lehnte aber einen Verstoß gegen die Konvention ab. Gegen den in die Schweiz geflohenen Bf. Stockä konnte ein Haftbefehl nicht vollstreckt werden. Ein Informant (K) der Polizei, gegen den in anderer Sache selbst strafrechtliche Ermittlungen liefen, bot der StA an, gegen eine Belohnung bei der Suche und Rückführung des Bf. behilflich zu sein. Κ entwickelte einen Plan zur Auslieferung des Bf. aus Luxemburg. Der zuständige Staatsanwalt erklärte dem K, dass seine Mithilfe allenfalls strafmildernd im Rahmen des gegen ihn laufenden Strafverfahrens Berücksichtigung finden könne, eine finanzielle Entschädigung jedoch ausgeschlossen sei. Zudem müsse jedwede Aktion legal sein und darauf abzielen, entweder den Aufenthaltsort des Bf. zum Zwecke der Auslieferung zu ermitteln oder ihn zu einer freiwilligen Rückkehr zu bewegen. Κ veranlasste den Bf. dazu, ein Flugzeug zu besteigen, das ihn, Κ und eine weitere Person zu einem fingierten Treffen in Luxemburg bringen sollte. Der Bf. war von einem der Piloten ausdrücklich gewarnt worden, dass das Flugzeug über deutsches Hoheitsgebiet fliegen würde. Vor dem Start bat Κ einen der beiden Piloten, eine Notlandung in Saarbrücken zu simulieren, wo der Bf. aufgrund einer Mitteilung des Κ gegenüber der Polizei verhaftet wurde. Die Aktion war nicht mit den deutschen Strafverfolgungsbehörden abgesprochen worden. Der Bf. stellte Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung. Sowohl die französische StA als auch die deutschen Gerichte hielten den Tatvorwurf für unbegründet. Κ erhielt von der Polizei insgesamt 3000 DM als Erstattung seiner Aufwendungen, insbesondere für das Chartern des Flugzeugs. Nach Ansicht des Gerichtshofs war der Bf. mittels eines Tricks dazu verleitet worden, das Flugzeug nach Luxemburg zu besteigen. Da jedoch keiner der mit dem Fall befassten Staatsanwälte und Polizeibeamten den Plan des Κ gekannt oder gebilligt hatte, verstieß die Rückführung des Bf. aus dem Ausland weder gegen Art. 5 noch gegen Art. 6.225 Wenngleich die Entscheidung Stocke mit dem besonderen Problem der R ü c k f ü h r u n g eines Beschuldigten in den der Strafgewalt unterliegenden Hoheitsbereich eines Vertragsstaates verbunden ist, ergeben sich aus ihr zwei grundlegende Aussagen für den Einsatz von Privatpersonen bei der D u r c h f ü h r u n g von Strafverfolgungsmaßnahmen. Beide liefern aber f ü r die strafprozessuale Praxis k a u m verlässliche Leitlinien. Absprachen zwischen einer privaten Kontaktperson und den Strafverfolgungsbehörden zum Zwecke der R ü c k f ü h r u n g eines Tatverdächtigen aus dem Ausland und seiner anschließenden Verhaftung verstoßen nicht gegen Art. 5 und Art. 6, wenn die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit der Kontaktperson nicht den G r a d einer illegalen Handlung im Ausland („unlawful activities abroad") erreicht. Wie eine Zusammenarbeit beschaffen sein muss, damit sie diese Schwelle überschreitet, hat der E G M R ausdrücklich offen gelassen.
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EGMR, Stocke ./. Deutschland, Serie A Nr. 199, §§ 9-19, 27, 49-54; vgl. hierzu: BVerfG, EuGRZ 1986, 18 ff.; Trechsel EuGRZ 1987, 69, 76.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Unabhängig von der Frage, wann die Kooperation zwischen einer Privatperson und den Strafverfolgungsbehörden konventionsrechtlich relevant wird, ist die Verantwortlichkeit eines Vertragsstaats jedenfalls dann eröffnet, wenn sich seine Strafverfolgungsbehörden das Verhalten einer Privatperson oder das Ergebnis ihrer Tätigkeit zu eigen machen. Im Urteil Stocki hat der EGMR festgestellt, dass der Bf. nur durch einen Trick zum Besteigen des Flugzeuges veranlasst werden konnte („induced by a trick"). Ganz offensichtlich ging also auch er davon aus, dass die Festnahme auf einer Täuschungshandlung der Kontaktperson beruhte. Weder diese Täuschungshandlung, noch die zwischen den Strafverfolgungsbehörden und der Kontaktperson erfolgten Vorgespräche, noch die nach der Festnahme erfolgte Kostenerstattung reichten dem EGMR aber aus, um einen Konventionsverstoß zu bejahen. Worauf es also ankommt, ist eine persönliche Verantwortlichkeit der an der Festnahmeaktion beteiligten Beamten. Die Strafverfolgungsbehörden müssen sich - auf dem Gebiet freiheitsentziehender Maßnahmen - die von einer Privatperson vorgenommene Täuschung des Beschuldigten nur dann zurechnen lassen, wenn ihnen das konkrete Vorhaben der Privatperson vor Beginn der Täuschungshandlung bekannt ist. Ob dieser strenge Maßstab angesichts der zwischenzeitlich fortgeschrittenen Rechtsprechung zur Herleitung von Schutzpflichten aus der Konvention noch Bestand hat, darf ernsthaft bezweifelt werden. Auch bleibt abzuwarten, inwieweit das Urteil Stocke eine über freiheitsentziehende Maßnahmen hinausgehende Aussagekraft besitzt, weil das Verhalten der Kontaktperson unmittelbar nur die Freiheitsentziehung des Bf. zur Folge hatte. Insbesondere enthält das Urteil keinen verlässlichen Anhaltspunkt für die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen für die Tatprovokation durch V-Leute oder Privatpersonen die im Urteil Teixeira de Castro zum „police incitement" aufgestellten Grundsätze entsprechend gelten. Das wird man jedoch annehmen müssen, wenn ihr Verhalten von den staatlichen Ermittlungsbehörden zurechenbar veranlasst ist.226 Neben der Problematik eines tatprovozierenden Verhaltens durch V-Leute ist die grundsätzliche Frage zu stellen, ob der gezielte Einsatz solcher privater Kontaktpersonen mit der Konvention vereinbar ist. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness steht der EGMR dem Einsatz von V-Personen als „anonymous informants" im Ermittlungsstadium durchaus offen gegenüber. Allerdings wird man der Konvention das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den staatlich veranlassten Einsatz von V-Personen bei der Strafverfolgung entnehmen können, wenn dieser mit Eingriffen in die von Art. 8 geschützten Rechte verbunden ist. Weil die Tätigkeit von Verdeckten Ermittlern und V-Personen oftmals Täuschungscharakter hat, ist ein solcher rechtfertigungsbedürftiger Eingriff auch dann anzunehmen, wenn er mit dem Einverständnis des Rechtsinhabers erfolgt. Zu denken ist dabei an das Betreten von Wohnungen oder das Lesen von Korrespondenz. Einen irrtumsbedingten Verzicht wird der EGMR nicht akzeptieren.
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Auch der BGH ist der Ansicht, dass sich der Staat das (konventionswidrige) Verhalten von Vertrauensleuten zurechnen lassen muss: BGHSt 45, 321, 330 = N J W 2000, 1123, 1125.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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Eine solche gesetzliche Grundlage für Eingriffe in die Rechte des Art. 8 besteht in Deutschland nur für den Einsatz von Verdeckten Ermittlern (§ 110c StPO). Die §§ 110a bis 1 lOe StPO sind auf V-Personen nicht entsprechend anzuwenden.227 Ihr Einsatz wird auf die - durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 zu einer Ermittlungsgeneralklausel aufgewerteten - §§ 161, 163 StPO gestützt, die jedoch mangels Bestimmtheit nicht den Qualitätsanforderungen des EGMR an eine gesetzliche Regelung iSv Art. 8 Abs. 2 entsprechen. Die 1986 beschlossenen „Richtlinien über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauensleuten ( V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (RiStBV Anl. D) kommen mangels Bestimmtheit nicht für eine Konkretisierung der §§ 161, 163 StPO in Betracht.228 Mit einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in Straßburg ist zu rechnen, wenn VLeute - staatlich veranlasst - Wohnungen durchsuchen, Korrespondenz einsehen, Abhöreinrichtungen in den zum Privatleben gehörenden Gegenständen anbringen oder zum Privat- und Familienleben gehörende Daten sammeln. Die Differenzierung des BGH zwischen Verdeckten Ermittlern und V-Leuten passt nicht zur Dogmatik des Art. 8 Abs. 2, der auf die „Staatlichkeit" des Eingriffs, nicht aber auf den Verfahrensstatus der eingreifenden Personen abstellt. Für die besagten Eingriffe ist eine hinreichend bestimmte Eingriffsermächtigung daher dringend erforderlich. Hingegen dürfte die Konvention einem gezielten Einsatz von V-Leuten zur Ausforschung einer zeugnisverweigerungsberechtigten Person, der nicht mit Eingriffen in das Privatleben dieser Person verbunden ist, allenfalls bei einer gezielten Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts Grenzen setzen. Hier ließe sich durchaus ein Verstoß gegen die Verfahrensfairness konstruieren, wenn man das Zeugnisverweigerungsrecht nicht ausschließlich als Recht des Zeugen - ein solches ist nicht von der Konvention geschützt - , sondern als Teil der Fairness ansieht, auf die sich (nur) der Beschuldigte berufen kann. Unterhalb dieser Missbrauchs- oder Unredlichkeitsschwelle zeigt der EGMR keine Bereitschaft, nationale Zeugnisverweigerungsrechte zugunsten naher Angehöriger menschenrechtlich abzusichern.229 Über die Zulässigkeit des gezielten Einsatzes von V-Leuten im Umfeld des Beschuldigten hatte der BGH im Urteil zur Ermordung des Schauspielers Sedlmayr zu entscheiden. Zwei von der Polizei förmlich für den öffentlichen Dienst verpflichtete V-Leute hatten monatelang im Umfeld der beiden Tatverdächtigen ermittelt und dabei das Vertrauen der zeugnisverweigerungsberechtigten Verlobten eines Tatverdächtigen erworben. Diese hatte sich gegenüber einem der V-Leute (V) zur Herkunft des Tatwerkzeugs geäußert. Die Information floss durch die Vernehmung des V in das Urteil ein, obwohl die Verlobte in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert hatte. Die Verurteilung hatte das Tatgericht noch auf weitere Indizien gestützt. Der BGH hält die Angaben von
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BGHSt 41,42 ff Kritisch zum Fehlen einer spezialgesetzlichen Regelung: Eschelbach StV 2000, 390, 391 f.; Duttge JZ 1996, 556ff. Vgl. E G M R , Unterpertinger ./. Österreich, Serie A Nr. 110; Asch ./. Österreich, Serie A Nr. 203; Ζ ./. Finnland, Reports 1997-1.
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
V-Leuten, die im Umfeld von Angehörigen des Beschuldigten eingesetzt werden, für verwertbar. Eine unzulässige Täuschung iSv § 136a StPO lehnt er ebenso ab, wie eine Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts bzw. des Verwertungsverbots aus § 252 StPO. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde im Fall Sedlmayr wegen mangelnder Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen, sich aber zu der Aussage verleiten lassen, dass das staatlich zurechenbare Vorgehen der V-Leute ohne spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage unzulässig war. Ausdrücklich hat es die Missachtung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Beschuldigten und seinen Angehörigen als Verstoß gegen das Prinzip eines fairen Verfahrens bewertet. Offen bleibt allerdings, ob erst („spätestens") die „Nachfrage" einer Aussageperson bei einem zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen oder bereits der Einsatz der V-Leute als solcher einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Dieses obiter dictum sollte der deutsche Gesetzgeber als klaren Handlungsauftrag für die Schaffung einer speziellen gesetzlichen Grundlage für den über eine „rein passive Informationserlangung ohne Eingriffscharakter" hinausgehenden Einsatz von V-Personen interpretieren. 230 Gegen die Ausforschung des persönlichen Umfeldes des Beschuldigten außerhalb seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seiner Korrespondenz gewährt die Konvention grundsätzlich keinen Schutz. Es bleibt abzuwarten, ob der E G M R diese Schutzlücke über das Einfallstor der Verfahrensfairness schließen wird.
c)
Verwertbarkeit des von einer Privatperson aufgezeichneten Telefongesprächs
Von der Problematik der Hörfalle zu unterscheiden ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die von einer Privatperson hergestellte Aufnahme eines Telefongesprächs zum Nachteil des Beschuldigten verwertet werden darf. Verstößt die Aufnahme des Gesprächs schon gegen die Vorschriften des nationalen Rechts - ist sie also rechtswidrig hergestellt worden - , so ließe sich ein Verstoß gegen die Verfahrensfairness schon allein deshalb annehmen, weil hier ein rechtswidrig hergestelltes Beweismittel zum Nachteil des Beschuldigten verwertet wird. Diesen beschuldigtenfreundlichen, zugegebenermaßen aber wenig „flexiblen" Weg ist der E G M R nicht gegangen, obwohl auch er das Fairnessgebot des Art. 6 als Maßstab für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes heranzieht, weil die Konvention das Beweisverfahren vor den nationalen Gerichten - von wenigen Ausnahmen abgesehen (Art. 6 Abs. 3(d)) - nicht regelt. Richtig ist, dass keine Bestimmung der Konvention ausdrücklich verlangt, dass ein nach nationalem Recht rechtswidrig erlangtes Beweismittel von der Einführung in ein Strafverfahren ausgeschlossen ist. Anders als im Bereich des Art. 5 und Art. 8, wo der Gerichtshof mit Hilfe der Generalklauseln „auf die gesetzlich vorgesehene Weise" bzw. „gesetzlich vorgesehen" eine direkte Prüfung des nationalen Rechts vornehmen kann und ein Rechts-
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Vgl. BVerfG, N S t Z 2000, 489, 490; kritisch zum Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für den Einsatz polizeilicher Vertrauensleute: Rogall NStZ 2000,490ff. ( m w N Fn. 10); Kreuzer SZ Nr. 118 v. 23724.5. 2001, S. 9 („Wenn der Staat Straftaten inszeniert").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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verstoß regelmäßig einen Konventionsverstoß zur Folge hat, will er bei Art. 6 einen solchen Durchgriff auf das nationale Recht offensichtlich vermeiden, vermutlich weil er sonst doch zu einem Gericht dritter oder vierter Instanz würde. Dementsprechend hat er den Gedanken, dass aus der Rechtswidrigkeit eines erhobenen Beweises die Konventionswidrigkeit seiner Verwertung folgt, im Fall Schenk abgelehnt und statt dessen nochmals darauf hingewiesen, dass Art. 6 zwar das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren, jedoch keine grundsätzlichen Bestimmungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln enthalte („rules on the admissibility of evidence"), so dass die Frage, ob die Verwertung eines rechtswidrig gewonnenen Beweismittels gegen die Konvention verstößt, in erster Linie anhand des nationalen Rechts zu ermitteln ist. Damit hat sich der EGMR in einer für den Beschuldigtenschutz ganz wichtigen Frage letztlich aus der Verantwortung geschlichen. Seine Zurückhaltung bei der Überprüfung der nationalen Beweisaufnahme und -Verwertung gipfelt in dem Ausspruch, es sei jedenfalls nicht grundsätzlich und abstrakt auszuschließen, dass rechtswidrig erlangte Beweismittel („unlawfully obtained evidence") zugelassen werden können. Eine Privatperson (P) hatte einen schweizerischen Untersuchungsrichter (U) darüber informiert, dass der Bf. Schenk ihn mit der Ermordung seiner Frau beauftragt hatte. U richtete ein Rechtshilfeersuchen an die französischen Behörden und bat um Nachforschungen über P. Ρ wurde in Frankreich in Gegenwart des für die Ermittlungen in der Schweiz zuständigen Polizeibeamten (M) vernommen. Er erbat Anweisungen für den Fall, dass sich der Bf. mit ihm in Kontakt setzen würde, um Einzelheiten über die Ermordung seiner Frau zu erfahren.231 In der Erwartung, dass der Bf. ihn anrufen werde, installierte Ρ in der Wohnung seiner Mutter in der Nähe von Paris einen Kassettenrekorder am Telefon, indem er das Mikrofon des Rekorders mittels Klebeband mit dem zweiten Hörer des Telefonempfängers verband. Wenige Tage später rief der Bf. an. Dieses Gespräch zeichnete Ρ auf und übergab die Kassette an M. Ein Gericht in der Schweiz, vor dem der Bf. angeklagt worden war, wies dessen Antrag auf Entfernung der Kassette aus der Akte zurück und ließ die Tonbandaufnahme im Gerichtssaal abspielen. Es vernahm weitere Zeugen, u.a. auch den P, nicht jedoch den für die Ermittlungen zuständigen M, da dieser weder von Amts wegen noch von einer der Parteien geladen worden war. Es verurteilte den Bf. wegen versuchter Anstiftung zum Mord zu einer Freiheitsstrafe. In den Urteilsgründen verwertete es neben anderen Beweisen auch die wortwörtliche Wiedergabe des abgehörten Telefongesprächs und die Ergebnisse der von einem Sachverständigen vorgenommenen Untersuchung der Kassette in Hinblick auf die Vollständigkeit und Echtheit des aufgezeichneten Gesprächs. Dessen Aufnahme war nach Ansicht des EGMR rechtswidrig zustande gekommen, da sie nicht von einem Richter genehmigt worden war und deshalb eine Straftat darstellte. Der EGMR sah jedoch die Rechte der Verteidigung gewahrt, da der Bf. über die Rechtswidrigkeit der Tonbandaufnahme nicht im unklaren gewesen sei und die Möglichkeit gehabt habe, die Echtheit der Aufnahme in Frage zu stellen und ihrer Verwertung zu widersprechen. Zudem habe er die Person, welche die Aufnahme hergestellt hatte, als Zeugen vernehmen 231
Aus dem vom EGMR mitgeteilten Sachverhalt ergibt sich leider nicht, ob der Bf. Anweisungen von Μ erhalten hatte („I would now ask you to give me instructions as to how I should act when Mr. Schenk contacts me").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
und sie durch seinen Verteidiger befragen lassen können. Von der Möglichkeit, den für die Untersuchung zuständigen Beamten Μ laden zu lassen, habe er keinen Gebrauch gemacht. Weil das Gericht die Verurteilung auch auf die Tatumstände sowie auf die Angaben verschiedener Zeugen gestützt hatte, lehnte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 ab. Der Gerichtshof beschränkt sich auf die Prüfung, ob das Strafverfahren insgesamt fair durchgeführt worden ist. Demzufolge verstößt die Verwertung der von einer Privatperson rechtswidrig hergestellten Tonbandaufnahme eines zwischen ihr und dem Beschuldigten geführten Telefongesprächs nicht gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens, wenn die Rechte der Verteidigung im Rahmen der Beweisaufnahme insgesamt gewahrt werden („rights of the defence were not disregarded"). Dies ist namentlich dann der Fall, wenn dem Beschuldigten die Rechtswidrigkeit der Aufnahme bewusst ist („not unaware that the recording complained of was unlawful"), er die Authentizität der Aufnahme in Frage stellen sowie ihrer Verwertung widersprechen kann („opportunity of challenging its authenticity and opposing its use") und die Person, welche die Aufnahme hergestellt hat, sowie die für die Sammlung der Beweise zuständigen Polizeibeamten als Zeugen laden und befragen kann („sought and obtained an investigation of ... "). Wie bei der Verwertung von Angaben anonymer Zeugen hat der E G M R auch bei der Beurteilung der Beweisverwertung ein quantitatives Element eingebaut, das wenig Aussagekraft besitzt und im Ergebnis nicht überzeugt. Demnach soll sich die Verwertung einer rechtswidrig hergestellten Tonbandaufnahme jedenfalls dann in den Grenzen eines fairen Verfahrens halten, wenn das Strafgericht neben dieser Aufnahme eine Vielzahl anderer Beweise bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigt („took account of a combination of evidential elements before reaching its opinion"), die die aus der Tonbandaufnahme gewonnenen Erkenntnisse erhärten, so dass die Verurteilung nicht allein auf der Verwertung des rechtswidrig erlangten Beweismittels beruht („not the only evidence on which the conviction was based"). 232 Das Urteil Schenk ist ein besonders plastisches Beispiel für die mit dem vom E G M R zur Beurteilung der Verfahrensfairness herangezogenen Gesamtansatz verbundenen Schwierigkeiten („whether the proceedings considered as a whole ... were fair"). Am Ende wird nicht einmal deutlich, ob die Wahrung der Verteidigungsrechte und das quantitative Element im Rahmen der Beweisverwertung in einem kumulativen oder alternativen Verhältnis zueinander stehen. 233 Wenigstens hätte der E G M R die Grundsätze zur Verwertbarkeit von Beweisen, die unter Verstoß gegen nationale Vorschriften erhoben oder erlangt worden sind, auf rechtswidrig hergestellte Tonbandaufnahmen beschränken sollen. Statt dessen hat er im Urteil Pelissier u. Sassi die Überprüfung von Verstößen gegen nationales Recht anhand der von Art. 6 geforderten Verfahrensfairness als allgemeine Regel formuliert und dabei ausdrücklich auch das Urteil Schenk zitiert.234 Damit bleibt die - sowohl für den Beschuldigten als auch für Strafverfolgungsbehörden und 232 233 234
EGMR, Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, §§ 46-48. Kritisch zum Spagat des EGMR zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effizienz: Jung StV 1990,509, 516. EGMR, Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, §45.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
185
Gerichte - unbefriedigende, weil unsichere Erkenntnis: die Verwertbarkeit von Angaben oder Gegenständen, die von Privatpersonen unter Verstoß gegen das nationale Recht und damit rechtswidrig hergestellt oder beschafft werden, muss im Lichte der Verfahrensfairness einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden, wobei die Tendenz eindeutig in Richtung einer Verwertbarkeit geht, wenn dem Beschuldigten vor Gericht Konfrontations- und Befragungsrechte eingeräumt werden. Die im deutschen Recht bei rechtswidrig hergestellten Beweismitteln praktizierte „Abwägungslehre" und Sphärentheorie dürfte damit vor dem E G M R bestehen, wenn die Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung entsprechend gewährt werden. 235 Grenzen für die Herstellung und Verwertung rechtswidriger Tonbandaufnahmen oder sonstiger aus dem Privatleben einer Person gewonnener Erkenntnisse durch Privatpersonen lassen sich also nur über Art. 8 erzielen. Wenigstens setzt der Gerichtshof hier die Voraussetzungen für die Annahme eines behördlichen Eingriffs iSv Art. 8 Abs. 2 nicht allzu hoch an. Der Schutzgehalt des Art. 8 darf an dieser Stelle nicht Halt machen. So wäre durchaus zu überlegen, ob man in der Verwertung eines rechtswidrig aus dem Privatleben des Beschuldigten erlangten Beweismittels einen Verstoß gegen eine staatliche Schutzpflicht aus Art. 8 sieht. Ob der E G M R allerdings so weit gehen wird, erscheint eher fraglich, weil sich dann der von ihm so hochgelobte „Gesamtansatz" im Rahmen der Verfahrensfairness praktisch in Luft auflösen würde. Im Urteil Α zur polizeilichen Hörfalle hatte sich der Gerichtshof mit der Zulässigkeit einer Einflussnahme von Privatpersonen auf die Strafverfolgung zu befassen. Dort nahm er einen Eingriff in Art. 8 an, weil trotz der Initiative der Privatperson noch ein wesentlicher staatlicher Beitrag zur Aufzeichnung des Telefongesprächs vorhanden war.236 Uneingeschränkt zustimmen können wird man dem E G M R allerdings darin, dass die Verwertung eines nach nationalem Recht rechtswidrig erlangten Beweismittels keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung bedeutet, weil das in Art. 6 Abs. 2 enthaltene Prinzip, wonach jede Person bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt, es lediglich verbietet, den Beschuldigten vor seiner Verurteilung als schuldig zu behandeln („treated as if he were guilty"). 237
6.
Einsatz technischer Mittel/Videoüberwachung
Die vom E G M R auf dem Gebiet der Telefonüberwachung entwickelten Anforderungen an die gesetzliche Regelung zur Rechtfertigung eines Eingriffs in ein von Art. 8 Abs. 1 geschütztes Recht sind auch für andere Maßnahmen der geheimen Überwachung maßgeblich („secret measures of surveillance"), die mit einem Eingriff in ein von Art. 8 ge-
235 236 237
Senge in: KK-StPO Vor § 48 Rn. 52; Beulke Rn. 478- 481. EGMR, A ./. Frankreich, Serie A Nr. 277-B (vgl. das Kapitel zur Telefonüberwachung: § 2 IV 4). EGMR, Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, § 51.
186
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
schütztes Recht verbunden sind. Dazu gehört neben dem Einsatz von Wanzen oder Peilsendern bei der Überwachung von Wohnungen und Kraftfahrzeugen auch die Observation von Gebäuden und Grundstücken per Richtmikrofon oder Videotechnologie. Auch diese Maßnahmen müssen sich an den strengen Vorgaben des Gerichtshofs zur Qualität der gesetzlichen Regelung orientieren und messen lassen. Besondere Beachtung verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz, wonach „ the domestic law must be sufficiently clear in its terms to give citizens an adequate indication as to the circumstances in and conditions on which public authorities are empowered to take any such secret measures",m Je intensiver die mit dem Eingriff in die Rechte eines Tatverdächtigen oder Dritten verbundenen Folgen oder Beschränkungen sind, desto höhere Anforderungen sind an das Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitskorrektiv des Art. 8 Abs. 2 zu stellen. In Deutschland sind Forderungen nach einer Ausweitung geheimer Überwachungsmaßnahmen aktuell. So hat die C D U in ihren im Juni 2001 veröffentlichten Leitlinien zur inneren Sicherheit die Ausweitung des großen Lauschangriffs (§ 100c I Nr. 3 StPO) durch den Einsatz von Videotechnologie gefordert („großer SpähangrifF'). 239 Ob eine derartige Forderung zur Effektuierung der Strafverfolgung notwendig ist und den Bedürfnissen der Praxis entspricht, soll an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden. Sie steht aber für eine Bereitschaft, das von Art. 8 geschützte Privat- und Familienleben immer weiter zugunsten einer effektiven Strafverfolgung einzuschränken. Um unliebsame Überraschungen aus Straßburg zu vermeiden, müssen Änderungen der Strafprozessordnung auf dem Gebiet der Videoüberwachung an den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 ausgerichtet werden, wobei schon bei der Abfassung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage an das Korrektiv der Notwendigkeit zu denken ist. Der BGH stützt eine Beweisgewinnung mit Hilfe des satellitenunterstützten Navigationssystems „Global Positioning System" (GPS) auf § 100c I Nr. l b StPO. Diese Norm sieht er ausdrücklich als gesetzliche Grundlage iSv Art. 8 Abs. 2 an. Bemerkenswert ist, dass er unter Hinweis auf das Urteil des E G M R im Fall Khan eine richterliche Kontrolle dieser Überwachungsmaßnahme für erforderlich hält. Inzident bezeichnet er § 100c I Nr. la als gesetzliche Grundlage für Observationen mit Bildaufzeichnungen. Soweit es den Einsatz der technischen Mittel, die erforderlichen Begleitmaßnahmen und die Gewinnung der aus einem solchen Einsatz resultierenden Daten betrifft, dürften die Regelungen des § 100c I Nr. 1 StPO den qualitativen Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 entsprechen. Die zeitgleiche Anordnung mehrerer Überwachungsmaßnahmen und die Herstellung eines umfassenden Bewegungs- und Persönlichkeitsprofils wird der E G M R aber nur in „exceptional circumstances" als notwendig ansehen. Von einer solchen Totalüberwachung ging der BGH im konkreten Fall berechtigterweise nicht aus. Durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 hat der Gesetzgeber „längerfristige Observationen" einer gesetzlichen Regelung zugeführt (§ 163f StPO). Die frühere Rechtslage, nach der eine Observation unabhängig von ihrer Dauer auf die Ermittlungs238
239
E G M R , Valenzuela Contreras ./. Spanien, Reports 1998-V, § 46; zur Observation: BGH, NJW 1998, 1237. Siehe: Süddeutsche Zeitung Nr. 146 v. 28.6.2001, S. 6.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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generalklausel der §§ 161, 163 StPO gestützt wurde, war in Ermangelung einer den Qualitätsanforderungen des Art. 8 Abs. 2 entsprechenden gesetzlichen Grundlage konventionswidrig, auch für Observationen, die mit dem Einsatz technischer Mittel verbunden waren (§ 100c I Nr. la StPO). 240 Ob die Regelung des § 163f StPO dem Art. 8 Abs. 2 entspricht, erscheint fraglich. So unterliegen Observationen mit einer Dauer von weniger als einem Monat keinem Richtervorbehalt (§ 163f IV StPO). Zwar verlangt Art. 8 für Eingriffe in das Privatleben nicht zwingend die vorherige Einschaltung eines Richters. Eine ohne richterliche Anordnung durchgeführte Observation ist aber nur dann mit der Konvention vereinbar, wenn andere relevante und ausreichende Sicherungen gegen ihren missbräuchlichen Einsatz vorhanden sind. Eine solche Sicherheit kann z.B. die Möglichkeit einer nachträglichen effektiven (richterlichen) Kontrolle sein. Eine von der StA angeordnete Observation kann der Betroffene zwar entsprechend § 98 II StPO anfechten. 241 Da die StPO jedoch anders als in §§ 101 I, 11 Od StPO keine Mitteilungspflicht hinsichtlich der Durchführung einer solchen Observation gegenüber dem Betroffenen vorsieht, erweist sich die Möglichkeit der Anfechtung nicht als ausreichend. Gleiches gilt für den StA-Vorbehalt des § 163f III StPO. Angesichts der ohne Einschaltung einer unabhängigen Stelle zulässigen Höchstdauer der Observation von bis zu einem Monat laufen die entsprechenden Regelungen Gefahr, vom E G M R als konventionswidrig eingestuft zu werden. Wie schwierig die Beurteilung von Bestimmtheit und Zugänglichkeit der gesetzlichen Regelung im Einzelfall sein kann, zeigt die Diskussion über die aus § 100a StPO abgeleitete Pflicht von Kommunikationsnetzbetreibern zur Mitteilung geographischer Daten von Mobiltelefonen, unabhängig davon, ob mit den Geräten telefoniert wird. Der Ermittlungsrichter am BGH und einige Gerichte sehen in den zur Standortbestimmung des (eingeschalteten) Mobiltelefons erforderlichen Positionsmeldungen der betroffenen Funkzellen kommunikationserhebliche Umstände. Dass sich die von § 100a StPO gestattete Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation nicht nur auf den Kommunikationsinhalt, sondern auch auf die Kommunikationsumstände erstreckt, mag noch hinreichend erkennbar sein. Das kann bei Mobiltelefonen jedoch nur dann gelten, wenn mit den Geräten auch tatsächlich „kommuniziert" wird, also zu überwachende „fließende" Telekommunikation vorliegt. Ohne eine solche Kommunikation hat das Mobiltelefon eher den Status eines technischen Mittels iSv § 100c I Nr. l b StPO, mit dessen Hilfe die Bewegungen der betreffenden Person nachvollzogen werden können. Des weiteren bestehen erhebliche Bedenken gegen den Ansatz, den Umfang der von § 100a StPO gestatteten Eingriffsbefugnisse über den Schutzbereich des Art. 10 G G zu definieren. 242 Weil das von Art. 10 geschützte Fernmeldegeheimnis nicht nur den Kommunikationsinhalt, sondern auch die Kommunikationsumstände erfasst, soll § 100a StPO zu „entsprechend" umfangreichen Beschränkungen ermächtigen. Wenn dann außerdem
240
241 242
Vgl. BGH, NJW 1998,1237 (§ 100c I Nr. la StPO) mit Anm. Rogall JZ 1998, 796 ff; BGH, NJW 2001, 1658,1659. Ebenso: Kleinknecht/Meyer-Goßner § 163f. Rn. 9. Grundsätzlich hierzu auch: Kudlich JA 2000, 227, 232.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
noch für die Beurteilung der Kommunikationserheblichkeit der Positionsdaten auf Bestimmungen des TKG nebst der auf ihm beruhenden Telekommunikations-Datenschutzverordnung (TDSV) abgestellt wird - was für die Auslegung des Begriffs „Telekommunikation" mit Art. 8 Abs. 2 vereinbar ist erscheint es insgesamt doch mehr als zweifelhaft, dass die Auslegung des § 100a StPO den vom EGMR an die gesetzliche Regelung iSv Art. 8 Abs. 2 gestellten Qualitätsanforderungen entspricht.243
7.
Erkennungsdienstliche Behandlung
Über die Vereinbarkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen mit der Konvention hatte der EGMR im Zusammenhang mit der Bekämpfung terroristisch motivierter Straftaten in Nordirland zu befinden. Die Sammlung und Aufbewahrung personenbezogener Daten („recording/retention of personal details") über eine Familie anlässlich der Festnahme eines ihrer Mitglieder stellt einen Eingriff in die von Art. 8 Abs. 1 geschützten Rechte sämtlicher Familienmitglieder auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens dar. Um iSv Art. 8 gesetzlich vorgesehen zu sein, müssen auch diese Maßnahmen eine Grundlage im nationalen Recht haben.244 Bedauerlicherweise hat der EGMR an die Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung hinsichtlich der Vorhersehbarkeit der mit dem Eingriff verbundenen Folgen im Urteil Murray keine strengen Maßstäbe angelegt, wobei allerdings zu bedenken ist, dass sich seine Ausführungen auf eine Festnahme im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus in Nordirland bezogen und deshalb nicht ohne weiteres auf herkömmliche Straftaten übertragen werden können. Für die Sammlung und Aufbewahrung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit der Festnahme einer Person verlangt der EGMR keine spezielle Ermächtigungsgrundlage. Beide Maßnahmen sind selbst dann noch gesetzlich vorgesehen, wenn sie zwar nicht vom Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage für die Festnahme, nach Ansicht der nationalen Gerichte aber gleichwohl von dieser Norm gedeckt sind. Dies soll nicht nur für die Aufzeichnung von Daten der festgenommenen Person, sondern auch für die Daten der übrigen Familienangehörigen gelten, die bei der Festnahme zugegen sind.245 Damit weicht der EGMR die Grenzen des Individualrechtsschutzes erheblich auf. Man mag es noch als gesetzlich ansehen, wenn eine gefestigte nationale Rechtsprechung die Erhebung persönlicher Daten der festgenommenen Person auf die Festnahmebefugnis stützt. Hinsichtlich der Daten von Familienangehörigen begegnet ein solcher Ansatz aber ganz erheblichen Bedenken, weil hier die Grenzen der Auslegung überschritten werden und eine Festnahmegeneralklausel ins Leben gerufen wird, die selbst Eingriffe in die Rechte der in der geschriebenen Norm nicht genannten Personen gestattet. Ferner ist 243
244 245
BGH, NJW 2001,1587; siehe auch: LG Dortmund, NStZ 1998,577; LG Ravensburg, NStZ-RR 1999, 84. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 86, 91. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, §§ 63, 88, 90.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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unverständlich, dass die Sammlung von Daten der Familienangehörigen anlässlich der Festnahme eines ihrer Mitglieder zur Verhütung von Straftaten erfolgen soll, wenn die Festnahme gemäß Art. 5 Abs. 1(c) ,,οη reasonable suspicion of having committed an offence" und daher aus eindeutig repressiven Gründen erfolgt. Hier wird wieder das Problem deutlich, dass Art. 8 Abs. 2 keinen auf klassische strafprozessuale Eingriffsbefugnisse zugeschnittenen, speziellen Rechtfertigungsgrund aufweist. Auch bei der Prüfung, ob die Sammlung und Aufbewahrung personenbezogener Daten zu dem mit ihnen verfolgten Zweck verhältnismäßig und notwendig sind, legt der Gerichtshof eine eher zurückhaltende Kontrolle an den Tag. Danach soll es sich bei Terrorismusdelikten noch innerhalb der legitimen Grenzen halten, wenn die zuständigen Behörden bei der Festnahme oder im Rahmen der anschließenden Vernehmung der festgenommenen Person persönliche Daten aufzeichnen und aufbewahren, welche die festgenommene Person oder andere Personen betreffen, die zum Zeitpunkt und am Ort der Festnahme anwesend waren („record and retain basic personal details"), solange keine dieser persönlichen Daten als irrelevant für die Festnahme und Vernehmung erscheint („appear to have been irrelevant to the procedures of arrest and interrogation").246 Nach dieser Formulierung wäre sogar die Sammlung von Daten solcher Personen möglich, die in keinerlei Verbindung zu der festgenommenen Person stehen, sondern sich lediglich am Ort der Festnahme aufhalten. Es bleibt zu hoffen, dass der Gerichtshof diese höchst bedenklichen Ansätze wenigstens auf terroristische Straftaten beschränkt, weil ansonsten Analogien im Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen Tür und Tor geöffet wird, ein Gedanke, dem der EGMR bei der Telefonüberwachung in begrüßenswerter Deutlichkeit entgegengetreten ist. Wird von einer festgenommenen Person ein Foto gefertigt, so unterscheidet der EGMR formal zwischen der Anfertigung des Fotos und seiner Aufbewahrung („taking and retention of a photograph"), gibt diese Differenzierung bei der Rechtfertigung des Eingriffs aber wieder auf. Ist das Foto einer festgenommenen Person ohne ihr Wissen und Einwilligung zustande gekommen, so verlangt der EGMR sowohl für die Anfertigung als auch für die Aufbewahrung eine gesetzliche Grundlage iSv Art. 8 Abs. 2, stellt aber keine hohen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit, indem er schlicht feststellt, dass die zuständigen Behörden von einer festgenommenen Person, die einer Straftat mit Bezügen zum Terrorismus verdächtigt wird, ein ohne ihr Wissen und gegen ihren zuvor ausdrücklich bekundeten Willen angefertigtes Foto aufbewahren dürfen. Im Fall Murray (s.o.) hatten die Soldaten bei der Festnahme der Bf. schriftliche Notizen zum Inneren des Hauses angefertigt und persönliche Angaben über die Familienmitglieder protokolliert. In einem Armee-Zentrum sollten Details der Festnahme sowie Angaben zur Person der Bf. in einem Formular protokolliert werden. Außer ihrem Namen machte die Bf. keine Angaben. Auch die Anfertigung von Lichtbildern lehnte sie ab. Bei einer zweiten Vernehmung verweigerte sie die Beantwortung der an sie gerichteten Fragen. Das Standardformular („screening proforma") enthielt Namen, Adresse, Nationalität, Familienstand und „Mietstatus" der Bf., chronologische Angaben 246
EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 93.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
zu ihrer Festnahme, die Namen der an der Festnahme beteiligten Soldaten, die Namen der übrigen Familienmitglieder und ihre Beziehung zur Bf. sowie Angaben zum physischen Zustand der Bf. zum Zeitpunkt der Vernehmung. Während ihres Aufenthalts im Armee-Zentrum war die Bf. ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung fotografiert worden. Das Foto sowie die persönlichen Angaben über sie, ihre Familie und ihre Wohnung wurden aufbewahrt („kept on record"). Nach Ansicht des EGMR waren sämtliche Maßnahmen zur Verhütung von Straftaten erfolgt und von § 14 des 1978 Act gedeckt, da sich die dort niedergelegten Befugnisse der Armee nach Ansicht der nationalen Gerichte auch auf die Befragung festgenommener Personen sowie auf die Protokollierung und Aufbewahrung der in dem Standardformular enthaltenen persönlichen Angaben erstreckten. Obwohl es für die Anfertigung und Aufbewahrung des Fotos keine formellgesetzliche Ermächtigungsgrundlage („staturory basis") gab, hielt der EGMR beide Maßnahmen für „lawful under common law" und gesetzlich vorgesehen. Auch an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen hatte der Gerichtshof keinen Zweifel, da die während der Durchsuchung und anlässlich der Vernehmung der Bf. aufgezeichneten persönlichen Daten nicht als relevant für das Verfahren der Festnahme und Vernehmung erschienen.247 Stellt eine erkennungsdienstliche Maßnahme einen Eingriff in das von der Konvention geschützte Privatleben dar, muss die betroffene Person die Möglichkeit haben, diesen Eingriff vor einer innerstaatlichen Instanz überprüfen zu lassen. Ob das nationale Recht ausreichenden Schutz für das Privatleben gewährt, sieht der Gerichtshof als einen grundlegenden Aspekt für die Vereinbarkeit der Maßnahme mit Art. 8 an. Wie dieser von Art. 8 geforderte verfahrensrechtliche Schutz im Einzelfall ausgestaltet sein muss, hat er allerdings offen gelassen. Auch ein Rückgriff auf Art. 13 hilft hier nicht entscheidend weiter. Wie bei allen anderen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen muss das nationale Recht auch bei erkennungsdienstlichen Behandlungen für plausibel behauptete Konventionsverstöße die Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde vorsehen. Der Inhalt des nationalen Rechts muss jedoch nicht Prüfungsgegenstand einer solchen Beschwerde sein.248
247
E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 9-15, 26, 30, 34, 36-38, 39-41, 86, 88, 93. Die Erhebung und Aufbewahrung von persönlichen Daten kann auch bei Demonstrationen relevant werden. Im Fall Friedl hatte die Polizei die Identität mehrerer Teilnehmer einer Straßendemonstration festgestellt und während der Auflösung der Demonstration Fotos zum Zwecke einer möglichen Strafverfolgung und Videoaufnahmen angefertigt. Die Kommission verneinte einen Verstoß gegen Art. 8, nahm jedoch hinsichtlich der Sammlung und Erhebung der Daten einen Verstoß gegen Art. 13 an. Nachdem eine gütliche Einigung zwischen den Verfahrensbeteiligten erzielt worden war und seit Inkrafttreten des Sicherheitspolizeigesetzes am 1.5.1993 die vom Bf. erhobenen Rügen nunmehr von den Unabhängigen Verwaltungssenaten geprüft werden konnten, strich der E G M R den Fall aus dem Register (EGMR, Friedl./. Österreich, Serie A Nr. 305-B, §§ 7-8, 12-16).
248
E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, §§ 12-15, 84-95, 101-102 („objecting to the manner in which that law had been applied in her case", „... does not go so far as to guarantee Mrs Murray a remedy allowing her to have challenged the content of Northern Ireland law before a national authority").
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
8.
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Körperliche Eingriffe/DNA-Untersuchung
Angesichts der mit ihnen verbundenen Brisanz, muss es überraschen, dass sich der Gerichtshof im untersuchten Zeitraum weder zur Zulässigkeit einer körperlichen Untersuchung des Beschuldigten oder eines Zeugen noch zu den Voraussetzungen einer D N A Analyse äußern musste. Eine unüberwindbare Schranke für die Anordnung und Durchführung von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit einer Person bilden die absoluten Behandlungsverbote des Art. 3.249 Diese gewähren allerdings nur einen Schutz gegen schwerwiegende Misshandlungen, nicht aber gegen körperliche Zwangsmaßnahmen, die von den Strafverfolgungsbehörden zur Erforschung der Wahrheit eingesetzt werden. Zu denken ist hier vor allem an die Entnahme von Atem-, Blut- und Gewebeproben, die Haar- und DNA-Analyse, aber auch an Untersuchungen des Körpers, ζ. B. zur Feststellung von Verletzungen. Die vorgenannten Maßnahmen greifen zwar in die körperliche Unversehrtheit der betroffenen Person ein. Die Art und Weise ihrer Durchführung bzw. die mit ihnen verbundenen Folgen erreichen aber in der Regel weder den von Art. 3 geforderten Schweregrad, noch werden sie mit einer von der Konvention missbilligten Absicht vorgenommen. Ob die Konvention auch gegen solche Eingriffe angemessenen Schutz bietet, erscheint auf den ersten Blick fraglich, weil Art. 2 nur das Recht auf Leben, nicht aber die körperliche Unversehrtheit schützt. Der Gerichtshof hat in den Urteilen Leander und Ζ das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu einem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgewertet. 250 Das bedeutet, dass sowohl die Entnahme von Körperzellen als auch die anschließende DNA-Analyse nur auf einer den Qualitätsanforderungen des Art. 8 entsprechenden gesetzlichen Grundlage und unter strenger Beachtung ihrer Notwendigkeit durchgeführt werden dürfen. Insbesondere bei der Analyse des Erbmaterials wird der Gerichtshof strenge Sicherheiten gegen Missbrauch verlangen, die vor allem eine - zur Identifizierung eines Tatverdächtigen nicht notwendige Analyse des über Persönlichkeitsmerkmale auskunftgebenden Erbmaterials verhindern müssen. Dabei wird auch zu klären sein, in welchem U m f a n g relevante und ausreichende Sicherheiten gegen einen Missbrauch vorliegen müssen, wenn der Beschuldigte dem Eingriff in sein Privatleben ausdrücklich zustimmt. Es ist nicht auszuschließen, dass der Gerichtshof der Disponibilität der Persönlichkeitssphäre engere Grenzen setzt als einem eindeutigen und freiwilligen Verzicht auf andere Konventionsgarantien. 251 F ü r andere mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbundene strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wird man ebenfalls nur einen Schutz über die Schranke des Art. 8 Abs. 2 herleiten können. 252 Das gilt nicht nur für den Beschuldigten, sondern auch 249
250
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Auf die Behandlung des Beschuldigten wird in einem gesonderten Abschnitt im Kapitel § 4 eingegangen. E G M R , Leander./. Schweden, Serie A Nr. 116; Ζ . / . Finnland, Reports 1997-1; hierzu: Trute JZ 1998, 822, 830. Vgl. hierzu die Diskussion um den Richtervorbehalt bei einer DNA-Analyse mit Einwilligung des Betroffenen: Golembiewski NJW 2001, 1036. Vgl. hierzu ebenfalls das Kapitel zur Behandlung des Beschuldigten: § 4 1 6, 7.
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für nicht tatverdächtige Dritte, wobei bei letzteren die Anforderungen an die Notwendigkeit des Eingriffs höher einzustufen sein dürften. Eine vom eigentlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu trennende Frage ist, unter welchen Umständen eine gegen den Willen des Beschuldigten angeordnete und durchgeführte körperliche Untersuchung mit dem aus Art. 6 Abs. 1 abzuleitenden Selbstbelastungsprivileg in Konflikt gerät. Wenngleich der Gerichtshof diese Frage bisher explizit nicht zu entscheiden hatte, lassen Andeutungen im Urteil Saunders erkennen, auf welcher Basis er diese Problematik einer Lösung zuführen wird. Der EGMR erstreckt das Selbstbelastungsprivileg nicht auf den Gebrauch von Material, welches vom Beschuldigten durch den Einsatz von Zwangsmitteln erlangt wird, aber eine von seinem Willen unabhängige Existenz hat. Beispielhaft verweist er in diesem Zusammenhang auf beschlagnahmte Dokumente, Atem-, Blut- und Urinproben sowie Körpergewebe für DNA-Untersuchungen. 253 Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, die nicht mit einem willensbeugenden Element verbunden sind, betrachtet der Gerichtshof also als grundsätzlich konventionskonform. Ebenfalls eine Rolle spielen dürfte der Grundsatz, dass Art. 6 von einer angeklagten Person keine aktive Kooperation mit den Justizbehörden verlangt („cooperate actively with the judicial authorities").254 Wo die Grenze zwischen einer zulässigen passiven Duldung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen und einem konventionswidrigen Zwang zur aktiven Mitwirkung an der Strafverfolgung beginnt, bedarf im einzelnen noch der Klärung.
9.
Auskunft aus Personenregistern und Übermittlung personenbezogener Daten
Obwohl die Entscheidung Leander keinen unmittelbaren strafprozessualen Bezug hat, ist sie als leading case zur Erhebung und Übermittlung von Personendaten anzusehen. Im konkreten Fall hatte ein Bewerber um eine Stelle im öffentlichen Dienst Auskunft über die ihn betreffenden, in einer polizeilichen Datenbank gespeicherten personenbezogenen Daten und über deren Weitergabe im Rahmen der für die Einstellung erforderlichen Sicherheitsüberprüfung verlangt. Die vom EGMR entwickelten Grundsätze setzen auch polizeilichen bzw. allgemein innerbehördlichen Auskunftsersuchen im Rahmen der Strafverfolgung nicht nur verfahrensrechtliche, sondern auch materielle Grenzen. So stellt die Sammlung von personenbezogenen Daten in einer polizeilichen Datenbank und deren Weitergabe im Rahmen eines BewerbungsVerfahrens einen Eingriff in das 253
254
EGMR, Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69 („material which may be obtained from the accused through the use of compulsory powers but which has an existence independent of the will of the suspect", „documents acquired pursuant to a warrant, breath, blood and urine samples and bodily tissue for the purpose of DNA testing"); siehe auch: Tirado Ortiz u. Lozano Martin ./. Spanien (Nr. 43486/98), UzE v. 22.6.1999: Pflicht zur Abgabe einer Blutprobe („give a sample of blood") bzw. zur Teilnahme an einem polizeilichen Alkoholtest („refusal to take/undergo a breathalyser test") kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. EGMR, Yagci u. Sargin v. Türkei, Serie A Nr. 319-A, § 66; Zana ./. Türkei, Reports 1997-VII, § 79.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
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von Art. 8 geschützte Recht dieser Person auf Achtung ihres Privatlebens dar.255 Weil behördliche Auskunftsersuchen nicht zuletzt Hinweise auf eine bestimmte Ermittlungsstrategie liefern können, ist es auch für den Beschuldigten von Interesse zu erfahren, welche personenbezogenen Daten die Strafverfolgungsbehörden zu erheben gedenken. Ein Anspruch des Beschuldigten auf Mitteilung der im Rahmen der Strafverfolgung erhobenen personenbezogenen Daten lässt sich jedoch aus der Entscheidung Leander nicht ableiten. Zwar verbietet es im Allgemeinen die von Art. 10 geschützte Freiheit, Informationen zu empfangen, einer Person Informationen vorzuenthalten, welche andere von ihr wünschen oder ihr zukommen lassen wollen. Art. 10 gewährt einer Person aber kein Recht auf Zugang zu einem Register, welches personenbezogene Informationen enthält. Auch besteht für die staatlichen Stellen keine Verpflichtung, diese Informationen der betroffenen Person zukommen zu lassen.256 Die Verweigerung einer Auskunftserteilung muss aber notwendig sein, wovon man ausgehen können wird, wenn hinsichtlich der begehrten Information ein fallrelevantes Geheimhaltungsinteresse besteht. In Strafverfahren stellt sich meist nicht das Problem, dass der Beschuldigte auf eigene personenbezogene Daten zugreifen oder deren Relevanz für das gegen ihn geführte Verfahren ermitteln will. Weitaus häufiger kommt es vor, dass sich Strafverfolgungsbehörden mit fallrelevanten Auskunftsersuchen an andere Behörden wenden. Die Voraussetzungen für einen Datenaustausch zwischen Behörden hatte der EGMR auf dem Gebiet strafprozessualer Ermittlungen bisher nicht zu beurteilen. Die Entscheidungen M.S. und Anne-Marie Andersson betrafen lediglich die ohne Zustimmung der betroffenen Person erfolgte Weitergabe persönlicher bzw. medizinischer Daten von einer Gesundheits- an eine Sozialbehörde. Auffallend ist, dass der EGMR in beiden Entscheidungen sowohl bei der Suche nach einer den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 entsprechenden gesetzlichen Grundlage als auch hinsichtlich des zulässigen Umfangs der Datenübermittlungen einen sehr großzügigen Maßstab angelegt hat.257 Im Fall M. S. hatte die Bf. nach einem Arbeitsunfall eine Behindertenrente beantragt. Bei einer Akteneinsicht stellte ihr Rechtsanwalt fest, dass das Krankenhaus auf Bitte der Sozialbehörden medizinische Krankenakten der Bf. übermittelt hatte. Die Akten enthielten Daten über eine mehrjährige medizinische Behandlung. Außerdem gaben sie Aufschluss über eine Vorschädigung und eine bei der Bf. vorgenommene Abtreibung. Aufgrund dieser Daten hatte die Sozialbehörde den Antrag der Bf. abgelehnt. Nach schwedischem Recht unterlagen die Krankenakten der Geheimhaltung. Nach Ansicht des EGMR waren die in der Akte enthaltenen höchstpersönlichen und sensiblen Daten („highly personal and sensitive data") durch die Übermittlung an eine andere öffentliche Stelle („another public authority") einem größeren Kreis von Beamten offen gelegt worden („wider circle of public servants"). Weil die Weitergabe der Daten zudem einem
255 256 257
EGMR, Leander ./. Schweden, Serie A, Nr. 116, § 48. EGMR, Leander ./. Schweden, Serie A, Nr. 116, § 74. Vgl.: „the psychiatrist enjoyed a very wide discretion in assessing what data would be of importance to the Social Council's investigation".
194
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR anderen Zweck als ihrer Aufbewahrung diente („served a different purpose"), ging der E G M R von einem Eingriff in das von Art. 8 geschützte Privatleben der Bf. aus, der die Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Rentenanspruchs betraf und für das wirtschaftliche Wohl des Landes erfolgt war. Weil die Sozialbehörden ein legitimes Interesse daran hatten, die Angaben der Bf. mit den Daten der Klinik zu vergleichen und ihnen sonst keine anderen Informationsquellen für die Prüfung des Rentenanspruchs zur Verfügung standen, lagen im konkreten Fall relevante und ausreichende Gründe für die Datenübermittlung vor. Hinsichtlich des Umfangs der übermittelten Daten zeigte sich der E G M R ebenfalls großzügig, weil die Datenübermittlung seiner Ansicht nach wichtigen Beschränkungen und gewissen Schutzvorkehrungen unterlag. So durften die Daten nur auf Anfrage übermittelt werden, die Mitarbeiter der Klinik unterlagen bei einer unrechtmäßigen Weitergabe der Daten einer zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Haftung und die Sozialbehörden mussten die übermittelten Daten vertraulich behandeln. 258 Die Bf. Anne-Marie Andersson hatte sich einer psychiatrischen Behandlung unterzogen. Dabei war sie von einer Psychiaterin (P) auf die möglicherweise schädlichen Folgen ihrer psychischen Erkrankung für ihren Sohn hingewiesen worden. Ρ hatte der Bf. geraten, sich an eine Kinderpsychiatrie oder an die Sozialbehörden zu wenden. Kurze Zeit später machte Ρ die Bf. darauf aufmerksam, dass sie verpflichtet sei, die Sozialbehörden auf die Gefahren für das Kind hinzuweisen. Ρ telefonierte mit den Sozialbehörden und gab eine schriftliche Stellungnahme ab, in der sie auch über die psychiatrische Behandlung der Bf. berichtete und damit zusammenhängende medizinische Daten der Bf. mitteilte. Am selben Tag informierte Ρ die Bf. über die Datenweitergabe. Dieses Vorgehen bewertete der E G M R als Eingriff in das von Art. 8 geschützte Privatleben der Bf., der auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhte und zum Schutz der Gesundheit oder Moral bzw. zum Schutz der Rechte anderer erfolgt war. Weil die Datenweitergabe der Bf. mitgeteilt worden war und lediglich begrenzten Umfang hatte („limited nature"), die Daten auch nach der Übermittlung demselben Grad an Geheimhaltung wie zuvor unterlagen („remained protected by the same level of confidentiality"), die Sozialbehörden für die Entscheidung über ein mögliches Eingreifen sowohl Informationen über den Sohn als auch über die Bf. benötigten und die Befürchtungen der Ρ auch durch andere Personen - die sich ebenfalls an die Sozialbehörden gewandt hatten - unterstützt worden waren, sah der E G M R die Übermittlung der Daten als notwendig an. 259
N e b e n den Voraussetzungen f ü r eine Ü b e r m i t t l u n g personenbezogener D a t e n wirft die Konvention die Frage auf, o b der betroffenen Person die Möglichkeit eingeräumt werden muss, die beabsichtigte bzw. erfolgte Datenweitergabe anzufechten. A r t . 13 verlangt nicht, dass der Betroffene den seiner Ansicht n a c h in einer Weitergabe von D a t e n a n eine a n d e r e Behörde liegenden Konventionsverstoß vor der Weitergabe der D a t e n ü b e r p r ü f e n kann. 2 6 0 In den Fällen M.S. und Anne-Marie Andersson ging es um die Erforderlichkeit einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit der Datenweitergabe. Die Bf. sahen in der Daten-
258 259 260
EGMR, M.S../. Schweden, Reports 1997-IV, §§ 8-14, 32-44. EGMR, Anne-Marie Andersson ./. Schweden, Reports 1997-IV, §§ 8-13, 41-42. EGMR, M.S. ./. Schweden, Reports 1997-IV, § 55.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
195
Weitergabe irreversible Maßnahmen und hatten als effektive Beschwerdemöglichkeit iSv Art. 13 einen präventiven Rechtsschutz gefordert („should be able to exercise it beforehand"). Die Bf. M.S. konnte nach Ansicht des EGMR einen in der Datenübermittlung liegenden Verstoß gegen Art. 8 vertretbar behaupten. Da sie vor den ordentlichen Gerichten Zivil- und Strafverfahren gegen die Mitarbeiter des Krankenhauses einleiten und im Falle eines Verstoßes gegen das Berufsgeheimnis Schadensersatz verlangen konnte, ging der EGMR von einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit iSv Art. 13 aus. Angesichts des geringen Umfangs der Übermittlung („limited nature of the disclosure") und der vorhandenen Sicherheiten - insbesondere der auch von der Auskunftsbehörde gewährleisteten Vertraulichkeit der Daten - sah der EGMR diesen nachträglichen Rechtsschutz („ex post facto remedies") als ausreichend an. Inwieweit der E G M R diese Ansätze auch für das Strafverfahrensrecht fruchtbar machen wird, bleibt abzuwarten. Festhalten kann man jedenfalls, dass der Beschuldigte Anspruch auf Auskunft über eine Mitteilung und auf Auskunft über eine etwaige Weitergabe eigener personenbezogener Daten an die Strafverfolgungsbehörden praktisch nur über das Recht auf Zugang zur Verfahrensakte und über das Gebot der Verfahrensfairness hat. Handelt es sich bei den Daten um belastendes Beweismaterial, so verlangt Art. 6 Abs. 1 ihre Bekanntgabe gegenüber dem Beschuldigten spätestens in der Hauptverhandlung.
V.
Anspruch auf wirksame Überprüfung von Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung
Wie gesehen, ist ein Strafverfahren häufig mit zahlreichen staatlichen Eingriffen in die von der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten des Beschuldigten oder unverdächtiger Dritter verbunden. Zusätzlich zu den vom E G M R unmittelbar aus den Art. 2, 3,8 und aus Art. 1 des 1. Z P abgeleiteten Verfahrensgarantien erfahren alle von der Konvention - nebst Zusatzprotokollen - anerkannten Rechte und Freiheiten eine zusätzliche prozessuale Absicherung durch das von Art. 13 verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde („effective remedy"). Die Möglichkeit der innerstaatlichen Beschwerde soll vor allem die Substanz der Konventionsgarantien im nationalen Recht stärken. Die Vertragsstaaten müssen eine solche Beschwerdemöglichkeit für alle Personen vorsehen, die in ihren von der Konvention anerkannten Rechten und Freiheiten verletzt worden sind. Diese Pflicht besteht unabhängig von der Form, in der die Konventionsgarantien in der nationalen Rechtsordnung abgesichert sind. Das ist wichtig, weil die Umsetzung der Konvention in den europäischen Staaten zum Teil sehr unterschiedlich erfolgt ist. Hinsichtlich der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale sind sowohl die englische („are violated") als auch die französische („ete violes") als auch die deutsche Fassung missverständlich. Eine wirksame Beschwerde fordert die Konvention nämlich nicht „nur" bzw. „erst" dann, wenn ein von der Konvention geschütztes Recht verletzt worden ist. Dieses Testat kann logischerweise erst am Ende des Beschwerdeverfahrens ergehen.
196
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Einen Anspruch auf eine wirksame Beschwerde gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und sonstige staatliche Eingriffe im Rahmen der Strafverfolgung haben der Beschuldigte und Dritte bereits dann, wenn sie einen darin liegenden Konventionsverstoß vertretbar behaupten können („grievances which can be regarded as arguable")·261 Bei der prozessualen Ausgestaltung der Beschwerde besitzen die Vertragsstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum („some discretion"). Jedenfalls muss die innerstaatliche Instanz nicht zwingend ein Gericht sein oder gerichtlichen Charakter haben. Zwar hat der EGMR bereits im Urteil Klass betont, dass ein Eingriff der Exekutive aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit einer wirksamen Kontrolle unterliegen muss, die normalerweise, zumindest in letzter Instanz, von der rechtsprechenden Gewalt („judiciary") sichergestellt werden muss, welche die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie ein ordnungsgemäßes Verfahren bietet.262 Damit ist jedoch nur die Forderung nach einer Kontrolle verbunden, welche die vorgenannten Garantien aufweist. Die innerstaatliche Instanz, die über die Beschwerde entscheidet, muss also kein Gericht sein, wohl aber eine gewisse Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten aufweisen.263 Die Art der Beschwerde („natur of remedies") hängt von der Art des behaupteten Konventionsverstoßes und der Art des betroffenen Rechtes ab („nature of the ... complaint/right"). Die Beschwerde muss sowohl in rechtlicher als auch in praktischer Hinsicht „effective" sein. Ihre Ausübung darf nicht durch ein Handeln oder Unterlassen staatlicher Stellen unangemessen behindert werden. Die Instanz muss die erhobene Rüge in der Sache selbst behandeln und angemessene Abhilfe gewähren können („both to deal with the substance of the ... complaint and to grant appropriate relief in meritorious cases").264 Bei plausibel behaupteten Verstößen gegen Art. 2, 3, 5 und 8 verlangt der EGMR neben einer materiellen Entschädigung - eine „thorough and effective investigation", wenn der - hier nicht notwendigerweise staatliche - „Eingriff" in die betroffenen Rechte einen gewissen Schweregrad erreicht (Aufklärung gewaltsamer Tötung; Folter einer inhaftierten Person; vorsätzliches Niederbrennen von Häusern). Es bleibt abzuwarten,
261
262 263 264
EGMR, Boyle u. Rice ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 131, § 52; Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, § 64 („a remedy is only required in respect of grievances which can be regarded as „arguable" in terms of the Convention"); Camenzind ./. Schweiz, Reports 1997-VIII, § 53; siehe auch: Powell u. Rayner ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 172, § 31. Die deutsche Fassung des Art. 13 müsste deshalb eigentlich lauten: „Jede Person, die plausibel behauptet, in ihren ... Rechten ... verletzt worden zu sein, ... ." Eine solche Übersetzung ginge jedoch sowohl über den englischen als auch über den französischen Wortlaut hinaus und wäre daher unzulässig. EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 55. Vgl. EGMR, Khan ./. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 12.5.2000, §§ 41-47. Vgl. zum Schutzbereich des Art. 13: EGMR, Boyle u. Rice ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 131, § 52; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 100; Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 95; M.S../. Schweden, Reports 1997-IV, § 54; Anne-Marie Andersson ./. Schweden, Reports 1997-IV, § 40; Aydin./. Türkei, Reports 1997-VI, § 103; Mentes./. Türkei, Reports 1997-VIII, § 89; Kaya./. Türkei, Reports 1998-1, § 106; Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 96; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 112.
§ 2 Art und Umfang strafprozessualer Ermittlungen
197
ob er diesen Ansatz in Zukunft zu einem allgemeinen Amtsermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsatz ausbaut.265 Ungeklärt ist weiterhin, zu welchem Zeitpunkt innerhalb eines Strafverfahrens das nationale Recht die von Art. 13 geforderte effektive Beschwerdemöglichkeit vorsehen muss. Verstöße gegen Rechte und Freiheiten der Konvention können sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Verhandlung vor dem Strafgericht eintreten. Maßstab für den Zeitpunkt, zu dem die Beschwerde spätestens zu gewähren ist, muss ihre von der Konvention geforderte Wirksamkeit und der von Art. 13 geforderte Prüfungs- und Entscheidungsumfang sein. Probleme entstehen vor allem bei solchen Maßnahmen, die sich aufgrund des mit ihnen verbundenen Überraschungseffekts oder aus einem anderen Grund vor Ende der Hauptverhandlung erledigen. Hier sind Fälle denkbar, in denen von einem „appropriate relief" nicht mehr die Rede sein kann, vor allem, wenn die umstrittene Verfahrenshandlung bereits vollzogen ist und ein nachträglicher Rechtsschutz lediglich feststellenden Charakter hätte. Deshalb spricht viel für die Annahme, dass eine Beschwerdemöglichkeit im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung bzw. nach Abschluss des Strafverfahrens jedenfalls bei solchen Maßnahmen, die einen von der Entscheidung über die strafrechtliche Anklage abtrennbaren Eingriffscharakter haben und in keinem inneren Zusammenhang zur Urteilsfindung des Gerichts stehen, zu spät kommt und nicht mehr als wirksam angesehen werden kann. Andererseits darf die isolierte Anfechtbarkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen und prozessleitender Verfügungen keine wesentlichen Verzögerungen des Strafverfahrens zur Folge haben. Das wäre schon mit dem der Konvention immanenten Beschleunigungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1) nicht zu vereinbaren. Dass Art. 13 nicht in jedem Fall einen präventiven Rechtsschutz verlangt, hat die Entscheidung M.S. deutlich gemacht, derzufolge die behördenexterne Übermittlung personenbezogener Daten nicht vor der Weitergabe der Daten überprüfbar sein muss.266 Das ist durchaus überraschend, weil gerade die Weitergabe und Übermittlung persönlicher Daten einen erheblichen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Privatleben der betroffenen Person darstellt. Der Schutz- und Regelungsgehalt des Art. 13 gehört zu den schwierigsten Fragestellungen, welche die Konvention aufwirft. Auch der EGMR hat bei der Entwicklung konkreter Inhalte Vorsicht walten lassen. Diese ist auch durchaus geboten, weil übertriebene Rechtsschutzanforderungen sehr schnell zu einer Erlahmung der Strafrechtspflege führen und andere Konventionsgarantien - wie etwa die Angemessenheit der Verfahrensdauer - konterkarrieren können. Dennoch, das strafprozessuale Potential des Art. 13 ist nicht zu unterschätzen. Auf den Prüfstand gehören beispielsweise Vorschriften wie §§ 304IV, V; 305 Satz 1 StPO, die Entscheidungen des erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgehen, einer isolierten Anfechtung entziehen. Dazu gehören auch Entscheidungen, die für die Wahrung der Verteidigungsrechte elementare Be265
266
EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 98; Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 103; Mentes u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VIII, §§ 34-35, 72, 86-88, 89-92; Ergi./. Türkei, Reports 1998-IV, § 98; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, §§ 114-116. EGMR, M.S../. Schweden, Reports 1997-IV, § 55.
198
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
deutung haben können, wie etwa solche zur Vorbereitung der Beweisaufnahme, zur Aussetzung der Verhandlung zum Zweck weiterer Sachaufklärung oder aber Terminanberaumungen (Art. 6 Abs. 3(b)(c)(d)).267 Der gegen Anordnungen des Vorsitzenden in § 238 StPO vorgesehene Antrag auf Entscheidung des Gerichts ist jedenfalls keine wirksame Beschwerde iSv Art. 13, weil die übrigen Mitglieder des gerichtlichen Spruchkörpers demselben Entscheidungsgremium wie der Vorsitzende angehören, der zudem an den Beratungen über den Antrag teilnimmt und über diesen mitentscheidet. Das erkennende Gericht ist keine innerstaatliche Instanz iSv Art. 13, soweit es über plausibel behauptete Konventionsverstöße im Zusammenhang mit dem vor ihm stattfindenden Verfahren entscheiden würde. Der EGMR hat die Verfahrensgarantie des Art. 13 in den letzten Jahren ganz erheblich aufgewertet, dabei aber die Kriterien für die Effektivität des von Art. 13 geforderten Rechtsschutzes vernachlässigt. Diese müssen weiter präzisiert werden, was nur durch geeignete Vorlagen aus den Vertragsstaaten gelingen kann. Die Vorschriften der nationalen Strafprozessordnung gehören allerdings nicht zu dem von Art. 13 geforderten Prüfungsumfang. Ausdrücklich klargestellt hat der EGMR, dass die Vorschrift keinen Anspruch auf einen Rechtsbehelf gewährt, mit dem sich der Inhalt des nationalen Rechts überprüfen lässt.268 Auch die möglicherweise schlechten Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs in der Sache („feeble prospects of success") berühren nicht die Wirksamkeit („effectiveness") der Beschwerdemöglichkeit. Maßgeblich für die Effektivität der Beschwerde sind allein ihre Geltendmachung sowie ein der nationalen Instanz zustehender Prüfungs- und Entscheidungsumfang.269
267 268 269
KleinknechtlMeyer-Goflner § 305 Rn. 4. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 102. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, § 100.
§3
Festnahme und Freiheitsentzug
I.
Freiheitsentziehung - Freiheitsbeschränkung
In vielen Strafverfahren wird die tatverdächtige Person von der Polizei oder einer anderen staatlichen Stelle aufgegriffen, festgenommen und zur Vernehmung auf eine Dienststelle gebracht. Das sich an die Festnahme anschließende Verfahren kann nach Art und Dauer stark variieren. Soweit ersichtlich, sehen alle Strafverfahrensordnungen in Europa die Möglichkeit vor, einen Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens zu inhaftieren.1 Spätestens durch die Festnahme wird der Tatverdächtige zur angeklagten Person iSv Art. 6 Abs. 1. Zur Sicherstellung seiner Anwesenheit in der Verhandlung vor Gericht, zur Gewährleistung eines geordneten Strafverfahrens und zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ist diese Möglichkeit der strafprozessualen Freiheitsentziehung in vielen Fällen unabdingbar. Sie bedeutet aber auf der anderen Seite für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung und Beschränkung seiner Individualrechte, trotz der bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld geltenden Unschuldsvermutung. Es kann daher nicht verwundern, dass sich der EGMR bereits in seinen ersten Urteilen mit Fragen der Festnahme und Untersuchungshaft auseinandersetzen musste.2 Welche herausragende Bedeutung die persönliche Freiheit einer Person in jeder demokratischen Gesellschaft besitzt, hat der Gerichtshof immer wieder betont. 3 Festnahmen und Inhaftierungen im Rahmen eines Strafverfahrens müssen mit Art. 5 und Art. 2 des 4. ZP in Einklang stehen. Weil es lediglich auf die internationale Verantwortung („international responsibility") eines Vertragsstaates ankommt, ist dieser für Festnahmen und Haftentscheidungen seiner staatlichen Stellen verantwortlich, auch wenn es sich bei ihnen um unabhängige justitielle Stellen handelt („independent judicial authorities").4 In der täglichen Praxis ist zunächst zu klären, ob in dem Festhalten einer Person eine bloße Beschränkung der Freizügigkeit iSv Art. 2 des 4. ZP oder eine Freiheitsentziehung zu sehen ist. Nur letztere muss sich an den strengen Anforderungen des Art. 5 messen lassen. Die EMRK selbst definiert den Begriff der Freiheitsentziehung5 1
2 3
4 5
Vgl. zur unterschiedlichen Ausgestaltung und Bedeutung der Untersuchungshaft in Europa die Landesberichte bei: DünkellVagg Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug - Waiting for Trial. Zur Bedeutung der Beschwerden nach Art. 5: Trechsel E u G R Z 1980, 514. E G M R , De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 65; Winterwerp./. Niederlande, Serie A, Nr. 33, § 37. E G M R , Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-11, §40. Die in der Schweiz und Österreich geltende deutsche Fassung der Konvention spricht nach ihrer sprachlichen Überarbeitung aus Anlass des Inkrafttretens des 11. Z P nicht von Freiheitsentziehung, sondern von Freiheitsentzug.
200
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
nicht, sondern nennt in Art. 5 lediglich Gründe und Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine Entziehung der Freiheit mit der Konvention vereinbar ist. Mit dem Recht auf Freiheit („right to liberty"/„droit ä la liberte") meint Art. 5 die persönliche Freiheit in ihrer klassischen Ausprägung, also die körperliche Freiheit einer Person („physical liberty of the person"). Wie sich aus dem Wortlaut und einer systematischen Interpretation der Vorschrift ergibt, sind Beschränkungen der Freizügigkeit oder Bewegungsfreiheit („freedom of movement"/„liberte de circuler") nicht vom Schutzbereich des Art. 5 erfasst, sondern fallen unter Art. 2 des 4. ZP. Ob einer Person durch eine bestimmte Maßnahme die Freiheit entzogen wird („deprived of his liberty"), ist anhand der konkreten Lage und Situation zu beurteilen, in der sich die betreffende Person befindet („concrete situation"). Dabei sind eine Vielzahl von Kriterien wie etwa die Art, die Dauer, die Auswirkungen und die Umstände der Ausführung der in Frage stehenden Maßnahme zu berücksichtigen („type, duration, effects and manner of implementation of the measure in question"). 6 Wie der E G M R in der Entscheidung Guzzardi hervorgehoben hat, kann die Abgrenzung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender Maßnahmen im Einzelfall schwierig sein, da der maßgebliche Unterschied lediglich im Grad oder der Intensität der Freiheitsbeschränkung, nicht aber bezüglich der Natur der Sache oder der Substanz nach besteht. 7 In Grenzfallen muss im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller Umstände eines konkreten Falles geprüft werden, ob die einer Person auferlegten Freiheitsbeschränkungen ihrer Art nach und von ihrem Ausmaß her den in Art. 5 Abs. 1 ausdrücklich genannten Fällen ähneln. 8 Freiheitsentziehenden Charakter kann eine Maßnahme sowohl in faktischer als auch in rechtlicher Hinsicht annehmen. 9 Lässt sich eine bestimmte Maßnahme ihrer Art nach nicht als Freiheitsentziehung beschreiben, kann sich die Anwendbarkeit von Art. 5 gleichwohl aus den Umständen ihrer Ausführung im konkreten Fall ergeben, wobei die einzelnen Umstände nicht nur für sich, sondern auch in ihrer Gesamtschau („cumulatively and in combination") den Schluss auf eine Freiheitsentziehung rechtfertigen können. 10 Die vorgenannten Grundsätze zeigen, dass der Gerichtshof die Kriterien für das Vorliegen einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 ganz bewusst abstrakt gehalten hat, um in 6
7
8 9 10
EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, §§ 58-59; Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 92; Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 41; Nielsen ./. Dänemark, Serie A Nr. 144, § 67; Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, § 39; Amuur ./. Frankreich, Reports 1996-III, § 42; vgl. insbesondere die Verwendung der Worte „deprived of his liberty"(„prive de sa liberte") bzw. „arrest" („arrestation") und „detention" („detention") sowie Art. 2 des Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16.11.1963 (BGBl. 1968 II 423, 1109). EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 93 („difference ... merely one of degree or intensity, and not one of nature or substance"). EGMR, Nielsen ./. Dänemark, Serie A Nr. 144, § 72. EGMR, Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 42 („both in fact and in law"). Vgl. hierzu aber auch die von Matscher im Jahre 1983 geäußerte Kritik, dass eine allzu extensive Interpretation von Bewegungs- und Aufenthaltsbeschränkungen als „Freiheitsentziehung" zu einer faktischen Verpflichtung von Staaten führte, die das 4. ZP noch nicht ratifiziert hatten (FS für Mosler, S. 545, 554).
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
201
Grenzfällen dem von der Konvention bezweckten Schutz vor willkürlichen Freiheitsentziehungen zum Durchbruch zu verhelfen. Neben der Unterbringung einer Person in Polizeihaft, ihrer Inhaftierung in einem Gefängnis und der Anordnung eines (Militär-) Arrestes sind viele andere Formen der Freiheitsentziehung denkbar. So ist der Schutzbereich des Art. 5 auch dann berührt, wenn der einer Person zum Aufenthalt zugewiesene Bereich die Ausmaße einer Zelle übersteigt und von keinen tatsächlichen Barrieren umschlossen ist.11 Welchen Umfang die vom EGMR geforderte umfassende Untersuchung und Abwägung sämtlicher Faktoren im Einzelfall annehmen kann, verdeutlicht die Entscheidung Nielsen, in der es um die mehrmonatige Unterbringung eines 12-jährigen Kindes in der kinderpsychologischen Abteilung eines Krankenhauses ging. 12 Das Vorliegen einer Freiheitsentziehung kann im Wehrdisziplinarrecht auch vom Gruppenstatus der betroffenen Person abhängen. Wie der EGMR im Fall Engel entschieden hat, ist die Grenze zur Freiheitsentziehung auch für Militärangehörige jedenfalls dann überschritten, wenn eine Person „Tag und Nacht" in einer Zelle eingeschlossen wird, wenngleich die mit der Ableistung eines Wehrdienstes verbundenen Einschränkungen der persönlichen Freiheit keine Freiheitsentziehung ist. Die Verpflichtung zum Aufenthalt in einem bestimmten Gebäude während der dienstfreien Zeit („leichter und verschärfter Arrest") sah der EGMR nicht als Freiheitsentziehung an, wohl aber den strengen Arrest, bei dem die Unteroffiziere und Mannschaften unter Ausschluss vom üblichen Dienst Tag und Nacht - im konkreten Fall für zwei Tage - in einer Zelle eingeschlossen waren. Auch die Uberstellung in eine Strafkompanie bewertet er als Freiheitsentziehung, da vor Ort keine Trennung der Soldaten von Strafgefangenen stattfand, eine Überstellung zwischen drei und sechs Monaten dauerte, die Betroffenen die Strafkompanie mindestens einen Monat lang nicht verlassen durften und zumindest über Nacht in einer Zelle eingesperrt waren.13 Erwähnenswert ist wegen der außergewöhnlichen Form der Unterbringung die Entscheidung Guzzardi. Der Bf. durfte die für ihn als Verbannungsort bestimmte Gemeinde auf einer Insel nicht ohne vorherige Erlaubnis der zuständigen Überwachungsbehörden verlassen. Der Bereich, in dem er sich frei bewegen durfte, umfasste 2,5 km2. Das übrige Territorium der Insel war zu 90 % von einem Gefängnis eingenommen. Der Weiler, in dem sich der Bf. über mehr als 16 Monate mit seiner Familie aufhielt, bestand aus den alten und verfallenen Gebäuden einer ehemaligen medizinischen Einrichtung, eines Carabinieri-Postens, einer Schule sowie einer Kapelle. Der Bf. bewohnte einen Schlafraum in einem der beiden Hauptgebäude der ehemaligen medizinischen Einrichtung. Während des Aufenthaltes seiner Frau und seines Sohnes auf der Insel bewohnte der Bf. ein anderes Gebäude, das zwei jeweils aus einem Schlafzimmer und einer Küche bestehende Wohnungen enthielt. Die dort lebenden Personen waren ebenfalls einer 11 12
13
EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 94-95. EGMR, Nielsen ./. Dänemark, Serie A Nr. 144, §§ 70, 72-73; Trotz zahlreicher Umstände, die auf den ersten Blick für die Annahme einer - zwar auf der Ausübung des elterlichen Sorgerechts beruhenden und damit trotz Bestätigung durch die zuständigen Behörden nicht von Art. 5 erfassten - Freiheitsentziehung des Kindes hätten sprechen können, ging der EGMR bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände der Unterbringung nicht von einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 aus. EGMR, Engel./. Niederlande, Serie A Nr. 22, §§ 34, 59, 61-64; vgl. auch: Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, §§ 10, 51 (Zelle im Wachraum einer Militäreinrichtung).
202
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
besonderen Überwachungsmaßnahme unterworfen oder gehörten zum Bewachungspersonal. Soziale Kontakte zur übrigen Bevölkerung der Insel gab es kaum. Besuche des Hauptortes der Insel bedurften ebenso wie die nur bei Vorliegen eines besonderen Grundes gewährten Reisen nach Sardinien oder auf das italienische Festland einer vorherigen Genehmigung und erfolgten immer unter strenger Bewachung durch die Polizei. Die ihm zugewiesene Wohnung, in der auch seine Familie wohnte, durfte der Bf. zwischen 22.00 und 7.00 Uhr nicht verlassen. Zweimal am Tag musste er sich bei den Carabinieri melden. Nach Ansicht des EGMR fiel die Verbannung in den Anwendungsbereich von Art. 5, weil bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände die Situation des Bf. mit der in einem „offenen Gefängnis" oder einer Strafeinheit vergleichbar war.14 Die im Fall Raimondo als Hausarrest verhängte Überwachungsmaßnahme stufte der EGMR dagegen nicht als Freiheitsentziehung, sondern als eine der Bekämpfung der Mafia dienende Freiheitsbeschränkung iSv Art. 2 des 4. ZP ein. Einen Konventionsverstoß nahm er an, weil der gerichtliche Beschluss zur Aufhebung der Maßnahme erst fünf Monate nach seinem Erlass wirksam geworden und der Bf. über einen Zeitraum von achtzehn Tagen nicht von der Aufhebung der Maßnahme informiert worden war.15 Eine Inhaftierung verliert den Charakter einer Freiheitsentziehung nicht dadurch, dass die betreffende Person sie selbst herbeigeführt oder ihr zugestimmt hat. Wegen der großen Bedeutung, die das Recht auf Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft - dem vom Gerichtshof für die Vertragsstaaten entwickelten Leitbild - besitzt, ist der EGMR im Fall De Wilde, Ooms und Versyp dem gegenteiligen Gedanken bei Unterbringungen nach Art. 5 Abs. 1(e) entschieden entgegengetreten. Für die übrigen Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 dürfte hier nichts anderes gelten. Die Bf. hatten sich freiwillig bei der Polizei gemeldet und Umstände geschildert, die den Tatbestand der Landstreicherei erfüllten. Zwei von ihnen hatten ausdrücklich darum gebeten, als Landstreicher behandelt zu werden, bis ihnen von den Sozialbehörden eine Arbeitsstelle, Unterkunft und Verpflegung vermittelt werden könne. Nach den einschlägigen belgischen Gesetzen war eine als Landstreicher aufgegriffene Person festzunehmen und innerhalb von 24 Stunden einem Tribunal de police vorzuführen. Der Richter hatte die Personalien und Lebensumstände der festgenommenen Person zu ermitteln und konnte entweder die Unterbringung in einem Depot de mendicite für einen Zeitraum zwischen zwei und sieben Jahren oder eine höchstens ein Jahr dauernde Inhaftierung in einem Maison de refuge anordnen. 16
14 15
16
EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 11-12, 21-40,44-52, 94-95, 102. EGMR, Raimondo ./. Italien, Serie A Nr. 281-A, §§ 7-20, 39-40; vgl. auch: Amuur ./. Frankreich, Reports 1996-III, §§ 7-12, 19, 43-49: der Fall betraf die Unterbringung von Asylbewerbern in der Transitzone des Pariser Flughafens Orly. Der EGMR berücksichtigt insbesondere die Dauer (20 Tage) und den Ort (angemietete Etage eines Hotels) der Unterbringung bis zur Abschiebung der Bf., die gerichtliche Kontrolle der Dauer und Notwendigkeit der Unterbringung sowie den effektiven Zugang der Bf. zu einem Verfahren, in dem über ihren Flüchtlingsstatus entschieden wurde. Obwohl sich die Bf. innerhalb des Transitbereichs frei bewegen durften, nahm der Gerichtshof - anders als die EKMR - keine Freiheitsentziehung an. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, §§ 35-36, 65.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
203
Im Urteil Murray ist deutlich geworden, dass die Strafverfolgungsbehörden die Konvention immer im Gesamtkontext sehen müssen. Freiheitsentziehungen bzw. -beschränkungen müssen sich nicht nur an den Voraussetzungen des Art. 5 bzw. Art. 2 des 4. ZP messen lassen. So stellt die Aufforderung an die übrigen Mitglieder einer Familie, sich anlässlich der Festnahme eines Familienmitglieds für kurze Zeit in einen bestimmten Raum zu begeben, auch einen Eingriff in deren von Art. 8 geschützte Rechte auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens sowie ihrer Wohnung dar.17
II.
Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung
Art. 5 Abs. 1 will Personen vor willkürlichen Freiheitsentziehungen schützen („arbitrary fashion"). Deshalb darf die Freiheit einer Person nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise („in accordance with a procedure prescribed by law"/„selon les voies legales") entzogen werden, d.h. in einem fairen und ordentlichen Verfahren („fair and proper procedure") und von einer geeigneten Stelle („issue from and be executed by an appropriate authority"). Hier gestattet - und verlangt - die Konvention einen Durchgriff auf das nationale Recht („refers back essentially to national law"). Freiheitsentziehungen müssen daher den formellen und materiellen Vorschriften des nationalen Rechts entsprechen („conform to the substantive and procedural rules"). Der EGMR spricht sehr plastisch von einer Inkorporation des nationalen Rechts in die Konvention. Grundsätzlich hat also jede Nichtbeachtung einer die Freiheitsentziehung betreffenden Vorschrift des nationalen Rechts einen Verstoß gegen die Konvention zur Folge („disregard of/failure to comply with the domestic law entails a breach"). Art. 5 setzt zunächst einmal voraus, dass die Freiheitsentziehung eine rechtliche Grundlage im nationalen Recht hat („legal basis in domestic law"), das seinerseits mit der Konvention in Einklang stehen muss. Die nationale rechtliche Grundlage muss außerdem gewissen Qualitätsanforderungen genügen („quality of the law") und einen gewissen Schutz vor Willkür bieten.18 17
E G M R , Murray./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 86-88; erfolgt die Aufforderung, sich in einem bestimmten Raum zu versammeln, im Zusammenhang mit der Festnahme eines Familienmitglieds, bei der das Haus der Familie betreten und durchsucht wird, bedarf es für diese Art der Freiheitsbeschränkung keiner speziellen gesetzlichen Ermächtigung iSv Art. 8, wenn die Umstände der Festnahme im Einklang mit Art. 5 stehen, das Betreten und Durchsuchen des Hauses selbst gesetzlich vorgesehen sind, sich der Aufenthalt der übrigen Familienmitglieder in dem Raum auf eine kurze Zeitspanne beschränkt („short period of restraint") und als notwendiger und geeigneter Bestandteil des Festnahmeverfahrens anzusehen ist („necessary and proper part of the procedure of arrest"); vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel zur Durchsuchung von Räumlichkeiten (§ 2 IV 1).
18
E G M R , Lawless ./. Irland, Serie A Nr. 3, § 14; Engel./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 58; Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, §§ 37, 45-46; Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 30; Guzzardi ./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 92, 102; X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 42-43; Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 42; Bozano ./. Frankreich, Serie Α Nr. 111, §§ 54, 58; Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 114, § 42; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 47; van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 22,27; Wassink ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-A,
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht die nationale Rechtsgrundlage nur dann („compatible with the rule of law"), wenn sie ausreichend zugänglich und hinreichend bestimmt ist („sufficiently accessible and precise"). 19 Hier ergeben sich Parallelen zur Eingriffsklausel des Art. 8 Abs. 2. Bei der Gesetzesqualität kommt es nicht nur auf Parlamentsgesetze, sondern auch auf die sonstigen einschlägigen Rechtsregeln an. Der Entscheidung van Droogenbroeck ist allerdings zu entnehmen, dass nicht jeder Aspekt des bei der freiheitsentziehenden Maßnahme anzuwendenden Verfahrens gesetzlich geregelt sein muss. Überträgt eine nationale Rechtsvorschrift die Befugnis zur Anordnung einer Freiheitsentziehung auf die „Regierung", so erfolgt ein vom Justizminister angeordneter Freiheitsentzug gleichwohl rechtmäßig und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise, wenn es dem Rechtsverständnis dieses Staates entspricht, dass innerhalb der Regierung der Justizminister traditionell für diese Art von Entscheidung zuständig ist. 20 Neben ihrer Gesetzlichkeit muss jede auf Art. 5 Abs. 1 gestützte Festnahme oder Freiheitsentziehung „lawful" bzw. ,,regulier" sein. 21 D i e Rechtmäßigkeit betrifft sowohl die Anordnung als auch die Ausführung der freiheitsentziehenden Maßnahme („ordering and the execution"). Ihre Anforderungen - Einhaltung des nationalen Rechts und Schutz vor Willkür - stimmen mit denen des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens weitgehend überein. Zunehmend behandelt der E G M R die Voraussetzungen „lawful" und „procedure prescribed by law" gemeinsam, wobei er den Begriff „lawful" als Oberbegriff ansieht. 22 Dass der Schutz vor Willkür bei der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung eigenständige Bedeutung besitzt, hat der E G M R mehrfach betont. Unabhängig von
19
20 21
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§ 24; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 63, 75; Kemmache ./. Frankreich (No. 3), Serie A Nr. 296-C, § 37; Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311 ,§§ 42, 47; Amuur ./. Frankreich, Reports 1996III, §§ 42, 50; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 40; Bizzotto ./. Griechenland, Reports 1996-V, § 31; Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 118; Scott ./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 56-57; Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-11, § 41; Tsirlis u. Kouloumpas ./. Griechenland, Reports 1997-III, § 56 („the Convention „incorporates" the rules of that law"); Giulia Manzoni./. Italien, Reports 1997-IV, § 21; K.-F../. Deutschland, Reports 1997-VII, § 63. Als Bespiel für eine mangelnde Zugänglichkeit der gesetzlichen Regelung sei auf die Entscheidung Amuur./. Frankreich (Reports 1996-III, §§ 53-54 - Unterbringung von Asylbewerbern in der Transitzone des Pariser Flughafens Orly) verwiesen; vgl. zu der von Art. 8 geforderten Qualität der gesetzlichen Grundlage auch: EGMR, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 82, § 67. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 41. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 102; Kemmache./. Frankreich (No. 3), Serie Α Nr. 296-C, § 42. Zwar erscheint das Adjektiv rechtmäßig nicht in der französischen Fassung des Art. 5 Abs. 1(c). Dass das Erfordernis der Rechtmäßigkeit auch für diesen, gerade in Strafverfahren dominierenden Haftgrund gilt, hat der Gerichtshof unter Verweis auf die englische Fassung und den Rechtsgedanken, der dem gesamten Art. 5 zugrunde liegt, ausdrücklich entschieden. Vgl. die Formulierung „whether the disputed detention was „lawful", including whether it complied with „a procedure prescribed by law"; EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, § 47; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 40; Tsirlis u. Kouloumpas./. Griechenland, Reports 1997-III, §56.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
205
der Vereinbarkeit mit dem nationalen Recht eines Staates ist jede willkürliche Unterbringung unrechtmäßig.23 Es stellt sich die Frage, wer über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung zu entscheiden hat. In erster Linie obliegt es den nationalen Stellen, vor allem den Gerichten, das innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden („to interpret and apply the domestic law"). Der EGMR hat es wiederholt abgelehnt, die Einhaltung des nationalen Rechts durch die staatlichen Stellen zu kontrollieren bzw. die Tatsachen zu beurteilen, die ein nationales Gericht dazu bewogen haben, eine bestimmte Entscheidung zu treffen („not... to assess itself the facts"), um nicht jenseits seiner Kompetenzen als ein Gericht dritter oder vierter Instanz zu agieren („acting as a court of third or fourth instance"). Bei Tatbestandsmerkmalen, in denen die Konvention direkt auf das nationale Recht verweist („refers directly back to that law") und deren Nichteinhaltung einen Konventionsverstoß zur Folge hat, nimmt der Gerichtshof aber eine gewisse Art von Überprüfung für sich in Anspruch („certain power of review"), betont aber zugleich, dass die Logik des von der Konvention eingerichteten Schutzsystems den Umfang dieser Überprüfung begrenzt, weil die nationalen Stellen für die Beurteilung der im nationalen Recht entstehenden Fragen naturgemäß besonders qualifiziert sind („particularly qualified to settle the issues arising in this connection").24 Der Gerichtshof hat von der beanspruchten Kontrollbefugnis in sehr unterschiedlichem Maße Gebrauch gemacht. In einigen Entscheidungen hat er den nationalen Gerichten einen durchaus weitgehenden Beurteilungsspielraum zugebilligt. Das führt dazu, dass sich die Kriterien für die Willkürlichkeit einer Freiheitsentziehung nicht mit letzter Sicherheit bestimmen lassen. Das wiederum liegt vor allem daran, dass der Gerichtshof die Prüfung der Willkürlichkeit einer Haftentscheidung häufig nur mit einem Negativtestat versieht. Ein Beispiel hierfür ist das Urteil Benham. Dort verneinte der EGMR das Vorliegen von Willkür, da nicht behauptet worden sei, dass die Richter in schlechter Absicht gehandelt oder die Anwendung des nationalen Rechts vernach-
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24
EGMR, Winterwerp./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 39; X./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 43; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 48; De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 44; Bozano ./. Frankreich, Serie Α Nr. 111, §§ 54, 59; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, §§ 47, 50; van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, § 22; Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 44; Wassink ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-A, § 24; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie Α Nr. 244, § 63; Kemmache ./. Frankreich (No. 3), Serie A Nr. 296-C, § 42; Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, § 47; Amuur ./. Frankreich, Reports 1996-III, § 50; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 40; Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 118; Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 56; Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-11, §41; Tsirlis ./. Griechenland, Reports 1997-III, § 56; Giulia Manzoni ./. Italien, Reports 1997-IV, § 21; K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, § 63; Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, § 60. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 46; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 49; Bozano ./. Frankreich, Serie Α Nr. 111, § 58; Kemmache ./. Frankreich (No. 3), Serie Α Nr. 296-C, §§ 37, 44; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 41; Scott ./. Spanien, Reports 1996-VI, § 57; Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-11, § 41; Tsirlis u. Kouloumpas ./. Griechenland, Reports 1997-III, § 57; Perks u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 12.10.1999, § 62.
206
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
lässigt hätten.25 Im Fall Kemmache (No. 3) kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die gerichtlichen Haftentscheidungen weder einen Amtsmissbrauch, noch eine Art von Unredlichkeit oder Willkür erkennen ließen („disclose neither abuse of authority nor bad faith nor arbitrariness") und daher nicht als unrechtmäßig angesehen werden konnten, zumal der Beschuldigte jederzeit seine Freilassung habe beantragen können. 26 Ob der letzte Punkt allerdings ein Kriterium für die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung sein kann, erscheint mehr als fraglich. Das Urteil Kemmache (Nr. 3) steht für die Schwierigkeiten, die bei der Überprüfung des nationalen Rechts anlässlich freiheitsentziehender Maßnahmen entstehen können. Ein Gericht hatte Anklage gegen den Bf. erhoben und eine spezielle Haftanordnung („ordonnance de prise de corps") erlassen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Bf. bereits in Untersuchungshaft, aus der er wenig später entlassen wurde. Nach der Rechtsprechung des Cour de Cassation ermächtigte eine Ordonnance de prise de corps zu einer Inhaftierung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die in der Anklage aufgeführten Tatvorwürfe. Einen Tag vor Beginn des Strafprozesses meldete sich der Bf. bei einem Gefängnis, um in Haft genommen zu werden. Ein Mitangeklagter stellte einen Antrag auf Vertagung der Verhandlung, dem sich der Bf. anschloss. Nachdem ein dritter Mitangeklagter die sofortige Durchführung der Verhandlung beantragt hatte, trennte das Gericht das Verfahren gegen den dritten Mitangeklagten ab. Einen vom Bf. gestellten Antrag auf Freilassung lehnte das Gericht unter Bezugnahme auf die Ordonnance ab. Der Bf. war der Ansicht, dass die Ordonnance keine ausreichende Grundlage für seine Inhaftierung mehr gewesen sei, da sie erst wieder einen Tag vor dem nächsten Verhandlungstermin hätte vollstreckt werden dürfen. Der EGMR beschränkte sich auf die Feststellung, dass der Bf. in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der französischen Strafprozessordnung - so wie sie vom Cour de Cassation ausgelegt wurden - inhaftiert worden sei und sich weder im Wortlaut dieser Bestimmungen noch bei ihrer Anwendung ein Widerspruch zur Konvention ergeben habe, so dass die Inhaftierung auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgt sei. In einigen Urteilen hat sich der Gerichtshof recht intensiv mit der Einhaltung des nationalen Rechts befasst. Die Bf. Tsirlis u. Kouloumpas waren im November 1987 von den Zeugen Jehovas in Griechenland zu religiösen Geistlichen bestellt worden und hatten im November 1989 bzw. Februar 1990 eine Befreiung vom Wehrdienst beantragt. Ein Gesetz aus dem Jahre 1988 sah eine solche Befreiung für Geistliche anerkannter Religionsgemeinschaften vor („known religion"). Nachdem ihre Anträge abgelehnt worden waren, verweigerten beide Bf. den Wehrdienst. Am 30.4. bzw. 30.5.1990 wurden sie wegen Befehlsverweigerung von Militärgerichten zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Im November 1990 entschied das Oberste Verwaltungsgericht in einem anderen Fall, dass Geistliche der Zeugen Jehovas gemäß dem Gesetz von 1988 vom Wehrdienst befreit sind. Zwi-
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E G M R , Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 47 („acted in bad faith, nor that they neglected to attempt to apply the relevant legislation correctly"). E G M R , Kemmache./. Frankreich (No. 3), Serie A Nr. 296-C, § 45 („especially in view of the fact that ... applications for release may be made ... at any time").
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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schenzeitlich hatten auch die Bf. ein Verfahren vor diesem Gericht in Gang gesetzt, das die ablehnenden Bescheide über die Befreiung vom Wehrdienst am 24.4.1991 aufhob und die Zeugen Jehovas als anerkannte Religionsgemeinschaft in Griechenland bezeichnete. Daraufhin sprach das Militärberufungsgericht die Bf. vom Vorwurf der Befehlsverweigerung frei. Der EGMR nahm einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 an, weil die Inhaftierung der Bf. ohne eine Grundlage im innerstaatlichen Recht, willkürlich und daher nicht rechtmäßig gewesen sei. Zur Begründung bezog er sich darauf, dass das Oberste Verwaltungsgericht zwischen 1975 und 1986 in insgesamt sieben Entscheidungen die Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft anerkannt hatte und diese Rechtsprechung im Jahre 1990 gefestigt gewesen sei.27 Die Beschränkung seiner Kontrolle hält der E G M R dagegen für geboten, wenn nationale Gerichte die von einem Untergericht angeordnete Inhaftierung aufheben. Eine Inhaftierungszeit ist grundsätzlich rechtmäßig, wenn sie entsprechend einer gerichtlichen Entscheidung durchgeführt wird („carried out pursuant to a court order"). Verhalten sich Organe eines Vertragsstaates bei der rechtswidrigen Anordnung einer Inhaftierung redlich („unlawfully in good faith"), entfällt die Rechtmäßigkeit dieser Inhaftierung nicht notwendigerweise rückwirkend dadurch („retrospectively affect the validity of the intervening period of detention"), dass ein Gericht die Maßnahme wegen einer fehlerhaften Anwendung des nationalen Rechts nachträglich für rechtswidrig erklärt. Hebt beispielsweise ein Rechtsmittelgericht eine Inhaftierung, eine Verurteilung oder einen Strafausspruch wegen Tatsachen- oder Rechtsfehlern auf, folgt daraus für den Inhaftierungszeitraum nicht automatisch ein Konventionsverstoß. Anders entscheidet der Gerichtshof aber dann, wenn staatliche Organe von Anfang an in dem Bewusstsein handeln, gegen die bestehenden Gesetze zu verstoßen („at the outset knowingly contravened the legislation in force"), ihre Entscheidung also einen Macht- bzw. Kompetenzmissbrauch darstellt („original decision was an abuse of powers"). Maßstab der vom E G M R ausgeübten Kontrolle ist also die Wirksamkeit der zwischenzeitlichen Inhaftierung. Das schränkt den Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen das nationale Recht einen Konventionsverstoß zur Folge hat, nicht unerheblich ein und läuft praktisch auf eine Willkürkontrolle hinaus. 28 Insgesamt zeigt der Gerichtshof bei der Überprüfung freiheitsentziehender Maßnahmen eine zunehmende Bereitschaft, sich mit Fragen des jeweiligen nationalen Rechts auseinanderzusetzen. Zu bemängeln ist allerdings, dass er den Umfang dieser Uberprüfung meist nicht klarstellt. So lässt sich die Frage, wann ein Verstoß gegen nationale Formvorschriften zur Annahme einer nicht rechtmäßigen Freiheitsentziehung führt, nicht mit letzter Sicherheit beantworten. 29
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29
EGMR, Tsirlis u. Kouloumpas ./. Griechenland, Reports 1997-III, §§ 7-47, 55-63. EGMR, Bozano ./. Frankreich, Serie Α Nr. 111, § 55; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 42; Tsirlis u. Kouloumpas ./. Griechenland, Reports 1997-III, § 58; Perks u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 12.10.1999, §§ 62-71. Für eine „Beruhensprüfung in dieser Frage": Trechsel EuGRZ 1980, 514, 520f.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
In diese Rubrik passt auch das Urteil Douiyeb. Dort war eine staatsanwaltliche Haftanordnung irrtümlich („mere clerical error") auf ein Delikt gestützt worden, das nicht Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen war. Von einem Verstoß der Polizeihaft gegen Art. 5 Abs. 1 ging der Gerichtshof aber nicht aus, weil auch dieses Delikt die Anordnung einer Polizeihaft gestattet hätte, der Bf. über den tatsächlichen Tatvorwurf unterrichtet worden war, der zudem aus allen übrigen Dokumenten und Schriftstücken (Haftbefehl, Ermittlungsakte) eindeutig hervorging. 30
III.
Überschreitung einer im nationalen Recht vorgesehenen maximal zulässigen Haftzeit
Der in der Konvention vorgesehene Durchgriff auf das nationale Recht und die entsprechende Prüfungskompetenz des Gerichtshofs ist dort wichtig, wo die im nationalen Recht vorgesehene Höchstdauer einer Inhaftierung überschritten wird. Wie schon erwähnt, sieht der Gerichtshof die nationalen Gerichte bei der Bewertung, ob Festnahme und Inhaftierung einer Person im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts stehen - insbesondere ob die Voraussetzungen eines nationalen Haftgrundes vorliegen in einer besseren Position. Gleichwohl darf eine im nationalen Recht vorgesehene maximale Haftdauer nicht willkürlich überschritten werden. Der EGMR toleriert zwar, dass es unter gewissen Umständen zu begrenzten Verzögerungen kommen kann („some limited delay"), bevor eine inhaftierte Person freigelassen wird. Weil aber die in Art. 5 Abs. 1 genannten Haftgründe eng zu interpretieren sind, kann dies nicht gelten, wenn der zulässige Zeitraum einer Inhaftierung gesetzlich festgelegt ist. Verlangt eine nationale Vorschrift, dass eine festgenommene Person nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes freizulassen ist („maximum period o f . . . laid down in advance by statute"), kann sich der Vertragsstaat nicht auf unvermeidbare Verzögerungen bei der Freilassung der Person berufen. Weil die gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer für eine Inhaftierung im vorhinein bekannt ist, besteht für die nationalen Behörden die Pflicht, alle notwendigen Vorsehungen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die erlaubte Haftdauer nicht überschritten wird („duty to take all necessary precautions to ensure that the permitted duration was not exceeded").31 Auf diese Weise wird der eigentlich dem Art. 5 Abs. 3 vorbehaltene Schutz der Angemessenheit der Haftdauer schon im Rahmen der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung sichergestellt. Der Bf. K.-F. und seine Ehefrau waren von der Polizei verhaftet und zur Feststellung ihrer Identität auf eine Polizeidienststelle verbracht worden. Die Entscheidung betraf im wesentlichen die Frage, ob die Voraussetzungen eines im deutschen Recht vorgesehenen Haftgrundes erfüllt waren. Der E G M R hat sich bei der Beantwortung dieser
30 31
EGMR, Douiyeb ./. Niederlande, Urteil v. 4.8.1999. EGMR, K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, §§ 67, 71-72.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Frage an den Ausführungen der deutschen Gerichte und Behörden sowie am Inhalt der nationalen Verfahrensakte orientiert. Am Ende blieb lediglich die Vorschrift des § 127 I iVm § 163b StPO, die zum Zwecke der Identitätsfeststellung die Festnahme und Inhaftierung einer bei der Begehung einer Straftat auf frischer Tat betroffenen Person erlaubt, deren Identität nicht sofort festgestellt werden kann. Der EGMR sah die Festnahme und Inhaftierung - soweit sie die gesetzlich vorgeschriebene absolute Höchstdauer von 12 Stunden nicht überschritt - als rechtmäßig und noch zu rechtfertigen an. Weil jedoch die gesetzlich zulässige Höchstdauer der Inhaftierung um 45 Minuten überschritten worden war, lag insoweit ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1(c) vor. Das Urteil K.-F. steht für die Bereitschaft des Gerichtshofs, auch noch so kurzfristige Formen des Polizeiarrestes einer kritischen Kontrolle zu unterziehen. Soweit jedoch im nationalen Gericht keine Inhaftierungsfristen fixiert sind, verbleibt es bei der allgemeinen Rechtmäßigkeits- und Willkürkontrolle. 32
IV.
Festnahme- und Haftgründe der EMRK
Art. 5 Abs. 1 enthält eine abschließende („exhaustive") Liste von Fällen, in denen die Konvention eine Freiheitsentziehung als Ausnahme vom Grundsatz der persönlichen Freiheit einer Person erlaubt. Wie sich bereits aus dem Wortlaut („save in the following cases"/„sauf dans les cas suivants") ergibt, müssen die Voraussetzungen der dort genannten Haftgründe eng ausgelegt werden („interpreted strictly", „narrow interpretation"). Insbesondere hat der E G M R allen Versuchen eine Absage erteilt, die Festnahmeund Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 aus ermittlungstaktischen Gründen oder wegen der Probleme bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität extensiv auszulegen. N u r eine enge Interpretation ist mit dem von Art. 5 bezweckten Schutz vor willkürlichen Freiheitsentziehungen vereinbar. 33 Auch Folgerungen α fortiori sind im Bereich der Haftgründe meist als konventionswidrig anzusehen. 34 Die enge Interpretation der Haftgründe ist auch deshalb geboten, weil Art. 5 im Gegensatz zu Art. 8 und Art. 10 den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Rechtsbeschränkung nicht ausdrücklich nennt. Den nach Art. 5 zulässigen G r u n d einer Inhaftierung bestimmt der E G M R autonom, d.h. unabhängig von der rechtlichen Würdigung durch die nationalen Stellen („power to consider the legal basis of the applicant's
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33
34
Zur Problematik kurzfristiger Freiheitsentziehungen durch die Polizei: Trechsel EuGRZ 1980, 514, 517. EGMR, Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 57; Irland./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 194; Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 96; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 43; Ciulla ./. Italien, Serie A Nr. 148, § 41; Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, § 42; Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-11, § 41; Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 76; K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, § 70. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 98.
210
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
detention autonomously"). Als Prüfungspunkt wählt er zunehmend die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung.35 Bedauerlicherweise hat sich der Gerichtshof bisher zu wenig bemüht, die einzelnen Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 intern sauber voneinander abzugrenzen.36 Das muss eigentlich verwundern, weil er ihren externen abschließenden Charakter immer wieder und in aller Deutlichkeit hervorgehoben hat. Dass einer der in Art. 5 Abs. 1 genannten Haftgründe für eine Freiheitsentziehung einschlägig ist, schließt die Anwendbarkeit der anderen Haftgründe also nicht notwendig aus. Eine Inhaftierung kann daher je nach den Umständen auch durch mehrere Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 gerechtfertigt sein.37 Kommen mehrere Haftgründe in Betracht, soll der letztlich einschlägige Grund im Lichte von Ziel und Zweck des Art. 5 zu beurteilen sein.38 Gerade dann hätte es aber nahegelegen, abgrenzungsscharfe Kriterien für die einzelnen Gründe zu benennen. Das ist vor allem für das Haftprüfungsverfahren nach Art. 5 Abs. 4 wichtig, dessen erforderlicher Prüfungsumfang sich nach den Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung richtet. Die Ermittlungsbehörden können die Freiheitsentziehung einer Person in einer Haftanordnung nicht nur auf verschiedene von der Konvention zugelassene Haftgründe stützen, sondern auch in verschiedenen nebeneinander geführten Ermittlungsverfahren mehrere Haftbefehle oder sonstige freiheitsentziehende Anordnungen treffen und nebeneinander vollziehen. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie etwa der Blick auf das deutsche Recht zeigt.39
1.
Unverzüglichkeit der Freilassung
Ausgehend von dem Gebot der einschränkenden Auslegung der Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 verlangt der EGMR eine unverzügliche Freilassung aus der Untersuchungshaft, wenn ein nationales Gericht dies anordnet. Ordnet ein Gericht die Freilassung des Beschuldigten an, können besondere Formalien und praktische Erwägungen, die mit dem Gerichtssystem zusammenhängen, dazu führen, dass die Vollstreckung einer derartigen gerichtlichen Entscheidung eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt („practical considerations relating to the running of the courts and the completion of special formalities"). Dass Formalitäten („administrative formalities") im Anschluss an eine gerichtlich angeordnete Freilassung schneller hätten durchgeführt werden können, bedeutet für sich allein noch keinen Konventionsverstoß. Gewisse Verzögerungen bei der 35 36 37
38 39
Vgl. etwa: E G M R , Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 52-66. Kritisch hierzu: Trechsel StV 1993, 98, 102. E G M R , Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 76; Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, § 58. E G M R , Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, §§ 109-110; Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 52. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner Vor § 112 Rn. 10 ff. Der Erlass mehrerer Haftbefehle in derselben Sache ist ebenso unzulässig wie der gleichzeitige Vollzug mehrerer Haftbefehle. Wegen des nicht vollzogenen Haftbefehls wird „Überhaft" vermerkt.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Vollziehung der gerichtlichen Entscheidung zur Freilassung einer inhaftierten Person hält der EGMR für verständlich und oftmals unvermeidlich („some delay"). Sie müssen jedoch auf ein Minimum reduziert werden („kept to a minimum"). Nicht vereinbar mit Art. 5 Abs. 1 ist es, wenn ein nationales Gericht die „unverzügliche" Freilassung einer in Untersuchungshaft befindlichen Person anordnet und diese noch weitere elf Stunden inhaftiert bleibt, ohne dass ihr die Entscheidung mitgeteilt oder mit deren Vollstreckung begonnen wird („without that decision being notified to him or any move being made to commence its execution"). 40 Im Fall Quinn hatte ein Gericht die „unverzügliche Freilassung" („released forthwith") des Bf. aus der Untersuchungshaft angeordnet, „soweit er nicht ans anderen Gründen inhaftiert werde". Diese sofort vollstreckbare Entscheidung erging um 9.00 Uhr in Abwesenheit des Bf., der zunächst in Haft blieb, da seine Freilassung noch von einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft und weiteren Formalitäten abhing. Um 17.30 Uhr ging bei der Pariser Staatsanwaltschaft das Fax eines Genfer Untersuchungsrichters ein, in dem dieser um die vorläufige Festnahme des Bf. zum Zwecke seiner Auslieferung bat. Die Staatsanwaltschaft ordnete die vorläufige Festnahme („provisional arrest") des Bf. an, der sich zu diesem Zeitpunkt immer noch im Gefängnis befand. Gegen 20.00 Uhr wurde er zum Zwecke seiner Auslieferung inhaftiert („placed in detention with a view to extradition"). Der EGMR nahm einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 an, da für die Inhaftierung in der Zeit zwischen 9.00 und 20.00 Uhr kein nach Art. 5 Abs. 1 zulässiger Haftgrund bestanden habe. Die Bf. Giulia Manzoni war von einem Strafgericht zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Im Urteil hatte das Gericht die sofortige Freilassung der Bf. aus der Haft angeordnet. Die Verhandlung endete um 11.45 Uhr. Um etwa 13.30 Uhr wurde die Bf. von der Polizei zu dem Gefängnis begleitet, in dem sie zuvor untergebracht war. Um 15.10 Uhr erhielt sie von der Gefangnisleitung das Protokoll der Verhandlung. Am Nachmittag erledigte die Gefängnisverwaltung sämtliche gesetzlichen Formalitäten (Abrechnungen, Rückgabe der Habe, Mitteilung der Freilassung an die Polizei, Eintragung im Gefangnisregister). Um 18.30 Uhr hinterließ die Bf. ihre Zustelladresse bei der Gefängnisleitung und verließ um 18.45 Uhr das Gefängnis. Die Verbringung der Bf. zum Gefängnis und die Übergabe des Verhandlungsprotokolls sah der EGMR als ersten Schritt zur Vollziehung der gerichtlich angeordneten Freilassung an („first step towards complying with the ... judgment"). Obwohl die Formalitäten durchaus schneller hätten durchgeführt werden können, verneinte er einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1.
40
E G M R , Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, § 42; Giulia Manzoni./. Italien, Reports 1997-IV, § 25; vgl. auch die Entscheidung Raninen ./. Finnland (Reports 1997-VIII, §§ 7-16, 20-23, 46-47). Dort war der Bf. im Anschluss an eine gerichtliche Verurteilung - die verhängte Freiheitsstrafe sollte zu einem späteren Zeitpunkt vollstreckt werden - zurück in ein Gefängnis gebracht worden. Nach seiner Freilassung wurde er noch im Hof des Gefängnisses erneut verhaftet.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
2.
Haftgründe des Art. 5 Abs. 1
a)
Art. 5 Abs. 1(a)
Von geringer Bedeutung für das Strafprozessrecht scheint auf den ersten Blick der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(a) zu sein, der die Freiheitsentziehung einer Person nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht („after conviction"/„apres condamnation") gestattet. Rein präventiv angeordnete Inhaftierungen werden von diesem Haftgrund nicht erfasst. Wann eine freiheitsentziehende Maßnahme präventiv oder nach einer Verurteilung erfolgt, hängt vom Verständnis des Begriffes Verurteilung ab. Der EGMR nimmt einen Vergleich des Art. 5 Abs. 1 mit den Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 vor und vertritt die Ansicht, dass eine Verurteilung nicht ohne die rechtliche Feststellung einer strafbaren Handlung denkbar sei. Die Erstreckung des Begriffs Verurteilung auf Präventiv- oder Sicherungsmaßnahmen stehe auch nicht im Einklang mit der von Art. 5 geforderten restriktiven Auslegung. Bei der im Urteil Guzzardi im Anschluss an eine Untersuchungshaft angeordneten Verbannung auf eine Mittelmeerinsel ging der EGMR von einer Präventivmaßnahme aus.41 Eine Verurteilung verlangt bereits dem Wortlaut nach einen Schuldspruch („finding of guilt"/„declaration de culpabilite") aufgrund einer im Einklang mit dem geltenden Recht festgestellten strafbaren Handlung. Wegen der französischen Fassung („condamnation") versteht der Gerichtshof unter einer Verurteilung aber auch die Verhängung einer Strafe oder anderen freiheitsentziehenden Maßnahme („penalty or other measure involving deprivation of liberty"). Um unter Art. 5 Abs. 1(a) zu fallen, muss eine Freiheitsentziehung die chronologischen und kausalen Bedingungen erfüllen, die der Präposition „nach" inherent sind („chronological and causal conditions"). Es kommt deshalb nicht so sehr auf eine chronologische Folge von Verurteilung und Inhaftierung an, sondern auf das Vorliegen eines kausalen Bindegliedes („causal link/connection") zwischen beiden. Die Freiheitsentziehung muss aus der Verurteilung resultieren, ihr folgen, auf ihr beruhen oder kraft dieser angeordnet worden sein („must result from, follow and depend upon or occur by virtue of the conviction").42 Eine Festnahme kann daher nicht mit Art. 5 Abs. 1(a) gerechtfertigt werden, wenn gegen die Person in einem anderen Staat ein vollstreckbares Strafurteil ergangen ist, es den Behörden des Festnahmestaates aber nicht obliegt, dieses Urteil selbst zu vollstrecken. Wie der EGMR im Fall Bozano zutreffend ausgeführt hat, kommt hier nur eine Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(f) in Betracht, wenn gegen die festgenommene Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist.43
41 42
43
EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 100. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 39; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 35, 39; Bozano ./. Frankreich, Serie A Nr. 111, § 53; Weeks./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 42; Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 38; vgl. auch; EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 78; zur Problematik der Kausalität zwischen der Verurteilung und der zusätzlichen Haftzeit aufgrund einer sog. „loss-of-time-order" im englischen Recht, vgl.: EGMR, Monnell u. Morris./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 115, § 40. EGMR, Bozano ./. Frankreich, Serie A Nr. 111, § 53.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
213
Eine Freiheitsentziehung fällt nur dann unter Art. 5 Abs. 1(a), wenn sie in der gerichtlichen Entscheidung ausgesprochen wird und als deren unmittelbare Folge angesehen werden kann. Hat sie dagegen eher den Charakter einer Ersatzsanktion - etwa weil sie nur verhängt werden kann, wenn die betreffende Person der gerichtlichen Anordnung nicht Folge leistet so ist die erforderliche kausale Verknüpfung zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung unterbrochen, weil letztere nicht auf der Verurteilung, sondern auf dem Verhalten der betroffenen Person beruht.44 Andererseits fällt eine Freiheitsentziehung unter Art. 5 Abs. 1(a), wenn sie in einem Urteil zusätzlich zur Hauptstrafe ausgesprochen und erst im Anschluss an die verbüßte Hauptstrafe vollstreckt wird, selbst wenn sie von einer ministeriellen Anordnung abhängt. Das gilt auch dann, wenn dem Minister ein weiter Ermessensspielraum hinsichtlich der Art und Weise der Vollstreckung zusteht. Der EGMR hat im Fall van Droogenbroeck die Freiheitsentziehung von Rückfalltätern und Gewohnheitsverbrechern aufgrund einer neben der Haupt(freiheits-)strafe ausgesprochenen Mise ä la disposition du gouvernement und deren nachfolgende Vollstreckungsanordnung durch den belgischen Justizminister als von Art. 5 Abs. 1(a) erfasst angesehen, obwohl die Mise ä la disposition zwischen 5 und 20 Jahre dauerte, erst nach Verbüßung der eigentlichen Hauptfreiheitsstrafe angetreten werden konnte und dem Justizminister hinsichtlich der Art und Weise ihrer Vollstreckung ein weiter Ermessensspielraum zustand (Haft, Unterbringung, Bewährungsauflage, Beaufsichtigungsmaßnahmen allgemeiner Art). Der Minister übte nach Ansicht des EGMR das ihm zustehende Ermessen innerhalb eines vom Gesetz und der Verurteilung gesteckten Rahmens aus, wobei er die Gefährlichkeit des Verurteilten und dessen Resozialisierungschancen zu berücksichtigen hatte.45 Ein ähnliches System hatte der Gerichtshof in den Fällen Ε und Eriksen zu überprüfen, die denselben Bf. betrafen. Die norwegischen Gerichte konnten neben der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe die Strafverfolgungsbehörden bzw. den Justizminister ermächtigen, gegenüber einer Person mit einem unterentwickelten oder dauerhaft gestörten Geisteszustand eine Sicherungsmaßnahme („security measure") anzuordnen, wie z.B. die Unterbringung in einer Sicherungsanstalt oder die präventive Inhaftierung in einem Gefängnis. Im konkreten Fall waren gegen den Bf. drei Urteile ergangen, in denen die Strafverfolgungsbehörden zur Anordnung von Präventivmaßnahmen ermächtigt worden waren. Zuletzt hatte ein Gericht den Bf. zu einer Freiheitsstrafe von 120 Tagen verurteilt und gleichzeitig die Strafverfolgungsbehörden für die Dauer von fünf Jahren zur Anordnung von Präventivmaßnahmen ermächtigt. Zwischen November 1985 und Februar 1990 war der Bf. auf Anordnung des Justizministers in verschiedenen Einrichtungen untergebracht. Für diese Zeit waren die Art. 5 Abs. 1(a) und (e) einschlägig. Die Entscheidung Eriksen betraf die Frage, ob die gerichtlich angeordnete Unterbringung des Bf. nach Ablauf der ursprünglich verhängten Sicherungsmaßnahme
44 45
EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 6-19, 31, 68-70. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 19-25, 39.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
bis zur Entscheidung über ihre Verlängerung nach Art. 5 Abs. 1(a) oder (c) oder (e) gerechtfertigt werden konnte.46 Der Bf. Erkalo war am 21.6.1990 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und einer im Ermessen der Regierung stehenden Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt worden. Gewöhnlich wurden derartige Unterbringungen erst vollzogen, wenn eine vorzeitige Entlassung möglich war („eligible for early release"). Wegen des geistigen Zustandes des Bf. ordneten die staatlichen Stellen jedoch bereits am 3.7.1991 eine zwei Jahre dauernde Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung an. Entsprechend einer im nationalen Recht vorgesehenen Frist hatte die Staatsanwaltschaft mehr als einen Monat vor Ende der Unterbringung am 3.7.1993 die Verlängerung der Unterbringung um ein weiteres Jahr beantragt. Weil dieser Antrag irrtümlich in das Gerichtsarchiv gelangt und erst am 8.9. bei der Kanzlei zu den Akten genommen worden war, gab das Gericht dem Antrag erst am 23.9. statt. Da die Freiheitsstrafe am 23.9. noch nicht beendet war, fiel die Inhaftierung zwischen dem 3.7. und dem 23.9.1993 unter die Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(a) und - wegen der am 3.7.1991 angeordneten Unterbringung - auch unter Art. 5 Abs. 1(e).47 Da sich die Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(a) und (e) nicht gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander bestehen können, liegt eine Verurteilung iSv Art. 5 Abs. 1(a) auch dann vor, wenn das Gericht den Beschuldigten zwar für schuldig hält, ihm gegenüber aber keine Strafe verhängt („way of punishment"), sondern wegen einer geistigen Erkrankung seine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung anordnet. Der Bf. X war wegen Körperverletzung verurteilt worden. Nach der Verurteilung ordnete das Gericht die Haftfortdauer zum Zwecke einer medizinischen Untersuchung an. Im Anschluss an eine mündliche Verhandlung, in der zwei Mediziner ein Gutachten über den Geisteszustand des Bf. erstatteten, ordnete das Gericht die zeitlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für strafrechtlich nicht verantwortliche Täter an. Den Bf. Silva Rocha hatte ein Strafgericht aufgrund seines geistigen Zustandes für strafrechtlich nicht verantwortlich für das von ihm begangene Tötungsdelikt eingestuft. Wegen seiner Gefährlichkeit und einer möglichen Wiederholungsgefahr hatte es jedoch als Sicherheitsmaßnahme („security measure") die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung für die Dauer von mindestens drei Jahren angeordnet. Gegen den wegen Körperverletzung verurteilten Bf. Johnson hatte ein Gericht keine Freiheitsstrafe verhängt, sondern - in Form einer „hospital order" - seine Unterbringung in einem speziellen Krankenhaus verfügt und zum Schutz der Öffentlichkeit eine zeitlich unbefristete „restriction order" verhängt. In allen drei Fällen fielen die Freiheitsentziehungen unter Art. 5 Abs. 1(a) und (e), wobei der EGMR im Fall Johnson einen Vorrang von Art. 5 Abs. 1(e) gegenüber Abs. 1(a) annahm. 48 Verurteilt ein Gericht den Beschuldigten wegen der Begehung von Drogendelikten zu einer Freiheitsstrafe und ordnet es zugleich an, dass die Strafe wegen einer Drogen46
47 48
E G M R , Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, §§ 9, 20, 22, 34, 52-53; Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, §§ 19-48, 53-55, 76-84. E G M R , Erkalo ./. Niederlande, Reports 1998-VI, §§ 8-15, 51. E G M R , X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 20, 39; Silva Rocha ./. Portugal, Reports 1996-V, §§ 7-10, 27; Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, §§ 7-10, 17-19, 58.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
215
abhängigkeit in einer speziellen therapeutischen Einrichtung zu verbüßen ist, fällt die anschließende Freiheitsentziehung allein unter Art. 5 Abs. 1(a), weil in diesem Fall eine Strafe zum Zwecke der Bestrafung verhängt worden ist („sentence ... in fact passed ... for the purposes of punishment") und die Feststellung, dass der Beschuldigte drogenabhängig ist, sowie die Entscheidung, ihn in einem Gefängnis mit medizinischer Ausstattung unterzubringen, in keinster Weise den Hauptgrund der Inhaftierung beeinflussen („do not in any way affect the main ground for his detention"). 49 Eine gerichtlich angeordnete Freiheitsentziehung kann dagegen weder zusätzlich noch ausschließlich auf Art. 5 Abs. 1(a) gestützt werden, wenn der Anknüpfungspunkt für die Inhaftierung allein der geistige Zustand des Beschuldigten ist und das ihm zur Last gelegte Verhalten lediglich den Anlass für die Anordnung der Inhaftierung bietet, so dass die Freiheitsentziehung noch nicht einmal teilweise auf diesem Verhalten beruht. In diesem Fall kann nicht von einer Verurteilung - so wie sie der Gerichtshof versteht gesprochen werden. Wird der Beschuldigte von den ihm zur Last gelegten Taten aufgrund einer psychischen Erkrankung freigesprochen, verfügt das Gericht aber als Sicherungsmaßnahme die mehrjährige Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, so fällt die Freiheitsentziehung nicht unter Art. 5 Abs. 1(a), sondern ausschließlich unter Art. 5 Abs. 1(e).50 Gleiches gilt, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat und ihn dementsprechend nicht ausdrücklich freispricht, ihn aber als für die Begehung der Taten strafrechtlich nicht verantwortlich einstuft („not criminally responsible") und seine anschließende Unterbringung ausschließlich auf einer psychischen Erkrankung beruht. 51 Offen gelassen hat es der E G M R dagegen, ob die erneute Festnahme und Inhaftierung eines Verurteilten auch dann wieder bzw. noch unter Art. 5 Abs. 1(a) fällt, wenn er zuvor bedingt entlassen worden ist und über längere Zeit in Freiheit gelebt hat. 52 Für das Strafprozessrecht weitaus wichtiger ist die Erkenntnis, dass auch die Verhaftung eines Verurteilten nach der Verkündung eines Urteils - z.B. im Anschluss an die Verhandlung im Gerichtssaal - sowie die anschließende Freiheitsentziehung unter Art. 5 Abs. 1(a) fallen. Wie der Gerichtshof schon im Fall Wemhoff entschieden hat, bezieht sich die Vorschrift nicht lediglich auf rechtskräftige Verurteilungen („final conviction"). Dabei ist es unerheblich, welche Rechtsmittel gegen die Verurteilung statthaft sind. 53 Auch mit der Problematik der Überhaft hatte sich der E G M R schon zu beschäftigen. Der Bf. Ringeisen war aufgrund eines richterlichen Haftbefehls inhaftiert. Sodann erging eine als „Überhaft" bezeichnete zweite Haftanordnung in einer anderen Strafsache. Nachdem in dieser Sache ein Urteil ergangen war, wurde die Inhaftierung des Bf. in beiden Verfahren aufrechterhalten. Obwohl in dem zweiten Verfahren bereits ein
49 50 51 52 53
EGMR, EGMR, EGMR, EGMR, EGMR,
Bizzotto ./. Griechenland, Reports 1996-V, §§ 31-35. Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, §§ 10, 18, 25. Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, §§ 7-8, 45. X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 39. Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 9.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
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Urteil ergangen war, prüfte der EGMR auch die Angemessenheit der Dauer dieser (!) Inhaftierung anhand von Art. 5 Abs. 3, da zwischen beiden Inhaftierungen ein untrennbarer Zusammenhang („interconnecting link") bestand.54 Man wird daraus folgern können, dass eine auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützte Freiheitsentziehung - ausnahmsweise (dazu später) - auch nach einer gerichtlichen Verurteilung weiterhin in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1(c) - und nicht in den von Art. 5 Abs. 1 (a) - fällt, wenn in einem parallel geführten zweiten Verfahren, in dem noch kein Urteil ergangen ist, eine auf Art. 5 Abs. 1(c) basierende Haftanordnung vorliegt. b)
Art. 5 Abs. 1(b)
Art. 5 Abs. 1(b) gestattet eine Festnahme oder Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung („for non-compliance with the lawful order of a court"/„pour insoumission ä une ordonnance rendue, conformement ä la loi, par un tribunal") oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung („in order to secure the fulfilment of any obligation prescribed by law"/„en vue de garantir l'execution d'une obligation prescrite par la loi"). Unter die erste Alternative des Art. 5 Abs. 1(b) fallen nur gerichtliche Anordnungen. Die von einem Polizeipräsidenten ausgesprochene Warnung, dass ein bestimmtes Verhalten durch eine gerichtlich anzuordnende Überwachungsmaßnahme sanktioniert werden könne, stellt deshalb keine gerichtliche Anordnung iSv Art. 5 Abs. 1(b) dar.55 Schon aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit kann nicht jede gerichtliche Anordnung eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Erst in der Entscheidung Steel bot sich dem EGMR Gelegenheit, zu den Anforderungen an eine gerichtliche Anordnung Stellung zu nehmen. Will ein Gericht eine Freiheitsentziehung als Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten einer Person anordnen, so muss - ähnlich wie beim Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) - das nationale Recht so ausreichend präzise formuliert sein, dass die Person die mit ihrem Verhalten verbundenen Konsequenzen hinreichend erkennen kann („formulated with sufficient precision reasonably to allow ... to foresee the consequences of their actions"). Dazu gehören sowohl die tatbestandlichen Voraussetzungen als auch die Gründe, bei deren Vorliegen ein bestimmtes Verhalten zum Gegenstand einer freiheitsentziehenden gerichtlichen Anordnung gemacht werden kann. Für eine rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(b) genügt es aber nicht, dass das nationale Recht hinreichend konkret formuliert ist. Auch die gerichtliche Anordnung selbst muss inhaltlich speziell ausgestaltet sein („specific enough"). Wird einer Person durch gerichtliche Anordnung ein bestimmtes Verhalten aufgegeben, für dessen Nichtbefolgung ihr die Verhängung einer freiheitsentziehenden Sanktion droht, so sind eher vage oder allgemeine Begriffe („rather vague and general terms") ebenso wie unpräzise Formulierungen, die kaum eine Richtung für das erwartete Verhalten vorgeben („expression ... particularly imprecise"), nicht geeignet, die Anordnung als rechtmäßig erscheinen zu lassen. Hat dagegen bereits
54 55
EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, § 109. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie Α Nr. 39, § 101.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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ein bestimmtes Verhalten einer Person Anlass zu einer gerichtlichen Entscheidung gegeben, in der die Person neben der Zahlung einer Geldsumme aufgefordert wird, dieses Verhalten für einen gewissen Zeitraum zu unterlassen, so schaden auch eher unbestimmte Formulierungen hinsichtlich des von ihr erwarteten Verhaltens nicht, wenn das Verhalten, welches Anlass zu der Anordnung gegeben hat, selbst hinreichend konkret bestimmt ist und die Person aus dem Gesamtzusammenhang den genauen Inhalt der Anordnung erkennen kann. 56 Diese Ausführungen des EGMR machen deutlich, dass zwischen den Haftgründen des Art. 5 Abs. 1(a) und (b) ein gewisses Konkurrenzverhältnis besteht, weil man eine gerichtliche Anordnung auch als Verurteilung ansehen kann. Hat eine Freiheitsstrafe eher den Charakter einer Ersatzsanktion, weil sie nur dann verhängt werden kann, wenn die betreffende Person der eigentlichen gerichtlichen Anordnung nicht Folge leistet, fällt sie ausschließlich unter Art. 5 Abs. 1(b).57 Die Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen
Verpflichtung
betrifft nur Fälle, in denen das Gesetz eine Inhaftierung gestattet, um die betreffende Person zur Erfüllung einer spezifischen und konkreten Pflicht anzuhalten („obligation of a specific and concrete nature"). Die bloße Nichterfüllung der allgemeinen Pflicht, Gesetze zu befolgen, genügt dagegen nicht. Bei der vorgeschriebenen Verpflichtung muss es sich um eine spezifische und konkrete Pflicht handeln, die der Person bereits zum Zeitpunkt der Freiheitsentziehung obliegt („already incumbent on the person concerned"). Von ihr muss also ein bestimmtes Verhalten in der Zukunft erwartet werden. Eine nach Art. 5 Abs. 1(b) 2. Alt. verhängte Haft muss Beugecharakter haben und darf in keinem Zusammenhang mit einer Strafe stehen. Trotz ihrer abschreckenden Wirkung fallen echte Freiheitsstrafen nicht unter Art. 5 Abs. 1(b).58 Im Fall Steel waren fünf Personen aus Anlass eines Verhaltens, das einen breach of the peace darstellte oder hervorrufen konnte, bis zu ihrer Vorführung vor einen Magistrates' court inhaftiert worden. Die S hatte an einer Protestaktion gegen eine Moorhuhnjagd teilgenommen. Sie war verhaftet worden, als sie einen Schützen an der Abgabe eines Schusses hinderte. Die L hatte an einer Protestaktion gegen den Ausbau einer Autobahn teilgenommen. Durch gerichtliche Anordnungen wurden S und L verpflichtet, bei Zahlung einer Summe von £ 100 die öffentliche Ordnung anzuerkennen und sich für die Dauer von zwölf Monaten korrekt zu verhalten („ordered to agree to be bound over to keep the peace and be of good behaviour for a period of twelve months, subject to a recognizance of GBP 100"). Weil die Bf. dieser Anordnung nicht zugestimmt hatten, waren sie 28 bzw. 7 Tage inhaftiert worden. Nach Ansicht des EGMR war die für eine Verurteilung iSv Art. 5 Abs. 1(a) erforderliche kausale Verknüpfung zwischen 56 57
58
EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 75-76. EGMR, Steel u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 68-70; vgl. auch die entsprechenden Ausführungen zum Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(a). EGMR, Engel./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 69; Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 101; Ciulla ./. Italien, Serie A Nr. 148, § 36; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, §§ 9-17, 19, 39; Perks u.a../. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 12.10.1999, §§ 69-71 (schuldhafte Nichterfüllung einer Gemeindeforderung - „communit charge"); vgl. hierzu den beschränkten Prüfungsumfang des EGMR beim Begriff „lawful" iSv Art. 5 Abs. 1 und die Entscheidungen der EKMR zu Art. 5
Abs. 1(b) bei: Frowein/Peukert Art. 5 Rn. 64.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
der Verurteilung und der Freiheitsentziehung unterbrochen, weil letztere nicht auf den gerichtlich festgestellten breaches of the peace beruhte, sondern auf der Weigerung der Bf., sich der Anordnung zu beugen („refusal to enter into recognizances"). Die Inhaftierungen fielen jedoch unter den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(b). Der EGMR hielt das nationale Recht für so hinreichend bestimmt formuliert, dass die Bf. den aus ihrem Verhalten resultierenden breach of the peace, die Möglichkeit der Verhängung einer binding order und den ihnen im Falle eines Verstoßes gegen diese Order drohenden Freiheitsentzug erkennen konnten. Auch die Anordnungen selbst waren trotz des unbestimmten Ausdruckes „to be of good behaviour" ausreichend bestimmt, weil den Bf. aufgrund des festgestellten breach of the peace klar sein musste, welches Verhalten sie zu unterlassen hatten.59 Der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(b) hat in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht die Bedeutung erlangt, wie man aufgrund seines Wortlauts vermuten würde. Er dürfte aber für die Vollziehung einer gegenüber einem Zeugen zur Erzwingung prozessualer Pflichten angeordneten Beuge- bzw. Ordnungshaft (§§51, 70, 95 II, 161a II StPO) sowie für die Duldung strafprozessualer Zwangs- und Ermittlungsmaßnahmen einschlägig sein. Die Vereinbarkeit einer derartigen Inhaftierung mit der Konvention hatte der E G M R jedoch bisher nicht zu entscheiden. c)
Art. 5 Abs.
1(c)
Ganz anders sieht es bei den Festnahme- und Haftgründen des Art. 5 Abs. 1(c) aus, die auf Inhaftierungen in Strafverfahren geradezu zugeschnitten sind. Die von Art. 5 Abs. 1 (c) aufgeworfenen Fragen waren bereits Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des Gerichtshofs. (1) Zweck der Festnahme - Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde Die Festnahme bzw. Freiheitsentziehung einer Person darf nur zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde erfolgen („competent legal authority"/„autorite judiciaire competente"). Der mit einer Festnahme und Freiheitsentziehung verfolgte Zweck ist Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Festnahme selbst. Weil der E G M R Art. 5 Abs. 1(c) in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 interpretiert und beide Normen als Einheit ansieht, muss jede nach Art. 5 Abs. 1(c) festgenommene oder inhaftierte Person unverzüglich einer zuständigen Gerichtsbehörde vorgeführt werden, die entweder über die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung oder in der Sache selbst entscheidet. 60 Ob die in Art. 5 Abs. 1(c) angelegte Zweckbindung der freiheitsentziehenden Maßnahme einen wirksamen Schutz vor willkürlichen Freiheitsentziehungen garantiert, erscheint eher fraglich, weil der
59
60
E G M R , Steel u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 6-19, 31, 68-70, 75-76; vgl. demgegenüber: E G M R , Hashman u. Harrup ./. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 25.11.1999 (Verstoß gegen Art. 10): „the expression ,to be of good behaviour ... is particular imprecise, and did not give the applicants sufficiently clear guidance as to how they should behave in future'". E G M R , Lawless ./. Irland, Serie A Nr. 3, § 14; Irland./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 196, 199; Schiesser./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 29; Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 102; De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 44; Ciulla ./. Italien, Serie A Nr. 148, § 38.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Gerichtshof bei ihrer Kontrolle eine tendenziell zurückhaltende Haltung eingenommen hat. Seiner Ansicht nach haben die nationalen Gerichte auch bei der Beurteilung des Festnahmezwecks den Vorteil, die Glaubwürdigkeit von Zeugen einschätzen zu können, so dass sie insgesamt besser in der Lage seien, die ihnen vorliegenden Beweise zu bewerten („better placed to assess the evidence adduced before them"). Entsprechend der im Fall Murray gewählten Formulierung muss man davon ausgehen, dass der Gerichtshof von der Beurteilung der nationalen Gerichte jedenfalls dann nicht abweicht, wenn hierfür keine zwingenden Gründe vorgetragen werden („no cogent elements have been produced ... "). Für die Verfolgung des Festnahmezwecks kommt es eher auf den Inhalt als auf die Form einer Maßnahme an („the substance rather than the form"). Aus dem gesamten Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden muss erkennbar sein, dass sie mit der Festnahme und Inhaftierung die Vorführung der Person vor die zuständige Stelle beabsichtigen. Die technischen Fragen, wie dies vonstatten gehen soll, sind dann nicht mehr entscheidend.61 Es ist eine bare Selbstverständlichkeit, dass das Bestehen des Festnahmezwecks unabhängig von seinem Eintritt beurteilt werden muss („be considered independently of its achievement"). Dass eine Person im unmittelbaren Anschluss an die Festnahme zunächst vernommen, nach Abschluss der Vernehmung aber weder beschuldigt („charged"), noch einem Gericht vorgeführt, sondern entlassen wird, bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Zweck der Festnahme nicht mit Art. 5 Abs. 1(c) in Einklang stand. Es ist vielmehr ausreichend, wenn - insbesondere angesichts der nach der Festnahme vorgenommenen Ermittlungsmaßnahmen - davon ausgegangen werden kann, dass bei einer Bestätigung eines bestehenden Verdachts im Laufe der Vernehmung eine Beschuldigung gegenüber der festgenommenen Person erhoben und diese vor die zuständige Gerichtsbehörde gebracht werden wird.62 Die Grenze ist jedoch dort erreicht, wo die Ermittlungen der Polizei missbräuchlich erfolgen („not in good faith") oder die Freiheitsentziehung nicht die Absicht verfolgt, die Untersuchungen dahingehend voranzubringen, dass der für die Festnahme ausschlaggebende Tatverdacht bestätigt oder widerlegt wird.63 Die vorgenannten Gesichtspunkte hat der Gerichtshof aus der Retrospektive entwickelt, weil er naturgemäß nur bereits vollzogene Festnahmen und Freiheitsentziehungen beurteilen kann. Auch aus der ex-ante-S\dai der Strafverfolgungsbehörden ist der von Art. 5 Abs. 1(c) geforderte Festnahmezweck aber so eindeutig formuliert, dass hier kaum Auslegungsschwierigkeiten auftreten dürften.
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E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 65-66, 68 („mechanics of how this is to be achieved will not be decisive"). E G M R , Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 53; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 67-68 (Vernehmung durch Militärangehörige); Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 51; K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, §§ 61-62 („be assumed that, had it been possible to confirm the suspicions, charges would have been laid and ... would have been brought before the competent legal authority", „there is nothing to suggest that the police inquiries were not conducted in good faith or t h a t . . . arrest and detention ... were effected for a purpose other than to complete the inquiries by checking the identity of the applicant and investigating the allegations made against him"). E G M R , Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 53.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Im Fall Murray hatte die Bf. das Fehlen des von Art. 5 Abs. 1(c) geforderten Festnahmezwecks gerügt. Die Kürze ihrer Vernehmung und die Eintragungen im Vernehmungsprotokoll sprachen ihrer Ansicht nach dafür, dass das Militär nur das Sammeln von nachrichtendienstlichem Material beabsichtigt hatte („general intelligence"). Der Gerichtshof ging jedoch davon aus, dass die Festnahme der Ermittlung von Tatsachen diente und die Bf. sowohl beschuldigt als auch vor die zuständige Gerichtsbehörde gebracht worden wäre, wenn sich der Verdacht bestätigt hätte. Angesichts ihrer beständigen Weigerung zur Beantwortung von Fragen hielt es der EGMR für nicht überraschend, dass die zuständigen Stellen keinerlei Fortschritte bei der Verfolgung der Verdächtigungen erzielt hatten. Die Bf. hatte außerdem behauptet, dass vom Militär festgenommene Personen - wenn sich der Verdacht während des Verhörs bestätigte zunächst der Polizei übergeben wurden, welche die notwendigen Schritte zur Vorführung ergriff. Der EGMR hielt dieses Vorgehen lediglich für eine besondere Form der Vorführung, auf die es für das Vorliegen des Festnahmezwecks nicht ankam. (2) Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) Art. 5 Abs. 1(c) enthält drei alternative Gründe, bei deren Vorliegen eine Freiheitsentziehung zum Zweck der Vorführung einer Person vor die zuständige Gerichtsbehörde erfolgen darf. Die Vertragsstaaten sind freilich nicht gehindert, im nationalen Recht zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen für eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c) vorzusehen. 64 Einen eigenen Haftgrund der Verdunklungsgefahr kennt die E M R K dagegen nicht. Allerdings berücksichtigt der E G M R Umstände, die nach deutschem Recht für die Annahme einer Verdunklungsgefahr sprechen (§ 112 II Nr. 3 StPO), bei der Frage, ob die Dauer einer Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c) den Grad der Angemessenheit iSv Art. 5 Abs. 3 überschreitet. (a) Hinreichender Verdacht für die Begehung einer Straftat Eine Person darf zum Zwecke ihrer Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde festgenommen und inhaftiert werden, wenn der hinreichende Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen hat („reasonable suspicion of having committed an offence"/„raisons plausibles de soupgonner qu'il a commis une infraction"). (aa) Straftat („ofTence") Voraussetzung für eine Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) ist, dass es sich bei dem Verhalten, dessen eine Person verdächtigt wird, um eine Straftat handelt. Das Vorliegen einer Straftat kann im Einzelfall durchaus schwierig zu beurteilen sein. Ursprünglich hat der Gerichtshof den Begriff der Straftat im Lichte der nationalen Rechtsordnung ausgelegt. Diese erstmals in der Entscheidung De Wilde, Ooms und Versyp vertretene formelle Betrachtungsweise hatte zur Folge, dass Strafverfolgungsbehörden eine Freiheitsentziehung nur dann auf Art. 5 Abs. 1(c) stützen konnten, wenn 64
So durfte bei dem im Urteil De Jong, Baijet u. van den Brink vom EGMR überprüften niederländischen Militärstrafverfahren die Verhaftung und Inhaftierung bestimmter Soldaten nur erfolgen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Disziplin bei den übrigen Angehörigen der Streitkräfte notwendig war. Hierin sah der EGMR ein mit Art. 5 Abs. 1(c) vereinbares zusätzliches Tatbestandsmerkmal (EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie Α Nr. 77, §§ 15, 16, 44).
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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das nationale Recht das Verhalten der inhaftierten Person als Straftat klassifizierte. Ein Verhalten wäre also selbst dann nicht als Straftat einzustufen, wenn es im nationalen Recht eine Festnahme zur Folge haben oder mit einer Sanktion geahndet werden kann, die in ein Strafregister eingetragen wird.65 Diesen formellen Ansatz hat der EGMR noch in der Entscheidung Lukanov angewandt, dabei jedoch das Vorliegen einer Straftat unter dem Punkt angesprochen, ob die Inhaftierung des Beschuldigten rechtmäßig und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgt war. Die Orientierung am nationalen Recht zwang den Gerichtshof, einzelne Merkmale der nationalen Tatbestände zum Teil sehr genau zu prüfen. 66 Im Urteil Steel, in dem es um die Frage ging, ob ein Verhalten, welches im englischen Recht als breach of the peace gilt, eine Straftat darstellt, vollzog der Gerichtshof dann die Wende zu einer materiellen Betrachtungsweise. Das ist zu begrüßen, weil dieser Ansatz die innere Konsistenz der Konvention stärkt und Differenzen bei der Auslegung von Art. 5 Abs. 1 (c) und Art. 6 Abs. 1 vermeidet. Wie beim Begriff der strafrechtlichen Anklage iSv Art. 6 Abs. 1 hat sich der EGMR für eine autonome Auslegung der Straftat entschieden, dies aber in den Urteilen Steel u.a. und Hood noch nicht ausdrücklich festgestellt, obwohl schon dort die Parallelen zum Prüfungsansatz des Art. 6 ganz offensichtlich sind. Auch bei der Straftat iSv Art. 5 Abs. 1(c) kommt es vor allem auf die Art des Vergehens und die drohende Strafe an.67 Es ist zu erwarten, dass der EGMR auch für das Vorliegen einer Straftat deutlicher auf die Kriterien zurückgreifen wird, die für das Vorliegen einer strafbaren Handlung sprechen. Bedauerlich ist aber, dass offensichtlich wieder die Art des Verfahrens („proceedings") - was im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 erst das Ergebnis der Prüfung sein kann - und nicht die Art des Vergehens („offence") ausschlaggebend sein soll. Für eine Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(c) reicht es nicht aus, dass - nach den vorgenannten Kriterien - überhaupt eine Straftat vorliegt. Ein etwaiges Fehlverhalten muss im nationalen Recht so hinreichend konkretisiert und bestimmt sein, dass der Bürger erkennen kann, dass es sich bei seinem Verhalten um eine Straftat handelt. Interessanterweise hat der Gerichtshof im Fall Steel die Bestimmtheit der Straftat unter dem Aspekt der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung geprüft. Unnötigerweise hat er dabei diese Prüfung mit der Frage nach dem Vorliegen eines hinreichenden Verdachtes vermengt. Besser wäre es gewesen, wenn er - unter Berufung auf seine Rechtsprechung zu Art. 7 Abs. 1 - das Bestimmtheitserfordernis als zusätzlichen Gesichtspunkt für das Vorliegen einer Straftat angeführt hätte. Der Verdachtsgrad für das Vorliegen einer Straftat hat nämlich streng genommen nichts mit ihrer hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit zu tun, da der Verdachtsgrad von den zum Zeitpunkt der Haftentscheidung vorliegenden 65 66
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EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, §§ 34-36, 71. EGMR, Lukanov ./. Bulgarien, Reports 1997-II, 8-13, 41; auf den formellen Ansatz deutet die Formulierung „ The Court is not persuaded that the conduct... constituted a criminal offence under Bulgarian law" hin. EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 48, 54 („nature of the proceedings in question", „penalty at stake"); Hood./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, § 51 („nature of the relevant charges", „penalty imposed"); vgl. zur Diskussion um den Begriff der „offence"·. Frowein! Peukert Art. 5 Rn. 72.
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Tatsachen abhängt. Die Bf. hatten im konkreten Fall jedoch nicht die Tatsachen, die für ihre Inhaftierung angeführt worden waren, sondern die mangelnde Bestimmtheit des Rechtsinstituts breach of the peace und die entsprechenden Festnahmegründe im englischen Recht gerügt.68 Zu beachten ist auch, dass die autonome Auslegung der Straftat so sinnvoll sie für die Effektivität der Konvention auch sein mag - für die betreffende Person rechtsschutzverkürzend ist, weil sie den Anwendungsbereich der in Art. 5 Abs. 1(c) niedergelegten Haftgründe erweitert, indem sie eine Freiheitsentziehung auch dann erlaubt, wenn das Verhalten nach nationalem Recht gerade keine Straftat darstellt. Anders als die Vorschrift des Art. 6 Abs. 1, die Garantien für den Beschuldigten enthält, ist Art. 5 Abs. 1 als Eingriffsbestimmung formuliert. Eine erweiternde Auslegung hat daher zwangsläufig eine Ausweitung der von der Vorschrift gestatteten Befugnisse zur Folge. An sich erscheint es daher nicht ausgeschlossen, dass auch eine Inhaftierung wegen einer Ordnungswidrigkeit auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützt werden kann. Hier rächt sich, dass Art. 5 kein Übermaßverbot vorsieht und die Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung weitgehend in die Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer verlagert wird. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Entscheidung Steel unter dem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung Maßstäbe für die Präzisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Straftat und der Bedingungen gesetzt hat, unter denen im Falle ihrer Begehung eine Inhaftierung erfolgen kann. So wird man also festhalten können, dass in Anbetracht der Bedeutung der persönlichen Freiheit die Festnahme und Inhaftierung einer Person nur dann rechtmäßig ist, wenn das nationale Recht - ob geschrieben oder ungeschrieben - so hinreichend präzise formuliert ist, dass der Bürger - notfalls nach angemessener Beratung - mit einem unter Berücksichtigung der Umstände angemessenen Grad die mit einem bestimmten Verhalten verbundenen Folgen vorhersehen kann („all law, whether written or unwritten, be sufficiently precise to allow the citizen - if need be, with appropriate advice - to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail"). Der Gerichtshof setzt hier seine auf dem Gebiet des Art. 8 entwickelten Grundsätze fort. Auch bei der Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(c) aus Anlass oder wegen der drohenden Begehung einer Straftat kann daher eine gefestigte nationale Rechtsprechung zu einer von der Konvention geforderten Bestimmtheit einer ansonsten eher unbestimmten Straftat beitragen. Kurzum, eine Festnahme oder Freiheitsentziehung ist nur dann rechtmäßig, wenn das Fehlverhalten der inhaftierten Person - autonom betrachtet - eine Straftat darstellt, deren tatbestandliche Voraussetzungen und die im Falle ihrer Begehung drohenden Folgen - d.h. im Klartext, die Voraussetzungen, unter denen die Freiheit entzogen werden kann - in der nationalen Rechtsordnung hinreichend bestimmt sind. Genügt die nationale Rechtslage diesen Voraussetzungen, obliegt die Prüfung, ob eine Festnahme und Inhaftierung in Übereinstimmung mit den nationalen Gesetzen erfolgt ist („whether the arrest and detention of each applicant was carried out in accordance with ... law"), in erster Linie den nationalen Gerichten, wobei sich der
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EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 48, 54.
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Gerichtshof auch hier eine gewisse Kontrolle vorbehält („a certain power of review"). Kommt es nach der Festnahme jedoch nicht zu einer Entscheidung durch ein nationales Gericht, muss der Gerichtshof die Voraussetzungen des nationalen Rechts selbst prüfen.69 Im englischen Recht wird ein breach of the peace nicht als strafbare H a n d l u n g angesehen. F ü r seine Klassifizierung als Straftat war nach Ansicht des E G M R aber nicht die nationale Rechtslage, sondern die A r t des Verfahrens („nature of the proceedings"), die der Polizei zustehenden Festnahmebefugnisse sowie die drohenden Sanktionen („the penalty at stake") maßgebend, bei letzteren vor allem die Verhängung einer binding order u n d die im Falle einer Weigerung drohende Freiheitsentziehung. Der Gerichtshof hielt die Inhaftierung von zwei Bf. f ü r rechtmäßig, weil das Institut des breach of the peace über zwei J a h r h u n d e r t e von den englischen Gerichten inhaltlich geklärt u n d ausreichend präzise bestimmt gewesen sei.
Unter einer Straftat versteht der EGMR nicht nur ganz konkrete Handlungen. Eine Festnahme und die anschließende Freiheitsentziehung können auch dann auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützt werden, wenn das nationale Recht für das Vorliegen einer zur Festnahme berechtigenden Straftat den Verdacht für ein allgemein umschriebenes Verhalten oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe genügen lässt. Im Fall Brogan waren die vier festgenommenen Bf. verdächtigt worden, mit der Begehung, Vorbereitung oder Anstiftung zu terroristischen Handlungen in Verbindung zu stehen („person w h o is or has been concerned in the commission, preparation or instigation of acts of terrorism"). Den Begriff „acts of terrorism" beschrieb das Gesetz als „ the use of violence for political ends, and ... any use of violence for the purpose of putting the public or any section of the public in fear". D e r E G M R sah diese Umschreibung als ausreichend f ü r das Vorliegen einer Straftat an. Ergänzend wies er d a r a u f hin, dass alle vier Bf. im Verdacht standen, konkrete Straftaten begangen zu haben u n d wenige Stunden nach ihrer Festnahme zu ihrer Beteiligung a n diesen Taten u n d zu ihrer Mitgliedschaft in verbotenen Organisationen vernommen worden waren. 7 0
(bb) Hinreichender Verdacht („reasonable suspicion") Der von Art. 5 Abs. 1(c) geforderte hinreichende Grad des Verdachts („reasonableness of the suspicion"), auf den eine Festnahme und Freiheitsentziehung gestützt werden kann, bildet sicherlich den wichtigsten Bestandteil des von Art. 5 Abs. 1 ausgehenden Schutzes gegen willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen. Ein hinreichender Verdacht setzt das Vorhandensein von Tatsachen oder Informationen voraus, die einen objektiven Betrachter davon überzeugen, dass die betreffende Person die Straftat begangen haben
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EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 54-57. Der Gerichtshof musste das Vorliegen bzw. die drohende Begehung eines breach of the peace durch die Bf. Needham, Polden und Cole zum Zeitpunkt ihrer Festnahme selbst prüfen. Vgl. für Art. 8: EGMR, Haiford ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-III, §49. EGMR, Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 12,15, 18,21, 30-31, 50-51; vgl. auch: EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 196.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
könnte.71 Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, wie konkret die vorhandenen Tatsachen sein müssen, damit von einem hinreichenden Verdacht iSv Art. 5 Abs. 1(c) gesprochen werden kann („level of factual justification required"). Der von Art. 5 Abs. 1(c) geforderte Verdacht setzt jedenfalls nicht voraus, dass die Ermittlungsbehörden zum Zeitpunkt der Festnahme oder während der Inhaftierung der festgenommenen Person bereits ausreichend Beweise gesammelt haben, um eine Anklage zu erheben („sufficient evidence to bring charges").72 Dies würde auch den in einem Ermittlungsverfahren verfolgten Zielen klar widersprechen. Wie der EGMR selbst hervorhebt, sind derartige Beweise zum Zeitpunkt der Festnahme möglicherweise nicht zu erlangen oder können angesichts der Art der betroffenen Straftaten nicht dargelegt werden, ohne dass damit zugleich das Leben anderer Personen gefährdet wäre. Freiheitsentziehungen nach Art. 5 Abs. 1(c) verfolgen gerade das Ziel, die strafrechtlichen Ermittlungen voranzutreiben und den konkreten Verdacht, welcher Grund für die Festnahme war, entweder zu bestätigen oder zu entkräften („to further the criminal investigation by way of confirming or dispelling the concrete suspicion grounding the arrest"). Daher müssen die Tatsachen, aus denen sich ein Verdacht ergibt, nicht auf demselben Niveau liegen wie diejenigen, die für die spätere Verurteilung oder die Anklageerhebung erforderlich sind („need not be of the same level").73 Die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Erdagöz sprechen dafür, dass die freiheitsentziehende Maßnahme neben der Vorführung der Person vor die zuständige Gerichtsbehörde auch den Zweck verfolgen muss, den bestehenden Tatverdacht zu erhärten oder auszuräumen. Der Bf. hatte behauptet, seine Festnahme und Polizeihaft habe nicht auf einem gegen ihn bestehenden Tatverdacht beruht, sondern sei eine Reaktion auf die von ihm gegen einzelne Beamte in anderem Zusammenhang erhobenen Vorwürfe gewesen. Der Gerichtshof war jedoch der Auffassung, dass gegen den Bf. ein hinreichender Verdacht bestanden hatte, der sich auf besondere Tatsachen gründete („based on specific facts"). Interessant ist dann jedoch die Feststellung, dass diese Tatsachen belegten, dass die Freiheitsentziehung den Zweck hatte, den bestehenden Verdacht zu erhärten oder zu widerlegen („these showed that the purpose of the deprivation of liberty was to confirm or dispel the suspicion that the applicant had falsely reported a criminal offence and fabricated evidence") bzw. dass der Bf. inhaftiert worden sei, so dass die ihn betreffende
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EGMR, Fox, Campbell u. Hartley./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, § 32; Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 51; K.-F../. Deutschland, Reports 1997-VII, § 57 („existence of facts or information which would satisfy an objective observer that the person concerned may have committed the offence"). EGMR, Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 53; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 55; Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 51; K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, §61. Hier zeigen sich wieder Probleme, die der englische Begriff „charge" aufwirft. Weil die Festnahme einer Person jedoch regelmäßig als Beginn der „criminal charge" iSv Art. 6 Abs. 1 anzusehen ist, muss der Begriff hier eher im Sinne der Erhebung eines konkreten Tatvorwurfs oder als Erhebung der Anklage verstanden werden. EGMR, Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 145-B, § 53; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, § 55; Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 51; K.-F. ./. Deutschland, Reports 1997-VII, § 57.
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Untersuchung habe beendet werden können („detained ... so that the inquiry concerning him could be completed"). Bemerkenswert ist auch, dass der Bf. für die Dauer von 24 Stunden inhaftiert worden war, weil gegen ihn der Verdacht bestand, er habe wider besseres Wissen eine strafbare Handlung angezeigt und Beweise gefälscht. Dies verdeutlicht einmal mehr das Problem, dass Art. 5 Abs. 1(c) keinen strengen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kennt.
Ganz allgemeiner Art dürfen die verdachtsbegründenden Tatsachen jedenfalls nicht sein. Der E G M R spricht im Urteil Erdagöz eindeutig von „specific facts", in der Entscheidung Murray vom Vorliegen „sufficient facts or information which would provide a plausible and objective basis for a suspicion". Die mögliche Dauer der drohenden Freiheitsentziehung ist ebenfalls ein Umstand, der sich auf den erforderlichen Verdachtsgrad auswirkt („length of the deprivation of liberty at risk"). Da der E G M R sowohl in der Entscheidung Erdagöz als auch im Fall K.-F. für das Vorliegen verdachtsbegründender Tatsachen auf den Inhalt der Polizeiberichte abgestellt hat, ist den Strafverfolgungsbehörden zu raten, die den Tatverdacht begründenden Umstände in den Akten zu vermerken. Das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts hängt immer auch von den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalls ab.74 Wie der Fall Scott verdeutlicht, können der Fluchtversuch einer Person bei der Festnahme oder Eintragungen im Strafregister für das Vorliegen eines Tatverdachts berücksichtigt werden. 75 Einschlägige Vorstrafen können sogar nach Ablauf einer gewissen Zeit einen bestehenden Verdacht erhärten („reinforce a suspicion"), nicht jedoch für sich allein einen hinreichenden Verdacht begründen („cannot form the sole basis of a suspicion ..."). Dagegen besagt die Befragung einer festgenommenen Person zu der speziellen, ihr zur Last gelegten Straftat als solche nicht mehr, als dass die Strafverfolgungsbehörden einen ernsthaften Tatverdacht („genuine suspicion") gegen diese Person haben. Sie kann einen objektiven Betrachter aber nicht davon überzeugen, dass die festgenommene Person die ihr zur Last gelegte Tat tatsächlich begangen haben könnte. 76 Im Urteil Fox, Campbell und Hartley hatte sich der Gerichtshof mit einem subjektiven Ansatz bei der Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts auseinanderzusetzen.
Dort waren die Bf. im Jahre 1986 nach § 11 I des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1978 festgenommen worden, dessen Wortlaut („any constable may arrest... any person whom he suspects of being a terrorist") vom House of Lords dahingehend interpretiert wurde, dass die Rechtmäßigkeit der Festnahme von der Einstellung („State of mind") des festnehmenden Beamten abhing. Eine Festnahme war nur rechtmäßig, wenn der Beamte subjektiv („subjective test") die von ihm festgenommene Person für einen Terroristen hielt („suspected the person ... to be a terrorist"). Der Verdacht musste nicht „hinreichend" sein. Ausreichend war, dass er redlich angenommen wurde
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EGMR, Murray./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 56-57,60-61,63; Erdagöz./. Türkei, Reports 1997-VI, §§47, 51-53; K.-F../. Deutschland, Reports 1997-VII, §§ 57-59. EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 35,65; die Entscheidung ist auch wegen des zumindest zeitweise parallel geführten Auslieferungsverfahrens im Zusammenhang mit einer Straftat von Interesse. EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 182, §§ 31, 33, 35.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR („honestly held"), worauf sich auch die Prüfung der Gerichte beschränkte. Die britische Regierung gab an, dass sie nicht in der Lage sei, das höchst sensible Material zu offenbaren, auf dem der gegen die Bf. bestehende Tatverdacht beruhte, weil so die Informationsquelle aufgedeckt sowie das Leben und die Sicherheit anderer Personen in Gefahr gebracht würden. Zwei der Bf. waren sieben Jahre zuvor bereits wegen Terrorismusdelikten verurteilt worden. Aufgrund der bis zur erneuten Festnahme vergangenen Zeit konnten diese Vorstrafen allenfalls einen Verdacht bestärken, nicht jedoch die alleinige Basis für ihre erneute Festnahme liefern.
Der Verdacht, von dem Art. 5 Abs. 1(c) spricht, muss objektiv hinreichend und nicht etwa redlich oder gutgläubig sein („genuine and bona fide suspicion"). Er muss den in Art. 5 Abs. 1(c) niedergelegten objektiven Standard („objective standard") im konkreten Fall auch dann erfüllen, wenn er in der innerstaatlichen Rechtsordnung von der subjektiven Einstellung der die Festnahme und Inhaftierung vollziehenden Beamten abhängig ist. Die subjektive Einschätzung der staatlichen Stellen ist allerdings nicht völlig ohne Belang. Wie der Gerichtshof zu Recht betont, stellen die Ehrlichkeit und Gutgläubigkeit unentbehrliche Elemente für die Annahme eines hinreichenden Verdachts dar („one indispensable element of its reasonableness").77 Die Kriterien für die Annahme eines hinreichenden Verdachts hat der Gerichtshof im wesentlichen in der Entscheidung Murray herausgearbeitet. Dort war die Bf. verdächtigt worden, in die Sammlung von Geldern für IRA-Waffenkäufe verstrickt gewesen zu sein, was eine Straftat nach dem Emergency Provisions Act 1978 darstellte. Die Festnahme der Bf. erfolgte gemäß § 14 dieses Gesetzes, der zum maßgeblichen Zeitpunkt folgenden Inhalt hatte: „(1) A member of Her Majesty's forces on duty may arrest without warrant, and detain for not more than four hours, a person whom he suspects of committing, having committed or being about to commit any offence. ..." Nach Ansicht der nationalen Gerichte erlaubte die Vorschrift dem Militär Festnahmen von Personen, die der Begehung einer strafbaren Handlung verdächtigt wurden, wenn der entsprechende Verdacht von dem festnehmenden Offizier redlich und ernsthaft angenommen wurde („honestly and genuinely held"). Diesen subjektiven Standard hielt der EGMR zwar für relevant, nicht aber für ausschlaggebend. Für eine Festnahme und Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(c) musste auch in diesem Fall der objektive Standard des hinreichenden Verdachts erfüllt sein. Unter Berücksichtigung der für die Annahme eines Tatverdachts erforderlichen Tatsachengrundlage und der erforderlichen besonderen Dringlichkeit bei der Aufklärung terroristischer Straftaten war der EGMR - trotz des nach innerstaatlichem Recht erforderlichen geringeren Verdachtsgrades - der Ansicht, dass ausreichende Tatsachen oder Informationen vorgelegen hatten, die eine plausible und objektive Basis für einen gegen die Bf. bestehenden Tatverdacht geboten hatten. Für die Beurteilung des Tatverdachts berücksichtigte er ausdrücklich die Aussagen der von den nationalen Gerichten angehörten Zeugen und die Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit, obwohl die nationalen Gerichte lediglich das Vorliegen eines geringeren Verdachts-
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EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §§ 31-32; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 50, 61.
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grades - die Redlichkeit des Verdachts („genuineness of the suspicion") - geprüft hatten.78 Ein hinreichender Verdacht muss nicht nur zu Beginn der freiheitsentziehenden Maßnahme bestehen. Seine Fortdauer ist eine conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung. Allerdings berührt die Frage, ob das bloße Fortbestehen eines Verdachtes ausreicht, um die Verlängerung einer rechtmäßig angeordneten Untersuchungshaft zu rechtfertigen, nicht Art. 5 Abs. 1(c), sondern die anhand von Art. 5 Abs. 3 zu prüfende angemessene Dauer der Untersuchungshaft. 79 Bei der Beurteilung, ob zum Zeitpunkt der Festnahme und Inhaftierung ein hinreichender Tatverdacht vorlag, nimmt der EGMR naturgemäß eine ex-post Betrachtung vor. Dementsprechend kann die Verurteilung des Beschuldigten den Verdacht, der zu seiner Festnahme geführt hat, nachträglich als begründet erscheinen lassen („well-founded"). 80 Der Schluss von der Verurteilung auf den Tatverdacht ist jedoch keinesfalls zwingend. Im Verfahren vor dem Gerichtshof muss die Regierung des verklagten Vertragsstaats zumindest einige Tatsachen oder Informationen vortragen, die es dem Gerichtshof ermöglichen, sich davon zu überzeugen, dass die festgenommene Person hinreichend verdächtigt worden ist, die ihr zur Last gelegte Straftat begangen zu haben („furnish at least some facts or information"). Um einer Verurteilung in Straßburg vorzubeugen, tun die Vertragsstaaten gut daran, ihre Gerichte und Strafverfolgungsbehörden zu einer umfassenden Dokumentation von Festnahme und Inhaftierung anzuhalten. Der Gerichtshof muss sich davon überzeugen können, dass zum Zeitpunkt der Festnahme ausreichende Tatsachen oder Informationen vorlagen, die eine plausible und objektive Grundlage für den Verdacht einer strafbaren Handlung boten („exist sufficient facts or information which would provide a plausible and objective basis for a suspicion"). Haben sich bereits die nationalen Gerichte mit den Tatsachen und Behauptungen zum Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts beschäftigt, so macht sich der EGMR die Feststellungen der nationalen Gerichte zu eigen. Das gilt auch, wenn die nationalen Gerichte nicht den von Art. 5 Abs. 1(c) geforderten Verdachtsgrad, sondern einen anderen, in der innerstaatlichen Rechtsordnung normierten Verdachtsgrad geprüft haben und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sämtliche oder einige der von ihnen erhobenen Beweise auch für den Verdachtsgrad des Art. 5 Abs. 1(c) maßgeblich sind („notwithstanding the lower standard of suspicion under domestic law").81
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EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 9-15, 16-27, 28-30, 31-38, 50, 59-63. Außerdem stellte der Gerichtshof darauf ab, dass wenige Wochen vor der Festnahme zwei Brüder der Bf. in den USA wegen Straftaten verurteilt worden waren, die im Zusammenhang mit WafFenkäufen für die IRA standen und eine Zusammenarbeit mit „vertrauenswürdigen" Personen in Nordirland erforderten, und die Bf. selbst die USA besucht und dort mit ihren Brüdern Kontakt gehabt hatte. EGMR, Stögmüller./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 4; De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 44. EGMR, Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 53; siehe auch: EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, § 67. EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, § 34; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, §§ 60-61, 63.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Bilden terroristische Straftaten den Gegenstand eines Strafverfahrens, so bestehen für die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts gewisse Besonderheiten. Neben dem Vorliegen einer ausreichenden Tatsachengrundlage kann für seine Annahme namentlich auch die besondere Dringlichkeit bei der Aufklärung terroristischer Verbrechen eine Rolle spielen („special exigencies of investigating terrorist crime")·82 Der EGMR hat ausdrücklich hervorgehoben, dass der Einsatz von vertraulichen Informationen („use of confidential information") notwendig sein kann, um terroristische Gewalt und die Bedrohung, die vom organisierten Terrorismus ausgeht, zu bekämpfen. Das bedeutet aber nicht, dass die Strafverfolgungsbehörden bei möglicherweise terroristisch motivierten Straftaten bei der Festnahme von Personen wegen des Verdachts terroristischer Straftaten völlig freie Hand („carte blanche") haben. Auch hier verlangt der Gerichtshof eine effektive Kontrolle durch die nationalen Gerichte.83 Einschränkungen lässt er jedoch beim Umfang der verdachtsbegründenden Tatsachen zu, da in Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Untersuchung und Verfolgung von Terrorismusdelikten der die Festnahme einer Person rechtfertigende Verdachtsgrad nicht nach denselben Maßstäben beurteilt werden kann, welche im Rahmen gewöhnlicher Kriminalität („conventional crime") gelten. Er weist hier vor allem auf die mit dem Terrorismus verbundenen Gefahren für Leib und Leben, die gebotene Schnelligkeit bei der Informationsgewinnung, die Bedeutung geheimer Quellen und den Umstand hin, dass die Polizei einen tatverdächtigen Terroristen aufgrund von Informationen festnehmen muss, die dem Verdächtigen gegenüber nicht bekanntgegeben oder nicht zur Unterstützung eines Tatvorwurfs vor Gericht eingebracht werden können, ohne dass die Informationsquelle gefährdet wäre. Um unverhältnismäßige Schwierigkeiten („disproportionate difficulties") bei der Bekämpfung des organisierten Terrorismus („organised terrorism") zu vermeiden, sind die Strafverfolgungsbehörden nicht gezwungen, den Verdacht, welcher die Festnahme eines verdächtigen Terroristen begründen soll, durch die Offenbarung vertraulicher Quellen über diesen Verdacht stützende Informationen oder Tatsachen darzulegen, wenn dies eine Aufdeckung derartiger Quellen oder ihrer Identität mit sich brächte. Ein absolutes, wenngleich abstraktes Minimum an verdachtsbegründenden Umständen fordert der Gerichtshof aber auch bei der Bekämpfung von Terrorismusdelikten, da seiner Ansicht nach der Kernbereich des von Art. 5 Abs. 1(c) gewährten Schutzes auch in diesem Fall nicht beeinträchtigt werden darf („essence of the safeguard"). Insbesondere ist die Geheimhaltung von Informationsquellen, die Aufschluss über den Grund der Festnahme geben können, nicht zeitlich unbegrenzt statthaft. Spätestens im Verfahren vor dem Gerichtshof müssen wenigstens einige Tatsachen oder Informationen vorgelegt werden, die auf das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts zum Zeitpunkt der Festnahme hindeuten.84 Zu beachten ist, dass der EGMR diese Grundsätze in Urteilen entwickelt hat, die sich mit der Terrorwelle in Nordirland in den 70er und 80er Jahren be82 83
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EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 63. EGMR, Murray./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, § 58 („free from effective control by the domestic courts or by the Convention supervisory institutions"). EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §§ 32, 34.
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fassten. Vor dem Hintergrund der besonderen Situation in Nordirland dürfte ihre Übertragung auf andere Strafverfahren mit terroristischem Einschlag allenfalls dann in Frage kommen, wenn die dem Verfahren zugrunde liegenden Straftaten hinsichtlich ihrer Bedeutung und Auswirkung auf die Gesellschaft einen vergleichbaren Grad von Erheblichkeit erreichen. Obwohl der Gerichtshof den Begriff „organised terrorism" verwendet, andererseits aber zwischen „terrorist crime" und „conventional crime" polarisiert, dürfte sie allenfalls für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität relevant sein. Für eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c) reicht es nicht aus, dass überhaupt strafrechtliche Ermittlungen gegen die betreffende Person geführt werden. Aus dem Wortlaut der Vorschrift, die in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1(a) und Art. 5 Abs. 3 gelesen werden muss, ergibt sich, dass sie nur Freiheitsentziehungen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen erlaubt („in connection/in the context with criminal proceedings"). Ein objektiv vorhandener hinreichender Verdacht für das Vorliegen einer Straftat reicht deshalb für eine Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(c) nicht aus. Die Behörden müssen die Inhaftierung außerdem strafprozessual mit dem Vorliegen dieses Verdachtes rechtfertigen. Ist die national zulässige Höchstdauer einer wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat angeordneten Untersuchungshaft erreicht und ordnen die nationalen Gerichte außerhalb des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens im unmittelbaren Anschluss an diese Haft eine weitere freiheitsentziehende Maßnahme an, so ist diese Maßnahme - selbst wenn gegen den Beschuldigten wegen des nach wie vor bestehenden Tatverdachtes weiter ermittelt wird - nicht vom Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) gedeckt, weil eine Untersuchungshaft nicht mehr rechtmäßig wäre. Die Unterbringung des Beschuldigten aus präventiven Gründen, die in keinem direkten Zusammenhang mit den gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungen steht, kann demnach nicht auf die erste Alternative des Art. 5 Abs. 1(c) gestützt werden.85 Der zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte Bf. Ciulla befand sich zum Zeitpunkt des Urteils auf freiem Fuß. Bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens hatte die Staatsanwaltschaft die Anordnung einer präventiven speziellen Überwachung („sorveglianza speciale") und die Verhängung eines auf bestimmte Orte bezogenen Aufenthaltsverbotes gefordert. Nach der Verurteilung ordnete ein Gericht am 8.5.1984 auf Antrag der StA die vorläufige Unterbringung des Bf. an. Am 24. 5. erging eine gerichtliche Anordnung, nach der sich der Bf. für die Dauer von fünf Jahren nur in einem eng umgrenzten Bereich aufhalten durfte. Diese Maßnahmen beruhten auf einem Gesetz aus dem Jahre 1956, welches die Anordnung verschiedener Präventionsmaßnahmen gegenüber Personen erlaubte, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellten. Gegen den Bf. liefen bei Anordnung der vorläufigen Unterbringung noch Ermittlungen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer mafiosen Vereinigung. Das Gericht hatte in der Anordnung die mutmaßliche Verbindung des Bf. zur
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EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 102; Ciulla./. Italien, Serie A Nr. 148, §§ 38-40: das Verfahren vor dem EGMR betraf lediglich die Unterbringung des Bf. in der Zeit zwischen dem 8.5. und 24.5.; vgl. zu den „Präventivmaßnahmen": EGMR, Guzzardi ./. Italien, §§ 44-52. Durch eine Gesetzesreform im Jahre 1988 wurde die Möglichkeit einer vorläufigen Unterbringung vor Erlass der endgültigen Aufenthaltsanordnung beseitigt.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Mafia und die Beteiligung am internationalen Drogenhandel erwähnt, die Überwachungsmaßnahme jedoch allein mit der bereits verhängten Freiheitsstrafe und der vom Bf. aufgrund seiner mafiosen Beziehungen ausgehenden Gefahr für die Gesellschaft begründet. Die im italienischen Recht vorgesehenen präventiven Maßnahmen waren nach Ansicht des EGMR nicht für strafverfahrensrechtliche Zwecke geschaffen worden, weil die Verhängung der Aufenthaltsanordnung eher auf einen Verdacht als auf einen Beweis gestützt werden konnte und die vorläufige Unterbringung bis zur Verhängung der Präventivmaßnahme nicht im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen stand, sondern nur erfolgt sei, um zu verhindern, dass sich der zu diesem Zeitpunkt in Freiheit befindliche Bf. der beantragten Aufenthaltsanordnung entziehen konnte. (b) Gefahr der Begehung einer Straftat Art. 5 Abs. 1(c) erlaubt eine Festnahme und Freiheitsentziehung auch dann, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, die betreffende Person an der Begehung einer Straftat zu hindern („it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence"/„qu'il y a des motifs raisonables de croire ä la necessite de l'empecher de commettre une infraction"). Der zweite Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) will der Gefahr einer wiederholten oder erneuten Begehung von Straftaten entgegenwirken. Er hat allerdings in der Straßburger Rechtsprechung bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Der E G M R spricht eine Wiederholungsgefahr häufiger im Rahmen der nach Art. 5 Abs. 3 Satz 2 zu prüfenden Angemessenheit der Haftdauer an. Die geringe praktische Bedeutung dieses Haftgrundes mag auch daran liegen, dass im nationalen Recht für die Inhaftierung einer Person wegen einer Begehungs- bzw. Wiederholungsgefahr häufig noch ein - mindestens - hinreichender Verdacht für eine bereits begangene Straftat vorliegen muss. Ein solcher hinreichender Tatverdacht reicht aber bereits für eine Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) 1. Alt. aus. Freiheitsentziehende M a ß n a h m e n dürfen nur dann auf den Haftgrund der Begehungsgefahr gestützt werden, wenn sie im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen („made in the context of criminal proceedings") und zur Verhinderung konkreter und spezieller strafbarer Handlungen („concrete and specific offences") erfolgen. 86 Für eine allgemein generalpräventive und vorbeugende Unterbringung einer wegen ihrer kriminellen Neigung als gefahrlich einzustufenden Person darf dieser Haftgrund nicht herangezogen werden. Ebenso wenig reicht es aus, dass gegen die betreffende Person bereits eine Freiheitsstrafe verhängt, aber noch nicht vollstreckt ist, auch wenn sie aufgrund ihrer Beziehungen zur Mafia bzw. ihrer Verbindung mit dem internationalen Drogenhandel eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. 87 Hinsichtlich des von der Konvention geforderten begründeten Anlasses zu der Annahme ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass hinreichende Gründe dafür vorliegen, dass die betreffende Person eine strafbare Handlung begehen wird („substantial grounds"). Dabei müssen die für und gegen
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EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, § 102; siehe auch: EGMR, Eriksen./. Norwegen, Reports 1997-III, § 86. EGMR, Ciulla ./. Italien, Serie Α Nr. 148, § 40.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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die Annahme einer Erstbegehungs- oder Wiederholungsgefahr sprechenden Umstände und Tatsachen im Wege einer Gesamtwürdigung gegenübergestellt werden. Vernünftigerweise dürfen die schweren Folgen einer drohenden Straftat bei der Entscheidung, ob eine Person trotz der möglicherweise bestehenden Gefahr einer Wiederholung dieser Straftaten von der Untersuchungshaft verschont bleiben kann, mitberücksichtigt werden. Geht es um die Verhinderung weiterer Straftaten, so sind außerdem das Ausmaß des Vermögensschadens bei den Opfern, die anhaltende Vornahme strafbarer Aktivitäten durch den Beschuldigten sowie seine Gesinnung zu berücksichtigen.88 Die Justizbehörden müssen genau prüfen, ob tatsächliche Umstände ernsthaft die Gefahr der Begehung einer oder weiterer Straftaten befürchten lassen. Auf Aussagen Mitbeschuldigter dürfen sie nicht ohne weiteres vertrauen. Sie müssen selbst prüfen, ob Tatsachen für die Annahme einer solchen Gefahr vorliegen. Gegen eine Wiederholungsgefahr kann es vor allem sprechen, dass die betreffende Person seit der Begehung der ihr zur Last gelegten Taten keine weiteren strafbaren Handlungen mehr begangen hat.89 Hat der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Taten unter Ausnutzung seiner beruflichen Stellung begangen, so spricht die Tatsache, dass er mittlerweile einen anderen Beruf ergriffen hat, regelmäßig gegen eine Wiederholungsgefahr.90 Auch die Veränderung rechtlicher Umstände kann eine wichtige Rolle spielen. So wird man beispielsweise nicht von der drohenden Begehung von Vermögensstraftaten ausgehen können, wenn der Beschuldigte - etwa wegen der Eröffnung eines Konkurs- oder Insolvenzverfahrens zwischenzeitlich die rechtliche Verfügungsgewalt über sein Vermögen verloren hat oder ihm das anwaltliche Mandat entzogen worden ist, mit dessen Hilfe er die ihm zur Last gelegten Straftaten begehen konnte. Bei Vermögensdelikten, insbesondere bei betrügerischen Handlungen, kann auch der Umstand, dass das dem Beschuldigten zur Last gelegte Verhalten in der Presse und Öffentlichkeit bereits bekannt ist, die Schädigung weiterer Personen unwahrscheinlich erscheinen lassen.91 Die Art und Anzahl einschlägiger Vorstrafen („nature and extent of ... previous convictions") sowie der geistige Zustand einer Person zum Zeitpunkt der Haftanordnung sind dagegen Anhaltspunkte für die Annahme einer drohenden Straftat vergleichbarer Art („similar offences"). Ex-post betrachtet lässt sich eine Wiederholungsgefahr sicherlich annehmen, wenn die inhaftierte Person nach ihrer Freilassung derartige Taten tatsächlich begangen hat.92 Diese Erkenntnis hilft den Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht weiter, weil sie über das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr ex-ante und ad hoc entscheiden müssen. Die Verlängerung einer unter Art. 5 Abs. 1(a) fallenden Freiheitsentziehung lässt sich regelmäßig nicht mit dem Argument rechtfertigen, die verurteilte Person werde nach Verbüßung der Strafe und Wiedererlangung ihrer Freiheit erneut straffällig werden. Wie 88
EGMR, Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 9. EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, § 108. 90 EGMR, Stögmüller./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 14. »' Vgl. etwa: EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, §§ 107-108. 92 EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 86 („he had in fact done so after his release"). 89
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
der EGMR in der Entscheidung Eriksen klargestellt hat, erlaubt auch Art. 5 Abs. 1(c) im allgemeinen nicht die erneute bzw. weitere Inhaftierung einer Person, die eine Strafe verbüßt hat, zu der sie wegen der Begehung einer speziellen strafbaren Handlung verurteilt worden war. Vielmehr entspricht es dem Wesen einer auf Zeit ausgesprochenen freiheitsentziehenden Sanktion, dass die Person nach Verbüßung der Strafe freigelassen wird. Ausnahmsweise kann eine solche Haftverlängerung von Art. 5 Abs. 1(a) gedeckt sein, bis ein Gericht nach Ablauf der im nationalen Recht vorgesehenen Höchstdauer einer freiheitsentziehenden Sanktion über die Verlängerung dieser Maßnahme entscheidet. Der EGMR erlaubt jedoch nur eine „bridging detention" von kurzer Dauer („short duration"), die für die Erstellung eines medizinischen Gutachtens über den geistigen Zustand der inhaftierten Person und zu ihrer Vorführung vor eine gerichtliche Stelle erforderlich ist („necessary"). Außerdem muss die nichtstationäre präventive Überwachung der Person wegen des von ihr in der Haft gezeigten Verhaltens unmöglich sein. Dass der EGMR unter diesen Umständen die verlängerte Unterbringung als „closely linked to the original criminal proceedings
and the resulting conviction"
und daher von
Art. 5 Abs. 1(a) gedeckt sieht, begegnet Bedenken. Im Fall Eriksen bestand zu einer Aufweichung der im Tatbestand des Art. 5 Abs. 1(a) angelegten Verknüpfung zwischen Urteil und Inhaftierung überhaupt keine Veranlassung, weil die im Falle der Freilassung drohenden Straftaten so „sufficiently concrete and specific" waren, dass für die Haftverlängerung auch der zweite Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) einschlägig war.93 Diese Grundsätze müssen bei der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung rückfallgefahrdeter Straftäter berücksichtigt werden. Während eine strafrechtliche Sicherungsverwahrung derzeit nur zusammen mit der Verurteilung, nicht aber zu einem späteren Zeitpunkt angeordnet werden kann (§ 66 StGB), besteht in BadenWürttemberg bereits eine Regelung für die präventive Unterbringung eines zur Entlassung anstehenden Straftäters. In Hessen und Bayern sind vergleichbare landesrechtliche Vorschriften geplant. Die befristete bzw. unbefristete Verwahrung eines zur Entlassung anstehenden Straftäters soll nach der in Hessen geplanten Regelung dann angeordnet werden können, wenn zwei Gutachter unabhängig voneinander zu dem Schluss gelangen, dass ein einsitzender Gewalt- oder Sexualverbrecher mit hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig wird.94 Von der Regelung in Bayern sollen nur solche Gefangenen erfasst werden, die als psychisch gesund betrachtet werden und deshalb nicht auf Dauer in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden können.95 Der EGMR verlangt aber für Art. 5 Abs. 1(c) 2. Alt. eine Gefahr für die Begehung „concrete and specific offences". Diese müssten entweder aus entsprechenden „Ankündigungen" der freizulassenden Inhaftierten zu ermitteln sein oder sich - wie im Fall Eriksen - aus der Art und
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EGMR, Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 86. Die Entscheidung betraf die Frage, ob eine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach Ablauf der ursprünglich verhängten „security measure" bis zur Entscheidung über ihre Verlängerung auf Art. 5 Abs. 1(a) oder (c) oder (e) gestützt werden konnte. Vgl. hierzu: Pressemitteilung des hessischen Justizministeriums Nr. 43/2001 v. 16.3.2001 (zitiert nach: NJW, Heft 16/2001, XVIII; FAZ vom 17.5.2001 (zitiert nach: NJW 2001, Heft 24, LH). Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 204 v. 5.9.2001, S. 44.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Häufigkeit von Vorstrafen herleiten lassen. Ohne Vorstrafen dürfte eine Verwahrung daher nur in absoluten Extremfallen in Betracht kommen, etwa bei einem konkret und ernsthaft angekündigten Racheakt an einer bestimmten Person. Ansonsten käme bei rückfallgefährdeten Straftätern nur der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) in Betracht. Die Gefährlichkeit einer Person allein ist jedenfalls keine Erkrankung iSv Art. 5 Abs. 1(e). Die derzeit geführte politische Diskussion um das „Wegschließen" von Sexualstraftätern dürfte aber den Druck auf den Begriff des „psychisch Kranken" weiter erhöhen. Deshalb ist es wichtig, dass der EGMR für diesen Haftgrund strenge verfahrensrechtliche Vorgaben gemacht hat, ohne freilich den Zustand der psychischen Erkrankung selbst zu definieren. Liegt jedoch eine solche Erkrankung nach den von der Konvention und dem EGMR aufgestellten Kriterien vor, so ist eine dauerhafte Unterbringung - mit entsprechender Überprüfung in „reasonable intervals" nach Art. 5 Abs. 4 - möglich.96 (c) Fluchtgefahr Schließlich erlaubt Art. 5 Abs. 1(c) eine Festnahme und Freiheitsentziehung auch dann, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, eine Person nach der Begehung einer Straftat an der Flucht zu hindern („it is reasonably considered necessary to prevent ... fleeing after having (committing an offence)"/„qu'il y a des motifs raisonables de croire ä la necessite de l'empecher de s'enfuir apres l'accomplissement de celle-ci (une infraction)"). Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1(c) kann eine Freiheitsentziehung wegen Fluchtgefahr nur erfolgen, wenn der Beschuldigte auch tatsächlich eine strafbare Handlung begangen hat. Das kann jedoch nur das Ergebnis eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens sein, so dass auch für diesen Haftgrund ein hinreichender Tatverdacht genügen muss, aber auch erforderlich ist. Praktisch verliert die Fluchtgefahr damit ihre Eigenständigkeit gegenüber dem ersten Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c).97 Das spiegelt sich auch in der Straßburger Rechtsprechung wider. Große Bedeutung hat die Fluchtgefahr dagegen bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer (Art. 5 Abs. 3). Wann ist nun vom Bestehen einer Fluchtgefahr in der Person des Tatverdächtigen auszugehen? Eine hohe Straferwartung kann zwar ein Indiz für die Fluchtbereitschaft einer Person sein. Gleichwohl ist zu bedenken, dass diese sich mit zunehmender Haftdauer verringert. Allein die Höhe einer zu erwartenden Strafe reicht daher zur Annahme einer Fluchtgefahr nicht aus. Wegen der Wahrscheinlichkeit einer Anrechnung der Untersuchungshaft auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafe erscheint
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Vgl. zur Rechtslage in Baden-Württemberg: Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Strafttäter (Straftäter-Unterbringungsgesetz - StrUBG) v. 14.3.2001 (GBl. 2001, 188); Kinzig NJW 2001,1455,1458, der keinen Haftgrund des Art. 5 für einschlägig hält; Peglau NJW 2001, 2436, 2438, befürwortet eine präventive Unterbringung HlV-infizierter bzw. aids-kranker Straftäter zur Verhinderung der Ausbreitung ansteckender Krankenheiten (Art. 5 Abs. 1(e)) - wenn diese ungeschützte Sexualkontakte angekündigt haben - und hält eine Präventivhaft nach Art. 5 Abs. 1(c) 2. Alt. für möglich. Siehe hierzu: Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg MRK Art. 5 Rn. 68.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
letztere als immer weniger beängstigend und reduziert deshalb die Fluchtbereitschaft des Beschuldigten kontinuierlich.98 Grundsätzlich kann die Entstehung bzw. Zunahme einer Fluchtgefahr aus der Aussage eines Mitbeschuldigten im Laufe des Ermittlungsverfahrens hergeleitet werden, aufgrund derer der Beschuldigte eine höhere Strafe und weitreichendere zivilrechtliche Folgen zu erwarten hat. Auch in diesem Fall kann aber allein aus der sich im laufenden Verfahren erhöhenden Straferwartung nicht auf das Vorliegen einer Fluchtgefahr geschlossen werden. Vielmehr müssen weitere Umstände berücksichtigt werden, insbesondere der Charakter und das sittliche Verhalten des Betroffenen, sein Wohnsitz, seine Beschäftigung, seine Vermögenssituation, seine familiären Bindungen und alle sonstigen Bindungen zu dem Land, in dem er strafrechtlich verfolgt werden soll." Vom Vorliegen einer Fluchtgefahr darf nur dann ausgegangen werden, wenn eine ganze Reihe von Umständen - wie etwa eine hohe Straferwartung, eine besondere Intoleranz des Beschuldigten gegenüber der zu erwartenden Strafe oder das Fehlen besonderer Bindungen im Inland - vorliegen, aus denen man schließen kann, dass sich die Folgen und Risiken einer Flucht für den Beschuldigten als das gegenüber einer andauernden Inhaftierung geringere Übel erweisen werden.100 Insbesondere die Umstände der Festnahme, ein bereits getätigter Kapitaltransfer ins Ausland, die Durchführung einer Auslandsreise sowie im Ausland aufgebaute Verbindungen können als Indizien für eine möglicherweise geplante Flucht herangezogen werden.101 Gegen eine Fluchtgefahr spricht aber die Tatsache, dass der Beschuldigte während des Ermittlungsverfahrens regelmäßig von genehmigten Auslandsreisen zurückgekehrt ist. In diesem Fall darf vom Vorliegen einer Fluchtgefahr nicht allein deshalb ausgegangen werden, weil es dem Beschuldigten - etwa weil er im Besitz eines Flugscheins und eines Flugzeuges ist - ohne weiteres möglich wäre, das staatliche Hoheitsgebiet zu verlassen. Im Einzelfall ist auch zu prüfen, ob nicht mildere, zur Abwendung einer Fluchtgefahr aber ebenfalls geeignete Maßnahmen, wie die Hinterlegung des Reisepasses, in Betracht kommen.102 Als ein Beispiel dafür, welch geringe Anforderungen der Gerichtshof aber mitunter an die Annahme einer Fluchtgefahr stellt, mag die Entscheidung Kemmache (Nr. 3) herhalten, in der sich der EGMR auf die Feststellung beschränkte, dass die Entscheidungen der nationalen Gerichte weder einen Missbrauch ihrer Befugnisse, noch
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Im Fall Wemhoff ./. Deutschland (Serie A Nr. 7, § 14) billigte der E G M R die Anordnung der Untersuchungshaft, da die deutschen Gerichte in den Haftentscheidungen zusätzlich auch auf die Vermögenssituation und das Verhalten des Beschuldigten abgestellt hatten; vgl. auch: E G M R , Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 10; Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 11. E G M R , Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 10. E G M R , Stögmüller ./. Österreich, Serie Α Nr. 9, § 15. E G M R , Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 8. Die Mitbeschuldigten des Bf. besaßen eine Farm in Angola, die der Bf. zuletzt im Jahr vor der Festnahme besucht hatte. Eine Mitbeschuldigte, die zusammen mit dem Bf. nach einer Verfolgungsfahrt festgenommen werden konnte, hatte mit dem Bf. schon mehrere Auslandsreisen unternommen, war zum Zeitpunkt der Festnahme im Besitz ihres Reisepasses und eines Geldbetrages von 16000 ÖS. E G M R , Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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eine Art von Unredlichkeit oder Willkür erkennen ließen und daher nicht als unrechtmäßig anzusehen seien.103 Die im deutschen Recht vorgesehenen vier Gründe für die Anordnung der Untersuchungshaft (§§ 112, 112a StPO) sind konventionskonform, weil sie das Bestehen eines dringenden Tatverdachts voraussetzen, der seinerseits schon für den ersten Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) ausreichend ist. Das gilt auch für den Haftgrund der Tatschwere (§112 III StPO), bei dem sich - aus Sicht der Konvention also zusätzlich - das Erfordernis eines über die Tatschwere hinausgehenden Haftgrundes der Flucht- oder Wiederholungsgefahr im Wege einer verfassungskonformen Auslegung ergibt.104 (3) Grundlage und Art der Freiheitsentziehung Die Konvention überlässt es den Vertragsstaaten, auf welcher Grundlage sie eine Festnahme und Freiheitsentziehung nach innerstaatlichem Recht vollziehen. Art. 5 Abs. 1(c) verlangt nur, dass letztere rechtmäßig und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgen und einer der Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) einschlägig ist. Von ihrer Art her gesehen genügt prinzipiell jede Entscheidung, die sicherstellen soll, dass der Beschuldigte zum Prozess erscheint. 105 Aus dem Urteil Giulia Manzoni lassen sich in dieser Hinsicht zwei fundamentale Aussagen ableiten. Zum einen stellt die Entscheidung unmissverständlich klar, dass ein zwangsweiser und überwachter Aufenthalt in der eigenen Wohnung eine Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 darstellt. Zum anderen lässt sie keinen Zweifel daran, dass Art. 5 Abs. 1(c) vor dem Abschluss eines gerichtlichen Strafprozesses nicht nur klassische Formen der Freiheitsentziehung, wie die Untersuchungshaft in einem Gefängnis, abdeckt, sondern auch andere Formen erlaubt, wie etwa ein Ausreiseverbot („ban on permanently leaving the country"), Benachrichtigungspflichten gegenüber der Polizei („obligation to report to the police"), ein Aufenthaltsverbot oder -gebot („ban on residing in or obligation to reside in a particular place"). Umgekehrt muss das bedeuten, dass diese Maßnahmen den Grad einer Freiheitsentziehung erreichen. Darauf deutet jedenfalls die Formulierung „they all restrict individual liberty to a greater or lesser extent" hin. 106 Auch die Anordnung einer elektronischen Fußfessel stellt eine Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 dar, wenn sie mit Aufenthaltsbeschränkungen verbunden ist, die nach Art und Umfang eher freiheitsentziehenden denn freiheitsbeschränkenden Charakter haben. Diese unterschiedlichen Inhaftierungsformen dürfen nicht nur bis zum Beginn, sondern auch noch während des gerichtlichen Strafprozesses wechseln. Deshalb sind auch eine Polizeihaft und die anschließende Unterbringung einer Person in einem Gefängnis bis zum gerichtlichen Termin, in dem über die Haftfortdauer entschieden 103
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EGMR, Kemmache./. Frankreich (No. 3), Serie A Nr. 296-C, §§ 7-15,20-21,41-46 („ordonnance de prise de corps"). Siehe hierzu: BVerfGE 19, 342, 350; Beulke Rn. 214; für eine ersatzlose Streichung des Haftgrunds der Tatschwere: Kühl ZStW 100 (1988) 601, 637. EGMR, Kemmache ./. Frankreich (No. 3), Serie Α Nr. 296-C, § 32 („intended to ensure that the accused appears for trial"). So auch: LG Frankfurt, NJW 2001,697 („Maßnahme der Freiheitsentziehung"; „Eingriff in Art. 2 II 2 GG").
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wird, von Art. 5 Abs. 1(c) gedeckt, wenn die Staatsanwaltschaft in diesem Termin als Bestätigung der Freiheitsentziehung eine strafprozessuale Präventivmaßnahme, wie etwa die Unterbringung des Beschuldigten in seinem Haus, beantragen will. Die Bf. Giulia Manzoni war nach ihrer Festnahme in Polizeihaft genommen und nach Bestätigung der Polizeihaft durch die Staatsanwaltschaft in ein Gefängnis verbracht worden. Zur Bestätigung der Festnahme beantragte die Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Entscheidung. Im Termin stellte sie den Antrag, die Bf. während des Prozesses in ihrem Haus unterzubringen („detained at her home pending trail"). Die Bf. war der Ansicht, dass die Staatsanwaltschaft ihre Freilassung hätte beantragen müssen, da sie eine Inhaftierung in einem Gefängnis offensichtlich nicht für erforderlich hielt. Hierbei berief sie sich auf eine Vorschrift in der italienischen Strafprozessordnung: „... the public prosecutor's office shall order in a reasoned decision the immediate release of the person arrested ... where it does not envisage applying [to the judge] for a preventive measure". Der EGMR sah die Inhaftierung der Bf. jedoch als „in accordance with a procedure prescribed by law" an, da die Strafprozessordnung auch die Inhaftierung in der Wohnung als strafprozessuale Präventivmaßnahme ansah („legal classification of detention at home").107 d)
Art. 5 Abs.
1(d)
Auf die Freiheitsentziehung Minderjähriger zum Zweck überwachter Erziehung („detention of a minor by lawful order for the purpose of educational supervision"/„detention reguliere d'un mineur, decidee pour son education surveillee") wird im Kapitel zum Strafverfahren gegen Jugendliche näher eingegangen. 108 e)
Art. 5 Abs.
1(e)
Art. 5 Abs. 1(e) erlaubt u.a. eine Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken, Alkoholoder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern („persons of unsound mind, alcoholics or drug addicts or vagrants"/„aliene", d'un alcoollique, d'un toxicomane ou d'un vagabond"). Die Vorschrift scheint auf den ersten Blick für das Strafprozessrecht nicht von besonderem Interesse zu sein, da die drei Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) regelmäßig sämtliche Sachverhalte abdecken, in denen die Freiheitsentziehung einer tatverdächtigen Person für notwendig erachtet wird. Indes besteht die durchaus ernst zu nehmende Gefahr, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte auf den Gedanken kommen könnten, die Inhaftierung eines Beschuldigten in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf die Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(e) und nicht auf einen der Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) zu stützen. Letztere werden nämlich flankiert von den strengen Verfahrensgarantien des Art. 5 Abs. 3 (Pflicht zur Vorführung, Angemessenheit der Haftdauer, Freilassung gegen Sicherheit), der schon seinem eindeutigen Wortlaut nach auf die Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(e) keine Anwendung findet. Zudem muss bei einer Festnahme nach Art. 5 Abs. 1(c) der von dieser Vorschrift geforderte Zweck der Freiheitsentziehung 107 108
EGMR, Giulia Manzoni./. Italien, Reports 1997-IV, §§ 7-12, 14, 20-22. Vgl. hierzu das Kapitel § 9.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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erfüllt sein, wohingegen Art. 5 Abs. 1(e) einen solchen Zweck ausdrücklich nur bei solchen Personen vorsieht, von denen die Verbreitung ansteckender Krankheiten droht.109 Weiterhin ist zu bedenken, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1(e) lediglich auf eine Eigenschaft der festzunehmenden Person bzw. auf deren geistigen oder charakterlichen Zustand abstellen. So gesehen könnten die Ermittlungsbehörden, insbesondere bei Verdächtigen ohne festen Wohnsitz und Staatenlosen, geneigt sein, die Inhaftierung nicht auf Art. 5 Abs. 1(c), sondern auf Art. 5 Abs. 1(e) zu stützen. Dass dies keine Theorie ist, belegt die Entscheidung Guzzardi, in der die italienische Regierung die präventiv angeordnete Verbannung eines Tatverdächtigen auf eine Insel α fortiori mit dem Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) zu begründen versucht hatte und dabei vor dem Gerichtshof vortrug, „Mafiosi, wie der Bf. seien Landstreicher und noch etwas mehr".no Aus dieser Perspektive ist es von Interesse zu erfahren, wann die Inhaftierung einer Person nach Art. 5 Abs. 1(e) strafprozessual in Betracht kommt. (1) Landstreicher Bereits in der Entscheidung De Wilde, Ooms u. Versyp hatte der EGMR über die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung von Landstreichern zu entscheiden. Weder Art. 5 Abs. 1(e) noch eine andere Bestimmung der Konvention definieren die Person des Landstreichers. Einer Auslegung α fortiori auf mutmaßlich gefährlichere Personen hat der EGMR jedoch eine klare Absage erteilt. Wie schon ein Blick auf die gesamte Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(e) zeigt, erlaubt die Vorschrift nur Freiheitsentziehungen bei Personen, die in sozialer Hinsicht Schwierigkeiten haben. Grund für die Inhaftierung solcher Personen ist aber nicht allein die von ihnen mutmaßlich ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, sondern auch das Interesse, das diese Personen an ihrer eigenen zwangsweisen Unterbringung haben.111 Damit dürfte eine Inhaftierung wegen Landstreicherei strafprozessual keine Rolle spielen. (2) Unterbringung psychisch Kranker Wesentlich deutlichere Konturen besitzt die Straßburger Rechtsprechung dagegen bei Freiheitsentziehungen psychisch Kranker. Viele Strafrechtsordnungen sehen als Reaktion auf eine Straftat spezielle Formen der Unterbringung für psychisch kranke Täter vor. Es kann sich bei diesen unterschiedlichen Arten der Unterbringung um eine Sanktion für die begangene Tat, aber auch um eine Art Sicherungsmaßnahme zur Verhinderung weiterer Straftaten handeln. Die Verschiedenartigkeit der vorhandenen Sanktionsformen und die jeweiligen Unterschiede bei der Art der Unterbringung spiegeln sich in den vom EGMR entschiedenen Fällen van Droogenbroeck, Eriksen, Luberti, Johnson und 109 110 111
Vgl.: EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, § 71. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 57, 97-98. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §98. Weil der EGMR im Fall De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien (Serie A Nr. 12, § 68) die im belgischen Strafgesetzbuch von 1867 enthaltene Definition des Landstreichers als von Art. 5 Abs. 1(e) erfasst angesehen hat, wird man sich an dieser Definition orientieren können: „Landstreicher sind solche Personen, die keinen festen Wohnsitz, keine Mittel zum Lebensunterhalt und weder eine reguläre Beschäftigung noch einen Beruf besitzen." („Les vagabonds sont ceux qui n'ont ni domicile certain, ni moyens de subsistance, et qui n'exercent").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Erkalo wider. Die meisten der vom Gerichtshof überprüften Unterbringungen betrafen dauerhafte Unterbringungen psychisch Kranker, die dem Rechtsfolgen- und Strafvollstreckungsrecht zuzuordnen sind und sich bereits terminologisch einer Darstellung im Rahmen des Strafprozessrechts entziehen. Allerdings kann eine möglicherweise beim Tatverdächtigen vorhandene geistige Erkrankung durchaus Auswirkungen auf das Strafverfahrensrecht haben. Nicht selten bereiten Anzeichen einer bei der tatverdächtigen Person vorhandenen psychischen Erkrankung gerade im Ermittlungsverfahren besondere Probleme. Regelmäßig geht nämlich von solchen Personen aufgrund der bei ihnen vermuteten Erkrankung eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus, die ihre Festnahme und die Anordnung einer Freiheitsentziehung wegen der ansonsten drohenden Begehung weiterer Straftaten erforderlich macht. Wenn das nationale Recht der Erkrankung strafmildernde oder gar strafausschließende Wirkung beimisst, wirkt sich dieser Umstand meist schon auf den rechtlichen Inhalt oder gar die Erhebung der Anklage aus. Dies gilt namentlich dann, wenn zu vermuten ist, dass der Beschuldigte möglicherweise strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann oder die Tat in einem Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Wie auf eine verminderte oder nicht vorhandene Schuldfahigkeit einer Person bei der Begehung einer Straftat zu reagieren ist, schreibt die Konvention den Vertragsstaaten nicht vor. Die Ausgestaltung des Rechtsfolgensystems bleibt den nationalen Rechtsordungen überlassen. Darf aber gegen den Beschuldigten nach nationalem Recht im Falle einer tatsächlich vorhandenen Erkrankung überhaupt keine Sanktion verhängt werden, so folgt daraus, dass von einem bestimmten Zeitpunkt an auch die Anordnung einer Freiheitsentziehung im Ermittlungsverfahren nicht mehr mit der Konvention vereinbar ist. Eine Inhaftierung gerät jedenfalls dann in den Verdacht der Willkürlichkeit und Unrechtmäßigkeit, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden mit der Ermittlung der für den Nachweis der geistigen Erkrankung sprechenden Tatsachen Zeit lassen. Sie sind deshalb gehalten, sich zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Verfahren Gewissheit über die Art und den Umfang der vermuteten psychischen Erkrankung des Beschuldigten zu verschaffen. Zumeist ist ihnen selbst aber der Nachweis einer derartigen Erkrankung mangels eigener Fachkenntnis nicht möglich. D a n n sind umfangreiche medizinische oder psychologische Begutachtungen des Beschuldigten erforderlich, die im Rahmen einer herkömmlichen Untersuchungshaft naturgemäß schwerlich zu bewerkstelligen sind, die zumeist in einem Gefängnis oder einer sonstigen für Explorationen wenig geeigneten Einrichtung und Atmosphäre vollzogen wird. D a aber die vom Beschuldigten ausgehende Gefahr seine stationäre Unterbringung regelmäßig erfordert, muss den Strafverfolgungsbehörden ein rechtliches Instrumentarium an die H a n d gegeben werden, das sowohl den Erfordernissen einer ordentlichen Strafrechtspflege Rechnung trägt, zu der auch der Schutz der Bevölkerung vor der Begehung weiterer Straftaten gehört, als auch mit den einschlägigen Bestimmungen der Konvention vereinbar ist. In Betracht kommen dabei vor allem vorläufige Unterbringungen, wie sie die deutsche Strafprozessordnung in §§ 81, 126a StPO kennt. Reagieren die nationalen Strafverfolgungsbehörden auf eine vermutete psychische Erkrankung beim Beschuldigten mit einer freiheitsentziehenden Maßnahme, muss diese nach den allgemeinen Kriterien rechtmäßig sein, sich auf einen der in Art. 5 Abs. 1
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abschließend aufgeführten Gründe stützen lassen und die in den Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 verbürgten Verfahrensgarantien gewähren. (a) Unterbringung während des Ermittlungsverfahrens Für die Unterbringung einer möglicherweise psychisch kranken Person im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kommen von den in Art. 5 Abs. 1 erlaubten Beschränkungen der persönlichen Freiheit die Haftgründe des Art. 5 Abs. 1(c) und (e) in Betracht. In den meisten Fällen wird sich die Inhaftierung des Beschuldigten auf Art. 5 Abs. 1(c) stützen lassen. Fraglich ist aber, ob dies auch dann gilt, wenn im Falle einer tatsächlich vorhandenen psychischen Erkrankung beim Beschuldigten in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung keine Straftat iSv Art. 5 Abs. 1(c) vorliegt, etwa weil die Erkrankung schuldausschließende Wirkung hat oder die Schuldfähigkeit des Täters allgemeine Voraussetzung für das Vorliegen einer Straftat ist. Für eine schuldautonome Interpretation der Straftat ließe sich anführen, dass nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 1(c) nicht nur für die Begehung, sondern auch für das Vorliegen der Straftat lediglich ein hinreichender Verdacht erforderlich ist. Da sich die Erkrankung zu Beginn der strafrechtlichen Untersuchungen regelmäßig nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen lässt, wird man selbst bei entsprechenden Anzeichen noch von einem hinreichenden Verdacht sprechen können. Ein echtes Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 5 Abs. 1(c) und (e) ist im Ermittlungsverfahren allerdings dann denkbar, wenn die psychische Erkrankung feststeht oder sich aufgrund einer medizinischen oder psychologischen Untersuchung des Tatverdächtigen vor der Verurteilung herausstellt, weil von diesem Zeitpunkt an nicht mehr vom Vorliegen einer Straftat gesprochen werden könnte. Der Gerichtshof hat jedoch im Fall Herczegfalvy ausdrücklich entschieden, dass die Konvention für die Begehung einer Straftat iSv Art. 5 Abs. 1(c) kein Schuldelement voraussetzt und es daher nicht gegen die Konvention verstößt, wenn eine möglicherweise psychisch kranke Person aus Anlass eines strafrechtlich relevanten Verhaltens inhaftiert wird, weil gegen sie der hinreichende Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen hat. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gerichtshof seinen im Urteil Steel entwickelten autonomen Ansatz zur Interpretation der Straftat weiterverfolgen wird und einer nationalen Einflussnahme auf den Begriff der Straftat durch Elemente der Schuld oder Schuldfähigkeit Einhalt gebieten wird. Könnte nämlich ein Vertragsstaat mit Hilfe derartiger Elemente in der nationalen Rechtsordnung auf den Begriff der Straftat einwirken, müsste gleiches für den Begriff der strafrechtlichen Anklage in Art. 6 Abs. 1 gelten. Dass jedoch auch mutmaßlich psychisch kranke Straftäter einen Anspruch auf die Garantien dieser Vorschrift haben, wenn das ihnen zur Last gelegte Verhalten eine strafbare Handlung darstellt, dürfte nicht zu bestreiten sein. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Freiheitsentziehung bis zur erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidung, in der über das Vorliegen der psychischen Erkrankung und die zu verhängende Sanktion entschieden wird, unter Art. 5 Abs. 1(c) fallt. Dem Bf. Herczegfalvy wurde zur Last gelegt, während der Verbüßung einer Strafhaft neue Straftaten gegenüber dem Gefängnispersonal und Mitgefangenen begangen zu haben. Drei Tage vor dem Ende der Strafhaft ordnete ein Gericht Untersuchungshaft
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wegen Flucht- und Wiederholungsgefahr im Anschluss an die Strafhaft an. Nachdem der Bf. zwischenzeitlich „beschränkt entmündigt" worden war, wurde er im Januar 1978 vorläufig in einer Einrichtung für geisteskranke Straftäter untergebracht. Aufgrund mehrerer Gutachten, in denen eine Geisteskrankheit des Bf. festgestellt worden war, forderte die Staatsanwaltschaft nunmehr statt einer Verurteilung seine Unterbringung, die ein Gericht im Januar 1979 anordnete. Der EGMR vertrat die Ansicht, dass die Inhaftierung im Anschluss an die Strafhaft bis zur gerichtlichen Entscheidung im Januar 1979 unter Art. 5 Abs. 1(c) fiel.112 Es stellt sich nun die Frage, ob für die vorläufige Unterbringung eines möglicherweise psychisch kranken Tatverdächtigen auch der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) einschlägig ist. Genau hier lauern nämlich die Gefahren für die von der Konvention geschützte persönliche Freiheit einer Person. Die sich sowohl unmittelbar aus der Konvention als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden engen formellen und materiellen Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) iVm Art. 5 Abs. 3 beschwören es geradezu herauf, dass die Strafverfolgungsbehörden die Festnahme und Inhaftierung einer tatverdächtigen Person unter Hinweis auf deren geistigen Zustand rechtfertigen, obwohl die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1(c) vorliegen. Art. 5 Abs. 1(e) ist bei psychisch Kranken mit einem ähnlichen Risiko der Umgehung behaftet, wie es in der Entscheidung Guzzardi bei Landstreichern zu Tage getreten ist. Dass Art. 5 Abs. 1(e) nicht zu einem vierten Haftgrund innerhalb des Art. 5 Abs. 1(c) erodieren darf, ist ein Gebot seiner Exklusivität. Eine Umgehung der in Art. 5 Abs. 1(c) und Art. 5 Abs. 3 genannten Verfahrensgarantien droht allerdings nur dann, wenn Art. 5 Abs. 1(e) überhaupt eine geeignete Grundlage für vorläufige Unterbringungen einer mutmaßlich psychisch kranken Person in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren darstellt und diese unter wenigen strengen verfahrensrechtlichen Garantien erlaubt. Vom Wortlaut her gestattet die Vorschrift nur Freiheitsentziehungen bei tatsächlich psychisch Kranken, also nicht bei mutmaßlich psychisch Kranken. Das spricht jedoch nicht von vornherein dagegen, neben dauerhaften auch vorläufige Unterbringungen - nur solche sind strafprozessual von Interesse und sollen Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen sein - auf diese Vorschrift zu stützen, wenn sich im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Anzeichen für eine derartige Erkrankung ergeben. Es scheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass für die Freiheitsentziehung eines möglicherweise psychisch kranken Tatverdächtigen im Stadium des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens neben Art. 5 Abs. 1(c) auch Art. 5 Abs. 1(e) einschlägig ist. Stellt das zugrunde liegende Verhalten entsprechend den vom E G M R entwickelten Kriterien keine Straftat dar, so kommt als taugliche Grundlage für die Freiheitsentziehung ausschließlich diese Vorschrift in Betracht. Obwohl die vom E G M R entschiedenen Fälle fast nur dauerhafte Unterbringungen betrafen, macht es Sinn, der Frage nachzugehen, wie der Gerichtshof den Begriff der psychischen Erkrankung versteht und welche Voraussetzungen eine vorläufige Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(e) erfüllen muss. 112
EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 9-14, 60, 62-63.
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Den Begriff des psychisch Kranken („persons of unsound mind"/„aliene"), den die Konvention selbst nicht definiert, interpretiert der Gerichtshof nicht statisch, sondern im Lichte des Fortschritts der psychiatrischen Forschung und der gesellschaftlichen Akzeptanz geistig kranker Menschen. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung lässt sich demzufolge nicht in einer bestimmten Art und Weise verbindlich festschreiben. Den staatlichen Stellen, die über die Unterbringung von psychisch kranken Personen entscheiden, räumt der EGMR sogar einen gewissen Beurteilungsspielraum ein („certain discretion").113 Erlaubt eine nationale Rechtsordnung die Freiheitsentziehung einer Person wegen einer psychischen Erkrankung, so ist es nicht erforderlich, dass diese Erkrankung in den nationalen Gesetzen ausdrücklich definiert wird. Andererseits gestattet Art. 5 Abs. 1(e) - negativ formuliert - keine Freiheitsentziehungen, nur weil die Ansichten oder das Verhalten einer Person von den überwiegend anerkannten Normen einer Gesellschaft abweichen.114 Für die Rechtmäßigkeit der Unterbringung eines psychisch Kranken kommt es nicht allein auf die Einhaltung der Vorschriften des nationalen Rechts an. Die Unterbringung muss dem Ziel entsprechen, welches die in Art. 5 Abs. 1(e) genannten Beschränkungen verfolgen, und wie jede andere Art der Freiheitsentziehung auch Schutz vor staatlicher Willkür bieten.115 Aus diesem Grund unterzieht der EGMR Freiheitsentziehungen psychisch Kranker einer strengen Willkürkontrolle.116 Für eine - dauerhafte - Unterbringung psychisch Kranker nach Art. 5 Abs. 1(e) müssen drei A/iWesivoraussetzungen erfüllt sein („three minimum conditions"). Erstens muss die Geisteskrankheit von der zuständigen Stelle aufgrund eines objektiven medizinischen Gutachtens schlüssig und überzeugend festgestellt worden sein („true mental disorder must be established before a competent authority on the basis of objective medical expertise/report", „must reliably be shown to be of unsound mind"). Dies gilt - wie der Fall Ζ zeigt - auch dann, wenn es um die Wiedereinweisung einer Person nach ihrer bedingten Entlassung geht. Zweitens müssen die Art oder die Schwere der geistigen Erkrankung die Freiheitsentziehung rechtfertigen („mental disorder must be of a kind or degree warranting compulsory confinement", „genuine mental disturbance whose nature or extent is such as to justify such deprivation of liberty"). Schließlich darf die Unterbringung nur solange aufrecht-
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EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, §§ 37, 40; X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 43-44; Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 27; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §63. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, §§ 11, 37-38. Der EGMR beanstandete die damalige niederländische Gesetzeslage zur Einweisung Geisteskranker und deren Vollzug in der Praxis nicht, obwohl das entsprechende Gesetz lediglich die Gründe für die Unterbringung einer Person in einer psychiatrischen Klinik regelte ohne den Zustand der Geisteskrankheit selbst zu definieren. Die Einweisung erfolgte in der Praxis nur bei einer ärztlich festgestellten schwerwiegenden Geistesstörung, die eine Gefahr für die betreffende Person selbst oder Mitmenschen darstellte. EGMR, Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, § 60. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 64, 68. Der EGMR sah hier eine gerichtliche Unterbringungsanordnung nicht als willkürlich an, da sie erst nach der Einholung von drei übereinstimmenden Sachverständigengutachten erfolgt war.
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erhalten werden, wie die Geisteskrankheit besteht („validity of continued confinement depends upon the persistence of such a disorder"), wobei die Erkrankung zum Zeitpunkt der Anordnung der Freiheitsentziehung und nicht nur bei der Begehung der Tat festgestellt werden muss.117 Besondere Probleme können sich ergeben, wenn die Unterbringung einer psychisch kranken Person befristet ausgesprochen wird und vor Ablauf dieser Frist über die Fortdauer der Unterbringung zu entscheiden ist. In den Fällen Winterwerp, Luberti und Johnson hat der EGMR den staatlichen Stellen, die über die Voraussetzungen und die Erforderlichkeit einer Fortdauer bzw. Verlängerung der Unterbringung zu entscheiden hatten, einen gewissen Prüfungszeitraum zugebilligt, wenn bestimmte Anzeichen oder medizinische Gutachten eine eingehende Uberprüfung erforderlich machen. So hat er im Urteil Winterwerp die Aufrechterhaltung einer Unterbringung für die Dauer von zwei Wochen über das Ende des ursprünglichen Unterbringungszeitraums hinaus bis zur gerichtlichen Entscheidung über die Verlängerung weder als willkürlich bewertet, noch die Dauer der Unterbringung als unbillig oder exzessiv angesehen („unreasonable or excessive").118 Im Gegensatz dazu ging der EGMR im Fall Erkalo von einem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 aus, weil die Unterbringung hier über einen Zeitraum von 82 Tagen ohne gerichtliche Entscheidung erfolgt war, bevor ein Gericht ihre Verlängerung angeordnet hatte. Es überrascht allerdings, dass er nicht auf die ursprünglich verhängte Freiheitsstrafe als Grundlage der Inhaftierung abgestellt hat, obwohl auch seiner Ansicht nach die Unterbringung während des fraglichen Zeitraums auf Art. 5 Abs. 1(a) beruhte. An dieser Stelle ist die Entscheidung zumindest widersprüchlich. Den Konventionsverstoß hat der EGMR - ähnlich wie im Fall Johnson - zusätzlich darauf gestützt, dass keine ausreichenden Sicherheiten bestanden, die eine unangemessene Verzögerung der Freilassung des Bf. verhindert hätten, weil erst auf seine Initiative hin das gerichtliche Verfahren in Gang gekommen sei.119 Man kann dem Gerichtshof sicherlich dahingehend zustimmen, dass nicht jedes Gutachten eines Sachverständigen, welches die Freilassung einer wegen ihrer psychischen Erkrankung untergebrachten Person befürwortet, eine sofortige und bedingungslose Freilassung erfordert. Insbesondere der Fall Luberti zeigt aber, wie gefahrlich eine Aufweichung der dritten, zeitlichen Mindestvoraussetzung für eine Unterbringung nach Art. 5 Abs. 1(e) ist. Dort hat es der EGMR nicht beanstandet, dass eine zuständige Stelle ein die Freilassung befürwortendes ärztliches Gutachten gründlich überprüft und die Aufhebung der Unterbringung erst zwei Monate nach Vorliegen dieses Gutachtens angeordnet hatte, weil die Freilassung einer von einem Gericht als geisteskrank und für die Allgemeinheit als gefahrlich eingestuften Person auch Sicherheitsinteressen der Bevölkerung berühre. Auch ein von der untergebrachten Person selbst in Auftrag gegebenes, ihre Freilassung befürwortendes Gutachten erfordert die unmittelbare Freilassung nicht in jedem Fall, insbesondere
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E G M R , Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 39; X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 40-41; Luberti ./. Italien, Serie A Nr. 75, §§ 27-28; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 63; Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, § 60. E G M R , Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 49 - allerdings war in diesem Fall der Antrag auf Verlängerung schon vor Ablauf des Unterbringungsbefehles beim zuständigen Gericht gestellt worden (§ 27). E G M R , Erkalo ./. Niederlande, Reports 1998-VI, §§ 8-15, 51-60.
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dann nicht, wenn es den Feststellungen eines erst wenige Monate vorher getroffenen Urteils sowie den Darstellungen der Sachverständigen widerspricht, auf die sich dieses Urteil stützt.120 Auf den ersten Blick sind die hohen Mindestanforderungen, die der Gerichtshof für die Unterbringung psychisch Kranker nach Art. 5 Abs. 1(e) aufgestellt hat, in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kaum zu erfüllen. Wegen der von der tatverdächtigen Person möglicherweise ausgehenden Gefahr ist die vom E G M R geforderte vorherige Einholung eines objektiven medizinischen Gutachtens wenig sinnvoll und k a u m zu leisten. Gleiches gilt für den ebenfalls geforderten verlässlichen Nachweis der Geisteskrankheit vor der Anordnung der Unterbringung. Die Freiheitsentziehung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hat vielmehr gerade den Zweck, die Erstellung eines medizinischen Gutachtens und den schlüssigen Nachweis eines geistigen Defektes beim Tatverdächtigen zu ermöglichen. Ein Einfallstor für den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) im Ermittlungsverfahren hat der Gerichtshof aber selbst aufgestoßen, weil seiner Ansicht nach in Dringlichkeitsfällen („ermergency cases"/„confinements"/„cas d'urgence") und unter bestimmten weiteren Voraussetzungen die vorläufige Unterbringung einer Person von Art. 5 Abs. 1(e) gedeckt sein kann. Wie er ausdrücklich betont, kann in diesen Dringlichkeitsfällen die stationäre Unterbringung einer Person zulässig sein, ohne dass ihre psychische Erkrankung zuvor zuverlässig nachgewiesen worden ist.121 Die Formulierung, das erforderliche medizinische Gutachten müsse ausgenommen in Dringlichkeitsfällen vor der Unterbringung vorliegen, kann nur bedeuten, dass in derartigen Dringlichkeitsfällen ein Freiheitsentzug nach Art. 5 Abs. 1(e) also auch dann rechtmäßig ist, wenn er nicht von den üblichen Garantien, wie etwa von einer vorherigen gründlichen medizinischen Untersuchung, begleitet wird. Wie der E G M R ferner hervorhebt, besitzt die staatliche Stelle, die zur Anordnung von dringlichen Unterbringungen befugt ist, naturgemäß einen weiten Ermessensspielraum („wide discretion"), wenngleich ihre Entscheidungen keinesfalls willkürlich erfolgen dürfen. Allgemein formuliert ist es für die dringliche Unterbringung einer Person ohne die vorherige Einholung eines medizinischen Gutachtens über ihren geistigen Zustand erforderlich, dass aus Sicht der zuständigen staatlichen Stelle aufgrund der Tatsachen - insbesondere unter Berücksichtigung des bekannten Krankheitsverlaufs und der Lebensführung der Person - hinreichender Anlass für die Annahme besteht, dass diese in Freiheit eine Gefahr für die
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E G M R , Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 29; Johnson ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1997-VII, §§ 61-63, 65. Die Entscheidung Johnson befasst sich auch mit Zulässigkeit einer im Falle der Entlassung angeordneten gerichtlichen Überwachung. Demnach verstößt die Anordnung einer psychiatrischen Aufsicht und Beobachtung als Auflage im Rahmen einer Entscheidung über eine bedingte Entlassung einer ursprünglich wegen Geisteskrankheit untergebrachten Person für sich allein betrachtet nicht gegen Art. 5 Abs. 1, wenn eine derartige Auflage der sofortigen Entlassung aus einer Einrichtung nicht entgegensteht. E G M R , Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 63 („the fact that a person is „of unsound mind" must be established conclusively, except in case of emergency").
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Öffentlichkeit darstellt („sufficient reason ...to have considered that the ... continued liberty constituted a danger to the public").122 Häufig erfolgt die Unterbringung einer Person in Strafverfahren gerade deshalb, um eine medizinische Untersuchung ihres geistigen Zustands zu ermöglichen. Solange von einer Person keine Gefahr für die Öffentlichkeit ausgeht, wird man - in der Diktion des Gerichtshofs - nicht von einer dringlichen Unterbringung iSv Art. 5 Abs. 1(e) sprechen können. Eine Unterbringung lässt sich daher nicht auf Art. 5 Abs. 1(e) stützen, wenn sie ausschließlich den Zweck verfolgt, eine Untersuchung des geistigen Zustandes einer Person zu ermöglichen, um sodann deren strafrechtliche Verantwortlichkeit beurteilen zu können. Im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kann die Unterbringung eines mutmaßlich psychisch kranken Beschuldigten nach Art. 5 Abs. 1(e) daher nur erfolgen, wenn dieser in Freiheit eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt und dies auch ein Grund für seine Inhaftierung ist. Dass die Dringlichkeit von der Gefährlichkeit der möglicherweise psychisch kranken Person abhängt, verdeutlicht auch die Aussage des EGMR, von einer eingehenden medizinischen Untersuchung vor einer dringlichen Unterbringung könne abgesehen werden, weil es unpraktikabel wäre, eine eingehende medizinische Untersuchung zu verlangen, wenn das innerstaatliche Recht in besonderen Fällen die Unterbringung von Personen erlaubt, die für andere Menschen gefährlich sein könnten.123 Eine davon unabhängige Frage ist, ob der Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(e) bei dringlichen Unterbringungen die Durchführung einer Untersuchung des geistigen Zustandes der Person als immanenter Zweck der Unterbringung entnommen werden muss. Jedenfalls erlaubt Art. 5 Abs. 1(e) keine präventiven Unterbringungen mutmaßlich psychisch kranker Personen ohne die anschließende Einholung medizinischer Gutachten über deren Geisteszustand. Eine solche Auslegung der Vorschrift wäre mit den vom EGMR herausgearbeiteten drei Mindestvoraussetzungen nicht vereinbar. Zudem wird man die Aussage des Gerichthofs, es sei in besagten Dringlichkeitsfallen zulässig, das erforderliche medizinische Gutachten über den Zustand der geistigen Erkrankung nach der Unterbringung der Person einzuholen, so interpretieren müssen, dass das von Art. 5 Abs. 1(e) grundsätzlich geforderte medizinische Gutachten im Anschluss an die Anordnung der Unterbringung zeitnah erstellt werden muss. Wann genau die Erstellung bzw. Einholung des Gutachtens erfolgen muss, lässt sich den Urteilen des Gerichtshofs nicht zweifelsfrei entnehmen. Man wird sich hier jedoch an der für dringliche Unterbringungen zulässigen Dauer orientieren können. Die wichtigste vom EGMR herausgearbeitete Verfahrensgarantie bei dringlichen Unterbringungen stellt nämlich deren zeitliche Beschränkung dar. Ein Dringlichkeitsfall kann nur eine Unterbringung von kurzer Dauer rechtfertigen („short duration"/„une breve duree", „courte periode").124
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EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 40-41, 44-45 (Wiedereinweisung nach einer bedingten Entlassung); siehe schon: Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 39. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 41. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, §§ 12, 42; X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 46, 58.
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Als Ergebnis lässt sich festhalten: der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) dürfte für dringliche Unterbringungen mutmaßlich psychisch kranker Personen in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren einschlägig sein. Er verlangt die Einhaltung von Verfahrensgarantien, die sich von denen des Art. 5 Abs. 3 unterscheiden, aber im Ergebnis einen dem Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) vergleichbaren Schutz bieten („Vorführung" vor einen Richter bzw. Sachverständigen; angemessene bzw. kurze Dauer). Es bleibt jedoch abzuwarten, ob der EGMR den obigen Ausführungen tatsächlich folgt und vorläufige Unterbringungen in Strafverfahren auf Art. 5 Abs. 1(e) stützt. Auch wenn er in der Entscheidung Herczegfalvy die Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 1(e) auf Inhaftierungen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bis zur ersten gerichtlichen Entscheidung über das Vorliegen der psychischen Erkrankung nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat, spricht viel dafür, dass er in diesem Verfahrensstadium inzident einen Vorrang des Art. 5 Abs. 1(c) vor dem des Art. 5 Abs. 1(e) annimmt. Auf Art. 5 Abs. 1(e) als Haftgrund werden die staatlichen Stellen daher nur zurückgreifen können, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1(c) - aus welchem Grund auch immer - nicht erfüllt sind. Den Strafverfolgungsbehörden ist daher zu raten, die Unterbringung einer mutmaßlich psychisch kranken, tatverdächtigen Person auf den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) zu stützen, was die Vorführung der festgenommenen Person vor einen Richter iSv Art. 5 Abs. 3 erforderlich macht. Unterbringungen nach §§81, 126a StPO sind demzufolge keine dringlichen Unterbringungen iSv Art. 5 Abs. 1(e). § 81 StPO normiert zwar die vom EGMR geforderte zeitliche Beschränkung (§ 81 V StPO). In Anlehnung an das Urteil Winterwerp dürfte eine sechs Wochen dauernde Unterbringung auch als konventionskonform anzusehen sein. § 81 StPO knüpft für die Unterbringung aber nicht an die Gefährlichkeit des Tatverdächtigen an. Bei § 126a StPO verhält es sich umgekehrt („wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert"). Unterbringungen nach §§81, 126a StPO fallen jedoch unter Art. 5 Abs. 1(c) 1. Alt. (vgl. § 126a I StPO „dringende Gründe für die Annahme ..."; § 81 II 1 StPO „der Tat dringend verdächtig ist").
(b) Unterbringung während des Rechtsmittelverfahrens Ordnet ein Gericht die Unterbringung einer Person an, weil diese eine Straftat begangen hat, für die sie aufgrund einer festgestellten Geisteskrankheit strafrechtlich nicht verantwortlich ist, und legt die Person sodann Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein, fällt der anschließende Freiheitsentzug ausschließlich unter Art. 5 Abs. 1(e), auch wenn sich die Person im Rechtsmittelverfahren nach nationalem Recht weiterhin in Untersuchungshaft befindet. Hebt dagegen ein Rechtsmittelgericht den von der Vorinstanz erlassenen Unterbringungsbefehl einer wegen Geisteskrankheit strafrechtlich nicht verantwortlichen Person auf und weist es den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Instanzgericht zurück, fällt der Freiheitsentzug wieder unter Art. 5 Abs. 1(c). Ordnet sodann das Instanzgericht, an das der Fall zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen worden ist, erneut die Unterbringung der Person wegen einer geistigen Erkrankung an, wird die Inhaftierung wieder von Art. 5 Abs. 1(e) erfasst. Der Bf. Herczegfalvy hatte gegen eine Unterbringungsentscheidung vom Januar 1979 Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt. Obwohl er nach nationalem Recht während des
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Rechtsmittelverfahrens in Untersuchungshaft blieb, fiel der Freiheitsentzug nach Ansicht des EGMR nunmehr unter Art. 5 Abs. 1(e), da das Landesgericht ihn wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit nicht für schuldig befunden und keine Strafe über ihn verhängt hatte („not convicted or sentenced ... in view of his lack of criminal responsibility"). Die Unterbringungsanordnung des Landesgerichts wurde im Oktober 1979 aufgehoben und der Fall zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Die Inhaftierung des Bf. zwischen der Aufhebung der Unterbringungsanordnung und der erneuten Entscheidung des Landesgerichts fiel nach Ansicht des EGMR wiederum unter Art. 5 Abs. 1(c). Da das Gericht erneut die Unterbringung des Bf. wegen seiner Geisteskrankheit angeordnet hatte, war ab diesem Zeitpunkt wieder Art. 5 Abs. 1(e) einschlägig.125 f)
Art. 5 Abs. 1 ( f )
Unmittelbar nicht mit dem Strafprozessrecht in Verbindung steht die Vorschrift des Art. 5 Abs. 1(f), welche u.a. die rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung bei Personen erlaubt, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist („persons against whom action is being taken with a view to deportation or extradition"/„contre laquelle une procedure d'expulsion ou d'extradition est en cours"). Ein Auslieferungsverfahren ist dabei aus zwei Gründen denkbar: einerseits zur Einleitung und Durchführung eines Strafverfahrens gegen den Beschuldigten in einem anderen Land, andererseits zur Vollstreckung eines gegen den Beschuldigten bereits ergangenen Strafurteils. Erfolgt die Einleitung des Auslieferungsverfahrens zur Vollstreckung eines bereits ergangenen Strafurteils, stellt sich die Frage, ob die Freiheitsentziehung nach einer Verurteilung iSv Art. 5 Abs. 1(a) erfolgt oder unter den Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1(f) fallt, weil sie eine Person betrifft, gegen die ein Auslieferungverfahren im Gange ist. Die Freiheitsentziehung zur Vollstreckung des in einem anderen Land ergangenen Strafurteils fällt nicht unter Art. 5 Abs. 1(a), wenn es den Behörden des Festnahmestaates nicht obliegt, dieses Urteil selbst zu vollstrecken. In diesem Fall kommt nur eine Rechtfertigung nach Art. 5 Abs. 1(f) in Betracht. Voraussetzung dafür ist aber, dass gegen die festgenommene Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist. Eine Rechtfertigung nach Art. 5 Abs. 1(0 scheidet deshalb aus, sobald - wie im Fall Bozano - ein Gericht das Auslieferungsbegehren des Staates, dessen Strafurteil zu vollstrecken ist, wegen Verstoßes gegen den ordre public abschlägig beschieden hat. In diesem Fall lässt sich eine erneute Inhaftierung nicht mehr nach Art. 5 Abs. 1(f) rechtfertigen, weil der Erlass einer Ausweisungsverfügung und deren nachfolgende Vollstreckung mittels einer Festnahme und Abschiebung nicht dazu dienen dürfen, einem Auslieferungsbegehren zu entsprechen, welches die nationalen Gerichte des Festnahmestaates bereits wegen Verstoßes gegen den ordre public zurückgewiesen haben.
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E G M R , Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 9-14, 60, 62, 65-66. Je nach Art der gerichtlichen Entscheidung kann die Freiheitsentziehung während des Rechtsmittelverfahrens auch oder ausschließlich unter Art. 5 Abs. 1(a) fallen. Hier gelten die bereits im Rahmen der Darstellung dieses Haftgrundes gemachten Ausführungen. Ob auch in diesem Fall bei der Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) wieder auflebt, hat der E G M R bisher nicht entschieden.
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Im Fall Bozano hatte ein französisches Gericht ein Auslieferungsgesuch aus Italien abgelehnt. Wegen anderer Delikte blieb der Bf. jedoch weiterhin in Haft. Etwa einen Monat nach seiner Freilassung wurde er erneut verhaftet und noch in derselben Nacht den schweizerischen Behörden übergeben, welche aufgrund eines auch bei ihnen vorliegenden Auslieferungsantrags den Bf. nach Italien zur Vollstreckung des dort gegen ihn ergangenen Urteils auslieferten. Nach Ansicht des EGMR wäre die erneute Inhaftierung grundsätzlich bei Einhaltung der übrigen materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1(0 gerechtfertigt gewesen, da das französische Innenministerium vor der Festnahme zusätzlich eine Ausweisungsverfügung erlassen hatte, die durch die Inhaftierung vollstreckt werden sollte. Im konkreten Fall ging der Gerichtshof jedoch von einer „verkleideten Form der Auslieferung" und einer Umgehung des von den französischen Gerichten abgelehnten Auslieferungsbegehrens aus.126 Für die Inhaftierung einer Person nach Art. 5 Abs. 1(f) ist ein hinreichender Verdacht, dass diese andernfalls eine strafbare Handlung begehen oder flüchten wird, nicht erforderlich. Wie der E G M R ausdrücklich hervorhebt, bietet der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(0 einen gegenüber Art. 5 Abs. 1(c) unterschiedlichen Schutz („different level of protection"). Es ist lediglich erforderlich, dass gegen die betroffene Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist. Ob die Auslieferungsentscheidung dem jeweiligen nationalen Recht oder der Konvention entspricht, ist unerheblich. 127 Wie bei allen Haftgründen des Art. 5 Abs. 1 muß eine Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit einem Auslieferungsverfahren rechtmäßig sein. Auch hier gilt der Grundsatz, dass die nationalen Gerichte für die Beurteilung einer Freiheitsentziehung im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens die Einhaltung der nationalen Rechtsvorschriften besser beurteilen können. Sie dürfen bei der Prüfung der nationalen Vorschriften auch die Erfordernisse internationaler gegenseitiger Unterstützung in Fragen der Auslieferung berücksichtigen („requirements of international mutual assistance in the judicial field"). Jedenfalls auf Rüge prüft der E G M R im Rahmen der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung auch, ob die Freiheitsentziehung einem anderen Zweck als dem für ihre Anordnung maßgeblichen dient oder gar eine „verkappte" Untersuchungshaft darstellt („pre-trial detention in disguise"). Allein aus der Tatsache, dass strafrechtliche Untersuchungen und ein Auslieferungsverfahren parallel geführt werden und eine aus der Untersuchungshaft zu entlassende Person wenige Stunden nach ihrer gerichtlich angeordneten Freilassung im Zusammenhang mit einem Auslieferungsbegehren festgenommen wird, kann aber nicht auf einen Missbrauch des Auslieferungsverfahrens für Zwecke des nationalen Rechts geschlossen werden. 128 Umgekehrt wird man diesen Leitsatz des Gerichtshofs so verstehen müssen, dass der Missbrauch einer Auslieferungshaft für andere Zwecke dazu führt, dass diese nicht länger als rechtmäßig angesehen werden kann.
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EGMR, Bozano ./. Frankreich, Serie A Nr. 111, §§ 53, 58-60. EGMR, Chahal./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 112 („immaterial... whether the underlying decision to expel can be justified under national or Convention law"). EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, § 47.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Konkurrenzprobleme bei den Haftgründen ergeben sich, wenn gegen die Person auch im Aufenthaltsstaat wegen strafbarer Handlungen ermittelt wird. Die Frage, ob eine Freiheitsentziehung unter Art. 5 Abs. 1(c) oder (f) fallt, stellt sich insbesondere dann, wenn gegen einen Beschuldigten, der wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat in Untersuchungshaft sitzt, zugleich ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Art. 5 Abs. 1(f) bietet in diesem Zusammenhang ein erhebliches „Umgehungspotential". Einerseits könnten Strafverfolgungsbehörden geneigt sein, eine Inhaftierung als „Auslieferungshaft" zu deklarieren, wenn die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Höchstfristen einer Untersuchungshaft erreicht sind. Ebenso von Bedeutung ist das Konkurrenzverhältnis der beiden Haftgründe aber auch im Lichte der übrigen Konventionsbestimmungen. Die Angemessenheit der Dauer einer Auslieferungshaft (Art. 5 Abs. 1(f)) ist Teil ihrer Rechtmäßigkeit, wohingegen sich die zulässige Dauer einer auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützten Untersuchungshaft anhand der Spezialregelung des Art. 5 Abs. 3 bestimmt. Eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(f) ist nur zulässig, solange gegen die betroffene Person ein Auslieferungsverfahren im Gange ist. Aus diesem bereits im Wortlaut der Vorschrift angelegten Grundsatz leitet der Gerichtshof ein Beschleunigungsgebot für Auslieferungsverfahren ab. Die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(f) endet deshalb auch dann, wenn ein Auslieferungsverfahren zwar noch im Gange ist, aber nicht mit der gebotenen Zügigkeit geführt wird („not being prosecuted with due diligence").129 Zu diesem Kunstgriff war der Gerichtshof gezwungen, weil sich die für die Dauer einer Inhaftierung einschlägige Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 nur auf Freiheitsentziehungen nach Art. 5 Abs. 1(c) bezieht und auf Inhaftierungen im Zusammenhang mit einer Auslieferung keine Anwendung findet.130 Als Gegenpol zu den Bemühungen einer beschleunigten Verfahrensführung treten aber auch hier die Interessen einer ordentlichen Rechtspflege auf den Plan. Angesichts dessen, was für die betroffene Person auf dem Spiel steht, müssen gerade in Fällen, die eine extrem ernsthafte und bedeutende Angelegenheit betreffen („considerations of an extremely serious and weighty nature"), sämtliche Gesichtspunkte und Beweise ausreichend gewürdigt („due regard to all the relevant issues and evidence") und die Forderungen des Betroffenen von den Gerichten gründlich geprüft werden („claims being thoroughly examined by the courts").131 Werden gegen einen Beschuldigten ein Strafverfahren und ein Auslieferungsverfahren parallel geführt und schieben die nationalen Behörden die Auslieferung solange auf, bis der nationale Strafanspruch getilgt ist („defer the extradition of a person under investigation until his criminal liabilities ... had been discharged"), mit der Folge, dass 129
130
131
EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, § 48; Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 113. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 71; Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, §53. EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 117. Der Gerichtshof hielt eine vom 16.8.1990 bis 3.3.1994 dauernde Abschiebehaft, während der über einen Asylantrag des Bf. und mehrere Anträge auf gerichtliche Entscheidung („judical review") entschieden wurde, für nicht unangemessen.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
249
die Auslieferung erst nach Verkündung des strafgerichtlichen Urteils erfolgt, fällt die gesamte Inhaftierungszeit bis zur Verkündung des Urteils unter Art. 5 Abs. 1(c), wenn die strafrechtlichen Ermittlungen die Grundlage für die Haftentscheidungen im Auslieferungsverfahren sind und das einzige von der Staatsanwaltschaft vorgebrachte Argument für die Aufrechterhaltung der Inhaftierung im Auslieferungsverfahren darstellen. Das gilt auch dann, wenn die Inhaftierung formal und ausschließlich auf Entscheidungen im Auslieferungsverfahren beruht („technically ... detained exclusively on the strength of orders made in the extradition proceedings"), vorausgesetzt, die noch nicht abgeschlossenen strafrechtlichen Ermittlungen dienen während des gesamten Zeitraums teilweise oder vollständig als Rechtfertigung für die Haftfortdauer, und die für die Auslieferung zuständigen nationalen Stellen haben die auf der Grundlage eines Auslieferungsersuchens angeordnete Inhaftierung über einen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten, zu dem die Untersuchungshaft im Zusammenhang mit dem Strafverfahren bereits aufgehoben worden war, und auf Gründe wie etwa einen „hinreichenden Verdacht für die Begehung einer Straftat" oder eine „Fluchtgefahr" gestützt, die man vernünftigerweise im Bereich des Art. 5 Abs. 1(c) prüft („reasons that are more appropriately examined in the context of Article 5 para. 1(c)"). Konsequenterweise beurteilt sich die Angemessenheit der Inhaftierungsdauer in diesem Fall ausschließlich nach Art. 5 Abs. 3.132 Der Bf. Scott war am 5.3.1990 aufgrund einer Strafanzeige wegen Vergewaltigung verhaftet worden. Nachdem ein Untersuchungsrichter auf Teneriffa am 8.3. („having regard to the circumstances of the case and to the existence of an international arrest warrant") die Untersuchungshaft wegen des Vergewaltigungsvorwurfs angeordnet hatte, verfügte am 23.3. ein für Auslieferungsverfahren zuständiger Untersuchungsrichter in Madrid die Inhaftierung des Bf. auf der Grundlage eines internationalen Haftbefehls und eines von den britischen Behörden angekündigten Auslieferungsersuchens. Ein spanisches Gericht entschied im Februar 1991 positiv über die Auslieferung des Bf. nach Großbritannien. Die Auslieferungsanordnung sollte jedoch erst nach Verbüßung einer wegen des Vergewaltigungsvorwurfs verhängten Strafe vollzogen werden. Am 6.3.1992 verfügte ein Gericht die vorläufige Freilassung des Bf., weil die nach spanischem Recht - grundsätzlich - zulässige Höchstdauer der Untersuchungshaft von zwei Jahren erreicht war. Aufgrund der im Auslieferungsverfahren ergangenen Haftanordnungen blieb der Bf. jedoch weiter inhaftiert. Am 17.3. verlängerte ein Gericht die Auslieferungshaft des Bf. um weitere zwei Jahre bis zum 23.3.1994. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihren Anträgen auf Haftfortdauer stets auf das gegen den Bf. in Spanien anhängige Strafverfahren hingewiesen. Aufgrund der zwischenzeitlich aus Finnland eingetroffenen neuen Beweise wurde am 25.8.1993 die erneute Inhaftierung des Bf. im Zusammenhang mit dem Strafverfahren angeordnet. Am 21.3.1994 wurde der Bf. wegen Urkundenfälschung verurteilt, vom Vorwurf der Vergewaltigung jedoch freigesprochen. Seine Auslieferung nach Großbritannien erfolgte am 27.3. Nach Ansicht des Gerichtshofs war für die Inhaftierung des Bf. zwischen dem 5.3.1990 und dem 21.3.1994 der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) einschlägig, weil die strafrechtlichen Er-
132
EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 51-52, 75.
250
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR mittlungen der Grund für die im Auslieferungsverfahren mehrfach beschlossene Haftfortdauer waren und die für das Auslieferungsverfahren zuständigen nationalen Stellen nach spanischem Recht berechtigt waren, die Auslieferung wegen des gleichzeitig anhängigen Strafverfahrens aufzuschieben. Die erneute strafrechtliche Inhaftierung nach dem 25.8.1993 im Zusammenhang mit dem nationalen Strafverfahren hielt der E G M R angesichts der ursprünglichen Strafanzeige, des Fluchtversuchs des Bf. bei der polizeilichen Festnahme, aufgrund der seit April 1993 vorliegenden neuen Beweise sowie der Vorstrafen des Bf. ebenfalls für rechtmäßig,133 Im Fall Kolompar war der Bf. im Mai 1981 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Mai 1983 richtete Italien ein Auslieferungsersuchen an Belgien, wo sich der Bf. zu diesem Zeitpunkt aufhielt und im Januar 1984 wegen Diebstahlsverdachts festgenommen wurde. Im März 1984 wurde dem Bf. u.a. ein von der italienischen Staatsanwaltschaft ausgestellter Vollstreckungshaftbefehl zugestellt. Aus der belgischen Zustellungsurkunde ging hervor, dass der Bf. in Hinblick auf seine Auslieferung inhaftiert würde („with a view to his extradition"). Einen Monat später hob ein Untersuchungsrichter die im Januar 1984 getroffene Haftanordnung auf. Der Bf. blieb jedoch wegen des gegen ihn geführten Auslieferungsverfahrens weiterhin inhaftiert. Wegen Diebstahls verurteilte ihn im Januar 1985 ein belgisches Gericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Dieses Urteil wurde im Mai 1985 rechtskräftig. Im Juni 1985 informierte der Justizminister den Bf., dass unter Anrechnung der Zeit seiner Inhaftierung seit dem 22.1.1984 die gegen ihn verhängte Haftstrafe mit Ablauf des 20.1.1985 als verbüßt anzusehen war. Der Bf. blieb bis zu seiner Auslieferung im September 1987 in belgischer Auslieferungshaft. Nach Ansicht des Gerichtshofs überschnitten sich die Untersuchungs- und Auslieferungshaft teilweise. Die Inhaftierung zwischen dem 22.1.1984 und dem 20.1.1985 fiel unter Art. 5 Abs. 1(a) und (c), die Auslieferungshaft zwischen dem 21.1.1985 und dem 25.9. 1987 unter Art. 5 Abs. 1(f)·134 Der Bf. Quirn hatte einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 gerügt. Er sei im Anschluss an eine gerichtliche Entscheidung vom 4.8.1989 nicht „unverzüglich" freigelassen worden, um der Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Auslieferungsverfahrens und damit seine weitere Inhaftierung zu ermöglichen. Darin sah der Bf. einen Missbrauch des Auslieferungsverfahrens zum Zwecke der strafrechtlichen Untersuchung in Frankreich. Nach Ansicht des Gerichtshofs verstieß die bis 10.7.1991 dauernde Auslieferungshaft gegen Art. 5 Abs. 1. Zwar konnte allein aus der Tatsache, dass strafrechtliche Untersuchungen und ein Auslieferungsverfahren parallel geführt wurden und der Bf. wenige Stunden nach seiner gerichtlich angeordneten Freilassung im Zusammenhang mit dem Auslieferungsbegehren festgenommen worden war, nicht auf einen Missbrauch des Auslieferungsverfahrens geschlossen werden. Der E G M R hielt jedoch die fast zweijährige Dauer der Auslieferungshaft für ungewöhnlich lang („unusually long) und aufgrund der im Verfahren aufgetretenen beträchtlichen Verzögerungen („delays of sufficient length") für unangemessen („excessive").135
133 134 135
EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 7-30, 35-39, 60, 65. EGMR, Kolompar ./. Belgien, Serie A Nr. 235-C, §§ 6-13. EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, §§ 7-20, 42-43, 47-49.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
3.
251
Beziehung zwischen dem Haftgrund und dem Ort der Unterbringung
Lässt sich eine Freiheitsentziehung auf einen Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 stützen, kann sich ein Konventionsverstoß gleichwohl aus einer Diskrepanz zwischen der Ratio des Haftgrundes und der Art und Weise der Freiheitsentziehung ergeben. Zwischen dem Grund für die Freiheitsentziehung und dem Ort sowie den Bedingungen der Unterbringung muss eine gewisse Beziehung bestehen („some relationship").136 Andererseits haben Anordnungen zur Vollstreckung einer Strafe („arrangements for implementing sentences") grundsätzlich keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1, obwohl sich auch bei ihnen insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Probleme bei der Einhaltung der Konvention ergeben können. Um eine solche für die Einhaltung des Art. 5 unbeachtliche Vollstreckungsanordnung handelt es sich, wenn ein Gericht den Beschuldigten wegen der Begehung von Drogendelikten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und zugleich anordnet, dass die Strafe wegen einer Drogenabhängigkeit in einer speziellen therapeutischen Einrichtung zu verbüßen ist. Muss der Verurteilte in Ermangelung einer therapeutischen Einrichtung die Strafe gleichwohl in einem gewöhnlichen Gefängnis absitzen, wo eine angemessene Behandlung seiner Drogenabhängigkeit nicht gewährleistet ist, berührt dies nicht die Rechtmäßigkeit der allein unter Art. 5 Abs. 1(a) fallenden Freiheitsentziehung, auch wenn ihm dadurch die Möglichkeit einer früheren Entlassung aus der Haft faktisch genommen wird.137 Der Bf. Bizzotto war im Mai 1991 wegen Drogenhandels „as a drug addict" zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zugleich hatte das Gericht seine Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung angeordnet, in der seine Drogenabhängigkeit behandelt werden konnte. Ein Berufungsgericht reduzierte die Freiheitsstrafe im Oktober 1992, ordnete aber ebenfalls die Unterbringung „in an appropriate prison or in α State hospital where he can receive treatment for drug addiction" an. Der Bf. wurde jedoch niemals in eine solche Einrichtung verbracht, sondern verbüßte die gesamte Freiheitsstrafe bis zu seiner Entlassung im Februar 1994 in einem gewöhnlichen Gefängnis, weil sich keine geeignete Einrichtung zur Behandlung seiner Drogenabhängigkeit fand. Drei Anträge auf vorzeitige Entlassung („released on licence") waren von den griechischen Gerichten im Februar und Mai 1992 zurückgewiesen worden, weil der Bf. ihrer Ansicht nach zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig von seiner Drogenabhängigkeit geheilt war und er mangels Unterbringung in einer speziellen Anstalt für Drogenabhängige nicht von den Vorschriften eines speziellen Gesetzes über eine vorzeitige Entlassung profitieren konnte. Die Inhaftierung des Bf. fiel trotz der im Urteil angesprochenen Drogenabhängigkeit unter Art. 5 Abs. 1(a), weil ihm gegenüber eine Strafe zum Zwecke seiner Bestrafung verhängt worden war („sentence ... for the purposes of punishment"). Die für die Unterbringungsanordnung maßgeblichen Vorschriften sah der EGMR lediglich als für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung unbeachtliche Vollstreckungsanordnungen an. 136
137
EGMR, Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 44; Bizzotto ./. Griechenland, Reports 1996-V, § 31; Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, § 46. EGMR, Bizzotto ./. Griechenland, Reports 1996-V, §§ 31-35.
252
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Anders hat der EGMR jedoch bei einer - dauerhaften - Unterbringung einer psychisch kranken Person entschieden, die grundsätzlich nur dann rechtmäßig iSv Art. 5 Abs. 1(e) ist, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder in einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird.138 Eine mehrmonatige vorläufige Unterbringung einer psychisch kranken Person in einem Gefängnis, das nicht den erforderlichen therapeutischen Anforderungen für eine Behandlung dieser Person genügt, kann nicht auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(e) erfolgen. Ist für die angeordnete Freiheitsentziehung insgesamt nur dieser Haftgrund - und nicht etwa zusätzlich auch Art. 5 Abs. 1(a) - einschlägig, liegt ein Konventionsverstoß gegen Art. 5 Abs. 1 vor, weil die Beziehung zwischen dem Zweck der Inhaftierung und den Bedingungen ihres Vollzuges fehlerhaft ist („proper relationship between the aim of the detention and the conditions in which it took place was therefore deficient").139 Ob diese Grundsätze allerdings auch für vorläufige dringliche Unterbringungen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gelten, erscheint eher fraglich. Weil zu diesem Zeitpunkt die Behandlung des Beschuldigten noch nicht im Vordergrund steht, sondern die Feststellung seiner Behandlungsbedürftigkeit das eigentliche Ziel der Unterbringung ist, dürfte zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Beziehung zwischen dem Ort und dem Zweck der Unterbringung noch nicht erforderlich sein. Dringliche strafprozessuale Unterbringungen nach Art. 5 Abs. 1 (e) - so man sie denn überhaupt auf diese Vorschrift stützen kann (s.o.) - dürfen deshalb auch in einem herkömmlichen Gefängnis erfolgen.
4.
Dokumentations- und Nachweispflicht bei Festnahmen und Freiheitsentziehungen
Die Festnahme einer Person hat zur Folge, dass ihr Schicksal von nun an in den Verantwortungsbereich der staatlichen Behörden fällt. Bereits der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörden die Festnahme und anschließende Inhaftierung einer Person gegenüber deren Angehörigen leugnen, kann zur Annahme eines gravierenden Verstoßes gegen Art. 5 führen („unacknowledged detention"). Wenn staatliche Stellen die Kontrolle und Herrschaftsgewalt über eine Person erlangen, müssen sie für deren Aufenthaltsort („whereabouts") und Wohlergehen („welfare") Sorge tragen. Um die Unauffindbarkeit der festgehaltenen Person zu vermeiden, sind effektive Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Urteile Kurt und Cakici lassen keinen Zweifel daran, dass Festnahmen einer umfassenden staatlichen Dokumentations- und Nachweispflicht unterliegen. Wie der EGMR ausdrücklich festgestellt hat, müssen die staatlichen Stellen das Datum, die Zeit und den Ort der Festnahme ebenso dokumentieren und aufbewahren wie den Namen der festgenommenen Person, die Gründe für ihre Festnahme und 138
139
E G M R , Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 44; Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, § 46 („in principle, the „detention" of a person as a mental health patient will only be „lawful" ... if effected in a hospital, clinic or other appropriate institution"). E G M R , Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, §§ 7 - 8 , 4 5 - 4 9 .
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
253
den Namen der die Festnahme durchführenden Personen. Diese Dokumentationspflicht setzt sich in der Haft fort. Der Aufenthalt inhaftierter Personen muss jederzeit nachvollziehbar sein, vor allem dann, wenn diese in eine andere Haftanstalt verlegt werden. Wird die Unauffindbarkeit der festgenommenen Person von einem ihrer Angehörigen oder von einer arideren Person plausibel behauptet, müssen die staatlichen Stellen unverzüglich eine effektive Untersuchung einleiten („prompt effective/meaningful investigation"). Die Anforderungen, die der Gerichtshof hier an die Vertragsstaaten stellt, liegen zu Recht auf einem hohen Niveau. Ein Konventionsverstoß gegen Art. 5 liegt bereits dann vor, wenn die Behörden keine glaubhafte und substantiierte Erklärung zum Aufenthaltsort oder weiteren Schicksal der festgenommenen Person geben können („offer any credible and substantiated explanation for the whereabouts and fate"). Eine der Bedeutung des Rechts auf Freiheit unangemessene Untersuchung führt nicht nur zu einem Verstoß gegen Art. 5, sondern hat regelmäßig auch einen Verstoß gegen das den Angehörigen der inhaftierten Person zustehende Beschwerderecht aus Art. 13 zur Folge. Wenn diese die Unauffindbarkeit der festgenommenen bzw. inhaftierten Person plausibel behaupten können, impliziert das Recht auf eine wirksame Beschwerde - neben der Zahlung einer angemessenen Entschädigung - die Einleitung und Durchführung einer gründlichen und effektiven Untersuchung.140
5.
Tötung der festzunehmenden Person
Der von Art. 2 geforderte Schutz des Lebens wirkt sich nicht nur allgemein auf die Ausgestaltung des Strafverfahrens aus, sondern spielt vor allem bei Festnahmesituationen eine wichtige Rolle. Wird die festzunehmende Person bei der Festnahme durch den Einsatz staatlicher Gewalt oder durch ein anderes dem Staat zurechenbares Verhalten getötet, so wirft dies Probleme hinsichtlich des in Art. 2 niedergelegten Schutzes von Menschenleben auf. Gemäß Art. 2 Abs. 2(b) wird die Tötung eines Menschen nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um jemanden rechtmäßig festzunehmen. Die Vorschrift ist aus der Retrospektive formuliert. Die Tötung der festzunehmenden Person steht unter einem strengen Verhältnismäßigkeitskorrektiv. Entschließen sich die staatlichen Stellen zur gewaltsamen Festnahme einer tatverdächtigen Person, so müssen die von den die Festnahme ausführenden Personen eingesetzten Mittel zur Erreichung dieses Ziels streng verhältnismäßig sein („force used ... strictly proportionate to the aim of protecting persons against unlawful violence"), wenn die unbeabsichtigte Tötung dieser Person mit der Konvention vereinbar sein soll. In diesem Zusammenhang hat der EGMR aus"•o E G M R , Kurt ./. Türkei, Reports 1998-III, §§ 124-126, 139-140 („capable of leading to the identification and punishment of those responsible and including effective access for the relatives to the investigatory procedure"). Der Sohn der Bf. war verschwunden, nachdem er von türkischen Sicherheitskräften festgehalten worden war. Vgl. auch: Cakici ./. Türkei, Reports 1999-IV, §§ 105-107; Syrkin ./. Russland, UzE v. 25.11.1999 (Art. 13 iVm Art. 5).
254
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
drücklich auch auf die subjektive Perspektive der Einsatzkräfte abgestellt. Die Anwendung von Gewalt zur Erreichung eines der in Art. 2 Abs. 2 genannten Ziele ist demnach gerechtfertigt, wenn die Einsatzkräfte sie zum Zeitpunkt ihrer Anwendung aus guten Gründen und redlicherweise für erforderlich halten, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass diese Prognose falsch war („based on an honest belief which is perceived, for good reasons, to be valid at the time but which subsequently turns out to be mistaken"). Andernfalls wären die Exekutivorgane bei der Ausübung ihrer staatlichen Pflichten derart eingeschränkt, dass sich dies unter Umständen nachteilig auf ihr Leben und das anderer Personen auswirken würde („unrealistic burden on the State and its law-enforcement personnel in the execution of their duty"). Neben dem Verhalten der die Festnahme ausführenden Beamten muss auch die Festnahme als solche in einer dem Lebensschutz angemessenen Art und Weise kontrolliert und organisiert werden, so dass der Rückgriff auf tödliche Gewalt so weit wie möglich vermieden wird („planned and controlled ... so as to minimise, to the greatest extent possible, recourse to lethal force"). Insbesondere die Informationen und Anweisungen an die Einsatzkräfte müssen das Recht auf Leben der festzunehmenden Person in angemessener Weise berücksichtigten („information and instructions ... [took] adequately into consideration the right to life").141 Wenn mit dem Einsatz von Schusswaffen bei einer Festnahme zu rechnen und überdies abzusehen ist, dass die Einsatzkräfte ihre Schusswaffen aufgrund der Umstände der Festnahme - etwa weil sie mit dem Auslösen einer Bombe rechnen - mit Tötungsabsicht bzw. sogar bis zum Tod des Verdächtigen einsetzen werden („use of firearms automatically involved shooting to kill"), müssen die Informationen und Hintergründe der Aktion um so genauer ausgearbeitet werden, bevor sie den Einsatzkräften mitgeteilt werden („exercise the greatest of care in evaluating the information"). 142 Je wahrscheinlicher der Einsatz tödlicher Gewalt bei einer Festnahme ist, desto sorgfältiger muss die von Art. 2 geforderte Planung der Festnahmeaktion selbst sein, damit ein späterer tödlicher Ausgang der Aktion den Bestimmungen der Konvention standhält. Aus der Entscheidung McCann wird man jedoch auch den Schluss ziehen können, dass sogar die gezielte Tötung der festzunehmenden Person unbedingt erforderlich iSv Art. 2 Abs. 2(b) sein kann, wenn von ihr anlässlich der Festnahme eine erhebliche Gewaltanwendung zu erwarten ist, die das Leben der Einsatzkräfte oder das unbeteiligter Dritter berührt, und die Aktion in einer Art. 2 entsprechenden Art und Weise vorbereitet ist. Im Fall McCann waren drei mutmaßliche Anhänger der IRA bei einer Festnahmeaktion in Gibraltar erschossen worden. Bei der Prüfung, o b die Tötung im konkreten Fall gerechtfertigt war, prüfte der E G M R die Festnahmesituation, insbesondere das Verhalten der getöteten Terroristen, die Häufigkeit der Schussabgabe und die Anzahl der tödlichen Schüsse. Er stellte eine Tötungsabsicht bei sämtlichen an der Festnahmeaktion beteiligten Soldaten fest und hob hervor, dass alle Soldaten die tödlichen Schüsse für erforderlich gehalten hatten, da sie entsprechend den ihnen gegebenen Informationen davon ausgingen, dass die Terroristen eine Bombe zünden wollten, die unzählige
141 142
EGMR, McCann u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, §§ 200-201. EGMR, McCann u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, §§ 211-212.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
255
Menschenleben gekostet hätte. Obwohl die drei erschossenen mutmaßlichen Terroristen zum Zeitpunkt der Festnahme weder bewaffnet noch im Besitz einer Bombe waren, verstieß das Verhalten der Soldaten („actions of the soldiers") nicht gegen Art. 2. Bei der Organisation der gesamten Aktion stellte der EGMR jedoch mehrere Unzulänglichkeiten und Fehleinschätzungen hinsichtlich des für die Festnahme ausgewählten Zeitpunkts und der genauen Prüfung der den Einsatzkräften mitgeteilten Informationen über die Umstände der Festnahme fest, so dass die Tötung nicht unbedingt erforderlich war.
6.
Einsatz von Privatpersonen bei der Festnahme und Inhaftierung/Schutz vor Repressalien durch Dritte
Art. 3 regelt in negativer Hinsicht bestimmte Behandlungsverbote und wendet sich mit den Verboten an alle staatlichen Stellen. In Verbindung mit der Bestimmung des Art. 1 entnimmt der E G M R der Vorschrift zudem positive staatliche Schutz- und Handlungspflichten. Entwickelt hat er diese Rechtsprechung anhand zahlreicher Entscheidungen, welche die Abschiebung von Personen aus einem Vertragsstaat der Konvention in einen Nichtvertragsstaat betrafen. Dort drohte den abzuschiebenden Personen möglicherweise eine mit Art. 3 unvereinbare Behandlung. Die diesbezüglichen Grundsätze wird man entsprechend anwenden müssen, wenn an einer Festnahme oder Unterbringung Privatpersonen beteiligt sind („requires States to take measures designed to ensure that individuals within their jurisdiction are not subjected to torture or inhuman or degrading treatment or punishment, including such ill-treatment administered by private individuals"). Einen solchen positiven staatlichen Schutz der physischen Integrität einer Person durch effektive Abschreckung hat der E G M R namentlich bei Kindern oder hilflosen Personen gefordert. Zu letzteren dürften im gewissen Rahmen auch festgenommene Personen gehören, wenn sie der vollständigen staatlichen Kontrolle unterliegen („children and other vulnerable individuals, in particular, are entitled to State protection, in the form of effective deterrence, against such serious breaches of personal integrity"). 143 Die staatlichen Stellen müssen deshalb sicherstellen, dass eine Person bei ihrer Festnahme und anschließenden Inhaftierung keiner mit Art. 3 unvereinbaren Behandlung durch private Dritte ausgesetzt wird. Hieraus ergeben sich konkrete Anforderungen an die Planung, den Umfang und die Ausführung von Festnahmen. Festnahmen und Vorführungen müssen so organisiert werden, dass die betroffene Person keinerlei Übergriffen oder Racheakten ausgesetzt wird. Jedenfalls bei inhaftierten Personen dürfte es nicht auf die Schwere der Übergriffe bzw. etwaiger Verletzungen ankommen. Eine inhaftierte Person ist auch in positiver Hinsicht vor jeder Art von Gewalt zu schützen. Werden beim Vollzug einer Untersuchungshaft nichtstaatliche Stellen oder Kräfte eingesetzt,
143
EGMR, A. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VI, § 22; vgl. ebenso: EGMR, H.L.R. ./. Frankreich, Reports 1997-III, § 40; X u. Y ./. Niederlande, Serie A Nr. 91, §§ 21-27; Stubbings u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-IV, §§ 62-64.
256
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
so muss die inhaftierte Person auch vor Übergriffen durch diese Personen wirksam geschützt werden.144 Das dürfte ebenso für drohende Übergriffe von Mithäftlingen gelten.
V.
Mitteilung der Gründe für die Festnahme und der erhobenen Beschuldigungen (Art. 5 Abs. 2)
Art. 5 Abs. 2 soll sicherstellen, dass eine festgenommene Person weiß, warum ihr die Freiheit entzogen wird. Ihr muss deshalb unverzüglich144" in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für die Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden („be informed promptly, in a language which he understands, of the reasons for his arrest and of any charge against him"/„doit etre informee, dans le plus court delai et dans une langue qu'elle comprend, des raisons de son arrestation et de toute accusation portee contre eile"). Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass eine festgenommene Person nur dann in der Lage ist, ein Haftprüfungsverfahren erfolgreich vorzubereiten und zu gestalten, wenn sie die ihr zur Last gelegten Beschuldigungen und die Gründe ihrer Festnahme kennt. Nicht zuletzt deshalb sieht der EGMR in der Mitteilungspflicht einen integralen Bestandteil des von Art. 5 normierten Schutzsystems.145 Zur Art und Weise, in der die Mitteilung erfolgen muss, hat der Gerichtshof bei der Unterbringung psychisch kranker Personen Stellung genommen. Danach verstößt es gegen die Konvention, wenn eine Person, die sich wegen ihrer geistigen Erkrankung freiwillig in einer Anstalt aufhält, im Rahmen einer Behandlungsmaßnahme zufallig erfahrt, dass sie aufgrund einer zwischenzeitlich ergangenen gerichtlichen Entscheidung
144
E G M R , A. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VI, § 22. Hier ging es um die Pflicht des Staates, eine Person vor einer mit Art. 3 unvereinbaren Behandlung durch eine Privatperson zu schützen. Der Bf. war im Alter von 9 Jahren von seinem Stiefvater mehrfach mit einem Rohrstock geschlagen worden. Diese Behandlung erreichte nach Ansicht des E G M R den für Art. 3 erforderlichen Schweregrad, wobei der Gerichtshof jedoch offenließ, in welche der drei Kategorien die Behandlung fiel. Weil das englische Recht eine „angemessene Züchtigung" als Rechtfertigungsgrund kannte, die Beweislast für eine darüber hinausgehende körperliche Misshandlung auf Seiten der Staatsanwaltschaft lag und die Jury den Stiefvater freigesprochen hatte, obwohl dieser die Behandlung des Bf. zugegeben hatte, war der E G M R der Ansicht, dass das englische Recht dem Bf. nicht den von Art. 3 geforderten Schutz gewährt hatte („law did not provide adequate protection to the applicant against treatment or punishment contrary to Article 3"). ,44a Die Arbeit wurde auf der Grundlage der seit 1999 umlaufenden, vorläufigen Neufassung der E M R K erstellt, die in Art. 5 Abs. 2 eine „unverzügliche" Mitteilung der Festnahmegründe verlangte. In der am 17.5.2002 bekannt gemachten Fassung der E M R K (BGBl. 2002 II 1053) spricht die Vorschrift nun von einer Mitteilung „innerhalb möglichst kurzer Frist". Da die deutsche Fassung keine Verbindlichkeit besitzt und sich inhaltlich keinerlei Abweichungen ergeben, wurde auf eine nachträgliche sprachliche Anpassung verzichtet. 145 E G M R , Fox, Campbell u. Hartley .1. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, § 40 („integral part of the scheme of protection").
257
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
zwangsweise untergebracht ist.146 Für strafprozessuale Festnahmen und Freiheitsentziehungen wird man der Entscheidung van der Leer den Grundsatz entnehmen können, dass die von Art. 5 Abs. 2 geforderte Mitteilung gegenüber der betroffenen Person ausdrücklich erfolgen muss. Wie bei Art. 6 Abs. 3(a) genügt eine vage Kenntnis oder ein informell erlangtes Wissen der festgenommenen Person von der Beschuldigung und den Festnahmegründen nicht. Von der Form her schreibt die Konvention weder eine mündliche noch eine schriftliche Mitteilung vor. Der EGMR hat daher sowohl schriftliche als auch mündliche Erklärungen ausreichen lassen. Der erforderliche Inhalt der Mitteilung ist im Lichte des Anspruchs auf eine gerichtliche Haftprüfung zu beurteilen (Art. 5 Abs. 4). In der Mitteilung müssen in einer einfachen, nicht technischen und verständlichen Sprache („simple, non-technical language") die essentiellen rechtlichen und tatsächlichen Gründe für die Festnahme mitgeteilt werden, so dass die festgenommene Person die Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung durch ein Gericht überprüfen lassen kann. Ob der Inhalt der Mitteilung ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. D i e F o r m u l i e r u n g „essential
legal and factual
grounds for his arrest" lässt
aber keinen Zweifel daran, dass die Mitteilung neben den rechtlichen Grundlagen für eine Festnahme auch deren tatsächliche Umstände enthalten muss. Nicht genügen kann deshalb ein pauschaler Hinweis, die Festnahme sei aufgrund einer speziellen, aktuell geschaffenen Gesetzeslage erfolgt („bare indication of the legal basis for the arrest").147 Dem Beschuldigten müssen zusätzliche Details bekannt gegeben werden. Ausreichend ist es aber, wenn ihm eine Kopie des Haftbefehls ausgehändigt wird, aus dem sich neben den Haftgründen auch Einzelheiten der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen ergeben („particulars of the charges"). Die genaue Angabe der konkreten strafrechtlichen Bestimmung, gegen die der Beschuldigte verstoßen haben soll, verlangt der EGMR offensichtlich nicht. Es genügt, wenn das zur Last gelegte Delikt namentlich benannt und das strafrechtlich relevante Verhalten näher dargelegt wird. Art. 5 Abs. 2 verlangt auch nicht die Mitteilung eines bestimmten Beweismittels, welches - nach Ansicht des Beschuldigten - Anlass für die Strafverfolgung war.148 Dem Bf. Lamy waren Konkurs- und Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt worden. Ein Untersuchungsrichter hatte einen Haftbefehl erlassen, der dem Bf. in Kopie ausgehändigt worden war. Auf der Rückseite wurden Zeit, Ort und die näheren Umstände der dem Bf. zur Last gelegten Taten beschrieben. Dieser rügte einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2, da er keine Kenntnis von einem Bericht seines Unternehmens hatte, auf dessen Grundlage seiner Ansicht nach das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren beruhte. Seine Verteidigung im Haftprüfungsverfahren habe er deshalb nicht effektiv vorbereiten können. Nach Ansicht des EGMR war es ausreichend, dass dem Bf. neben der Befragung durch den Untersuchungsrichter eine Kopie des Haftbefehls ausgehändigt worden war, aus dem sich nicht nur die Gründe für den Freiheitsentzug, sondern auch Einzelheiten
144 147
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EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 30-31. EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §§ 41-43; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, §§ 76-78. EGMR, Lamy ./. Belgien, Serie Α Nr. 151, § 32.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
der Beschuldigungen ergaben. Auf den Umstand, dass die Kopie des Haftbefehls nicht unterschrieben war und der Haftbefehl ein falsches Datum trug, ging der EGMR überhaupt nicht ein. Mit der Forderung nach einer unverzüglichen Mitteilung enthält Art. 5 Abs. 2 neben der inhaltlichen auch eine zeitliche Schutzkomponente. Zur Wahrung der Unverzüglichkeit ist es nicht erforderlich, dass die Mitteilung der Festnahmegründe und Beschuldigungen bereits zum Zeitpunkt der Festnahme vollständig durch den festnehmenden Beamten erfolgt („need not be related in its entirety ... at the very moment of the arrest"). Sie kann auch in einer sich der Festnahme anschließenden Vernehmung erfolgen, wenn bis dahin keine mit der geforderten Unverzüglichkeit unvereinbare Zeitspanne verstrichen ist. 149 Der E G M R hält es für ausreichend, wenn der festgenommenen Person die Gründe ihrer Festnahme während der Vernehmung zur Kenntnis gebracht werden („sufficiently brought to ... attention"). O b von einer ausreichenden Kenntnisnahme ausgegangen werden kann, hängt nicht nur vom Inhalt der Vernehmung ab, sondern ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände der Festnahme und nachfolgenden Vernehmungen zu ermitteln, wobei auch das persönliche Umfeld der festgenommenen Person zu ermitteln ist. Ausreichend zur Kenntnis gebracht werden die Gründe einer Festnahme, wenn es für die festgenommene Person offensichtlich ist, dass sie über ihre mögliche Beteiligung an einer Straftat befragt wird („apparent ... being questioned about ... possible involvement"), unabhängig davon, ob zu dieser Straftat eine eingehende Untersuchung erfolgt. 150 Dass die Strafverfolgungsbehörden der festgenommenen Person nur die Tatumstände und Verdachtsmomente mitteilen können, die ihnen zum Zeitpunkt der Festnahme bekannt sind, liegt in der Natur der Sache. O b die mitgeteilten Umstände f ü r eine Festnahme ausreichen, ist kein Problem des Art. 5 Abs. 2, sondern bei der Beurteilung der Hinreichendheit des Tatverdachts iSv Art. 5 Abs. 1(c) zu beachten. 1 " Aufgrund der vom Gerichtshof entschiedenen Fälle wird man davon ausgehen können, dass eine Zeitspanne von 4 Stunden und 35 Minuten zwischen der Festnahme und der von Art. 5 Abs. 2 geforderten Mitteilung noch als unverzüglich angesehen werden kann. Im Fall Steel hat der Gerichtshof sogar einen Zeitraum von mehr als 10 Stunden noch als angemessen iSv Art. 6 Abs. 3(a) angesehen. Dort war aber die Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 nicht gerügt worden. D a der Gerichtshof die Festnahmesituation zumindest als einen Aspekt bei der Bewertung der Angemessenheit zu berücksichtigen hatte,
149 150
151
EGMR, Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §§ 40-42. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 77 („never any probing examination ... because of ... declining to answer any questions at all beyond giving her name"). Vgl. hierzu die Entscheidung des EGMR v. 7.12.1999 über die (teilweise) Unzulässigkeit der Beschwerde Kerr ./. Vereinigtes Königreich: „The fact that these charges were notified to him only a week after his arrest does not in itself raise an issue of promptness. The requirement of promptness comes into play if there is a charge against the applicant. Facts raising a suspicion capable of grounding an arrest need not be of the same level as those necessary to justify bringing a charge against the accused, which comes at the next stage of the criminal investigation. The applicant remained silent and the police were unable to make any headway in pursuing their suspicions against him. As a result, it was only at the end of the period of detention that they could decide whether to charge him."
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
259
steht zu vermuten, dass er diese Zeitspanne auch als mit Art. 5 Abs. 2 vereinbar angesehen hätte.152 I m Urteil van der Leer hielt der E G M R einen Zeitraum von 10 Tagen f ü r die Mitteilung einer gerichtlichen Entscheidung über die zwangsweise U n t e r b r i n g u n g einer sich bereits wegen ihrer Geisteskrankheit freiwillig in einer Einrichtung befindlichen Person f ü r nicht m e h r unverzüglich.153 W ä h r e n d der Terrorwelle in N o r d i r l a n d in den Jahren 1971/72 wurde ohne A n g a b e weiterer Details zumeist nur die aktuell geltende Notstandsgesetzgebung („emergency legislation") als G r u n d l a g e einer F e s t n a h m e mitgeteilt. Die Bf. Fox, Campbell u. Hartley hatten lediglich erfahren, dass ihre Festnahme auf § 11 I des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1978 basierte, d a sie als Terroristen verdächtigt würden. Die Angabe der rechtlichen G r u n d l a g e f ü r die Festnahme reichte f ü r die Zwecke des Art. 5 Abs. 2 nicht aus. I m Anschluss an die Festnahme waren die Bf. von der Polizei über ihre Beteiligung a n bestimmten strafbaren H a n d l u n g e n u n d zu ihrer Mitgliedschaft in bestimmten Organisationen befragt worden. D a d u r c h waren sie nach Ansicht des Gerichtshofs in die Lage versetzt worden, den G r u n d ihrer Festnahme zu verstehen. Eine Zeitspanne von 4 Stunden u n d 35 Minuten bzw. von 3 Stunden u n d 10 Minuten zwischen der Festnahme u n d dem Beginn der Vernehmung war konventionsgemäß. 1 5 4 Auch im Urteil Murray sah der Gerichtshof die auf die rechtliche G r u n d l a g e f ü r die Festnahme beschränkte Angabe nicht als ausreichend an. Vor den nationalen Gerichten hatte die Bf. angegeben, über ihre Brüder u n d den zu ihnen bestehenden K o n t a k t , nicht aber über W a f f e n k ä u f e oder sonstige Straftaten befragt worden zu sein. Weil Fragen zu „ G e l d " u n d „ A m e r i k a " gestellt worden seien u n d allen an der Vernehmung beteiligten Personen b e k a n n t gewesen sei, dass zwei Brüder der Bf. kurze Zeit vor der Festnahme wegen W a f f e n k ä u f e n f ü r die I R A in den U S A verurteilt worden waren, ging der E G M R davon aus, dass es f ü r die Bf. offensichtlich gewesen sein musste, dass sie zu ihrer möglichen Beteiligung a n der S a m m l u n g von Geldern f ü r W a f f e n k ä u f e der I R A befragt wurde, auch wenn eine dahingehende eingehende U n t e r s u c h u n g - wegen ihrer Weigerung, Fragen zu beantworten - nicht stattgefunden hatte. Der Gerichtshof war d a h e r der Ansicht, dass der Bf. die G r ü n d e f ü r ihre Festnahme in ausreichendem M a ß e während der Vernehmung mitgeteilt worden waren, u n d dass der Zeitraum zwischen der F e s t n a h m e (7.00 U h r ) u n d d e m E n d e der Vernehmung (8.20-9.35 U h r ) noch als unverzüglich angesehen werden konnte. D e m Bf. Kerr war bei seiner Festnahme lediglich deren rechtliche Grundlage bekanntgegeben worden. In den folgenden sieben Tagen seiner Polizeihaft war er insgesamt 39 mal zu einem Bombenanschlag, seiner Mitgliedschaft in der I R A sowie zu den in seinem H a u s beschlagnahmten Gegenständen befragt worden. A u f g r u n d der Häufigkeit der Vernehmungen ging der E G M R davon aus, dass der Bf. „ within a few hours" nach seiner Festnahme über die H a f t g r ü n d e u n d die Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt worden war. 155
152 153 154
155
Vgl. EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 30-31. EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 81, 82, 198; Fox, Campbell u. Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §§ 9-10, 13-14,41-43. EGMR, Kerr ./. Vereinigtes Königreich, Entscheidung v. 7.12.1999.
260
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Nur geringe Bedeutung für Strafverfahren hat das Urteil Keus, das die Verlängerung einer neben einer Freiheitsstrafe angeordneten Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik betraf. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung befand sich der Bf. auf der Flucht. Er hatte zuvor aber eine Anwältin mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt. Von der Verlängerung seiner Unterbringung erfuhr er erst zwölf Tage später, als er sich telefonisch bei der Klinik meldete, sowie bei seiner Rückkehr in die Klinik etwas mehr als 1 '/2 Monate nach der Entscheidung. Der EGMR sah keinen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2, obwohl die Verlängerung der Unterbringung der Anwältin nicht mitgeteilt worden war.156 Die Entscheidung Keus dürfte strafprozessual allenfalls dann von Bedeutung sein, wenn einem Beschuldigten nach seiner Festnahme die Flucht gelingt, bevor ihm die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen und die Gründe seiner Festnahme mitgeteilt werden können. In diesem Fall genügt es den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2, wenn die entsprechende Mitteilung erst im Anschluss an eine erneute Festnahme erfolgt. Eine zwischenzeitliche Mitteilung gegenüber einem Verteidiger ist dann nicht erforderlich.157 Obwohl die zeitliche Komponente des Art. 5 Abs. 2 auf eine einmalige Pflicht zur Mitteilung schließen lässt - nämlich unverzüglich nach der Festnahme kann die Vorschrift den von ihr bezweckten Schutz nur entfalten, wenn die Mitteilung bei jeder haftverlängernden Entscheidung erfolgt, durch die sich der Haftgrund oder die Beschuldigungen ändern. 158 Das Recht auf Unterrichtung aus Art. 6 Abs. 3(a), das dem Beschuldigten in erster Linie eine effektive Verteidigung garantieren will, ist kein gleichwertiger Ersatz. Da es nur auf die Beschuldigung abstellt, ist bei haftverlängernden Entscheidungen eine Unterrichtung des Beschuldigten nur dann erforderlich, wenn sich Art und Grund der Beschuldigung ändern, nicht jedoch bei einer Änderung des Haftgrundes. Die Pflicht zur Mitteilung des Inhalts einer haftverlängernden Entscheidung folgt aber in jedem Fall aus Art. 5 Abs. 4, weil der Beschuldigte nur so in die Lage versetzt wird, einen erfolgversprechenden Haftprüfungsantrag zu stellen. Es stellt sich die Frage, ob die von Art. 5 Abs. 2 geforderte Mitteilung auch dann erforderlich ist, wenn die betreffende Person wegen desselben strafrechtlich relevanten Verhaltens kurze Zeit vor ihrer Festnahme bereits einmal oder gar mehrfach festgenommen worden ist. Unter Berücksichtigung des mit der Bestimmung des Art. 5 Abs. 2 bezweckten Schutzes muss man davon ausgehen, dass die Vorschrift absoluten Charakter besitzt und eine Mitteilung bei jeder Festnahme zu erfolgen hat. Sehr problematisch in diesem Zusammenhang ist daher das Urteil Raninen. Der Bf. war zwischen dem 24.4. und 29.5.1992 bereits dreimal wegen Wehrdienstverweigerung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Am 18.6. wurde er erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die jedoch zu einem späteren Zeitpunkt vollstreckt werden sollte. Im Anschluss an die Gerichtsverhandlung wurde er zurück in das Gefängnis gebracht, in dem er vor der Verhandlung in Untersuchungshaft gesessen hatte. Nach
156 157 158
EGMR, Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 22. Siehe auch: FroweinlPeukert Art. 5 Fn. 220 a.E. FroweinlPeukert Art. 5 Rn. 103; Trechsel EuGRZ 1980, 514, 528.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
261
seiner zwischenzeitlichen Entlassung wurden ihm noch im Hof des Gefängnisses Handschellen angelegt. Zugleich wurde er von seiner Festnahme informiert und anschließend in ein Militärlager verbracht, wo er am 19.6. erneut verhaftet wurde („re-arrested"). Der Bf. hatte einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 gerügt, weil er nicht über die Gründe seiner Festnahme vom 18.6. informiert worden sei. Die finnische Regierung hatte vorgebracht, dass dem Bf. im Anschluss an seine Freilassung aus dem Gefängnis keinerlei Festnahmegründe oder Beschuldigungen hätten mitgeteilt werden können, weil er zu diesem Zeitpunkt keine neuen strafbaren Handlungen begangen habe. Der EGMR hielt eine Überprüfung des Sachverhalts anhand von Art. 5 Abs. 2 nicht für erforderlich, weil er bereits einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 angenommen hatte.159 Der E G M R hatte im Urteil Raninen einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 angenommen, weil bereits nach finnischem Recht kein Grund für die Festnahme ersichtlich war. Gerade in dieser Konstellation tritt aber der Schutzzweck des Art. 5 Abs. 2 in den Vordergrund. Die Vorschrift normiert die Pflicht des Staates, den Haftgrund gegenüber der festgenommenen Person zu bezeichnen, damit diese erkennen kann, ob die konkrete Freiheitsentziehung mit der Konvention vereinbar ist und sie ggf. ein Haftprüfungsverfahren einleiten kann. Mittelbar zwingt sie die Ermittlungsbehörden auch dazu, sich vor der Festnahme über deren Grund klar zu werden. Es wäre deshalb gerade im vorliegenden Fall, wo überhaupt kein Grund für die Inhaftierung ersichtlich war, geboten gewesen, einen zusätzlichen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 festzustellen. Dass die von Art. 5 Abs. 2 geforderte Mitteilung auch bei der Unterbringung psychisch Kranker iSv Art. 5 Abs. 1(e) erforderlich ist, hat der Gerichtshof bereits im Urteil van der Leer klargestellt. Obwohl die in Art. 5 Abs. 2 verwendeten Worte „any charge" bzw. „toute accusation" auf einen rein strafrechtlichen Bezug hindeuten („criminal-law connotation"), muss die Vorschrift in Hinblick auf Ziel und Zweck des Art. 5 autonom ausgelegt werden. Sie erstreckt sich über den Bereich strafrechtlicher Maßnahmen („criminal-law measures") hinaus, die nur einen möglichen Anwendungsfall der Vorschrift darstellen. Der enge Zusammenhang zwischen Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 spricht ebenfalls für diese Auslegung. Jede Person, die das Recht hat zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet, kann von diesem Recht nur dann effektiven Gebrauch machen, wenn sie unverzüglich und angemessen von den Gründen ihrer Freiheitsentziehung informiert wird. Wie der E G M R zu Recht hervorhebt, unterscheidet Art. 5 Abs. 4 bei Personen, deren Freiheit entzogen worden ist, ebenfalls nicht danach, ob sie festgenommen oder untergebracht sind („arrested or detained"). 160 Für das Strafverfahren hat das zur Folge, dass auch gemäß Art. 5 Abs. 1(e) dringlich untergebrachte Personen einen Informationsanspruch gemäß Art. 5 Abs. 2 haben. Hinsichtlich der von Art. 5 Abs. 2 geforderten Mitteilung in einer für die festgenommene Person verständlichen Sprache wird man sich an den Vorgaben zu Art. 6 Abs. 3(a)
159
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EGMR, Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, §§ 7-16,48-51; zur Bedeutung des Art. 5 Abs. 2 im Kontext des Art. 5: Trechsel StV 1992, 187, 190. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 27-28.
262
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
orientieren können. Da Art. 5 Abs. 2 weder für die Mitteilung noch für die Übersetzung eine konkrete Form vorschreibt, dürften sowohl mündliche als auch schriftliche Übersetzungen einer mündlichen oder schriftlichen Mitteilung genügen. Ein Formerfordernis kann sich auch hier aus dem Gedanken der Gleichbehandlung ergeben. Sieht das nationale Recht eine schriftliche Mitteilung vor, so muss auch die Übersetzung in einer für den sprachunkundigen Beschuldigten verständlichen Form schriftlich erfolgen. Wegen der in der Praxis kaum realisierbaren unverzüglichen Übersetzung einer schriftlichen Mitteilung wird man lediglich fordern können, dass die schriftliche Übersetzung der unverzüglichen (vorläufigen) mündlichen Übersetzung ebenfalls unverzüglich nachfolgen muss.161
VI.
Verfahrensrechtliche Anforderungen an eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c)
Auch die Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 will vor den Risiken einer willkürlichen Freiheitsentziehung schützen. Sie normiert ein fundamentales Menschenrecht, nämlich den Schutz des Individuums gegen die willkürliche Beschränkung seines Rechts auf Freiheit durch den Staat. Die gerichtliche Kontrolle staatlicher Eingriffe („judicial control of interferences by the executive") in das Recht auf Freiheit sieht der Gerichtshof als ein essentielles Merkmal der Rechtsstaatlichkeit an („judicial control is implied by the rule of law").162 Die in Art. 5 Abs. 3 genannten Verfahrensgarantien gelten nur für Festnahmen und Freiheitsentziehungen nach Art. 5 Abs. 1(c). Dies bedeutet jedoch nicht, dass den übrigen Haftgründen des Art. 5 Abs. 1 keinerlei verfahrensrechtliche Garantien immanent sind. Schon im Urteil Engel hat der EGMR hervorgehoben, dass auch eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(a) die Einhaltung angemessener Verfahrensgarantien verlangt („adequate judicial guarantees"/„garanties judiciaires adequates").163 Das ist schon deshalb wichtig, weil die Konvention für die Anordnung einer Festnahme oder Freiheitsentziehung keinen Richtervorbehalt normiert.
161
162
163
Die von Art. 5 Abs. 2 geforderte Mitteilung der Haftgründe in einer für die festgenommene Person verständlichen Sprache ist in der StPO nur unzureichend umgesetzt. So sieht § 114a StPO zwar eine Bekanntgabe des Haftbefehls vor. Eine Übersetzungspflicht ergibt sich aber nur aus den lediglich justizintern verbindlichen RiStBV Nr. 181 II; hierzu: KleinknechtlMeyer-Goßner § 114a Rn. 5; kritisch zur „Umsetzung" des Art. 5 Abs. 2: Kühl ZStW 100 (1988) 601, 612. E G M R , Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 58; Brannigan u. McBride./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 258-B, § 48; Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 53; Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, §44. E G M R , Engel./. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 68; vgl. auch: E G M R , De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12. Welche Garantien erforderlich sind, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, unter denen das Verfahren stattfindet.
263
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
1.
Vorführung des Festgenommenen (Art. 5 Abs. 3 Satz 1)
Jede Person, die von einer Festnahme oder Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(c) b e t r o f f e n ist, m u s s unverzüglich nehmung richterlicher
einem Richter
Aufgaben ermächtigten
oder einer anderen gesetzlich
zur
Wahr-
Person vorgeführt werden („shall be b r o u g h t
promptly before a judge or other officer authorised by law to exercise judicial power"/ „doit etre aussitot traduite devant un juge ou un autre magistrat habilite par la loi a exercer des fonctions judiciaires"). Die von Art. 5 Abs. 3 geforderte Vorführung sieht der EGMR als gegenüber dem Recht auf Einleitung einer gerichtlichen Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 grundlegend verschieden an („safeguard distinct"). Deshalb kann auf die Vorführung nicht mit dem Argument verzichtet werden, das nationale Recht gewähre dem Beschuldigten ein Haftprüfungsrecht iSv Art. 5 Abs. 4. Aus diesem Ansatz folgt ein Anspruch der festgenommenen Person auf automatische Vorführung.164 Die Vorführung der festgenommenen Person ist auch dann erforderlich, wenn die Festnahme auf einer gerichtlichen Haftanordnung beruht, und sei diese auch in Gegenwart ihres Verteidigers ergangen.165 Im Fall McGoff hatte ein schwedisches Gericht im Oktober 1977 in Abwesenheit des Beschuldigten, aber in Gegenwart des gerichtlich bestellten Verteidigers einen Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte wurde erst im Juli 1979 in den Niederlanden festgenommen und am 24.1.1980 an Schweden ausgeliefert, wo er sogleich in ein Gefängnis verbracht und erst am 8.2.1980 einem Gericht vorgeführt wurde, das nach einer mündlichen Verhandlung Haftfortdauer anordnete. Der EGMR nahm einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 an, da die Vorführung des Bf. nicht unverzüglich erfolgt sei.
Aus der Tatsache, dass eine inhaftierte Person nicht angeklagt oder einem Gericht vorgeführt wird, kann allerdings nicht per se auf eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 geschlossen werden. Obwohl dem Wortlaut der Vorschrift so nicht zu entnehmen, ist es zwingend logisch, dass ein Konventionsverstoß nicht eintreten kann, wenn die inhaftierte Person unverzüglich freigelassen wird, bevor eine gerichtliche Kontrolle der Inhaftierung erfolgt oder möglich ist. Wird die inhaftierte Person dagegen nicht unverzüglich nach ihrer Festnahme freigelassen, hat sie Anspruch darauf, unverzüglich vorgeführt zu werden.166
a)
Richter oder andere gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigte Person167
Welche Eigenschaften die Stelle haben muss, um die Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 zu erfüllen, beurteilt sich anhand einer Zusammenschau von Art. 5 Abs. 1(c) und Art. 5
164 165 166
167
EGMR, Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, §§49, 53. EGMR, McGoff ./. Schweden, Serie A Nr. 83, §§ 12-13, 27. EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 52; Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 58. Zur sprachlichen Erleichterung wird im folgenden der Begriff „ermächtigte Person" benutzt.
264
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Abs. 3. Da beide Vorschriften eine Einheit bilden, stellt die zuständige Gerichtsbehörde, von der Art. 5 Abs. 1(c) spricht, nur ein abgekürztes Synonym für die in Art. 5 Abs. 3 genannten Stellen dar. Die Vertragsstaaten haben die Wahl, ob sie ein Verfahren vorsehen, in dem der Festgenommene unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt wird.168 Aus der vom EGMR in der Entscheidung Lawless gewählten Formulierung hätte man noch schließen können, dass nur die Vorführung vor einen Richter den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 genügt („devant un juge").169 Die Gleichwertigkeit des Richters und der ermächtigten Person hat der Gerichtshof in späteren Entscheidungen jedoch ausdrücklich klargestellt. Während das Verständnis des Begriffs Richter in vielen Strafrechtsordnungen Europas nahezu identisch ist und keine allzu großen Schwierigkeiten mit sich bringt, ist die zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigte Person einer weiten Interpretation zugänglich. Die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 genannte Wahlmöglichkeit setzt zwingend logisch voraus, dass beide Begriffe nicht identisch sind. Da die Konvention sie jedoch in einem Satz erwähnt, ist davon auszugehen, dass beide Stellen ähnliche Aufgaben wahrzunehmen haben.170 Bei einer Rückschau auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift lässt sich erkennen, dass mit der Formulierung beabsichtigt war, dem englischen Magistrate, der nach englischem Verständnis kein Richter ist, die Zuständigkeit zur Einvernahme festgenommener Personen zu erhalten.171 Ob eine Stelle gesetzlich ermächtigt ist, richtet sich nach dem innerstaatlichen Recht.172 Wegen des besonderen Vertrauens, welches die mit einer Vorführung und der Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung betraute Stelle in der Öffentlichkeit erwecken muss, bedarf es klar erkennbarer gesetzlicher Regelungen, aus denen das zuständige Organ der Rechtspflege ermittelt werden kann. Eine bestehende Praxis, die rein interne Bindungswirkung hat und von der jederzeit legal abgewichen werden kann, erfüllt die Voraussetzungen einer gesetzlichen Ermächtigung jedenfalls nicht.173 Der EGMR hatte bisher wenig Gelegenheit, die näheren Anforderungen an die gesetzliche Ermächtigung zu konkretisieren. Man darf allerdings vermuten, dass die im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 aufgestellten Qualitätskriterien - die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Gesetzes - auch hier gelten. Die beiden Elemente Person und richterliche Aufgaben müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Eine Analyse ihres Wortlauts ergibt, dass der Begriff „magistrat" im Französischen und mehr noch der englische Begriff „officer" eine weitergehende Bedeutung als „juge" bzw. „judge" haben. Der EGMR hat darauf hingewiesen, dass die Ausübung richterlicher Aufgaben nicht notwendigerweise auf die Beurteilung rechtlicher
168 165 170 171
172 173
EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 27, 29. EGMR, Lawless ./. Irland, Serie A Nr. 3, § 9. EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 27. Hierzu: Pieth EuGRZ 1980, 208, 209 mwN; Haller in: FS für Huber, S. 563, 571; Trechsel StV 1992, 187, 193. Vgl. EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 26. EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 48.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
265
Streitigkeiten beschränkt ist und in vielen Vertragsstaaten Richter und Beamte richterliche Aufgaben ausüben, ohne dabei Recht zu sprechen. Als Beispiele nennt er neben Staatsanwälten vor allem Untersuchungs- bzw. Ermittlungsrichter. Bei einer streng am Wortlaut orientierten Auslegung der Begriffe „magistral" und „officer" könnte man also neben Richtern auch Staatsanwälte als ermächtigte Personen ansehen. Dass dies dem mit Art. 5 Abs. 3 bezweckten Schutz widerspricht, ist offensichtlich, weil viele Festnahmen gerade auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgen und damit einer externen Kontrolle entzogen wären. Eine systematische Interpretation von Art. 5 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 4 führt zu dem Ergebnis, dass nicht nur das bei der Vorführung angewandte Verfahren, sondern auch die ermächtigte Person selbst Garantien aufweisen muss, die der Bedeutung der von ihr zu treffenden freiheitsentziehenden Entscheidung entsprechen. Wenngleich die ermächtigte Person also nicht mit einem Richter identisch sein muss, so hat sie der festgenommenen Person gleichfalls Garantien zu bieten, die den ihr übertragenen richterlichen Aufgaben angemessen sind. Obwohl nur Art. 5 Abs. 4 ausdrücklich die Einschaltung eines Gerichtes verlangt, d.h. einer Stelle, die von der Exekutive und den Parteien des Verfahrens unabhängig ist, und obwohl die wahrzunehmenden richterlichen Aufgaben im Gegensatz zu den Aufgaben eines Gerichts iSv Art. 5 Abs. 4 keinen urteilenden Charakter haben („caractere juridictionnel"), legt der EGMR auch bei der ermächtigten Person größten Wert auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Dies zu Recht, denn ohne die Unabhängigkeit der ermächtigten Person von der Exekutive und den an der Vorführung beteiligten Personen ist der mit der Vorführung bezweckte Schutz kaum zu realisieren („independent of the executive and of the parties").174 bJ
Unabhängigkeit!
Unparteilichkeit
(1) Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten Schwierig zu beurteilen ist die Unabhängigkeit der ermächtigten Person von den Verfahrensbeteiligten, wenn eine staatliche Stelle in derselben Angelegenheit zunächst als Untersuchungsbehörde tätig wird und später - möglicherweise - Aufgaben einer Strafverfolgungsbehörde wahrnimmt. Die Kombination einer Untersuchungs- und Strafverfolgungsfunktion („functions of investigation and prosecution") ist mit der von Art. 5 Abs. 3 geforderten Unabhängigkeit und Unparteilichkeit regelmäßig nicht vereinbar. Die Unabhängigkeit ist bei einer Stelle oder Behörde, die im Rahmen ihrer Untersuchungsfunktion („process of investigation") über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung entscheiden soll, jedenfalls dann nicht gegeben, wenn sie im späteren Verlauf des Verfahrens zur Anklagebehörde („act as prosecuting counsel") oder zur Vornahme staatsanwaltlicher Ermittlungen veranlasst werden kann.175 Die Frage, ob ein Amts-
174
175
EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 27-31; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 49; vgl. auch De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 76; De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 47; ebenso in Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift: Trechsel StV 1992, 187, 194. EGMR, Pauwels ./. Belgien, Serie A Nr. 135, § 37-38.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
träger auch dann noch eine Person iSv Art. 5 Abs. 3 sein kann, wenn er im konkreten Fall zeitlich aufeinanderfolgend eine Untersuchungs- und Strafverfolgungsfunktion auf sich vereinigt, hatte der EGMR im Urteil Schiesser noch ausdrücklich offen gelassen. 176 Obwohl er diesen Umkehrschluss nicht ausdrücklich zieht, musste man bereits aus den Formulierungen dieses Urteils schließen, dass die tatsächliche Übernahme einer Anklagetätigkeit mit einer richterlichen Funktion nicht vereinbar ist.177 In den Fällen Schiesser und Huber ging es um die Frage, ob der im schweizer Kanton Zürich tätige Bezirksanwalt („procureur de district") eine Person iSv Art. 5 Abs. 3 Satz 1 war. Zuständigkeit und Rechtsstellung des Bezirksanwalts waren im kantonalen Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. Die Bezirksanwälte wurden in einer allgemeinen Volksabstimmung für die Dauer von drei - ab 1976 vier - Jahre gewählt. Wählbar in dieses Amt war jeder Bürger, faktisch wurden jedoch meist Personen mit einer juristischen Ausbildung gewählt. Der Bezirksanwalt war dem „Oberstaatsanwalt" („Principal Public Prosecutor") untergeordnet, der seinerseits der Aufsicht der Justizdirektion und der Oberaufsicht des Züricher Regierungsrats unterstand. Die Untersuchung einer Straftat fiel in die Kompetenz der Staatsanwaltschaft. Der Bezirksanwalt führte die Untersuchung, außer in den Fällen, in denen die kantonale Strafprozessordnung die Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft oder einem Richter zuwies. Er konnte im Rahmen der Untersuchung einen „Verhaftsbefehl" erlassen und hatte den Verhafteten innerhalb von 24 Stunden nach der Festnahme anzuhören. Wurde das Verfahren nicht mangels Tatverdacht eingestellt, übernahm der Bezirksanwalt beim Einzelrichter in Strafsachen sowie für kleinere und mittlere Delikte vor dem Bezirksgericht („Tribunal de district") die Rolle der Anklagebehörde und eröffnete das Hauptverfahren, indem er unter Berücksichtigung der be- und entlastenden Umstände die Anklageschrift verfasste. Zudem konnte er Strafbefehle bis zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat erlassen. Vor Gericht besaß er den Status einer Verfahrenspartei („party in the proceedings"), war aber nur bei einer bestimmten zu erwartenden Strafhöhe oder der Erforderlichkeit weiterer Untersuchungen zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet.178 Im Urteil Schiesser sah der EGMR in der Tätigkeit des Bezirksanwaltes nicht die Wahrnehmung einer Strafverfolgungsfunktion. Dabei legte er eine konkrete Betrachtung zugrunde und prüfte, welche Tätigkeit der Bezirksanwalt konkret ausgeführt hatte, nicht aber, welche Aufgabe er nach dem Gesetz hätte wahrnehmen dürfen oder gar müssen. Außer Betracht blieb z.B. die Tatsache, dass er zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht wissen konnte, ob am Ende er oder die Staatsanwaltschaft Anklagebehörde und somit Partei des Prozesses würde. Selbst die im konkreten Fall getroffene Entscheidung über die Einleitung eines Strafverfahrens und die Anordnung der Untersuchungshaft sprachen nach Ansicht des Gerichtshofs nicht für eine strafverfolgende Tätigkeit des Bezirksanwalts, weil dieser bei den anschließend von ihm geführten Untersuchungen gesetzlich verpflichtet gewesen sei, sowohl die belastenden als auch die entlastenden Tatsachen mit gleicher Sorgfalt zu erforschen. Zudem habe er weder die Anklageschrift verfasst, noch sei er als Vertreter vor Gericht aufgetreten. 176 177 I7S
EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 34. So auch: Pieth EuGRZ 1980, 208, 209. EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 13-14, 15, 18; Huber ./. Schweiz, Serie A Nr. 188, §§20, 22-23, 25-28.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Da er lediglich die Funktion eines Untersuchungsorgans („organe d'instruction") wahrgenommen habe, sei er eine Person iSv Art. 5 Abs. 3 gewesen. Die Wende zu der mittlerweile maßgeblichen abstrakten Betrachtungsweise vollzog der Gerichtshof in den Entscheidungen zum niederländischen und belgischen Militärstrafverfahren. Im Urteil De Jong, Baijet und van den Brink waren zwei Wehrpflichtige wegen Befehlsverweigerung von ihren vorgesetzten Offizieren festgenommen und dem Auditeurmilitair vorgeführt worden. Dieser erfüllte nach dem Militärgesetz die Funktion der Anklagebehörde vor dem Militärgericht. Obwohl er von den Militärbehörden unabhängig war, konnte er nach der Verweisung eines Falles an das Militärgericht zu einer Beteiligung an einem späteren Strafverfahren gegen einen Militärangehörigen gezwungen werden, zu dessen Inhaftierung er zuvor bereits eine Stellungnahme abgegeben hatte. Nach Ansicht des Gerichtshofs konnte er deshalb im Stadium der Vorführung nicht unabhängig von den beteiligten Parteien sein, weil er verpflichtet war, in einem späteren Verfahrensstadium die Stellung einer Partei einzunehmen („devenir l'une d'elles lors de la phase ulterieure"/„to become one of the parties at the next stage of the procedure")·179 Ähnlich entschied der EGMR im Fall Pauwels. Der dort dem Militärgericht zugeteilte Auditeur-militair war wie seine Hilfsbeamten kein Richter iSd belgischen Verfassung, sondern ein vom König ernannter und jederzeit abrufbarer Justizangehöriger. Obwohl er hierarchisch dem Auditeur-gineral am Militärberufungsgericht und dem Justizminister unterstand, war er nicht in die militärischen Befehlsstrukturen integriert und faktisch in der Wahrnehmung seiner Aufgaben unabhängig. Trotz der fehlenden Unabsetzbarkeit und der hierarchischen Einbindung in die Militärbzw. Justizverwaltung hatte der EGMR an der für Art. 5 Abs. 3 notwendigen Unabhängigkeit des Auditeur-militair und seiner Hilfsbeamten von der Exekutive keine Zweifel. Diese waren jedoch nicht nur Mitglied der Militärpolizei, sondern auch Mitglied der militärischen Ermittlungsstelle („Commission judiciaire") und ähnlich einem zivilen Untersuchungsrichter mit richterlichen Aufgaben betraut. Zudem nahmen sie noch Aufgaben der dem Militärgericht zugewiesenen Staatsanwaltschaft im gerichtlichen Militärstrafverfahren wahr. Im konkreten Fall hatte ein Hilfsbeamter des Auditeur-militair als Mitglied der Commission judiciaire im Rahmen seiner „untersuchungsrichterlichen" Funktion die Festnahme eines Offiziers angeordnet und auf dessen Beschwerde hin die Inhaftierung bestätigt, anschließend Aufgaben der im Militärstrafverfahren zuständigen Staatsanwaltschaft wahrgenommen und als deren Vertreter am gerichtlichen Prozess teilgenommen. Der EGMR sah darin einen Verstoß gegen die von Art. 5 Abs. 3 geforderte Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten. Aufgrund der in demselben Verfahren im Anschluss an die Haftprüfung wahrgenommenen staatsanwaltlichen Tätigkeit bestanden seiner Ansicht nach ganz offensichtliche Zweifel an der Unparteilichkeit des Hilfsbeamten zum Zeitpunkt der Festnahme und bei der nachfolgenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung („impartiality was capable of appearing to be open to doubt"), so dass er im Stadium der Haftprüfung nicht den Anforderungen der EMRK an eine ermächtigte Person entsprach.
179
EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 49; van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 44.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Die Urteile des Gerichtshofs hatten zur Folge, dass die Praxis in Belgien in der Folgezeit geändert und den Anforderungen an eine Trennung von Ermittlungs- und Strafverfolgungsfunktion angepasst wurde. 180
Unter Bezugnahme auf die Entscheidungen zu Militärstrafverfahren in den Niederlanden und Belgien gab der E G M R im Fall Huber seine zuvor im Fall Schiesser entwickelten Grundsätze - insbesondere die konkrete Betrachtungsweise - endgültig auf und bestätigte diese Änderung der Rechtsprechung im Fall Brincat. Wie schon in den Militärstrafverfahren prüfte er die Problematik einer aufeinanderfolgenden Untersuchungs- und Strafverfolgungsfunktion nunmehr unter dem Aspekt der Unparteilichkeit. Die Position des E G M R lässt sich wie folgt zusammenfassen. Einerseits schließt es die Konvention nicht ausdrücklich aus, dass eine Person, welche die Untersuchungshaft anordnet, im späteren Verfahren weitere Aufgaben übernimmt („carry out other duties"). Dieser Punkt ist wichtig, wenn es um die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Mitgliedern des erkennenden Strafgerichts geht, die mit derselben Sache bereits im Ermittlungsverfahren befasst waren. Andererseits bestehen Zweifel an der Unparteilichkeit einer Person, die über die Inhaftierung oder Freilassung einer festgenommenen Person entscheiden soll, wenn diese berechtigt ist, im anschließenden Strafverfahren als Vertreter der Strafverfolgungsbehörde aufzutreten („entitled to intervene in the subsequent proceedings as a representative of the prosecuting authority"). 181 Zur Aufgabe der konkreten Betrachtungsweise war der E G M R schon deshalb gezwungen, weil diese nur aus der Retrospektive möglich und für die Praxis der Strafverfolgung daher völlig untauglich ist. Wenn Art. 5 Abs. 3 eine gesetzliche Ermächtigung fordert, muss konsequenterweise diese Regelung aus ex-ante Sicht geeignet sein, jedwede Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Person zu beseitigen. Im Fall Huber hatte der Bezirksanwalt gegen die Bf. Untersuchungshaft angeordnet und 14 Monate später auch die Anklageschrift verfasst. Er war jedoch in der Hauptverhandlung nicht als Vertreter der Anklagebehörde aufgetreten. Die Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründete der E G M R nicht mit der Tatsache, dass dieser im konkreten Fall auch die Anklageschrift verfasst hatte, sondern abstrakt mit der dem Bezirksanwalt gesetzlich zustehenden Befugnis, in einem späteren Strafverfahren die Rolle des Anklagevertreters zu übernehmen. 182
Für die Möglichkeit, im späteren Verfahren die Vertretung der Anklagebehörde wahrzunehmen, kommt es nur auf die objektiven Anzeichen zum Zeitpunkt der Vorführung an („objective appearances at the time of the decision on detention"). Wenn zu diesem Zeitpunkt der Anschein besteht, dass die ermächtigte Person möglicherweise im späteren Verfahren als Vertreter der Strafverfolgungsbehörde auftritt, bestehen an ihrer 18» EGMR, Pauwels./. Belgien, Serie A Nr. 135, §§ 11-12, 15-16, 19-21, 37-38. 181 EGMR, Huber./. Schweiz, Serie A Nr. 188, §43; Brincat./. Italien, Serie A Nr. 249-A, §§19-21; Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, § 57; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 49 („may later intervene in subsequent criminal proceedings on behalf of the prosecuting authority"). 182 EGMR, Huber ./. Schweiz, Serie A Nr. 188, §§ 12, 14, 26-27, 43; zur Einführung unabhängiger Haftrichter in der Schweiz: Eser ZStW 108 (1996) 87, 107.
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Unparteilichkeit objektiv begründete Zweifel. Stellt sich erst nach der Vorführung heraus („became clear afterwards"), dass die mit ihr betraute Person aus einem Grund, der bereits zum Zeitpunkt der Haftentscheidung objektiv vorlag, tatsächlich im späteren Verfahren nicht zur Vertretung der Anklagebehörde bestellt werden kann, lässt dies die Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit dieser Person nicht nachträglich entfallen. 183 Die Entscheidung Brincat betraf die Aufgaben der italienischen Staatsanwaltschaft bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft. Bis zum Inkraftreten der neuen Strafprozessordnung im Oktober 1989 war die StA befugt, Festnahmen durch die Polizei zu verfügen oder zu bestätigen und die Untersuchungshaft gegenüber einem Beschuldigten anzuordnen. Der Bf. war am 5.12.1987 (Samstag) festgenommen worden und gemäß der italienischen Strafprozessordnung binnen 48 Stunden am 7.12.1987 (Montag) in Anwesenheit von zwei Verteidigern dem Vertreter des Staatsanwalts („deputy public prosecutor") von Lagonegro vorgeführt worden. Dieser bestätigte die Inhaftierung und ordnete die Haftfortdauer an. Nachdem er bereits einige Ermittlungshandlungen vorgenommen hatte, gab er das Verfahren am 14.12. an eine andere StA ab, da ihm seiner Ansicht nach die örtliche Zuständigkeit („territorial jurisdiction") für das Verfahren fehlte. Obwohl der EGMR den Deputy public prosecutor ausdrücklich als unabhängig von der Exekutive bezeichnete, sah er dessen objektive Unparteilichkeit im konkreten Fall als nicht gegeben an, da zum maßgeblichen Zeitpunkt der Haftanordnung am 7.12.1987 der objektive Anschein bestand, er werde im späteren Verfahren als Vertreter der Anklagebehörde auftreten. Der Umstand, dass er anschließend das Verfahren aus Gründen fehlender Zuständigkeit abgegeben hatte, änderte nichts an dem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3, da sich dieser Mangel und die Tatsache, dass er deshalb nicht zur Vertretung der Anklagebehörde im gerichtlichen Verfahren bestellt werden konnte, erst später herausgestellt hatten. Seine abstrakte Sichtweise bei der Bewertung der Unabhängigkeit der ermächtigten Person von den Verfahrensbeteiligten hat der Gerichtshof in der Entscheidungen Assenov und Nikolova bestätigt, dort aber bedauerlicherweise nicht zwischen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit differenziert. 184 Allein auf die mangelnde Unparteilichkeit hat der E G M R im Urteil Hood abgestellt, das vor allem deshalb interessant ist, weil der Gerichtshof für den drohenden Rollenkonflikt der ermächtigten Person nicht nur diese selbst, sondern auch andere Personen berücksichtigt, die an ihrer Stelle und weisungsgebunden strafverfolgende Tätigkeit wahrnehmen können. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass der E G M R mit den Formulierungen „... was liable to play a central role in the subsequent prosecution of the case ..." und „ there was no obstacle to his acting as a prosecutor" keine Verschärfung der Anforderungen an die für die Annahme einer mangelnden Unabhängigkeit erforderliche spätere Verfolgungstätigkeit im Sinn hat. 185
183
184 185
EGMR, Brincat ./. Italien, Serie A Nr. 249-A, §§ 20-21; vgl. auch: EGMR, Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 49. EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 32-34, 66-67, 147-150. EGMR, Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, §§ 57-61 („ ... does so on behalf ot the commanding officer to whom he is directly liable"); Nikolova./. Bulgarien, Reports 1999-11, §§ 50-51.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
In den Urteilen Assenov und Nikolova ging es um die Unabhängigkeit bulgarischer Staatsanwälte und Untersuchungsbeamter („investigator"). Der Bf. Assenov war einen Tag nach seiner Festnahme in Gegenwart seines Verteidigers und eines Staatsanwaltes (K) von einem Untersuchungsbeamten vernommen worden, der anschließend die Untersuchungshaft angeordnet hatte. Diese Entscheidung wurde noch am selben Tag von einem anderen Staatsanwalt (A) bestätigt. Nach bulgarischem Recht besaß der Staatsanwalt eine Doppelfunktion („dual function"). Im Ermittlungsverfahren („preliminary stage") oblag ihm die Überwachung der Untersuchungen. Hierzu konnte er den Untersuchungsbeamten bindende Anweisungen geben, an sämtlichen Untersuchungsmaßnahmen teilnehmen, den Fall einem anderen Beamten zuweisen oder selbst die gesamte Untersuchung durchführen. Ihm oblag auch die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens oder die Vornahme weiterer Ermittlungen. Ebenso hatte er die Anklage zu fertigen und den Fall vor ein Strafgericht zu bringen. Im Strafprozess („judicial stage") war er Vertreter der Anklage („task of prosecuting the accused"). Die Untersuchungsbeamten besaßen gegenüber dem Staatsanwalt eine gewisse Unabhängigkeit, übten ihre Aufgaben jedoch mit Weisung und unter dessen Aufsicht aus. Nach Ansicht des E G M R besaßen die Beamten nicht die von Art. 5 Abs. 3 geforderte Unabhängigkeit, weil sie aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit keine rechtlich verbindliche Anordnung über die Inhaftierung bzw. Freilassung der festgenommenen Person treffen konnten. Auch die Staatsanwälte Κ und Α waren weder unabhängig noch objektiv unparteilich, weil beide im anschließenden Strafverfahren gegen den Bf. agieren konnten („could subsequently have acted against the applicant in criminal proceedings"). D a erst drei Monate nach der Festnahme ein Richter über den vom Bf. gestellten Antrag auf Freilassung entschieden hatte, nahm der E G M R einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 an. N e b e n der möglichen Ü b e r n a h m e einer strafverfolgenden Tätigkeit k ö n n e n a u c h a n d e r e U m s t ä n d e f ü r objektiv berechtigte Zweifel a n der Unparteilichkeit der nach A r t . 5 Abs. 3 ermächtigten Person sprechen. 1 8 6 D i e R e c h t s p r e c h u n g des E G M R zur U n a b h ä n g i g k e i t der ermächtigten Person von d e n Verfahrensbeteiligten hat keine Auswirkungen auf die Rolle des französischen u n d deutschen U n t e r s u c h u n g s - o d e r Ermittlungsrichters, dessen H a u p t m e r k m a l gerade die organisatorische T r e n n u n g von den Verfahrensbeteiligten ist u n d der deshalb als Richter die von A r t . 5 Abs. 3 geforderte U n a b h ä n g i g k e i t besitzt. 1 8 7 Allerdings d a r f nicht ü b e r sehen werden, dass der U n t e r s u c h u n g s - u n d Ermittlungsrichter h ä u f i g E r m i t t l u n g e n u n d Beweiserhebungen in der betreffenden Strafsache v o r n i m m t , die d u r c h eine I n h a f tierung des Beschuldigten nicht unerheblich erleichtert werden. Dies d ü r f t e aber mit d e m von A r t . 5 Abs. 3 gewährten Verfahrensschutz n o c h vereinbar sein. 188 Problematisch wird die Sache aber, wenn z u m Z e i t p u n k t der V o r f ü h r u n g nicht ausgeschlossen werden
186
187 188
Siehe etwa: EGMR, Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, § 58: mangelnde objektive Unparteilichkeit eines Commanding officer bei der Entscheidung über die Festnahme eines seiner Befehlsgewalt unterstehenden Soldaten („concurrent responsibility for discipline and order in his command"). Vgl. Pieth EuGRZ 1980,208, 210. Ebenso: Trechsel StV 1992, 187, 193.
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kann, dass der Ermittlungs- oder Untersuchungsrichter später Mitglied des gerichtlichen Spruchkörpers wird, der über die Anklage entscheidet. Der umgekehrte Fall, dass also ein Richter des erkennenden Gerichts an einer vorprozessualen Haftentscheidung teilgenommen hat, begründet in der Regel keine Zweifel an der Unabhängigkeit oder objektiven Unparteilichkeit des Gerichts (Art. 6 Abs. 1). Es bleibt aber abzuwarten, wie der EGMR diese Problematik im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 angehen wird. (2) Unabhängigkeit von der Exekutive Eng verknüpft mit der Unabhängigkeit von den Verfahrensbeteiligten ist die ebenfalls von Art. 5 Abs. 3 geforderte Unabhängigkeit der ermächtigten Person von der Exekutive. Diese hatte der EGMR in der Entscheidung Schiesser ebenfalls abstrakt beurteilt. Die ermächtigte Person könne in einem gewissen Rahmen anderen Richtern oder Beamten untergeordnet sein, wenn wenigstens diese die von Art. 5 Abs. 3 geforderte Unabhängigkeit genießen. Selbst eine Weisungsgebundenheit konnte die Unabhängigkeit der ermächtigten Person nicht in Frage stellen, weil solche Weisungen über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren nicht mehr ausgeübt worden waren. Während der strafprozessualen Untersuchung blieb der Bezirksanwalt unter der Aufsicht der StA. Nach der kantonalen Strafprozessordnung konnte der Staatsanwalt dem Bezirksanwalt Weisungen erteilen. Die Justizdirektion und der Züricher Regierungsrat waren befugt, der StA besondere Aufträge und Weisungen zur Einleitung und Durchführung von Strafverfahren zu erteilen. Der EGMR erkannte jedoch die seit 30 Jahren vorherrschende Praxis an, wonach weder die Kantonsregierung, noch die Justizdirektion, noch die StA Weisungen hinsichtlich der über die Inhaftierung einer Person zu treffenden Entscheidung des Bezirksanwaltes erlassen hatten, und die Weisungen, die tatsächlich erfolgten, allenfalls die Gesetzmäßigkeit, nicht aber die Angemessenheit einer solchen Maßnahme betrafen. Da der Bezirksanwalt den Beschuldigten alleine ohne die Kontrolle durch die StA - vernommen hatte, keiner Einmischung von außen ausgesetzt gewesen war und vor der Entscheidung keine andere Behörde zu konsultieren hatte, habe er die ihm gesetzlich zugewiesene eigene Entscheidungsgewalt ausgeübt. Der Tatsache, dass der Bezirksanwalt vom Volk gewählt wurde, maß der EGMR kaum Bedeutung bei.189
Nach der Entscheidung Schiesser wäre für die exekutivische Unabhängigkeit der ermächtigten Person nicht darauf abzustellen, ob der ermächtigten Person nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts Weisungen hinsichtlich der von ihr zu treffenden Entscheidung erteilt werden können. Trotz eines gesetzlich bestehenden Weisungsrechts wäre sie als unabhängig anzusehen, wenn ihr im konkreten Fall keine Weisung erteilt wird und die Erteilung einer solchen Weisung zumindest gewohnheitsrechtlich ausgeschlossen oder - so wird man sagen müssen - höchst unwahrscheinlich ist. Die Ausführungen des EGMR zur Unabhängigkeit des Bezirksanwalts von der Exekutive dürften aber nach der Entscheidung Assenov keinen Bestand mehr haben.
189
EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 17, 31, 35.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Nach Ansicht des EGMR besaßen die bulgarischen Untersuchungsbeamten („investigator") nicht die für Art. 5 Abs. 3 erforderliche Unabhängigkeit, weil sie aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit gegenüber der StA keine rechtlich verbindliche Anordnung über die Inhaftierung oder Freilassung der festgenommenen Person treffen konnten.190
c)
Einhaltung gerichtlicher Verfahrensgarantien
Art. 5 Abs. 3 will die unverzügliche und automatische richterliche Kontrolle einer nach Art. 5 Abs. 1(c) angeordneten Inhaftierung gewährleisten. Deshalb bedeutet der Zugang einer festgenommenen oder inhaftierten Person zu einer justitiellen Stelle für sich betrachtet noch keine Vorführung iSv Art. 5 Abs. 3 Satz 1. Es kann daher nicht genügen, dass ein Richter oder eine ermächtigte Person in das Verfahren der Haftverlängerung eingeschaltet wird („introduction ... into the process of extension of periods of detention"). Auch die bloße Verweisung der Sache zur Verhandlung an ein Gericht genügt nicht den Anforderungen an eine richterliche Kontrolle. Art. 5 Abs. 3 verlangt die Einhaltung eines Verfahrens, welches gerichtlichen Charakter hat („judicial character"). Anders ausgedrückt, die Wahrnehmung richterlicher Aufgaben iSv Art. 5 Abs. 3 erfordert die Einhaltung formeller und materieller gerichtlicher Verfahrensgarantien. 191 (1) Automatische Vorführung Aufgrund der von Art. 5 Abs. 3 geforderten Unverzüglichkeit verlangt der E G M R , dass die Vorführung automatisch („automatic") erfolgt und nicht von einem entsprechenden Antrag der festgenommenen Person abhängig ist („previous application"). Als Gründe für eine automatische Vorführung nennt der E G M R den Schutz der festgenommenen Person vor Misshandlungen in der Haft sowie die Schwierigkeiten, denen misshandelte, schwache oder sprachunkundige Beschuldigte bei der Stellung eines solchen Antrags begegnen könnten. 192 (2) Anhörung der festgenommenen Person Da Art. 5 Abs. 3 weder Ablauf noch Inhalt einer Vorführung ausdrücklich bezeichnet, musste der E G M R auch hier Verfahrensstandards entwickeln. Dabei lassen sich im Urteil Hood deutliche Parallelen zu der in einem Haftprüfungsverfahren nach Art. 5 Abs. 4 geforderten Anhörung erkennen. Schon dem Wortlaut („brought before/„doit etre traduite") und dem mit der Vorführung verfolgten Ziel entnimmt der Gerichtshof die Pflicht des Richters - bzw. der ermächtigten Person - , die festgenommene oder inhaftierte Person persönlich und tatsächlich anzuhören, um eine sachgerechte Entscheidung
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192
EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 32-34, 66-67, 147-150; vgl. ebenso: EGMR, Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, §§ 50-51. EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 51; vgl. ebenso: EGMR, van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 46; Duinhof u. Duijf ./. Niederlande, Serie A Nr. 79, § 36; Brannigan u. McBride ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 258-B, § 58; Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, § 47. EGMR, Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, §49.
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treffen zu können („hear himself the accused"). 193 Der Richter muss sämtliche wesentlichen für und gegen die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung sprechenden Gesichtspunkte prüfen („examine all the facts militating for and against pre-trial detention", „consider the merits of the detention"). Über die Rechtfertigung einer weiteren Freiheitsentziehung muss er unter rechtlichen Gesichtspunkten entscheiden und in der die Vorführung abschließenden Entscheidung diejenigen Tatsachen benennen, auf die sich die Entscheidung stützt („set o u t . . . the facts upon which that decision is based"). 194 Die Aussage des EGMR im Urteil Lamy, Art. 5 Abs. 3 verlange nicht, dass der Richter oder die ermächtigte Person auf die von der festgenommenen Person vorgebrachten Umstände und Argumente eingeht, solange der zur Überprüfung anstehende Haftbefehl selbst mit Gründen versehen ist und am Ende der Vorführung eine begründete Entscheidung ergeht, dürfte damit überholt sein.195 Offen bleibt allerdings, ob die „decision on detention" schriftlich ergehen muss oder mündlich erfolgen kann. Obwohl eigentlich in Art. 5 Abs. 2 explizit geregelt, sieht der EGMR auch die Mitteilung der bestehenden Verdachtsgründe als Verfahrensgarantie iSv Art. 5 Abs. 3 an. Im Fall Schiesser hielt er eine gesetzliche Regelung für ausreichend, wonach dem Festgenommenen die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe genau und vollständig mitzuteilen waren und er darüber zu informieren war, dass ihm gegen die Haftanordnung ein „Droit de recours" zustand. Ebenfalls aus dem Urteil Schiesser stammt die Aussage, dass Art. 5 Abs. 3 nicht die Anwesenheit eines Anwaltes bei der Vorführung der festgenommenen Person verlange.196 Ob dies noch so uneingeschränkt gilt, erscheint eher zweifelhaft, weil der EGMR im Urteil John Murray die Beschuldigtenrechte gerade im Ermittlungsverfahren erheblich gestärkt hat. Für die Erforderlichkeit eines Zugangs zu einem Verteidiger im Rahmen der Vorführung iSv Art. 5 Abs. 3 dürften die dort aufgestellten Kriterien gelten.197 Die Tätigkeit des Richters bzw. der ermächtigten Person im Rahmen der Vorführung muss über eine reine Beratungs- und Untersuchungsfunktion hinausgehen. Der Richter muss über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung entscheiden sowie im Falle ihrer Unrechtmäßigkeit die Freilassung des Inhaftierten anordnen und nicht lediglich empfehlen können („power to decide on the justification for the detention and to order release").198 193
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195 196 197 198
EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 31, 36; De Jong, Baljet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 51; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 32-34, 66-67, 147-150 („was not heard in person"); Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, § 60; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 49 („must hear the individual brought before him in person", „review, by reference to legal criteria, whether or not the detention is justified"); Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, § 49; vgl. zu Art. 5 Abs. 4: EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 60. EGMR, Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, § 60; Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, §§47, 52. EGMR, Lamy ./. Belgien, Serie A Nr. 151, § 35. EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 15, 36. EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1; siehe das Kapitel § 4 II 9 a. EGMR, De Jong, Baljet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 48; van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 43; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 49 („power to make a binding order for the detainee's release"). Die Befugnis, rechtlich verbindliche Ent-
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Die Kompetenz zur Freilassung der vorgeführten Person hängt eng mit dem von Art. 5 Abs. 3 geforderten Prüfungsumfang zusammen. 199 Das im Vereinigten Königreich zur Haftprüfung eingerichtete „Advisory committee" sah der EGMR nicht als zuständige Gerichtsbehörde an - diesen Begriff entnimmt er dem Art. 5 Abs. 1(c) - , weil es die Freilassung des Betroffenen nur empfehlen, nicht aber anordnen konnte.200 In den Fällen De Jong, Baijet und van den Brink waren zwei Wehrpflichtige von ihren vorgesetzten Offizieren festgenommen und dem Auditeur-militair vorgeführt worden, der nach dem Militärgesetz die Funktion der Anklagebehörde vor dem Militärgericht erfüllte. Die Festnahme und anschließende Inhaftierung durch den befehlshabenden Offizier durfte maximal 14 Tage dauern. Nach Ablauf dieser zwei Wochen konnte der inhaftierte Soldat beim Militärgericht die Festsetzung einer Frist beantragen, innerhalb der der kommandierende General eine Entscheidung über die Beendigung der Haft oder die Verweisung der Sache an das Miliärgericht fällen musste. Wenngleich der Auditeur-militair die für die Verweisung an das Militärgericht zuständige Behörde war, hatte dieser bei der Verweisung des Falles an das Militärgericht eine zwingende, aber inhaltlich lediglich beratende Stellungnahme abzugeben. Die Entscheidung, ob Anklage zum Militärgericht erhoben werden sollte, oblag allein dem kommandierenden General oder einem vom ihm ermächtigten ranghohen Offizier, nicht aber dem Auditeur-militair selbst. Wurde entgegen der Empfehlung des Auditeur-militair keine Anklage zum Militärgericht erhoben, konnte dieser den Hog Militair Gerechtshof anrufen. Im umgekehrten Fall hatte der Auditeur-militair kein Rechtsmittel. In der Praxis wurden seine Empfehlungen, die neben der Verweisung auch die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung betrafen, uneingeschränkt befolgt und allgemein als bindend angesehen. Eine in der Verweisungsentscheidung angeordnete oder aufrechterhaltene Inhaftierung durfte 14 Tage nicht überschreiten. Das Militärgericht konnte diese Frist auf Antrag des Auditeur-militair um 30 Tage verlängern. Jede aufgrund der Verweisungsentscheidung inhaftierte Person musste unverzüglich, spätestens innerhalb der folgenden vier Tage, vom Officier-commissaris angehört werden. Bei ihm handelte es sich um einen für die Dauer von mindestens einem Jahr ernannten Offizier, der mit der Voruntersuchung von Fällen betraut war, Tatsachen ermitteln und sowohl Zeugen als auch den Beschuldigten vernehmen konnte. Eine von ihm durchgeführte Vernehmung stand der Vernehmung durch das Militärgericht gleich. Im Zeitraum zwischen Verweisung und dem Beginn der Verhandlung vor dem Militärgericht konnte die Freilassung auf Antrag des Officiercommissaris oder des inhaftierten Soldaten vom Auditeur-militair oder vom Militärgericht angeordnet werden. Der EGMR sah den Auditeur-militair - im Verfahrensstadium von der Festnahme des Soldaten bis zur Verweisung des Falles an das Militärgericht - nicht als Person iSv Art. 5 Abs. 3 an, da er in diesem Stadium keine Befugnis zur Anordnung der Freilassung des inhaftierten Soldaten hatte. Ihm kam nur
199 200
Scheidungen über die Inhaftierung oder Freilassung einer Person zu erlassen („power to make legally binding decisions"), hat der E G M R im Urteil Assenov./. Bulgarien (Reports 1998-VIII, §§ 32-34, 66-67, 147-150) als ein Kriterium für die erforderliche Unabhängigkeit der ermächtigten Person angesehen. E G M R , Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, §§ 53-54. E G M R , Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 84, 199.
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eine Untersuchungs- und Beratungskompetenz zu, die auf die Frage der Verweisung des Falles an das Militärgericht beschränkt war. Da es weder offizielle Direktiven noch Verhaltensmaßregeln für den Auditeur-militair und die für die Verweisung zuständigen Offiziere gab, sah der EGMR die militärische Praxis, wonach die Empfehlungen des Auditeur-militair als bindend empfunden wurden und dieser sich auch zur Frage der Inhaftierung äußerte, für eine gesetzliche Ermächtigung als nicht ausreichend an, da von ihr jederzeit abgewichen werden konnte. Obwohl der Auditeur-militair nach der Verweisung des Falles an das Militärgericht bis zur Verhandlung vor diesem die Freilassung des Soldaten anordnen konnte, fehlte ihm die erforderliche Unabhängigkeit. 201 In den Fällen van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe und Duinhof u. Duijf versagte der EGMR auch dem Officier-commissaris den Status einer ermächtigten Person, da auch er nicht über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung entscheiden und die Freilassung anordnen konnte. Das Urteil Koster ist als Bestätigung dieser Rechtsprechung anzusehen, weil der EGMR bei der Unverzüglichkeit auf die Vorführung eines Wehrpflichtigen vor ein Militärgericht abstellte, obwohl der Bf. auch vom Officier-commissaris angehört worden war.202
d)
Unverzüglichkeit der Vorführung
(„promptly"I„aussitöt")
Die effektive Kontrolle einer Inhaftierung ist nur möglich, wenn die von Art. 5 Abs. 3 garantierte Vorführung unverzüglich erfolgt. Der Gerichtshof legt zu Recht Wert auf die Feststellung, dass die festgenommene bzw. inhaftierte Person nur durch ein schnelles gerichtliches Eingreifen vor der G e f a h r einer Misshandlung in der H a f t geschützt werden kann. Die vom E G M R an die Unverzüglichkeit der Vorführung gestellten Anforderungen sind strenger als die f ü r eine gerichtliche Entscheidung innerhalb kurzer Frist iSv Art. 5 Abs. 4 („indicates greater urgency"). 203 Im Urteil Brogan hat der EGMR festgestellt, dass der englische Begriff „promptly" eine weitergehende Bedeutung besitzt als der französische Begriff „aussitöt". Während sich „promptly" auch in der englischen Fassung des Art. 5 Abs. 2 findet, spricht die französische Fassung an dieser Stelle von „dans leplus court delai". Der Gerichtshof versucht beide sprachlichen Fassungen soweit wie möglich in Einklang zu bringen. Maßgeblich ist dabei die Erreichung des Vertragszwecks. Weil „aussitöt" eine gewisse Unmittelbarkeit immanent ist („constraining connotation of immediacy"), ist das Maß an Flexibilität bei der Bestimmung der Unverzüglichkeit eher beschränkt. D a s Kriterium der Unverzüglichkeit bezieht sich auf die Vorführung der festgenommenen bzw. inhaftierten Person, u n d zwar mit allen Verfahrensgarantien, die der Vor-
201
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E G M R , De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, §§ 15-20, 48; vgl. ebenso: E G M R , van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 43; Duinhof u. Duijf ./. Niederlande, Serie A Nr. 79, §§ 34, 38. Vgl. E G M R , van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 48; Duinhof u. Duijf ./. Niederlande, Serie A Nr. 79, § 40; Koster ./. Niederlande, Serie A Nr. 221. E G M R , Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 58-59; Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 64; Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 76; Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, §§45-46,51.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
führung innewohnen. Deshalb erfasst die Unverzüglichkeit als zeitliche Schutzkomponente nicht nur die Einschaltung eines Richters, sondern die persönliche Anhörung der festgenommenen Person und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung. Auch eine gründliche Vorbereitung des Richters auf die Vorführung vermag nichts an dem Erfordernis ihrer unverzüglichen Durchführung mit dem von der Konvention geforderten Inhalt zu ändern. Schon um sich vom Tatvorwurf entlasten zu können, muss die festgenommene Person nicht nur unverzüglich „vorgeführt", sondern unverzüglich angehört werden. Ebenso unverzüglich muss über die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Inhaftierung entschieden werden. Bei der Bestimmung der Unverzüglichkeit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an („attendant circumstances", „special features"), wobei es jedoch niemals zu einer Beeinträchtigung des Rechts auf Vorführung in seinem Kerngehalt kommen darf („impairing the very essence of the right"). Die staatliche Verpflichtung, jeder festgenommenen Person eine unverzügliche Freilassung oder Vorführung zu garantieren, können auch die Umstände des Einzelfalls nicht in Frage stellen („obligation to ensure a prompt release or a prompt appearance").204 Den im untersuchten Zeitraum ergangenen Urteilen ist zu entnehmen, dass die Vorführung einer festgenommenen Person innerhalb von zwei Tagen nach der Festnahme (noch) als unverzüglich angesehen werden kann205, was bei einem Zeitraum von 4 Tagen und 6 Stunden nicht mehr der Fall ist. Schwierigkeiten können im Einzelfall bei der Berechnung des Inhaftierungszeitraums entstehen. So hat der EGMR im Urteil Sakik offensichtlich den Tag der Festnahme bei der bis zur Vorführung verstrichenen Zeitspanne nicht mitgezählt.206 Die nicht mehr unverzügliche Vorführung einer festgenommenen Person führt nur dann nicht zu einem Konventionsverstoß, wenn die Vorführung ausnahmweise („exceptional circumstances") aus technischen oder faktischen Gründen nicht zu realisieren ist („technically impossible"). 207 Bei einer Erkrankung der festgenommenen Person dürften aber strenge Maßstäbe für die Annahme einer Unmöglichkeit der Vorführung anzulegen sein. Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass sich der Gerichtshof mit einer
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EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 52; Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 59, 62; Köster./. Niederlande, Serie Α Nr. 221, § 24. EGMR, Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, §§ 8-9, 51 (Festnahme: 20.7.1992; Vorführung: 22.7. 1992, 11.00 Uhr); innerhalb von 24 Stunden nach der Festnahme war die Vorführung in folgenden Fällen erfolgt: EGMR, Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, §§ 7, 15, 36; T.W. ./. Malta (29.4.1999), §§8-9,45. EGMR, Sakik u.a../. Türkei, Reports 1997-VII, §§6-17,45-46. Im Ergebnis verneinte der EGMR im Urteil Lawless./. Irland (Serie A Nr. 3, §§ 14-15 - keine Vorführung über einen Zeitraum von fast fünf Monaten) einen Konventionsverstoß, weil die Fristüberschreitung wegen der Unruhen in Irland gemäß Art. 15 EMRK gerechtfertigt war. Obwohl die Entscheidungsgründe im Fall Brincat./. Italien (Serie A Nr. 249-A, §§7, 10, 21) nicht ganz eindeutig sind und im konkreten Fall keine Vorführung erfolgt war, besteht kein Zweifel, dass ein Zeitraum von 13 Tagen zwischen der Verhaftung und der Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haft nicht mehr unverzüglich ist. EGMR, Rigopoulos ./. Spanien, UzE v. 12.1.99: Vorführung einer auf hoher See festgenommenen Person 16 Tage nach der Festnahme.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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„symbolischen Vorführung" durch eine Vorlegung der Akten zufrieden geben wird, wie es Nr. 51 RiStBV vorsieht. 208
Besonderheiten hinsichtlich der Unverzüglichkeit der Vorführung gelten auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung. Dass terroristische Straftaten die Strafverfolgungsbehörden vor besondere Probleme stellen, kann auch die Unverzüglichkeit eines Verfahrens nach Art. 5 Abs. 3 beeinflussen. Soweit ausreichende Schutzvorkehrungen vorhanden sind („safeguards") - als solche nennt der EGMR die Überprüfung jeder Haftverlängerung durch ein Mitglied der Regierung und eine regelmäßige Kontrolle der Festnahmebefugnisse durch das Parlament bzw. durch unabhängige Persönlichkeiten kann eine terroristische Gewaltwelle wie in Nordirland in den 70er und Anfang der 80er Jahre dazu führen, dass sich der Zeitraum verlängert, innerhalb dessen die Strafverfolgungsbehörden eine der Begehung terroristischer Straftaten verdächtige Person ohne richterliche Kontrolle inhaftieren können. Keinesfalls rechtfertigen etwaige bei der Untersuchung terroristischer Gewalttaten auftretende Probleme aber den vollständigen Verzicht auf eine unverzügliche gerichtliche Kontrolle („prompt judicial control"). Auch an dieser Stelle macht der Gerichtshof unmissverständlich klar, dass den Strafverfolgungsbehörden angesichts der Bedeutung des Art. 5 im System der Konvention keine „carte blanche" für die Festnahme terroristisch motivierter Straftäter zusteht. Auch deren Inhaftierung muss insgesamt gesehen einer effektiven Kontrolle durch die nationalen Gerichte unterliegen („effective control by the domestic courts and, ultimately, by the Convention supervisory institutions").209 Außerhalb der Bekämpfung des Terrorismus auftretende Schwierigkeiten oder Besonderheiten im Rahmen einer Strafverfolgung („requirements of the investigation") können die staatlichen Stellen nicht von ihrer Pflicht befreien, jede gemäß Art. 5 Abs. 1(c) festgenommene Person unverzüglich vorzuführen. Wenn nötig sind Formen der gerichtlichen Kontrolle zu entwickeln, die sowohl den jeweiligen Umständen angepasst als auch mit der Konvention vereinbar sind.210 Bei einem mehrere Tage dauernden Polizeigewahrsam ist es jedenfalls nicht ausreichend, wenn sich die Ermittlungsbehörden allgemein auf die durch Terrorismus und die Anzahl von Tatverdächtigen hervorgerufenen Schwierigkeiten berufen.211 Die Frage, ob sich aus der späteren Verurteilung der festgenommenen Person Rückschlüsse auf die zulässige Dauer ihrer Inhaftierung bis zur Vorführung nach Art. 5 Abs. 3 ergeben, kann sich nur im Verfahren vor dem Gerichtshof stellen. Die Strafverfolgungsbehörden sind dagegen auf klare Vorgaben hinsichtlich des Zeitpunkts an-
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Vgl. KleinknechtlMeyer-Goßner § 128 Rn. 5. EGMR, Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 27-29, 61; Sakik u.a../. Türkei, Reports 1997-VII, § 44; Demir u.a../. Türkei, Reports 1998-VI, § 41. EGMR, Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 41 („develop forms of judicial control ... adapted to the circumstances but compatible with the Convention"). EGMR, Demir u.a../. Türkei, Reports 1998-VI, § 52 („refer in a general way to the difficulties caused by terrorism and the number of people involved in the inquiries"): 16 bzw. 23 Tage dauernde Polizeihaft.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
gewiesen, bis zu dem sie eine festgenommene Person spätestens vorführen müssen. Auch der EGMR erkennt, dass die Verurteilung eines Beschuldigten höchstens als Bestätigung der Verdachtsmomente dienen kann, die zu seiner Festnahme geführt haben („can at the most serve to confirm ... suspicions which led to his arrest"). Aufschluss über die Zulässigkeit einer mehrtägigen Inhaftierung bis zur Vorführung gibt eine spätere Verurteilung allenfalls dann, wenn sie Rückschlüsse auf die Umstände der Inhaftierung und die strafrechtliche Untersuchung erlaubt („indication of the circumstances surrounding both the deprivation of liberty and the investigation in issue"). Das gilt auch für eine Abweichungserklärung nach Art. 15.212 Dem Schluss von der (späteren) Verurteilung auf die Zulässigkeit einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme sollte der EGMR einen Riegel vorschieben, weil dieser Argumentationsansatz nicht nur in sich problematisch, sondern aus der ex-ante-Sicht der Strafverfolgungsbehörden auch wenig praktikabel ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Verurteilung des Tatverdächtigen die Risiken einer willkürlichen Behandlung nicht beseitigen kann, vor der Art. 5 Abs. 3 schützen soll.213 Im Fall Brogan u.a. ging es um die Festnahme und Inhaftierung von vier Personen auf der Grundlage des zur Bekämpfung des Terrorismus in Nordirland erlassenen Prevention of Terrorism - Temporary Provisions - Act J984. Section 12 dieses Gesetzes erlaubte die Inhaftierung einer der Begehung terroristischer Handlungen verdächtigen Person für 48 Stunden ohne Haftbefehl. Im Einzelfall war eine Verlängerung dieser Frist durch den Secretary of State um bis zu fünf Tage möglich. Nach einer Befragung zu ihrer Beteiligung an konkreten Straftaten waren alle vier Bf. ohne Vorführung vor einen Richter oder eine andere justitielle Stelle freigelassen worden. Die Dauer der Polizeihaft betrug 5 Tage und 11 Stunden, 6 Tage und 16,5 Stunden, 4 Tage und 6 Stunden sowie 4 Tage und 11 Stunden. Obwohl die Bf. am Tag nach der Festnahme darüber informiert worden waren, dass der Secretary of State einer Haftverlängerung um fünf Tage zugestimmt hatte, hielt der Gerichtshof bereits die kürzeste Inhaftierungszeit von 4 Tagen und 6 Stunden auch unter Berücksichtigung der den Bf. zur Last gelegten Straftaten für nicht mehr unverzüglich,214 Auch die Bf. Brannigan u. McBride waren aufgrund des Prevention of Terrorism (Temporary Provisions) Act 1984 festgenommen worden und nach insgesamt 6 Tagen, 14 Stunden und 30 Minuten bzw. 4 Tagen, 6 Stunden und 25 Minuten freigelassen worden, ohne zuvor einem Richter vorgeführt worden zu sein. Obwohl die Haftzeiten nicht mit Art. 5 Abs. 3 vereinbar waren, lehnte der EGMR einen Konventionsverstoß ab, da das Vereinigte Königreich eine wirksame Derogation (Art. 15) erklärt hatte.215
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In der Staatenbeschwerde Irlands ./. Vereinigtes Königreich (Serie A Nr. 25, § 212) entschied der Gerichtshof, dass es Art. 15 Abs. 1 gestatten kann, einen Zeugen ohne Einschaltung eines Gerichts festzunehmen und ihn bis zu 48 Stunden festzuhalten, um ihn sodann unter Bedingungen relativer Sicherheit und unter dem Schutz vor Vergeltungsakten befragen zu können. E G M R , Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 53; siehe auch: E G M R , Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 67; vgl. zur ähnlichen Problematik der Rechtfertigung einer Haftdauer (Art. 5 Abs. 3) durch die spätere Verurteilung: Bartsch JuS 1970,445, 450. E G M R , Brogan u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 12, 15, 18, 21, 24, 25-30, 62. E G M R , Brannigan u. McBride ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 258-B, §§ 10-11, 36-38, 74.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Der Bf. Aksoy war zwischen dem 24. und 26.11.1992 - das genaue Datum der Festnahme ließ sich nicht genau ermitteln - wegen einer vermuteten PKK-Mitgliedschaft festgenommen worden. Am 10.12. wurde er aus der Haft entlassen. Die insgesamt mindestens vierzehn Tage dauernde Polizeihaft ohne Vorführung verstieß gegen Art. 5 Abs. 3. Daran änderte auch die Abweichungserklärung der türkischen Regierung nichts (Art. 15). Trotz der Schwierigkeiten bei der Bekämpfung terroristischer Aktivitäten der PKK sah der EGMR die außergewöhnlich lange („exceptionally long") Polizeihaft ohne gerichtliche Kontrolle auch deshalb nicht als erforderlich an, weil dem Bf. unzureichende Garantien zur Verfügung gestanden hatten („insufficient safeguards"). Als solche nennt der Gerichtshof: „ the denial of access to a lawyer, doctor, relative or friend and the absence of any realistic possibility of being brought before a court to test the legality of the detention meant that he was left completely at the mercy of those holding him.216 Mit einer ähnlichen Begründung nahm er auch im Fall Demir einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 an. Dort hatte die Polizeihaft 16 bzw. 23 Tage gedauert, ohne dass die Bf. vorgeführt worden waren.217 Das Urteil Sakik überrascht weniger im Ergebnis als bei der Berechnung der Haftzeiten. Zwei Bf. waren am 2.3.1994, die übrigen vier am 4.3. festgenommen worden. Am 17.3. ordnete ein Richter die Untersuchungshaft an. Nach Ansicht des Gerichtshofs verstieß die 12- bzw. 14-tägige Polizeihaft gegen Art. 5 Abs. 3, obwohl die Untersuchungen terroristische Straftaten betrafen.2'8 Offensichtlich zählt der EGMR den Tag der Festnahme - oder den der Vorführung - bei der Berechnung nicht mit („judge did not intervene until ... twelve days, or fourteen days in some cases, after their arrest"). Wenn man den Tag der Festnahme als ganzen Tag mit einrechnet, betrug die Dauer der Polizeihaft eigentlich 13 bzw. 15 Tage. Bei derart langen Zeiträumen zwischen der Festnahme und Vorführung wie im Urteil Sakik kann an einem Verstoß gegen das Gebot der Unverzüglichkeit kein Zweifel bestehen. Bei kürzeren Zeiträumen sollte sich der Gerichtshof in Zukunft wieder an den Urteilen Brogan bzw. Brannigan und McBride orientieren und eine exakte Berechnung nach Tagen, Stunden und Minuten vornehmen. Dies setzt natürlich voraus, dass sich der genaue Zeitpunkt der Festnahme feststellen lässt, was - wie im Fall Aksoy - durchaus Schwierigkeiten bereiten kann. Hier muss der E G M R ähnlich wie im Bereich des Art. 3 eine erhöhte Darlegungslast der staatlichen Stellen und entsprechende Dokumentationspflichten der Strafverfolgungsbehörden statuieren. Lässt sich der genaue Zeitpunkt der Festnahme später nicht mehr ermitteln, so muss dies zu Lasten des Vertragsstaats gehen. In Militärstrafverfahren sind bei der Feststellung der Unverzüglichkeit die Besonderheiten des militärischen Lebens und der Militärgerichtsbarkeit zu berücksichtigen („demands of military life and justice").
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EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, §§ 10-13, 19, 66-87; zu den Anforderungen, die der Gerichtshof an eine Abweichungserklärung nach Art. 15 stellt, vgl. EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 68; Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, § 39; Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, §§43,52. EGMR, Demir u.a. ./. Türkei, Reports 1998-VI, §§ 7-12,40,43,45, 52-58. EGMR, Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, §§ 6-17,45-46, 51.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten können Zeiträume von sechs, sieben und elf Tagen219 bzw. zwölf, elf und vierzehn Tagen220 bzw. acht und zwölf Tagen221 zwischen der Festnahme und der Vorführung des festgenommenen Soldaten vor ein Militärgericht nicht mehr als unverzüglich gelten. Der Bf. Koster war im Rahmen seines Grundwehrdienstes an einem Mittwoch festgenommen worden und am Freitag vor dem Officier-commissaris erschienen. Erst am Montag wurde er dem Miliärgericht vorgeführt, das behauptete, eine frühere Sitzung sei nicht möglich gewesen, weil seine Mitglieder an einem Generalmanöver teilgenommen hatten und der vierte Tag nach der Festnahme - an dem der Bf. nach niederländischem Recht spätestens hätte vorgeführt werden müssen - ein Sonntag gewesen sei. Das Militärmanöver hat der EGMR nicht als rechtfertigenden Grund für die erst 5 Tage nach der Festnahme erfolgte und damit nicht mehr unverzügliche Vorführung des Bf. angesehen, da es in regelmäßigen Abständen stattfand, deshalb vorhersehbar war, und das Militärgericht nicht von seiner Verpflichtung entlasten konnte, Sitzungen so frühzeitig abzuhalten, dass sie den Anforderungen der Konvention entsprachen, notfalls auch an einem Samstag oder Sonntag.222 In der Praxis kann es vorkommen, dass eine Person unmittelbar nach ihrer Festnahme in ein anderes Land ausgeliefert wird, ohne zuvor im Festnahmestaat vorgeführt worden zu sein. Erfolgt die Vorführung erst in dem Staat, in den die festgenommene Person ausgeliefert wird, stellt sich die Frage, ob es bei der Beurteilung der Unverzüglichkeit der Vorführung auch auf die Zeit zwischen der Festnahme und der Auslieferung ankommt. Zwar trifft den Staat, in den die Person ausgeliefert wird, für diesen Zeitraum keine unmittelbare Verantwortung. Dies schließt jedoch nicht aus, die bereits vor der Auslieferung verstrichene Haftzeit zu berücksichtigen. Der E G M R ist im Fall McGoff einen anderen Weg gegangen. Dort hat er lediglich auf die Inhaftierungszeit in dem Land abgestellt, in das der Beschuldigte ausgeliefert worden war. Inwieweit dieser Ansatz jedoch verallgemeinerungsfähig ist, bleibt offen, weil im konkreten Fall bereits die Zeit seit der Auslieferung bis zur Vorführung offensichtlich nicht mehr den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 entsprach. 223 Dass die EMRK auch auf dem Gebiet freiheitsentziehender Maßnahmen eine wichtige Garantiefunktion für bereits erreichte strafprozessuale Standards übernehmen kann und muss, zeigt ein aktuelles Beispiel aus dem deutschen Haftrecht. Konform mit dem Unverzüglichkeitserfordernis des Art. 5 Abs. 3 folgt nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur aus Art. 104 III 1 GG iVm §§ 128 I, 129,
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EGMR, De Jong, Baljet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, §§ 52-53 (Zeitraum von der Festnahme bis zur Verweisung des Falles an das Militärgericht). EGMR, van der Sluijs, Zuidervelt u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 49 (Zeitraum von der Festnahme bis zur ersten Verhandlung vor dem Militärgericht). EGMR, Duinhof u. Duijf ./. Niederlande, Serie A Nr. 79, § 41. EGMR, Köster ./. Niederlande, Serie Α Nr. 221, §§ 9-12, 18, 25. EGMR, McGoff ./. Schweden, Serie A Nr. 83, §§ 12-13, 27. Der Bf. war am 10.07.1979 in den Niederlanden festgenommen, am 24.1.1980 an Schweden ausgeliefert und erst am 8.2.1980 einem Gericht vorgeführt worden. Der EGMR prüfte lediglich die Zeit des Freiheitsentzugs in Schweden - ging auf die Inhaftierung in den Niederlanden überhaupt nicht ein - und hielt den Zeitraum von 15 Tagen zwischen Inhaftierung und Vorführung nicht mehr für unverzüglich.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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115 III StPO, dass im Rahmen der Vorführung einer vorläufig festgenommenen Person spätestens am Tag nach der Festnahme mit der richterlichen Vernehmung begonnen werden muss. Die Literatur ist darüber hinaus der Ansicht, dass analog § 129 letzter Hs. StPO bis zum Ablauf dieses Tages auch über die Verhaftung bzw. Freilassung der festgenommenen Person entschieden werden muss.224 Das OLG Frankfurt hat nun jüngst den gegenüber einem Haftrichter erhobenen Vorwurf der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) nicht als erfüllt angesehen, der vorläufig festgenommene Personen am Tag nach der Festnahme lediglich in ihren Zellen aufgesucht und - zur Ermöglichung der Einarbeitung in die Fallakte - mit ihrer Vernehmung erst am zweiten Tag nach der Festnahme begonnen hatte.225 Wenngleich dieses Vorgehen (noch) als den Vorgaben des Art. 5 Abs. 3 entsprechende Vorführung angesehen werden kann, so zeigt die Entscheidung des OLG Frankfurt, dass selbst in hochsensiblen, grundrechtsrelevanten Bereichen - wie es Freiheitsentziehungen nun einmal sind - das richterliche „Bewusstsein" hinsichtlich einer in der Literatur einhellig vertretenen Rechtsauffassung und zugleich gängigen Rechtspraxis in Frage gestellt wird. Der EGMR hat die Lücke zur Beurteilung der Unverzüglichkeit zwischen dem zweiten und vierten Tag nach der Festnahme noch nicht vollständig geschlossen. Ob eine Vernehmung erst am dritten Tag nach der Festnahme unverzüglich gewesen wäre, lässt sich daher nicht mit letzter Sicherheit sagen. Klar ist aber, dass Art. 5 Abs. 3 nicht den tagelangen Aufenhalt einer festgenommenen Person in einer „justitiellen Schutzzone" gestattet, nachdem diese dem Bereich der unabhängigen Judikative überstellt worden ist. Unbeschadet der Tatsache, dass im konkreten Fall kein Konventionsverstoß auszumachen ist, geht es um die Schärfung des Bewusstseins der nationalen Instanzen, dass für die Beantwortung strafprozessualer Fragestellungen immer auch ein Blick in die E M R K und die Rechtsprechung des E G M R lohnt. Zugleich offenbart der vom OLG Frankfurt entschiedene Fall ein anderes, in der E M R K selbst verwurzeltes Problem. Art. 5 Abs. 3 statuiert im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 1 nicht das Erfordernis der Rechtmäßigkeit der Vorführung. Der hier nicht vorgesehene Durchgriff auf das nationale Recht hat zur Folge, dass der Verstoß gegen strengere nationale Vorführfristen sanktionslos bleibt, wenn die Vorführung „wenigstens" den Kriterien der Unverzüglichkeit entspricht. Dagegen scheint der EGMR bei der Kürze der von Art. 5 Abs. 4 geforderten Frist den „nationalen Weg" einzuschlagen (vgl. dort). Das sollte er auch im Bereich des Art. 5 Abs. 3 praktizieren, weil nicht einzusehen ist, warum sich Vertragsstaaten nicht an den ihnen selbst auferlegten, quasi überobligatorischen Ansprüchen messen lassen müssen.
2.
Angemessene Dauer der Untersuchungshaft (Art. 5 Abs. 3 Satz 2)
Art. 5 Abs. 3 Satz 2 will im wesentlichen die vorläufige Entlassung einer inhaftierten Person sicherstellen, wenn die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung nicht mehr an-
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Vgl. Boujong in: KK-StPO § 128 Rn. 7; Häger in: Löwe/Rosenberg § 128 Rn. 11; KleinknechtlMeyerGoßner § 128 Rn. 13; nicht eindeutig in dieser Frage: BGHSt 38, 291, 295. OLG Frankfurt, NJW 2000,2037; zu den dieser Entscheidung immanenten Gefahren und Risiken für das deutsche Haftrecht: Schaefer NJW 2000, 1996.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
gemessen erscheint. Deshalb hat jede auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1(c) festgenommene oder inhaftierte Person Anspruch auf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens („... shall be entitled to trial within a reasonable time or to release pending triar'/„le droit d'etre jugee dans un delai raisonnable, ou liberee pendant la procedure"). Obwohl dies der Wortlaut der Vorschrift eindeutig zum Ausdruck bringt, hat sich der Gerichtshof offensichtlich zur Klarstellung veranlasst gesehen, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 2 nur für Freiheitsentziehungen auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) gilt, auf andere Haftgründe des Art. 5 dagegen keine Anwendung findet. Wie der Fall Eriksen zeigt, kann es Fälle geben, in denen sich die Dauer einer Inhaftierung an Art. 5 Abs. 3 messen lassen muss, obwohl die Freiheitsentziehung nicht nur auf Art. 5 Abs. 1(c), sondern zusätzlich auch auf einem anderen Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 beruht. 226 Ein Beschuldigter kann die seiner Ansicht nach unangemessene Dauer einer Untersuchungshaft auch dann rügen, wenn er sich nach seiner vorläufigen Freilassung aus der H a f t der staatlichen Gerichtsbarkeit durch Flucht entzieht. Der Bf. van der Tang war am 2 6 . 5 . 1 9 8 9 verhaftet und einen Tag später in Untersuchungshaft genommen worden („detention pending trial"). A m 24.7. wurde er gegen Hinterlegung einer Sicherheit aus der Haft entlassen. Obwohl ihm die Ausreise nicht gestattet worden war, fuhr er am 23.12. zu seiner Frau in die Niederlande. Mangels Kontakt mit den spanischen Behörden und Gerichten konnte gegen ihn in Spanien kein Strafprozess durchgeführt werden. Die spanische Regierung hatte deshalb die Ansicht vertreten, der Bf. habe gegen die Bedingungen seiner einstweiligen Freilassung verstoßen und sei daher nicht berechtigt, eine Beschwerde gegen den Staat zu erheben, dessen Gerichtsbarkeit er sich entzogen habe. Dabei bezog sich die Regierung auf die „clean hands" Doktrin, wonach die Verantwortlichkeit eines Staates nicht besteht, wenn die betreffende Person selbst gegen nationales oder internationales Recht verstoßen hat (ex delicto non oritur actio). Der Gerichtshof hob hervor, dass die Tatsachen, auf die sich die Beschwerde stützte - die drei Jahre dauernde Untersuchungshaft - der Flucht des Bf. vorausgegangen waren. Solange er der spanischen Gerichtsbarkeit unterworfen war und sich in Haft befand, habe der Bf. die Einhaltung der Konventionsrechte verlangen können. Dieses Interesse sei durch seine spätere - freilich rechtswidrige - Flucht keineswegs illegitim geworden. 227
Die Frage, ob ein Beschuldigter die seiner Ansicht nach unangemessene Dauer seiner Inhaftierung rügen kann, stellt sich auch dann, wenn er die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten nicht wahrnimmt. Dieses Problem behandelt der Gerichtshof im Rahmen der Frage, ob der innerstaatliche Rechtsweg vom Beschuldigten erschöpft worden ist. Wie allgemein gilt auch im Bereich der H a f t p r ü f u n g der Grundsatz, dass der Beschuldigte nur solche Rechtsbehelfe ergreifen muss, die sowohl theoretisch als auch praktisch hinreichend sicher sind („remedy ... sufficiently certain, in 226
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EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie Α Nr. 12, § 71; Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, § 53; De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, §§ 42-44; Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, §§ 85-87, 92 (Art. 5 Abs. 1(a) und (c)). EGMR, van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, §§ 8-28, 49, 51, 53.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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practice as well as in theory"). Davon kann nicht ausgegangen werden, wenn das höchste Gericht eines Landes bereits entschieden hat, dass der besagte Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Fortdauer einer Inhaftierung keine Anwendung findet, und die Regierung dieses Landes im Verfahren vor dem EGMR keine gegensätzlichen Entscheidungen zitiert.228 Die Problematik betrifft jedoch allein eine Zulässigkeitsvoraussetzung für das Straßburger Verfahren, berührt hingegen nicht das Vorliegen eines Konventionsverstoßes in der Sache. a)
Abstrakte Berechnung der Inhaftierungszeit
(1) Beginn der Frist Die Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft muss sich an Art. 5 Abs. 1(c) und Abs. 3 orientieren. Entgegen dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 Satz 2 besitzen die Justizbehörden kein Wahlrecht, die inhaftierte Person entweder innerhalb angemessener Frist abzuurteilen oder sie bei Überschreitung der Angemessenheit der Haftdauer während des Verfahrens aus der Haft zu entlassen. Diese Art der Interpretation von Art. 5 Abs. 3 würde es den staatlichen Stellen nämlich erlauben, das Verfahren bis zu einer Aburteilung unangemessen lange zu führen, solange sich der Beschuldigte nur wieder in Freiheit befindet. Sie widerspräche den Zielen der Konvention und wäre vor allem nicht mit Art. 6 Abs. 1 vereinbar. Auch Art. 5 Abs. 3 Satz 2 ist Ausdruck eines der Konvention immanenten Beschleunigungsgebots für Strafverfahren. Allerdings muss die Angemessenheit der Zeit („reasonable time") bis zur Aburteilung des Beschuldigten gerade in Hinblick auf dessen konkrete Haftsituation bestimmt werden. Art. 5 Abs. 3 bezieht sich nicht auf die Dauer des gesamten Verfahrens, sondern allein auf die Dauer der vorläufigen Inhaftierung („provisional detention").229 Wie bei der nach Art. 6 Abs. 1 zu prüfenden Dauer des gesamten Strafverfahrens ist zunächst abstrakt zu klären, welche Zeiträume einer Inhaftierung im Rahmen eines Strafverfahrens bei Art. 5 Abs. 3 zu berücksichtigen sind. Problematisch war die Beurteilung der angemessenen Dauer einer Inhaftierung, wenn die Freiheitsentziehung bereits zu einem Zeitpunkt begonnen hatte, zu dem der betroffene Staat noch nicht die nach Art. 46 a.F. erforderliche Erklärung über die obligatorische Anerkennung der Gerichtsbarkeit des EGMR abgegeben hatte. Der Gerichtshof lehnte es ab, auf Ereignisse - wie z.B. Haftenscheidungen - einzugehen, die vor dem Datum der Hinterlegung der Erklärung geschehen waren, weil sich seine Gerichtsbarkeit zeitlich gesehen nur auf die nach diesem Zeitpunkt liegende Haftzeit erstreckte. Mehrfach hat er jedoch bei der Prüfung der auf Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 gestützten Beschwerden den Verfahrensstand zum Zeitpunkt der Hinterlegung der Erklärung berücksichtigt („state of the proceedings at the time when ... declaration was deposited"). Unzweifelhaft unterlagen seiner Gerichtsbarkeit auch solche Tatsachen,
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EGMR, Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 24; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, §42. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 5; Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 4.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
die nach dem Datum der Hinterlegung eingetreten waren, da von dem nach Art. 46 a.F. maßgeblichen Datum an sämtliche Handlungen und Unterlassungen des betroffenen Staates nicht nur der Konvention entsprechen, sondern auch der Kontrolle durch die Konventionsorgane zugänglich sein müssen. Der EGMR prüfte auch solche Umstände, die nach Einreichung der Beschwerde, d.h. während des laufenden Verfahrens vor den Konventionsorganen eintraten, wenn sie lediglich eine Fortentwicklung der schon zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerde vorliegenden Umstände darstellten.230 Soweit es die nach Art. 5 Abs. 3 zu prüfende Haftdauer betraf, begann der zu untersuchende Zeitraum an sich erst mit dem Datum der Hinterlegung der Erklärung, auch wenn der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt schon inhaftiert war. Gleichwohl war bei der Frage, ob eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Inhaftierung („continued detention") gerechtfertigt war, die vor diesem Datum verstrichene Haftzeit zu berücksichtigen. Hahentscheidungen, die vor dem nach Art. 46 a.F. maßgeblichen Datum ergangen waren - insbesondere deren Inhalt und Begründung - prüfte der EGMR dagegen nicht.231 Der Bf. Mansur war am 1.11.1984 festgenommen und am 5.11. in Untersuchungshaft genommen worden („detention pending trial"). Da die Türkei die Erklärung nach Art. 46 a.F. erst am 22.1.1990 hinterlegt hatte, konnte der EGMR lediglich auf die Zeit zwischen dem 22.1.1990 und dem am 19.2.1991 ergangenen Urteil abstellen. Jedoch berücksichtigte er, dass der Bf. am 5.11.1984 inhaftiert worden und am 22.1.1990 bereits fast fünf Jahre und drei Monate inhaftiert war. Warum der EGMR für den Beginn der Haft nicht auf das Datum der Festnahme abstellte, bleibt allerdings offen. Die Bf. Yagci u. Sargin waren am 16.11.1987 verhaftet worden („police custody"). Am 5.12. ordnete ein Richter die Untersuchungshaft an. Hier konnte der EGMR lediglich den Zeitraum von 3 Monaten und 12 Tagen prüfen, der zwischen dem 22.1.1990 und der Freilassung der Bf. am 4.5.1990 verstrichen war. Jedoch berücksichtigte er, dass die Bf. bereits am 16.11.1987 inhaftiert worden waren und sich am 22.1.1990 bereits für zwei Jahre und zwei Monate in Haft befanden. Eine dem Art. 46 a.F. entsprechende Regelung über die obligatorische Anerkennung der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs enthält die Konvention nun nicht mehr. Die oben aufgeführten Grundsätze dürften jedoch weiterhin gelten, wobei es jetzt freilich auf das Inkrafttreten des 11. ZP am 1.11.1998 bzw. bei Beitrittsstaaten auf den nach Art. 59 Abs. 3 maßgeblichen Zeitpunkt ankommt. Bevor die Angemessenheit der Haftdauer in einem konkreten Fall geprüft werden kann, muss feststehen, welche Abschnitte des Strafverfahrens in die Fristberechnung einzubeziehen sind. Im Einzelfall kann es durchaus schwierig sein, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem eine Festnahme vorliegt oder eine Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1(c) beginnt. Regelmäßig beginnt die Frist des Art. 5 Abs. 3 mit dem Tag der Festnahme („date of arrest"/„remanded in custody"/„taken into police custody"). Nicht
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EGMR, Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 7; Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 7; Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 5; Mansur./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 44; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 36. EGMR, Mansur./. Türkei, Serie Α Nr. 319-B, §§44, 51,53; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie Α Nr. 317-B, §§36,49,51.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
285
maßgebend ist dagegen der Tag, an dem der - etwa nach deutschem Recht zur Anordnung der Untersuchungshaft erforderliche - Haftbefehl erlassen oder dem Festgenommenen eröffnet bzw. mitgeteilt wird. 232 Äußerst problematisch ist die Entscheidung De Wilde, Ooms u. Versyp. Dort traf der Gerichtshof die Aussage, die Festnahme einer Person stelle noch keine freiheitsentziehende Maßnahme iSv Art. 5 Abs. 1(e) dar, wenn sie nur vorläufigen Charakter habe („provisionally") bzw. lediglich als vorbereitende Maßnahme („action of preliminary nature") einzustufen sei und die betroffene Person durch ihr eigenes Verhalten zu dieser „Freiheitsentziehung" beigetragen habe. Dies sollte sogar für polizeiliche Inhaftierungen von bis zu 24 Stunden gelten.233 Die Entscheidung dürfte für Festnahmen auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) keine Bedeutung mehr haben. Sie wirft vor allem Abgrenzungsschwierigkeiten auf, weil letztlich jede Polizeioder Untersuchungshaft vorläufigen Charakter besitzt. Ungenau sind auch die Äußerungen im Urteil Murray. Dort hatten mehrere Soldaten um 7.00 Uhr die Wohnung der Bf. betreten. Nachdem deren Identität überprüft war, sagte eine Soldatin (D) um etwa 7.30 Uhr zu der Bf.: „As a member of Her Majesty's forces, I arrest you." Der EGMR hat sich zum genauen Beginn der Festnahme nie ausdrücklich geäußert, sondern lediglich bei der Prüfung des Art. 5 Abs. 2 erklärt, die Bf. sei um 7.00 Uhr zu Hause festgenommen worden („arrested at her home").234 (2) Ende der Frist Interessanter ist die Frage nach dem Ende der Frist iSv Art. 5 Abs. 3 Satz 2, weil hierfür abstrakt gesehen drei verschiedene Zeitpunkte in Betracht kommen: die Vorführung der Person vor das erkennende Gericht bzw. der Beginn der Hauptverhandlung, der Erlass bzw. die Verkündung des erstinstanzlichen Urteils und der Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die Anklage. In Anbetracht der französischen Fassung des Art. 5 Abs. 3 E M R K („jugee"/„pendant la procedure") scheidet jedenfalls die erstmalige Vorführung als maßgeblicher Zeitpunkt aus. Eine derart enge Auslegung des Art. 5 Abs. 3 wäre schon mit dem Schutzzweck des Art. 5 nicht zu vereinbaren. 235 Wird die Freiheitsentziehung noch vor dem Erlass einer das Ermittlungsverfahren oder das erstinstanzliche gerichtliche Verfahren abschließenden Entscheidung aufgehoben, endet die nach Art. 5 Abs. 3 zu überprüfende Dauer der Inhaftierung mit dem
232
233
234 235
Vgl. die folgenden Entscheidungen: EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 4/9; Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, §§ 9, 34; Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, §§ 10, 34; Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 8, 35; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 7, 29; Quinn ./. Frankreich, Serie A Nr. 311, §§ 9, 53; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, §§ 8, 56; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-II, §§ 6, 34. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A, Nr. 12, §§ 67, 75. Im konkreten Fall hat der EGMR daher nur die Entscheidung des tribunal de police , nicht aber die freiheitsbeschränkenden Anordnungen der Polizei anhand von Art. 5 Abs. 1 überprüft, da die Bf. sich freiwillig bei der Polizei gemeldet und Gründe vorgetragen hätten, auf deren Grundlage eine Festnahme habe erfolgen müssen. EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 12, 32, 78. EGMR, Wemhoff./. Deutschland, Serie A Nr. 7, §§ 7 f.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Tag, an dem der Beschuldigte freigelassen wird, d.h. seine Freiheit wiedererlangt.236 Bleibt der Beschuldigte aufgrund einer Haftanordnung im Rahmen eines anderen gegen ihn geführten Strafverfahrens weiterhin inhaftiert, endet der in Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 zu überprüfende Zeitraum der Untersuchungshaft logischerweise nicht mit der späteren - Freilassung des Beschuldigten, sondern mit dem Datum der Entscheidung, die seine Freilassung anordnet.237 (a) Freilassung gegen eine Sicherheit Ordnet ein Gericht die Freilassung des Beschuldigten gegen Hinterlegung einer Sicherheit an, stellt sich die Frage, ob der nach Art. 5 Abs. 3 zu überprüfende Zeitraum bereits mit der Entscheidung über die Freilassung oder erst - nach Hinterlegung der Sicherheit - mit der tatsächlichen Freilassung des Beschuldigten endet. Die Frage ist insofern von Bedeutung, als der Beschuldigte durch ihm zurechenbare Verzögerungen bei der Beschaffung einer als Sicherheit dienenden Geldsumme die Dauer der Untersuchungshaft selbst verlängern könnte. Grundsätzlich kann eine Freiheitsentziehung - vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen - auch dann noch auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützt werden, wenn ein Gericht die Freilassung des Beschuldigten gegen Zahlung einer Kaution und dessen Überwachung anordnet, die Freilassung aber gleichwohl nicht erfolgt, weil der Beschuldigte mit der Art der Überwachung nicht einverstanden ist oder die Kaution nicht bezahlt. Im Fall Kemmache (Nr. 3) hatte ein Gericht am 4.7.1990 die Freilassung des Bf. angeordnet, diese jedoch von einer gerichtlichen Überwachung und der Zahlung einer Kaution in Höhe von 800000 F F abhängig gemacht. A m 26.7. bewilligte das Gericht eine Ratenzahlung der Kaution, lehnte aber einen Antrag auf Freilassung ab, da der Bf. seit dem 4.7. nicht mehr im Zusammenhang mit der Ordonnance de prise de corps inhaftiert sei, sondern weil er sich mangels Zahlung der Kaution nicht entsprechend der angeordneten Überwachung verhalte. Nach Zahlung der ersten Kautionsrate iHv 100 000 F F am 10.8. wurde der Bf. aus der Haft entlassen. Der E M G R war der Ansicht, dass die Inhaftierung des Bf. auf der Ordnonnance beruhte, die sein Erscheinen vor Gericht sicherstellen sollte, so dass als Rechtfertigung für die Inhaftierung nur Art. 5 Abs. 1(c) in Betracht kam. Als zu überprüfenden Zeitraum bestimmte er die Zeit zwischen dem 12.6. und 10.8.1990. 2 3 8
Handelt es sich bei der geforderten Sicherheitsleistung um eine hohe, aber angesichts der Umstände des Falles nicht unangemessene („nothing... disproportionately high") in bar oder als Bankbürgschaft zu stellende Geldsumme, so ist zu berücksichtigen, dass es zu ihrer Beibringung u.U. mehrerer Tage bedarf. Soweit dem Beschuldigten bei der Erbringung der Sicherheitsleistung keine Nachlässigkeit vorzuwerfen ist, endet die Frist des Art. 5 Abs. 3 erst mit seiner Freilassung („no negligence ... as regards the deposit of his security...").
236 237 238
EGMR, Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, §§ 23,49. EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 30, 35. EGMR, Kemmache ./. Frankreich (No. 3), Serie A Nr. 296-C, §§ 7-15, 21, 32-34.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Der Bf. van der Tang befand sich seit Mai 1989 in Untersuchungshaft. Das mit der Sache befasste Gericht entschied am 11.6.1992, den Bf. u.a. gegen Zahlung einer Sicherheit in Höhe von 8 Millionen ESP freizulassen. Auf Antrag des Bf. reduzierte das Gericht am 2.7. die geforderte Sicherheit auf 4 Millionen ESP. Nachdem seine Ehefrau die Sicherheit hinterlegt hatte, wurde der Bf. am 24.7. aus der Haft entlassen. Der EGMR hielt die als Sicherheitsleistung zuletzt festgesetzte Geldsumme nicht für unangemessen hoch. Da zu ihrer Beibringung einige Tage erforderlich waren und dem Bf. bei der Hinterlegung der Geldsumme keine Nachlässigkeit vorgeworfen werden konnte, endete die nach Art. 5 Abs. 3 zu überprüfende Inhaftierungszeit am 24.7. mit der Freilassung.239 (b) Erstinstanzliches Urteil als Ende der Frist Als Zeitpunk für das Ende der Frist iSv Art. 5 Abs. 3 stellt der E G M R auf die Entscheidung des Strafgerichts in erster Instanz ab. Dieser Fixpunkt ist auf der einen Seite zu begrüßen, weil auf diese Weise nicht nur Art. 5 Abs. 1(a) und (c), sondern auch die Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 exakt abgrenzbare Anwendungsbereiche erhalten. Eine Freiheitsentziehung kann also nur bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützt werden. Die anschließende Zeit der Inhaftierung fallt dagegen unter Art. 5 Abs. 1(a), unabhängig davon, ob der Beschuldigte bis zu diesem Zeitpunkt inhaftiert war oder nicht. Nach einer Verurteilung meint nicht nur den Fall einer rechtskräftigen Verurteilung („final conviction"). Einen Konflikt mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 sieht der E G M R hier offensichtlich nicht. Wird eine Person in erster Instanz verurteilt, so ist ihre Schuld in einem den Anforderungen des Art. 6 entsprechenden Gerichtsverfahren festgestellt. Deshalb endet auch der von Art. 5 Abs. 3 gewährte Schutz - spätestens - zu diesem Zeitpunkt. Abzustellen ist auf die Verkündung des erstinstanzlichen Urteils, selbst wenn die Urteilsgründe erst zu einem späteren Zeitpunkt schriftlich niedergelegt werden. 240 Die Bf. Mi tap u. Müftüoglu waren am 19.7.1989 von einem Militärgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Urteilsgründe wurden erst 1993 schriftlich niedergelegt. Im Rahmen einer von der türkischen Regierung gegen die Gerichtsbarkeit des EGMR erhobenen Einrede stellte der EGMR fest, die Untersuchungshaft habe am 19.7.1989 geendet. Obwohl er die Einhaltung von Art. 5 in dem konkreten Fall nicht prüfte, muss man dieser Formulierung entnehmen, dass es für das Ende der Untersuchungshaft auf den - mündlichen - Erlass des erstinstanzlichen Urteils ankommt.241 Verzögerungen im Rechtsmittelverfahren werden demzufolge ausschließlich von Art. 6 Abs. 1 erfasst, was nicht unproblematisch ist, weil sie so den strengen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 - vor allem zur Verfahrensbeschleunigung und zur Freilassung gegen 239 240
241
EGMR, van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, §§ 21-22, 57-58. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, §§ 8-9,18; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 35; Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, §§ 36-38; Letellier./. Frankreich, Serie A Nr. 207, §§ 28, 34; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 7, 24, 29; Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, §§ 20-21, 51; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 19, 34; Tsirlis u. Kouloumpas ./. Griechenland, Reports 1997-III, § 55. EGMR, Mitap u. Müftüoglu ./. Türkei, Reports 1996-11, § 13-16, 26.
288
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Sicherheit - entzogen sind. Zwar hat der EGMR den Vertragsstaaten mittlerweile auch in Hinblick auf die Gesamtdauer von Strafverfahren vergleichbar strenge Vorgaben gemacht. Probleme bestehen allerdings beim Haftprüfungsrecht (Art. 5 Abs. 4), weil der Gerichtshof die kurzen Überprüfungsintervalle lediglich bei einer Inhaftierung auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) fordert und Haftprüfungen nach der Entscheidung über die strafrechtliche Anklage grundsätzlich eine Absage erteilt, um nicht auf diesem Weg eine Pflicht der Vertragsstaaten zur Einführung eines Rechtsmittelverfahrens zu installieren.242 Letztere Argumentation ist jedoch nicht zwingend, weil sich ein Haftprüfungsverfahren nach Art. 5 Abs. 4 nur mit der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung befasst, nicht aber mit der Entscheidung über die strafrechtliche Anklage. Zudem sieht Art. 2 des 7. ZP ein Rechtsmittelverfahren vor. Trotz der im Schrifttum vorgetragenen Bedenken243 hat der EGMR an der ersten gerichtlichen Entscheidung über die strafrechtliche Anklage als Fixpunkt für das Ende der auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützten Inhaftierung festgehalten. Deshalb endet die Frist des Art. 5 Abs. 3 auch dann mit dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils, wenn im Urteil zugleich die Haftfortdauer angeordnet wird und der Beschuldigte während des Rechtsmittelverfahrens entsprechend der Terminologie der nationalen Rechtsordnung weiterhin in Untersuchungshaft - und nicht in Strafhaft - bleibt.244 Der EGMR hat auf der einen Seite sicherlich gut daran getan, die in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 enthaltene Garantie unabhängig von der Terminologie und Dogmatik der nationalen Rechtsordnungen zu bestimmen. Dies gilt um so mehr, als innerhalb der Vertrags242
243
244
Vgl. E G M R , Beziehen./. Italien, Serie Α Nr. 164, §§9-11,19-21; hierzu auch: Trechsel StV 1995,326, 329. Vgl. Trechsel E u G R Z 1980, 514, 523 - plädiert für die Vollstreckbarkeit des Urteils als Ende der Frist; Reindl Kontinuität und Wandel der E M R K , S. 45,46, weist zu Recht auf die fehlende Möglichkeit der Enthärtung gegen Leistung einer Sicherheit hin (Art. 5 Abs. 3). Nach Ansicht des E G M R ist der Grund für die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung im erstinstanzlichen Urteil die darin verkündete Verurteilung, weil der Beschuldigte ohne diese freigelassen hätte werden müssen. Zudem fehle es bei der Freiheitsentziehung im Anschluss an ein erstinstanzliches Urteil an dem zwischen Art. 5 Abs. 1(c) und Art. 5 Abs. 3 erforderlichen Zusammenhang, da eine in erster Instanz verurteilte und während des Rechtsmittelverfahrens inhaftierte Person nicht als zu dem Zwecke ihrer Vorführung vor eine zuständige Gerichtsbehörde wegen des hinreichenden Verdachts der Begehung einer strafbaren Handlung angesehen werden kann, wenn sie wegen dieser bereits verurteilt worden ist ( E G M R , Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, §§ 37-40). Im Urteil Herczegfalvy ./. Österreich (Serie Α Nr. 244, §§ 9-14, 60, 62) wandte der E G M R diese Grundsätze auf die Unterbringung eines psychisch Kranken an. Der Bf. hatte gegen die Unterbringungsentscheidung vom Januar 1979 Nichtigkeitsbeschwerde zum Obersten Gerichtshof eingelegt. Obwohl er nach österreichischem Recht während des Rechtsmittelverfahrens in Untersuchungshaft blieb, fiel der Freiheitsentzug nach Ansicht des E G M R nunmehr unter Art. 5 Abs. 1(e), da das Landesgericht ihn wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit nicht für schuldig befunden und keine Strafe über ihn verhängt hatte („not convicted or sentenced ... in view of his lack of criminal responsibility"); vgl. zum Grundsatz, dass die Frist des Art. 5 Abs. 3 mit dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils endet, und zur Problematik der Überhaft: E G M R , Ringeisen ./. Österreich (Serie A Nr. 13, § 109). Dort hatten die Behörden die Aufhebung eines Haftbefehls sogar mit der Begründung abgelehnt, dass eine Freilassung dem Inhaftierten nicht nützlich sei, da er aufgrund des zweiten Haftbefehls weiterhin inhaftiert bleibe.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
289
Staaten erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Frage bestehen, ob eine in erster Instanz verurteilte Person während eines Rechtsmittelverfahrens die Verbüßung der verhängten Strafe antritt oder sich noch in Untersuchungshaft befindet. Andererseits besteht durchaus ein Bedürfnis, dass der Beschuldigte auch im Rechtsmittelverfahren in den Genuss der in Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 vorgesehenen Garantien kommt. Dem müssen die Vertragsstaaten bei der Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens nachkommen. Kurze Überprüfungsfristen sind daher bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die strafrechtliche Anklage zu fordern. Das sollte der EGMR tunlichst bei nächster Gelegenheit zum Ausdruck bringen. b)
Angemessenheit der Inhaftierungszeit
im konkreten Fall
(1)
Gründe für die fortdauernde Inhaftierung („reasons/grounds for continued detention") Obwohl die Untersuchungshaft schon sehr früh Gegenstand von Urteilen des Gerichtshofs wurde, galten die Kriterien für die Bestimmung der Angemessenheit ihrer Dauer lange Zeit als nicht geklärt.245 Durch die mittlerweile vorliegende Zahl von Urteilen hat der EGMR das konkretisierungsbedürftige Tatbestandsmerkmal der Angemessenheit mit einem immer engeren Prüfungsmuster versehen. Die staatlichen Stellen müssen in jeder Lage des Verfahrens prüfen, ob die Inhaftierung des Beschuldigten das Maß der Angemessenheit überschreitet. Abstrakt formuliert ist dies dann der Fall, wenn dem Beschuldigten nach den Umständen des Falles durch die Inhaftierung ein größeres Opfer abverlangt wird, als man es vernünftigerweise von einer als unschuldig geltenden Person erwarten darf. Bedauerlicherweise hat der EGMR die Unschuldsvermutung als Leitprinzip der Angemessenheit nicht noch stärker ins Spiel gebracht. Der Opfergedanke, auf den der EGMR hier rekurriert, geht jedoch praktisch in diese Richtung.246 Ein Vergleich mit der Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 kann der Bestimmung der Angemessenheit der Haftzeit durchaus dienlich sein. Selbst wenn aber die Dauer des Strafverfahrens insgesamt gesehen jeder Kritik standhält, kann die Inhaftierung des Beschuldigten eine angemessene Zeit überschreiten, weil Art. 5 Abs. 3 insofern einen eigenständigen Anwendungsbereich besitzt.247 Bei der Berechnung der Angemessenheit hat es der EGMR abgelehnt, dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 Satz 2 eine maximal zulässige Dauer der Inhaftierung zu entnehmen („maximum length").248 Auch beurteilt er die Angemessenheit einer Freiheitsentziehung nicht abstrakt nach einem Modell fester Zahlen von Tagen, Wochen, Monaten bzw. Jahren oder gar nach verschiedenen Zeiträumen, die von der Schwere des Tatvorwurfs
245 246
241 248
Siehe: Trechsel EuGRZ 1980, 514, 531. Vgl. zum Verhältnis von angemessener Haftdauer und Unschuldsvermutung: Bartsch JuS 1970, 445, 449; Gropp JZ 1991, 804, 808 f. EGMR, Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 5. Für eine aus der Unschuldsvermutung abzuleitende absolute Obergrenze der Inhaftierung: Gropp JZ 1991,804, 809.
290
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
abhängen. Bereits im Fall Wemhoff hat er die Ausarbeitung eines Katalogs von Kriterien zur Bestimmung der Angemessenheit der Haftdauer - wie ihn die EKMR vorgeschlagen hatte - nachdrücklich abgelehnt. Vielmehr muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles und aufgrund konkreter Anhaltspunkte an der Aufrechterhaltung der Haft ein echtes öffentliches Interesse bestehen, welches auch unter Beachtung der Unschuldsvermutung den Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschuldigten kompensieren kann („specific indications of a genuine requirement of public interest which ... outweighs the rule of respect for individual liberty").249 Der EGMR versteht das Kriterium der Angemessenheit nicht rein zeitlich. Erfolgt die Freiheitsentziehung wegen des hinreichenden Verdachts, dass die festgenommene Person eine Straftat begangen hat, so ist zwar das Fortbestehen dieses Verdachts eine conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der weiteren Inhaftierung („persistence of reasonable suspicion"). Nach Ablauf einer bestimmten Zeit reicht jedoch das Vorliegen eines solchen Verdachts allein nicht mehr aus. Für die Angemessenheit der Haft kommt es dann vor allem auf die Gründe an, welche die Justizbehörden zur Aufrechterhaltung der Inhaftierung veranlasst haben. Diese Gründe müssen nicht nur relevant und ausreichend („relevant and sufficient") für die weitere Inhaftierung sein, sondern während der Inhaftierung des Beschuldigten fortbestehen („continue to justify the deprivation of liberty"). Liegen sie schon bei der Anordnung der Haft nicht vor oder fallen sie nachträglich weg, ist die Angemessenheit der Haft schon aus diesem Grund überschritten. Liegen dagegen relevante und ausreichende Gründe für eine Aufrechterhaltung der Inhaftierung vor, darf zusätzlich auch der Gang des Verfahrens nicht zu beanstanden sein.250 Der Gerichtshof hat keinen Zweifel daran gelassen, dass in erster Linie die nationalen Stellen sicherstellen müssen, dass die Untersuchungshaft eine angemessene Zeitspanne nicht überschreitet. Hierzu müssen sie sämtliche Tatsachen und Umstände prüfen, die für und gegen die Existenz eines ernstlichen öffentlichen Interesses an der Freiheitsentziehung sprechen, und diese in ihren Haftentscheidungen mitteilen („examine all the facts/circumstances arguing for or against the existence of a genuine requirement of public interest justifying, with due regard to the principle of the presumption of innocence, a departure from the rule of respect for individual liberty and set them out in their decisions on the applications for release"). Über das Vorliegen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 ist auf der Grundlage der in den nationalen Haftprüfungsentscheidungen aufgeführten Gründe und den unbestrittenen Tatsachen, die der Beschuldigte in seinen Haftprüfungsanträgen
249
250
EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 10; Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 4; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 30; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 55; Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 74; Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 54. EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, §§ 106-107; Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 42; Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 35; Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 45; Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, § 36; Tomasi./. Frankreich, Serie Α Nr. 241, § 84; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie Α Nr. 244, § 71; W./. Schweiz, Serie Α Nr. 254-A, § 30; Mansur./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, §§ 52, 57; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, §§ 50, 55; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 55; Scott ./. Spanien, Reports 1996-VI, § 74; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 35; Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 54.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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vorträgt, zu entscheiden („on the basis of the reasons given in these decisions and of the true/undisputed facts mentioned/stated by the applicant in his appeals"). Dieser eigentlich nur das Verfahren vor dem Gerichtshof betreffenden Aussage lassen sich konkrete Dokumentationspflichten für die nationalen Strafverfahren entnehmen. Aus den Formulierungen „it is for the national judicial authorities ..." und „cases of alleged violation of Article 5(3) must have been the subject ...of reasonded decisions by
national judicial authorities" wird deutlich, dass die nationalen Justizbehörden hinsichtlich der für die Aufrechterhaltung der Haft sprechenden Gründe eine Darlegungspflicht trifft. Ob eine solche Pflicht auch auf Seiten des inhaftierten Beschuldigten besteht, erscheint eher fraglich. Aus der vom EGMR im Fall Wemhoff gewählten Formulierung „likewise, such a person must, when exercising his remedies, have invoked the reasons
...as
well as other circumstances" könnte man freilich auf eine entsprechende Darlegungspflicht des Beschuldigten schließen. Im Zusammenhang gesehen spricht aber mehr dafür, dass der Gerichtshof hier lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass die von den staatlichen Stellen genannten Gründe und die vom Beschuldigten vorgetragenen Argumente gleichwertige Quellen („likewise") für die vom EGMR zu treffende Entscheidung darstellen. Man wird daher davon ausgehen müssen, dass ein echter materieller Begründungszwang nur für die staatlichen Stellen besteht, wohingegen auf Seiten des Beschuldigten lediglich von einer Art Obliegenheit auszugehen ist. Setzt dieser sich nicht mit den Argumenten und Ansichten der Strafverfolgungsbehörden auseinander, läuft er Gefahr, dass der Gerichtshof die von den staatlichen Stellen angeführten Gründe als relevant und ausreichend bewertet. Selbst wenn der Beschuldigte, aus welchen Gründen auch immer, auf die Überprüfung seiner Inhaftierung verzichtet, entbindet dies die staatlichen Stellen nicht von der Pflicht zur Begründung ihrer Haftentscheidungen. Andernfalls würde nämlich aus dem von Art. 5 Abs. 4 verbürgten Recht des Beschuldigten auf Haftprüfung eine Verpflichtung.251 Bei der Prüfung, ob die nationalen staatlichen Stellen relevante und ausreichende Gründe für die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung vorgebracht haben, kommt es auf sämtliche Haftentscheidungen an, unabhängig davon, ob diese von Amts wegen, z.B. anlässlich einer im nationalen Recht vorgesehenen obligatorischen Haftprüfung, oder auf Antrag des inhaftierten Beschuldigten ergehen.252 Ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 251
252
Vgl. im einzelnen folgende Entscheidungen: E G M R , Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 12; Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 5; vgl. auch: Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 3; Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 3. E G M R , Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 52; Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 37-48; Tomasi ./. Frankreich, Serie A Nr. 241, §§ 85-99; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 71; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 31-38; Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 76-79; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 36; Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, §§ 55-62. Im Urteil Neumeister hatte der E G M R offensichtlich nur die Entscheidungen im Sinn, die im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens ergehen („reasons given in the decisions on the applications for release"). Dies würde die Entscheidung der Festnahme und die im Anschluss an die Vorführung des Beschuldigten ergehende Haftentscheidung nicht mit einschließen. Diesen engen Ansatz hat der Gerichtshof jedoch in späteren Entscheidungen nicht mehr aufgegriffen, so dass letztlich jede staatliche Haftentscheidung bei der Suche nach einem relevanten und ausreichenden Haftgrund zu berücksichtigen ist.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
liegt aber nicht bereits dann vor, wenn keine objektiven Anhaltspunkte für einen oder mehrere der von den nationalen Stellen angeführten Haftgründe vorliegen oder einige von ihnen nicht substantiiert genug begründet werden. Der EGMR prüft zwar die in den nationalen Haftentscheidungen genannten Gründe separat, nimmt anschließend aber eine Gesamtbetrachtung vor. Insofern genügt es bereits, wenn einer dieser Gründe während des gesamten Zeitraums der Inhaftierung objektiv relevant und ausreichend vorgetragen ist.253 Dies stellt die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte vor ein Dilemma. Einerseits muss man ihnen raten, in den Haftentscheidungen möglichst viele Gründe für die Aufrechterhaltung der Inhaftierung anzuführen, in der Hoffnung, dass wenigstens einer von ihnen die Inhaftierung des Beschuldigten über den gesamten Zeitraum trägt. Andererseits kann die Kumulation mehrerer Haftgründe schnell den Eindruck erwecken, dass die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zementiert werden soll, weil sich durch die Anführung mehrerer Haftgründe zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass einer von ihnen für den gesamten Zeitraum der Inhaftierung einschlägig ist. Die Problematik wird noch dadurch verschärft, dass der Gerichtshof einer kumulativen Betrachtung mehrerer Haftgründe durchaus offen gegenübersteht. Darauf deuten zumindest einige seiner Negativtestate hin, wie etwa, dass ein bestimmter Grund allein („alone", „on their own") bzw. die angegebenen Gründe weder für sich genommen noch zusammen ausreichen, um die Aufrechterhaltung einer Inhaftierung zu rechtfertigen.254 Welche zusätzlichen Aspekte noch erforderlich wären, bleibt in den Entscheidungsgründen aber regelmäßig offen. Einer „Inflation der Haftgründe" hat der EGMR dadurch einen Riegel vorgeschoben, dass er von den nationalen Stellen bei der Berufung auf bestimmte Haftgründe eine inhaltlich strenge Sorgfalt verlangt („carefully considered the grounds relied on ,..").255 Für die nationalen Behörden und Gerichte bedeutet dies indirekt auch eine inhaltliche Darlegungs- und Substantiierungslast. Als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung einer Untersuchungshaft angeführte Haftgründe hat der EGMR mitunter abgelehnt, weil sich die nationalen Stellen in ihren Haftentscheidungen gar nicht oder ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr auf sie berufen hatten.256 An anderer Stelle hat er beanstandet, dass die nationalen Gerichte bestimmte Haftgründe sprunghaft angeführt hatten, anstatt diese kontinuierlich hervorzuheben. Wie schon erwähnt, kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass auch der inhaftierte Beschuldigte gehalten - nicht verpflichtet - ist, vor den nationalen Stellen Argumente gegen die in den Haftentscheidungen vorgebrachten Gründe vorzutragen. Bei der Prüfung der Relevanz der von den staatlichen Stellen zur Aufrechterhaltung der Inhaftierung vorgebrachten Gründe spielt es nämlich auch eine Rolle, inwieweit er diese Gründe angreift und zu entkräften ver253 254
255 256
Siehe z.B. EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 62. EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 50 (3 Jahre und fast zwei Monate); Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, § 89 (2 Jahre und 9 Monate); van der Tang./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 63 (5 Jahre und 7 Monate); siehe auch: Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 78; Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 56; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 53. EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 61. EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 56; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 98.
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sucht. Dies lässt zumindest das Urteil des EGMR im Fall Β erkennen, in dem der Gerichtshof lediglich lapidar feststellte, der Beschuldigte habe zu einzelnen Gesichtspunkten keine zwingenden Argumente vorgetragen („not submitted any cogent arguments on these points").257 Eine besondere Art der Darlegungslast besteht für die staatlichen Stellen, wenn ein nationales Gericht im Laufe des Strafverfahrens die Freilassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft anordnet. Man könnte sich hier auf den Standpunkt stellen, dass diese gerichtliche Entscheidung die Unangemessenheit der Inhaftierung präjudiziert, wenn sie in Kenntnis des Beweismaterials, der Tatumstände und des Charakters des Beschuldigten ergeht. Der EGMR ist im Urteil Letellier jedoch einen anderen Weg gegangen. Bleibt der Beschuldigte in Haft - etwa weil die besagte gerichtliche Entscheidung im Beschwerdeweg angefochten und aufgehoben wird - , so sind die nationalen Gerichte gezwungen, in ihren nachfolgenden Haftentscheidungen in einer klaren, spezifischen und keinesfalls stereotypen Art und Weise darzulegen, warum sie die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung weiterhin für notwendig halten („stated in a more clear and specific, not to say less stereotyped, manner why they considered it necessary to continue the pre-trial detention").258 Ganz im Gegensatz dazu hat der EGMR in der Entscheidung Contrada eine in der italienischen Strafprozessordnung vorgesehene Vermutungsregel nicht beanstandet, wonach bei einigen schwerwiegenden Delikten eine Vermutung für das Vorliegen von Haftgründen sprach, wobei er aber auch die von den nationalen Gerichten-angeführten Haftgründe prüfte.259 (a) Datum der Festnahme („date of arrest") Der bloße Hinweis auf das Datum der Festnahme kann eine Haftfortdauer nicht rechtfertigen, da die Gesamtdauer einer Inhaftierung ohne einen von der Konvention anerkannten relevanten Grund nie durch sich selbst gerechtfertigt sein kann.260 (b) Schwere der Straftat („seriousness of the alleged offences") Die Existenz und Dauerhaftigkeit erheblicher Anzeichen für die Schuld einer Person stellen relevante Gesichtspunkte für die Aufrechterhaltung einer Untersuchungshaft dar („existence and persistence of serious indications of the guilt").261 Für die Schwere der dem Beschuldigten zur Last gelegten Vergehen kann es sprechen, dass die Staatsanwaltschaft in ihren Schlussanträgen eine mehrjährige Freiheitsstrafe fordert.262 Auch der
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EGMR, Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, §§ 19-23,44; siehe auch: Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 12. EGMR, Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 52. EGMR, Contrada./. Italien, Reports 1998-V, §§ 38,58 („creates a presumption that there is a risk that a suspect will..."). EGMR, Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 54 („since no total period of detention is justified in itself'). EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 50; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, §89. EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 78 („the fact that the public prosecutor requested that the applicant be sentenced to a period of sixteen years' imprisonment supports this conclusion").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Hinweis staatlicher Stellen auf die Beweislage („state of evidence") kann auf ernsthafte Anzeichen für die Schuld des Tatverdächtigen hindeuten. Aber selbst wenn die dem Beschuldigten zur Last gelegten Vergehen von schwerer Natur („serious nature") und die ihn belastenden Beweise schlüssig sind („evidence incriminating ... cogent"), können Anzeichen für seine Schuld oder das Bestehen eines starken Tatverdachtes - obwohl an sich relevante Faktoren - für sich allein nicht die Aufrechterhaltung einer Untersuchungshaft über mehrere Jahre rechtfertigen („they alone cannot justify such a long period of pre-trial detention").263 (c) Fluchtgefahr („danger of absconding") Häufig führen nationale Haftentscheidungen eine in der Person des Beschuldigten bestehende Fluchtgefahr an. Bereits in seinen Urteilen zum Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(c) hat der EGMR zu den Voraussetzungen Stellung genommen, bei denen vom Vorliegen einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann. Diese Ausführungen dürften auch im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 Gültigkeit haben. Aus den die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft anordnenden Entscheidungen muss sich ergeben, dass die Annahme einer Fluchtgefahr begründet ist („well-founded"). Das Risiko einer Flucht des Beschuldigten muss wirklich bestehen („real risk of his absconding").264 Die für eine Fluchtgefahr sprechenden besonderen Umstände müssen in den die Aufrechterhaltung der Haft anordnenden Entscheidungen erwähnt werden („refer to a specific element").265 Auf eine Fluchtgefahr kann die Inhaftierung nicht gestützt werden, wenn die Haftentscheidungen kaum Gründe enthalten, die erklären, warum trotz der gegenteiligen, vom Beschuldigten in seinen Haftprüfungsanträgen vorgebrachten Argumente eine Fluchtgefahr im konkreten Fall vorliegen soll und ihr mit anderen Mitteln, wie z.B. durch die Stellung einer Kaution oder mittels einer gerichtlichen Überwachung nicht begegnet werden kann.266 Eine angebliche Fluchtgefahr kann die Aufrechterhaltung einer Freiheitsentziehung jedenfalls dann nicht rechtfertigen, wenn ein Gericht in nahezu jeder seiner Entscheidungen eine identische, stereotype Wortwahl trifft („identical, not to say stereotyped, form of words") und auf die Art des Vergehens („nature of the offence") und die Beweislage („state of evidence") abstellt, ohne in irgendeiner Art und Weise zu erklären, warum eine Fluchtgefahr angeblich vorliegt, oder gar überhaupt keine Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft angibt („gave no reasons").267
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EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 50; Tomasi ./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, § 89; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 63; siehe auch: Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 78; Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 56; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 53. EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, § 48; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 43. EGMR, Tomasi./. Frankreich, Serie Α Nr. 241, § 98. EGMR, Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 43; Tomasi ./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 98 („decisions ... contained scarcely any reason capable of explaining why, notwithstanding the arguments advanced by the applicant in his applications for release, they considered the risk of his absconding to be decisive and why they did not seek to counter it by ..."). EGMR, Mansur./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 55; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 52.
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Eine Fluchtgefahr kann zwar bestehen, wenn es sich bei der dem Beschuldigten im Falle seiner Verurteilung drohenden Strafe um eine langjährige Freiheitsstrafe handelt („long term of imprisonment"). Auf die Fluchtbereitschaft des Beschuldigten darf jedoch nicht allein aufgrund der Höhe der zu erwartenden Strafe geschlossen werden („solely on the basis of the severity of the sentence risked/possible sentence"). Vielmehr müssen zahlreiche andere relevante Faktoren beurteilt werden, die entweder das Vorliegen einer Fluchtgefahr bestätigen oder diese als so gering erscheinen lassen, dass eine Freiheitsentziehung während des Verfahrens nicht zu rechtfertigen ist.268 In diesem Zusammenhang kommt es vor allem auf den Charakter des Beschuldigten, seine Moral, sein Vermögen, seine Verbindungen mit dem Staat, in welchem die Strafverfolgung stattfindet, sowie auf seine internationalen Kontakte an.269 Nach Ablauf einer bestimmten Zeit („after a certain lapse of time") kann eine drohende Strafe die Länge einer Inhaftierung nicht mehr rechtfertigen.270 Kommen jedoch im Rahmen einer Voruntersuchung ständig neue Straftaten zum Vorschein, welche die Verhängung einer noch schwereren Strafe erwarten lassen, kann dies die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft in Hinblick auf die zu erwartende Strafe durchaus rechtfertigen. Bloße Restrisiken („mere residual risks") sind dagegen nicht geeignet, eine Fluchtgefahr zu begründen.271 Vor diesem Hintergrund muss die in Deutschland immer noch vorherrschende Praxis vieler Ermittlungsrichter, im Haftbefehl mehr oder weniger ausschließlich auf eine hohe Straferwartung als Indiz für eine Fluchtgefahr zu rekurrieren, als eindeutig konventionswidrig eingestuft werden. Das betrifft allerdings weniger die Anordnung der Inhaftierung - für Art. 5 Abs. 1(c) reicht bekanntlich ein hinreichender Tatverdacht - sondern die Angemessenheit der Haftdauer, wo der EGMR das Vorliegen ausreichend begründeter Haftentscheidungen prüft. 272 Im Fall Wstufte der E G M R die gerichtlichen Haftentscheidungen als „carefully reasoned" ein, da die behauptete Fluchtgefahr auch auf die besondere Situation des Beschuldigten gestützt worden war („specific characteristics of the applicant's situation"). Im konkreten Fall hatte sich der Bf., nachdem er seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hatte, häufig in Deutschland, England, den U S A und auf der Insel Anguilla aufgehalten, wo er vermutlich eine Bank besaß, so dass bei ihm von zahlreichen engen Verbindungen zu ausländischen Staaten auszugehen war. Als weitere für die Annahme
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EGMR, Letellier./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 43; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 98; W./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 33; Mansur ./. Türkei, Serie A Nr. 319-B, § 55; Yagci u. Sargin ./. Türkei, Serie A Nr. 317-B, § 52; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 43. EGMR, W ./. Schweiz, Serie Α Nr. 254-A, § 33 („character of the person involved, his morals, his assets, his links with the State in which he is being prosecuted and his international contacts"). Deshalb sah der EGMR im Fall Clooth ./. Belgien (Serie A Nr. 225, §§ 25-26, 47-48) die erstmalige Behauptung einer Fluchtgefahr 31 Monate nach der Festnahme des Beschuldigten als „immaterial" an; siehe auch: EGMR, Wemhoff./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 14; Β./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 44; zum Freiheitsanspruch des Beschuldigten als Korrektiv zum Strafverfolgungsinteresse bei zunehmender Dauer der Untersuchungshaft: BVerfGE 19, 342, 347; 36, 264, 270; NJW 2000, 1401. EGMR, W./. Schweiz, Serie Α Nr. 254-A, §§ 33, 38 („investigation constantly brought to light further offences"). Kritisch hierzu: Beulke Rn. 212; OLG Hamm, StV 2001, 115; OLG Karlsruhe, StV 1999, 323.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
einer Fluchtgefahr sprechende Umstände wertete der EGMR die mehrfach getätigte Äußerung des Bf., er wolle am liebsten in den USA wohnen, sowie Anhaltspunkte für die Existenz beträchtlicher Geldmittel im Ausland, den Umstand, dass der Bf. mehrere verschiedene Pässe besaß und ihm als „solitary man who had no need of contacts" ein Untertauchen in der Schweiz nicht schwergefallen wäre. Verstößt der Beschuldigte, nachdem er aus der Untersuchungshaft entlassen ist, gegen eine gerichtliche Auflage und erscheint er anlässlich eines Gerichtstermins nicht, dürfen die nationalen Stellen grundsätzlich darauf schließen, dass sich der Bf. dem Verfahren entziehen will. Ein solcher Grund kann die Aufrechterhaltung einer Untersuchungshaft aber nur rechtfertigen, wenn sich die zuständigen Stellen auch auf ihn berufen.273 Ob aus der tatsächlichen Flucht eines Beschuldigten ins Ausland nach seiner Freilassung aus einer mehrjährigen Untersuchungshaft, deren Fortdauer mehrmals unter Berufung auf eine angebliche Fluchtgefahr angeordnet worden war, auf das Bestehen einer Fluchtgefahr während seiner Inhaftierung geschlossen werden darf, hat der Gerichtshof dahinstehen lassen. Der Ansatz liefert für die nationalen Gerichte kaum brauchbare Erkenntnisse, weil er nur aus ex-post Sicht interessant ist.274 Hingegen kann der Umstand, dass ein Beschuldigter nach seiner Verurteilung aus jedem Hafturlaub zurückgekehrt ist, eine von den nationalen Gerichten im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens angenommene Fluchtgefahr nicht rückwirkend entkräften. 275 In der Straßburger Rechtsprechung finden sich auch Entscheidungen, in denen an die Prüfung und Darlegung einer Fluchtgefahr keine hohen Anforderungen gestellt werden. Im Fall van der Tang hielt es der EGMR zwar für wünschenswert („desirable"), dass nationale Gerichte detailliertere Haftgründe als den bloßen Hinweis auf die Fluchtgefahr oder die Schwere der Vergehen angeben. Zugleich hat er aber betont, dass ein derartiges Unterlassen bei einer unverändert bestehenden offensichtlichen und signifikanten Fluchtgefahr aus sich heraus keinen Konventionsverstoß begründen kann.276 Sehr großzügig bei der Annahme einer relevanten Fluchtgefahr war der EGMR auch im Urteil Scott, obwohl diese nur in einer von vielen Haftprüfungsentscheidungen erwähnt worden war („expressly mentioned in only one of the decisions rejecting ... applications for release"). Welche Umstände hier für die Annahme einer Fluchtgefahr sprachen, ließ der Gerichtshof offen.277 Man wird daher davon ausgehen müssen, dass eine während
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EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie Α Nr. 218, §§ 27-28, 56. EGMR, van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, §§ 64-67. EGMR, W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 33 („cannot retrospectively invalidate the view taken by the courts"). EGMR, van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 60 („evident and significant risk of ... absconding"). EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 79 („while it would certainly have been desirable for the Spanish courts to have given more detailed reasoning as to the relevance of that ground in the particular circumstances of the case, the Court is nonetheless satisfied that an evident and significant risk of the applicant's absconding persisted throughout his entire period of detention"); vgl. EGMR, Contrada./. Italien, Reports 1998-V, § 58 („the risk of absconding significantly diminished during the preliminary investigation").
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der gesamten Haftzeit bestehende offensichtliche und signifikante Fluchtgefahr („evident and significant risk of ... absconding") auch unzureichend substantiierte Haftentscheidungen kompensieren kann. Diese Feststellung bereitet aus rechtsstaatlicher Sicht durchaus Unbehagen, denn offensichtlich war der EGMR in diesen Entscheidungen nicht gewillt, „formal" einen Konventionsverstoß anzunehmen, weil eine Fluchtgefahr evident vorhanden war. Gerade bei einer offensichtlichen Fluchtgefahr dürfte die Begründung einer Haftentscheidung jedoch nicht allzu schwer fallen und daher „zumutbar" sein. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die vom EGMR statuierte Darlegungslast in derartigen Fällen praktisch leer läuft. Besonders problematisch ist dabei, dass der Verlust der verfahrensrechtlichen Absicherung des Art. 5 Abs. 3 an ein Verhalten des Beschuldigten anknüpft. Es stellt einen nicht aufzulösenden Widerspruch dar, dass ein Beschuldigter, in dessen Person zwar eine - aber eben nicht offensichtliche - Fluchtgefahr besteht, die mangelhafte Begründung der ihn betreffenden Haftentscheidungen rügen kann, wohingegen dies für den signifikant fluchtbereiten Beschuldigten nicht gelten soll. (d) Erfordernisse der Ermittlungen („needs/requirements of the inquiry") Art und Umfang von Ermittlungsmaßnahmen können die Dauer einer Untersuchungshaft beeinflussen. Der EGMR berücksichtigt hier namentlich die Komplexität des Falles („complexity of the case"). Ermittlungsmaßnahmen müssen aber erforderlich sein und dürfen keine wesentlichen Verzögerungen aufweisen, wenn sie die Fortdauer der Inhaftierung eines Beschuldigten rechtfertigen sollen. Auch das Verhalten des Beschuldigten kann den Umfang der Ermittlungen beeinflussen. Im Fall Clooth stellt der EGMR ausdrücklich fest, dass der Bf. durch sein Verhalten die Ermittlungen behindert und verzögert hatte, indem er während des Ermittlungsverfahrens insgesamt elfmal seine Version der Tatsachen geändert und damit zur Vornahme immer neuer Ermittlungsmaßnahmen Anlass gegeben hatte. Die Inhaftierung eines Verdächtigen am Beginn einer Untersuchung („at the outset") wird vom EGMR toleriert, wenn andernfalls eine Einflussnahme oder Störung durch ihn zu erwarten ist („in order to prevent him from confusing/disrupting the inquiry"). Das gilt vor allem in komplizierten Verfahren, wo zahlreiche schwierige Untersuchungen erforderlich sind („manifold difficult inquiries"). Auf die Dauer können noch ausstehende Untersuchungen die Inhaftierung jedoch nicht rechtfertigen, weil sich das entsprechende Risiko wegen der zwischenzeitlich erfolgten Beweissicherungen reduziert. Auch hinsichtlich der Notwendigkeit von Ermittlungen obliegt den Justizbehörden eine gewisse Darlegungslast. Die Notwendigkeit von Ermittlungshandlungen kann die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gegenüber einem Beschuldigten deshalb nur dann rechtfertigen, wenn ihr Grund in den die Fortdauer der Inhaftierung anordnenden gerichtlichen Entscheidungen spezifiziert wird („specified the cause and purpose of the inquiries"). Die Bezugnahme auf die Erfordernisse der Ermittlungen in einer allgemeinen und abstrakten Art und Weise („general and abstract fashion") genügt dagegen nicht. Ebensowenig reicht es aus, wenn zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über einen längeren Zeitraum in einer Reihe gerichtlicher Entscheidungen mittels einer stereotypen Formel („stereotyped formula")
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
auf eine mehrere Monate zurückliegende, die Erfordernisse der Ermittlungen näher darlegende Entscheidung abgestellt wird.278 (e)
Verdunklungs- und Kollusionsgefahr („danger of suppression of evidence"/ „danger of collusion") Das Risiko einer durch den Beschuldigten drohenden Unterdrückung von Beweismaterial stellt einen relevanten Grund für die Aufrechterhaltung einer Inhaftierung dar. Bei der Beurteilung dieser Gefahr dürfen der Anklagevorwurf und die Komplexität des Verfahrens berücksichtigt werden. 279 Auch hier kommt ein zeitliches Korrektiv ins Spiel. Die zu Beginn der Ermittlungen durchaus berechtigte Annahme, der Beschuldigte werde Druck auf Zeugen oder Mitbeschuldigte ausüben, kann sich mit dem Fortschreiten der Ermittlungen relativieren. Sind bereits mehrere Zeugen polizeilich oder richterlich vernommen, kann diese Gefahr die Aufrechterhaltung einer Untersuchungshaft regelmäßig nicht mehr rechtfertigen. 280 Gegen die Gefahr einer Zeugenbeeinflussung spricht es, wenn der vernommene Beschuldigte über mehrere Monate keinerlei Anstalten zu einem solchen Verhalten gemacht hat. 281 Das Risiko einer Absprache zwischen mehreren Tatbeteiligten („risk of collusion") vermag nach Abschluss einer gerichtlichen Voruntersuchung und Anklageerhebung die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht mehr zu rechtfertigen. 282 Dagegen kann die Inhaftierung eines Beschuldigten, der bei seiner Festnahme Mitglied eines Geheimdienstes ist und früher Leiter einer Polizeieinheit war, wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer mafiosen Vereinigung erforderlich sein, wenn der Beschuldigte wichtige berufliche Pflichten in staatlichen Organisationen erfüllt, bereits einen Polizeibeamten angewiesen hat, bei Durchsuchungen der Wohnungen von Mafiamitgliedern „nicht so streng" zu sein und Aussagen ehemaliger Mitglieder der Mafia sowie weitere im Rahmen der Ermittlungen zusammengetragene belastende Beweise den Verdacht nahelegen, dass der Beschuldigte im Falle seiner Freilassung Druck auf Zeugen ausüben und andere Beweise verfalschen wird („risk of tampering with evidence and suborning witnesses"). 283 Im allgemeinen darf jedoch nur in Einzelfallen vom Vorliegen einer Verdunklungsgefahr bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils ausgegangen werden. Der Bf. W war wegen des Verdachts der Begehung von Wirtschaftsdelikten inhaftiert und u.a. zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt worden. D i e Gesamtdauer seiner Untersuchungshaft betrug 4 Jahre und drei Tage. D i e nationalen Gerichte hatten
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EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 43, 45; W ./. Schweiz, Serie A Nr.254-A, § 35; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 37; vgl. zur Unzulässigkeit der Bezugnahme auf frühere Haftprüfungsentscheidungen: BVerfG, StV 1999,40; NJW 2000, 1401. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 14. Vgl. EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 54; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 95; Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 39; siehe auch: Debboub ./. Frankreich, Urteil v. 9.11.1999. EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 13, § 106 (5 Monate). EGMR, Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§13-14,40. EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 61.
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eine Verabredungsgefahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung angenommen und auf den außerordentlichen Umfang des Falles, die ungewöhnlichen Mängel der beschlagnahmten Dokumente, deren absichtlich unübersichtlichen Zustand sowie auf die große Zahl der zu vernehmenden (Auslands-)Zeugen hingewiesen. Als weiteren Grund nannten sie die Persönlichkeit des Bf., dessen vor und nach der Verhaftung gezeigtes Verhalten auf eine Absicht zur systematischen Beseitigung aller ihn belastenden Beweise schließen lasse. Zudem sahen die Gerichte konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Bf. die wiedergewonnene Freiheit für Verschleierungshandlungen missbrauchen könnte, was durch die enge Verpflechtung der von ihm kontrollierten Firmen und seinen Einfluss über deren Angestellte erleichtert würde, etwa durch die Unterdrückung von Beweismitteln, die noch nicht aufgefunden worden waren, deren wahrscheinliches Vorhandensein sich jedoch aus anderen Dokumenten ergab, sowie durch die Herstellung falscher Beweise oder die Beeinflussung von Zeugen. Ein zusätzliches Argument war die zwischenzeitlich erfolgte Ausdehnung der Untersuchung auf Auslandstaten. Das Schweizerische Bundesgericht bejahte eine Verabredungsgefahr nicht nur wegen der Persönlichkeit des Bf., sondern bezog sich auch auf dessen Vorstrafen und den Umstand, dass der Bf. - wie sich aus der Akte ergab - bei anderen Verfahren entlastendes Beweismaterial manipuliert, Dokumente vordatiert und Zeugen beeinflusst hatte. Der EGMR ging von einer Verabredungsgefahr während der gesamten Haftzeit aus.284 (f) Wiederholungsgefahr („danger of repetition/reoffending") Die Schwere einer Beschuldigung („seriousness of a charge") kann Anlass bieten, gegenüber einem Tatverdächtigen Untersuchungshaft anzuordnen und aufrechtzuerhalten, um die Begehung weiterer Straftaten zu verhindern. Die behauptete Wiederholungsgefahr muss unter Berücksichtigung der Umstände des Falles, der Lebensgeschichte sowie des Charakters des Beschuldigten plausibel und die Haftfortdauer angemessen sein. Aus früheren Verurteilungen darf nicht auf das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr geschlossen werden, wenn die Straftaten weder ihrer Art noch ihrem Schweregrad nach mit den Delikten vergleichbar sind, die dem Beschuldigten in dem nun gegen ihn geführten Strafverfahren zur Last gelegt werden („not comparable, either in nature or in the degree of seriousness"). Auch ein Hinweis auf das Vorleben des Beschuldigten kann eine weitere Inhaftierung nicht rechtfertigen („reference to a person's antecedents"). Selbst einschlägige Vorstrafen sprechen nicht zwingend für die Annahme einer Wiederholungsgefahr. 285 Im Fall Clooth bestand gegen den Bf. der Verdacht der Beteilung an einem Mord und einer Brandstiftung. Aus seinen Vorstrafen - versuchter schwerer Diebstahl und Fahnenflucht - ließen sich nach Ansicht des EGMR keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr herleiten, da sie nach Art und Schweregrad nicht mit der dem Bf. zur Last gelegten Tat vergleichbar waren. In einem während des Ermittlungsverfahrens in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachten war der Bf. zwar aufgrund seines Geisteszustandes als nicht selbst kontrolliert und gefährlich beschrieben worden. Zugleich wies dieses Gutachten auf die Notwendigkeit einer längeren
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EGMR, W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 36. EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, § 40; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 44.
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psychiatrischen Behandlung hin. Diese Schlussfolgerungen in einem neun Monate nach Beginn der Inhaftierung des Bf. erstellten Gutachten hätten nach Ansicht des Gerichtshofs die zuständigen Gerichte davon überzeugen müssen, die Untersuchungshaft nicht ohne eine begleitende therapeutische Behandlung aufrechtzuerhalten. Die Annahme einer Wiederholungsgefahr konnte die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nach dem Bekanntwerden des Gutachtens nicht aus sich heraus rechtfertigen. Auch in der Entscheidung Muller ging der EGMR nicht vom Vorliegen einer Wiederholungsgefahr aus, obwohl der Bf. nach seiner Festnahme die Beteiligung an mehreren bewaffneten Banküberfällen gestanden und die französischen Gerichte in ihren Haftentscheidungen die von ihnen behauptete Wiederholungsgefahr mit sechs ähnlich gelagerten Vorstrafen begründet hatten. Von der Begehung weiterer Straftaten durch den Beschuldigten dürfen die Justizbehörden zu Recht ausgehen, wenn eine reale Gefahr besteht, dass dieser von einem Netzwerk aus Kontakten Gebrauch macht, die er während seiner Tätigkeit in der Polizei aufgebaut hat, um Führern der Mafia Unterstützung zu gewähren („real danger ... use the network of contacts ..."). Ein Anhaltspunkt hierfür kann der Umstand sein, dass der Beschuldigte über diese Verbindungen aus geheimgehaltenen Untersuchungen und der ihn belastenden Aussage eines ehemaligen Mitglieds der Mafia erfahren hat, deren Inhalt er kennt. 286 Einen Grenzfall in Richtung einer Darlegungslast des Beschuldigten stellt die Entscheidung Matznetter dar. Hier hatten die nationalen Gerichte eine Wiederholungsgefahr als Haftgrund angenommen, obwohl der Beschuldigte schon so schwer erkrankt war, dass von einer solchen Gefahr vernünftigerweise nicht mehr ausgegangen werden konnte. Der E G M R sah darin keinen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3, da der Beschuldigte den Umstand der Erkrankung zwar gegenüber den Behörden, nicht aber in seinen Rechtsbehelfen in ausreichendem Maße erwähnt habe und mit diesem Einwand lediglich eine Fluchtgefahr, nicht aber die behauptete Wiederholungsgefahr habe ausräumen wollen. 287 (g) Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung Der Gerichtshof akzeptiert, dass Straftaten, die aufgrund ihrer Schwere und durch die auf ihre Begehung folgende öffentliche Reaktion Anlass zu sozialen Unruhen bieten, in außergewöhnlichen Umständen sowie bei ausreichenden Verdachtsmomenten („in exceptional circumstances and ... there being sufficient evidence") für eine gewisse Zeit eine Inhaftierung rechtfertigen können („at least for a time"). Deshalb ist es nicht zu beanstanden, wenn eine nationale Rechtsordnung die durch eine Straftat hervorgerufene Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung als Grund für die Anordnung einer Untersuchungshaft anerkennt. Gleichwohl kann dieser Aspekt f ü r die Aufrechterhaltung einer Inhaftierung nur relevant und ausreichend sein, wenn er auf Tatsachen basiert, aus denen sich ergibt, dass die Freilassung des Beschuldigten die öffentliche Ordnung tatsächlich beeinträchtigen würde („based on facts capable of showing that the accused's release
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EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 58. EGMR, Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 11.
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would actually disturb/prejudice public order"). In jedem Fall darf die Inhaftierung nur aufrechterhalten bleiben, solange die öffentliche Ordnung tatsächlich bedroht ist („if public order remains actually threatened"). Die Aufrechterhaltung der Haft darf nicht dazu dienen, eine etwaige Freiheitsstrafe vorwegzunehmen („cannot be used to anticipate a custodial sentence"). Ebenso können rein abstrakte Anschauungen („purely abstract point of view"), wie etwa das bloße Abstellen auf die Schwere oder die Folgen der Tat („merely stressing the gravity/effects of the offence"), eine Inhaftierung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung rechtfertigen.288 Im Fall Letellier hat der EGMR insbesondere beanstandet, dass die Gerichte in ihren Haftprüfungsentscheidungen nicht berücksichtigt hatten, dass die Angehörigen des Tatopfers den Anträgen auf Freilassung - im Gegensatz zu denen eines Mitangeklagten - nicht widersprochen hatten. Um den Verdacht der Beihilfe zu Geldfälschungsdelikten ging es im Fall Kemmache. Hier bemängelte der Gerichtshof, dass die Gerichte nur auf die Tatfolgen abgestellt hatten, nämlich auf das Vertrauen, welches Privatpersonen, Geschäftsleute, Banker und andere Personen in das Geld haben müssen. (2) Berücksichtigung der Verfahrensführung („conduct of the proceedings") Neben dem Vorliegen relevanter und ausreichender Gründe für die Fortdauer der Inhaftierung kommt es für die Angemessenheit der Haftdauer auch auf die Art und Weise der Verfahrensführung an. Da sich das Recht auf eine allgemein zügige Verfahrensführung bereits ausdrücklich aus Art. 6 Abs. 1 ergibt, leitet der Gerichtshof aus dem Art. 5 Abs. 3 Satz 2 immanenten Beschleunigungsgebot ein Recht inhaftierter Beschuldigter auf eine besonders zügige Verfahrensführung ab („right... to have his case given priority and conducted with particular expedition to have his case examined with particular expedition"). Ein Strafverfahren gegen einen inhaftierten Beschuldigten müssen die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte mit einer über den Standard des Art. 6 Abs. 1 hinausgehenden besonderen Sorgfalt führen („displayed special diligence in the conduct of the proceedings")289, wobei sich der Begriff „diligence" hier im Kontext mit den Begriffen „expedition" und „promptness" vorrangig auf die Zügigkeit der Verfahrensgestaltung bezieht. Dieser Ansatz läuft letztlich auf einen Zurechnungs- und Verschuldensgedanken hinaus. Darauf deuten jedenfalls Formulierungen des Gerichtshofs hin, wie etwa „detention on remand, the protracted length of which ...was not attributable to any lack of special diligence on the part of the ... authorities" oder „discern any negligence ... acted with the necessary promptness".290 In einigen Entscheidungen hat sich der EGMR allerdings einen erheblichen „self-restraint" auferlegt und sich auf die Feststellung beschränkt, die Dauer der Inhaftierung sei nicht übermäßig gewesen („not... excessive").291
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EGMR, Letellier./. Frankreich, Serie A Nr. 207, §§ 29,51; Kemmache./. Frankreich, Serie A Nr. 218, § 52; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 91 (Sprengstoffanschlag). EGMR, Tomasi ./. Frankreich, Serie Α Nr. 241, § 102; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie Α Nr. 244, § 71; W./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 30, 39; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 67; Scott ./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 80-83. EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, § 53; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 76. EGMR, Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, § 56.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Solche Urteile sind der Herausbildung von Kriterien zur Bemessung der Angemessenheit einer Inhaftierung kaum dienlich, da sie zu vielerlei Spekulationen Anlass geben. Der Beschleunigungsgrundsatz erfahrt in der Rechtsprechung des EGMR eine wichtige Einschränkung. Wenngleich der inhaftierte Beschuldigte einen Anspruch hat, dass seinem Fall Vorrang und besondere Beschleunigung beigemessen wird, wirken sich auch andere von der Konvention anerkannte Verfahrensgrundsätze auf die Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft aus. Trotz der geforderten besonders zügigen Verfahrensführung muss vor allem das Gericht in der Lage sein, seine Aufgaben mit der notwendigen Sorgfalt wahrzunehmen („not - unduly - hinder the efforts of the courts to carry out their tasks with proper care") und den Sachverhalt vollständig zu ermitteln („clarify fully the facts in issue"). Staatsanwaltschaft und Verteidigung ist Gelegenheit zu geben, ihre Beweise und den gesamten Fall vorzutragen („give ... all facilities for putting forward their evidence and stating their cases"). Schließlich darf das Urteil nur nach sorgfältiger Überprüfung der Anklage und der zu verhängenden Strafe ergehen („pronounce judgment only after reflection on whether the offences were in fact committed and on the sentence"). Kurzum, die Beschleunigung des Verfahrens darf nicht den Grundsätzen einer ordentlichen Verfahrensführung widersprechen („proper administration of justice").292 (a) Aspekte der Gerichtsorganisation Verzögerungen im Verfahren dürfen nicht auf einem Personalmangel in der Justiz oder auf dem Fehlen von Sachmitteln beruhen („shortage of personnel or equipment").293 Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Beantwortung internationaler Rechtshilfeersuchen sind den staatlichen Stellen zuzurechnen und können eine mehrjährige Untersuchungshaft regelmäßig nicht rechtfertigen.294 Eine übermäßige Arbeitslast der Gerichte („excessive workload") ist bei der Bemessung der Angemessenheit einer Untersuchungshaft nicht zu berücksichtigen.295 Anderseits hat es der Gerichtshof als Bemühen der Justizbehörden, jegliche Verzögerungen im Verfahren zu vermeiden, angesehen, wenn einzelne Tatvorwürfe abgetrennt werden und der die Untersuchung leitende Richter beim Eingang neuer Verfahren in seinem Geschäftsbereich entlastet wird.296 Die aus einer Verbindung mehrerer Verfahren resultierende Verlängerung der Untersuchungshaft stellt keinen Verstoß gegen die gebotene Sorgfalt bei der Verfahrensführung dar, wenn die Verbindung im Interesse einer ordentlichen Prozessführung erfolgt („with a 292
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E G M R , Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 17; Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 12; Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 45; Tomasi ./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 102; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 42; van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, § 72; Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 67. E G M R , W ./. Schweiz, Serie Α Nr. 254-A, § 42. E G M R , Scott ./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 11, 25, 83 (Untersuchungshaft von 4 Jahren und 16 Tagen: „the various difficulties associated with the implementation of the international letter of judicial cooperation - translation of documents, transmission by diplomatic channels, repeated summons of the complainant"). E G M R , Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 67. E G M R , Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 12.
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view to furthering the proper administration of justice") und als notwendig („necessary") oder jedenfalls nicht als unvernünftig („unreasonable") bezeichnet werden kann. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, ob die Verteidigung der Verbindung widersprochen hat.297 Liegen Beweise vor, die den Beschuldigten mit einem Mitbeschuldigten in Verbindung bringen, dem das Gericht eine führende Rolle bei der Einfuhr großer Mengen von Drogen zuschreibt, verlangt die Konvention die Abtrennung eines - zulässigerweise verbundenen Verfahrens auch dann nicht, wenn der Tatvorwurf gegen den Beschuldigten einen selbständigen, mit dem Rest der Untersuchung in keinem Zusammenhang stehenden Vorfall betrifft („constituting an independent incident unrelated to the rest of the investigation"). Haben die nationalen Gerichte das Verfahren eines Beschuldigten zulässigerweise - mit einem Großverfahren verbunden, kommt es für die Beurteilung der Verfahrensführung nicht mehr darauf an, dass das ursprünglich separat gegen den Beschuldigten geführte Verfahren für sich genommen keine besondere Schwierigkeit aufweist und zügiger abgehandelt werden könnte, da dieses Verfahren nach der Verbindung als Teil des komplexen Verfahrens anzusehen ist („once joined ... part of a complex process"). Es kommt dann nur noch darauf an, dass den staatlichen Stellen bei der Führung des den Beschuldigten betreffenden Verfahrens innerhalb des Großverfahrens kein Verstoß gegen die von ihnen zu beachtende besondere Sorgfalt vorgeworfen werden kann („lack of special diligence in handling the applicant's case in the broader context of the ... investigation"). Das Recht des inhaftierten Beschuldigten geht also durch eine mit der Konvention vereinbare Verfahrensverbindung keineswegs unter, sein Inhalt muss allerdings nach der Verbindung im Lichte des Verbunds betrachtet werden. Weil in seinem Lkw 1.300 kg Haschisch gefunden worden waren, war der Bf. van der Tang am 26.5.1989 u.a. wegen des Verdachts der Beteiligung am Drogenhandel festgenommen worden. Nach der Anklageerhebung im April 1990 wurde das gegen ihn geführte Verfahren noch vor Beginn der Hauptverhandlung im Oktober 1990 an die Audiencia Nacional abgegeben und mit einem landesweit geführten Drogenverfahren verbunden, das außerordentlich komplex war und über 50 Personen in verschiedenen Gerichtsbarkeiten und internationalen Verbindungen betraf. Die Verfahrensakte umfasste insgesamt etwa 25 000, das spätere Urteil 529 Seiten. Für die Verurteilung der „Drogenbarone" musste - so die spanische Regierung - das Erscheinen der wenigen Personen, die in Kontakt mit Drogen gekommen waren, in der Hauptverhandlung sichergestellt werden. Im Juli 1992 wurde der Bf. nach Zahlung einer Kaution aus der Haft entlassen. Die nach der Verbindung verstrichene Haftzeit betrug 1 Jahr, 8 Monate und 24 Tage. Nach Ansicht des Bf. war der gegen ihn erhobene Tatvorwurf bereits im April 1990 entscheidungsreif („ready for trial") und hätte nicht mit dem Großverfahren verbunden werden dürfen. Der E G M R war jedoch der Ansicht, dass die im Interesse einer ordentlichen Prozessführung erfolgte Verbindung der Verfahren nicht unvernünftig gewesen sei. Eine spätere Trennung sei nicht erforderlich gewesen, weil Beweise vorlagen, die den Bf. mit einem Mitbeschuldigten in Verbindung brachten, dem am Ende eine führende Rolle bei der Einfuhr großer Mengen von Drogen zugeschrieben wurde.
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EGMR, van der Tang./. Spanien, Serie Α Nr. 321 ,§§ 15,74 („moreover, the applicant's lawyer did not object to joinder at the relevant time"); Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 37,48.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Angesichts der bei der Untersuchung von Delikten im großangelegten Drogenhandel krimineller Vereinigungen auftretenden Probleme war den zuständigen Stellen keine Nachlässigkeit bei der Führung des den Bf. betreffenden Verfahrens innerhalb des Großverfahrens vorzuwerfen, so dass der EGMR einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 trotz einer Haftzeit von mehr als drei Jahren verneinte.298 (b) Verhalten des Beschuldigten Bei der Beurteilung der Verfahrensführung kann auch das Verhalten des Beschuldigten eine Rolle spielen. Zwar ist dieser nicht verpflichtet, mit den Behörden zusammenzuarbeiten („not obliged to co-operate"), er muss jedoch die Folgen seines Verhaltens in Kauf nehmen, sofern und soweit dieses sich auf den Gang des Untersuchungsverfahrens auswirkt („bear the consequences which his attitude may have caused for the progress of the investigation"). 299 Auch ein Verhalten seines Verteidigers muss sich der Beschuldigte u.U. zurechnen lassen. Gegen einen Sorgfaltsverstoß des Gerichts bei der Verfahrensführung spricht es, wenn die Verteidigung der vom Gericht zur Beschleunigung des Verfahrens vorgeschlagenen Erhöhung der Zahl der Verhandlungstage widerspricht. 300 Bei einer Analyse der Straßburger Rechtsprechung lassen sich hinsichtlich der dem Beschuldigten zurechenbaren Umstände kaum klare Konturen ausmachen. Während der E G M R im Fall Matznetter die versäumte Einlegung innerstaatlicher Rechtsbehelfe bzw. die Zeitspanne zwischen einzelnen Haftbeschwerden als verfahrensverzögernde Umstände auf Seiten des Beschuldigten bewertete 301 , prüfte er im Fall Stögmüller, ob dem Beschuldigten Verzögerungen im Verfahren nicht gerade deshalb angelastet werden konnten, weil er bestimmte Rechtsbehelfe - insbesondere Aufsichtsbeschwerden - eingelegt und Richter abgelehnt hatte. Diese strafprozessual höchst interessante wie problematische Frage hat der E G M R am Ende leider offen gelassen. 302 Im Fall Β stellte er ausdrücklich fest, dass die Justizbehörden zu einer beschleunigten Verfahrensgestaltung auch dann verpflichtet sind, wenn es der inhaftierte Beschuldigte versäumt, einen ihm jederzeit möglichen Antrag auf Freilassung zu stellen. 303 Bedauerlicherweise wagt der Gerichtshof nicht den Schritt, die Grundsätze zum Recht auf H a f t p r ü f u n g (Art. 5 Abs. 4) als Maßstab für die Berücksichtigung des Beschuldigtenverhaltens im Rahmen der Angemessenheit der Haftdauer zu implementieren. Ein von Art. 5 Abs. 4 gestattetes
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EGMR, van der Tang ./. Spanien, Serie A Nr. 321, §§ 7-22, 58, 68-76. EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 83 („there is nothing to suggest that the length of the proceedings can be attributable in whole or in part to the applicant's conduct"); W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 42. EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 67. EGMR, Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 10 (Zeitraum von mehr als sieben Monaten zwischen zwei Haftbeschwerden nicht zu beanstanden). EGMR, Stögmüller ./. Österreich, Serie A Nr. 9, § 16. Der EGMR hat dieses Argument der österreichischen Regierung zwar ausdrücklich zurückgewiesen, jedoch nur, weil zu diesem Zeitpunkt bereits kein Haftgrund mehr vorlag und die Haftzeit schon deshalb unangemessen war. Kritisch zum Verhalten des Beschuldigten als Maßstab für die Angemessenheit der Haftdauer: Bartsch JuS 1970, 445,450. EGMR, Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 45.
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Verhalten des Beschuldigten darf im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 nicht negativ angerechnet werden. Im Urteil Clooth dagegen rechnete der EGMR dem Beschuldigten eine Verfahrensverzögerung ausdrücklich zu, die dadurch entstanden war, dass er während des Ermittlungsverfahrens insgesamt elfmal seine Version der Tatsachen geändert und damit zur Vornahme immer neuer Ermittlungsmaßnahmen Anlass gegeben hatte.304 Zumindest der letzte Gedanke begegnet Bedenken, läuft er doch mittelbar auf eine Pflicht des Beschuldigten zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden hinaus. Einen eher außergewöhnlichen vom Beschuldigten zu vertretenden Umstand betraf die Entscheidung Herczegfalvy. Hier kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Bf. durch einen von ihm provozierten Zwischenfall - er hatte an einem Sitzungstag dem Vorsitzenden Richter ins Gesichts gespuckt, was zu einer Änderung der Anklage geführt hatte - selbst zur Verlängerung der Verfahrensdauer beigetragen habe.305 Im Fall Wkam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Dauer der Untersuchungshaft im wesentlichen auf der außerordentlichen Komplexität des Falles und dem Verhalten des Beschuldigten beruhte. Das Schweizerische Bundesgericht hatte dem Bf. konkret zwei Dinge zur Last gelegt: den Zustand seiner Firmenbilanzen, wodurch sich die Rekonstruktion seiner finanziellen Situation als sehr schwierig gestaltete, und die Verweigerung jeglicher Angaben zum Tatvorwurf. Welches konkrete Verhalten dem Beschuldigten vorzuwerfen war, ließ der EGMR offen, sondern betonte pauschal, dass der Bf. zwar nicht zu einer Kooperation mit den Behörden verpflichtet gewesen sei, jedoch die Folgen seines Verhaltens in Kauf nehmen müsse, soweit sich dieses auf den Gang des UntersuchungsVerfahrens ausgewirkt habe.306 Zumindest der zweite Vorwurf ist aus den bereits genannten Gründen äußerst problematisch. Es ist deshalb ebenso unverständlich wie bedauerlich, dass der EGMR zu diesem Punkt keine konkreten Ausführungen gemacht hat. Wegen der dem Strafverfahren eigenen Besonderheiten - insbesondere der Unschuldsvermutung und dem Selbstbelastungsprivileg - lassen sich aus der die Dauer einer Auslieferungshaft betreffenden Entscheidung Kolompar nicht ohne weiteres dem Beschuldigten in einem Strafverfahren zurechenbare Umstände herauslesen. Hier hat der Gerichtshof als gegen die Unangemessenheit der Haftdauer sprechende Umstände die Anträge des Bf. auf Vollstreckungsaufschub genannt. Weitere Gesichtspunkte waren, dass der Bf. in einem Dringlichkeitsverfahren drei Monate für eine Einlassung gebraucht und den staatlichen Stellen keine Einlassungsfrist hatte setzen lassen, im Berufungsrechtszug eine Vertagung beantragt und es unterlassen hatte, Prozesskostenhilfe zu beantragen bzw. die zuständigen Stellen darüber zu informieren, dass er nicht in der Lage war, einen Rechtsbeistand zu bezahlen. Insgesamt verneinte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1, da sich der Bf. nicht über eine Situation beschweren könne, die er größtenteils selbst verursacht habe („situation which he largely created").307
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EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 12-13,43. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 72. EGMR, W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 7, 13, 16-17,41-42. EGMR, Kolompar ./. Belgien, Serie A Nr. 235-C, §§ 40-43.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Das Verhalten des Beschuldigten kann andererseits aber auch eine besondere Beschleunigung der Verfahrensführung erfordern. Im Fall Muller war das Verfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden, obwohl der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Taten bereits am Anfang der Untersuchungen gestanden und keinerlei verfahrensverzögernde Anträge gestellt hatte.308 (c) Komplexität des Falles Bei der Beurteilung der Dauer einer Untersuchungshaft hat der Gerichtshof - sowohl bei den von den nationalen Gerichten angeführten Haftgründen als auch im Rahmen der Verfahrensführung - die Komplexität des jeweiligen Falles angesprochen. 309 Im Fall Wemhoff sah er eine 3 Jahre und fast 5 Monate dauernde Untersuchungshaft wegen der außergewöhnlichen Komplexität des Falles und weiterer unvermeidlicher Verzögerungen als angemessen an. Die Ermittlungen betrafen zunächst 13 Personen, der Bf. wurde insgesamt 40 mal verhört. Allein ein Anklagepunkt betraf die Überprüfung von 212 Bankkonten mit einem Transaktionsvolumen von 776 Millionen DM. Während des Verfahrens wurden zahlreiche Zeugen vernommen und insgesamt 15 Sachverständigengutachten eingeholt. Die Anklageschrift umfasste 855 Seiten.310 Trotz einer Unterbrechung der Hauptverhandlung von etwas mehr als einem Jahr zur Vornahme weiterer, insbesondere vom Beschuldigten beantragter Ermittlungsmaßnahmen hielt der Gerichtshof auch im Urteil Β eine 2 Jahre 4 Monate und 15 Tage dauernde Untersuchungshaft wegen der Komplexität des Verfahrens und der dem Beschuldigten zur Last gelegten Vermögensdelikte für nicht unangemessen. 3 " In der Entscheidung Matznetter beanstandete er wegen der besonderen Komplexität des Falles nicht, dass zwischen einzelnen Vernehmungen eines inhaftierten Beschuldigten mehr als 6 Monate lagen und dieser erst 15 Monate nach seiner Festnahme im Kern zu den ihm vorgeworfenen Handlungen gehört worden war.312 Wenn wie im Fall Contrada Mafiadelikte Gegenstand der Untersuchung sind, können selbst gewöhnliche strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen wie Zeugeneinvernahmen oder Gegenüberstellungen zu Verzögerungen der Ermittlungen führen, weil Strafverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder oder Sympathisanten der Mafia in staatlichen Organisationen naturgemäß äußerst sensibel und kompliziert sind.313 Der Umstand, dass eine von mehreren Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen eines komplexen Verfahrens schneller hätte durchgeführt werden können, lässt noch nicht auf eine
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EGMR, Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 6-19, 36-48 (fast vier Jahre dauernde Haft nicht mehr angemessen). EGMR, Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, § 43; Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, § 102; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 41-42; Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 83; Muller ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 37; Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, §§ 66-67. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie Α Nr. 7. EGMR, Β ./. Österreich, Serie A Nr. 175, § 46. EGMR, Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 12 (Haftzeit von insgesamt 25 Monaten und 23 Tagen nicht beanstandet). EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, §§ 66-67 („trials ... particularly sensitive and complicated").
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fehlende staatliche Sorgfalt bei der Verfahrensführung schließen.314 Andererseits ist der Umfang der von den staatlichen Stellen zu würdigenden Beweise ein wichtigter Faktor für die Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft, wobei die Beurteilung der Zweckmäßigkeit einer Beweisaufnahme in erster Linie den nationalen Stellen obliegt („expediency of obtaining evidence is primarily a matter for the national authorities")· 315 Dass nach Beginn der Untersuchunghaft neue, den Beschuldigten belastende Beweise auftauchen, die weitere Ermittlungshandlungen erforderlich machen, ist bei der Bestimmung der angemessenen Dauer einer Haft ebenfalls zu berücksichtigen.316 In den Fällen Kemmache, Clooth, Tomasi, Scott und Muller nahm der E G M R einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 an, weil entweder die angeführten Haftgründe die Aufrechterhaltung der Inhaftierung nicht entsprechend den von der Konvention geforderten Kriterien stützen konnten oder die Verfahrensführung zu beanstanden war.317 Dagegen sah er die Inhaftierungen der Bf. Herczegfalvy, W, Quinn und Contrada als konventionskonform an. Bemerkenswert ist vor allem das Urteil W. Dort hatte die Untersuchungshaft etwas mehr als 4 Jahre gedauert. 318
In Deutschland sind die Bestimmungen der E M R K zur Freiheitsentziehung bei der Neugestaltung der Vorschriften zur Untersuchungshaft berücksichtigt worden. So hat insbesondere Art. 5 Abs. 3 Satz 2 Einfluss auf die in § 121 StPO vorgesehene Haftprüfung durch die Oberlandesgerichte gehabt.319 c)
Freilassung des inhaftierten Beschuldigten gegen eine Sicherheit
In der strafprozessualen Praxis stehen die Behörden nicht selten vor der Frage, ab welcher Höhe eine für die Freilassung angebotene Kaution oder sonstige Sicherheit als ausreichend angesehen werden kann. Die Konvention enthält für Freiheitsentziehungen nach Art. 5 kein ausdrückliches Gebot der Verhältnismäßigkeit. Es fiel daher dem EGMR zu, ein solches Übermaßverbot aus Art. 5 Abs. 3 Satz 3 zu entwickeln. Bei einer Inhaftierung wegen Fluchtgefahr müssen die staatlichen Stellen immer prüfen, ob nicht statt der Inhaftierung des Beschuldigten andere mildere Mittel seine Anwesenheit im 314 315
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EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, § 67 (Analyse von Handy-Daten). EGMR, Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, § 83; Eriksen ./. Norwegen, Reports 1997-III, § 92 (Einholung von Sachverständigengutachten). EGMR, Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, §§ 66-67. EGMR, Kemmache ./. Frankreich, Serie A Nr. 218, §§ 48-57 (2 Jahre u. 9 Monate; mangelhafte Haftgründe); Clooth ./. Belgien, Serie A Nr. 225, §§ 35-49 (3 Jahre, 2 Monate, 4 Tage; mangelhafte Haftgründe); Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241, §§ 83-103 (5 Jahre, 7 Monate; mangelhafte Verfahrensführung); Scott./. Spanien, Reports 1996-VI, §§ 7-31, 79, 83-84 (4 Jahre, 16 Tage, mangelhafte Verfahrensführung); Muller./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 6-19, 36-48 (fast 4 Jahre, mangelhafte Haftgründe). EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 13-21, 60, 62, 72 (7 Monate, 15 Tage bzw. 6 Monate, 6 Tage); W ./.Schweiz, Serie A Nr. 254-A, §§ 38, 42-43 (4 Jahre, 3 Tage); Quinn ./. Frankreich, Serie Α Nr. 311, § 56 (mehr als 1 Jahr); Contrada ./. Italien, Reports 1998-V, §§ 6-33, 53, 62 (2 Jahre, 7 Monate, 7 Tage); vgl. zum Urteil W ./. Schweiz - speziell zur Entscheidungsdivergenz zwischen Gerichtshof und E K M R in diesem Fall: Peukert EuGRZ 1993, 173, 177. Vgl. die Nachweise bei Kühl ZStW 100 (1988) 601, 610f.; Staebe JA 1996, 75, 77.
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späteren Strafprozess gewährleisten. Wenn der einzige Grund der Inhaftierung die Besorgnis ist, dass der Beschuldigte fliehen und sich dem gerichtlichen Verfahren entziehen werde, muss dieser freigelassen werden, wenn er angemessene Garantien für sein Erscheinen vor Gericht vorweisen kann („adequate guarantees"). Als eine derartige Garantie kommt vor allem die Leistung einer Sicherheit in Betracht. Bietet der Beschuldigte eine solche Sicherheit an, trifft die staatlichen Stellen in ihren Haftprüfungsentscheidungen eine Darlegungslast. Die Entscheidungsgründe in den Fällen Wemhoff und Letellier wird man nur so verstehen können, dass aus den Haftentscheidungen hervorgehen muss, warum die angebotene Sicherheit nach Ansicht der staatlichen Stellen unzureichend ist.320 Die Umstände des Einzelfalles und der Charakter des Beschuldigten können die für die Haftentscheidungen zuständigen Gerichte zu Recht veranlassen, eine angebotene Sicherheit abzulehnen. In jedem Fall muss die angebotene Sicherheit angemessen („adequate") sein. Bei der Beurteilung der Angemessenheit einer Kaution spielen vor allem ihre Höhe und die Herkunft der zu zahlenden Geldsumme eine wichtige Rolle („amount and the ... provenance of the money to be paid"). Sind Vermögensund Insolvenzdelikte Gegenstand des Tatvorwurfs („financial cases") kommt als Sicherheit nur die Stellung einer Kaution oder eine andere Sicherheit in Form einer höheren Geldsumme in Betracht.321 Abstrakt formuliert muss der Umfang der Sicherheit eine ausreichende Garantie dafür bieten, dass der Beschuldigte sich gegen eine Flucht entscheidet, um ihren Verlust oder eine mögliche Inanspruchnahme seiner Sicherungsgeber zu vermeiden. Die erforderliche Höhe der Sicherheit darf sich jedenfalls nicht ausschließlich am Umfang des Vermögensschadens orientieren, dessen Verursachung dem Beschuldigten zur Last gelegt wird. Die Sicherheit, von der Art. 5 Abs. 3 spricht, soll nämlich keine Wiedergutmachung des angerichteten Schadens garantieren, sondern die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafprozess sicherstellen. Die Angemessenheit ihrer Höhe muss sich daher in erster Linie an der Person des Beschuldigten, seinen Vermögensverhältnissen und an seinen Beziehungen zu anderen Personen orientieren, die eine etwaige Sicherheit stellen sollen. Gleichwohl dürfen Verfahrenskosten und die Höhe etwaiger Geldbußen bzw. -strafen in die Höhe der Kaution eingerechnet werden.322 Im Fall Wemhoff hatte der Gerichtshof die Frage, wie die zur Freilassung erforderliche Höhe der Sicherheit im konkreten Fall zu ermitteln ist, noch offen gelassen, die vom Bf. angebotenen Sicherheiten aber als nicht ausreichend angesehen. Dem Bf. wurden u.a. Vergehen nach der Konkursordnung im einem Schadensumfang von mindestens 200 000 D M vorgeworfen. Das LG Berlin hatte eine vom Vater angebotene Bankbürgschaft in Höhe von 25 000,- bzw. 50 000,- D M ebenso wie eine vom Bf. angebotene Sicherheit iHv 25000,- D M bzw. 10000,- D M abgelehnt. Die vom Gericht akzeptierte
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EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7, § 15 („establish that this was not the case in this instance"); EGMR, Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 46; in diese Richtung auch: EGMR, Matznetter ./. Österreich, Serie A Nr. 10, § 11. EGMR, Wemhoff ./. Deutschland, Serie A Nr. 7. EGMR, Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 14; W ./. Schweiz, Serie A Nr. 254-A, § 33; Kemmache ./. Frankreich (Nr. 3), Serie A Nr. 296-C, §§ 12,45.
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Sicherheit iHv 100.000,- DM konnte der Bf. indes nicht erbringen. Im Fall Neumeister hatte zunächst der Bf. eine Bankbürgschaft iHv 200000 bzw. 250000 ÖS angeboten, später auch sein Anwalt iHv 100000 DM. Alle Angebote wurden als indiskutabel abgelehnt. Dem Bf. wurde die Verursachung eines Vermögensschadens von 5,2 Millionen ÖS vorgeworfen. Nach einer Haftzeit von zwei Jahren zwei Monaten und vier Tagen wurde er gegen eine Bürgschaft seiner Tochter und einer weiteren Person iHv 1 Million ÖS freigelassen. In welcher Höhe eine Sicherheit erforderlich gewesen wäre, ließ der EGMR offen. Zwar beanstandete er die Ablehnung der Bankbürgschaft nicht. Einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 nahm er aber trotzdem an, da die Gerichte sämtliche Angebote als „indiskutabel" abgelehnt hatten, obwohl sich die Höhe der angebotenen Sicherheiten immer mehr den durch die Taten entstandenen Vermögensschäden annäherte und die schließlich festgesetzte Sicherheit ausschließlich am mutmaßlichen Vermögensschaden ausgerichtet war. Der seit März 1985 wegen des Verdachts der Begehung von Wirtschaftsdelikten inhaftierte Bf. Chatte am 1.2.1988 die Stellung einer Kaution abgelehnt, dann jedoch am 7.6. einen Betrag von maximal 30000 SF als Sicherheit angeboten. Angaben zur Herkunft des Geldes hatte er verweigert. Aufgrund der konkreten Umstände des Falles und des Charakters des Bf. waren die nationalen Gerichte nach Ansicht des EGMR berechtigt gewesen, die angebotene Sicherheit abzulehnen, da sowohl ihre Höhe als auch ihre unbekannte Herkunft keine ausreichende Garantie für ein Absehen des Bf. von der Flucht boten. d)
Heilung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3
Eine andere Frage ist, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 nachträglich entfällt. Der für die Geltendmachung eines Konventionsverstoßes erforderliche Opferstatus (Art. 25 a.F.) ist unabhängig vom Eintritt eines Schadens zu beurteilen. Auf einen Schaden kommt es lediglich bei der Zusprechung einer Entschädigung nach Art. 41 (Art. 50 a.F.) an. Eine für die von einem Konventionsverstoß betroffene Person vorteilhafte Entscheidung oder Maßnahme reicht prinzipiell nicht aus, um dieser Person den Opferstatus zu entziehen, solange die staatlichen Stellen den Konventionsverstoß nicht ausdrücklich oder in der Sache anerkennen und für diesen Abhilfe vorsehen.323 Die Anrechnung einer Untersuchungshaft auf eine anschließende Strafe kann eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 nicht beseitigen, sondern lediglich den Ausschluss oder die Begrenzung einer finanziellen Entschädigung nach Art. 41 zur Folge haben.324 Etwas anderes kann nur gelten, wenn die Anrechnung auf eine vom Gericht ausgesprochene Strafe ausdrücklich wegen einer festgestellten Verletzung der Konvention erfolgt.325 Ähnlich verhält es sich bei der Zahlung einer Entschädigung nach nationalem Recht, 323
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EGMR, Lüdi./. Schweiz, Serie A Nr. 238, § 34; Amuur ./. Frankreich, Reports 1996-III, § 36 („a decision or measure favourable to the applicant is not in principle sufficient to deprive him of his status as a „victim" unless the national authorities have acknowledged, either expressly or in substance, and then afforded redress for, the breach of the Convention"). EGMR, Ringeisen ./. Österreich, Serie A Nr. 15, § 21; Engel u.a. /. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 69; Engel u.a. ./. Niederlande, Serie A Nr. 22 (Art. 50), § 10; van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 37. EGMR, van der Sluijs, Zuiderveld u. Klappe ./. Niederlande, Serie A Nr. 78, § 37.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
weil das Recht auf Beendigung einer Freiheitsentziehung („right to secure the ending of a deprivation of liberty") von dem Recht auf Entschädigung zu unterscheiden ist („right to receive compensation for such deprivation"). Im Fall Tomasi hatte eine nationale Entschädigungskommission dem Bf. in einer ohne Gründe versehenen Entscheidung 300000 FF für die mehr als fünf Jahre dauernde Untersuchungshaft zugesprochen. Die Einrede des Verlusts der Opfereigenschaft wies der EGMR gleichwohl als unbegründet zurück.326 Auch die - nachträgliche - gerichtliche Feststellung, dass eine Freiheitsentziehung rechtswidrig war, lässt den Opferstatus nicht in jedem Fall entfallen. Der Fall Amuur betraf die Unterbringung von Asylbewerbern in der Transitzone des Pariser Flughafen Orly. Nachdem die Bf. abgeschoben worden waren, hatte ein Gericht ihren Aufenthalt in der Transitzone als willkürliche Freiheitsentziehung und offensichtlich ungesetzlichen Akt bezeichnet („flagrantly unlawful act"). Zugleich hatte es den Innenminister aufgefordert, die Bf. freizulassen. D a diese vor ihrer Abschiebung keinen effektiven Rechtsschutz erlangen konnten, nahm der E G M R ein Fortbestehen der Opfereigenschaft iSv Art. 25 a.F. an. 327
e)
Freiheitsentziehung
und Art. 10
Wird einer Person die Freiheit aufgrund eines Verhaltens entzogen, welches als Ausübung des in Art. 10 garantierten Rechts auf freie Meinungsäußerung angesehen werden kann, so muss die Freiheitsentziehung nicht nur die Voraussetzungen des Art. 5 erfüllen, sondern sich auch an den Anforderungen des Art. 10 messen lassen. Das jeweilige nationale Recht muss die Voraussetzungen für die Festnahme und Inhaftierung so hinreichend präzise beschreiben, dass die Person die mit der Meinungsäußerung verbundenen Risiken in einem ausreichenden Maße erkennen kann.328 Allerdings bestehen zwischen den Anforderungen des Art. 5 und Art. 10 gewisse Parallelen. Eine rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1(b) oder (c) wird in der Regel auch eine gesetzlich vorgesehene Beschränkung der Meinungsfreiheit darstellen, weil die Anforderungen an die Bestimmtheit der Straftat bzw. gerichtlichen Anordnung zumeist den vom EGMR für einen gesetzlich vorgesehenen Eingriff aufgestellten Voraussetzungen entsprechen. Fehlt es jedoch an einer Straftat iSv Art. 5 Abs. 1(c) oder ist die Freiheitsentziehung aus einem anderen Grund nicht rechtmäßig, so wird auch ein Verstoß gegen Art. 10 anzunehmen sein, weil der Eingriff nicht gesetzlich vorgesehen erfolgt.329 Anders verhält es sich jedoch bei der von Art. 10 geforderten Notwendigkeit des Eingriffs in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, weil Art. 5 im Gegensatz zu Art. 8 und Art. 10 kein Element der Verhältnismäßigkeit enthält. Bis zur Grenze der Willkür erlaubt insbesondere Art. 5 Abs. 1(c) grundsätzlich auch eine Untersuchungshaft für geringfügige Delikte. Ein Korrektiv stellt lediglich die angemessene 326 327 328
329
EGMR, EGMR, EGMR, inherent EGMR,
Tomasi./. Frankreich, Serie Α Nr. 241, §§ 42, 79, 81. Amuur ./. Frankreich, Reports 1996-III, §§ 7-12, 36. Chorherr ./. Österreich, Serie A Nr. 266-B, § 25 („foresee to a reasonable extent the risks in his conduct"). Steel u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 92-94.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Dauer der Untersuchungshaft dar. Die Geringfügigkeit bzw. Schwere einer strafbaren Handlung kann sich dort insofern auswirken, als geringfügige Delikte - im Gegensatz zu komplexen Verfahren - regelmäßig eine besonders beschleunigte Verfahrensführung verlangen. Für die Vereinbarkeit einer Untersuchungshaft mit Art. 10 gelten andere Gesichtspunkte. Bereits zum Zeitpunkt der Festnahme müssen die Strafverfolgungsbehörden prüfen und eine Prognose darüber anstellen, ob eine spätere Verurteilung auf der Grundlage des dem Beschuldigten zur Last gelegten Verhaltens gegen Art. 10 verstoßen würde. Ist dies der Fall, kann auch eine Inhaftierung während des Ermittlungverfahrens nicht als notwendig angesehen werden. Diese Feststellung zeigt einmal mehr, dass es eben nicht ausreicht, nur die klassischen strafprozessualen Bestimmungen der Konvention wie etwa Art. 5 und Art. 6 im Auge zu haben, wenn es darum geht, die Vereinbarkeit einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme mit der Konvention zu beurteilen. Bei Freiheitsentziehungen müssen die Strafverfolgungsbehörden auch die Bedeutung der Meinungsfreiheit als solche berücksichtigen. Gerade im Bereich des Art. 10 hat der Gerichtshof sehr hohe Maßstäbe angelegt, auf die an dieser Stelle aber nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Festnahme und Inhaftierung wird es insbesondere darauf ankommen, inwieweit das Verhalten der betreffenden Person den Rechtsfrieden stört oder eine Gefahr für die Rechtsgüter anderer Personen darstellt („dangers inherent in the ... particular form of protest activity", „risk of disorder").330 Im Fall Chorherr hatte der Bf. während einer militärischen Feierlichkeit Handzettel verteilt, in denen ein „ Volksbegehren für eine Volksabstimmung gegen Abfangjäger" gefordert wurde. Er trug dabei einen Rucksack, auf dem jeweils einer der verteilten Handzettel in Vergrößerung angebracht und der Slogan „Österreich braucht keine Abfangjäger" zu lesen war. D a mehreren Zuschauern die Sicht durch den Rucksack versperrt war, kam es zu einem Tumult. Unter Berufung auf die Meinungsfreiheit weigerte sich der Bf., den Anordnungen von zwei Polizeibeamten Folge zu leisten und den Protest einzustellen. Nach entsprechenden Warnungen der Polizei und lautstarker Proteste der Zuschauer wurde der Bf. um 11.15 Uhr festgenommen und zu einer Polizeistation verbracht, wo gegen ihn ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet und um 11.35 Uhr ein Arrest verhängt wurde. Nachdem der Bf. um 14.15 Uhr polizeilich vernommen worden war, wurde er um 14.40 Uhr entlassen. Die Bundespolizeidirektion erließ später ein Straferkenntnis, in dem der Bf. wegen Verursachung exzessiven Lärms und Ruhestörung zur Zahlung von 1 000 ÖS aufgefordert wurde. Später wurde die Höhe der zu zahlenden Geldsumme auf 700 ÖS reduziert. Einen vom Bf. gerügten Verstoß gegen Art. 5 konnte der E G M R nicht prüfen, weil Österreich einen wirksamen Vorbehalt nach Art. 64 a.F. erklärt hatte. Nach Ansicht des Gerichtshofs verstießen die Festnahme und Inhaftierung auf der Polizeistation nicht gegen Art. 10, da diese Eingriffe in die Meinungsfreiheit zur Aufrechterhaltung der Ordnung erfolgt, im nationalen Recht hinreichend erkennbar und daher gesetzlich vorgesehen waren. Aufgrund der Art, Bedeutung und des Umfangs der militärischen Feierlichkeiten kam der E G M R zu dem
330
Vgl. zur Bedeutung und Auslegung des Art. 10: EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 92-101 (mwN).
312
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Ergebnis, dass die Eingriffe verhältnismäßig zu dem mit ihnen verfolgten Zweck waren und die Behörden den ihnen zustehenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten hatten, vor allem weil die Gegenmaßnahmen im konkreten Fall weder exzessiv noch auf die Behinderung einer bestimmten Meinungsäußerung angelegt waren.331 Die gegenüber den Bf. Steel und Lush getroffenen Maßnahmen, insbesondere die langen Inhaftierungszeiten, bewertete der EGMR als durchaus schwerwiegende Eingriffe in die Meinungsfreiheit, jedoch unter Berücksichtigung der mit dem Verhalten der Bf. verbundenen Gefahren für Leib und Leben und dem Risiko eines Durcheinanders nicht für unangemessen. Die drei übrigen Bf. waren vor einem Konferenzzentrum verhaftet und für sieben Stunden inhaftiert worden, weil sie Handzettel verteilt und auf Plakaten gegen Waffenkäufe demonstriert hatten. Weil keine vernünftigen Gründe für das Vorliegen eines breach of the peace sprachen, sah der EGMR diese Maßnahmen nicht als „lawful" oder „prescribed by law" iSv Art. 5 an. Aus diesem Grund waren die mit den Festnahmen verbundenen Eingriffe in die Meinungsfreiheit der Bf. unverhältnismäßig zu den mit ihnen verfolgten Zielen und daher nicht notwendig iSv Art. 10.332
VII. Vollzug der Untersuchungshaft Der Vollzug der Untersuchungshaft ist neben der Freiheitsbeschränkung mit weiteren Eingriffen in die Rechtssphäre des Beschuldigten verbunden, die sich ihrerseits an den Bestimmungen der Konvention messen lassen müssen.
1.
Arbeitspflicht
Bisher hatte der E G M R nur wenig Gelegenheit, die Voraussetzungen einer Arbeitspflicht für inhaftierte Personen zu konkretisieren. Gemäß Art. 4 Abs. 2 darf niemand gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit („forced or compulsory labour"/„travail force ou obligatoire") zu verrichten. Bei der Interpretation der Begriffe Zwangs- und Pflichtarbeit orientiert sich der E G M R an der Konvention Nr. 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Demnach ist unter einer Zwangs- und Pflichtarbeit „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung" zu verstehen, „die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird undfür die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat". Bei der angedrohten Strafe muss es sich nicht zwingend um strafrechtliche Sanktionen handeln. Es reichen auch andere abschreckende Aussichten („perspectives assez redoutables") oder einer Strafe vergleichbare Risiken aus („risque analogue ä la menace d'une peine"). 333
331 332 333
EGMR, Chorherr ./. Österreich, Serie A Nr. 266-B, §§ 7-13, 22-33. EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 6-24, 102-111. EGMR, van der Mussele ./. Belgien, Serie A Nr. 70, §§ 32-37.
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Gemäß Art. 4 Abs. 3(a), der den Inhalt des Art. 4 Abs. 2 näher beschreibt, gilt u.a. eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Art. 5 die Freiheit entzogen worden ist, nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit. Den vier Unterabsätzen des Art. 4 Abs. 3 liegt - ungeachtet ihrer Verschiedenheit - der Leitgedanke des Allgemeininteresses, der sozialen Solidarität und des normalerweise Üblichen zugrunde.334 Da Art. 4 Abs. 3(a) auf den gesamten Art. 5 verweist - und nicht nur auf den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(a) - , wird man annehmen können, dass auch eine Arbeitspflicht für inhaftierte Personen bis zur - Rechtskraft der - gerichtlichen Entscheidung über die strafrechtliche Anklage mit der Konvention vereinbar ist, wenn sie das Maß des Üblichen nicht übersteigt. Zur Üblichkeit der auferlegten Arbeit hat der Gerichtshof bisher nur im Fall De Wilde, Ooms u. Versyp betreffend die Inhaftierung von Landstreichern nach Art. 5 Abs. 1(e) Stellung genommen und diese davon abhängig gemacht, dass die Arbeit der Rehabilitierung des Betroffenen dient und auf allgemein angeordneten Standards bzw. Bestimmungen beruht, die in einigen anderen Mitgliedstaaten des Europarates ihre Entsprechung haben. Aus einem Verstoß gegen die Vorschrift des Art. 5 Abs. 4 folgt nicht die Unzulässigkeit der im Zeitraum der Inhaftierung angeordneten Arbeit, solange die Inhaftierung als solche gemäß Art. 5 Abs. 1 rechtmäßig ist. Wenig aussagekräftig ist dagegen die Aussage des Gerichtshofs im Urteil van Droogenbroeck, es komme praktisch einer Arbeitspflicht im engeren Sinne nahe, wenn die Freilassung einer Person vom Besitz einer geringfügigen, durch eine Arbeit während der Strafhaft angesparten Geldsumme abhängig gemacht werde.335
2.
Kontakt zur Familie und zu Angehörigen
Wird einer inhaftierten Person der Kontakt zu ihren Angehörigen verwehrt, so liegt darin ein Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Wie aber der Fall Guzzardi zeigt, führt nicht jede Verhinderung der Kontaktaufnahme eines Beschuldigten mit seinen Angehörigen zu einem Konventionsverstoß. Es kommt vielmehr auch auf hindernde Umstände an, die sich der Beschuldigte zurechnen lassen muss. Der Bf. war im Anschluss an eine Untersuchungshaft auf eine schwer zugängliche Mittelmeerinsel verbannt worden und lebte dort zusammen mit seiner Frau und seinem Kind in einer kleinen Wohnung. D a er nicht u m die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für Frau und Kind nachgesucht hatte, mussten diese die Insel verlassen, durften jedoch etwa zwei Monate später wieder zurückkehren. Trotz der Trennung von der
334
335
EGMR, van der Mussele ./. Belgien, Serie A Nr. 70, § 38 („governing ideas of the general interest, social solidarity and what is normal in the ordinary course of affairs"); vgl. auch: EGMR, Schmidt./. Deutschland, Serie A Nr. 291-B, § 22. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 89. Die Arbeitspflicht beruhte auf einem Gesetz aus dem Jahre 1891 („Les individus valides internes dans un depot de mendicite ou dans une maison de refuge" ont Γ obligation d'accomplir les „travaux presents dans l'etablissement" )\ van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 59.
314
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Familie verneinte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8, weil der Bf. die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht beantragt hatte.336 Während der Kontakt eines Untersuchungshäftlings zu seinem Verteidiger vor allem für die Vorbereitung der Verteidigung von fundamentaler Bedeutung ist, kann die Aufrechterhaltung der Verbindung zu seiner Familie und zu seinen Angehörigen einer unerwünschten Isolation in der Haft entgegenwirken. Eine europäische Dimension erreicht das familiäre Kontaktrecht des Untersuchungshäftlings zu seiner Familie, wenn sich die Familie in einem anderen Vertragsstaat aufhält. 337 Der EGMR sollte die Kontrolldichte im Rahmen der Überprüfung einer Beschränkung familiärer Kontakte deutlich erhöhen. Dass die Ermittlungen zum Tatvorwurf durch derartige Besuche und Kontakte nicht gefährdet werden dürfen, liegt auf der Hand. Zu Recht berücksichtigt der EGMR bei der Angemessenheit der Haftdauer eine durch die Freilassung des Beschuldigten drohende Beeinflussung der Ermittlungen als Grund für die Aufrechterhaltung der Inhaftierung. Den Bedürfnissen einer effektiven Strafverfolgung lässt sich aber auch auf der Ebene des Art. 8 Abs. 2 angemessen Rechnung tragen. Nicht nur Beschränkungen des Telefon- und Schriftverkehrs, sondern auch die Einschränkung von Besuchen durch Familienangehörige während der Untersuchungshaft müssen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. Es dürfte angesichts des flexiblen Rechtfertigungsschemas des Art. 8 Abs. 2 nicht schwerfallen, das Ermittlungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden und die Individualinteressen des Untersuchungshäftlings in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
3.
Disziplinarmaßnahmen
Über die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegenüber inhaftierten Personen hatte der Gerichtshof bisher nur bei rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen („convicted prisoners") zu entscheiden. Dabei hat er betont, dass auf der einen Seite praktische und politische Gründe im Bereich des Gefangniswesens - wie etwa Sicherheitserwägungen und das Interesse der öffentlichen Ordnung, die Notwendigkeit, sich mit einem Fehlverhalten der Insassen so rasch wie möglich zu befassen, die Verfügbarkeit angemessener Sanktionen, die ordentlichen Gerichten nicht zur Verfügung stehen, und der Wunsch der Gefangnisbehörden, nach Wahrung der Verantwortung für die Disziplin innerhalb ihrer Einrichtungen - eine besondere disziplinäre Ordnung in einem Gefängnis erfordern, dass aber andererseits die Gerechtigkeit nicht am Tor des Gefängnisses enden darf („justice cannot stop at the prison gate"). Daher dürfen inhaftierten Personen in einem Disziplinarverfahren nicht die fundamentalen Garantien eines fairen Ver336 337
E G M R , Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 34, 35, 109. So wurde im Zusammenhang mit den Inhaftierungen anlässlich des EU-Gipfels von Göteborg im Juni 2001 von deutschen Anwälten behauptet, dass in Schweden inhaftierte Beschuldigte weder mit ihren Angehörigen in Deutschland telefonieren noch Besuch empfangen durften (vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 147 v. 29.6.2001, S. 10).
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
315
fahrens entzogen werden, vorausgesetzt natürlich, dass Art. 6 auf die Ahndung des Fehlverhaltens sachlich Anwendung findet. Hier gelten die allgemeinen zur strafrechtlichen Anklage entwickelten Kriterien.338 Andererseits hat es der EGMR nicht beanstandet, dass Disziplinarverfahren gegen Strafgefangene unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, weil die mit einer öffentlichen Verhandlung verbundenen Sicherheitsprobleme - unabhängig davon, ob die Verfahren innerhalb oder außerhalb des Gefangisses stattfinden - für die staatlichen Behörden eine unverhältnismäßige Belastung („disproportionate burden") bedeuten würden.339 Obwohl Untersuchungsgefangene schon aufgrund der für sie geltenden Unschuldsvermutung einen anderen Status als Strafgefangene haben, dürfte auch ihnen gegenüber die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen nicht gänzlich ausgeschlossen sein, wohl aber strengeren Maßstäben unterliegen. Anknüpfungspunkt für solche Disziplinarmaßnahmen darf allerdings weder der Tatvorwurf noch ein prozessual zulässiges Verhalten sein.
4.
Medizinische Behandlung
Eine besonders genaue Einhaltung der Konventionsbestimmungen hat der EGMR in der Entscheidung Herczegfalvy für Personen gefordert, die in psychiatrischen Kliniken untergebracht sind und sich häufig in einem Zustand der Unterlegenheit und Hilflosigkeit befinden („position of inferiority and powerlessness"). Stellt sich bei diesen Personen eine gesundheitsschädliche oder gar lebensgefahrliche Situation ein, so obliegt es dem ärztlichen Personal, auf der Grundlage der anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft über die Anwendung therapeutischer Maßnahmen zu entscheiden („it is for the medical authorities to decide, on the basis of the recognised rules of medical science, on the therapeutic methods to be used"). Für Patienten, die gänzlich unfähig sind, eigene Entscheidungen zu treffen, geht der EGMR sogar ausdrücklich von einer Verantwortung des ärztlichen Personals für diese Personen aus („for whom they are therefore responsible"), die - wenn notwendig - auch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der physischen und psychischen Gesundheit erfordern kann. Medizinische Zwangsmaßnahmen sieht der EGMR also vorrangig unter dem Aspekt der Fürsorge. Gleichwohl darf eine Behandlungsmaßnahme unter keinen Umständen den Grad einer Misshandlung iSv Art. 3 erreichen. Ob eine Behandlungsmaßnahme mit Art. 3 vereinbar ist, beurteilt sich auf der Grundlage der anerkannten Regeln der Medizin („established principles of medicine"). Im allgemeinen stellt eine Maßnahme, die therapeutisch notwendig ist („therapeutic necessity"), keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.340 Obwohl sich Untersuchungsgefangene regel338
339 340
E G M R , Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 69; zum Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage in Disziplinarverfahren vgl. das Kapitel § 1 I 2. E G M R , Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 87. E G M R , Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 82-84 (medizinische Zwangsbehandlung bei Hungerstreik).
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
mäßig nicht in einer Situation der Hilflosigkeit befinden, wie sie bei psychiatrisch betreuten Patienten üblich ist, wird man auch ihnen ein gewisses Maß an Unterlegenheit keineswegs absprechen können. Die für psychiatrisch behandelte Personen geltenden Grundsätze dürften deshalb für den Vollzug einer Haft bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die erhobene Anklage entsprechend gelten. Die Entscheidung über medizinische Zwangsmaßnahmen ist daher nicht von der Anstaltsleitung, sondern von dem in der Anstalt tätigen medizinischen Fachpersonal („medical authorities") zu treffen. Der Bf. Herczegfalvy war wegen seines schlechten gesundheitlichen Zustandes in Folge eines Hungerstreiks u.a. mit einer Sonde zwangsernährt worden. Später wurde er isoliert untergebracht und in einen künstlichen Dämmerschlaf versetzt. Zusätzlich wurden ihm gegen seinen Willen Beruhigungsmittel verabreicht. Über mehrere Monate wurde er auf einem Sicherheitsbett an mehreren Stellen des Körpers angegurtet und mit Handschellen gefesselt. Durch seinen gegen einige Behandlungsmaßnahmen geleisteten Widerstand hatte er mehrere Zähne verloren sowie Rippenbrüche und Prellungen am Körper erlitten. Der EGMR hielt die Dauer der Verwendung der Handschellen und des Sicherheitsbettes für „besorgniserregend", bewertete aber - im Gegensatz zur EKMR die vom Bf. vorgebrachten Beweise als nicht ausreichend, um aus ihnen auf eine Verletzung des Art. 3 schließen zu können.
5.
Zugang zu Lesestoff, Radio und Fernsehen
Es stellt einen Eingriff in das von Art. 10 Abs. 1 geschützte Recht auf ungehinderten Empfang von Informationen dar, wenn einer untergebrachten oder inhaftierten Person der Zugang zu Lesestoff, Radio und Fernsehen - über einen längeren Zeitraum - verweigert wird. Ein solcher Eingriff muss auf einer den Anforderungen des Art. 10 entsprechenden gesetzlichen Grundlage erfolgen. Diese muss den Umfang und die Bedingungen für die Ausübung eines den Behörden in dieser Frage eingeräumten Ermessens spezifizieren und ein Mindestmaß an Schutz gegen Willkür bieten, indem sie Art und Zweck, Dauer und Umfang einer Beschränkung sowie eine Möglichkeit ihrer Anfechtung regelt. Der Bf. Herczegfalvy hatte gerügt, dass er über längere Zeiträume während seiner Inhaftierung, insbesondere während seiner unter Art. 5 Abs. 1(e) fallenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, keinen Zugang zu Lesestoff, Radio oder Fernsehen gehabt habe. Mangels einer den Anforderungen des Art. 10 Abs. 2 genügenden gesetzlichen Grundlage sah der Gerichtshof diese Beschränkungen als nicht konventionsgemäß an.341
Mi EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 38-39, 51-54,91, 93-94.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
6.
317
Überwachung des Briefverkehrs
Soweit es die freie Meinungsäußerung im Briefverkehr betrifft, überschneiden sich die Bestimmungen des Art. 10 und Art. 8. Das Recht auf freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit dem Briefverkehr wird abschließend durch das Recht einer Person auf Achtung ihrer Korrespondenz geschützt („right to respect for his correspondence"/„droit au respect de sa correspondence"). Art. 10 ist daneben nicht zu prüfen.342 Weil der EGMR die elementaren Grundsätze für die Korrespondenzkontrolle inhaftierter Personen vor allem bei Strafgefangenen entschieden hat, lohnt ein Blick auf die entsprechenden Urteile. a)
Briefkontrolle von Strafgefangenen
Unter die von Art. 8 geschützte Korrespondenz fällt der von einem Strafgefangenen geschriebene Brief an seinen Rechtsvertreter oder umgekehrt. Das Öffnen und Lesen eines solchen Schreibens stellt ebenso wie sein Anhalten („stopping") oder seine Zensur („censorship") einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Korrespondenz des Gefangenen und des Anwaltes dar. Weil die Unterbindung der Begründung eines Schriftwechsels den weitreichendsten Eingriff darstellt, wäre es nach Ansicht des Gerichtshofs unverständlich, wenn der Aufbau einer Korrespondenz im Gegensatz zur Überwachung einer bereits vorhandenen Korrespondenz nicht vom Schutz des Art. 8 erfasst wäre.343 Dass bereits die Existenz einer gesetzlichen Regelung zum Öffnen und Lesen von Briefen und Postsendungen einen Eingriff in die von Art. 8 geschützte Korrespondenz bedeutet, hat der EGMR im Urteil Campbell ausdrücklich betont.344 Ein derartiger Eingriff ist nur mit der Konvention vereinbar, wenn er die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 erfüllt.345 Die restriktive Formulierung dieser Rechtfertigungsklausel lässt keinen Raum für immanente Beschränkungen des Schutzbereichs von Art. 8.346 Sowohl das geschriebene als auch das nicht geschriebene Recht kann eine gesetzliche Grundlage iSv Art. 8 Abs. 2 sein. Im Fall De Wilde, Ooms u. Versyp beruhte die Überwachung des Schriftverkehrs der wegen Landstreicherei inhaftierten Personen auf einem königlichen Erlass.347 Im Urteil Golder ließ der EGMR als gesetzliche Grundlage für die Briefkontrolle eines Straf-
342
343
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345
346 347
EGMR, Silver u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, §§ 85, 107; Schönenberger u. Durmaz ./. Schweiz, Serie A Nr. 137, § 31; die vor der sprachlichen Überarbeitung gültige deutsche Übersetzung „Briefverkehr" war insoweit zu eng. EGMR, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 43; Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 33; Calogero Diana./. Italien, Reports 1996-V, § 28; Domenichini./. Italien, Reports 1996-V, § 28. EGMR, Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 33; siehe auch: EGMR, Klass u.a../. Deutschland, Serie A Nr. 28, § 41. Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel § 2 zur Durchsuchung bzw. Telefonüberwachung und die Urteile Calogero Diana./. Italien, Reports 1996-V, § 28; Domenichini./. Italien, Reports 1996-V, § 28; Petra ./. Rumänien, Reports 1998-VII, § 36 (mwN). EGMR, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 44. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 39.
318
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
gefangenen die auf dem Prison Act 1952 beruhenden Prison Rules 1964 genügen. Bei letzteren handelt es sich um vom Home Secretary erlassene Vorschriften, die zwar dem Parlament vorgelegt werden müssen, im übrigen aber den Status von Verwaltungsrichtlinien („Statutory Instrument") haben. Wie der EGMR im Fall Silver angedeutet hat, reichen bloße Verfügungen und Richtlinien an die Gefängnisbehörden (Standing Orders und Circular Instructions) allein als gesetzliche Grundlage nicht aus, wenn sie nur den Mitgliedern des Parlaments, nicht jedoch der Öffentlichkeit oder für Gefangene zugänglich sind. Für die von Art. 8 Abs. 2 geforderte Zugänglichkeit der gesetzlichen Grundlage genügt es nicht, wenn die Gefangenen Kenntnis der in den Verfügungen und Richtlinien enthaltenen Regeln lediglich mit Hilfe von Anschlägen in den Zellen („cell cards") erhalten, die den Inhalt dieser Verfügungen und Richtlinien nicht näher erläutern.348 Im Fall Campbell ließ der EGMR als gesetzliche Grundlage für die Kontrolle der Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und seinem Rechtsvertreter die auf dem Prison (Scotland) Act 1952/1989 beruhenden Prison (Scotland) Rules 1952 und die ergänzenden Standing Orders genügen, da diese sowohl veröffentlicht als auch den Gefangenen und der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich waren.349 Selbst militärische Rundschreiben („circular") und eine Kasernenordnung („barracks regulation") können Gesetze iSv Art. 8 Abs. 2 sein.350 Auch auf dem Gebiet der Briefkontrolle muss das Gesetz so hinreichend präzise formuliert sein („formulated with sufficient precision"), dass die von einer Briefkontrolle betroffene Person gegebenenfalls nach entsprechender Beratung die mit der Kontrolle verbundenen Folgen vorhersehen kann. 351 Es müssen allerdings nicht sämtliche Eingriffsvoraussetzungen und das gesamte Verfahren vollständig in einer substantiellen Regelung („substantive law") enthalten sein. Auch Verfügungen, Richtlinien oder Ausführungsbestimmungen, die selbst nicht als gesetzlich anzusehen wären, können eine ansonsten eher unbestimmte gesetzliche Regelung konkretisieren, wenn sie eine Praxis begründen, die, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, befolgt werden muss. Voraussetzung ist allerdings, dass sie ausreichend zugänglich sind, weil sich der Gefangene mit unveröffentlichten Bestimmungen nicht vertraut machen kann („unable to acquaint himself"). Das Kriterium der Vorhersehbarkeit kann auch durch eine sonstige Mitteilung gewährleistet werden, durch die eine Person von einer bestimmten Beschränkung ihrer Korrespondenz in Kenntnis gesetzt wird. Dagegen sind von einer gesetzlichen Regelung jedenfalls solche Einschränkungen nicht mehr gedeckt, die über das hinausgehen, was vernünftigerweise aus dem Wortlaut einer Norm abgeleitet werden kann („went further than could reasonably be deduced"). 352 Die Vorhersehbarkeit der Folgen
348
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E G M R , Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, §§ 17, 43, 45; Silver u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, §§ 26, 86-87, 93. E G M R , Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, §§ 18, 36. E G M R , Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs u. Gubi ./. Österreich, Serie A Nr. 302, §§31,46 (Verbot zur Verteilung einer Zeitung in Kasernen). E G M R , Times Newspaper./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, §§ 49, 50; Silver u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 61, § 88; Huvig ./. Frankreich, Serie A Nr. 176-B, § 26. E G M R , Silver u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, §§ 45, 88-89,93-94; Petra./. Rumänien, Reports 1998-VII, §§ 37-38.
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einer gesetzlichen Regelung kann sich zudem aus einer bestimmten Anzahl von Gerichtsurteilen ergeben („substantial body of case-law").353 Inhaltlich muss sie das Maß sowie die Art und Weise der Ausübung eines den zuständigen Stellen eingeräumten Ermessens konkretisieren („indicate with reasonable clarity the scope and manner of exercise of the relevant discretion"), also Regelungen über die Art, den Zweck, die Dauer und den Umfang der zulässigen Beschränkungen der Korrespondenz sowie über ihre Überprüfbarkeit enthalten („purpose, duration and extent or the arrangements for their review"). Auf der anderen Seite trägt die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch den Bedürfnissen der Praxis Rechnung, indem sie den staatlichen Stellen dort, wo eine große Zahl von Briefen kontrolliert wird, ein gewisses Ermessen belässt. Prinzipiell hält es der Gerichtshof sogar für unvermeidlich, dass Gesetze zur Briefkontrolle von Gefangenen mehr oder minder vage Begriffe enthalten, deren Interpretation und Anwendung von der täglichen Praxis zu leisten ist.354 Eine gesetzliche Regelung zur Briefkontrolle von Gefangenen lässt den zuständigen Stellen aber einen mit Art. 8 nicht mehr zu vereinbarenden Spielraum („latitude"), wenn sie lediglich die Kategorien der Personen, deren Korrespondenz kontrolliert werden kann, und die für die Anordnung zuständige Stelle bestimmt, aber keinerlei Angaben zur Dauer der Maßnahme oder hinsichtlich der sie rechtfertigenden Gründe enthält.355 Bestimmungen, die lediglich pauschale Kriterien anführen, an denen sich der Umfang des Briefverkehrs eines Gefangenen auszurichten hat, und zugleich der Gefängnisleitung das Anhalten von Korrespondenz, Büchern und Zeitschriften erlauben, „die für den Prozess der Rehabilitierung ungeeignet" erscheinen („unsuited to the process of rehabilitating a prisoner"), sind nicht hinreichend bestimmt. Die vom EGMR im Fall Petra gewählte Formulierung „monitoring of correspondence therefore seems to be automatic, independent of any decision by a judicial authority and unappealable" beschreibt in erster Linie die unklare Gesetzeslage im rumänischen Recht. Sie geht außerdem klar in die Richtung einer Forderung nach einem Richtervorbehalt bzw. nachträglichen gerichtlichen Überprüfung der angeordneten Korrespondenzkontrolle. Diesen Punkt hätte der Gerichtshof noch weiter ausführen müssen.356
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354
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356
E G M R , Chappel./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 152-A, § 56 (Voraussetzungen einer im common law bekannten einstweiligen Verfügung - Anton Pillar Order). E G M R , Silver u.a../. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, § 88; Herczegfalvy./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 88-91; Calogero Diana ./. Italien, Reports 1996-V, §§ 32-33; Domenichini ./. Italien, Reports 1996-V, §§ 32-33; Petra ./. Rumänien, Reports 1998-VII, § 37; vgl. auch: Kokkinakis ./. Griechenland, Serie A Nr. 260-A, § 40 (Art. 9). E G M R , Calogero Diana ./. Italien, Reports 1996-V, § 32; Domenichini ./. Italien, Reports 1996-V, § 32 („no further than identifying the category of persons whose correspondence may be censored and the competent court, without saying anything about the length of the measure or the reasons that may warrant it"). E G M R , Petra./. Rumänien, Reports 1998-VII, §§ 7-26, 35-40 („they go no further than indicating in a very general way the right of convicted prisoners to receive and send mail and they give prison governors the power to keep any letter or any newspaper, book or magazine unsuited to the process of rehabilitating a prisoner").
320
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Die Fälle Calogero Diana und Domenichini betrafen einen Grenzfall mit Elementen der Straf- und Untersuchungshaft. Die Schwierigkeit der Zuordnung ergab sich daraus, dass das italienische Recht im Bereich der Briefkontrolle keine Unterschiede bei der Behandlung von Straf- und Untersuchungsgefangenen vorsah. Zwar war die Briefkontrolle von einem für die Vollstreckung von Strafen zuständigen Richter angeordnet worden, die in der Anordnung genannten Gründe sprechen dagegen eher für eine Einordnung des Falles in den Bereich der Untersuchungshaft. Die Frage kann aber letztlich dahinstehen, da der Gerichtshof die Anforderungen an die gesetzliche Regelung bei einer echten Untersuchungshaft kaum niedriger ansetzen wird. Im Fall Calogero Diana hatte ein Richter die Überprüfung sämtlicher Korrespondenz eines Gefangenen für die Dauer von sechs Monaten angeordnet. Zu diesem Zeitpunkt waren gegen den Gefangenen bereits zwei Verurteilungen ergangen, zwei weitere Strafverfahren waren aber noch anhängig. Jedenfalls vier Briefe des Bf. an seinen Anwalt und zwei eingeschriebene Briefe des Anwalts an den Bf. waren entsprechend der oben genannten Praxis kontrolliert worden. Der Bf. Domenichini befand sich seit Dezember 1980 aufgrund mehrerer gegen ihn geführter Strafverfahren wegen des Verdachts der Beteiligung an Aktionen einer terroristischen Vereinigung in Haft. Im März 1987 entschied ein für die Vollstreckung der Strafen zuständiger Richter, dass die Korrespondenz des Bf. und weiterer Gefangener für die Dauer von sechs Monaten überwacht werden solle. Diese Anordnung wurde insgesamt fünfmal jeweils für die Dauer von sechs Monaten verlängert, zuletzt im September 1989. Im Juni und Dezember 1988 sowie im Oktober 1989 war der Bf. zu weiteren mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Zwischen November 1988 und Februar 1990 waren unstreitig fünf Briefe des Bf. an zwei Anwälte kontrolliert worden. Die Briefkontrollen basierten auf einem Gesetz, aus dem nicht erkennbar war, wann die Anordnung einer Briefkontrolle statthaft war („not specify the cases in which such a decision may be taken"). Der EGMR bejahte einen Verstoß gegen Art. 8, weil der Eingriff in das Recht auf Achtung der Korrespondenz nicht gesetzlich vorgesehen war.357 Wird die Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und seinem Rechtsvertreter von der Gefängnisverwaltung geöffnet und gelesen, um sicherzustellen, dass sich in ihr keine Gegenstände befinden, die für die Sicherheit des Gefängnisses oder die Unversehrtheit anderer Personen gefährlich oder sonst strafrechtlich von Belang sind, erfolgt eine solche Kontrolle zu einem von Art. 8 Abs. 2 anerkannten legitimen Zweck, nämlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten. Gleiches galt für das Öffnen von Briefen der E K M R an den Strafgefangenen. 358 Ein Eingriff in das Recht auf Achtung der Korrespondenz muss aber darüber hinaus zum Schutz eines der in Art. 8 Abs. 2 genannten Gründe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Die Kontrolle der Korrespondenz eines Gefangenen muss einem zwingenden sozialen Bedürfnis
357
358
E G M R , Calogero Diana./. Italien, Reports 1996-V, §§ 8-11,18-21,28,32-33; Domenichini./. Italien, Reports 1996-V, §§ 7-11, 18-21, 28, 32-33 („the Italian Law does not indicate with reasonable clarity the scope and manner of exercise of the relevant discretion conferred on the public authorities, so that... did not enjoy the minimum degree of protection to which citizens are entitled under the rule of law in a democratic society"). E G M R , Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, §§ 41, 60.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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entsprechen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten legitimen Zweck stehen. Obwohl den staatlichen Stellen bei der Beurteilung der Notwendigkeit ein gewisser, aber nicht unbegrenzter Beurteilungsspielraum zusteht („certain but not unlimited margin of appreciation"), müssen hinreichende Gründe („sufficient reason") für die Anordnung einer Kontrolle der Korrespondenz vorliegen.359 In Anbetracht der gewöhnlichen und angemessenen Anforderungen an eine Inhaftierung („ordinary and reasonable requirements of imprisonment") hält der Gerichtshof eine gewisse Art von Kontrolle über die Gefangenenkorrespondenz für unumgänglich und mit der Konvention vereinbar („some measure of control"). Namentlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten kann bei einem verurteilten Gefangenen weitreichendere Eingriffsmaßnahmen als bei einer nicht inhaftierten Person rechtfertigen. Bei der Bemessung des Umfangs einer solchen Kontrolle muss aber dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Möglichkeit zu schreiben und Briefe zu empfangen die einzige Verbindung des Gefangenen mit der Außenwelt darstellen kann („prisoner's only link with the outside world").360 Letzteres dürfte zwar auch bei Untersuchungsgefangenen zu beachten sein, aus Gründen der Effektivität der Strafverfolgung aber eine nicht so große Rolle spielen. (1) Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und einem Rechtsanwalt Die Beschränkung der Korrespondenz eines Strafgefangenen ist jedenfalls dann nicht notwendig, wenn sie ein Verhalten des Gefangenen verhindert, das seinerseits die Vorstufe zur Ausübung eines in der Konvention garantierten Rechtes ist. Weil die schriftliche Kontaktaufnahme mit einem Anwalt zur Vorbereitung einer Zivilklage den ersten Schritt zur Ausübung des von Art. 6 Abs. 1 garantierten Rechts auf Zugang zu einem Gericht darstellt, sah der EGMR im Fall Golder in der Verhinderung einer solchen Kontaktaufnahme einen Verstoß gegen Art. 8.361 Jede Person, die einen Rechtsanwalt konsultieren möchte, muss dies unter Bedingungen tun können, die eine umfängliche und ungehinderte Beratung ermöglichen („under conditions which favour full and uninhibited discussion"). Wie der Gerichtshof schon im Fall S zur akustischen Überwachung von Verteidigergesprächen hervorgehoben hat, würde der anwaltliche Beistand viel von seinem Nutzen einbüßen, wenn sich der Anwalt nicht ohne eine akustische 359
360
361
EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 93; Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, § 48; Times Newspaper ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 30, § 59; vgl. auch EGMR, Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 44, § 63; Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 45, §§ 51-52; Silver u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, § 97; Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 109, § 55; Schönenberger u. Durmaz ./. Schweiz, Serie A Nr. 137, § 27; Leander ./. Schweden, Serie A, Nr. 116, § 58; Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 44. EGMR, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 45; Silver u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 61, § 98; Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 45; vgl. zur Notwendigkeit einer Briefkontrolle von Strafgefangenen im allgemeinen und dem Ausschluss einer Korrespondenz über einen bestimmten Vorfall im Haftvollzug bis zum Abschluss der internen Untersuchung („prior ventilation rule") vor allem die Entscheidungen Silver (§§ 99-105) und Campbell (§ 109). EGMR, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 45.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Überwachung mit seinem Mandanten beraten und diesem vertrauliche Hinweise geben könnte („lose much of its usefulness"). Diese eher abstrakten Aussagen zum Verhältnis von Anwalt und Mandant können in ihrer Bedeutung und Tragweite gar nicht überschätzt werden. Sie besitzen Ausstrahlungswirkung weit über den Bereich der Gefangenenbriefkontrolle hinaus. Das Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten („lawyer-client relationship") bezeichnet der Gerichtshof ebenso wie die Korrespondenz einer Person mit einem Anwalt ausdrücklich als privilegiert („privileged under Art. 8"), wenngleich dies nur im Prinzip gelten soll („in principle"). Einen ähnlichen Schutz wie Verteidigergespräche soll die Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und einem Rechtsvertreter über beabsichtigte oder anhängige Rechtsstreite genießen, bei denen die Notwendigkeit einer Vertraulichkeit ebenso zwingend ist („need for confidentiality is equally pressing"). Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Korrespondenz wie im Fall Campbell auf Ansprüche und Beschwerden gegen die Gefängnisverwaltung richtet. Die regelmäßige Kontrolle („routine scrutiny") derartiger Korrespondenz durch staatliche Stellen, die ein unmittelbares Interesse an der in der Korrespondenz behandelten Materie haben, entspricht nicht den Grundsätzen der Vertraulichkeit und beruflichen Privilegierung des Verhältnisses von Anwalt und Mandant („principles of confidentiality and professional privilege attaching to relations between a lawyer and his client").362 Eine Kategorisierung des Briefverkehrs mit einem Rechtsanwalt in private und vertrauliche Schreiben hat der Gerichtshof nachdrücklich abgelehnt, obwohl auch er zugeben muss, dass die Unterscheidung zwischen der auf konkrete Rechtsstreite bezogenen Korrespondenz und dem allgemeinen Schriftverkehr eines Anwalts schwierig sein und die Anwaltskorrespondenz auch Angelegenheiten betreffen kann, die wenig oder gar nichts mit der Führung einer Rechtsangelegenheit zu tun haben. Die Gefangnisverwaltung darf den Brief eines Rechtsanwaltes an einen Strafgefangenen öffnen, wenn sie den hinreichenden Verdacht auf einen unerlaubten Inhalt hat, der sich mit Hilfe der gewöhnlichen Überwachungsvorrichtungen nicht hat ermitteln lassen („reasonable cause to believe that it contains an illicit enclosure"). Der betreffende Brief darf allerdings lediglich geöffnet, nicht aber gelesen werden („should ... only be opened and should not be read"). Der EGMR verlangt einen angemessenen Schutz, durch den das Lesen des Briefes ausgeschlossen werden soll („suitable guarantees preventing the reading of the letter"). Ein solcher Schutz kann etwa darin bestehen, dass ein solcher Brief nur in Gegenwart des Gefangenen geöffnet wird. Gelesen werden darf die Korrespondenz des Gefangenen mit einem Anwalt nur in außergewöhnlichen Fällen („exceptional circumstances"), wenn ein hinreichender Verdacht auf einen Missbrauch der Privilegierung besteht, indem der Inhalt des Briefes die Sicherheit des Gefängnisses oder die Unversehrtheit anderer Personen gefährdet oder sonst einen strafbaren Charakter hat („reasonable cause to believe that the privilege is being"). Hierfür müssen Tatsachen oder Informationen vorhanden sein, die einen objek362
EGMR, S ./. Schweiz, Serie A Nr. 220, § 48; Campbell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, §§46-47.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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tiven Betrachter davon überzeugen, dass der privilegierte Weg der Korrespondenz missbraucht worden ist.363 Den besonderen Stellenwert, den die Korrespondenz einer inhaftierten Person mit einem Anwalt besitzt, hat der Gerichtshof noch dadurch unterstrichen, dass er sie einem Besuchsgespräch gegenüberstellt und als anderes Mittel der Kommunikation bezeichnet („special importance in a prison context", „different medium of communication"), was insbesondere dann gilt, wenn der persönliche Besuch eines Rechtsbeistands durch die räumliche Entfernung des Gefängnisses erschwert wird. Um die vertrauliche Kommunikation eines Strafgefangenen mit seinem Rechtsbeistand zu erreichen („objective of confidential communication"), darf die entsprechende Korrespondenz jedenfalls keiner automatischen Kontrolle unterliegen („automatic control"), weil die Möglichkeit, die Korrespondenz bei einem hinreichenden Verdacht zu kontrollieren, einen ausreichenden Schutz gegen die Möglichkeit eines Missbrauchs durch Rechtsanwälte darstellt („possibility of examining correspondence for reasonable cause provides a sufficient safeguard against the possibility of abuse"). Die bloße theoretische Möglichkeit eines Missbrauchs kann eine umfassendere Kontrolle nicht rechtfertigen, weil die von ihr ausgehende Gefahr durch das notwendige Gebot der Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen Anwalt und Mandant kompensiert wird.364 Wie bei allen anderen Vorschriften der Konvention muss auch für einen Strafgefangenen im nationalen Recht eine wirksame Beschwerdemöglichkeit iSv Art. 13 bestehen, um einen vertretbar behaupteten Verstoß gegen sein Recht auf Korrespondenz geltend machen zu können. Die Möglichkeit, sich an den Richter zu wenden, der die Anordnung der Briefkontrolle getroffen hat, stellt keine effektive Beschwerde iSv Art. 13 dar, weil dieser seine eigene Entscheidung überprüfen müsste, die er ohne Einhaltung eines kontradiktorischen Verfahrens gefällt hat.365 (2) Korrespondenz zwischen einem Strafgefangenen und der EKMR Vor dem Inkrafttreten des 11. ZP hatte sich der Gerichtshof auch mit einer Kontrolle der Korrespondenz eines Gefangenen mit der EKMR zu befassen. Außer beim Öffnen eines Briefes der Kommission an einen Strafgefangenen - unabhängig davon, ob der Inhalt auch gelesen wurde366 - nahm der Gerichtshof auch bei Verzögerungen in der Ver- oder Übermittlung der Korrespondenz des Gefangenen mit der EKMR durch das Gefängnispersonal einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 an.367 Die Bedeutung der Korrespondenz eines
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366 367
E G M R , Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 48 („existence of facts or information which would satisfy an objective observer that the privileged channel of communication was being abused"). E G M R , Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, §§ 50, 52 („mere possibility of abuse is outweighed by the need to respect the confidentiality attached to the lawyer-client relationship"). E G M R , Calogero Diana ./. Italien, Reports 1996-V, §§ 8-11, 18-21, 41; Domenichini ./. Italien, Reports 1996-V, §§ 7-14, 18-21, 42. Da die italienischen Gerichte selbst erklärt hatten, dass gegen die Anordnung einer Briefkontrolle keinerlei Rechtsbehelf gegeben war, nahm der E G M R in den Entscheidungen Calogero Diana und Domenichini einen Verstoß gegen Art. 13 an. E G M R , Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 57. E G M R , Petra ./. Rumänien, Reports 1998-VII, §§ 35-36.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Strafgefangenen mit der Kommission, die sich eigentlich schon aus Art. 25 a.F. ergab („importance to respect the confidentiality of mail from the Commission"), hat der Gerichtshof insbesondere deshalb nachhaltig gestärkt, weil sie Anschuldigungen des Gefangenen zum Gegenstand haben konnte, die sich gegen die Gefängnisverwaltung oder das Gefängnispersonal richteten. Anders als bei der Korrespondenz mit einem Rechtsanwalt hat er bereits eine Befugnis des Gefängnispersonals zum Öffnen der Briefe von der Kommission als problematisch angesehen, weil dies zumindest die Möglichkeit offen ließ, dass die Briefe auch gelesen wurden, wodurch wiederum Repressalien des Gefängnispersonals gegenüber dem Gefangenen hervorgerufen werden konnten. Schon für das Öffnen von Briefen der Kommission an einen Strafgefangenen war deshalb ein zwingender Grund erforderlich („compelling reason"). Das Risiko, dass Briefpapier der Kommission gefälscht wird, um verbotene Gegenstände oder Nachrichten in ein Gefängnis zu schmuggeln, bewertete der EGMR als gering.368 Die Kontrolle der Korrespondenz eines Gefangenen mit der EKMR konnte auch einen Verstoß gegen Art. 25 a.E darstellen. Für ein effektives Individualbeschwerderecht forderte der Gerichtshof, dass die betreffende Person frei mit der Kommission kommunizieren konnte, ohne irgendeinem Druck hinsichtlich der Zurücknahme oder Änderung der Beschwerde ausgesetzt zu sein („communicate freely with the Commission without being subjected to any form of pressure from the authorities to withdraw or modify their complaints"). Als derartigen Zwang bewertete er nicht nur unmittelbaren Zwang und Einschüchterungsversuche gegenüber dem Gefangenen, seiner Familie oder seinem Rechtsvertreter, sondern auch unangemessene indirekte Handlungen oder Umstände, die ihn davon abhalten sollten, seine Beschwerde weiter zu verfolgen („not only direct coercion and flagrant acts of intimidation ... but also other improper indirect acts or contacts designed to dissuade or discourage them from pursuing a Convention remedy").369 Diese Grundsätze dürften für das nunmehr in Art. 34 geregelte Individualbeschwerderecht zum Gerichtshof entsprechend und für Untersuchungsgefangene erst recht gelten.370
368
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EGMR, Campbell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 233, § 62 („so negligible that it must be discounted")· EGMR, Petra ./. Rumänien, Reports 1998-VII, §§ 7-24, 35, 41-44. Im konkreten Fall waren gegenüber dem Bf. vom Gefängnispersonal Bedrohungen ausgesprochen worden, die nach Ansicht des Gerichtshofs einen mit der effektiven Ausübung des Individualbeschwerderechts nicht zu rechtfertigenden Zwang darstellten. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, §§ 32, 93. Der EGMR hat hier zumindest angedeutet, dass der Briefverkehr inhaftierter Beschuldigter mit der EKMR von der Uberwachung auszunehmen war. Nicht beanstandet hat er dagegen, dass ein Brief eines als Landstreicher Inhaftierten an den Justizminister zuvor von der Anstaltsleitung geöffnet worden war, obwohl dies nach einer Weisung des Justizministers unzulässig war.
325
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
(3)
Korrespondenzkontrolle bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Für die Kontrolle der Korrespondenz einer gemäß Art. 5 Abs. 1(e) in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Person gelten ähnliche Voraussetzungen wie bei Strafgefangenen. Im Fall Herczegfalvy war die gesamt Post des Bf. während seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - die teilweise unter Art. 5 Abs. 1(c), größtenteils aber unter Art. 5 Abs. 1(e) fiel - zur Auswahl der weiterzubefördernden Poststücke einem für den Bf. bestellten Sachwalter übermittelt worden. Als der Bf. im November 1984 aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wurden ihm u.a. 50 von ihm geschriebene Briefe übergeben, die ausweislich des Postregisters niemals ihre Adressaten - Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte - erreicht hatten. Der EGMR sah sowohl in der Vorlage der Post an den bestellten Sachwalter („curator") als auch in der Nichtweiterleitung der Poststücke einen Eingriff in das von Art. 8 Abs. 1 geschützte Recht des Bf. auf Achtung seiner Korrespondenz, der nicht gesetzlich vorgesehen war. Der Gerichtshof hielt die gesetzlichen Bestimmungen, auf die der Eingriff gestützt wurde, für sehr vage. Eingriffe in das Recht auf Achtung der Korrespondenz einer wegen ihrer Geisteskrankheit untergebrachten Person sind demnach nur dann gesetzlich vorgesehen, wenn im nationalen Recht eine zugängliche gesetzliche Vorschrift bzw. eine gesetzeskonkretisierende Rechtsprechung vorhanden ist, welche die Voraussetzungen und den Umfang eines dem Klinikpersonal bei der Korrespondenzkontrolle eingeräumten Ermessens regelt („scope or conditions of exercise of the discretionary power") und nähere Bestimmungen über Art, Zweck, Dauer und den Umfang der zulässigen Beschränkungen sowie über ihre Überprüfbarkeit enthält („detail at all as to the kind of restrictions permitted or their purpose, duration and extent or the arrangements for their review").371 b)
Briefkontrolle
eines
Untersuchungsgefangenen
Zur Kontrolle der Korrespondenz eines Untersuchungsgefangenen hat sich der Gerichtshof vorrangig in Entscheidungen geäußert, welche den Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger betrafen. Die den Kontakt eines Beschuldigten mit seinem Verteidiger betreffenden Einschränkungen beim Vollzug der Untersuchungshaft werden im Kapitel § 4 zum Recht auf Verteidigung näher behandelt. Auch der Kontrolle der Privatkorrespondenz setzt die Konvention wichtige Grenzen. (1) Anhalten von Schreiben an einen Untersuchungsgefangenen Dass das Anhalten eines an einen Untersuchungsgefangenen gerichteten Briefes durch die Strafverfolgungsbehörden - unabhängig davon, ob diese vom Inhalt des Briefes Kenntnis nehmen - einen Eingriff in sein von Art. 8 geschütztes Recht auf Korrespondenz darstellt, ist evident.372 Ein Vertragsstaat erfüllt die ihm nach Art. 8 obliegende 371 372
EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 89-92. EGMR, Schönenberger u. Durmaz ./. Schweiz, Serie A Nr. 137, § 24.
326
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Pflicht zur Achtung der Korrespondenz eines Gefangenen nicht schon dadurch, dass er eine Aufstellung der an diesen gerichteten Post erstellt („supplying a record of a prisoner's incoming mail"). Das Nichtweiterleiten der an einen (Untersuchungs-)Gefangenen gerichteten Schreiben im Anschluss an eine Briefkontrolle stellt einen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung der Korrespondenz dieses Gefangenen dar. 373 Die Korrespondenz des Bf. Messina unterlag zwischen dem 4.11.1985 bis zum Ende der Untersuchungshaft am 25.5.1987 einer richterlichen Kontrolle. Der Bf. behauptete, während dieser Zeit - mit Ausnahme eines Schreibens von seinem Verteidiger - keine Post erhalten zu haben, obwohl er den zuständigen Untersuchungsrichter mehrmals um die Weiterleitung seiner Briefe gebeten habe. Nach Angaben der italienischen Regierung war der Bf. über die Briefkontrolle bei Aushändigung des ersten kontrollierten Schreibens an ihn informiert worden. Insgesamt seien neun an ihn gerichtete Schreiben kontrolliert und ihm nach der Kontrolle ausgehändigt worden. Der EGMR konnte aufgrund der Zulässigkeitsentscheidung der EKMR lediglich die Kontrolle von fünf Schreiben überprüfen, die der Bf. nach eigenen Angaben niemals erhalten hatte. Da auch die italienische Regierung zugegeben hatte, dass sich der Bf. mehrmals über die unterbliebene Aushändigung von Schreiben beschwert hatte, ging der EGMR angesichts des Fehlens von Dokumenten oder sonstiger Beweismittel, die das Gegenteil belegen konnten, davon aus, dass die Schreiben den Bf. tatsächlich nicht erreicht hatten, und bejahte einen Verstoß gegen Art. 8. (2) Kontrolle von Privatbriefen zwischen Untersuchungshäftlingen Auch die Korrespondenz von U-Gefangenen darf einer gewissen Kontrolle unterliegen („some measure of control"), solange der dadurch bewirkte Eingriff in die Rechte des Art. 8 nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihm verfolgten Zwecks erforderlich ist. Als Kontrollmaßnahmen kommen neben dem Anhalten eines Briefes auch das Unkenntlichmachen bestimmter Textpassagen in Betracht. Das Unkenntlichmachen („deletion") von Textpassagen in einem Schreiben, das ein U-Gefangener an einen anderen U-Gefangenen richtet, bedeutet einen Eingriff in das von Art. 8 Abs. 1 geschützte Recht beider Gefangener auf Achtung ihrer Korrespondenz. Bei sonstiger Privatkorrespondenz kann nichts anderes gelten. Zu bedenken ist allerdings, dass das Unleserlichmachen von einzelnen Passagen gegenüber dem Anhalten des gesamten Briefes einen weniger schwerwiegenden Eingriff darstellt. Die Notwendigkeit einer Zensur von Textpassagen hängt vor allem vom Inhalt des Briefes und dem Personenkreis ab, von dem der Brief gelesen werden kann. Enthalten bestimmte Textpassagen eines von einem U-Gefangenen an einen anderen U-Gefangenen gerichteten Briefes, der nach nationalem Recht nur von dem für die Briefkontrolle zuständigen Untersuchungsrichter und dem U-Gefangenen, an den der Brief gerichtet ist, gelesen werden darf, zwar einige deftige Ausdrücke („expressions rather strong"), die aber eigentlich eher eine Kritik an den Haftbedingungen und dem Verhalten von Vollzugsbeamten darstellen, so ist das Anhalten oder das Unleserlichmachen dieser Passagen selbst dann unverhältnismäßig und nicht notwendig, wenn die Textpassagen darauf an373
EGMR, Messina ./. Italien, Serie A Nr. 257-H, §§ 16-20, 31.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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gelegt sind, die Gefängnisbehörden verächtlich zu machen („calculated to hold the authorities up to contempt")·374 Im Urteil Pfeifer u. Plankl hatte ein Untersuchungsrichter (U) Teile eines Schreibens durchgestrichen und unleserlich gemacht, die folgende - mutmaßlichen - Äußerungen über das Gefängnispersonal betrafen: „I wonder whether there is anybody left in this monkey house who is still normal ...In life they are nobodies, here they think they are gods. Some of the officers are guests like us. They are always spying on the women, these monkeys are proper peeping toms! I hate it!" U hatte diesen Textpassagen beleidigenden Charakter beigemessen. Nach Ansicht des E G M R war die Zensur des Briefes zwar zum Schutz der Rechte anderer sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen erfolgt, verstieß aber gleichwohl gegen Art. 8, weil sie unverhältnismäßig war.
Es ist wünschenswert, dass der EGMR in Zukunft verstärkt Gelegenheit erhält, die Bedingungen für die Notwendigkeit der Korrespondenzkontrolle bei U-Häftlingen zu konkretisieren, vor allem was den privaten Schriftverkehr anbelangt. Unter dem Gesichtspunkt der Verdunklungsgefahr lassen sich hier über Art. 8 Abs. 2 die im Einzelfall sicherlich notwendigen Beschränkungen legitimieren. Auch diese müssen jedoch gesetzlich vorgesehen sein. An die Bestimmtheit und Zugänglichkeit der gesetzlichen Grundlage dürfen bei Untersuchungsgefangenen keine geringeren Anforderungen gestellt werden als bei Strafgefangenen. Was den Vollzug der Untersuchungshaft insgesamt anbelangt, muss man sich aus deutscher Sicht die Frage stellen, ob §§119 III, IV StPO iVm den Bestimmungen der Untersuchungshaftvollzugsordnung den Qualitätsanforderungen eines Gesetzes iSv Art. 8 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 2 entsprechen. Die UVollzO ist als Sammlung von Verwaltungsvorschriften in den einzelnen Bundesländern in Kraft gesetzt und in den Verkündungsblättern veröffentlicht worden. Sie ist daher zumindest hinreichend zugänglich. Aufgrund der mittlerweile vorliegenden Rechtsprechung dürfte zu den meisten Fragestellungen im Vollzug eine hinreichend bestimmte Regelung vorliegen.
VIII. Haftprüfung Neben der Einhaltung der von Art. 5 geforderten materiellen und formellen Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung muss das Strafprozessrecht der Vertragsstaaten ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung vorsehen. Grundlage für ein solches Verfahren können vom Wortlaut her sowohl Art. 5 Abs. 4 als auch Art. 13 sein. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 13 weniger streng sind, versteht der EGMR die Garantie des Art. 5 Abs. 4 im Bereich der Kontrolle freiheitsentziehender Maßnahmen als lex specialis und abschließende Sondervorschrift. Sämtliche die Garantien des Art. 5 betreifenden Rügen können daher lediglich im Rahmen und unter den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 4 geltend gemacht 374
EGMR, Pfeifer u. Plankl./. Österreich, Serie A Nr. 227, §§ 43,46-48.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
werden.375 Dies gilt auch für die nach Art. 5 Abs. 2 erforderliche Mitteilung. Aus Art. 13 ergibt sich keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, neben dem in Art. 5 Abs. 4 vorgeschriebenen Verfahren einen besonderen Rechtsbehelf vorzusehen, mit dessen Hilfe explizit die Verletzung des Art. 5 Abs. 2 gerügt werden kann.376 Gemäß Art. 5 Abs. 4 hat jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist („shall be entitled to take proceedings by which the lawfulness of his detention shall be decided speedily by a court and his release ordered if the detention is not lawful"/„le droit d'introduire un recours devant un tribunal, afin qu'il statue ä bref delai sur la legalite de sa detention et ordonne sa liberation si la detention est illegale"). Das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Verfahren soll festgenommenen oder inhaftierten Personen das Recht auf eine gerichtliche („judicial") Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung garantieren.377 Die Vorschrift findet daher auf alle Formen von Freiheitsentziehung Anwendung, unabhängig davon, ob eine Person entsprechend einer nationalen Terminologie inhaftiert oder untergebracht ist.378 Weil Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 zwei völlig selbständige Vorschriften („separate provisions") im Gefüge der Konvention darstellen, bedeutet die Einhaltung der einen nicht notwendigerweise die Einhaltung der anderen. Die Verfahrensgarantie des Art. 5 Abs. 4 hängt nicht von der Rechtmäßigkeit oder -Widrigkeit einer Freiheitsentziehung ab. Die Vereinbarkeit einer Festnahme oder Freiheitsentziehung mit Art. 5 Abs. 1 macht die Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit anhand eines dem Art. 5 Abs. 4 entsprechenden Verfahrens also keineswegs entbehrlich.379 Gleiches gilt für das Verhältnis zu einer den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 entsprechenden Vorführung, da die in Art. 5 Abs. 4 enthaltene Garantie eine ganz andere Qualität besitzt. Der Anspruch auf Vorführung wird vielmehr durch das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Verfahren ergänzt. Obwohl Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 nebeneinander anwendbar sind, kann die Vorführung einer Person gleichwohl gewisse Auswirkungen auf das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Verfahren haben. Wenn nämlich im Anschluss an die Vorführung ein Gericht die Freiheitsentziehung anordnet, ist die von Art. 5 Abs. 4 geforderte gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung in dieser Entscheidung regelmäßig enthalten.380 Abweichungen von dem durch Art. 5 Abs. 4 garantierten Verfahren sind denkbar, weil
375
376 377 378 379
380
EGMR, Brannigan u. McBride ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 258-B, § 76; De Jong, Baljet u. van den Brink./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 60; Bouamar./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 65; Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 68; Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-A, § 98; Chahal./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 126. Vgl.: EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 300-A, § 98. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 76. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, § 28. EGMR; De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 73; Bouamar./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 55; Kolompar ./. Belgien, Serie A Nr. 235-C, § 45. EGMR, De Jong, Baljet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 57.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Art. 5 nicht zu dem Kreis der von Art. 15 Abs. 2 abgesicherten Bestimmungen gehört.381 Schließlich muss der Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung von dem Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung für eine solche Inhaftierung unterschieden werden.382
1.
Anforderungen an ein „Gericht" iSv Art. 5 Abs. 4
Die Vertragsstaaten können ihre Verpflichtungen aus der Konvention auf unterschiedliche Weise erfüllen. Ganz allgemein muss ein Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 mit den Befugnissen und Verfahrensgarantien ausgestattet sein, die dem Regelungsgehalt der Vorschrift entsprechen („court with the powers and procedural guarantees satisfying that provision"). Es muss sich dabei aber nicht notwendigerweise um ein Gericht im klassischen Sinne handeln („court of law of the classic kind"), das in die herkömmlichen justitiellen Strukturen eines Landes integriert ist („integrated within the standard judicial machinery"). Darauf deutet die Formulierung court or court-like body in den Fällen Hussain und Singh hin.383 Unter einem Gericht versteht die Konvention allgemein Spruchkörper, die gemeinsame, grundlegende Merkmale aufweisen und die angemessenen Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten, deren Art und Umfang im Einzelfall variieren kann.384 Wenn die zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung berufene Stelle demzufolge einen gerichtlichen Charakter besitzen muss („caractere judiciaire"), so setzt dies ihre Unabhängigkeit von der Exekutive wie auch von den Verfahrensbeteiligten voraus („etre independante du pouvoir executif comme des parties en cause"). Die Bedeutung der Unabhängigkeit hat der EGMR mehrfach betont.385 Auch ein spezialisierter Spruchkörper („specialised body"), dem nicht nur Berufsrichter angehören, kann ein Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 sein, wenn er die erforderliche Unabhängigkeit besitzt und das vor ihm stattfindende Verfahren dem jeweiligen Freiheitsentzug angemessene Garantien aufweist. Schon aus dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 ergibt sich, dass die Stelle nicht lediglich beratende Funktion haben darf („merely advisory functions"). Vielmehr muss ihr die Befugnis zustehen, über die Rechtmäßigkeit
381
382
383
384
385
Vgl. EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 204 (siehe auch die Voraussetzungen für einen Notfall iSv Art. 15). EGMR, Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 24; R.M.D. ./. Schweiz, Reports 1997-VI, § 50; vgl. auch: Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, § 79. EGMR, Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 58, 62; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 66, 70. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 53; Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 61 („bodies which exhibit not only common fundamental features, of which the most important is independence of the executive and of the parties to the case ..., but also the guarantees ... appropriate to the kind of deprivation of liberty in question ... of [a] judicial procedure ... the forms of which may vary from one domain to another"). Siehe etwa: EGMR, Neumeister./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 24; Χ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 61; Bezicheri./. Italien, Serie A Nr. 164, § 20.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
der Freiheitsentziehung zu entscheiden und die Entlassung der inhaftierten Person anzuordnen („power to order release"), wenn die Haft unrechtmäßig ist. Eine Stelle ist also nur dann ein Gericht, wenn sie in der Lage ist, die Freilassung der inhaftierten Person verbindlich herbeizuführen. Deshalb darf die Freilassung nicht von der Entscheidung einer anderen Stelle abhängen. 386 Eine Stelle, die lediglich die persönliche Schuld der Person, welche die unrechtmäßige Freiheitsentziehung angeordnet hat, und das Vorliegen einer strafbaren Handlung durch die Freiheitsentziehung feststellen, nicht aber zugleich die Freilassung der inhaftierten Person anordnen kann („ordonner lui-meme la liberation de la victime"), ist ebenfalls kein Gericht iSv Art. 5 Abs. 4.387 Die im Zuge der Inhaftierungswelle in Nordirland zwischen 1971 und 1972 zum Zwecke der Haftprüfung eingerichteten Advisory committee sah der EGMR weder als ermächtigte Person iSv Art. 5 Abs. 3 noch als Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 an, da sie eine Freilassung inhaftierter Personen nur empfehlen, nicht aber anordnen konnten.388 Auch den in England auf der Grundlage des Mental Health Act 1959 gebildeten Mental-HealthReview Tribunals sprach der Gerichtshof einen gerichtlichen Charakter ab, weil sie eine ausschließlich beratende Funktion wahrnahmen und nicht die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Entscheidungskompetenz besaßen. Diese Tribunals konnten zwar von einer untergebrachten Person über ein Gesuch an den Home Secretary angerufen werden. Ihre Aufgabe bestand jedoch lediglich darin, dem für die Entlassung zuständigen Home Secretary über die Entwicklung des Untergebrachten zu berichten und die Entlassung anzuregen. An diese Empfehlung war der Home Secretary nicht gebunden.389 In der Entscheidung van Droogenbroeck erkannte der EGMR die belgische Kommission für Rückfalltäter („Commission pour recidivistes") nicht als Gericht an. Die Kommission hatte den Justizminister zwar in regelmäßigen Abständen über die Möglichkeit einer Entlassung von Rückfalltätern zu informieren. Da ihre Empfehlungen jedoch nicht bindend waren, verfügte sie letztlich ebenfalls nur über rein beratende Befugnisse („attributions purements consultatives"). Sie konnte sich weder über die Rechtmäßigkeit der Haft äußern noch eine Freilassung anordnen.390 Auch die im System der bedingten Entlassung in den englischen Haftanstalten eingerichteten Bewährungsräte („Parole Boards") waren keine Gerichte iSv Art. 5 Abs. 4, da ihnen bei der Überprüfung der Notwendigkeit einer weiteren Inhaftierung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen die erforderliche Entscheidungsbefugnis fehlte. Im Rahmen regelmäßiger Haftkontrollen hatten die Räte den Innenminister über bedingte Entlassungen von Strafgefangenen lediglich zu beraten. Zwar konnte der Innenminister einen Gefangenen nur auf Empfehlung des Bewährungsrates bedingt entlassen. Zusätzlich war hierfür aber noch eine Beratung („consultation") mit dem Lord Chief Justice und - soweit verfügbar - mit dem Richter, der das Urteil gefällt hatte, erforderlich. Der Innen-
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EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 14,61; Weeks./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 61; vgl. auch: EGMR, Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 62. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 22, 51. EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 84, 199-200. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 13-14, 61. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 22, 50.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
331
minister war zudem nicht gezwungen, einer Empfehlung des Bewährungsrates Folge zu leisten.391 Der gerichtliche Status einer Stelle hängt eng mit der Art des statthaften Rechtsbehelfs zusammen. Um den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 zu genügen und angemessenen Schutz gegen willkürliche Freiheitsentziehungen zu bieten, muss ein Rechtsbehelf mit einem ausreichenden Maß an Sicherheit ausgestattet sein („remedy ... sufficiently certain"). Hierbei kommt es vor allem auf seine Zugänglichkeit und Effektivität an („accessibility and effectiveness required"). Ein Rechtsbehelf genügt nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4, wenn über seine Zulässigkeit bzw. den Umfang der Kontrolle noch nicht abschließend entschieden worden ist bzw. diese Fragen auf einer Rechtsprechung beruhen, die erst in ihren Anfängen steckt und noch nicht als gefestigt bezeichnet werden kann („jurisprudence tres recente, en train de se former et qui prete ä controverse", „parait en mouvement"). Kurzum, ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung muss auf nationaler Ebene eine gewisse Akzeptanz besitzen. Das leuchtet ein. Ein Haftprüfungsverfahren, von dessen Existenz oder Einschlägigkeit der Beschuldigte keine Kenntnis haben kann, genügt deshalb auf keinen Fall der Konvention.392 Namentlich das Fehlen von Präzedenzfällen kann für eine nicht vorhandene Sicherheit sprechen („lack of precedents").393 Zu Recht hat der EGMR die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Sicherheit des Rechtsbehelfs nicht davon abhängig gemacht, dass die inhaftierte Person es für ratsam hält, von ihm Gebrauch zu machen.394 Im übrigen ist es aber durchaus wünschenswert, dass der Gerichtshof die zwischen den Verfahrensgarantien und dem Gerichtsstatus einer Stelle bestehende Korrelation weiter ausbaut und vertieft. Diese Richtung deutet sich bereits in der Entscheidung Chahal zum britischen Abschiebungsverfahren an.395 391
EGMR, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, §§ 26, 64; Thynne, Wilson u. Gunnell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, §§ 56-57, 80; zum gerichtlichen Charakter der „parole boards" vgl. auch: EGMR, Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 58; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 66 (Rechtmäßigkeit einer mandatory sentence of detention during Her Majesty's pleasure, die nach dem Children and Young Persons Act 1933 gegen zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung 15- bzw. 16-jährige Jugendliche verhängt worden war; zur Vereinbarkeit einer gegenüber Jugendlichen ausgesprochenen Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer mit Art. 3: EGMR, V ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-IX, §§ 96-101.
392
Ebenso: Trechsel StV 1994, 277, 280. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 52, 54; Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 60; Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, § 53. Es reicht beispielsweise nicht aus, dass ein Gericht in einem speziellen Verfahren die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung bereits einmal geprüft hat, wenn diese Entscheidungen Einzelfalle geblieben sind und von der späteren Rechtsprechung nicht mehr aufgegriffen und bestätigt worden sind. EGMR, Keus./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 28 („advisable to have recourse thereto"). EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, §§ 60, 66, 130-132. Das advisory panel, welches mit der Kontrolle von Abschiebungsanordnungen befasst war, sah der EGMR nicht nur mangels einer umfassenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenz, sondern auch deshalb nicht als Gericht an, weil vor ihm eine rechtliche Vertretung der von der Abschiebung betroffenen Person nicht möglich war und diese nicht umfassend über die Gründe ihrer Abschiebung informiert wurde („although the procedure before the advisory panel undoubtedly provided some degree of control, bearing
393
394 395
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
332
Den belgischen Juge des referes - regelmäßig der Präsident des Tribunal de premiere instance - hat der EGMR in der Entscheidung van Droogenbroeck nicht als Gericht anerkannt. Diesem oblag in Eilverfahren die vorläufige Entscheidung über alle zivilrechtlichen, strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Fälle, welche überhaupt gerichtlicher Kontrolle unterlagen - mit Ausnahme solcher strafrechtlichen Fälle, für die besondere Rechtsmittelverfahren vorgesehen waren. Zweifel bestanden vor allem am Umfang und an der Kontrolldichte seiner Prüfungskompetenz.396 Man wird jedoch aus den Ausführungen schließen dürfen, dass bei einer weiter gefestigten innerstaatlichen Rechtsprechung über die Zuständigkeit zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen und bei Erreichen der nach Art. 5 Abs. 4 erforderlichen Kontrolldichte, die Institution des Juge des riferes vom EGMR als Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 anerkannt worden wäre.397 Auch ein Militärgericht kann ein Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 sein, wenn es die notwendige Unabhängigkeit genießt und ausreichende Verfahrensgarantien gewährt.398 Während der EGMR den Untersuchungsrichter, der im italienischen Strafprozess über die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entscheidet, ausdrücklich als Gericht bezeichnet hat399, besitzen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft oder eines Justizministers keinen gerichtlichen Charakter.400
2.
Häufigkeit der Überprüfung
a)
Unterbringung
psychisch
Kranker
Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 verleitet zu der Annahme, dass die Vorschrift auch das Recht garantiert, die Rechtmäßigkeit der von einem Gericht getroffenen freiheitsentziehenden Entscheidung durch ein Gericht überprüfen zu lassen. Für diese Interpretation, die faktisch einem gerichtlichen Rechtsmittelverfahren gleichkäme, spräche vor allem, dass Art. 5 Abs. 4 in der englischen Fassung lediglich von „proceedings" und nicht wie z.B. in Art. 13 und 26 a.F. von „appeal", „recourse" oder „remedy" spricht und den Begriff „Gericht" nur im Singular kennt. Wenn die freiheitsentziehende Entscheidung durch die Polizei oder eine Strafverfolgungsbehörde getroffen wird („organe administrat i f ' ) , besteht kein Zweifel, dass der inhaftierten Person der Zugang zu einem Gericht offen stehen muss. Ergeht die Entscheidung dagegen von einem Gericht am Ende eines gerichtlichen Verfahrens („par un tribunal statuant ä Tissue d'une procedure judiciaire"), in dem für die festgenommene Person der Art der Freiheitsentziehung angemessene
396 397
398
399 400
in mind that Mr Chahal was before the panel, that he was, that the panel had no power of decision and that its advice to the Home Secretary was not binding and was not disclosed, the panel could not be considered as a „court"). EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 29, 54, 55. Vgl. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 29, 54-56; so auch: Hofmann EuGRZ 1984, 13. EGMR, De Jong, Baljet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, § 58 - vom EGMR bejaht für das niederländische Militärgericht („Krijgsraad"). EGMR, Bezicheri./. Italien , Serie A Nr. 164, § 20. EGMR, Winterwerp./. Niederlande, Serie Α Nr. 33, §§ 56,63; Keus./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, §§ 16, 28 (Widerruf einer Unterbringungsanordnung).
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
333
Garantien bestehen, so ist die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Überprüfung in dieser Entscheidung bereits enthalten („se trouve incorpore ä la decision").401 Ob dies auch dann gilt, wenn die gerichtliche Entscheidung zeitlich gesehen vor der Festnahme erfolgt ist, etwa in dem Fall, dass der Beschuldigte aufgrund eines richterlichen Haftbefehls festgenommen wird, hat der EGMR bisher nicht entschieden. Auch in diesem Fall muss der Beschuldigte aber nach der Festnahme einem Richter oder einer anderen Person iSv Art. 5 Abs. 3 vorgeführt werden. Erfolgt diese Vorführung nicht, liegt in jedem Fall ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 vor. Ordnet hingegen ein Richter nach der Vorführung die Haftfortdauer an, ist seine Entscheidung als die eines Gerichts iSv Art. 5 Abs. 4 anzusehen. Ob dies auch dann gilt, wenn nicht ein Richter, sondern eine ermächtigte Person die Freiheitsentziehung anordnet, hatte der Gerichtshof bisher ebenfalls noch nicht ausdrücklich zu klären. Man könnte dies sicherlich in Frage stellen, weil - wie der EGMR selbst hervorgehoben hat - Art. 5 Abs. 4 im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 3 die Entscheidung eines Gerichts verlangt.402 Letztlich hängt die Frage aber von den Anforderungen ab, die A r t . 5 Abs. 4 a n ein Gericht u n d A r t . 5 Abs. 3 a n die andere Person stellen. D a a u c h die
ermächtigte Person die grundlegenden Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufweisen muss, dürfte auch ihre Entscheidung als die eines Gerichts anzusehen sein, wenn das Verfahren der Vorführung die von Art. 5 Abs. 4 geforderten Garantien enthält. Dass eine gerichtiche Anordnung der Inhaftierung nicht immer zugleich die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung enthält, zeigt die Entscheidung van der Leer. Dort hatte ein Gericht die zwangsweise Unterbringung einer Person wegen Geisteskrankheit angeordnet, die entgegen den nationalen Rechtsvorschriften vor der Entscheidung nicht angehört worden war. Darin sah der EGMR einen Verstoß gegen eine der fundamentalen, bei der Anordnung einer Freiheitsentziehung zu beachtenden Verfahrensgarantien, so dass die von Art. 5 Abs. 4 geforderte gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs nicht in dieser Entscheidung enthalten war.403
Man könnte nun annehmen, dass Art. 5 Abs. 4 die Einrichtung eines gerichtlichen Haftprüfungsverfahrens nur dann verlangt, wenn die freiheitsentziehende Entscheidung nicht selbst von einem Gericht in einem mit angemessenen gerichtlichen Verfahrensgarantien ausgestatteten Verfahren getroffen wurde. Dies hätte jedoch zur Folge, dass eine einmal richterlich angeordnete Freiheitsentziehung über Monate oder gar Jahre aufrechterhalten werden könnte, ohne dass der Betroffene die Möglichkeit hätte, diese gerichtlich überprüfen zu lassen. Der EGMR hat deshalb klargestellt, dass sich der von ihm im Fall De Wilde, Ooms und Versyp entwickelte Ansatz nur auf die ursprüngliche freiheitsentziehende Entscheidung als solche („decision depriving a person of his liberty"), nicht aber auf den Zeitraum der anschließenden Inhaftierung bezieht, in dem 401
402 403
EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 76; Winterwerp./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 60; Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 31; Megyeri ./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 56; Wassink ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-A, § 30. EGMR, Schiesser./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 29. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 9, 33.
334
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
neue, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung tangierende Umstände auftreten können („ensuing period of detention in which new issues affecting the lawfulness of the detention might arise").404 Eine Ausnahme vom Grundsatz der immanenten Rechtmäßigkeitskontrolle hat der Gerichtshof bei der Unterbringung psychisch Kranker entwickelt, weil gerade bei diesen Personen die für die Unterbringung sprechenden Gründe nachträglich wegfallen können.405 Die gerichtliche Überprüfung ihrer Freiheitsentziehung ist auch dann notwendig, wenn die ursprüngliche freiheitsentziehende Entscheidung von einem Gericht angeordnet worden ist, weil nur auf diese Weise willkürlichen Freiheitsentziehungen wirksam vorgebeugt werden kann. Jedenfalls dann („at any rate"), wenn keine automatische periodische Überprüfung mit gerichtlichem Charakter erfolgt („automatic periodic review of a judicial character"), ist eine psychisch kranke Person, die zwangsweise für eine unbestimmte oder längere Zeit untergebracht ist, wegen der besonderen Art des Freiheitsentzuges berechtigt, in angemessenen Abständen („at reasonable intervals") ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzustrengen, unabhängig davon, ob die Freiheitsentziehung von einem Zivil- oder Strafgericht oder einer anderen öffentlichen Stelle angeordnet worden ist. Die Vertragsstaaten können demzufolge ihrer Verpflichtung aus Art. 5 Abs. 4 auf zwei verschiedene Art und Weise nachkommen. Entweder sie richten ein automatisches und periodisches Verfahren zur Überprüfung der Unterbringung ein („periodic judicial review") oder sie sehen eine entsprechende gerichtliche Kontrolle auf entsprechende Anträge der untergebrachten Person vor. Es kommt lediglich darauf an, dass die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung in angemessenen Abständen erfolgt.406 Schon diese Aussagen deuten darauf hin, dass der Gerichtshof dem Art. 5 Abs. 4 nicht nur ein antragsbezogenes Haftprüfungsrecht, sondern entgegen seinem Wortlaut ein Haftkontrollrecht entnimmt. Am Ende dieser Entwicklung könnte die Pflicht der Vertragsstaaten stehen, in angemessenen Abständen ein antragsunabhängiges, automatisches Prüfungsverfahren vorzusehen. Darauf deutet schon jetzt die Aussage des EGMR hin, dass gerichtliche Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung zum Schutz vor Willkür nicht nur zügig, sondern auch in angemessenen Abständen ergehen müssen („... implies not only that the competent courts must decide „speedily", but also that their decisions must follow at reasonable intervals").407
404
405 406
407
E G M R , X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 51; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 45; Weeks./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 56; Thynne, Wilson u. Gunnell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, § 68; eine knappe Zusammenfassung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Punkt findet sich in der Entscheidung Iribarne Perez (Serie A Nr. 325-C, § 30). Vgl. zur „Inkorporationstheorie" des E G M R und ihren Ausnahmen: Trechsel StV 1993, 98, 102. E G M R , Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 55; vgl. auch: X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 52; Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 31; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 45; Megyeri ./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; Silva Rocha ./. Portugal, Reports 1996-V, §§ 29-30; Musial./. Polen, Reports 1999-11, § 43. E G M R , Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 75; Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, §26.
335
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
b)
Maßregelvollzug
(Art. 5 Abs.
1(a))
Die auf dem Gebiet der Unterbringung psychisch kranker Personen entwickelten Gedanken hat der EGMR auf mehrjährige Sicherungsunterbringungen im Anschluss an die Verbüßung der eigentlichen Strafe erstreckt, weil möglicherweise auch hier die für die ursprüngliche Anordnung der Freiheitsentziehung ausschlaggebenden Gründe - die Persönlichkeitsentwicklung oder das Verhalten des Inhaftierten - im Laufe der Zeit einer Veränderung unterliegen. Gleiches gilt, wenn die Inhaftierung zu einem bestimmten Zweck erfolgt ist, der unter Umständen bereits vor dem Ende der angeordneten Inhaftierung eingetreten ist. In diesen Fällen würde die weitere Freiheitsentziehung unrechtmäßig, wenn sie die Veränderung der Umstände nicht berücksichtigt und sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr plausibel auf die Gründe zurückführen lässt, die bei ihrer Anordnung vorlagen. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Art und den Zweck der in Rede stehenden Freiheitsentziehung an, und weniger darauf, zu welcher Kategorie iSv Art. 5 Abs. 1 sie gehört. Den Zugang zu einem Gericht muss die inhaftierte Person während ihrer gesamten Inhaftierung haben, zunächst nach einem gewissen Zeitablauf („certain temps apres le debut"), dann in angemessenen zeitlichen Abständen („intervalles raisonnables") und schließlich auch im Fall ihrer erneuten Inhaftierung („au moment d'un reinternement eventuel"), wenn sie sich zwischenzeitlich wieder in Freiheit befunden hat.408 c)
Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauert Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung
Eine ähnliche Problematik besteht bei Freiheitsstrafen von unbestimmter Dauer bzw. bei der Wiederinhaftierung nach dem Widerruf einer bedingten Entlassung. Wenn der für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Inhaftierung eines verurteilten Straftäters ausschlaggebende Grund - wie etwa dessen geistige Instabilität oder Gefährlichkeit für die Gesellschaft - im Laufe der Zeit einer Veränderung unterliegt („characteristic susceptible to change with the passage of time") und während der Inhaftierung neue, für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wichtige Gesichtspunkte entstehen können, muss die inhaftierte Person das Recht haben, ein Verfahren einzuleiten, in dem ein Gericht in angemessenen Abständen über diese Gesichtspunkte und die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet. Die fortdauernde bzw. erneute Freiheitsentziehung im Anschluss an die Ablehnung eines Entlassungsgesuchs oder aufgrund des Widerrufs einer bedingten Entlassung ist nicht mehr rechtmäßig, wenn sie auf Gründe gestützt wird, die mit den Beweggründen des erkennenden Gerichts unvereinbar sind („based on grounds inconsistent with the objectives of the sentencing court").409 408
409
E G M R , van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 48 (Verurteilung von Rückfalltätern und Gewohnheitsverbrechern zu einer sog. „Mise ä la disposition du gouvernement"); vgl. auch: E G M R , Thynne, Wilson u. Gunnell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, § 69. E G M R , Weeks./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 58 („indeterminate sentence"); vgl. auch: Thynne, Wilson u. Gunnell ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 190-A, § 70 („discretionary life
336 d)
2. Teil: Das strafprozessuale. Potential der Rechtsprechung des EGMR
Überprüfung in angemessenen
Abständen
Schwierig zu bestimmen ist, in welcher Häufigkeit die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung erfolgen muss bzw. die inhaftierte Person eine entsprechende Überprüfung beantragen kann. Das hängt davon ab, was unter angemessenen Abständen („reasonable intervals") zu verstehen ist. Im Urteil van Droogenbroeck hat der EGMR lediglich erklärt, dass zeitliche Abstände von drei bzw. fünf Jahren, die nach belgischem Recht zwischen den Anträgen eines Inhaftierten auf Überprüfung seiner Sicherungsmaßnahme verstreichen mussten, nicht mehr angemessen („raisonable") waren.410 Dagegen hatte im Fall Luberti der wegen einer geistigen Erkrankung in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Bf. bereits drei Tage nach der gerichtlichen Entscheidung einen Antrag auf Freilassung gestellt, in der nach Ansicht des EGMR die anfangliche Kontrolle über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs inkorporiert war. Wann eine erneute Überprüfung der Freiheitsentziehung angemessen gewesen wäre, ließ der EGMR leider offen. Aus dem Urteil lässt sich jedoch entnehmen, dass drei Tage nach dem gerichtlichen Urteil ein Anspruch auf Überprüfung der Voraussetzungen der Unterbringung noch nicht bestand.411 Bei einer Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung kann ein Anhaltspunkt für die Ermittlung eines angemessenen Intervalls darin bestehen, dass das nationale Recht selbst eine automatische Überprüfung des Freiheitsentzugs innerhalb bestimmter Abstände vorsieht und die nationalen Gerichte diese Fristen überschreiten. Im Fall Herczegfalvy sah das nationale Recht eine mindestens jährliche automatische periodische Überprüfung der Freiheitsentziehung vor („of its own motion examine at least once yearly"). Im konkreten Fall waren derartige Überprüfungen im Abstand von fünfzehn Monaten, zwei Jahren bzw. neun Monaten ergangen. Der EGMR schloss aus den nationalen Bestimmungen auf die Absicht des österreichischen Gesetzgebers, dass der Abstand der Überprüfungen ein Jahr nicht überschreiten solle. Bezüglich der beiden ersten Überprüfungen verneinte der Gerichtshof deshalb das Vorliegen eines angemessenen Intervalls - zumal während dieses Zeitraums zahlreiche Entlassungsanträge des Bf. unerledigt geblieben waren - , so dass ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 vorlag.412 Werden umgekehrt die bei einer Unterbringung nach Art. 5 Abs. 1(e) im nationalen Recht vorgesehenen Fristen eingehalten, heißt dies freilich noch nicht, dass derartige Überprüfungen in regelmäßigen Abständen erfolgen. Die Bemessung des Zeitraums, für den die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Unterbringung noch in der ursprünglichen Unterbringungsanordnung enthalten ist, richtet
410 411 412
sentence"); Wynne ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 294-A, §§ 35-36, 38-39 („mandatory life sentence" - „discretionary life sentence"); Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 54; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62 („mandatory sentence of detention during Her Majesty's pleasure"); vgl. hierzu: Trechsel StV 1993, 98 ff. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 53. EGMR, Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 34. EGMR, Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, §§ 20-23, 46, 75-78.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
337
sich nach der Schwere der Straftat, wegen der die Person nicht bestraft werden konnte, sowie nach dem Risiko, das die Person für sich und die Allgemeinheit darstellt. Von der ursprünglichen Unterbringungsanordnung ist jedenfalls ein solcher Zeitraum gedeckt, für den die Schwere der Straftat und die von der Person ausgehende Gefahr ihre Entfernung aus der Gesellschaft hinreichend rechtfertigen („reasonably justify his being removed from society"). Wie das Urteil Silva Rocha zeigt, kann dies bei Tötungsdelikten sogar ein Zeitraum von drei Jahren sein. Wird eine Person für einen Mindestzeitraum nach Art. 5 Abs. 1(e) untergebracht, ist Art. 5 Abs. 4 jedenfalls dann nicht verletzt, wenn die untergebrachte Person während dieser Zeit jederzeit die Aufhebung der Unterbringungsanordnung beantragen kann.413
3.
Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Untersuchungshaft
Diese vom EGMR entwickelten Grundgedanken werfen die Frage auf, ob die nationalen Rechtsordnungen auch in anderen Fällen des Freiheitsentzuges ein Haftprüfungssystem vorsehen müssen, mittels dem der Inhaftierte seinen Freiheitsentzug in regelmäßigen Abständen überprüfen lassen kann. Für den Bereich der Untersuchungshaft stellt sich die Frage, innerhalb welcher Abstände der Inhaftierte Haftprüfungsanträge stellen können muss. Die vom EGMR auf die dauerhafte Unterbringung psychisch Kranker und den Maßregel Vollzug zugeschnittenen Erwägungen haben letztlich den Weg für eine periodische Haftprüfung im Rahmen einer strafprozessualen Untersuchungshaft geebnet, weil auch bei dieser Art des Freiheitsentzugs nach einer ersten Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung neue Umstände („new issues") eintreten können, die eine Aufhebung der Inhaftierung rechtfertigen können. Daher berechtigt Art. 5 Abs. 4 auch einen in Untersuchungshaft einsitzenden Beschuldigten nach einem angemessenen zeitlichen Abstand („after a reasonable interval") zu einer vorangegangenen richterlichen Überprüfung seiner Inhaftierung ein erneutes Verfahren vor einem Gericht in Gang zu setzen, bei dem innerhalb kurzer Frist die Rechtmäßigkeit seiner weiteren Freiheitsentziehung überprüft wird. Die Natur der Untersuchungshaft zwingt nach Ansicht des EGMR zu kurzen Abständen („short intervals"). Schon Art. 5 Abs. 3 spricht dafür, dass eine Untersuchungshaft nur von streng begrenzter Dauer sein darf („strictly limited duration"). Ihre Existenzberechtigung ist notwendigerweise mit den Erfordernissen strafrechtlicher Ermittlungen verbunden, welche beschleunigt zu betreiben sind („investigation which is to be conducted with expedition"). Einen Abstand von einem Monat zu einer vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung hält der EGMR für nicht unangemessen („not unreasonable"). Der inhaftierte Beschuldigte muss auch dann einen erneuten Haftprüfungsantrag innerhalb eines angemessenen Intervalls
413
EGMR, Silva Rocha ./. Portugal, Reports 1996-V, § 28-30 („made it possible for the person detained to apply to the court at any moment to have the detention measure lifted").
338
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
stellen können, wenn ihm gegen die vorangegangene ablehnende Entscheidung des Gerichts in der nationalen Rechtsordnung ein Beschwerderecht oder ein sonstiger Rechtsbehelf zusteht. Das gilt insbesondere dann, wenn er mit dem erneuten Haftprüfungsantrag ein Ersuchen um die Vornahme ihn entlastender Ermittlungsmaßnahmen verbinden kann - deren Ergebnis sich ebenfalls auf die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung auswirken kann - und ein solches Vorgehen bei dem von der nationalen Rechtsordnung gewährten Rechtsbehelf nicht möglich ist. Insbesondere kann er nicht darauf verwiesen werden, gleichzeitig oder nacheinander zwei rechtlich unterschiedliche, aber letztlich auf dasselbe Ziel gerichtete Verfahren zu betreiben, wenn dies zu einem Zeitverlust führen würde, der mit den Anforderungen an ein Verfahren innerhalb kurzer Frist nicht mehr vereinbar wäre und seinen Interessen zuwiderlaufen würde.414 Der Bf. Bezicheri war am 14.05.1983 aufgrund eines staatsanwaltlichen Haftbefehls festgenommen und inhaftiert worden. Nachdem er am 18.05. von einem Untersuchungsrichter (U) vernommen worden war, beantragte sein Verteidiger die Freilassung aus der Haft mangels ausreichender Beweise, hilfsweise die Anordnung von Hausarrest. Als U diesen Antrag am 06.06. ablehnte, stellte der Verteidiger am 06.07. bei U einen erneuten Antrag mit gleichem Inhalt und bat zusätzlich („as a subordinate request") um die Vornahme mehrerer Ermittlungsmaßnahmen. Diesen Antrag wiederholte er am 06.10. Nachdem U mehrere Ermittlungsmaßnahmen vorgenommen hatte bzw. vornehmen hatte lassen, lehnte er am 22.12. den Antrag des Verteidigers vom 06.07. ab. Nach Ansicht des EGMR betraf die Entscheidung vom 06.06. die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 4. Den Zeitablauf bis zum Antrag vom 06.07. hielt der EGMR für nicht unangemessen, so dass der Bf. Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist hatte.
4.
Verfahrensgarantien bei der Überprüfung einer Freiheitsentziehung
a)
Allgemeine
Grundsätze
Obwohl Art. 5 Abs. 4 ausdrücklich keine Aussage hinsichtlich des bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung anzuwendenden Verfahrens trifft, muss das Gericht neben den bereits beschriebenen funktionellen Garantien, zu denen u.a. die Unabhängigkeit gehört, auch bestimmte prozessuale Garantien aufweisen („court with the powers and procedural guarantees satisfying that provision") 415 Im Laufe der Jahre hat der EGMR das in Art. 5 Abs. 4 formulierte HaiiprüfungsKcht nicht nur zu einem WaSikontrolhtchi, sondern zu einem allgemeinen Haftprüfungsve/^äArensrecht aufgewertet. Entgegen seinem Wortlaut findet Art. 5 Abs. 4 nicht nur auf Haftprüfungs-
414 415
EGMR, Bezicheri./. Italien, Serie A Nr. 164, §§ 20-21. EGMR, Neumeister./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 24; Bezicheri./. Italien, Serie A Nr. 164, § 20; Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §70.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
339
verfahren Anwendung, die auf Antrag der inhaftierten Person stattfinden, sondern auf jedes gerichtliche Verfahren, in dem zumindest auch über die Rechtmäßigkeit und Fortdauer der Inhaftierung einer Person entschieden wird, vorausgesetzt, dass der Prüfungsmaßstab in diesem Verfahren die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung ist („lawfulness of the detention"). Der Umfang der gerichtlichen Prüfung muss daher sämtliche Aspekte abdecken, die für die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung notwendig sind („conditions which are essential for detention to be lawful"). Besteht im nationalen Recht eines Vertragsstaats eine Regelung, wonach ein Gericht nach Ablauf einer bestimmten Haftdauer - sei es von Amts wegen oder auf Antrag eines anderen Gerichts, Untersuchungsrichters oder der Staatsanwaltschaft - über die Haftfortdauer und die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu entscheiden hat, gelten die Verfahrensgrundsätze des Art. 5 Abs. 4 auch in diesem Verfahren. Voraussetzung ist allerdings, dass das Gericht eine eigene Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung und Notwendigkeit der fortdauernden Inhaftierung trifft („substitute its own assessment") und nicht nur einen zeitlichen Haftrahmen setzt („setting out the framework"), innerhalb dessen eine andere Stelle über die Fortdauer der Inhaftierung entscheidet.4'6 Eine Aufwertung hat Art. 5 Abs. 4 durch die Straßburger Rechtsprechung vor allem deshalb erfahren, weil der EGMR von den Vertragsstaaten nicht nur die Sicherstellung des im Wortlaut der Vorschrift genannten Antragsrechts verlangt. Vielmehr müssen die Vertragsstaaten sämtliche Haftprüfungsverfahren im Einklang mit den von Art. 5 Abs. 4 geforderten Verfahrensgarantien halten. Die Verfahrensgrundsätze des Art. 5 Abs. 4 wandte der EGMR im Fall Kampanis auf ein Verfahren vor einem gerichtlichen Spruchkörper an, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft nicht nur über die Erhebung der Anklage, sondern auch über die Haftfortdauer zu befinden hatte.417 Dagegen diente das im Urteil Toth untersuchte obergerichtliche Haftprüfungsverfahren lediglich dazu, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder eines Untersuchungsrichters den zeitlichen Rahmen der Untersuchungshaft insgesamt zu erweitern, ohne dass das Gericht in eigener Sache über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung als solche entschied.
Um zu entscheiden, ob ein Verfahren die erforderlichen angemessenen Garantien gewährt, müssen die besonderen Umstände berücksichtigt werden, unter denen es stattfindet. Weil Mängel durchaus durch die in anderen Verfahren gewährten Garantien ausgeglichen werden können, kommt es auf eine Gesamtbetrachtung des gesamten zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen vorgesehenen innerstaatlichen Systems an.418
416
417 4,8
EGMR, Toth ./. Österreich, Serie A Nr. 224, §§ 59, 87 („appropriateness or the necessity of keeping the accused in prison or releasing him"). EGMR, Kampanis./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, §§ 23-24. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 78; Winterwerp./. Niederlande, Serie A Nr. 33, §§ 57, 62; X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 60; Weeks./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 69; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 56; Wassink .1. Niederlande, Serie A Nr. 185-A, § 30; Megyeri ./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; R.M.D. ./. Schweiz, Reports 1997-VI, § 42.
340
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Schon in der Entscheidung De Wilde, Ooms u. Versyp stellte der Gerichtshof klar, dass die Art des Verfahrens nicht notwendigerweise in allen Fällen identisch ist, in denen die Konvention die Einschaltung eines Gerichts verlangt.419 So müssen in einem Verfahren nach Art. 5 Abs. 4 nicht immer die gleichen Verfahrensgarantien beachtet werden, die Art. 6 Abs. 1 für die Verhandlung über strafrechtliche Anklagen und zivilrechtliche Streitigkeiten verlangt. Bereits aus dem der Vorschrift des Art. 5 Abs. 4 zugrunde liegenden Zweck und den Begriffen „proceedings" bzw. „recours" ergibt sich aber, dass sämtliche fundamentalen Garantien eines gerichtlichen Verfahrens gewahrt sein müssen („fundamental guarantees of judicial procedure"), die der Art der freiheitsentziehenden Entscheidung angemessen sind („appropriate to the kind of deprivation of liberty in question").420 Es kommt in diesem Zusammenhang eher auf die Art und den Zweck einer Freiheitsentziehung, nicht so sehr auf ihre systematische Einordnung innerhalb der Konvention an.421 Auf den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1(e) zugeschnitten ist beispielsweise das Erfordernis, dass über die Verlängerung der Unterbringung eines psychisch Kranken auf der Grundlage aktueller medizinischer Informationen entschieden werden muss. 422
Neben der Schwere und dem Charakter der verhängten Maßnahme hängen Art und Umfang der erforderlichen Verfahrensgarantien von den im konkreten Fall für die betroffene Person auf dem Spiel stehenden Folgen ab. Geht es beispielsweise um eine lange, von zahlreichen schädlichen Folgen begleitete Inhaftierung oder um die dauerhafte Unterbringung psychisch kranker Personen, so sind umfangreichere Verfahrensgarantien notwendig als bei einer Entscheidung über die Fortdauer einer Untersuchungshaft. Gerade bei eher untypischen Unterbringungs- oder Inhaftierungsformen kann rechtsvergleichend von Bedeutung sein, ob die freiheitsentziehende Maßnahme in den Mitgliedstaaten des Europarates üblicherweise von Strafgerichten verhängt wird. Ist dies der Fall, sollte das Verfahren keine wesentlich geringeren Garantien vorsehen.423 Diese vom EGMR in einer Entscheidung zur Unterbringung von Landstreichern getroffene Aussage dürfte auch für die Untersuchungshaft von Interesse sein, zeigt sie doch, dass der Gerichtshof bei Verfahren zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen in strafrechtlichen Angelegenheiten von einem gemeineuropäischen Standard ausgeht, an dem sich solche Vertragsstaaten auszurichten haben, deren nationales Haftprüfungsverfahren hinter diesem Standard zurückbleibt. Leider hat der EGMR im Urteil De Wilde, Ooms
419
420
421
422
423
EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 78; Sanchez-Reisse./. Schweiz, Serie A Nr. 107, §51 EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 76; Winterwerp./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 60; Schiesser ./. Schweiz, Serie A Nr. 34, § 30; Megyeri ./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 162. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 52; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 47; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 60. EGMR, Musial./. Polen, Reports 1999-II, § 50 („delay between clinical examination and preparation of a medical report"): medizinische Untersuchung elf Monate vor der Entscheidung. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 79.
341
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
und Versyp nicht explizit dazu Stellung genommen, was zu diesem Standard gehört, aber wenigstens deutlich gemacht, dass er und die Konvention einem rechtsvergleichenden Kontrollansatz durchaus offen gegenüberstehen. Bei dem von Art. 5 Abs. 4 geforderten Verfahren muss es sich keinesfalls um ein Verfahren in der Hauptsache handeln. Auch ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren erfüllt die Voraussetzungen eines gerichtlichen Verfahrens, wenn nach einer Überprüfung der für den Freiheitsentzug erforderlichen Tatsachen am Ende die sofortige Freilassung der betroffenen Person angeordnet werden kann und die erforderlichen Verfahrensgarantien eingehalten werden.424 b)
Effektivität
des Verfahrens bei föderalen
Strukturen
Die in Art. 5 Abs. 4 enthaltene Verfahrensgarantie darf in ihrer Effektivität nicht durch die förderalen Strukturen eines Landes beeinträchtigt oder aufgehoben werden. Wenn ein inhaftierter Beschuldigter aufgrund mehrerer parallel gegen ihn geführter Ermittlungsverfahren innerhalb kurzer Zeit mehrfach zwischen Ländern, Kantonen oder sonstigen Verwaltungseinheiten eines Vertragsstaates mit eigenständiger Gerichtsbarkeit hin und her transportiert wird, muss dieser Staat sein Gerichtssystem so ausgestalten, dass die Gerichte den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 genügen („organise its judicial system in such a way as to enable its courts to comply with the requirements"). Der Vertragsstaat muss sich aufgrund seiner internationalen Verantwortung nach der Konvention Mängel in der Gerichtsbarkeit seiner politischen Untergliederungen zurechnen lassen. Das ist vor allem bei Bundesstaaten von Bedeutung. Im Ergebnis muss immer sichergestellt sein, dass das Recht eines inhaftierten Beschuldigten auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung effektiv gewährleistet wird. Die Verantwortlichkeit eines Vertragsstaats für föderale Gerichtsbarkeiten war Gegenstand der Entscheidung R.M.D.. Konkret ging es um die Auswirkungen der föderalen Strukturen in der Schweiz auf das Haftprüfungsverfahren in verschiedenen Kantonen. Weil der Bf. im Verdacht stand, Straftaten in mehreren Kantonen begangen zu haben, war er nach seiner Festnahme am 13.1.1992 in den Kantonen Zürich (13.-17.1.), Luzern (17.-21.1.), Bern (21.-24.1.), Glarus (24.1.-3.2.), St. Gallen (3.-21.2.), Schwyz (21.-25.2.), Zürich (25.2.-3.3.) und Aargau (3.-13.3.) inhaftiert gewesen, bevor er am 13.3. im Kanton Zürich freigelassen wurde. Nach schweizerischem Recht wendet jeder Kanton sein eigenes Strafverfahrensrecht an. Ein Antrag auf Haftprüfung erledigt sich automatisch („must be struck out"), wenn die inhaftierte Person nicht mehr der jeweiligen kantonalen Gerichtsbarkeit unterliegt. Nach der Festnahme am 13.1. hatte der Verteidiger am 15.1. bei der Staatsanwaltschaft Uster die Freilassung des Bf. beantragt. Am 17.1. entschied ein Haftrichter am Bezirksgericht Uster, dass sich der Antrag erledigt habe, da der Bf. an diesem Tag in den Kanton Luzern verschubt worden war.
424
EGMR, Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, §§ 16, 28 (zu dem im niederländischen Recht gegen Unterbringungsanordnungen vorgesehenen einstweiligen Rechtsschutzverfahren („kort geding") vor dem Präsidenten einer Arrondissementsrechtbank).
342
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Am selben Tag ordnete ein Präfekt im Kanton Luzern die Untersuchungshaft an. Die vom Verteidiger des Bf. gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde erklärte das Berufungsgericht Luzern am 27.1. für erledigt, weil der Bf. zwischenzeitlich in die Kantone Glarus und Bern verschubt worden war. Obwohl für den Bf. in jedem Kanton die Möglichkeit einer Haftprüfung bestand, nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 an, da es dem Bf. wegen seiner häufigen Verschubungen über die kantonalen Grenzen hinweg nicht möglich gewesen sei, die Entscheidung eines Gerichts über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung zu erreichen.425 Wenngleich man dem Grundtenor der Entscheidung sicherlich zustimmen kann, so ist sie angesichts des vom EGMR mitgeteilten Sachverhalts gleichwohl überraschend. Während der zweimonatigen Untersuchungshaft hatte am 24.1. ein Haftrichter in Glarus die Haftfortdauer angeordnet. Am 24. und 28.2. lehnten ein Haftrichter in Schwyz bzw. ein Bezirksgericht im Kanton Zürich den Antrag des Bf. auf Freilassung ab. Innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten wurde die Rechtmäßigkeit der Haft also insgesamt dreimal überprüft. Dass der EGMR gleichwohl einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 annahm, ist auf den ersten Blick mit seiner Rechtsprechung, wonach die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung in „reasonable intervals" erfolgen muss, kaum vereinbar. Er hat vor allem darauf abgestellt, dass es dem Bf. aufgrund seiner Verschubung nicht möglich gewesen sei, die Haftanordnung des Amtsstatthalteramtes Willisau vom 17.1. kontrollieren zu lassen, weil das Obergericht in Luzern und das Schweizerische Bundesgericht davon ausgegangen waren, dass die Inhaftierung des Bf. im Kanton Luzern mit der Verschubung beendet war. Die Aussage des Gerichtshofs „having been successively transferred from one canton to another, he was unable, owing to the limits of the cantonal courts' jurisdiction, to obtain a decision on his detention from a court, as he was entitled to do under Article 5 § 4" lässt sich daher nur halten, wenn man auf die Uberprüfung der Haftentscheidung vom 17.1.1992 abstellt, nicht aber wenn man die gesamte Untersuchungshaft berücksichtigt, die dreimal richterlich bestätigt worden war, davon zweimal unter Ablehnung eines Antrags des Bf. auf Freilassung. Anders wäre nur zu entscheiden, wenn diese Uberprüfungen die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Kontrolldichte nicht erreicht hätten, worüber der Sachverhalt jedoch keine Angaben macht. Der EGMR hat hier m.E. zu sehr auf die Entscheidung im Kanton Luzern abgestellt („Mr R.M.D. was therefore unable in those proceedings to obtain a decision on the lawfulness of his detention") und hätte zumindest erwägen müssen, ob nicht die späteren gerichtlichen Entscheidungen den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 ingesamt genügten.
c)
Angemessene Beteiligung am Verfahren
Einem inhaftierten Beschuldigten muss die Möglichkeit einer angemessenen Beteiligung an einem Verfahren gewährt werden, dessen Ausgang darüber entscheidet, o b seine Freiheitsentziehung fortdauert oder endet („adequate opportunity to participate"). Hierfür ist es unentbehrlich, dass der Beschuldigte Zugang zu einem Gericht erhält („access to a court"). Die Möglichkeit, persönlich oder mittels einer gewissen F o r m der Vertretung 425
EGMR, R.M.D../. Schweiz, Reports 1997-VI, §§ 6-29,43-55; vgl. zum Nebeneinander der kantonalen Strafprozessordnungen und der schweizerischen Bundesstrafprozessordnung: Sieber JZ 1997, 369, 372.
343
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
gehört zu werden, zählt zu den fundamentalen Garantien freiheitsentziehender Maßnahmen („possibility ... to be heard either in person or, where necessary, through some form of representation"). Gegen ein solches Recht auf Gehör kann nicht etwa die unterschiedliche sprachliche Fassung von Art. 5 Abs. 3 („... shall be brought before ...") und Art. 5 Abs. 4 („... by which ... shall be decided by a court...") ins Feld geführt werden.426 Durch eine im Ermessen des Gerichts stehende Anhörung der inhaftierten Person werden deren Beteiligungsrechte nicht in ausreichendem Maße gewahrt.427 Gleichwohl erfordert das Recht, gehört zu werden, nicht in jedem Fall die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Anwesenheit des Beschuldigten (dazu sogleich). d)
Informations- und
V o n d e m Recht
zu beantragen,
Mitteilungspflichten dass ein Gericht
innerhalb
kurzer
Frist über die
Recht-
mäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung entscheidet, kann eine inhaftierte Person nur dann effektiven Gebrauch machen, wenn sie unverzüglich und angemessen über die Tatsachen, die für die Freiheitsentziehung gesetzlich zuständige Behörde sowie über die Gründe ihrer Freiheitsentziehung informiert wird. Für die staatlichen Stellen besteht eine entsprechende Informationspflicht, die der Gerichtshof in der Entscheidung X unmittelbar der Vorschrift des Art. 5 Abs. 4, in der späteren Entscheidung van der Leer dem Art. 5 Abs. 2 entnommen hat 428 Zum Recht auf Beteiligung gehört auch, dass die inhaftierte Person von Haftprüfungsterminen und deren Ergebnis unterrichtet wird.429 Das muss vor allem bei strafprozessualen Haftprüfungen gelten, weil der Beschuldigte nur auf diese Weise in die Lage versetzt wird, seine Verteidigung effektiv vorzubereiten. Der Bf. Farmakopoulos war in Belgien aufgrund eines britischen Auslieferungsgesuchs festgenommen worden. Ihm wurden Kopien von zwei britischen Haftbefehlen zusammen mit der Entscheidung eines belgischen Gerichts vom selben Tage übergeben, durch welche die Haftbefehle in Kraft gesetzt wurden. Aus der in niederländischer Sprache abgefassten Entscheidung ging nicht hervor, dass ein Rechtsbehelf nur innerhalb von 24 Stunden nach Zustellung möglich war. Der Bf. wurde auch nicht auf anderem Wege über diese kurze Rechtsbehelfsfrist informiert. Der nach Ablauf dieser Frist eingelegte
426
EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 60; Sanchez-Reisse./. Schweiz, Serie A Nr. 107, § 51; Megyeri./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; Kampanis./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, §§ 47, 58. Im Fall De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien (Serie A Nr. 12, § 79) hielt der EGMR eine Bestimmung, wonach die einem Tribunaux de police wegen des Verdachts der Landstreicherei vorgeführte Person mit Hilfe eines Antrags die Vertagung der Verhandlung um drei Tage erreichen konnte, nicht für ausreichend, da sie die einzige ausdrücklich vorgesehene Vorschrift zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten war und die sonstige strafprozessualen Verfahrensgarantien nicht anwendbar waren. Im Ergebnis sah der EGMR die mit einem Laienrichter besetzten Tribunaux de police nicht als Gerichte iSv Art. 5 Abs. 4 an und nahm einen Konventionsverstoß an, da es gegen ihre Entscheidung keinen Zugang zu einem Gericht gab.
427
EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 63. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 66; vgl. aber auch das abweichende Sondervotum von Richter Evrigenis; EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 28, 34. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 61 (Unterbringung).
428
429
344
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Rechtsbehelf wurde von einem belgischen Gericht als verspätet zurückgewiesen. Die E K M R hatte einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 bejaht, wohingegen der E G M R keine Entscheidung in der Sache fällte, sondern den Fall aufgrund einer stillschweigenden Rücknahme der Beschwerde („implied withdrawal") aus dem Register strich. 430
e)
Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung
G r u n d s ä t z e zur Erforderlichkeit einer m ü n d l i c h e n V e r h a n d l u n g im R a h m e n einer gerichtlichen E n t s c h e i d u n g ü b e r die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung u n d z u m Recht auf Teilnahme der inhaftierten Person a n dieser V e r h a n d l u n g hat der Gerichtshof zuerst bei der U n t e r b r i n g u n g psychisch K r a n k e r u n d der vorzeitigen E n t l a s s u n g von S t r a f t ä t e r n entwickelt. Demnach gewährt eine Anordnung, durch die einer Person die Freiheit entzogen wird, nicht die fundamentalen Garantien gegen Willkür, wenn sie im Anschluss an ein Verfahren erfolgt, an dem weder die betroffene Person selbst, noch eine sie vertretende Person teilgenommen haben („proceedings in which neither the person concerned himself nor a person representing him has participated"). Wie der Fall Keus zeigt, wird das in Art. 5 Abs. 4 enthaltene Recht auch durch eine Flucht grundsätzlich nicht verwirkt. 431 In Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung, in denen es anlässlich einer Freiheitsentziehung um die Beurteilung des Charakters oder des Geisteszustandes einer Person geht, ist es für die Fairness des Verfahrens notwendig, dass die betroffene Person in einer mündlichen Verhandlung anwesend ist. In den Urteilen Singh und Hussain ist der E G M R sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Steht ein Freiheitsentzug von erheblicher Dauer auf dem Spiel („substantial term of imprisonment may be at stake") und soll die Gefährlichkeit eines verurteilten Straftäters anhand seiner Persönlichkeit und seines Reifegrades bewertet werden, verlangt Art. 5 Abs. 4 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beachtung eines kontradiktorischen Verfahrens, welches eine rechtliche Vertretung und die Ladung und Vernehmung von Zeugen einschließt („oral hearing in the context of an adversarial procedure involving legal representation and the possibility of calling and questioning witnesses"). 432 Auch die Art der Befragung einer inhaftierten Person kann eine wichtige Rolle spielen. Es genügt nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4, wenn sich die Befragung ausschließlich auf die Identität, das Alter, den physischen und psychischen Zustand sowie auf die Lebensumstände der Person erstreckt, zugleich aber über einen mehrjährigen Freiheitsentzug entschieden werden soll.433
430 431
432
433
EGMR, Farmakopoulos./. Belgien, Serie A Nr. 235-A, §§8-11, 19. EGMR, Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 27. Der Bf. befand sich auf der Flucht, als ein Gericht in seiner Abwesenheit und ohne seine rechtliche Vertretung die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verlängerte. Der EGMR entschied, dass der Bf. trotz seiner Flucht das in Art. 5 Abs. 4 niedergelegte Recht behielt, nach seiner Rückkehr in die Klinik ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Unterbringung zu beantragen. EGMR, Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 59-60; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 67-68. EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 79.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
345
Es ließe sich diskutieren, ob diese auf dauerhafte Freiheitsentziehungen zugeschnittenen Verfahrensgarantien auch für eine strafprozessuale Untersuchungshaft gelten, weil am Ende eines den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 entsprechenden Strafverfahrens immer ein Gericht über die dauerhafte Freiheitsentziehung entscheidet und die Persönlichkeit bzw. der geistige Zustand eines Beschuldigten in den meisten Strafverfahren nicht die Relevanz besitzt wie bei Entscheidungen über die dauerhafte Unterbringung psychisch kranker Menschen. Letzte Zweifel zur Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung in strafprozessualen Haftprüfungsverfahren haben die Urteile Assenov und Nikolova beseitigt. Dort hat der EGMR klargestellt, dass das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Verfahren bei der Überprüfung einer auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützten Freiheitsentziehung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verlangt.434 Die Entscheidungsgründe lassen allerdings offen, ob eine mündliche Verhandlung bei jeder gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung erforderlich ist. Es steht aber nunmehr fest, dass ein Beschuldigter jedenfalls bei der gerichtlichen Entscheidung über den ersten Antrag auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung einen Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat. Im Fall Assenov hatte ein Richter in camera über einen Haftprüfungsantrag des Bf. entschieden, ohne diesen zuvor persönlich angehört zu haben. Darin sah der EGMR einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4. Die Formulierung „without hearing in person" spricht eindeutig dafür, dass die Anhörung eines Rechtsvertreters oder Verteidigers nicht ausreicht. Vor der Entscheidung über den ersten Haftprüfungsantrag hat der Beschuldigte also nicht nur einen Anspruch auf Durchführung einer Verhandlung, sondern auch darauf, persönlich von einem Gericht angehört zu werden, was seine Berechtigung zur Teilnahme an der Verhandlung impliziert.435 Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob Art. 5 Abs. 4 neben der Anhörung des Beschuldigten zusätzlich die Anwesenheit eines Verteidigers verlangt, worauf später eingegangen wird.
Den Anspruch auf eine persönliche Anhörung hat der Beschuldigte auch dann, wenn er nach seiner Festnahme im Rahmen einer Vorführung nach Art. 5 Abs. 3 persönlich angehört worden ist, anlässlich derer die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung geprüft worden ist. Hierfür spricht jedenfalls, dass der EGMR im Fall Assenov sowohl einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 als auch gegen Art. 5 Abs. 4 angenommen hatte, weil der Bf. weder einem Richter oder anderen Person vorgeführt worden war, noch eine persönliche Anhörung bei der Entscheidung über seinen Haftprüfungsantrag stattgefunden hatte. Die vom EGMR in der Entscheidung Neumeister geäußerten Bedenken, ein umfangreiches schriftliches Verfahren oder gar eine Anhörung der Parteien im Rahmen einer Haftprüfung seien mögliche Quellen für eine Verfahrensverzögerung, die Art. 5 Abs. 4 mit der Forderung nach einer Entscheidung innerhalb kurzer Frist gerade verhindern wolle, dürften daher vom Tisch sein, obwohl sie in ihrer Tragweite nichts an Bedeutung 434
435
EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 162 („in the case of a person whose detention falls within the ambit of Art. 5 Abs. 1(c), a hearing is required"); Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-H, §§ 58, 62. EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 38, 73, 162-163.
346
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
eingebüßt haben. 436 Ein Verfahren zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen nach Art. 5 Abs. 1(c) muss so ausgestaltet sein, dass es trotz der von der Konvention geforderten mündlichen Verhandlung noch eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist garantiert. § 1181 StPO verlangt die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Rahmen der Haftprüfung nur auf Antrag des Beschuldigten oder nach dem Ermessen des Gerichts. Auch ohne einen Antrag des Beschuldigten ist das Ermessen des Gerichts insoweit auf Null reduziert, als über den ersten Haftprüfungsantrag in jedem Fall mündlich unter Anhörung des Beschuldigten verhandelt werden muss. Eine weite Entfernung des Beschuldigten zum Ort der Verhandlung wird der EGMR als Hinderungsgrund für eine Vorführung nicht akzeptieren (§ 118a II 1 StPO). Die in diesem Fall obligatorische Vertretung durch einen Verteidiger (§ 118a II 2, 3 StPO) macht die persönliche Anhörung des Beschuldigten keineswegs entbehrlich („hearing in person"). Auch die Ausschlussgründe für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen über Folgeanträge (§118 III, IV StPO) dürfen nicht starr befolgt, sondern müssen immer im Lichte der Grundsätze der Waffengleichheit beurteilt werden. f)
Kontradiktorischer Charakter des Verfahrens/ Prinzip der Waffengleichheit
Bezieht man die vom EGMR im Urteil Assenov zur Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung getroffene Aussage nur auf die erste gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung, so kann sich bei nachfolgenden Haftprüfungsanträgen oder von Amts wegen zu treffenden Haftentscheidungen nur aus dem Prinzip der Waffengleichheit und den Grundsätzen eines kontradiktorischen Verfahrens ein Anspruch des Beschuldigten auf Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung ergeben. Insofern ist auf die Entscheidungen Sanchez-Reisse und Keus zurückzugreifen, in denen der Gerichtshof gefordert hat, dass einer inhaftierten Person im Rahmen einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung die Vorteile eines kontradiktorischen Verfahrens gewährt werden („benefit of an adversarial procedure")· 437 Dies gilt auch dann, wenn die an dem Verfahren beteiligte Staatsanwaltschaft zu einer unparteiischen Haltung verpflichtet ist, jedoch zugleich eine Empfehlung zur Anordnung der Haftfortdauer oder Freilassung des Beschuldigten abgeben muss. Auf das Erfordernis eines kontradiktorischen Verfahrens für den Gerichtsstatus einer Stelle, die über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet, hat der EGMR auch in den Urteilen Hussain und Singh hingewiesen.438 436 437
438
EGMR, Neumeister ./. Österreich, Serie A Nr. 8, § 24. EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, § 51; Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 28; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 58. EGMR, Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 58; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 66. Sehr zurückhaltend gegenüber den Grundsätzen eines fairen Verfahrens in Haftprüfungsverfahren hatte sich der EGMR im Fall Neumeister ./. Österreich (Serie A Nr. 8, § 24) geäußert, indem er feststellte, dass sich der Grundsatz der Waffengleichheit nicht in Haftprüfungsverfahren implementieren lasse, da Art. 5 Abs. 4 lediglich sicherstellen wolle, dass die von der inhaftierten Person angerufene Stelle gerichtlichen Charakter habe. Diese Vorbehalte dürften mittlerweile als überholt anzusehen sein; vgl. auch EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 78.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
347
Geht es um die Überprüfung einer auf Art. 5 Abs. 1(c) beruhenden Freiheitsentziehung, muss während des gesamten Verfahrens eine Waffengleichheit zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten bestehen.439 Die Erforderlichkeit der Anwesenheit eines Beschuldigten in einem Termin, in dem ein Gericht über die Haftfortdauer und die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung beschließt, hängt vom Stand des Verfahrens und den früheren Anträgen des Beschuldigten hinsichtlich seiner Freilassung ab. Abstrakt formuliert ist die Anwesenheit eines inhaftierten Beschuldigten immer dann erforderlich, wenn sie als Mittel angesehen werden kann, um die Einhaltung des Prinzips der Waffengleichheit zu garantieren. 440 Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein Vertreter der Staatsanwaltschaft eine mündliche Stellungnahme abgeben kann, bevor das Gericht über die Freiheitsentziehung entscheidet, und für den Beschuldigten keine Möglichkeit besteht, die für die Fortdauer seiner Inhaftierung vorgebrachten Gründe in Frage zu stellen („opportunity to contest properly the reasons invoked to justify the continuation of his detention"). Ohne die Teilnahme des Beschuldigten an der Verhandlung ist die Waffengleichheit nicht gewahrt, wenn der Vertreter der Anklage auf vom Gericht gestellte Fragen seine Sicht der Dinge vortragen kann. Es kommt im Einzelfall nicht darauf an, ob er tatsächlich eine solche Stellungnahme abgibt.441 Die vom EGMR im Fall Toth gewählte Formulierung „without having summoned or heard him or his lawyer" könnte aber ein Indiz dafür sein, dass die Waffengleichheit jedenfalls in periodischen Folgeterminen auch durch die Anwesenheit eines Verteidigers gewährleistet werden kann. Ebenso ist das Prinzip der Waffengleichheit berührt, wenn ein Vertreter der Staatsanwaltschaft vor der Entscheidung des Gerichts über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung eine schriftliche Stellungnahme einreicht, in der er die Verwerfung des Haftprüfungsantrags anregt. In diesem Fall muss dem Beschuldigten - oder seinem Verteidiger - die Möglichkeit gegeben werden, diese Stellungnahme zu kommentieren („allowed to reply to these comments"). 442 Zu einem Anwesenheitsrecht des Beschuldigten in einem gerichtlichen Haftprüfungstermin verdichtet sich das Prinzip der Waffengleichheit, wenn der Anklagevertreter die von ihm abgegebene schriftliche Stellungnahme vor dem Gericht mündlich erläutern soll und deren Inhalt dem inhaftierten Beschuldigten vor der zu treffenden Entscheidung nicht bekannt gegeben wird, mit der Folge, dass er auf diese weder schriftlich noch mündlich reagieren kann („reply to them either in writing or orally"). In diesem Fall muss der Beschuldigte - oder sein Verteidiger - die Möglichkeit haben, zur selben Zeit wie der Staatsanwalt vor dem Gericht zu erscheinen, damit er auf die von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Argumente erwidern kann („opportunity to appear at the same time as the prosecutor so that he
439
440
441 442
E G M R , Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 58 („the proceedings must ... always ensure equality of arms between the parties, the prosecutor and the detained person"). E G M R , Kampanis ./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, §§ 47, 49 („appearance can be regarded as a means of ensuring respect for equality of arms"). E G M R , Toth ./. Österreich, Serie A Nr. 224, §§ 83-84; kritisch hierzu: Matscher ÖRiZ 1993, 154, 156. E G M R , Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, § 63.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
could reply to his arguments")· Die Anwesenheit muss dem Beschuldigten - oder seinem Verteidiger - auch dann gestattet werden, wenn der Beschuldigte bereits zahlreiche Haftprüfungsanträge gestellt hat und dadurch die seiner Ansicht nach gegen die ihm zur Last gelegten Taten und gegen die Gründe seiner Inhaftierung sprechenden Argumente sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Gericht unzweifelhaft bekannt sind („undoubtedly known"). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Beschuldigte bereits über einen längeren Zeitraum in Haft befindet und in seinem Antrag auf Freilassung gerade die Unvereinbarkeit der Länge seiner Inhaftierung mit der nationalen Verfassung oder mit der Konvention geltend macht. 443 Ein persönliches Auftreten vor einer Anklagekammer, die über seinen Antrag auf Freilassung zu entscheiden hatte, war dem Bf. Kampanis versagt worden. Die griechische Regierung hatte argumentiert, dass das Prinzip der Waffengleichheit keine Anwendung finde, da der Vertreter der Staatsanwaltschaft, der eine schriftliche Stellungnahme abgegeben und diese in einem Termin vor der Anklagekammer mündlich erläutert hatte, nicht die Rolle einer Verfahrenspartei eingenommen habe, sondern die eines unparteiischen Organs („impartial organ"), dessen Aufgabe es gewesen sei, die Richter bei der Wahrheitsfindung und Rechtsanwendung zu unterstützen („assist the judges to discover the truth and apply the law"). Der EGMR hielt das Prinzip der Waffengleichheit jedoch für einschlägig, da der Staatsanwalt die Interessen der Gesellschaft repräsentiert habe („represents the interests of society") und ihm die Aufgabe zugekommen sei, der Anklagekammer entweder - wie geschehen - die Haftfortdauer oder die Freilassung des Bf. zu empfehlen. Im Fall Toth hatte ein Oberlandesgericht in einem Rechtsmittelverfahren innerhalb des österreichischen Systems der Haftprüfung über Beschwerden gegen Entscheidungen eines Landesgerichts entschieden, das - nach Durchführung einer mündlichen und kontradiktorischen Verhandlung - Haftprüfungsanträge des Bf. abgelehnt hatte. Das Oberlandesgericht hatte weder den Bf. noch dessen Verteidiger geladen oder angehört. Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft hatte dagegen an der Verhandlung teilgenommen und Fragen des Gerichts beantworten können, jedoch - nach Angabe der österreichischen Regierung - weder Stellungnahmen abgegeben noch Anträge gestellt. Der EGMR hielt die Verhandlung vor dem Oberlandesgericht für nicht wirklich kontradiktorisch („not truly adversarial"). Sie habe keine Gleichbehandlung gewährleistet („not ensure equal treatment"), weil der Bf. die für die Fortdauer seiner Inhaftierung angeführten Gründe nicht angreifen konnte. Der Anspruch auf Teilnahme an einer Verhandlung vor dem Gericht, das über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet, steht gewissen Mitwirkungspflichten auf Seiten des Beschuldigten zur Sicherung seiner Teilnahme aber nicht grundsätzlich entgegen. So ist es mit Art. 5 Abs. 4 vereinbar, dass die Anwesenheit des Beschuldigten vor einem gerichtlichen Spruchkörper, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Erhebung der Anklage und die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung entscheidet, davon abhängig gemacht wird, dass der Beschuldigte spätestens bis zu dem Termin, in dem ein Vertreter der Staatsanwaltschaft seine mündliche Erklärung abgibt, die Gestat-
443
EGMR, Kampanis ./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, §§ 54, 57-59.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
349
tung seiner Anwesenheit beantragt. Hält der Beschuldigte eine solche im nationalen Recht für die Antragstellung vorgesehene Frist nicht ein, kann er eine Verletzung des Prinzips der Waffengleichheit in diesem Verfahren nicht rügen. 444 Eine derartige Mitwirkungspflicht hat der E G M R im Urteil Kampanis bei einem Haftprüfungsverfahren angenommen, das auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgt war. Bei einem Haftprüfungsan/rag des Beschuldigten stellt sich die Problematik ebenfalls, weil man hier dem Antrag auf Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung nicht unbedingt zugleich einen Antrag auf Gestattung der Teilnahme an der Verhandlung entnehmen können wird. Es ist zu hoffen, dass sich der E G M R auf die Seite einer beschuldigtenfreundlichen Auslegung solcher Haftprüfungsanträge schlägt und ihnen konkludent einen Antrag auf Teilnahme an der Verhandlung entnimmt. Für den ersten Haftprüfungsantrag dürfte diese Mitwirkungspflicht allerdings nicht gelten. Der Fall Kampanis betraf das Recht auf Teilnahme eines inhaftierten Beschuldigten an zwei gerichtlichen Entscheidungen, in denen über die Fortdauer der Untersuchungshaft entschieden wurde. Im ersten Verfahren ging es um die Erhebung der Anklage („committal for trial") und die Anordnung der Haftfortdauer, welche die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Voruntersuchung in einer schriftlichen Erklärung vom 5.9.1990 beantragt hatte. In einem Termin („hearing") vor der Anklagekammer am 17.9. wurde der Staatsanwalt gehört. Dabei gab er eine mündliche Erklärung ab. Am 18.12. beantragte der Bf., ihm das Erscheinen vor der Kammer zu gestatten. Am 30.1.1991 stellte er bei der Anklagekammer erneut einen Antrag auf Freilassung und auf Gestattung seiner Anwesenheit vor der Kammer in Begleitung seines Verteidigers („requested leave to appear with his lawyer"). Am 6.2. hörte die Anklagekammer den Staatsanwalt, der eine schriftliche Stellungnahme vom Vortag ergänzend erläuterte („expanded"), in der er die Ablehnung der Anträge des Bf. gefordert hatte. Die Stellungnahme war dem Bf. nicht mitgeteilt worden. Gemäß der Strafprozessordnung hatte er in diesem Verfahrensstadium auch keinen Anspruch darauf, eine Kopie der staatsanwaltlichen Stellungnahme zu beantragen oder gar automatisch zu erhalten. Erst nach der Entscheidung der Anklagekammer hätte er eine Kopie des Protokolls über die staatsanwaltliche Stellungnahme beantragen können. Am 13.2. wies die Kammer die Anträge des Bf. zurück. Wie schon der Staatsanwalt in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 5.2. war auch sie der Ansicht, dass ein Erscheinen des Bf. nur in den ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehenen Fällen oder nur dann hätte erwogen werden können, wenn die Kammer in der Sache entschieden hätte. Am 26.2. erhob die Kammer Anklage gegen den Bf. und vierzehn Mitbeschuldigte und ordnete zugleich die Haftfortdauer an. Den Antrag des Bf. auf Gestattung der Anwesenheit hielt sie für verspätet. Die griechische Strafprozessordnung sah ein Recht des Beschuldigten auf Anwesenheit in einem Termin vor der Anklagekammer zwar ausdrücklich vor. Nach der Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs hatte der Beschuldigte den hierzu erforderlichen Antrag zu stellen, sobald er eine Kopie von der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft erhalten oder diese bei der Staatsanwaltschaft eingesehen hatte, spätestens jedoch bis zum Termin vor der Anklagekammer, in dem der Staatsanwalt seine mündlichen Erklärungen abgab. Der EGMR vertrat die Ansicht, dass der Bf.
444
EGMR, Kampanis ./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, §§ 50-51.
350
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit in dem Verfahren über Erhebung der Anklage nicht rügen konnte, da er die im griechischen Recht vorgesehene Frist für die Stellung seines Antrags nicht eingehalten hatte. Indes verstieß die Entscheidung der Anklagekammer über den Antrag vom 30.1.1991 gegen Art. 5 Abs. 4, da dem Bf. vor der Entscheidung die schriftliche Stellungnahme des Staatsanwalts nicht mitgeteilt worden war und er infolgedessen auf diese weder schriftlich noch mündlich reagieren konnte. Zur Wahrung des Prinzips der Waffengleichheit wäre es nach Ansicht des Gerichtshofs erforderlich gewesen, dem Bf. zur selben Zeit wie dem Staatsanwalt ein Erscheinen vor der Kammer zu ermöglichen, damit er auf dessen Argumente hätte erwidern können. Liegen keine Anhaltspunkte vor, die für die Erforderlichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Anwesenheit des Beschuldigten an einer solchen sprechen, wird man auch ein ausschließlich schriftliches Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung grundsätzlich für mit Art. 5 Abs. 4 vereinbar halten müssen. Dies folgt aus der Entscheidung Sanchez-Reisse, die ein Auslieferungsverfahren betraf, in ihren Grundsätzen aber durchaus auch auf eine strafprozessuale Untersuchungshaft übertragbar ist. Wird dem Beschuldigten in einem ausschließlich schriftlichen Verfahren ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt, so ist die Ansetzung mündlicher Verhandlungen, an denen der Beschuldigte teilnehmen und die Tätigkeit des Anwaltes überprüfen lassen kann, nicht erforderlich. Jedoch dürfen ihm auch in einem ausschließlich schriftlichen Verfahren nicht die Vorteile eines kontradiktorischen Verfahrens genommen werden, die zur Einhaltung des Prinzips der Waffengleichheit unbedingt erforderlich sind. Sieht das gewählte schriftliche Verfahren vor, dass der Antrag des Inhaftierten an das Gericht zuvor einer für die Inhaftierung verantwortlichen Behörde zuzuleiten ist, die den Antrag sodann mit einem von ihr verfassten Bericht an das Gericht weiterleitet, so erfordert der Grundsatz der Waffengleichheit, dass dem Inhaftierten entweder die Möglichkeit gegeben wird, eine schriftliche Stellungnahme zu dem Bericht der Behörde abzugeben, oder ihm das persönliche Erscheinen vor Gericht gestattet wird.445 Der Fall Sanchez-Reisse betraf Anträge auf Freilassung einer inhaftierten Person in einem Auslieferungsverfahren, über die das Schweizerische Bundesgericht in einem schriftlichen Verfahren zu entscheiden hatte. Die Durchführung einer Verhandlung und das persönliche Erscheinen des Inhaftierten hätte es anordnen können. Das schweizerische Recht schrieb den rechtlichen Beistand eines Anwalts vor, den sich der Bf. selbst wählen konnte. Gemäß der vorherrschenden Praxis erhielt zunächst das im Auslieferungsverfahren mit umfassenden Zuständigkeiten und Kompetenzen ausgestattete Bundesamt für Polizeiwesen die Anträge auf Freilassung, um sie zu prüfen und eine Stellungnahme abzugeben. Nachdem das Bundesamt den Anträgen nicht abgeholfen hatte, wurden sie zusammen mit dem Bericht des Amtes, dessen Inhalt der Bf. nicht kannte und zu dem er auch keine Stellungnahme abgeben konnte, dem Bundesgericht zugeleitet. Das rein schriftliche Verfahren unter gleichzeitiger Bestellung eines Bei-
445
EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, §§ 45-47, 51 (Auslieferungsverfahren).
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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stands verstieß an sich nicht gegen Art. 5 Abs. 4. Allerdings bejahte der EGMR einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit, da der Bf. weder zu den Berichten des Bundesamtes Stellung nehmen, noch persönlich vor dem für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung zuständigen Gericht erscheinen konnte. Die Aufzählung der Gründe für seine Freilassung in den gestellten Anträgen reichte dem EGMR zur Wahrung der Waffengleichheit nicht aus, da die Stellungnahme des Bundesamtes nach einer Reaktion des Bf. verlangen konnte, von der das Bundesgericht vor seiner Entscheidung Kenntnis haben musste. In einem die Unterbringung psychisch Kranker betreffenden Verfahren ist es dem Gericht durchaus gestattet, im Wege einer telefonischen Auskunft Tatsachen zu ermitteln, die für die zu treffende Entscheidung relevant sind. Allerdings muss der betroffenen Person oder ihrem rechtlichen Vertreter wenigstens eine Zusammenfassung der Gespräche geliefert sowie mitgeteilt werden, inwieweit sich neue Gesichtspunkte ergeben haben. Ebenso muss ihnen die Abgabe einer Stellungnahme möglich sein. Auch bei der Überprüfung einer Untersuchungshaft ist es nicht an sich konventionswidrig, wenn das Gericht eigene Ermittlungen anstellt. Die vom EGMR im Urteil Wassink geforderten Garantien müssen dann jedoch ebenfalls gelten. Findet eine mündliche Verhandlung statt, so verlangt Art. 5 Abs. 4 nicht die Anwesenheit eines Urkundsbeamten oder die Aufnahme eines Protokolls über die Sitzung, selbst wenn dies im nationalen Recht so vorgesehen ist.446 Ein Verstoß gegen eine nationale Verfahrensvorschrift führt aber - regelmäßig - zur Unrechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung als solcher. Um die Verlängerung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ging es in der Entscheidung Wassink. Ein Richter hatte zunächst den Bf. in Anwesenheit seines Betreuers gehört und sodann die Ehefrau des Bf. und zwei Ärzte am Telefon befragt sowie eine kurze Notiz über ihre Angaben gefertigt. Durch ein etwa 10-minütiges Telefonat übermittelte er dann dem Betreuer eine Zusammenfassung der gewonnenen Informationen. Der Gerichtshof sah zwar in der Einholung der telefonischen Auskünfte ein gewisses Risiko, berücksichtigte aber, dass diese Auskünfte auf Initiative und unter der Verantwortung eines unabhängigen Justizbeamten im Rahmen eines vorläufigen Verfahrens („emergency procedure") stattgefunden hatten, dessen Folgen zunächst nur für drei Wochen gültig waren. Obwohl die Notizen nicht unter Anwesenheit des Betreuers verlesen worden seien, sei diesem doch eine Zusammenfassung der Gespräche geliefert und mitgeteilt worden, dass diese keine neuen Gesichtspunkte erbracht hätten. Da für den Betreuer die Möglichkeit der Stellungnahme bestanden habe, wovon dieser auch Gebrauch gemacht habe, verneinte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 ausdrücklich. Entgegen dem nationalen Recht war jedoch bei der Sitzung kein Protokollbeamter anwesend gewesen, so dass das Verfahren nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise iSv Art. 5 Abs. 1 abgelaufen war. g)
Zugang zur
Verfahrensakte
In der strafprozessualen Praxis sehr umstritten ist die Frage, ob der Beschuldigte - oder sein Verteidiger - in einem Haftprüfungsverfahren einen Anspruch auf Zugang zur 446
EGMR, Wassink ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-A, §§ 33-34.
352
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
gesamten oder wenigstens zu bestimmten Teilen der Ermittlungsakte hat. Aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden erweist sich der Zugang des Beschuldigten zur Verfahrensakte als besonders heikel, weil Haftprüfungen oftmals vor Abschluss der Ermittlungen und vor der Abgabe der Sache an das Strafgericht stattfinden. In diesem Stadium kann der Erfolg der Ermittlungen durch die Gewährung einer Akteneinsicht nachhaltig gefährdet werden. Diesen Interessenkonflikt zwischen einer effektiven Strafverfolgung und der Wahrung der Verteidigungsrechte hat der Gerichtshof im Urteil Lamy über das Gebot der Verfahrensfairness gelöst. Demzufolge muss ein Haftprüfungsverfahren kontradiktorischen Charakter haben („procedure truly adversarial") und dem Grundsatz der Waffengleichheit entsprechen („equality of arms"). Hat die Staatsanwaltschaft während des Haftprüfungsverfahrens Zugang zur Ermittlungsakte - was regelmäßig der Fall ist und stützt sie ihre Ansichten und Anträge auf in der Akte befindliche Dokumente, so erfordert das Prinzip der Waffengleichheit, dass auch der Beschuldigte Zugang zu diesen Dokumenten erhält.447 Stellt man wie der EGMR auf das Prinzip der Waffengleichheit ab, dürfen die Dokumente, auf die sich die Anklagebehörde im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens stützt, eigentlich nur das Minimum an Aktenbestandteilen darstellen, zu denen der Beschuldigte Zugang erhalten muss, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Anklagebehörde eine Auswahl belastender Dokumente trifft und entlastendes Material vorenthält. Auch die Formulierung des EGMR „ the appraisal of the need for a remand in custody and the subsequent assessment of guilt are too closely linked for access to documents to be refused in the former case when the law requires it in the latter case" lässt auf einen tendenziell weiten Umfang des dem Beschuldigten zu gewährenden Zugangs zur Ermittlungsakte schließen. Darin, dass der EGMR das Aktenzugangsrecht über das Prinzip der Waffengleichheit ableitet, das seinerseits auf einem Element der Parität zwischen den Verfahrensbeteiligten aufbaut, liegt die entscheidende Schwäche dieses Kontrollansatzes. Weil die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsstadium des Strafverfahrens und damit auch im Haftprüfungsverfahren naturgemäß Zugang zur gesamten Ermittlungsakte hat, müsste der Beschuldigte ebenfalls einen solchen umfassenden Zugang erhalten. Das ist aber mit dem - vom EGMR in anderem Zusammenhang anerkannten - Ermittlungs- und Geheimhaltungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden oftmals nicht zu vereinbaren. Ein anderer Ansatz ist daher m.E. vielversprechender. Der Beschuldigte hat ein Interesse am Zugang zu entlastenden Bestandteilen der Verfahrensakte auch dann, wenn diese nur dem Gericht, nicht aber der Anklagebehörde vorliegen. Der EGMR hätte deshalb gut daran getan, den Zugang des Beschuldigten zur Akte nicht über das adversatorisch geprägte Prinzip der Waffengleichheit, sondern über das allgemeine Gebot der Verfahrensfairness herzuleiten. In diese Richtung geht
447
E G M R , Lamy ./. Belgien, Serie Α Nr. 151, §§ 29, 37. Ob Art. 6 Abs. 3(b) auch im Ermittlungsverfahren („investigation stage of proceedings") oder einem eventuellen Haftprüfungsverfahren Anwendung findet, hat der E G M R ausdrücklich offen gelassen und das Problem der Erforderlichkeit der Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren abschließend unter Art. 5 Abs. 4 geprüft.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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das Urteil Nikolova.m Der Umfang des der Verteidigung zu gewährenden Zugangs zur Akte sollte sich am Prüfungs- und Kontrollmaßstab des Haftprüfungsverfahrens orientieren. Dem Beschuldigten muss daher der Zugang zu allen Bestandteilen der Verfahrensakte gewährt werden, auf deren Grundlage das Gericht über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung entscheidet. 449 Bedauerlicherweise lässt das Urteil Lamy offen, ob dem inhaftierten Beschuldigten der Zugang zur Verfahrensakte vorbehaltlos gewährleistet ist oder - wie im deutschen Strafprozessrecht (§ 147 II StPO) - wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt werden darf. Im Urteil Foucher hat der EGMR zumindest angedeutet, dass das Zugangsrecht des - nicht verteidigten und nicht inhaftierten - Beschuldigten zur Verfahrensakte wegen der Vertraulichkeit der Ermittlungen beschränkt werden kann. 450 Dass eine Gefahrdung des Untersuchungszwecks bei inhaftierten Beschuldigten ein Grund für eine weitgehende Beschränkung des Aktenzugangs und damit der Waffengleichheit sein kann, erscheint angesichts der Bedeutung, die der EGMR dem von Art. 5 geschützten Freiheitsrecht des Beschuldigten im Gesamtkontext der Konvention beimisst, mehr als fraglich, zumal ein gewisses Geheimhaltungsbedürfnis auch im Fall Lamy erkennbar war und der EGMR dort einen umfassenden Aktenzugang verlangt hat.451 Die Verweigerung eines Zugangs zur Akte in einem Haftprüfungsverfahren dürfte daher nur in Ausnahmefallen in Betracht kommen, etwa dann, wenn aus der Akte geplante Ermittlungsmaßnahmen hervorgehen, die nur mit einem Überraschungseffekt Erfolg versprechen. Ein Untersuchungsrichter (U) hatte gegen den Bf. Lamy wegen des Verdachts der Begehung von Konkurs- und Wirtschaftsstraftaten einen Haftbefehl erlassen. Vier Tage nach seiner Festnahme erschien der Bf. mit seinem Verteidiger vor einem Gericht, das auf der Grundlage eines von U gefertigten Berichts über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu entscheiden hatte. Während der ersten dreißig Tage der Inhaftierung war es dem Verteidiger weder gestattet, Einsicht in die Ermittlungsakte zu nehmen, noch hatte er Zugang zu den Berichten des U und der Polizei. Auch zur Vorbereitung des Haftprüfungstermins war weder dem Bf. noch dem Verteidiger Einsicht in die Akte gewährt worden. Nach Ansicht des EGMR hatte der Verteidiger dadurch keine Möglichkeit, die Anmerkungen und Ansichten effektiv anzufechten, welche die Staatsanwaltschaft auf diese Dokumente gestützt hatte („opportunity of effectively challenging the statements or views which the prosecution based on these documents"). Den Zugang des Bf. zu diesen Dokumenten hielt der EGMR in diesem entscheidenden Verfahrensabschnitt („crucial stage in the proceedings") für absolut notwendig („essential"), weil ein solcher Zugang den Verteidiger in die Lage versetzt hätte, das Gericht auf die Einlassung der Mitbeschuldigten und deren Verhalten aufmerksam zu machen („address the court") sowie die Dokumente, die Gründe, auf die seine Untersuchungs448
449 450
451
EGMR, Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-II, § 59 („Equality of arms is not ensured if counsel is denied access to those documents in the investigation file which are essential in order effectively to challenge the lawfulness of his client's detention"). Ebenso: Zieger StV 1993, 321, 322. EGMR, Foucher ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 35 („the question of ensuring the confidentiality of the investigation did not arise"). Gegen die Zulässigkeit einer Beschränkung der Waffengleichheit: Zieger StV 1993, 321, 322.
354
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
haft gestützt wurde, und die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls effektiv anzugreifen („challenge the lawfulness of the arrest warrant effectively"). Da die Staatsanwaltschaft mit dem gesamten Inhalt der Ermittlungsakte vertraut war, sah der EGMR das Prinzip der Waffengleichheit nicht gewahrt und das Verfahren insgesamt als nicht wirklich kontradiktorisch an („truly adversarial"). Ob ein Zugang zu Bestandteilen einer Akte („access to the documents") dem Beschuldigten in persona oder durch seinen Verteidiger gewährt werden muss, lässt sich dem Urteil Lamy nicht eindeutig entnehmen. Die vom EGMR gewählten Formulierungen sind in diesem Punkt wenig ergiebig („applicant's counsel did not have the opportunity ...", „access to these documents was essential for the applicant...", „such access would have enabled counsel...", „procedure did not afford the applicant an opportunity ..."). 452 Da der Gerichtshof lediglich auf den Zugang zur Akte bzw. zu bestimmten Dokumenten abgestellt hat, bleibt auch offen, ob hierfür eine Akteneinsicht ausgereicht hätte bzw. erforderlich gewesen wäre oder ob dem Beschuldigten - oder seinem Verteidiger - die Akte bzw. entsprechende Kopien zu überlassen gewesen wären. Wird dem Beschuldigten in einem Haftprüfungsverfahren der Zugang der Akte verweigert, verlangt Art. 13 die Einrichtung einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit. Regelmäßig wird man schon die Verweigerung des Zugangs zur Akte als plausible Behauptung eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 4 einzuordnen haben. Nach der Neuregelung durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ist im deutschen Recht die Verweigerung des Zugangs zur Verfahrensakte vor Abschluss der Emittlungen nun wenigstens für inhaftierte Beschuldigte gerichtlich und damit wirksam iSv Art. 13 überprüfbar (§§ 147 II, V 1, VII 2 iVm § 161a III 2 bis 4 StPO). 453 Die Bedeutung des Zugangs zur Verfahrensakte hat der Gerichtshof auch auf dem Gebiet der Strafvollstreckung betont. In diesen Verfahren ist ebenfalls eine echte Mitwirkung der inhaftierten Person erforderlich („proper participation"), die nicht gewährleistet ist, wenn der Beschuldigte in einem Verfahren, in dem über seine vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft entschieden wird, keinen Anspruch auf volle Offenlegung der für ihn ungünstigen Unterlagen hat („entitlement to full disclosure of the adverse material"), welche sich im Besitz des Gerichts befinden. Im Fall Weeks ging der EGMR von einer unzureichenden Mitwirkung des Bf. in einem Verfahren vor dem im englischen Strafvollstreckungsrecht eingerichteten Bewährungsrat („Parole Board") aus, der über seine Inhaftierung nach dem Widerruf einer bedingten Entlassung zu entscheiden hatte. Obwohl sich der Bf. sowohl schriftlich gegenüber dem Parole Board, als auch mündlich gegenüber einem Mitglied des örtlichen Prüfungsausschusses („Local Review Committee") äußern konnte, er das Recht auf rechtliche Beratung zur Vorbereitung seiner Stellungnahme hatte und über die Gründe des Widerrufs ausreichend unterrichtet werden musste, hatte das Verfahren nach Ansicht des Gerichts-
452 453
E G M R , Lamy ./. Belgien, Serie Α Nr. 151, § 29. Zur Neuregelung des Rechtsschutzes gegen die Verweigerung der Akteneinsicht: Schlothauer StV 2001, 192, 194.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
355
hofs keinen gerichtlichen Charakter, weil der Bf. keinen Zugang zu den für ihn ungünstigen, im Besitz des Bewährungsrates befindlichen Akten hatte.454 Die allgemeine Bedeutung der Akteneinsicht im Kontext der Beschuldigtenrechte wurde vom EGMR auch durch das Urteil Weeks gestärkt. Es begründet aber für strafprozessuale Haftprüfungsverfahren keinen im Umfang über die Entscheidung Lamy hinausgehenden Anspruch des Beschuldigten auf Zugang zur Akte, weil sich die von einer Akteneinsicht tangierten Belange in einer Untersuchungshaft von denen im Rahmen der Strafvollstreckung grundlegend unterscheiden. Von den deutschen Gerichten wird es überwiegend für ausreichend gehalten, wenn der Beschuldigte im Haftprüfungstermin über Art und Grund der Tatvorwürfe und die Gründe seiner Inhaftierung informiert wird. Diese Auffassung verkennt, dass Art. 5 Abs. 4 dem Beschuldigten ein über die Informations- und Mitteilungspflichten der Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 3(a) hinausgehendes Recht auf Zugang zu allen Bestandteilen der Akte gewährt, auf die sich die Staatsanwaltschaft stützt (so der EGMR). Ein vorläufig gegenüber dem Beschuldigten abgeschirmtes Ermittlungsverfahren hält das BVerfG zur Erforschung des Sachverhalts und zur Wahrheitsfindung für verfassungsrechtlich unbedenklich. Eine andere Bewertung kann sich aber wegen der Schwere und Bedeutung des Eingriffs in das Recht des Beschuldigten auf Freiheit der Person bei der Vollstreckung eines Haftbefehls ergeben (Art. 2 II 2, 104 GG). Bei inhaftierten Beschuldigten unterliegt die Verweigerung des Zugangs zur Verfahrensakte wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks (§ 147 II StPO) strengeren Vorgaben. Das BVerfG hält die Gewährung einer teilweisen Akteneinsicht in einem Haftprüfungstermin für erforderlich, wenn ohne sie - d.h. bei einer nur mündlichen Bekanntgabe der Tatsachen und Beweismittel - eine Einwirkung des Beschuldigten bzw. des Verteidigers auf die gerichtliche Entscheidung und damit eine effektive Verteidigung nicht möglich ist. Wird eine solche teilweise Akteneinsicht verweigert, darf die Haftentscheidung nicht auf solche Tatsachen gestützt werden, die dem inhaftierten Beschuldigten wegen der Verweigerung der Akteneinsicht unbekannt sind.455 Diese auf ein Verwertungsverbot hinauslaufende Lösung dürfte dem Grundsatz der Waffengleichheit entsprechen. h)
Antragsrecht
des
Inhaftierten
Schon von seinem Wortlaut her verlangt Art. 5 Abs. 4 ein Verfahren, in dem die inhaftierte Person selbst die Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung veranlassen kann („be entitled to take proceedings"/„le droit d'introduire un recours"). Im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 3, der ausdrücklich eine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur automatischen Vorführung einer festgenommenen oder inhaftierten Person begründet, verlangt Art. 5 Abs. 4 nicht, dass die nationalen Stellen von Amts wegen die Recht-
454
455
EGMR, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, §§ 26, 66; vgl. auch: EGMR, Thynne, Wilson u. Gunnell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, §§ 56-57, 80. BVerfG, NStZ-RR 1998, 108; NStZ 1994, 551; BGH, NJW 1996, 734; vgl. zur Beschränkung der Akteneinsicht im Beschwerdeverfahren gegen einen Durchsuchungsbeschluss: BGH, NJW 2000, 84, 85 f.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
mäßigkeit der Inhaftierung prüfen. Den Schritt zu einem antragsunabhängigen, periodischen Haftprüfungsverfahren hat der E G M R (noch) nicht vollzogen. Die inhaftierte Person hat lediglich das Recht, die Durchführung eines Verfahrens zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung zu beantragen, dies allerdings in angemessenen Abständen. Die Feststellung, ob ein solcher Antrag vorliegt, kann im Einzelfall schwierig sein, insbesondere wenn der inhaftierte Beschuldigte während seiner Haftzeit unterschiedliche Anträge an die gerichtliche Stelle richtet, die auch über die Aufrechterhaltung der Haft entscheidet. Anträge iSv Art. 5 Abs. 4 verlangen nach einer weiten Auslegung. Es kommt lediglich darauf an, ob das Anliegen des inhaftierten Beschuldigten prinzipiell darauf gerichtet ist, die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung überprüfen zu lassen. Auszugehen ist vom Wortlaut des Antrages, den in erster Linie die nationalen Gerichte zu interpretieren haben. 456 Im Fall Beziehen hatte der Verteidiger einen Antrag auf Freilassung seines Mandanten bzw. auf Anordnung von Hausarrest gestellt und zugleich („as a subordinate request") die Vornahme mehrerer Ermittlungsmaßnahmen beantragt, die seinen Mandanten entlasten sollten. Ausgehend von seinem prinzipiellen Ziel („principally aimed") ging der EGMR von einem vorrangig auf Freilassung und die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung gerichteten Antrag aus, obwohl er mit dem Ersuchen um die Vornahme mehrerer Ermittlungsmaßnahmen verbunden war. Hierfür sprachen der Wortlaut des Titels und mehrere Sätze sowie - ex-post betrachtet - auch die Tatsache, dass die nationalen Gerichte ihn in diese Richtung interpretiert hatten.
Da Art. 5 Abs. 4 ein unabhängiges Antragsrecht der inhaftierten Person fordert, genügt es nicht, wenn erst eine staatliche Stelle den Fall einem Gericht vorlegen kann bzw. nicht in jedem Fall zu einer solchen Vorlage verpflichtet ist. Das während des Bürgerkrieges in Nordirland geltende Haftprüfungsverfahren, in dem
nur der Chief constable und in bestimmten Fällen der Secretary of State die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einer Kommission bzw. einem Appeal tribunal vorlegen konnten, genügte nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4.457 Auch im Fall Winterwerp nahm der EGMR einen Konventionsverstoß an, weil nach der nationalen Rechtsordnung der Staatsanwalt das Entlassungsgesuch eines untergebrachten psychisch Kranken zwar grundsätzlich einem Gericht vorzulegen hatte, jedoch von einer Weiterleitung absehen konnte, wenn eine Stattgabe des Gesuchs offensichtlich unmöglich erschien.458
Wie der Fall Weeks zeigt, verstößt die Zwischenschaltung einer staatlichen Stelle aber nicht in jedem Fall gegen Art. 5 Abs. 4. Es ist mit dem persönlichen Antragsrecht vereinbar, wenn die inhaftierte Person ihren Antrag zunächst an eine staatliche Stelle richten muss und zugleich gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist, dass diese den Antrag
456 457 458
EGMR, Beziehen ./. Italien, Serie A Nr. 164, § 19. EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 200, 86-88. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 63.
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§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
in jedem Fall einem Gericht vorlegen muss. Allerdings ist dann streng auf die Einhaltung einer kurzen Frist für die gerichtliche Entscheidung über den Antrag zu achten.459 Auch eine administrative Vorprüfung des vom Inhaftierten gestellten Antrags auf Freilassung durch eine Behörde, welche die Freilassung selbst anordnen kann oder im Falle der Nichtabhilfe den Antrag an das zur Entscheidung zuständige Gericht weiterleiten muss, verstößt an sich nicht gegen Art. 5 Abs. 4, selbst wenn der Inhaftierte in der Praxis seinen an das Gericht gerichteten Antrag immer erst dieser Behörde zuleiten muss. Dies wird man im Rahmen einer strafprozessualen Untersuchungshaft ebenso annehmen müssen wie im Falle der vom EGMR geprüften Auslieferungshaft. Da eine solche Vorprüfung das Verfahren aber nicht unerheblich verzögern kann, ist auch hier auf die Einhaltung der von Art. 5 Abs. 4 geforderten kurzen Frist besonders zu achten.460 Ein Vertretungszwang ist dagegen ganz offensichtlich nicht mit dem Antragsrecht des Art. 5 Abs. 4 vereinbar. Kann eine inhaftierte Person nach nationalem Recht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung nur mit Hilfe eines Rechtsbeistands beantragen, führt die unterbliebene Konsultation eines Anwaltes jedenfalls dann nicht zum Verlust des Rechtes aus Art. 5 Abs. 4, wenn sie selbst versucht, die Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung überprüfen zu lassen. Schreibt dagegen eine nationale Regelung eine rechtliche Vertretung vor, kann Art. 5 Abs. 4 nicht entnommen werden, dass die inhaftierte Person selbst die Initiative für ihre rechtliche Vertretung ergreifen muss, bevor sie sich an ein Gericht wenden kann.461 Mit diesen vom EGMR für die Unterbringung psychisch kranker Personen entwickelten Grundsätzen, die auch für die Untersuchungshaft Geltung beanspruchen, hat der EGMR die Höchstpersönlichkeit des von Art. 5 Abs. 4 geforderten Antragsrechts nachhaltig untermauert. i)
Anwaltlicher Beistand - Gerichtliche
Fürsorgepflicht
Wie bereits oben erwähnt, gehört die Möglichkeit für den Inhaftierten, persönlich oder bei Bedarf mittels einer gewissen Form der Vertretung gehört zu werden, zu den fundamentalen Garantien freiheitsentziehender Maßnahmen. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Form der Vertretung notwendig ist, hat der EGMR im untersuchten Zeitraum nur für die dauerhafte Unterbringung psychisch kranker und jugendlicher Personen, nicht aber im Rahmen der Überprüfung einer Untersuchungshaft entschie459
460
461
EGMR, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, §§ 26, 65. Im Falle des Widerrufs einer bedingten Entlassung von Strafgefangenen sah das englische Recht vor, dass der Innenminister den Fall einem Bewährungsrat („Parole Board") vorlegen musste, wenn der Verurteilte nicht auf sein Recht zur schriftlichen Äußerung verzichtet hatte. Das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Antragsrecht war gewahrt, einen Konventionsverstoß nahm der Gerichtshof aber aus anderen Gründen an. EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, §§ 10-14, 23-31, 44-45. Nach Ansicht des EGMR hatte die im schweizerischen Auslieferungsverfahren praktizierte Vorkontrolle den Zugang zum Schweizerischen Bundesgericht weder behindert noch eingeschränkt. Der Gerichtshof akzeptierte, dass angesichts der im Auslieferungsverfahren berührten internationalen Beziehungen der Staaten dem Vollzugsorgan Gelegenheit gegeben werden sollte, sich zu einer Auslieferung zu äußern. EGMR, Winterwerp./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 66; Megyeri./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, §22.
358
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
den. Für letztere kann sich die Notwendigkeit eines anwaltlichen Beistands freilich aus den Grundsätzen des Art. 6 Abs. 3(c) ergeben.462 Eine geistige Erkrankung kann die Art und Weise, in der eine Person das ihr von Art. 5 Abs. 4 garantierte Recht ausübt, beschränken oder modifizieren, jedoch niemals seinen völligen Ausschluss rechtfertigen. Im Gegenteil können sich sogar spezielle verfahrensrechtliche Sicherungen („special procedural safeguards") als notwendig erweisen, um die Interessen solcher Personen zu schützen, die wegen ihrer geistigen Störung nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln.463 Dabei wird der betreffende Staat durch sein innerstaatliches Recht gebunden und muss bei - hinsichtlich der verhängten Sanktion vergleichbaren Sachverhalten identische Verfahrensgarantien sicherstellen.464 Nach Ansicht des EGMR muss eine Person, die in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht ist, weil sie Straftaten begangen hat, für die sie aufgrund ihrer Geisteskrankheit nicht verantwortlich gemacht werden kann, in den nachfolgenden Verfahren, in denen es um die Fortsetzung, Aussetzung oder Beendigung ihrer Unterbringung geht, auch ohne einen ausdrücklichen Antrag einen anwaltlichen Beistand erhalten, soweit nicht besondere Umstände vorliegen. Dies erfordert schon die Bedeutung der persönlichen Freiheit, die für sie auf dem Spiel steht. Ob ein anwaltlicher Beistand notwendig ist, hängt im Einzelfall u.a. auch davon ab, ob die wegen ihrer Geisteskrankheit untergebrachte Person alleine in der Lage ist, die für sie sprechenden Gesichtspunkte zusammenzufassen und vorzutragen („marshal and present adequately points in his favour on this issue") und sich adäquat mit den aufgeworfenen Rechtsfragen befassen kann („address adequately the legal issue arising").465 Neben dem geistigen Zustand kann auch das Alter einer Person eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslösen. Wird einem Jugendlichen die Freiheit entzogen, so verlangt das von Art. 5 Abs. 4 geforderte Verfahren besondere Verfahrensgarantien. Die vom EGMR im Fall Bouamar aufgestellten Prinzipien - sie betrafen die vorläufige Unterbringung Jugendlicher in einem Untersuchungsgefängnis zur Einleitung einer Maßnahme überwachter Erziehung iSv Art. 5 Abs. 1(d) - dürften im Rahmen einer gegen einen Jugendlichen verhängten Untersuchungshaft keine geringere Geltung beanspruchen. Als eine angemessene Verfahrensgarantie bewertete es der EGMR, dass Jugendliche sich bei der Entscheidung des Jugendgerichts über ihre vorläufige Einweisung und Unterbringung in ein Untersuchungsgefängnis durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen
462
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464
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Vgl. hierzu: E G M R , Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, §§ 17-19, 65. Der Bf. war während der Untersuchungshaft und in einem Habeas-corpus-Verfahren durch zwei Anwälte vertreten worden, so dass der E G M R die Voraussetzungen für ein Vertretungserfordernis nicht zu klären hatte. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 60; Megyeri./. Deutschland, Serie A Nr. 237-A, § 22; siehe hierzu auch die Anmerkungen von: Bernsmann StV 1993, 90 ff. Im Fall De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien (Serie A Nr. 12, § 79) hat der E G M R unter anderem beanstandet, dass Personen, die vor belgischen Strafgerichten zu weitaus kürzeren Freiheitsstrafen als die für den Tatbestand der Landstreicherei vorgesehenen Unterbringungsfristen verurteilt wurden, weitreichendere Verfahrensgarantien genossen, als die vor den Tribunaux de justice verhandelten Landstreicher. E G M R , Megyeri./. Deutschland, Serie Α Nr. 237-A, §§ 23, 25, 27.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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konnten, dem der Zugang zur Gerichtsakte erlaubt war. Angesichts der im konkreten Fall drohenden Freiheitsentziehung hätte dem Bf. neben seiner persönlichen Anhörung auch ein effektiver anwaltlicher Beistand gewährt werden müssen. Im konkreten Fall war er zwar bei acht der neun Entscheidungen des Jugendgerichts über seine vorläufige Unterbringung persönlich anwesend und gehört worden. Seine Rechtsanwälte hatten jedoch an keinem dieser Termine teilgenommen, sondern sich in einigen Fällen lediglich vor der Entscheidung an das Gericht gewandt. Da der Bf. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erst 16 Jahre alt war, hielt der EGMR die von Art. 5 Abs. 4 geforderten Verfahrensgarantien allein durch die Teilnahme des Jugendlichen an der Verhandlung nicht für gewahrt. Da auch die Verhandlungen in den Rechtsmittelverfahren in Abwesenheit der Anwälte stattgefunden hatten, genügten auch diese nicht den von Art. 5 Abs. 4 geforderten Verfahrensgarantien.466
5.
Maßstab der Haftprüfung Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung
Die Prüfungskompetenz des Gerichts muss sich auf die Gesichtspunkte erstrecken, welche die Konvention für eine rechtmäßige Freiheitsentziehung verlangt („review ... wide enough to bear on those conditions ... essential for the lawful detention"). Dazu gehören sämtliche verfahrensrechtlichen und materiellen Bedingungen des nationalen Rechts („substantive and procedural rules/conditions"), die für die Rechtmäßigkeit der speziellen Art der Freiheitsentziehung notwendig sind („subject to the special type of deprivation of liberty"). Außen vor bleiben nur solche Vorschriften, die sich nicht auf die Freiheitsentziehung als solche beziehen. 467 D a die Konvention die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 von weiteren, über das nationale Recht hinausgehenden Anforderungen abhängig macht, muss das Gericht auch diese Voraussetzungen prüfen. Das schließt den Text der Konvention, die in ihr enthaltenen allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie den mit dem jeweiligen Haftgrund verfolgten Zweck ein („text of the Convention, the general principles embodied therein and the aim of the restrictions"). 468 Wegen der zwischen Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 bestehenden Korrelation gehört
466 467
468
E G M R , Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, §§ 24, 33, 58, 60, 62. E G M R , Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 25. Eine nationale Vorschrift, nach der eine gerichtliche Entscheidung über die Verlängerung einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik der von ihr betroffenen Person zugestellt („serve") werden muss, fallt nicht unter die bei Art. 5 Abs. 1 zu beachtenden innerstaatlichen Verfahrensvorschriften, da sich eine solche Vorschrift nicht auf die Freiheitsentziehung als solche bezieht („does not relate to the „procedure prescribed by law" to be followed in respect of the deprivation of liberty i t s e l f ) . E G M R , X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 57; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 48; Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, §§ 57, 59; Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, § 65; E. ./. Norwegen, Serie A Nr. 181 -A, §§ 49-50; Thynne, Wilson u. Gunnell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, §§ 68, 79; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 75; Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 26; Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 57; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 65; Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 127.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
dazu auch das dem gesamten Art. 5 immanente Willkürverbot.469 Werden gegen eine Person neben einer Freiheitsentziehung noch andere Maßnahmen mit unterschiedlicher Qualität angeordnet, muss das Gericht die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung isoliert prüfen und feststellen können.470 Als problematisch erweist sich die Bestimmung der erforderlichen Kontrolldichte des Gerichts, wenn die nationale Stelle einen Ermessensspielraum für die Haftentscheidung besitzt. Die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung gewährt keinen Anspruch auf eine Prüfung, die so weit geht, dass das Gericht bezüglich aller Gesichtspunkte des Falles einschließlich der Frage der Zweckmäßigkeit der Inhaftierung („questions of - pure - expediency") sein Ermessen an die Stelle des von den nationalen Stellen ausgeübten Ermessens setzen kann („substitute its own discretion for that of the decision-making authority").471 Da jedoch eine willkürliche Inhaftierung unabhängig von ihrer Vereinbarkeit mit dem innerstaatlichen Recht niemals als rechtmäßig angesehen werden kann, ist die Willkürlichkeit die Schwelle, welche bei der Ausübung eines Ermessens nicht überschritten werden darf und daher in jedem Fall im Rahmen des Art. 5 Abs. 4 überprüft werden muss.472 Zwar unterscheidet der EGMR bei Inhaftierungen zwischen reinen Zweckmäßigkeitserwägungen und Fragen der Recht- und Gesetzesmäßigkeit. Im Einzelfall kann eine genaue Abgrenzung allerdings schwierig sein. Erfolgt die Inhaftierung einer Person zu einem bestimmten Zweck, so ist dessen Erreichen keine Frage der Zweckmäßigkeit der Inhaftierung, sondern ein zur Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung gehörender Gesichtspunkt, der gerichtlich überprüfbar sein muss.473 Ebenso wie das erforderliche Verfahren hängt auch der Umfang der von Art. 5 Abs. 4 geforderten gerichtlichen Kontrolle von der Art der Freiheitsentziehung ab. Wie schon erwähnt, kann die erforderliche gerichtliche Kontrolldichte je nach Art der Inhaftierung unterschiedlich sein („not identical for every kind of deprivation of liberty"). Bei Freiheitsentziehungen wegen Geisteskrankheit nach Art. 5 Abs. 1(e) muss sie so weit gehen, dass sie dem Gericht die Überprüfung ermöglicht, ob die psychische Erkrankung andauert und die weitere Unterbringung im öffentlichen Interesse gerechtfertigt ist. Außerdem sollte sie die Überprüfung der Bedingungen erlauben, welche nach 469
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473
EGMR, Koendjbiharie ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-B, § 27; Keus ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-C, § 24; Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 75; Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 26; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 162. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 53. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 58; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 49; Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 59; Ε./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 50; Thynne, Wilson u. Gunnell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, § 79; Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 57; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 65; Chahal./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 127. Nicht zu dem geforderten Prüfungsumfang gehört eine im Ermessen der zuständigen Behörde stehende Entscheidung über eine vorzeitige Haftentlassung: EGMR, De Wilde, Ooms u. Versyp ./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 83. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 43; van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §48. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 49.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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Art. 5 Abs. 1(e) für die rechtmäßige Inhaftierung psychisch Kranker erforderlich sind.474 Im Falle einer mehrjährigen Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(a) muss die gerichtliche Überprüfung so umfassend sein, dass sie sich auf alle Umstände erstreckt, die für die Recht- und Gesetzmäßigkeit der Inhaftierung nach dem jeweils einschlägigen nationalen Recht unerlässlich sind, insbesondere wenn Umstände, welche die ursprüngliche Inhaftierung gerechtfertigt haben, nachträglich wegfallen können.475 Strafprozessual von besonderem Interesse ist die von Art. 5 Abs. 4 geforderte Kontrolldichte bei Inhaftierungen nach Art. 5 Abs. 1(c) und dringlichen Unterbringungen nach Art. 5 Abs. 1(e). Zur erforderlichen Kontrolldichte bei der Überprüfung einer auf Art. 5 Abs. 1(c) gestützten Polizei- oder Untersuchungshaft hat der EGMR in den Urteilen Brogan und Brannigan u. McBride Stellung genommen. Bei der Überprüfung einer Freiheitsentziehung im Anschluss an eine polizeiliche Festnahme ist ein Verfahren erforderlich, in dem nicht nur die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Anforderungen der Vorschrift überprüft werden, auf die sich die Festnahme stützt, sondern auch das „Hinreichen" des die Festnahme begründenden Verdachts sowie die Legitimität des Zwecks, den die Festnahme und die sich daran anschließende Inhaftierung verfolgen („reasonableness of the suspicion grounding the arrest and the legitimacy of the purpose pursued by the arrest and the ensuing detention"). 476 Wegen seiner beschränkten Kontrolldichte hat der Gerichtshof das englische habeascorpus-Verfahren bei der dauerhaften Unterbringung psychisch kranker Personen nach Art. 5 Abs. 1(e) nicht als mit Art. 5 Abs. 4 vereinbar angesehen. Wie jedoch die Entscheidungen X, Brogan und Brannigan u. McBride gezeigt haben, muss die Prüfungskompetenz des Gerichts bei dringlichen Unterbringungen und Inhaftierungen im Anschluss an eine polizeiliche Festnahme nicht über die von einem habeas corpus Verfahren gewährte Kontrolldichte hinausgehen. Trotz seiner durchaus beschränkten Rechtmäßigkeitskontrolle bietet es für diese Arten der Freiheitsentziehung eine effektive und angemessene Kontrolle gegen Willkür.477 Die im Vereinigten Königreich vorgesehene gerichtliche Kontrolle administrativer Entscheidungen (.judicial review") ist kein den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 entsprechendes Verfahren. Obwohl der EGMR dies in dem für die Strafvollstreckung relevanten Urteil Weeks entschieden hat, dürfte die Kontrolldichte des „judicial review" auch bei der Überprüfung einer Polizeioder Untersuchungshaft zu gering sein. Mit dem Antrag auf richterliche Kontrolle kann der Verurteilte lediglich die Rechtswidrigkeit („illegality") - im wesentlichen die
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EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, § 58; Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, § 52. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, § 49. EGMR, Brogan u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 145-B, §§ 25-30, 34, 40, 65; Brannigan u. McBride ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 258-B, § 76; Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-11, §58. EGMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 46, §§ 17-19; 56, 58. Der Gerichtshof hat im Fall X ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der den Behörden bei dringlichen Unterbringungen zustehende Ermessensspielraum zwangsläufig eine Einschränkung der gerichtliche Kontrolle zur Folge hat; vgl. zum habeas-corpus Verfahren allgemein: EGMR, Hood ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1999-1, §§ 40-41; Riedel EuGRZ 1980, 192 ff.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Entscheidungszuständigkeit des handelnden Organs sowie die Einhaltung der gesetzlichen Erfordernisse die Unzweckmäßigkeit („irrationality") der Entscheidung - d.h. die Einhaltung der Gesetze der Logik und der Maßstäbe der Moral - und etwaige Verfahrensfehler („procedural impropriety") - wie die Gebote der Fairness im Verfahren und die Verweigerung von Gerechtigkeit - rügen. 478 Dagegen ist das im norwegischen Recht vorgesehene Verfahren des „judicial review" ein mit den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 vereinbares Verfahren. 479
Namentlich bei Freiheitsentziehungen auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1(c) hängt der erforderliche Umfang der gerichtlichen Haftkontrolle nicht nur vom Typ der freiheitsentziehenden Maßnahme, sondern auch von der Art und dem Inhalt der von der inhaftierten Person vorgebrachten Argumente ab. Insofern besteht eine gewisse Parallele zu den von der Verfahrensfairness gestellten Anforderungen an die Begründung der Entscheidung über die strafrechtliche Anklage iSv Art. 6 Abs. 1. Zwar ist das Gericht iSv Art. 5 Abs. 4 nicht verpflichtet, sich mit jedem Argument auseinanderzusetzen, das der inhaftierte Beschuldigte vorbringt. Es darf aber bei der Entscheidung über einen Haftprüfungsantrag konkrete, vom Beschuldigten vorgetragene Tatsachen, die das Vorliegen der für die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung essentiellen Voraussetzungen zweifelhaft erscheinen lassen, weder ignorieren noch als irrelevant behandeln. Auf konkrete Tatsachen gestützte, substantielle Argumente gegen die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat und die von den Strafverfolgungsbehörden für dessen Inhaftierung angeführten Gründe („substantial arguments questioning the soundness of the charges ... and the grounds for ... detention") muss das Gericht bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung eingehen und berücksichtigen („devoted ... consideration to these arguments"). Der EGMR deutet aber zugleich an, dass ein nicht überzeugendes oder gar schikanöses Vorbringen außer Betracht bleiben darf („submissions ... contained such concrete facts and did not appear implausible or frivolous").480
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EGMR, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 114, § 69; Thynne, Wilson u. Gunnell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 190-A, §§ 60,80. In den Urteilen Hussain und Singh, welche die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer mandatory sentence of detention during Her Majesty's pleasure betrafen, äußerte der Gerichtshof zumindest Zweifel, ob eine mündliche Verhandlung in einem judicial review-Verfahren den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 genügt hätte („the Court is not convinced that the applicant's possibility of obtaining an oral hearing by way of proceedings for judicial review is sufficiently certain to be regarded as satisfying the requirements of Article 5 para. 4"): EGMR, Hussain ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62; Singh ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 69. EGMR, Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, §§ 9, 20, 22, 34, 40-45, 52-53. Gegen die Sicherungsanordnungen des Justizministers konnten die ordentlichen Gerichte angerufen werden, die berechtigt waren, sämtliche Fakten zu überprüfen, auf denen die Anordnung einer Sicherheitsmaßnahme basierte, insbesondere die beiden zentralen Voraussetzungen, das Vorliegen eines gestörten Geisteszustands beim Beschuldigten und die sich aus diesem Zustand ergebende Wiederholungsgefahr für die Begehung einer Straftat. Weil zusätzlich auch eine Willkürkontrolle stattfand, hielt der EGMR die Kontrolldichte für ausreichend („wide enough to bear on those conditions which ... were essential for the lawful detention). EGMR, Nikolova ./. Bulgarien, Reports 1999-II, § 61 („does not impose an obligation on a judge examining an appeal against detention to address every argument contained in the appellant's sub-
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
6.
363
Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung nach Flucht oder Freilassung
In einem Strafverfahren kann es vorkommen, dass der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt wird, obwohl über einen von ihm gestellten Antrag auf Prüfung der Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung noch nicht entschieden worden ist. Jedenfalls wenn die Freilassung nicht im Zusammenhang mit dem Haftprüfungsantrag steht, stellt sich die Frage, ob Art. 5 Abs. 4 dem Beschuldigten einen Anspruch darauf gewährt, dass auch nach seiner Freilassung quasi nachträglich noch über seinen Antrag entschieden wird. Der Wortlaut der Vorschrift „who is deprived" bzw. „personne ρηνέε de sa liberie' dürfte eher dagegen sprechen. Einen derartigen Fall der strafprozessualen Überholung hatte der EGMR im Fall Bouamar zu prüfen. Dort stellte er lediglich fest, dass es keine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung darstellt, wenn das angerufene Gericht lediglich feststellt, dass der gegen die gerichtlich angeordnete Inhaftierung eingelegte Rechtsbehelf aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Freilassung wegen Zweckfortfall unstatthaft ist („inadmissible because devoid of purpose").481 Dies lässt eher auf ein Recht des Beschuldigten auf gerichtliche Entscheidung auch nach seiner Freilassung schließen. Ob man dies allerdings so pauschal sagen kann, bleibt abzuwarten.
7.
Entscheidung innerhalb kurzer Frist („speedily"/„ä bref delai")
a)
Erstmalige
Überprüfung
Art. 5 Abs. 4 gewährt einer inhaftierten bzw. untergebrachten Person nicht nur das Recht, ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einzuleiten („institute proceedings"), sondern auch das Recht auf eine Entscheidung über diesen Antrag innerhalb kurzer Frist, welche die Freiheitsentziehung beendet, wenn diese sich als unrechtmäßig erweist.482 Da Art. 5 Abs. 4 nicht nur Haftprüfungsanträge der inhaftierten Person im klassischen Sinne betrifft, sondern vom EGMR auf jede gerichtliche Entscheidung angewandt wird, in der über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einer Person entschieden wird, müssen auch solche Entscheidungen innerhalb
481
missions", „... concrete facts invoked by the detainee and capable of putting into doubt the existence of the conditions essential for the lawfulness"). Im konkreten Fall bestand noch die Besonderheit, dass die Bf. das NichtVorliegen einer Fluchtgefahr beweisen musste (§ 59). EGMR, Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 63; gegen ein Recht auf nachträgliche Überprüfung
der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung: TrechselStV 1992, 187, 191. 482
EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, § 35; Musial./. Polen, Reports 1999-11, § 43 („right ... to a speedy judicial decision concerning the lawfulness of detention and ordering its termination, if it proves unlawful").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
kurzer Frist erfolgen, die das Gericht von Amts wegen oder im Rahmen einer periodischen Haftkontrolle erlässt. Wie die Urteile Kampanis und Koendjbiharie zeigen, gilt dies auch, wenn ein Gericht über einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der Haftfortdauer einer Freiheitsentziehung entscheidet, unabhängig davon, ob die Freiheitsentziehung ihrer Art nach eine Unterbringung oder Untersuchungshaft darstellt. 483 Mit anderen Worten, Haftprüfungsanträge iSv Art. 5 Abs. 4 können sowohl HaftaufhebungsaritTäge der inhaftierten Person als auch HaitverlängerungsantTäge einer staatlichen Stelle sein. Bestimmt das nationale Recht bestimmte Fristen („time-limits"), innerhalb derer ein Gericht über einen Haftprüfungsantrag zu entscheiden hat, verlangt die Forderung nach einer Entscheidung innerhalb kurzer Frist in jedem Fall die Einhaltung dieser Fristen.484 Im übrigen muss bei der Frage, wann eine Zeitspanne noch als kurz angesehen werden kann, mit einer grammatischen und systematischen Interpretation der Konvention begonnen werden.485 Der EGMR hat es abgelehnt, die kurze Frist iSv Art. 5 Abs. 4 abstrakt zu bestimmen, sondern verlangt ebenso wie bei der angemessenen Frist des Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 eine Würdigung auf der Grundlage der Umstände des konkreten Falles.486 Wird eine Person einem Richter erst nach einer Zeit vorgeführt, die weder als unverzüglich („promptly") noch als kurz bezeichnet werden kann, so nimmt er einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 an.487 Soweit es das zeitliche Element betrifft, erscheinen die Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 strenger als die des Art. 6 Abs. 1. Hingegen implizieren „aussitöt" und „promptly" in Art. 5 Abs. 3 eine größere Dringlichkeit als die Begriffe „ä bref delai" und „speedily" in Art. 5 Abs. 4 („indicates greater urgency"). Die Kürze einer Zeitspanne hängt von der Art des konkret zu überprüfenden Freiheitsentzugs und der Komplexität der zu beurteilenden Tatsachen und Gesichtspunkte ab.488 Dass die Konvention gerade im besonders sensiblen Bereich freiheitsentziehender Maßnahmen von nationalen Einflüssen weitestgehend freigehalten werden muss, bedarf keiner Erwähnung. Deshalb können besondere Eigenschaften eines Verfahrens niemals zum Verlust des Anspruchs auf eine - sei es positive oder negative - gerichtliche Entscheidung innerhalb kurzer Frist führen. Dies hat der EGMR zumindest in Auslieferungsverfahren klar zum Ausdruck gebracht. 489
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489
EGMR, Koendjbiharie ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-B, §§ 12-13,20, 28 (Antrag auf Verlängerung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus). EGMR, Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 27. EGMR, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 33. EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, § 55. EGMR, Sakik u.a. ./. Türkei, Reports 1997-VII, §§ 45-46, 51. EGMR, Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 64. So hat der EGMR im Fall Ε anerkannt, dass die Freiheitsentziehung einer geistig gestörten Person im Wege einer Sicherheitsmaßnahme oftmals von einer komplexeren Natur ist als diejenige, über die ein Richter oder eine andere Person bei der Vorführung einer nach Art. 5 Abs. 1(c) inhaftierten und nach Art. 5 Abs. 3 vorgeführten Person zu entscheiden haben („of a more complex nature"). EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, § 57.
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Bei der Beurteilung, ob die Entscheidung eines Gerichts über einen Antrag der inhaftierten Person noch als konventionsgemäß angesehen werden kann, muss danach differenziert werden, ob es sich um die erstmalige oder wiederholte Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung oder um die Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts innerhalb des Haftprüfungsverfahrens handelt. Die in Art. 5 Abs. 4 genannte Frist bezieht sich nicht nur auf die Zeit, in der das Gericht den vom Inhaftierten gestellten Antrag prüft, sondern umfasst auch die der Bearbeitung des Antrags vorgelagerte Zeitspanne von dem Beginn der Freiheitsentziehung bis zu dem Zeitpunkt, an dem der inhaftierten Person die Anrufung des Gerichts ermöglicht wird. Insofern kann sich der Schutzgehalt der Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 durchaus überschneiden, wobei die Vorführung sogar unverzüglich erfolgen muss. Hier wird das Problem deutlich, dass der EGMR beide Konventionsgarantien zwar als wesensverschieden einstuft („distinct"), es bisher aber versäumt hat, diesbezüglich klare Abgrenzungskriterien zu entwickeln.490 Sieht das nationale Recht eine administrative Vorprüfung eines Antrags vor, so sind bei der Beantwortung der Frage, ob der Zeitraum zwischen der Antragstellung und der gerichtlichen Entscheidung noch als kurz bemessen werden kann, nicht nur der Zeitraum, der bis zur Anhängigkeit des Falles bei Gericht verstreicht, sondern auch sonstige verfahrensverzögernde Umstände zu berücksichtigen.491 Die Frist im Fall Sanchez-Reisse begann nicht erst mit dem Eingang des Antrages beim Schweizerischen Bundesgericht, sondern schon mit dem Tag der Antragstellung beim Bundesamt. Im konkreten Fall war die Stellungnahme des Bundesamtes unterblieben und musste nachträglich angefordert werden, was zu Verzögerungen führte, die der EGMR berücksichtigte. Die Bf. van der Leer hatte gegen eine gerichtliche Zwangsunterbringung wegen Geisteskrankheit entsprechend dem nationalen Recht am 6.12.1983 einen Antrag auf Freilassung an die Krankenhausleitung gestellt, den die Staatsanwaltschaft nach seiner Ablehnung durch die Krankenhausleitung dem zuständigen Gericht erst am 6.2.1984 zuleitete, welches am 7.5.1984 die Freilassung der Bf. anordnete. Der EGMR sah den an die Krankenhausleitung gerichteten Antrag auf Freilassung als Antrag iSv Art. 5 Abs. 4 an und hielt die Verfahrensdauer von 5 Monaten nicht mehr für kurz. Die Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags an das Gericht hat der EGMR dabei ausdrücklich hervorgehoben. 492
Die Frist des Art. 5 Abs. 4 endet mit der Entscheidung des Gerichts. Ergeht die Entscheidung nicht in öffentlicher Verhandlung, kommt es für das Ende der Frist auf den Zeitpunkt an, zu dem sie dem Betroffenen selbst oder seinem Rechtsvertreter mitgeteilt wird („communicated"). Auf den Zeitpunkt, zu dem der Betroffene oder sein Anwalt eine Ausfertigung oder Kopie der Entscheidung erhalten, kommt es dagegen nicht an. Im Fall Koendjbiharie hatte ein Gericht am 21.9.1984 in nichtöffentlicher Sitzung die Verlängerung einer Unterbringungsanordnung ausgesprochen. Nach Ansicht des
490 491 492
Vgl. zum Verhältnis von Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4: EGMR, Aquilina ./. Malta, Reports 1999-III, § 47. EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, §§ 45, 57, 60. EGMR, van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 17-18, 35-36.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
EGMR endete die Frist des Art. 5 Abs. 4 an dem Tag, an dem die Entscheidung dem Bf. bzw. seiner Anwältin mitgeteilt worden war. Obwohl sich das Datum der Mitteilung der Entscheidung an die Anwältin nicht mehr genau feststellen ließ, ging der EGMR davon aus, dass diese Ende September 1984 vom Inhalt der Entscheidung erfahren hatte. Eine Kopie der Entscheidung hatte die Anwältin trotz mehrfacher Aufforderung erst am 31.10.1984 erhalten.493 Zwar billigt der EGMR dem Gericht bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung eine gewisse Zeit zu, um die notwendigen Untersuchungen vornehmen zu können. 494 Ob eine Zeitspanne zur Entscheidung über einen Antrag noch als kurz angesehen werden kann, hängt vor allem von der Komplexität des Sachverhalts und den Schwierigkeiten bei der Ermittlung der für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen ab. Ähnlich wie bei der Prüfung der Angemessenheit der Dauer eines Strafverfahrens nach Art. 6 Abs. 1 gibt es auch hier gewisse Zurechnungs- und Verschuldenselemente. Auch dem inhaftierten Beschuldigten können Verzögerungen des Verfahrens zuzurechnen sein.495 Bei der Prüfung eines Antrages über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung obliegen der untergebrachten Person gewisse Mitwirkungspflichten. Ob die Zeitspanne bei der Frist zur gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung mit zu berücksichtigen ist, in der sich der Antragsteller unerlaubterweise in Freiheit befindet, hat der EGMR in den Urteilen Luberti und van der Leer unterschiedlich bewertet. Ist zur Erstellung eines für die Frage der Erforderlichkeit der Unterbringung notwendigen psychiatrischen Gutachtens die Anwesenheit der untergebrachten Person erforderlich, ist es nicht zu beanstanden, wenn die zuständige Stelle die Prüfung eines Antrags auf Freilassung wegen einer Abwesenheit der untergebrachten Person vertagt. Der Bf. Luberti war von einem Ausgang nicht zurückgekehrt und befand sich mehr als sechs Monate auf der Flucht. Eine Gesamtdauer von 9 Monaten und 25 Tagen zur Prüfung und Entscheidung über einen Antrag auf Freilassung hat der EGMR nicht beanstandet, zumal der Bf. das Verfahren durch zwei gleichzeitig erhobene, aber unterschiedliche Rechtsbehelfe verzögert hatte, welche beide seine Freilassung zum Ziel und eine Aussetzung eines Verfahrens zur Folge hatten. Er ließ aber letztlich offen, ob die Zeit, während der sich der Bf. in Haft befand, vollständig von dem gesamten Zeitraum abzuziehen oder lediglich als ein Umstand zu berücksichtigen war 496 Im Fall van der Leer entschied der EGMR dagegen, dass eine wegen ihrer Geisteskrankheit untergebrachte Person den Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist über die Recht493 494
495
496
E G M R , Koendjbiharie ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-B, §§ 13, 20, 28. E G M R , Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 66 („required a certain amount of time to carry out the necessary inquiries"). E G M R , Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, §§ 8-14, 18, 26-30; van der Leer ./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, § 36. Jedwede Verzögerungen bei der Entscheidung über den Antrag einer inhaftierten Person sind aber dann zu vermeiden („compelling reasons for avoiding any dilatoriness"), wenn die angefochtene freiheitsentziehende Entscheidung ohne Anhörung des Antragstellers und damit unter Verstoß gegen eine fundamentale Verfahrensgarantie ergangen ist. Vgl. auch: E G M R , Musial./. Polen, Reports 1999-11, § 47 („complexity of the medical issues... is a factor ..."). E G M R , Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, §§ 16, 17, 35, 36.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
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mäßigkeit ihres Freiheitsentzugs nicht verliert, wenn sie nach Stellung des Antrags mit Hilfe Dritter die Einrichtung, in der sie untergebracht ist, eigenmächtig verlässt. Auch der Umstand, dass nach dem Bemerken ihrer Flucht die zwangsweise Unterbringung von Seiten der Einrichtung vorläufig ausgesetzt wird, macht eine Entscheidung über den Antrag innerhalb kurzer Frist nicht überflüssig, wenn eine zwangsweise Verbringung der Person in die Einrichtung trotz der vorläufigen Aussetzung jederzeit möglich ist. Eine Zeitspanne von 5 Monaten für die Entscheidung über den gegen eine gerichtliche Zwangseinweisung gestellten Antrag auf Freilassung sah der EGMR nicht mehr als kurz an.497 Die extreme Überlastung („excessive workload") eines Spruchkörpers kann die dadurch bedingte längere Bearbeitungszeit eines Antrags nicht rechtfertigen. Vielmehr zwingt die Konvention die Vertragsstaaten, ihre Rechtssysteme so zu organisieren, dass ihre Gerichte den unterschiedlichen Anforderungen der Konvention gerecht werden. 498 Verzögerungen, die durch administrative Probleme in der Justizverwaltung entstehen, sind daher nicht zu rechtfertigen. Auch in der Ferienzeit müssen die Justizbehörden angemessene Maßnahmen („appropriate provisions") und die notwendigen verwaltungstechnischen Schritte ergreifen, um sicherzustellen, dass dringliche Angelegenheiten unverzüglich abgehandelt werden („urgent matters are dealt with speedily").499 Der Bf. Ε hatte in der Ferienzeit einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung („judicial review") gegen eine präventive ministerielle Unterbringungsanordnung gestellt, über den erst fast zwei Monate später entschieden worden war. Da sich der zuständige Richter in Urlaub befand, trat eine Verzögerung von etwa 12 Tagen ein, für die nach Ansicht des E G M R die Justizbehörden verantwortlich waren, da sie in der Ferienzeit keine angemessenen Maßnahmen zur Sicherstellung einer schnellen Behandlung von Haftprüfungsanträgen vorgesehen hatten. Auch einen Zeitraum von drei Wochen zwischen der mündlichen Verhandlung und der Absetzung der Entscheidung sah der E G M R als nicht mehr gerechtfertigt an. Wann eine Zeitspanne noch als kurz anzusehen ist, hat der E G M R in den meisten Urteilen lediglich mit der Stilfigur der Doppelnegation entschieden. Die dabei angestellten Erwägungen und Begründungsmuster sind auf Haftprüfungen im Rahmen einer Untersuchungshaft eingeschränkt übertragbar. Zum Teil hatten die Entscheidungen Militärstrafverfahren zum Gegenstand oder betrafen langjährige Inhaftierungen nach Art. 5 Abs. 1(a) oder (e). In dem im November 1972 in Nordirland eingeführten Haftprüfungsverfahren konnte eine festgenommene Person zunächst bis zu 28 Tage festgehalten werden. Innerhalb dieser Frist musste der Fall durch den Chief Constable dem Mitglied einer Haftprüfungskommission vorgelegt werden. Gegen dessen Entscheidung konnte der Inhaftierte selbst ein Berufungsgericht anrufen. Den Zeitraum von der Festnahme bis zur
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EGMR, van der Leer./. Niederlande, Serie A Nr. 170-A, §§ 35-36. EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, § 60; Beziehen ./. Italien, Serie A Nr. 164, § 25. EGMR, Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 66.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Anrufung des Gerichts sah der E G M R nicht mehr als kurz an. 500 Im Fall van Droogenbroeck entschied er, dass eine Bearbeitungszeit von 7 bzw. 6 Monaten für die Bearbeitung eines Antrags auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung schwerlich als kurz bezeichnet werden könne. 501 Im Fall De Jong, Baijet und van den Brink waren Wehrpflichtige wegen Befehlsverweigerung festgenommen und dem Auditeur-militair vorgeführt worden, der als Anklagebehörde vor dem Militärgericht fungierte. D a der inhaftierte Soldat erst zwei Wochen nach der Festnahme beim Militärgericht die Festsetzung einer Frist beantragen konnte, innerhalb der der kommandierende General eine Entscheidung über die Beendigung der Haft oder die Verweisung der Sache an das Militärgericht fällen musste, wurde ihm nach Ansicht des E G M R auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des militärischen Lebens die Möglichkeit einer Entscheidung innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung genommen. Als den Soldaten nach sechs, sieben und elf Tagen die Möglichkeit gegeben worden war, ihre Freilassung vor einem Militärgericht zu beantragen, war eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 bereits eingetreten. 502 Dagegen sah der Gerichtshof im Urteil Ε lediglich Schwierigkeiten, einen Zeitraum von etwa 8 Wochen zwischen der Antragstellung und der gerichtlichen Entscheidung noch als kurz anzusehen, und verwies für eine endgültige Entscheidung auf die speziellen Umstände des Falles.503 Im Fall Koendjbiharie sah er einen Zeitraum von mehr als vier Monaten für die Entscheidung über einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung einer Unterbringungsanordnung nicht mehr als kurz an („incompatible with the notion of speediness"), insbesondere weil das Verfahren für fast zwei Monate vertagt worden war, um den Bericht eines Klinikmitarbeiters zu hören, der dann infolge seines Ausbleibens nicht vernommen worden war.504 Der Bf. Kolompar hatte sich im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens am 15.6.1985 mit einem Antrag auf Freilassung an ein Gericht gewandt. Dieser Antrag wurde am 21.6. für unzulässig erklärt. Ein Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung am 5.7. Das gegen diese Entscheidung am 8.7. eingelegte Rechtsmittel wies der belgische Kassationsgerichtshof am 8.10. zurück. Der E G M R hielt die Zeiträume zwischen den Anträgen und den gerichtlichen Entscheidungen für normal und verneinte diesbezüglich einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 7.505
Ü b e r die Frage, i n n e r h a l b welcher Frist die erstmalige E n t s c h e i d u n g eines Gerichts ü b e r die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung bzw. ü b e r den ersten H a f t p r ü f u n g s a n t r a g eines in U n t e r s u c h u n g s h a f t befindlichen Beschuldigten n o c h als kurz angesehen werden k a n n , d ü r f t e n die Entscheidungen Fox, Campbell u. Hartley u n d Letellier n o c h a m ehesten A u s k u n f t geben. D i e Kasuistik ist hier aber insgesamt n o c h sehr dürftig.
500 501 502 503 504
505
EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 200. EGMR, van Droogenbroeck ./. Belgien, Serie A Nr. 50, §§ 14, 18, 53. EGMR, De Jong, Baijet u. van den Brink ./. Niederlande, Serie A Nr. 77, §§ 15, 58. EGMR, Ε ./. Norwegen, Serie A Nr. 181-A, § 64. EGMR, Koendjbiharie ./. Niederlande, Serie A Nr. 185-B, §§ 12-13, 20, 28-29; vgl. zur Verlängerung einer Unterbringung psychisch Kranker auch: EGMR, Musial ./. Polen, Reports 1999-11, §§ 44-47 (Zeitraum von 20 Monaten nicht mehr kurz iSv Art. 5 Abs. 4). EGMR, Kolompar ./. Belgien, Serie A Nr. 235-C, §§ 21-23,41.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
369
Dort waren die Bf. im Anschluss an ihre Festnahme von der Polizei über ihre Beteiligung an bestimmten strafbaren Handlungen und ihre Mitgliedschaft in bestimmten Organisationen befragt und etwa 44 bzw. 30 Stunden nach der Festnahme entlassen worden. Nach Ansicht des EGMR war die Freilassung aller Bf. schon nach kurzer Zeit erfolgt, so dass ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 nicht vorlag.506 Eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich kaum verneinen, wenn er auf der einen Seite im Fall Letellier eine Zeitspanne zwischen 8 und 20 Tagen zur Entscheidung über einen Haftprüfungsantrag noch als kurz bewertet507, hingegen im Fall Sakik u.a. angesichts einer bis zur gerichtlichen Anordnung der Untersuchungshaft dauernden Polizeihaft von zwölf bzw. vierzehn Tagen nicht nur einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3, sondern auch gegen Art. 5 Abs. 4 feststellt.508 b)
Wiederholte
Überprüfung
Da ein inhaftierter Beschuldigter berechtigt ist, in angemessenen Abständen („at reasonable intervals") die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung überprüfen zu lassen, muss grundsätzlich auch über diese Anträge innerhalb kurzer Frist entschieden werden. Für die Einhaltung einer kurzen Frist kommt es zunächst darauf an, dass schon eine angemessene Zeit seit der ersten bzw. letzten gerichtlichen Überprüfung verstrichen ist.509 Der zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus „verurteilte" - im übrigen aber freigesprochene - Bf. Luberti hatte den italienischen Kassationshof angerufen und zugleich - drei Tage nach der gerichtlich angeordneten Unterbringung - bei einer anderen Stelle einen Antrag auf Freilassung gestellt. Nach Ansicht des EGMR war die anfängliche Kontrolle über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs in dem Urteil inkorporiert und das Recht auf Einhaltung der Unverzüglichkeit der Uberprüfung des Antrages auf Freilassung erst nach angemessener Zeit entstanden. Wann dieser Zeitpunkt eingetreten war, ließ der EGMR leider offen. Jedenfalls drei Tage nach dem Urteil bestand ein solcher Anspruch auf Überprüfung der Voraussetzungen der Unterbringung noch nicht. Obwohl der EGMR gewisse vom Bf. verursachte Verzögerungen, die durch die Aussetzung des Verfahrens infolge von zwei parallel eingelegten Rechtsbehelfen entstanden waren, den nationalen Behörden ausdrücklich nicht zurechnete, sah er den Zeitraum von mehr als ΙΊ2 Jahren zur Entscheidung über die Erforderlichkeit einer weiteren Unterbringung nicht mehr als kurz iSv Art. 5 Abs. 4 an, obwohl er bereits drei Tage nach der erstmaligen gerichtlichen Anordnung der Unterbringung und damit zu einem Zeitpunkt begonnen hatte, zu dem noch kein angemessenes Intervall seit der letzten Uberprüfung verstrichen war. Die noch akzeptable Kürze der Zeit zur Entscheidung über einen wiederholten Antrag auf Freilassung hängt auch davon ab, ob und in welchem Umfang die inhaftierte Person neue Umstände oder Gesichtspunkte vorbringt. Auch deren Komplexität und die zu ihrer Überprüfung vernünftigerweise erforderliche Zeit spielen eine wichtige Rolle, wie 506 507 508 509
EGMR, EGMR, EGMR, EGMR,
Fox, Campbell und Hartley ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 182, §45. Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 56. Sakik u.a../. Türkei, Reports 1997-VII, §§45-46, 51. Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, § 32.
370
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
beispielsweise der Fall Sanchez-Reisse zum schweizerischen Auslieferungsverfahren zeigt.510 Verbindet der inhaftierte Beschuldigte den Antrag auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung mit einem Ersuchen um die Vornahme ihn entlastender Ermittlungsmaßnahmen, so ist zu berücksichtigen, dass das mit der Entscheidung befasste Gericht eine gewisse Zeit („a certain amount of time") für die Veranlassung dieser Maßnahmen braucht. Ein Zeitraum von 5'/2 Monaten für die Entscheidung über einen erneuten Haftprüfungsantrag ist auch dann nicht mehr als kurz anzusehen, wenn das Gericht zwischenzeitlich einige der vom Beschuldigten zusammen mit der Haftprüfung beantragte Ermittlungen durchgeführt hat.511
8.
Rechtsmittel im Haftprüfungsverfahren
Art. 5 Abs. 4 verlangt von den Vertragsstaaten nicht die Einführung einer zweiten Instanz („second level of jurisdiction") zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen oder zur Verhandlung von Haftprüfungsanträgen. Allerdings muss ein Staat, der ein solches mehrstufiges Haftprüfungssystem einrichtet, einer inhaftierten Person im Rechtsbehelfsverfahren dieselben Garantien gewähren wie in erster Instanz („must in principle accord ... the same guarantees on appeal as at first instance").512 Die Grundsätze über die Einhaltung eines kontradiktorischen Verfahrens gelten deshalb auch bei gerichtlichen Entscheidungen über einen Haftprüfungsantrag in einer höheren Instanz. Das gilt selbst dann, wenn in erster Instanz über den Antrag der inhaftierten Person in einer mündlichen Verhandlung und unter Wahrung eines kontradiktorischen Verfahrens entschieden worden ist.513 Ebenfalls zu den Verfahrensgarantien, die auch in zweiter Instanz eingehalten werden müssen, gehört die gerichtliche Entscheidung innerhalb kurzer Frist. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich die Kürze einer gerichtlichen Entscheidung über den Antrag der inhaftierten Person lediglich auf den Zeitraum bis zur ersten gerichtlichen Entscheidung oder auch auf ein anschließendes Rechtsbehelfsverfahren erstreckt („whether it applies only at first instance or also at subsequent stages in the proceedings"). In Fällen, in denen das Verfahren über zwei Instanzen stattfindet, nimmt der EGMR eine Gesamtbetrachtung vor („overall assessment"). Legt der Beschuldigte einen Rechtsbehelf gegen eine Haftprüfungsentscheidung ein, so berücksichtigt der EGMR den Zeitraum bis zur
510
511 512
513
EGMR, Sanchez-Reisse ./. Schweiz, Serie A Nr. 107, §§ 23-31, 59-60. Dort hatte der Bf. in seinem zweiten Antrag auf Freilassung als neuen Gesichtspunkt lediglich die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes behauptet, was nur eine kurze ärztliche Untersuchung im Gefängnis erforderte. EGMR, Beziehen ./. Italien , Serie A Nr. 164, §§ 11, 21-24. EGMR, Toth./. Österreich, Serie A Nr. 224, § 84; Navarra./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 28; siehe auch: EGMR, Delcourt./. Belgien, Serie A Nr. 11, § 25; Ekbatani./. Schweden, Serie A Nr. 134, § 24. EGMR, Toth ./. Österreich, Serie A Nr. 224, §§ 83-84.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
371
endgültigen Entscheidung über den ursprünglichen Haftprüfungsantrag. In mehreren Entscheidungen hat er die „Gesamtlänge" eines Haftprüfungsverfahrens berücksichtigt, d.h. die gesamte Dauer des über mehrere Instanzen geführten Haftprüfungsverfahrens („overall length of proceedings, thus including the proceedings at all the different levels of jurisdiction").514 Dieser Ansatz ist durchaus problematisch, könnte er doch einen Vertragsstaat dazu verleiten, von der Einführung eines mehrstufigen Haftprüfungsverfahrens abzusehen, weil er befürchten muss, wegen der geforderten, aber organisatorisch kaum einzuhaltenden kurzen Entscheidungsfristen vor dem EGMR verurteilt zu werden. Dem Beschuldigtenschutz dienlicher wäre es daher gewesen, wenn der EGMR nur für die jeweilige Instanz eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist fordern würde, weil dem Beschuldigten die Möglichkeit eines mehrstufigen Haftprüfungsverfahrens ein Mehr an Rechtsschutz gewährt und dessen Einrichtung wünschenswert ist. Insofern macht es keinen Sinn, die Kürze der zur Entscheidung über den ursprünglichen Antrag erforderlichen Zeit anhand der Anzahl der Instanzen zu bemessen. Eine andere Möglichkeit wäre, in der Einlegung des Rechtsbehelfs gegen eine ablehnende Haftprüfungsentscheidung einen neuen Antrag des Beschuldigten iSv Art. 5 Abs. 4 zu sehen, über den dann separat in Kürze zu entscheiden wäre. Eine Ausnahme hat der Gerichtshof jedoch auch zu dieser Rechtsprechung entwickelt. Auch wenn die Entscheidung über den ursprünglichen Antrag der inhaftierten Person wegen der Mehrstufigkeit des Haftprüfungsverfahrens nicht innerhalb kurzer Frist ergeht, liegt kein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 vor, wenn dem Beschuldigten die Befugnis zusteht, während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens über den ursprünglichen Antrag neue Haftprüfungsanträge zu stellen, die innerhalb kurzer Frist entschieden werden.515 Gleiches gilt, wenn er versäumt, derartige Anträge zu stellen, obwohl ihm dies nach nationalem Recht jederzeit möglich gewesen wäre.516 Den Vertragsstaaten wird daher zu empfehlen sein, ein mehrstufiges Haftprüfungsverfahren nur dann einzuführen, wenn die inhaftierte Person während dieses Verfahrens zugleich neue Haftprüfungsanträge stellen kann. Im Fall Letellier hatte der Cour d'Appel Paris einen von der Bf. am 24.01.1986 gestellten Antrag auf Freilassung aus der Untersuchungshaft abgelehnt. Der Cour de Cassation hob die Entscheidung auf und wies den Haftprüfungsantrag an den Cour d'Appel zurück, der den Antrag abermals ablehnte. Nachdem der Cour de Cassation auch diese Entscheidung aufgehoben hatte, lehnte der Cour d'Appel den Antrag der Bf. ein drittes Mal ab. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel wies der Cour de Cassation am 15.06. 1987 zurück. Obwohl der EGMR Bedenken hinsichtlich der Gesamtdauer des Haftprüfungsverfahrens über diesen Antrag hatte, lehnte er einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 ab, da die Bf. während dieser Zeit insgesamt sechs weitere Haftprüfungsanträge
514
515 516
EGMR, Navarra ./. Frankreich, Serie A Nr. 273-B, § 28; vgl. auch: Luberti./. Italien, Serie A Nr. 75, §§ 33, 37; Bouamar ./. Belgien, Serie A Nr. 129, § 61; Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 56. EGMR, Letellier ./. Frankreich, Serie A Nr. 207, § 56. EGMR, Navarra ./. Frankreich, Serie Α Nr. 273-B, §§ 26-30.
372
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
gestellt hatte, die innerhalb von 8 bis 20 Tagen beschieden worden waren. Ähnlich gelagert war der Sachverhalt im Fall Navarra. Dort hatte der seit dem 22.11.1985 inhaftierte Bf. am 28.11. und 30.12. zwei Anträge auf Freilassung gestellt, die ein Untersuchungsrichter am 2.12. bzw. 3.1.1986 abgelehnt hatte. Am 19.3. stellte der Bf. einen dritten Haftprüfungsantrag, der am 24.3. abgelehnt wurde. Die gegen diese Entscheidung am 25.3. eingelegte „Beschwerde" wies der Aix-eti-Provence Cour d'Appel am 23.4. aus verfahrensrechtlichen Gründen als „nichtig" zurück. Auf die vom Bf. eingelegte Beschwerde hob der Cour de Cassation, bei dem die Verfahrensakte am 19.6. eingegangen war, diese Entscheidung am 13.9. auf und verwies den Fall an den Montpellier Cour d'Appel. Nachdem die Verfahrensakte dort am 1.10. eingegangen war, wies dieser am 24.10. die „Beschwerde" vom 25.3. als unbegründet zurück und bestätigte die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 24.3. Die vom Bf. am 19.11. beim Cour de Cassation eingelegte Beschwerde wurde am 24.2.1987 zurückgewiesen. Nach Ansicht des Bf. war die endgültige Entscheidung des Montpellier Cour d'Appel vom 24.10.1986 über seine Beschwerde vom 25.3.1986 nicht innerhalb kurzer Frist ergangen. Der EGMR stellte zunächst fest, dass die französischen Gerichte die ihnen nach nationalem Recht gesetzten Fristen zur Entscheidung eingehalten und der Bf. eine Verzögerung des Verfahrens zu vertreten hatte („a delay for which the applicant was responsible"), weil er die Beschwerde zum Cour de Cassation gegen die Entscheidung des Cour d'Appel vom 23.4.1986 erst am 28.5.1986 gestellt habe. Andererseits berücksichtigte der EGMR auch, dass die Versendung der Verfahrensakte „eine gewisse Zeit" benötigt habe. Obwohl er „Zweifel an der Gesamtlänge der substantiellen Prüfung der Haftbeschwerde vom 25.3.1986 hatte", verneinte er einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4, da der Bf. zwischen dem 25.3.1986 und 20.3.1987 keine weiteren Haftprüfungsanträge gestellt hatte, obwohl ihm dies nach französischem Recht jederzeit möglich gewesen wäre. Wird die Rechtmäßigkeit eines Freiheitsentzugs durch ein Gericht geprüft, genügt jedoch das dabei angewandte Verfahren nicht den von Art. 5 Abs. 4 geforderten Garantien, kommt es - wenn der Betroffene ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung einlegt für die Frist des Art. 5 Abs. 4 auf die Zeitspanne von der Antragstellung bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts an. Faktisch handelt es sich in diesem Fall gar nicht um ein „Rechtsmittelverfahren" im eigentlichen Sinne, weil erst das in zweiter „Instanz" entscheidende Gericht sämtliche Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 erfüllt. Der Fall ist eher vergleichbar mit der Problematik einer administrativen Vorprüfung. Wegen der bis zur Entscheidung des „Rechtsmittelgerichts" regelmäßig verstrichenen Zeit, wird man in den meisten Fällen nicht mehr von einer kurzen Frist ausgehen können. 517
9.
Überprüfung der Haftbedingungen
Die von Art. 5 Abs. 4 garantierte gerichtliche Überprüfung erstreckt sich nicht auf sämtliche Gesichtspunkte und Einzelheiten der Inhaftierung. Zwar fordert Art. 5 Abs. 1 die Rechtmäßigkeit jeder Haft sowohl in Bezug auf die Anordnung als auf den Vollzug und
517
EGMR, Bouamar ./. Belgien, Serie Α Nr. 129, § 63.
§ 3 Festnahme und Freiheitsentzug
373
die Durchführung der die Freiheit des Individuums beschränkenden Maßnahmen. Eine Überprüfung von Haftbedingungen verlangt Art. 5 Abs. 4 jedoch nur dann, wenn diese zur Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung gehören. Insofern sei noch einmal auf die Korrelation verwiesen, die zwischen den Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 und der von der gerichtlichen Überprüfung nach Art. 5 Abs. 4 geforderten Kontrolldichte besteht. Zur Frage der Überprüfbarkeit von Bedingungen und Begleitumständen einer Freiheitsentziehung hat der EGMR bisher eine deutliche Zurückhaltung gezeigt. Er hat sich beispielsweise auf die Aussage beschränkt, dass die Freiheitsentziehung einer psychisch kranken Person entsprechend dem von Art. 5 Abs. 1(e) verfolgten Zweck grundsätzlich nur dann rechtmäßig sei, wenn sie in einer Klinik, einem Krankenhaus oder einer anderen, zu diesem Vorhaben ermächtigten Institution vollzogen wird, jedoch zugleich klargestellt, dass Art. 5 Abs. 1(e) im übrigen nicht die angemessene Behandlung oder angemessene Unterbringungsbedingungen zum Gegenstand hat. Die Unterbringung und Behandlung unter geeigneteren Bedingungen in einer psychiatrischen Klinik anderer Art ist daher kein Tatbestand, der einer Kontrolle durch ein Gericht nach Art. 5 Abs. 4 unterliegt.518
518
EGMR, Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, §§ 44, 52.
§4
Die Rechte des Beschuldigten
I.
Recht auf eine der Konvention entsprechende Behandlung
1.
Allgemeine Grundsätze
Der Schutz, den die Konvention dem Beschuldigten gewährt, erschöpft sich nicht in den Haftgründen und Verfahrensgarantien der Art. 5 und 6. Vor allem für die Behandlung einer festgenommenen und inhaftierten Person ist die Vorschrift des Art. 3 von fundamentaler Bedeutung. An ihr muss sich nicht nur jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, sondern jegliche Art von Behandlung des Beschuldigten messen lassen, unabhängig davon, ob sie im Ermittlungsverfahren oder während des gerichtlichen Strafprozesses bzw. durch Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter oder sonstige mit der Strafverfolgung betraute staatliche Stellen erfolgt. Weil die Vorschrift des Art. 3 im Gegensatz zu Art. 6 nicht auf die Person des Beschuldigten zugeschnitten ist, setzt sie auch Maßstäbe für die Behandlung anderer am Strafverfahren beteiligter Personen. Man denke an dieser Stelle nur an die Verhängung von Ordnungs- oder Beugemitteln gegenüber Zeugen oder Personen, die an der Verhandlung vor dem Strafgericht teilnehmen. Art. 3 bestimmt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf („no one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment" / „nul ne peut etre soumis ä la torture ni ä des peines ou traitements inhumains ou degradants"). Die Vorschrift will in erster Linie die Würde und physische Integrität einer Person schützen („person's dignity and physical integrity"). Sie verkörpert einen der fundamentalen Werte jeder demokratischen Gesellschaft und besitzt damit eine stark integrative Wirkung. Aus ihr ergibt sich - negativ abgegrenzt - ein Minimum an Verhaltensregeln für die Behandlung und Vernehmung eines Tatverdächtigen. Die Stellung von Art. 3 innerhalb der Konvention wird dadurch gestärkt, dass sie im Gegensatz zu den Geboten und Verfahrensgarantien der Art. 5 und 6 absoluten Charakter hat („absolute character"). Der Wortlaut der Vorschrift selbst sieht keinerlei Ausnahmen vor. Selbst im Falle eines öffentlichen Notstandes iSv Art. 15 können die Vertragsstaaten nicht von ihr abweichen. 1
1
E G M R , Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 163; Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, §§ 30, 33, 38; Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, § 88; Vilvarajah ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 215, § 108; Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, § 30; Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-V, § 79; Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 62; Selguk u. Asker ./. Türkei, Reports 1998-11, § 75; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998VIII, §93.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
375
Auch eine Einschränkung wegen örtlicher Notwendigkeiten nach Art. 56 Abs. 3 (Art. 63 Abs. 3 a.F.) scheidet aus. Der EGMR hatte zunächst in Erwägung gezogen, im Falle örtlicher Notwendigkeiten auch eine an sich erniedrigende Strafe als mit Art. 3 vereinbar anzusehen. Als Notwendigkeiten wären insbesondere die Abschreckung vor der Begehung von Straftaten und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht gekommen, nicht aber bloße Glaubensansichten in der Bevölkerung oder eine spezifische regional vertretene öffentliche Meinung. Die Bestimmung des Art. 63 a.F. war in die Konvention aufgenommen worden, weil es zum Zeitpunkt ihrer Abfassung gewisse koloniale Territorien gab, deren zivilisatorische Entwicklung die volle Anwendung der EMRK nicht erlaubte. Der EGMR hat in den Entscheidungen Tyrer und Soering eine Anwendung von Art. 63 Abs. 3 auf Art. 3 wegen der mittlerweile fortgeschrittenen Entwicklung der europäischen Staaten kategorisch abgelehnt.2 Es ist daher nicht denkbar, dass in Europa eine örtliche Notwendigkeit iSv Art. 56 Abs. 3 für eine erniedrigende Behandlung besteht. Der herausragenden Stellung, die Art. 3 innerhalb der EMRK besitzt, trägt der Gerichtshof auch im Rahmen der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Rechnung. Bei Misshandlungen kann die Einhaltung dieses Zulässigkeitserfordernisses stark eingeschränkt und mitunter auch ganz entbehrlich sein.3 Wegen der in ihr enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe gehört die Vorschrift des Art. 3 zu den auslegungs- und konkretisierungsbedürftigsten Bestimmungen der gesamten Konvention. Aus ihrem Wortlaut lässt sich kaum erschließen, wann ein bestimmtes Verhalten der Strafverfolgungsbehörden gegen die dort genannten Verbote verstößt. Da die Mitgliedstaaten des Europarates zum Teil sehr unterschiedliche Rechtssysteme aufweisen, ist es durchaus denkbar, dass eine bestimmte Behandlung des Beschuldigten oder eine Vernehmungsmethode in einigen Rechtsordnungen auf eine gewisse oder gar uneingeschränkte Akzeptanz stößt, wohingegen sie nach dem Verständnis anderer Strafrechtssysteme eine breite Ablehnung erfahrt. Diese Unterschiede in den verschiedenen europäischen Rechtsordnungen hat der E G M R bei der Auslegung von Art. 3 berücksichtigt und die Konventionswidrigkeit einer bestimmten Behandlungsmaßnahme oder Strafe auch davon abhängig gemacht, ob diese in anderen europäischen Rechtsordnungen bekannt oder geläufig ist.4
2
3
4
EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, § 30; Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 161, §88. EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, §§ 56-57. Weil die Staatsanwaltschaft keinerlei Untersuchungen eingeleitet hatte, obwohl ihr die Verletzungen des Bf. bekannt waren, lag ein Verstoß gegen Art. 13 vor. Den innerstaatlichen Rechtsweg sah der EGMR als erschöpft an, obwohl der Bf. bei einem Gespräch mit einem Staatsanwalt anlässlich seiner Entlassung aus der Polizeihaft seine dort erlittenen Misshandlungen nicht ausdrücklich gerügt hatte. Es reichte hier aus, dass die durch die Misshandlungen erlittenen Verletzungen für den Staatsanwalt sichtbar waren („must have been clearly visible") und der Bf. angesichts der unterbliebenen Untersuchung berechtigterweise nicht davon ausgehen konnte, vor den staatlichen Gerichten Beachtung und Genugtuung zu erfahren („belief that he could not hope to secure concern and satisfaction through national legal channels"). Vgl. EGMR, Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 22.
376
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um unter eines der Verbote des Art. 3 zu fallen („minimum level of severity"). Die Beurteilung dieser Mindestschwere ist naturgemäß relativ. Sie hängt von den Umständen des Einzelfalls, von der Art und den Umständen der Behandlung, von der Art und Weise ihrer Durchführung, ihrer Dauer, von ihren physischen und psychischen Folgen sowie, in einigen Fällen, vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand der betroffenen Person ab („nature and context of the treatment or punishment, the manner and method of its execution, its duration, its physical and/or mental effects and, in some instances, the sex, age and state of health of the victim").5 Wie der EGMR zu Recht betont, kann Art. 3 nicht jede Form von Gewalt verbieten, wenn die Aufzählung seiner Verbote gewisse Konturen behalten soll. Es muss daher Gewalt geben, die zwar aus moralischen Gründen oder nach dem Rechtsverständnis eines oder mehrerer Vertragsstaaten zu verurteilen ist, aber trotzdem nicht vom Anwendungsbereich des Art. 3 erfasst ist.6 Fällt jedoch eine bestimmte Art der Behandlung unter eines dieser Verbote, kann andererseits bereits die drohende Möglichkeit ihrer Anwendung einen Konventionsverstoß bedeuten, vorausgesetzt die Behandlung steht wirklich und unmittelbar bevor.7 Darauf ist in Vernehmungssituationen genau zu achten. Hier darf dem Beschuldigten oder einem Zeugen keine Behandlung in Aussicht gestellt werden, die den Schweregrad einer Misshandlung iSv Art. 3 erreicht. Eine konturenscharfe Abgrenzung der Verbote des Art. 3 ist auch deshalb erforderlich, weil der EGMR es in der Entscheidung Raninen jedenfalls nicht ausgeschlossen hat, dass Art. 8 die Funktion eines Auffangtatbestandes für Misshandlungen festgenommener Personen zukommt, deren Folgen nicht den von Art. 3 geforderten Schweregrad erreichen.8 Andererseits hat er auch klargestellt, dass nicht jede Maßnahme, die sich auf die physische oder geistige Integrität einer Person auswirkt, zugleich einen Eingriff in ihr Privatleben bedeutet („not every act or measure which may be said to affect adversely the physical or moral integrity of a person"). Auch hier muss die Behandlung eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten („entailed such adverse effects/sufficient to bring it within the scope of the prohibition contained in Article 8"). Das ist schon deshalb richtig, weil die Konvention zwar explizit das Leben (Art. 2), nicht aber die körperliche Unversehrtheit einer Person schützt und der EGMR
5
6 7
8
EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 162; Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, §§ 89, 100; Cruz Varas u.a. ./. Schweden, Serie A Nr. 201, § 83; Vilvarajah ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 215, § 107; Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, § 30; Efstratiou ./. Griechenland, Reports 1996-VI, § 42; Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, § 55; Selguk u. Asker ./. Türkei, Reports 1998-11, § 76; Tekin ./. Türkei, Reports 1998-V, § 52; Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, § 64; A ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VI, § 20; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 94. EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 167; Tekin ./. Türkei, Reports 1998-V, § 52. EGMR, Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, § 26 („sufficiently real and immediate"). EGMR, Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, § 63 („it does not exclude the possibility that there might be circumstances in which Article 8 could be regarded as affording a protection in relation to conditions during detention which do not attain the level of severity required by Article 3").
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
377
mit der Verortung körperlicher Eingriffe unterhalb der Schwelle des Art. 3 auf der Ebene des Privatlebens auf einem schmalen Grat zwischen Gesetzgebung und Auslegung der Konventionsbestimmungen wandelt. Für das Verhältnis von Art. 3 zu Art. 8 ist auch die Aussage des EGMR im Fall Costello-Roberts von Bedeutung, Art. 3 stelle, gerade weil er sich mit Strafen beschäftigt, einen Ausgangspunkt bei der Beurteilung schulischer Disziplinarmaßnahmen dar („first point of reference"). Bei der Verhängung von Strafen oder Disziplinarmaßnahmen mag man dieser Ansicht durchaus zustimmen können. Der Begriff Behandlung hat jedoch eine weitergehende Bedeutung als die Strafe, so dass sich der Gerichtshof hier schwerer tun dürfte, einen Vorrang des Art. 3 gegenüber Art. 8 zu statuieren.9 Es bleibt daher abzuwarten, wie er in Zukunft mit Hilfe des von Art. 8 geschützten Privatlebens Behandlungen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 3 Grenzen setzen wird. Diesen Weg hat die Entscheidung Raninen keineswegs verbaut. Vielmehr verlangt die in dieser Hinsicht offene Formulierung des Gerichtshofs („does not exclude the possibility") von den Strafverfolgungsbehörden eine erhöhte Wachsamkeit. Geht es um die Vereinbarkeit bestimmter Vernehmungsmethoden mit der Konvention, so dürfen sich die Vertragsstaaten nicht allein an den zu Art. 3 ergangenen Urteilen orientieren. Vielmehr müssen sie darauf gefasst sein, dass der EGMR in Zukunft den Schutzbereich des Privatlebens weiter ausdehnt. Für inhaftierte Personen ist allerdings der von Art. 3 gewährte Schutz bereits jetzt sehr extensiv (dazu sogleich).
2.
Folter
Die Behandlungsverbote des Art. 3 unterscheiden sich vornehmlich in der unterschiedlichen Intensität des durch sie zugefügten Leidens. Bei der Suche nach einer Definition der Folter hat sich der EGMR zunächst an Art. 1 der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1975 angenommenen Resolution 3452 (XXX) orientiert.10 Schon wegen der Universalität der Menschenrechte ist dieser Prüfungsansatz zu begrüßen. Er erweist sich zudem als notwendig. Eine Divergenz im Schutzstandard der körperlichen Unversehrtheit auf europäischer und UN-Ebene muss in einem so wichtigen Punkt wie dem Folterverbot schon deshalb vermieden werden, um Tätern keinerlei „regionales" Rechtfertigungspotential zu liefern. Den Weg der Orientierung an den Vorgaben der Vereinten Nationen hat der EGMR im Urteil Selmouni konsequent fortgesetzt und sich bei der Herleitung der Kriterien für den Begriff der Folter auf Artikel 1 der UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 gestützt." 9
10
11
EGMR, Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, § 63; Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, § 36; X u. Y ./. Niederlande, Serie Α Nr. 91, § 22. „ Torture constitutes an aggravated and deliberate form of cruel, inhuman or degrading treatment or punishment" (zitiert nach: EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 167). BGBl. 1990 II 246; Art. 1 der Konvention lautet: „1. For the purposes of this Convention, the term , torture' means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally
378
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Ein wesentliches Kriterium für das Vorliegen einer Folter ist die Zufügung von Schmerzen mit einem gewissen Schweregrad.12 Aufgrund der dem Art. 3 immanenten und damit in der Konvention angelegten Differenzierung zwischen einer Folter und einer erniedrigenden bzw. unmenschlichen Behandlung („distinction drawn in Article 3") sieht sich der EGMR veranlasst, nur vorsätzliche, unmenschliche Behandlungen, die sehr schwere und grausame Leiden hervorrufen, mit dem Stigma der Folter zu versehen („deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering").13 Obwohl man anderes vermuten könnte, reicht es für die Annahme einer Folter nicht aus, dass eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung systematisch zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wird, etwa um der betroffenen Person ein Geständnis oder die Preisgabe von Informationen abzunötigen. Dass eine gewisse Relation zwischen der Behandlung und einem mit ihr verfolgten Ziel bestehen muss, hat schon das Urteil Aydin deutlich gemacht. Weil Art. 3 keine strafprozessuale Einkleidung besitzt, können freilich auch nicht originär strafprozessuale Ziele Anlass einer Folter sein.14 Über diese ZweckMittel-Relation hinaus müssen durch die Behandlung Leiden von besonderer Intensität oder Grausamkeit hervorgerufen werden.15 Für das Vorliegen einer Folter hat der E G M R im Urteil Aksoy auf drei Punkte abgestellt: die Vorsätzlichkeit der Behandlung, ihren Einsatzzweck sowie ihre gesundheitlichen Folgen. Der Bf. war Ende November 1992 von türkischen Sicherheitskräften wegen einer vermuteten PKK-Mitgliedschaft verhaftet worden. Er behauptete, im Anschluss an die Festnahme in einer Antiterror-Einrichtung zusammen mit zwei Mitgefangenen in einer 1,5 χ 3 Meter großen, nur mit einem Bett und einer Decke ausgestatteten Zelle bei zwei Mahlzeiten am Tag inhaftiert worden zu sein. Entsprechend den von der E K M R festgestellten Tatsachen ging der E G M R davon aus, dass der Bf. von Sicherheitskräften nackt ausgezogen und an seinen hinter dem Rücken verschränkten und zusammengebundenen Armen für etwa 35 Minuten aufgehängt worden war („Palestinian hanging"). Offenbar waren ihm während des anschließenden Verhörs die Augen verbunden worden. Weitere vom Bf. behauptete Folterungen - wiederholte Schläge, Anlegen von Elektroden an den Genitalien - konnte die E K M R dagegen nicht nachweisen. A m 8.12.1992 stellte ein Arzt fest, dass sich am Körper des Bf. keine Spuren von Schlägen oder Gewalt befanden. Als Ursache für die Verletzungen an den
inflicted on a person for such purposes as obtaining from him or a third person information or a confession, punishing him for an act he or a third person has committed or is suspected of having committed, or intimidating or coercing him or a third person, or for any reason based on discrimination of any kind, when such pain or suffering is inflicted by or at the instigation of or with the consent or acquiescence of a public official or other person acting in an official capacity. ..." 12 EGMR, Tyrer./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, § 29; vgl. auch: EGMR, Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, § 27. 13 EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 63; Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 82. 14 EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 85 (Erlangung von Informationen über PKK-Aktivitäten in einer Region). 15 Deshalb hat der Gerichtshof die während des Bürgerkrieges in Nordirland zur Vernehmung festgenommener Personen eingesetzten „fünf Techniken" nicht als Folter, sondern „lediglich" als erniedrigende und unmenschliche Behandlung iSv Art. 3 bewertet: EGMR, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, § 167.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
379
Armen gab ein Polizeibeamter einen Unfall an. Unmittelbar vor seiner Freilassung aus der Haft wurde der Bf. einem Staatsanwalt vorgeführt. Er weigerte sich, ein Dokument zu unterschreiben und wies als Grund auf die Lähmung seiner Arme hin. Am 10.12. wurde er aus der Polizeihaft entlassen, die mindestens vierzehn Tage gedauert hatte. Anlässlich eines Krankenhausaufenthaltes am 15.12. wurde eine Lähmung beider Arme festgestellt, die durch eine Nervenschädigung in den Oberarmen verursacht worden war („bilateral radial paralysis"). Anhaltspunkte dafür, dass der Bf. bereits vor seiner Verhaftung eine derartige Schädigung erlitten hatte oder diese Folge eines nach seiner Haftentlassung eingetretenen Unfalls waren, bestanden nicht. Die türkische Regierung hatte für die Verletzungen keine Erklärung geliefert. Der Gerichtshof ging von einer Behandlung „ernsthafter und grausamer Natur" aus („serious and cruel nature"), die nur vorsätzlich („deliberately inflicted") und mit einer notwendigen Vorbereitung und Anstrengung bei der Ausübung erfolgt sein konnte („certain amount of preparation and exertion"), um vom Beschuldigten ein Geständnis oder Informationen zu erlangen („administered with the aim of obtaining admissions or information"). Für eine Folter sprachen auch die durch die Behandlung verursachte Lähmung beider Arme für eine gewisse Zeit („paralysis of both arms which lasted for some time") und die dadurch bedingten starken Schmerzen („severe pain"), die sich aus dem medizinischen Befund ergaben.16 Die Vergewaltigung eines Gefangenen durch staatliche Polizei- oder Sicherheitskräfte sieht der E G M R als besonders gravierende und verabscheuungswürdige Form der Misshandlung an („especially grave and abhorrent form of ill-treatment"), vor allem wegen der Verwundbarkeit und schwachen Gegenwehr des inhaftierten Opfers („ease with which the offender can exploit the vulnerability and weakened resistance of his victim"). Aufgrund der mit einer Vergewaltigung verbundenen körperlichen Schmerzen („acute physical pain of forced penetration") und psychologischen Wunden („deep psychological scars") fällt diese Art der Misshandlung - jedenfalls bei inhaftierten Personen unter die Kategorie der Folter.17 Neben der Vergewaltigung hat der E G M R im Urteil Aydin auch eine „series of particularly terrifying and humiliating experiences", die eine inhaftierte Person in einen fortwährenden Zustand physischer Schmerzen und mentaler Angst versetzen („constant state of physical pain and mental anguish"), als Folter eingestuft. In diesem Zusammenhang kommt es nicht nur auf das Geschlecht und das Alter der inhaftierten Person, sondern auch auf den mit der Misshandlung verfolgten Zweck an, bevor abschließend festgestellt werden kann, ob „the accumulation of acts of physical and mental violence" den Grad einer Folter iSv Art. 3 erreicht. Einerseits ist es zu begrüßen, dass der E G M R im Urteil Aydin nicht davon abgesehen hat, die dortigen schweren Misshandlungen mit dem Testat der Folter zu versehen. Anderseits macht die Entscheidung aber auch deutlich, dass die Abstufungen und Grenzen der Behandlungsverbote des Art. 3 durchaus fließend verlaufen. Die ohnehin schon relativ abstrakten Kriterien der Vorsätzlichkeit („deliberate") und Schwere („very serious and cruel suffering"), die eine erniedrigende 16 17
EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, §§ 10-23, 58-64. EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, §§ 83, 86.
380
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
oder unmenschliche Behandlung in den Rang der Folter heben, werden zusätzlich noch dadurch aufgeweicht, dass am Ende immer eine Gesamtwürdigung der Umstände erforderlich ist. Insofern ist es aber zu begrüßen, dass der EGMR am Ende der Entscheidungsgründe wenigstens ausdrücklich und unmissverständlich klargestellt hat, dass sowohl die Vergewaltigung als auch die übrigen Misshandlungen für sich betrachtet jeweils eine Verurteilung wegen Folter nach sich gezogen hätten.18 Deutlicher herausgestellt hat der Gerichtshof die Kriterien für eine Folter im Urteil Selmouni. Wiederum ausgehend von Art. 1 der UN-Folterkonvention von 1984 verlangt eine Folter iSv Art. 3 demnach die absichtliche Zufügung („inflicted ... intentionally") schwerer physischer oder psychischer Schmerzen oder Leiden („severe pain or suffering, whether physical or mental") zu einem in Art. 1 genannten Zweck („inflicted ... intentionally for the purpose of ...") durch staatliche Stellen in Ausübung ihres Amtes („directly inflicted ... in the performance of their duties"). Die für eine Folter erforderliche Schwere („severe") der Leiden oder Schmerzen macht der Gerichtshof von drei Faktoren - ob alternative oder kumulative bleibt leider offen - abhängig: der Häufigkeit bzw. Wiederholung der Behandlung („large number of blows", „repeated assaults"), der Art der Behandlung („intensity of the blows") und der Nachhaltigkeit der Schmerzen bzw. Leiden („substantial pain").19 Bemerkenswert und für die Zukunft wegweisend ist der Hinweis des Gerichtshofs im Urteil Selmouni, dass eine in der Vergangenheit als unmenschlich oder erniedrigend eingestufte Behandlung im Laufe der Zeit den Grad einer Folter erreichen kann. Aufgrund der Adaptionsfahigkeit der Konvention an die jeweils geltenden Sozial- und Gesellschaftverhältnisse genießt die Bewertung und Klassifizierung einer bestimmten Art der Misshandlung durch den EGMR also keinerlei Bestands- oder gar „Vertrauensschutz".20
18
EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, §§ 20, 73, 84, 86. Die 17-jährige Bf. Aydin war von Polizeibeamten nackt ausgezogen, in einen Autoreifen gesetzt und herumgeschleudert worden. Die Beamten hatten dabei auf sie eingeschlagen und sie mit kaltem, aus Hochdruckpumpen gepresstem Wasser bespritzt. Später wurde die Bf. mit verbundenen Augen in einen Vernehmungsraum geführt und dort vergewaltigt. " EGMR, Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, § 102. Der Bf. war während der Polizeihaft mehrfach und intensiv geschlagen worden. Die Polizeibeamten hatten ihn an den Haaren gepackt, über den Boden geschleift und ihn gezwungen, über einen Flur zu laufen, an dessen beiden Seiten Beamte standen und ihm ein Bein stellen wollten. Der Bf. musste sich außerdem vor einer jungen Frau hinknien. Ein Beamter entblößte seinen Penis vor dem Gesicht des Bf., forderte diesen auf, den Penis in den Mund zu nehmen. Als der Bf. sich weigerte, urinierte der Beamte über diesem. Schließlich wurde dem Bf. mit einer Lötlampe und einer Injektionsspritze gedroht (§ 103). Die Misshandlungen stufte der EGMR als „physical and mental violence ... particularly serious and cruel" ein. Eine Folter nahm der EGMR auch im Urteil Cakici./. Türkei (Reports 1999-1V, § 92) an. 20 EGMR, Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, § 101 („the Court considers that certain acts which were classified in the past as „inhuman and degrading treatment" as opposed to „torture" could be classified differently in future. It takes the view that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies").
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
3.
Erniedrigende und unmenschliche Behandlung
a)
Erniedrigende
381
Behandlung
Für das Strafprozessrecht sind neben dem Verbot der Folter vornehmlich die Voraussetzungen einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung von Interesse, wohingegen der von Art. 3 verbotene Charakter einer Strafe vor allem für das Sanktionenrecht von Relevanz ist. Die meisten Strafprozessordnungen kennen jedoch Ordnungsmittel, die verhängt werden, wenn ein Verfahrensbeteiligter den ihm obliegenden Pflichten nicht nachkommt. Da solche Ordnungsmittel nicht nur disziplinarrechtliche, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch strafrechtliche Züge annehmen können, lohnt ein Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Kategorie der erniedrigenden oder unmenschlichen Strafe. Aus ihr können sich außerdem Rückschlüsse auf Kriterien ergeben, die für eine von Art. 3 verbotene Behandlung sprechen. Wann eine Strafe oder Behandlung erniedrigend bzw. unmenschlich ist, lässt sich nicht statisch beantworten. Der EGMR hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, welches im Lichte der jeweils geltenden gesellschaftlichen Verhältnisse interpretiert werden muss („living instrument which ... must be interpreted in the light of present-day conditions"). Bei der Suche nach Faktoren, die für den erniedrigenden oder unmenschlichen Charakter einer Strafe oder Behandlung sprechen, müssen fortschreitende Entwicklungen und allgemein akzeptierte Standards in der Strafvollstreckungspolitik der Mitgliedstaaten des Europarates Berücksichtigung finden.21 Gerade die Wortwahl „commonly accepted standard" lässt jedoch vermuten, dass der EGMR in dieser Frage stillschweigend von einem gemeinsamen Grundkonsens innerhalb der Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten ausgeht. Damit eine Bestrafung oder Behandlung unmenschlichen oder erniedrigenden Charakter hat, müssen die mit ihr verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in „rechtmäßigen Bestrafungen" enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen. Dabei kommt es nicht nur auf den mit einer Behandlung verbundenen physischen Schmerz an („physical pain"). Auch die mentale Furcht eines Menschen vor einer erwarteten Gewaltausübung kann hier maßgeblich sein („mental anguish of anticipating the violence"), bei Strafen etwa dann, wenn sich ihre Vollstreckung in beträchtlichem Maße verzögert („considerable delay before execution of the punishment").22 Spezielle Kriterien, nach denen der erniedrigende Charakter einer Behandlung bestimmt werden kann, konnte der Gerichtshof bisher nur am Rande entwickeln. Gerade deshalb müssen sich die Strafverfolgungsbehörden auch die Grundsätze zur erniedrigenden Wirkung von Strafen immer wieder vor Augen führen und entsprechende Parallelen
21
22
EGMR, Tyrer./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, § 31; Soering./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, § 102 („developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States"). E G M R , Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, § 100 („suffering or humiliation involved must in any event go beyond that inevitable element of suffering or humiliation connected with a given form of legitimate punishment").
382
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
ziehen. Um als erniedrigend eingestuft zu werden, muss die mit der Bestrafung verbundene Demütigung oder Herabsetzung einen gewissen Schweregrad erreichen, dessen Wirkung über das in jeder - richterlichen - Bestrafung enthaltene Element der Demütigung hinausgeht („particular level of severity"). Anderseits ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Person bereits durch die Tatsache ihrer strafrechtlichen Verurteilung gedemütigt wird. Die Bestimmung dieses minimalen Grades von Schwere ist naturgemäß relativ und hängt von sämtlichen Umständen des Einzelfalls ab.23 In den Entscheidungen Albert u. Le Compte und Raninen hat der EGMR das Element der Erniedrigung auch davon abhängig gemacht, ob die Strafe bzw. Behandlung den Zweck einer Herabwürdigung bzw. Erniedrigung verfolgt und die Persönlichkeit der betreffenden Person nachhaltig beeinträchtigen soll.24 Eine bestimmte Strafe kann auch dann erniedrigend sein, wenn sie bei einer außergewöhnlich unempfindsamen Person keine besonderen Auswirkungen zeigt. Ebenso kann eine ungewöhnlich empfindsame Person von einer drohenden Bestrafung stark berührt sein, die man ansonsten nicht als erniedrigend bezeichnen würde.25 Mit dieser Klarstellung will der EGMR vor allem dem von Art. 3 bezweckten /«cA'v;'i/«a/rechtsschutz Rechnung tragen. Anders als beim Kriterium der Unmenschlichkeit kommt es für den erniedrigenden Charakter einer Strafe nicht unbedingt auf die Zufügung von Schmerzen an. Eine Strafe kann auch dann erniedrigenden Charakter haben, wenn sie keine ernsteren oder länger wirkenden physischen Beeinträchtigungen zur Folge hat. Allerdings muss auch hier das für Art. 3 erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht werden. Erniedrigend kann eine Bestrafung bereits dann sein, wenn staatliche Behörden gegenüber der betroffenen Person nach nationalem Recht erlaubte und institutionalisierte Gewalt anwenden („institutionalised violence"). Auch ohne erhebliche physische Beeinträchtigungen ruft allein die Tatsache, dass die Person zum Objekt einer solchen staatlichen Gewalt wird, einen Verstoß gegen ihre von Art. 3 geschützte Würde und physische Integrität hervor. Institutionalisierenden Charakter kann eine Gewaltanwendung durch ihre Einbettung in ein offizielles Verfahren erhalten. Auch negative psychische Auswirkungen, die etwa daher rühren, dass der Betroffene vor der Gewaltanwendung einer erheblichen Angst ausgesetzt wird, können für den erniedrigenden Charakter einer Strafe sprechen. Ein ebenso relevanter Faktor ist der Zutritt der Öffentlichkeit bei der Ausführung der Bestrafung. Umgekehrt ist der Ausschluss der Öffentlichkeit aber kein Indiz für den nicht erniedrigenden Charakter einer Strafe, weil ein Mensch durchaus auch vor sich selbst Erniedrigung erfahren kann. Diese Aussage des EGMR ist vor allem deshalb wichtig, weil eine erniedrigende Behandlung in Verhör- und Vernehmungssituationen droht, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Schließlich verliert eine Strafe ihren
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EGMR, Tyrer./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, §§ 29-30; Costello-Roberts./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, § 30. E G M R , Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 22; Raninen ./. Finnland, Reports 1997VIII, § 55 („whether its object is to humiliate and debase the person concerned and whether it adversely affected his or her personality"). E G M R , Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, § 30.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
383
erniedrigenden Charakter nicht allein deshalb, weil zum Schutz der betroffenen Person bestimmte medizinische Vorkehrungen vorgesehen sind.26 Vorsicht ist immer geboten, wenn es um die Berücksichtigung einer öffentlichen Meinung und die Einstellung der Bevölkerung zu einer bestimmten Bestrafung geht. Eine bestimmte Strafe fallt nicht deshalb aus der Kategorie erniedrigend heraus, weil sie lange Zeit in Übung ist oder eine allgemeine Billigung in der Bevölkerung erfahrt. Teile einer Gesellschaft können gerade deshalb für die Beibehaltung einer bestimmten Strafe eintreten, weil sich das in ihr enthaltene Element der Erniedrigung als wirksames Mittel der Abschreckung erwiesen hat. Eine vermeintliche oder tatsächliche abschreckende Wirkung oder Effektivität bei der Kriminalitätskontrolle befreit eine bestimmte Art der Bestrafung nicht von ihrem erniedrigenden Charakter. Auf Bestrafungen, die gegen Art. 3 verstoßen, darf unter keinen Umständen zurückgegriffen werden, gleichgültig welche abschreckende Wirkung sie auch haben mögen. Ebenso ist der konkrete Tatvorwurf für den erniedrigenden Charakter einer Bestrafung regelmäßig unerheblich. Hat eine bestimmte Strafe weniger schwerwiegende Folgen als eine andere Art der Bestrafung, so kann sie dennoch als erniedrigend einzustufen sein.27 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich ein gegen Art. 3 verstoßendes Element der Erniedrigung in einer Strafe letztlich nur bei Betrachtung der konkreten Umstände des Einzelfalles feststellen lässt. Dabei wird es auch auf die Vorgehensweise der staatlichen Behörden ankommen. Vor allem körperliche Strafen („corporal punishment") stellen regelmäßig einen Angriff auf die Würde und die physische Integrität einer Person dar („may constitute an assault on a person's dignity and physical integrity").28 Ein Jugendgericht hatte eine Prügelstrafe gegen den 15-jährigen Schüler Tyrer verhängt (drei Birkenrutenschläge auf das entblößte Gesäß). Die Strafe wurde drei Wochen später in einer Polizeidienststelle von einem Polizeibeamten nach einer vorherigen gesetzlich zwingend vorgeschriebenen - ärztlichen Untersuchung des Jungen im Beisein seines Vaters ausgeführt. Der Junge musste hierzu seine Hose und Unterhose herunterlassen und sich über einen Tisch beugen. Während der Hiebe wurde er von zwei Polizeibeamten festgehalten, ein dritter führte die Hiebe aus. Beim ersten Hieb brachen Teile der Birkenrute. Der Bf. erlitt erhebliche Hautschwellungen. Der EGMR bewertete die Prügelstrafe nicht als unmenschlich, wohl aber als erniedrigend, obwohl eine vorherige medizinische Untersuchung vorgesehen, die Art und Weise ihrer Ausführung gesetzlich detailliert geregelt, ein Arzt bei der Ausführung anwesend war und die Einstellung der Bestrafung jederzeit hätte anordnen können, bei Kindern oder Jugendlichen ein Elternteil auf Wunsch anwesend sein und die Strafe von einem Polizeibeamten nur in Gegenwart von dessen Vorgesetztem ausgeführt werden konnte. Der Gerichtshof ging von einer institutionalisierten physischen Gewalt aus und berücksichtigte auch die möglichen negativen psychologischen Folgewirkungen. Ein gesteigertes
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EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, §§ 32-33; Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, § 32; Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, § 55. EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, §§ 31, 34; Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, § 29; vgl. hierzu: Riedel EuGRZ 1977,484, 485. EGMR, Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 247-C, § 30.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Element der Entwürdigung und Erniedrigung sah er darin, dass die Strafe auf dem entblößten Gesäß des Jungen ausgeführt worden war. Im Fall Costello-Roberts ging es um die körperliche Bestrafung eines 7-jährigen Schülers einer Privatschule, in deren Werbeprospekt die Einhaltung eines hohen Grades von Disziplin hervorgehoben, der Einsatz körperlicher Strafen jedoch nicht erwähnt wurde. Nachdem der Bf. u.a. für das Sprechen im Flur und zu spätes Insbettgehen den fünften Verweis erhalten hatte, verhängte der Direktor der Schule eine körperliche Strafe. Der Bf. war zuvor bereits dreimal verwarnt worden. Drei Tage später und fünf Tage nach dem fünften Verweis erhielt er vom Direktor drei Schläge auf das mit einer Hose bedeckte Gesäß mit einem gummibesohlten Gymnastikschuh. Andere Personen waren dabei nicht zugegen. Die Eltern waren weder von der Verhängung noch von dem Zeitpunkt der Vollstreckung der Strafe informiert worden. Die disziplinarrechtlichen Folgen der Strafe hielt der EGMR nicht für ausreichend, um sie als erniedrigend einzustufen. Er stellte maßgeblich auf das Alter des Bf., die konkrete Art der körperlichen Strafe, ihren Ausspruch und ihre rechtliche Grundlage, den Ort der Vollstreckung, die An- bzw. Abwesenheit weiterer Personen bei der Vollstreckung und den Zeitraum ab, der zwischen dem Ausspruch der Strafe und ihrer Vollstreckung lag. Trotz gewisser Bedenken hinsichtlich der automatischen Art der Bestrafung und der Zeitspanne von drei Tagen zwischen der Verhängung der Strafe und ihrer Vollstreckung, sah der EGMR weder den für Art. 3 erforderlichen Mindestschweregrad als erreicht noch den Schutzbereich des Art. 8 als eröffnet an, zumal der Bf. keine Beweise für schwere oder langandauernde Folgen der Bestrafung vorgebracht hatte. Es ist nicht zu erwarten, dass der E G M R bei der Beurteilung des erniedrigenden Charakters einer Behandlung wesentlich von den zur Strafe aufgestellten Grundsätzen abweichen wird. Demnach wird eine Behandlung dann als erniedrigend einzustufen sein, wenn die betroffene Person entweder in den Augen anderer oder vor sich selbst eine Demütigung oder Herabsetzung erfahrt, die ein Mindestmaß an Schwere erreicht („minimum level of severity"). Das erforderliche Maß muss mit Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden. Wie bei einer Bestrafung kann schon in der bloßen Androhung einer bestimmten Maßnahme eine erniedrigende Behandlung zu sehen sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Person, der diese Behandlung droht, einzig wegen des Risikos, ihr unterworfen zu werden, in den Augen anderer in dem für die Anwendbarkeit von Art. 3 notwendigen Maß herabgesetzt oder gedemütigt wird. Bloße Gefühle der Furcht oder Unruhe („feelings of apprehension or disquiet") reichen dagegen nicht aus. Zudem muss die Behandlung der Person unmittelbar drohen („directly threatened"). Nicht ausreichend ist es dagegen, dass eine bestimmte Behandlungspraxis zu einem gespannten Gruppenverhältnis oder zu einem Gefühl der Entfremdung bei den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe führt („group tension and a sense of alienation"). 29
29
EGMR, Campbell u. Cosans./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, §§ 28-30; vgl. auch: EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, § 32.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten b)
Unmenschliche
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Behandlung
Eine Strafe oder Behandlung ist unmenschlich, wenn sie die Herbeiführung intensiver physischer und/oder psychischer Leiden zur Folge hat. Wie bei jeder Misshandlung iSv Art. 3 müssen die eingetretenen Folgen körperlicher oder seelischer Art einen gewissen Schweregrad erreichen.30 Eine Brücke zur noch schwereren Misshandlungsform der Folter schlägt der EGMR dadurch, dass er die Bedrohung eines Menschen mit der Folter unter bestimmten Umständen als unmenschliche Behandlung ansieht. Nicht ausreichend für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung ist, dass ein bestimmtes, systematisches Verhalten staatlicher Stellen einen gewissen Grad an Furcht auslöst („certain degree of apprehension"), die bei den betroffenen Personen verursachten Folgen aber nicht den für Art. 3 erforderlichen Schweregrad erreichen.31 Das Urteil über die Staatenbeschwerde Irlands gegen das Vereinigte Königreich vermittelt außerdem den Eindruck, dass eine Behandlung nur dann unmenschlichen Charakter hat, wenn sie keinen Einzelfall („isolated incident") darstellt, sondern Teil einer Praxis ist („practice"). In diese Richtung wird man auch den Begriff „with premeditation" interpretieren müssen. Indes sollte es auf die Vorsätzlichkeit einer bestimmten Behandlung nur im Bereich der Folter ankommen. Die mangelnde Zielgerichtetheit eines staatlichen Vorgehens taugt nicht zur Rechtfertigung einer im übrigen unmenschlichen Behandlung. Die Staatenbeschwerde betraf im wesentlichen spezielle Vernehmungsmethoden. Während des Bürgerkrieges in Nordirland waren Vernehmungszentren geschaffen worden, in denen festgenommene Personen unter kombinierter Anwendung von „fünf Techniken" verhört wurden: (1) Die Häftlinge wurden gezwungen, über mehrere Stunden hinweg eine angespannte Körperhaltung einzunehmen („stress position"). Dabei mussten sie mit gespreizten Armen und Beinen auf den Zehen gegen eine Wand stehen, wobei das Körpergewicht weitgehend auf den Fingern ruhte („wall-standing"). (2) Den Häftlingen wurde ein dunkler Sack über den Kopf gezogen, der zumindest anfanglich nur bei Vernehmungen entfernt wurde („hooding"). (3) Vor dem Beginn der Vernehmungen wurden die Inhaftierten in einen Raum gebracht, in dem ununterbrochen ein lautes pfeifendes Geräusch herrschte („subjection to noise"). (4) Vor den Vernehmungen ließ man die Häftlinge nicht schlafen („deprivation of sleep"). (5) Während ihres Aufenthaltes im Vernehmungscenter und vor den Vernehmungen wurden sie einer reduzierten Diät ausgesetzt („deprivation of food and drink"). Der EGMR hat diese Techniken als erniedrigend und unmenschlich eingestuft. Erniedrigend waren sie deshalb, weil sie in ihren Opfern Gefühle der Furcht, der Angst und der Minderwertigkeit hervorriefen, die geeignet waren, sie zu erniedrigen, zu entwürdigen
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EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, § 29; Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, § 27 („suffering of the level inherent in these notions"). EGMR, Campbell u. Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, §§ 13, 26-27, 29-30. Die Situation, in der sich Schüler wegen der ihnen als disziplinarische Maßnahme drohenden körperlichen Züchtigungen befanden (Schläge auf die Handfläche mit einem Lederriemen, z.T. vor der versammelten Klasse), bewertete der EGMR weder als erniedrigende, noch als unmenschliche Behandlung, da die Schüler durch die Furcht vor den Strafen keine nachteiligen psychischen oder sonstigen Folgen erlitten hatten.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
und möglicherweise ihren physischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Besonders auf die Herbeiführung psychischer Folgeschäden hat der EGMR abgestellt. Unmenschlich waren die Techniken, weil sie in kombinierter Weise, mit Vorbedacht und über Stunden hinweg angewandt wurden, wenn nicht gar Körperverletzungen, so doch wenigstens intensives physisches und psychisches Leiden der ihnen unterworfenen Personen verursachten und zu akuten psychischen Störungen während der Vernehmungen führten. 32 Mit der Regelung der verbotenen Vernehmungsmethoden trägt § 136a StPO den strengen Anforderungen des Art. 3 Rechnung. 33 Als erniedrigend dürfte allerdings die Verabreichung eines Brechmittels zum Zwecke der Sicherstellung verschluckter Gegenstände anzusehen sein, zumindest dann, wenn sie in der Öffentlichkeit erfolgt. 34
4.
Gründliche und effektive Untersuchung
Nicht nur aus dem in Art. 2 geschützten Recht auf Leben, sondern auch aus den Behandlungsverboten des Art. 3 ergeben sich für die Justiz- und Strafverfolgungsbehörden konkrete Handlungspflichten. Wenn eine Person in vertretbarer Weise behauptet („arguable claim"), im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen von der Polizei oder von anderen staatlichen Personen in einer gegen Art. 3 verstoßenden Art und Weise misshandelt worden zu sein, muss eine effektive und offizielle Untersuchung der jeweiligen Umstände eingeleitet werden („effective official investigation"). Wie bei der Aufklärung gewaltsamer Tötungshandlungen (Art. 2) muss die Untersuchung so ausgestaltet sein, dass sie zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Personen führt („capable of leading to the identification and punishment of those responsible"). 35 Welche Bedeutung der E G M R dieser verfahrensrechtlichen Absicherung der Folter- und Behandlungsverbote des Art. 3 beimisst, zeigt sich darin, dass seiner Ansicht nach die in Art. 3 enthaltenen Verbote ohne eine solche Untersuchung praktisch leerliefen („ineffective in practice"), weil die staatlichen Stellen die Rechte von Personen straflos missbrauchen könnten. Weil der Beschuldigte eine Folter oder Misshandlung durch staatliche Behörden wegen der regelmäßig nicht vorhandenen Öffentlichkeit nur schwer nachweisen kann, leitet der E G M R einen Anspruch auf eine effektive Untersuchung auch aus Art. 13 ab.
32 33 34
35
E G M R , Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, §§ 96, 167, 174. Ebenso: Kühl ZStW 100 (1988) 601, 635. Ebenso: OLG Frankfurt, N J W 1997, 1647 (Verstoß gegen die Menschenwürde und Verwertungsverbot); keine grundsätzlichen Bedenken wegen der im Verhältnis zur Untersuchungshaft geringeren Eingriflsintensität: OLG Bremen, NStZ-RR 2000, 270; siehe auch das obiter dictum des BVerfG, StV 2000, 1 (keine grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich Menschenwürde und des in Art. 2 iVm Art. 1 I G G enthaltenen Grundsatzes der Selbstbelastungfreiheit). E G M R , Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 103; Selmouni ./. Frankreich, Reports 1999-V, § 79; vgl. zu Art. 2: E G M R , McCann u.a. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, § 161; Kaya ./. Türkei, Reports 1998-1, § 86; Yasa ./. Türkei, Reports 1998-VI, § 98.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Die von dieser Vorschrift geforderte wirksame Beschwerdemöglichkeit muss im Falle einer plausibel behaupteten Misshandlung durch staatliche Stellen neben der Gewährung einer Entschädigung eine gründliche und effektive Untersuchung vorsehen, die zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Personen führen kann und dem Betroffenen effektiven Zugang zu den Untersuchungen gewährt. Auch hier kommt es nicht darauf an, ob die betreffende Person eine Anzeige erstattet oder die Durchführung einer entsprechenden Durchsuchung beantragt hat.36 Behauptet eine Person, anlässlich einer Festnahme durch Polizeibeamte in Gegenwart mehrerer Zeugen misshandelt worden zu sein, so verlangt eine gründliche und effektive Untersuchung („sufficiently thorough and effective"), dass diese Zeugen aufgesucht und befragt werden, und zwar noch unmittelbar in Zusammenhang mit dem Vorfall, weil dann ihre Erinnerungen meist noch frisch sind („ascertain the truth through contacting and questioning these witnesses in the immediate aftermath of the incident, when memories would have been fresh"). Eine ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellte Vermutung, dass die Verletzungen einer Person auf ihrer Gegenwehr bei der Festnahme beruhen, ist ganz offensichtlich mit der von Art. 3 und Art. 13 geforderten gründlichen Untersuchung nicht in Einklang zu bringen.37 Hat die Misshandlung in einem bestimmten Raum oder Gebäude stattgefunden, müssen sich die Stellen, welche die Untersuchung durchführen, mit den Örtlichkeiten vertraut machen, um die Angaben der mutmaßlich misshandelten Person zu überprüfen.38 In den Fällen Tekin und Assenov nahm der EGMR jeweils einen Verstoß gegen Art. 3 und Art. 13 an, weil die Staatsanwaltschaft keine gründliche Untersuchung durchgeführt hatte. Im Fall Tekin hatte die Untersuchung erst 10 Monate nach der Haftentlassung des Bf. begonnen, obwohl dieser bereits bei der Entlassung eine Misshandlung durch zwei Aufseher behauptet hatte. Zwischen den Aussagen der beiden Aufseher lag ein Zeitraum von mehr als einem Jahr. Die erste Aussage war zudem erst 14 Monate nach der Entlassung des Bf. eingeholt worden. Auch im Fall Assenov war die Untersuchung nicht gründlich genug, weil mehrere unmittelbare Zeugen einer Festnahmeaktion nicht befragt worden waren und sich der die Untersuchungen leitende Beamte bereits früh darauf festgelegt hatte, dass die Verletzungen des Bf. nicht durch die festnehmenden Beamten verursacht worden waren, obwohl dies im Widerspruch zu einem medizinischen Attest stand. Der EGMR bemängelte auch, dass die Untersuchungsbeamten ohne jeden Anhaltspunkt von einer durch den Vater des Bf. geleisteten Gegen-
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EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, §§ 97-99 („the notion of an effective remedy entails, in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible and including effective access for the complainant to the investigatory procedure"); Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 103; Tekin ./. Türkei, Reports 1998-V, § 66; Cakici ./. Türkei, Reports 1999-IV, §§ 113-114; vgl. auch Art. 12 UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (BGBl. 1990 II 246): „... umgehend eine unparteiische Untersuchung ... ." EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 103-104. EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 106 („familiarise himself with the scene of the incident ... whether the locations were consistent with those mentioned by the applicant").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
wehr ausgegangen waren.39 Nicht unproblematisch sind die Forderungen, die der Gerichtshof für eine gründliche und effektive Untersuchung im Falle einer plausibel behaupteten Vergewaltigung einer inhaftierten Person stellt. Zwar mag es auf den ersten Blick durchaus einleuchten, dass Art. 13 in diesem Fall verlangt, dass „the victim be examined, with all appropriate sensivity, by medical professionals with particular competence in this area and whose independence is not circumscribed by instructions given by the prosecuting authority as to the scope of the examination". Mittelbar bedeutet diese an den Vertragsstaat gerichtete Forderung aber eine Pflicht des Vergewaltigungsopfers, sich für eine solche medizinische und psychologische Untersuchung zur Verfügung zu stellen. Oder anders ausgedrückt, ist das Tatopfer zu einer derartigen Untersuchung nicht bereit, muss man konsequenterweise den betreffenden Staat - freilich nur insoweit - vom Vorwurf einer mangelhaften Untersuchung freisprechen.40 Inwieweit sich eine solche „Pflicht" mit dem Opferschutz verträgt, wird der EGMR im einzelnen noch zu klären haben. Eine Parallele zum Schutz des Beschuldigten ist hier schwierig zu ziehen. Zwar ist der Beschuldigte nicht zu einer aktiven Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden verpflichtet. Auf ein solches Selbstbelastungsprivileg, das der EGMR dem Fairnessgebot entlehnt, kann sich das Tatopfer - auch als Zeuge - nicht berufen. Grenzen für die Mitwirkungspflichten von Opfern dürften sich - abgesehen von Art. 3 - nur über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erreichen lassen. Als Anknüpfungspunkt kommt hier das von Art. 8 geschützte Privatleben in Betracht.
5.
Anwendung physischer Gewalt gegenüber Personen, denen die Freiheit entzogen ist („person deprived of liberty")
Wegen der naturgemäß besonderen Brisanz, welche die Behandlung einer inhaftierten Person aufwirft, ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Straßburger Rechtsprechung mittlerweile einige Urteile zur Behandlung festgenommener und inhaftierter Beschuldigter finden. Der Gerichtshof hat in diesen Urteilen auf die von ihm in den Fällen Tyrer, Costello-Roberts und Campbell u. Consans entwickelten Grundsätze und Kriterien für die Beurteilung des erniedrigenden oder unmenschlichen Charakters einer Strafe bzw. Behandlung zurückgegriffen. In den meisten dieser Fälle erwies sich bereits die Ermittlung der fallentscheidenden Tatsachen und Umstände durch die Straßburger Kontrollorgane als äußerst schwierig. Darauf deuten jedenfalls der Inhalt und die Aufteilung der Urteilsgründe nach Tatsachenfeststellungen und den von der Konvention aufgeworfenen rechtlichen Problemen hin. 41
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EGMR, Tekin ./. Türkei, Reports 1998-V, §§ 66-69; Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 103-104, 117-118. EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, §§ 107-109. Wie bei der Weigerung des Tatopfers zur Teilnahme an entsprechenden Untersuchungen zu entscheiden ist, konnte der EGMR hier dahinstehen lassen, da die durchgeführten Untersuchungen auch in anderer Hinsicht mangelhaft waren. Zu den Grundsätzen der Ermittlung des Sachverhalts im Verfahren vor dem Gerichtshof: EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 32; Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 40; Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, §§ 86-90.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Im Urteil Ribitsch - und in Ansätzen auch schon im Urteil Tomasi - hat der Gerichtshof einen Grundsatz aufgestellt, dessen Tragweite und Bedeutung für den europäischen Menschenrechtsschutz gar nicht überschätzt werden kann: Jede Anwendung physischer Gewalt gegen eine ihrer Freiheit beraubte Person beeinträchtigt diese in ihrer Menschenwürde und stellt im Prinzip eine Verletzung der in Art. 3 garantierten Rechte dar, wenn sich die Gewaltanwendung nicht im Hinblick auf das eigene Verhalten der inhaftierten Person als unbedingt notwendig erweist („in respect of a person deprived of his liberty, any recourse to physical force which has not been made strictly necessary by his own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3")·42 Weder das Verhalten einer festgenommenen Person („victim's conduct") noch die Erfordernisse strafrechtlicher Untersuchungen oder Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der Kriminalität, namentlich auf dem Gebiet des Terrorismus, können Einschränkungen des von der Konvention gewährten Schutzes der physischen Integrität einer inhaftierten Person rechtfertigen.43 Hat der Beschuldigte unstreitig Verletzungen während einer Polizeihaft erlitten oder trägt er dies wenigstens schlüssig vor, folgt daraus für die Regierung des betroffenen Staates - im Verfahren vor dem Gerichtshof - eine erhöhte Darlegungslast, die letztlich auf eine Art Exkulpationspflicht hinausläuft. Die staatlichen Stellen müssen eine plausible Erklärung für die Ursache der Verletzungen geben („obligation to provide a plausible explanation of how the ... injuries were caused") und zufriedenstellend darlegen, dass die Verletzungen auf andere Weise als - allein, vor allem oder teilweise - durch die Behandlung des Inhaftierten entstanden sind.44 Um eine Verlagerung oder gar um eine Umkehr der Beweislast handelt es sich dabei jedoch nicht. Liefert nämlich der betroffene Staat eine plausible Erklärung für die Verletzungen der inhaftierten Person, so muss diese ihren „erschütterten" Sachvortrag und damit letztlich ihre Misshandlung beweisen. Die Annahme einer Parallele zum Anscheinsbeweis in Fällen typischer Beweisnot liegt damit näher.45 Die in der Entscheidung Ribitsch für den Fall einer rechtswidrigen Polizeihaft geforderte erhöhte Darlegungslast der staatlichen Stellen hat der Gerichtshof im Urteil 42
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EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 38; Tekin./. Türkei, Reports 1998-V, § 53; Assenov./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 94; Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, § 99; vgl. aber auch die noch auf die Schwere und Intensität der Behandlung abstellende Entscheidung Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, § 115. EGMR, Tomasi./. Frankreich, Serie Α Nr. 241, § 115; Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 38; Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, § 55. EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 34 („satisfactorily established that the ... injuries were caused otherwise than - entirely, mainly, or partly - by the treatment he underwent while in police custody"); vgl. auch: EGMR, Cakici./. Türkei, Reports 1999-IV, §§ 86-87 (Tod nach Inhaftierung; Verstoß gegen Art. 2): „no explanation has been forthcoming from the authorities as to what occurred following his apprehension, nor any ground of justification relied on by the Government in respect of any use of lethal force by their agents. Liability for Ahmet Cakici's death is therefore attributable to the respondent State and there has accordingly been a violation of Article 2 on that account". Ebenso: Rudolf EuGRZ 1996,497, 500; für eine Beweislastumkehr: KühnelNash JZ 2000,996, Fn. 4.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Aksoy auf jegliche Form von Polizeihaft verallgemeinert und erweitert. Dies ist zu begrüßen, weil nicht ersichtlich ist, inwieweit die Rechtswidrigkeit einer Inhaftierung ein Kriterium für einen Verstoß gegen Art. 3 durch den Einsatz körperlicher Gewalt sein kann. Dass sich auch die Behandlung einer rechtmäßig inhaftierten Person an Art. 3 messen lassen muss, bedarf keiner Erwähnung. Auch die Beschränkung dieser Grundsätze auf eine „Polizeihaft" ist letztlich unergiebig. Die Verantwortlichkeit eines Staates für das körperliche Wohlergehen einer inhaftierten Person darf nicht an solch formalen Kriterien festgemacht werden. Bei fundamentalen Aussagen zum europäischen Menschenrechtsschutz muss der EGMR mehr Mut zeigen und sich von den Umständen des konkret zu entscheidenden Falles lösen. Es ist nicht zu erwarten, dass er die Grundsätze zur Behandlung inhaftierter Personen auf eine Polizeihaft im engeren Sinne beschränken wird. Sie dürften und müssen für jede Art von Inhaftierung gelten, in denen eine Person vollständig der staatlichen Kontrolle und Aufsicht unterliegt. Wird also eine Person bei guter Gesundheit in Haft genommen und lassen sich bei ihr zum Zeitpunkt der Entlassung Verletzungen feststellen, muss der betroffene Staat eine plausible Erklärung für die Verursachung dieser Verletzungen liefern.46 Um später eine solche plausible Erklärung geben zu können, wird man den Strafverfolgungsbehörden die umfassende Dokumentierung der Haftsituation und der gegenüber der Person durchgeführten Maßnahmen empfehlen müssen. Das schließt vor allem medizinische Untersuchungen und deren Befunde ein, weil nur auf diese Weise der Zustand des Körpers bzw. das Auftreten von Verletzungen zu einem späteren Zeitpunkt lückenlos nachvollzogen werden kann. Zu diesem Zweck ist die ordentliche Führung eines Gefangenenbuches oder -registers ratsam, weil der EGMR solche Aufzeichnungen als Grundlage seiner Entscheidung heranzieht. 47 Eine mit Art. 3 unvereinbare Misshandlung hängt nicht von der persönlichen Verantwortlichkeit der jeweiligen staatlichen Stellen ab. Insbesondere ist nicht von Bedeutung, ob die für die Behandlung verantwortlichen Personen für ihr Handeln vor den nationalen Gerichten strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können. Wie der EGMR im Urteil Ribitsch in lobenswerter Deutlichkeit hervorgehoben hat, entbindet der auf der Grundlage der Unschuldsvermutung erfolgte Freispruch eines für die Festnahme oder Inhaftierung verantwortlichen Beamten durch ein Strafgericht den betroffenen Vertragsstaat nicht von seiner Verantwortlichkeit nach der Konvention. Der Ausgang eines Strafverfahrens, in dem der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderliche Beweis einer Misshandlung nicht erbracht werden kann, steht einer Verurteilung des Staates nach Art. 3 nicht entgegen. Daran hätte man durchaus zweifeln können, weil die Konvention den Grundsatz der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 garantiert. 48 Die exakte
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EGMR, Aksoy ./. Türkei, Reports 1996-VI, § 61 („where an individual is taken into police custody in good health but is found to be injured at the time of release, it is incumbent on the State to provide a plausible explanation as to the causing of the injury"); Selmouni./. Frankreich, Reports 1999-V, § 87. Vgl. EGMR, Aydin ./. Türkei, Reports 1997-VI, § 40. EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 34; vgl. auch: EGMR, Selmouni ./. Frankreich, Reports 1999-V, § 87.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Differenzierung zwischen Art. 3 und Art. 6 Abs. 2 ist aber geboten, weil die Unschuldsvermutung nicht den Vertragsstaat, sondern nur die verantwortlichen Personen vor einer strafrechtlichen Verurteilung schützen soll. Daher gilt der Gedanke, dass die Ausübung bzw. Geltendmachung einer Konventionsgarantie zur Einschränkung einer anderen führen kann, hier nicht, weil sich der Staat nicht auf die Konvention berufen kann. Umgekehrt dürfen aber nationale Strafgerichte auf gar keinen Fall den Exkulpationsansatz des EGMR übernehmen. Sie müssen über die persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit des Haftpersonals streng auf der Basis des Art. 6 Abs. 2 entscheiden. Auf den ersten Blick würde man erwarten, dass auch die Anwendung von Gewalt gegenüber festgenommenen oder inhaftierten Personen nur dann gegen Art. 3 verstößt, wenn sie den vom EGMR - u.a. im Urteil Tyrer - geforderten Schweregrad erreicht. Indes hat sich der Gerichtshof in Fällen, in denen es um die Misshandlung inhaftierter Personen ging, weitgehend von dem Kriterium der Schwere der Misshandlung gelöst, welches seinerseits durch die mit einer Maßnahme verbundenen physischen oder psychischen Folgen bestimmt wird. Im Fall Tomasi wurde dies noch nicht deutlich, weil der EGMR hier noch auf die Häufigkeit und die Intensität der dem Bf. in der Polizeihaft zugefügten Schläge abstellte. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist das zustimmende Sondervotum von Richter de Meyer, der die Ansicht vertrat, dass das Schlagen eines in Polizeihaft befindlichen Verdächtigen nicht erst dann verboten sei, wenn es - insbesondere was die Intensität und Häufigkeit von Schlägen betrifft - einen gewissen Mindestschweregrad überschreitet. Seine Warnung und Bedenken, die Urteilsgründe im Fall Tomasi in diese Richtung zu interpretieren, wurden vom EGMR im Urteil Ribitsch aufgegriffen.49 Der Bf. Tomasi hatte verschiedene Misshandlungen während einer Polizeihaft behauptet. Gegen einen Verstoß gegen Art. 3 sprachen nach Ansicht der französischen Regierung die Geringfügigkeit der Verletzungen, das Alter und der gute Gesundheitszustand des Bf., die mäßige Dauer der Verhöre, die zu diesem Zeitpunkt auf Korsika herrschende Kriminalitätslage sowie die Schwere der dem Bf. zur Last gelegten Tat (Beteiligung an einem Terroranschlag auf ein Erholungszentrum der Fremdenlegion). Ohne das System und die Umstände der Polizeihaft in Frankreich oder die Dauer und Häufigkeit der Verhöre zu prüfen, ging der EGMR allein aufgrund der Intensität und Vielzahl der dem Bf. in der Haft zugefügten Schläge („large number of blows ... and their intensity") von einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung aus. Unberücksichtigt blieben die Schwierigkeiten bei der Bekämpfung des Terrorismus auf Korsika. Neben Schlägen hatte der Bf. noch weitere Misshandlungen behauptet: Ohrfeigen, Fußtritte, Faust- und Handkantenschläge, lang andauerndes Stehen ohne Stütze, Handschellen im Rücken, Anspucken, totale Entkleidung vor einem offenen Fenster, Vorenthaltung von Nahrung, Bedrohungen mit einer Waffe sowie den Zeitpunkt und die Dauer der Verhöre. Auf diese Vorwürfe ging der EGMR jedoch nicht ein, sondern stützte den Konventionsverstoß ausschließlich auf die aus ärztlichen Gutachten ersichtlichen, aus den Schlägen resultierenden Verletzungen.50
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EGMR, Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, Concurring Opinion of Judge de Meyer. EGMR, Tomasi./. Frankreich, Serie A Nr. 241-A, §§ 43-45,49, 52, 108, 115.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Seit der Entscheidung Ribitsch besteht kein ernstlicher Zweifel mehr daran, dass inhaftierte Personen einen besonderen Schutz vor körperlicher Gewalt genießen. Bei ihnen kommt es für den Verstoß gegen Art. 3 lediglich auf das Vorliegen einer staatlichen Gewaltanwendung („recourse to physical force") und deren fehlende Erforderlichkeit an („which has not been made strictly necessary by his own conduct"). Damit löst sich der EGMR von der Begutachtung der Folgen der Gewaltanwendung und sanktioniert bei diesem Personenkreis bereits das mit einer Gewaltanwendung verbundene Handlungsunrecht. Das war notwendig, denn eine Übertragung der auf dem Gebiet schulischer Disziplinarmaßnahmen entwickelten Grundsätze auf die Behandlung inhaftierter Personen hätte den Einsatz von Gewalt durchaus erlaubt, solange die Umstände und die mit dem Einsatz verbundenen Folgen nicht den von Art. 3 geforderten Schweregrad erreichten. Faktisch hat der Gerichtshof damit ein von dem strengen Schwerekriterium losgelöstes Gewaltverbot gegenüber inhaftierten Personen statuiert. Das bedeutet zugleich, dass der für die staatlichen Stellen geltende Darlegungs- und Rechtfertigungszwang schon den Einsatz der Gewalt betrifft, nicht erst deren Folgen. Eine Art Exkulpationspflicht für den Einsatz staatlicher Gewalt gegenüber inhaftierten Personen löst noch nicht das häufig vor dem Gerichtshof auftretende Problem, dass sich der Einsatz einer solchen Gewalt nur schwer nachweisen lässt. Auf eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die Anwendung körperlicher Gewalt hat der Gerichtshof im Fall Ribitsch - naturgemäß aus der Retrospektive - anhand der Art und des Ausmaßes der nach der Freilassung ärztlich dokumentierten Verletzungen geschlossen.51 Wenngleich ein solcher Prüfungsansatz doch wieder den Rückgriff auf ein gewisses Schwereelement erkennen lässt, so liegt diese Vorgehensweise nahe, weil sich die Beweislage in derartigen Verfahren oftmals als dürftig erweist. In den meisten Fällen werden sich Aussagen der an dem konkreten Vorfall beteiligten Personen widersprechen. Auf die Aussagen von Zeugen kann der Gerichtshof regelmäßig gar nicht oder - wie die Entscheidung Assenov zeigt - allenfalls bei einer Misshandlung im Rahmen einer Festnahmeaktion zurückgreifen. Art und Umfang der Verletzungen, die eine inhaftierte Person erlitten hat, sind damit auch weiterhin für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 3 von Relevanz. Auf sie kommt es allerdings nur insofern an, als sie Aufschluss über den Einsatz - das „Ob" - von Gewalt gegenüber der inhaftierten Person geben. Die Polizei hatte nach einem anonymen Hinweis auf ein Drogengeschäft den Bf. Ribitsch und dessen Frau verhaftet und deren Wohnung durchsucht. Beide befanden sich vom 31.5.12.30 Uhr bis 2.6.1988 9.30 Uhr in polizeilichem Gewahrsam. Während dieser Zeit erlitt der Bf. Verletzungen (Prellungen am Arm, Halswirbelsyndrom, starke Kopfschmerzen), die nach der Freilassung in einem Krankenhaus und von einem Haus51
EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, § 39 („injuries suffered ... show that he underwent ill-treatment which amounted to both inhuman and degrading treatment"); zu den Beweisproblemen bei staatlichen Misshandlungen allgemein und dem Problem, dass beim Prüfungsansatz des EGMR nicht sauber zwischen der Beweiswürdigung und einer Beweislastverteilung differenziert werden kann: Rudolf EuGRZ 1996, 497; eingehend zu den Beweislastfragen im Völkerrecht: Kokott Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 12-24, 396-420.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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arzt festgestellt wurden. Der Bf. behauptete, die Verletzungen seien ihm bei einer Vernehmung durch Polizeibeamte zugefügt worden. Zwei Beamte gaben dagegen an, der Bf. habe sich die Verletzungen durch einen Sturz beim Aussteigen aus einem Polizeifahrzeug zugezogen. Ein Beamter war vom Vorwurf der Misshandlung durch ein Strafgericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Trotz des Freispruchs ging der Gerichtshof von einem Verstoß gegen Art. 3 aus, weil die österreichische Regierung keine plausible Erklärung für die ärztlich festgestellten Verletzungen geben konnte, die der Bf. unstreitig während der Polizeihaft erlitten hatte, wo er vollständig unter der Kontrolle der Beamten gewesen war. Sowohl die Inhaftierungsbedingungen als auch die Umstände während der anschließenden Vernehmung sprachen im Fall Tekin für das Vorliegen einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung. Der Bf. war nach seiner Festnahme durch türkische Sicherheitskräfte in einer kalten und dunklen Zelle inhaftiert worden. Während seiner Vernehmung waren ihm die Augen verbunden sowie Wunden und Blutergüsse zugefügt worden.52 In drei weiteren Entscheidungen, die gegenständlich die Problematik körperlicher Gewalt gegenüber einer festgenommenen Person betrafen, war es zwischen den Verfahrensbeteiligten zu einer gütlichen Einigung gekommen, so dass der Gerichtshof die Fälle aus seinem Register strich. 53
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EGMR, Ribitsch ./. Österreich, Serie A Nr. 336, §§ 7-13, 17, 22, 34, 38-39 („injuries suffered by Mr Ribitsch show that he underwent ill-treatment which amounted to both inhuman and degrading treatment"); Tekin ./. Türkei, Reports 1998-V, §§ 7-10, 24, 52-54. Der Bf. Hurtado war am Mittag des 5.10.1989 von sechs Beamten einer Polizeispezialeinheit festgenommen worden. Die Beamten hatten vor dem Betreten des Gebäudes, in dem sich der Bf. aufhielt, eine Handgranate gezündet, den Bf. auf den Boden gezwungen, ihm Handschellen angelegt und eine Kapuze übergezogen. Sie sollen ferner auf ihn eingeschlagen haben, bis dieser das Bewusstsein verlor. Nach seiner Festnahme wurde der Bf. auf eine Polizeistation verbracht und dort verhört. Seine durch die Festnahme verschmutzten Kleider konnte er nicht vor seiner Ankunft im Gefängnis am Abend des 6.10. wechseln. Obwohl er spätestens am 7.10. um die Hinzuziehung eines Arztes gebeten hatte, fand eine ärztliche Untersuchung erst am 13.10. statt. Bei einer Röntgenuntersuchung wurde eine Rippenfraktur festgestellt. Die Festnahme selbst verstieß nach Ansicht der EKMR nicht gegen Art. 3, wohl aber das Tragen der verschmutzten Kleidung und die Nichtgewährung einer sofortigen medizinischen Versorgung (EGMR, Hurtado ./. Schweiz, Serie A Nr. 280-A, §§ 7-8, 12-14). Im Fall Diaz Ruano war der Sohn des Bf. während eines Verhörs in Polizeihaft von einem Polizeibeamten erschossen worden, nachdem er zuvor einem anderen Beamten die Dienstwaffe entwendet und auf ihn geschossen hatte. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams wurden zahlreiche oberflächliche Spuren auf verschiedenen Teilen des Körpers gefunden, von denen aber nicht mehr geklärt werden konnte, ob sie vor oder nach der Erschießung entstanden waren. Die Pathologen bestätigten zwar, dass sie vor Eintritt des Todes aufgetreten sein mussten, die Möglichkeit, dass sie nicht auf einer Misshandlung beruhten, konnte jedoch nicht ausgeschlossen werden. Das spanische Gericht, vor dem der Polizeibeamte angeklagt worden war, konnte die Ursache der Verletzungen nicht ermitteln. Die EKMR hatte einen Verstoß gegen Art. 2 und Art. 3 verneint (EGMR, Diaz Ruano ./. Spanien, Serie A Nr. 285). Auch im Fall Sur hatte der Bf. schwere Misshandlungen durch polizeiliche Vernehmungsbeamte während einer 2-tägigen Polizeihaft behauptet, darunter das Verbinden der Augen für längere Zeit, Faust- und Stockschläge, Liegen auf dem Boden im nackten Zustand und die Zufügung von Elektroschocks auf Füße, Fingernägel und Hoden. Aufgrund der zwei Tage nach der Entlassung aus der Haft durch einen Arzt festgestellten Verletzungen ging die EKMR von einem Verstoß gegen Art. 3 aus (EGMR, Sur ./. Türkei, Reports 1997-VI, §§ 10-24, 28, 31).
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6.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Haftbedingungen
Neben dem Einsatz körperlicher Gewalt gegenüber einer inhaftierten Person können auch die Bedingungen, unter denen eine Person inhaftiert ist, die Vereinbarkeit eines Strafverfahrens mit der Konvention in Frage stellen. Auf die gewisse Beziehung, die Art. 5 zwischen dem Grund und den Bedingungen einer Inhaftierung verlangt, wurde bereits im Kapitel zur Vereinbarkeit freiheitsentziehender Maßnahmen mit der Konvention hingewiesen. Bei einer Polizeihaft oder strafprozessualen Untersuchungshaft dürften sich hier allerdings kaum Probleme ergeben, weil der Zweck der Inhaftierung - die Sicherstellung der Anwesenheit der Beschuldigten im Strafprozess bzw. die Verhinderung weiterer Straftaten - durch jede beliebige Inhaftierungsform zu erreichen ist. Deshalb ist es um so wichtiger, dass Art. 3 für die Umstände und Bedingungen einer Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1(c) eine absolute Schranke setzt. Allgemein müssen bei der Beurteilung, ob bestimmte Haftbedingungen gegen die Konvention verstoßen, sämtliche Umstände berücksichtigt werden, wie etwa das Alter der inhaftierten Person, die Größe und eine mögliche Überbelegung des Haftraums, die sanitären Verhältnisse, Möglichkeiten der Erholung und Ertüchtigung, die medizinische Betreuung und der Gesundheitszustand des Gefangenen. 54 Die Vereinbarkeit einer Haftsituation mit Art. 3 hatte der EGMR erstmals im Urteil Guzzardi zu überprüfen, das die Verbannung einer Person auf eine Mittelmeerinsel betraf. Die dortigen Lebensumstände hielt der Gerichtshof zwar für unerfreulich und unangenehm. Sie erreichten seiner Ansicht nach jedoch nicht den von Art. 3 geforderten Schweregrad.55 Um die Unterbringung einer psychisch kranken Person in der psychiatrischen Abteilung eines Gefängnisses ging es im Fall Aerts. Bei der Unterbringung psychisch Kranker kann sich gerade aus dem Zusammenspiel vom Zweck der Unterbringung und der in der jeweiligen Einrichtung vorhandenen Pflege und Betreuung der dort untergebrachten Personen ein Konventionsverstoß ergeben. Selbst wenn die Einrichtung dem Zweck der Unterbringung offensichtlich nicht entspricht und im Gegenteil sogar eine Verschlechterung des geistigen Zustands einer bereits psychisch kranken Person befürchten lässt, soll dies nicht unbedingt für eine mit Art. 3 unvereinbare Situation sprechen. Problematisch an der Entscheidung Aerts ist freilich, dass der Gerichtshof einen Konventionsverstoß abgelehnt hat, weil sich der Gesundheitszustand des Bf. nicht verschlechtert hatte („no proof of a deterioration of ... mental health", „living conditions ... do not seem to have had such serious effects on his mental health as would bring them within the scope of Article 3"). Wenn Art. 3 einen effektiven Schutz vor unmenschlichen und erniedrigenden Haftsituationen gewähren soll, darf es auf den tatsächlichen Eintritt negativer Folgen durch die Umstände einer Inhaftierung oder Unterbringung gerade nicht ankommen. Im konkreten Fall hatte selbst eine staatliche Stelle die den untergebrachten Personen gewährte Pflege und Betreuung als „below the minimum acceptable from an ethical and
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EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, § 135. EGMR, Guzzardi./. Italien, Serie A Nr. 39, §§ 95, 107.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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humanitarian point of view" bezeichnet u n d hatte im Falle einer längerfristigen U n t e r b r i n g u n g ein „undeniable risk of a deterioration of their mental health" gesehen. 5 6 Wie d a s Urteil Assenov zeigt, ist der G e r i c h t s h o f nicht bereit, seine f ü r die A n w e n d u n g physischer Gewalt gegenüber inhaftierten Personen entwickelten Exkulpationsg r u n d s ä t z e auf die Beurteilung von H a f t b e d i n g u n g e n zu übertragen. Hier gilt weiterhin d a s allgemeine Schwerekriterium des A r t . 3. Im Fall Assenov war gegenüber dem 17 Jahre alten Bf. wegen des Verdachts der Beteiligung an mehreren Raubüberfallen Untersuchungshaft angeordnet worden. Diese wurde zunächst auf einer Polizeistation vollzogen. Die Bedingungen der Inhaftierung waren zwischen den Verfahrensbeteiligten streitig. Der Bf. hatte behauptet, zeitweilig mit zwei oder vier weiteren Personen in einer 3 χ 1,80 Meter kleinen, unterhalb der Erdoberfläche befindlichen Zelle untergebracht gewesen zu sein, in die nur wenig Licht und frische Luft gekommen sei. In der Zelle sei ihm jede Aktivität oder Beschäftigung untersagt worden. Nur zweimal täglich habe er die Zelle für einen Toilettengang verlassen dürfen. Obwohl die Staatsanwaltschaft bereits 4 Monate nach Beginn der Haft die Verlegung des Bf. in eine Jugendhaftanstalt mit der Begründung gefordert hatte, eine weitere Inhaftierung in Polizeihaft sei für die physische und geistige Entwicklung des Bf. schädlich, fand die Verlegung erst nach 3 '/ 2 Monaten statt. Später wurde der Bf. noch einmal für 2V2 Monate in der Polizeistation inhaftiert. Insgesamt hatte er sich über die Dauer von fast elf Monaten in Polizeihaft befunden. Nach Ansicht des E G M R bestanden keine objektiven Beweise („objective evidence") dafür, dass die Haftbedingungen den für Art. 3 erforderlichen Schweregrad erreichten („conditions of ... detention were [not] sufficiently severe as to give rise to a violation of Article 3"). 57 D a f ü r dass der G e r i c h t s h o f a u c h in a n d e r e n von A r t . 3 a u f g e w o r f e n e n Fragen a m Element der Mindestschwere f ü r eine M i s s h a n d l u n g festhält, sprechen die Urteile z u m Einsatz türkischer Sicherheitskräfte bei der B e k ä m p f u n g der P K K . Im Urteil Selfuk u. Asker bewertete er das geplante, absichtliche und ohne Rücksicht auf die Bewohner erfolgte Anzünden und Niederbrennen von Wohnhäusern durch türkische Sicherheitskräfte als unmenschliche Behandlung, weil die Bf. ihre Lebensgrundlage verloren hatten, zum Verlassen des Dorfes gezwungen worden waren und dem Niederbrennen zuschauen mussten. Eine Misshandlung iSv Art. 3 nahm der Gerichtshof an, weil das Handeln der Sicherheitskräfte ein Leiden von ausreichender Schwere verursacht hatte („suffering of sufficient severity"). 58 D i e Vereinbarkeit von Z w a n g s m a ß n a h m e n u n d die Einleitung einer Z w a n g s e r n ä h r u n g gegenüber einer inhaftierten o d e r u n t e r g e b r a c h t e n Person, ü b e r die der G e r i c h t s h o f im Fall Herczegfalvy59 zu entscheiden hatte, betrifft einen A s p e k t des Haftvollzugs. Auf sie w u r d e bereits im Kapitel z u m Vollzug freiheitsentziehender M a ß n a h m e n eingegangen.
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EGMR, EGMR, EGMR, EGMR,
Aerts ./. Belgien, Reports 1998-V, §§ 64-65. Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 133-136. Sel?uk u. Asker ./. Türkei, Reports 1998-11, §§ 27-32, 75-80. Herczegfalvy ./. Österreich, Serie A Nr. 244, § 82.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Durchführung einer Festnahme
Die abschließenden Haftgründe des Art. 5 Abs. 1 geben lediglich darüber Aufschluss, unter welchen Bedingungen eine Person festgenommen und inhaftiert werden darf. Neben diesen allgemeinen Voraussetzungen für einen Eingriff in die persönliche Freiheit muss auch die Art und Weise einer Festnahme mit der Konvention vereinbar sein. Insbesondere dürfen die anlässlich einer Festnahme ergriffenen Maßnahmen nicht gegen Art. 3 verstoßen. Ähnlich wie der Überprüfung von Haftbedingungen hat der EGMR in den Fällen Klass und Assenov auch für Verletzungen, die eine Person bei der Festnahme durch staatliche Beamte erlitten hat, höhere Anforderungen an die Annahme eines Konventionsverstoßes gestellt, als er dies beim Einsatz physischer Gewalt gegenüber inhaftierten Personen getan hat. Insbesondere hat er die im Fall Ribitsch entwickelte Exkulpationspflicht der staatlichen Behörden hier nicht angewandt. Während die Bf. Tomasi und Ribitsch ihre Verletzungen während einer Inhaftierung erlitten hatten, nahm der EGMR im Fall Assenov an, dass dem Bf. die bei ihm später festgestellten Verletzungen schon bei seiner Festnahme („in connection with his arrest") zugefügt worden waren. Einen Konventionsverstoß in diesem Punkt verneinte der Gerichtshof, weil auch eine Privatperson im Rahmen der Festnahme auf die festgenommene Person körperlich eingewirkt hatte und lediglich ein hinreichender Verdacht dafür bestand, dass die Verletzungen auf ein Verhalten der Polizeibeamten zurückzuführen waren. Gerade dann, wenn die objektiven Anhaltspunkte nicht ausreichen, um bestimmte Verletzungen einer Person staatlichen Organen zuzurechnen, greift die vom Gerichtshof postulierte verfahrensrechtliche Absicherung des Art. 3, die Pflicht zur Durchführung einer gründlichen und effektiven Untersuchung. Ein hinreichender Verdacht auf eine staatliche Ursächlichkeit der Verletzungen muss die nationalen Behörden zu einer Untersuchung der Vorgänge rund um die Festnahme veranlassen. Genügen die Untersuchungen diesen Anforderungen nicht, so liegt schon aus diesem Grund ein Verstoß gegen Art. 3 und Art. 13 vor, unabhängig davon, ob die festgenommene Person etwaige Schadensersatzansprüche vor den Zivilgerichten geltend machen kann.60 Im Fall Assenov waren der - zu diesem Zeitpunkt - 14 Jahre alte Bf. und sein Vater von der Polizei festgenommen und auf ein Polizeirevier verbracht worden, wo sie nach etwa zwei Stunden freigelassen wurden. Anlässlich einer ärztlichen Untersuchung zwei Tage nach der Festnahme wurden beim Bf. zahlreiche Verletzungen festgestellt, darunter Hämatome an den Armen, am Brustkorb, an der Schulter und am Hinterkopf. Gegenüber dem Arzt hatte der Bf. angegeben, von drei Polizeibeamten mit einem Knüppel und dem Knauf einer Pistole geschlagen worden zu sein. Sowohl die an der Festnahme beteiligten Beamten als auch der Bf. und seine Eltern hatten vorgebracht, auch der Vater habe bei der Festnahme auf seinen Sohn eingeschlagen. Obwohl der Bf. die Verletzungen anlässlich der Festnahme durch die Polizei erlitten hatte („in connection with his arrest") und ihre Schwere durchaus für eine Misshandlung iSv Art. 3 ausreichte („sufficiently serious"), sah sich der EGMR nicht in der Lage, sie auf 60
EGMR, Assenov ./. Bulgarien, Reports 1998-VIII, §§ 93-105.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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ein Verhalten der festnehmenden Polizeibeamten zurückzuführen, da mehrere Personen, welche die Festnahme gesehen hatten, während der anschließenden Untersuchung der Vorgänge angaben, keine Schläge der Polizeibeamten gesehen zu haben. Einer der Zeugen wollte jedoch gesehen haben, dass der Vater auf den Sohn eingeschlagen hatte. Aufgrund der zweistündigen Polizeihaft des Bf. und der Tatsache, dass kein Zeuge ein Einschlagen des Vaters auf den Bf. mit einer für die festgestellten Verletzungen erforderlichen Intensität beobachtet hatte, bestand nach Ansicht des Gerichtshofs jedoch ein hinreichender Verdacht, dass die Verletzungen durch die Polizeibeamten verursacht worden waren. Dieser Verdacht hätte eine gründliche und effektive Untersuchung der Vorgänge erfordert. D a die vorgenommenen Untersuchungen nicht den vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen genügten, nahm der E G M R wegen der mangelhaften Untersuchung einen Verstoß gegen Art. 3 an. D a s s eine Festnahme in Gegenwart von Familienangehörigen prinzipiell als Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu beurteilen ist, zeigt die Entscheidung Klaas. Ob dies der Fall ist, wenn die Festnahme auf einem Privatgrundstück in Gegenwart eines 8-jährigen leiblichen Kindes erfolgt, hat der E G M R allerdings ebenso offen gelassen wie die Frage, o b diese Festnahme einen Eingriff in das von Art. 8 geschützte Recht des Kindes auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellt. 61 Im Fall Klaas war eine Mutter von zwei Polizeibeamten nach einer heftigen Auseinandersetzung in Gegenwart ihrer 8-jährigen Tochter verhaftet worden. Der genaue Geschehensablauf, insbesondere die Frage, ob sich die Mutter der Anordnung einer ärztlichen Blutprobe aus Anlass eines Rotlichtverstoßes widersetzt oder einen Fluchtversuch unternommen hatte, war zwischen den Verfahrensbeteiligten streitig. Die Bf. hatte behauptet, ein Beamter habe sie ergriffen, ihr den linken Arm auf den Rücken gedreht und ihren Kopf gegen den Rahmen eines Fensters geschlagen. Bei ärztlichen Untersuchungen ein bzw. zwei Tage nach der Festnahme wurden bei der Bf. Blutergüsse und eine erheblich eingeschränkte Beweglichkeit der linken Schulter festgestellt, die unstreitig durch das Handeln der Polizeibeamten entstanden waren. Nach den Prognosen der Ärzte musste die Bf. mit Spätschäden an der Schulter rechnen. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die beiden Beamten wurde unter Hinweis auf die Rechtmäßigkeit der Festnahme ebenso abgewiesen wie eine Amtshaftungsklage, bei der das Gericht der Ansicht war, dass sich der tatsächliche Geschehensablauf nicht mit Sicherheit rekonstruieren ließ („definite findings of fact can therefore not be made"). Der E G M R hob hervor, dass das nationale Gericht die Aussagen von Zeugen unmittelbar wahrnehmen und deren Glaubwürdigkeit abschätzen konnte, bevor es zu dem Schluss kam, dass sich die Bf. durch ihren Widerstand gegen die Festnahme verletzt haben könnte. Er grenzte deshalb den Fall vom Urteil Tomasi ab, da der Bf. dort während einer 48-stündigen Polizeihaft Verletzungen erlitten hatte, für die es keine Erklärung gab („sustained unexplained injuries"). Mangels anderer zwingender Beweise („cogent elements") schloss sich der E G M R hier den Feststellungen der nationalen Gerichte an und verneinte einen Verstoß gegen Art. 3 und - auch gegenüber der Tochter - einen Verstoß gegen Art. 8. 61
EGMR, Klaas ./. Deutschland, Serie A Nr. 269, §§ 33, 36.
398
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Obwohl die Entscheidung Erdagöz keine Festnahmesituation im eigentlichen Sinne betraf, muss sie gleichwohl dieser Kategorie zugerechnet werden, weil der E G M R auch bei ihr nicht auf seine bei Inhaftierungen entwickelten Exkulpationsgrundsätze zurückgegriffen hat. Das Urteil steht für die Schwierigkeiten, die der Nachweis einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung im Einzelfall mit sich bringen kann. Der Bf. war auf einer Polizeistation vorstellig geworden, weil Steine auf sein Geschäft geworfen worden waren und eine Scheibe zerstört hatten. Er behauptete, dort von einem Beamten misshandelt worden zu sein. Der EGMR ging auf ein ihm vorliegendes ärztliches Gutachten ein, bemängelte aber, dass dieses erst zwei Tage nach dem Vorfall erstellt worden war und keine Angaben zum Zeitpunkt der Entstehung und zu den Ursachen der beim Bf. festgestellten Verletzungen enthielt. Er berücksichtigte auch, dass der Bf. die behauptete Misshandlung nicht bereits einen Tag früher gegenüber türkischen Sicherheitskräften erwähnt hatte. Obwohl ausweislich des ärztlichen Gutachtens Spuren von Schlägen und Verletzungen am Körper des Bf. festzustellen waren, reichten die vorliegenden Beweise dem EGMR nicht aus, um von einer Misshandlung auszugehen.62 In Extremfällen kann eine Festnahme auch für die Angehörigen der festgenommenen Person zu einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung führen. Das nimmt der E G M R allerdings nur an, wenn die Festnahme in Gegenwart des Angehörigen erfolgt und bei diesem ein besonderes emotionales Leiden hervorruft. 63
8.
Anlegen von Handschellen
Das Anlegen von Handschellen berührt normalerweise nicht den Schutzbereich des Art. 3, wenn es im Zusammenhang mit einer rechtmäßigen Festnahme oder Freiheitsentziehung erfolgt („imposed in connection with lawful arrest or detention") und keine Anwendung von Gewalt oder öffentlicher Zurschaustellung enthält, die das angesichts der jeweiligen Umstände notwendige M a ß überschreitet („not entail use of force, or public exposure exceeding what is reasonably considered necessary in the circumstances"). Das konventionskonforme Anlegen von Handschellen hängt also von einer im Einzelfall aus ex-ante Sicht zu beurteilenden Erforderlichkeit ab, an die der E G M R allerdings keine hohen Anforderungen stellt („whether there is reason to believe"). Es kommt darauf an, ob Grund zu der Annahme besteht, dass die betroffene Person sich ohne die Anlegung von Handschellen bei einer Festnahme zur Wehr setzt, flieht, Personen· oder Sachschäden verursacht oder Beweise unterdrücken wird. Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung spielen folgende Erwägungen eine Rolle: das Verhalten der festzunehmenden Person („necessary by his own conduct"), die Rechtmäßigkeit bzw.
62
63
E G M R , Erdagöz ./. Türkei, Reports 1997-VI, §§ 11-19, 41-42 („no proof that these lesions were the result of ill-treatment allegedly inflicted by the deputy inspector"). Vgl. hierzu: E G M R , Kurt./. Türkei, Reports 1998-III, §§ 130-134; Cakici./. Türkei, Reports 1999-IV, §§98-99.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
399
Rechtswidrigkeit der Maßnahme im nationalen Recht („itself unjustified"), die Rechtswidrigkeit der Festnahme und der nachfolgenden Inhaftierung („context of unlawful arrest and detention"), die Sichtbarkeit der Handschellen für die Öffentlichkeit - und sei es nur für kurze Zeit („albeit only briefly, been visible to the public") - sowie eine mögliche Demütigung der Person, weil sie vor den Mitgliedern einer Gruppe in Handschellen erscheint („feit humiliated by appearing handcuffed in front of members of his support group"). Die spätere Beeinträchtigung des mentalen Zustandes der festgenommenen Person kann nur dann für eine mit Art. 3 unvereinbare Behandlung sprechen, wenn zwischen ihr und dem Anlegen der Handschellen bei der Festnahme eine kausale Verknüpfung besteht („causal link").64 Der Bf. Raninen war von einem Gericht wegen Wehrdienstverweigerung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er zu einem späteren Zeitpunkt antreten sollte. Nach der Verhandlung wurde er in das Gefängnis gebracht, in dem er in Untersuchungshaft gesessen hatte. Nachdem er die Entlassungsstation („check-out room") des Gefängnisses verlassen hatte, wurde er im Hof von mehreren Militärpolizisten erneut verhaftet. Nachdem ihm Handschellen angelegt worden waren, wurde er zu einem außerhalb des Gefängnis stehenden Polizeifahrzeug gebracht. Diese Vorgänge wurden von mehreren Mitgliedern einer Sympathisantengruppe („support group"), die auf den Bf. vor dem Gefängnis gewartet hatten, fotografiert und auf Video aufgezeichnet. Der Bf. wurde in ein zwei Autostunden entferntes Militärkrankenhaus verbracht, wo ihm die Handschellen abgenommen wurden. Wenige Monate später waren bei ihm unerklärliche psychische Probleme diagnostiziert worden, die zu seiner Wehruntauglichkeit führten. Der Bf. hatte behauptet, dass diese Beschwerden auf die erneute Verhaftung und das Anlegen der Handschellen zurückzuführen waren. Zwar verstießen nach Ansicht des EGMR die Verhaftung und Inhaftierung während des Transports gegen finnisches Recht, so dass beide Maßnahmen nicht rechtmäßig iSv Art. 5 Abs. 1 waren. Zwischen ihnen und den später aufgetretenen psychischen Störungen fehlte jedoch eine kausale Verbindung. Interessanterweise hat der Gerichtshof dem Bf. für den Nachweis einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausdrücklich eine Beweislast aufgebürdet („nor has the applicant made out his allegation that the handcuffing was aimed at debasing or humiliating him"). Diese Formulierung ist problematisch, weil sie zumindest den Eindruck erweckt, dass die erniedrigende oder unmenschliche Behandlung von den staatlichen Stellen bezweckt werden muss. Ebenso unklar bleibt auch der Gehalt der Aussage, der Befehlshaber der Militärpolizei „acted in the belief that he complied with the relevant orders and the military education he had received". Auf subjektive Elemente darf es bei der Vereinbarkeit einer Behandlung mit Art. 3 allenfalls am Rande ankommen. Abschließend bleibt festzustellen, dass der Gerichtshof auch hier wieder auf das für Art. 3 erforderliche Element der Mindestschwere der Misshandlung rekurriert hat.
64
EGMR, Raninen ./. Finnland, Reports 1997-VIII, §§ 56-58.
400
II.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Die Beschuldigtenrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3
Im Gegensatz zu den Haftgründen des Art. 5 Abs. 1 ist die Liste der von der Konvention geschützten Beschuldigtenrechte nicht abschließend. Art. 6 Abs. 3 zählt die zur Sicherstellung eines fairen Verfahrens essentiellen Mindestgarantien auf („essential guarantees", „minimum rights"), die in jedem Verfahren gelten, in dem eine strafrechtliche Anklage gegen eine Person erhoben ist. Neben der Unschuldsvermutung zählt der E G M R die Beschuldigtenrechte des Art. 6 zu den konstituierenden Elementen eines fairen Verfahrens in Strafsachen („constituent elements of the general concept/right of a fair trial"). 65 Auch die oft zitierten Rechte der Verteidigung entstammen den in Art. 6 enthaltenen Prinzipien eines fairen Verfahrens.66 Welche Bedeutung die in Art. 6 Abs. 3 enthaltenen Verfahrensgarantien besitzen, zeigt sich darin, dass der EGMR die ihrem Wortlaut nach nur für strafrechtliche Verfahren einschlägigen Rechte aus Art. 6 Abs. 3 (a), (b) und (d) sinngemäß auf berufsständische Disziplinarverfahren angewandt hat, die einen zivilrechtlichen Anspruch betrafen. 67 Den von Art. 6 garantierten Verfahrensschutz beschreibt der Gerichtshof mit der Maxime „Justice must not only be done, it must also be seen to be done",68 Der vielleicht bedeutendste Beitrag der Straßburger Rechtsprechung für die Entwicklung des europäischen Menschenrechtsschutzes in den letzten Jahren ist, dass sich der EGMR nicht auf die Auslegung der in Art. 6 ausdrücklich genannten Rechte beschränkt hat, sondern gerade aus dem allgemeinen Prinzip eines fairen Verfahrens weitere eigenständige Beschuldigtenrechte entwickelt hat („rights ... inherent in the notion of fair trial"), so etwa das Recht über die Gründe der Verurteilung informiert zu werden („be informed of the grounds for his conviction"), über angemessene Zeit und Mittel für die Vorbereitung eines Rechtsmittels zu verfügen („have 65
EGMR, Luedicke, Belkacem und Κος ./. Deutschland, Serie A Nr. 29, § 42; Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, § 56; Artico ./. Italien, Serie A Nr. 37, § 32; Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 30; Goddi ./. Italien, Serie A Nr. 76, § 28; Colozza und Rubinat ./. Italien, Serie A Nr. 89, § 26; Bönisch ./. Österreich, Serie A Nr. 92, § 29; Unterpertinger ./. Österreich, Serie Α Nr. 110, § 29; Lutz ./. Deutschland, Serie A Nr. 123, § 52; Bricmont./. Belgien, Serie A Nr. 158, § 75; Kostovski./. Niederlande, Serie A Nr. 166, § 39; Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, § 62; Granger ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 174, § 43; Windisch ./. Österreich, Serie A Nr. 186, § 23; Delta ./. Frankreich, Serie A Nr. 191-A, § 34; Isgrö ./. Italien, Serie A Nr. 194-A, § 31; Asch ./. Österreich, Serie A Nr. 203, § 25; F.C.B. ./. Italien, Serie A Nr. 208-B, § 29; Brandstetter ./. Österreich, Serie A Nr. 211, § 42; Artner ./. Österreich, Serie A Nr. 242-A, § 19; Τ ./. Italien, Serie A Nr. 245-C, § 25; Edwards ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-B, § 33; Hennings ./. Deutschland, Serie A Nr. 251-A, § 25; Hadjianastassiou ./. Griechenland, Serie A Nr. 252, § 31; Melin ./. Frankreich, Serie A Nr. 261-A, § 21; Poitrimol ./. Frankreich, Serie A Nr. 277-A, § 29; Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 37; Doorson ./. Niederlande, Reports 1996-11, § 66; Pullar ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, §45; Benham ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-III, § 52; Ferrantelli u. Santangelo ./. Italien, Reports 1996-III, § 51; Vacher ./. Frankreich, Reports 1996-VI, § 22; Foucher ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 30.
66
EGMR, Artico ./. Italien, Serie A Nr. 37, § 33; vgl. auch: Pretto ./. Italien, Serie A Nr. 71, § 21; Axen ./. Deutschland, Serie A Nr. 72, § 26. EGMR, Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 39. EGMR, Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 81.
67 68
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
401
adequate time and facilities for the preparation of his appeal on points of law") sowie das Recht, die Ausführungen der Gegenseite mitgeteilt zu bekommen („right to have the opposing party's observations communicated to him").69 Zu den wichtigsten strafprozessualen Leitsätzen, die der Gerichtshof aus dem allgemeinen Gebot der Verfahrensfairness entwickelt hat, gehören das Prinzip der Waffengleichheit („principle of equality of arms") und - darin enthalten - das fundamentale Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren („right that criminal proceedings should be adversarial"), das die Herstellung eines fairen Gleichgewichts zwischen den an einem Strafverfahren beteiligten Personen verlangt („fair balance").70
1.
Das Recht auf ein faires Verfahren
Gemäß Art. 6 Abs. 1 hat jede Person das Recht, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage in einem fairen Verfahren verhandelt wird („entitled to a fair ... hearing" / „a droit ä ce que sa cause soit entendue equitablement"). Aus dem englischen und französischen Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 hat der Gerichtshof das Recht auf Einhaltung eines fairen Verfahrens entwickelt („right to a fair trial" / „droit ä un proces equitable") und sich damit frühzeitig von der engeren englischen Fassung „fair hearing" gelöst.71 Welche Entwicklung das scheinbar wenig aussagekräftige Adjektiv „fair" bzw. „equitable" in vierzig Jahren Straßburger Rechtsprechung genommen hat, zeigt sich daran, dass der EGMR auch im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 auf die Notwendigkeit eines fairen und ordentlichen Verfahrens hinweist („fair and proper procedure"), wozu gehört, dass Maßnahmen der Freiheitsentziehung nur von zuständigen Stellen angeordnet bzw. ausgeführt werden und nicht willkürlich erscheinen dürfen.72 Nach anfänglicher Zurückhaltung im Urteil Neumeister fordert der Gerichtshof nunmehr auch in Haftprüfungsverfahren die Einhaltung der Verfahrensfairness. Man darf ohne jede Zurückhaltung behaupten, dass er das Recht auf ein faires Verfahren zu dem fundamentalen Rechtsprinzip der Konvention gemacht hat. Er selbst zählt es gar zum ordre public der Mitgliedstaaten des Europarates und sieht in ihm einen Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit („principle of the rule of law").73 Gerade bei Rechtsfragen, die sich nicht auf Anhieb in 69 70
71
72 73
EGMR, Melin ./. Frankreich, Serie A Nr. 261-A, § 23. EGMR, Feldbrugge ./. Niederlande, Serie A Nr. 99, § 44; Monnell u. Morris ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 115, § 62; Brandstetter./. Österreich, Serie Α Nr. 211, § 66; Ruiz-Mateos./. Spanien, Serie A Nr. 262, § 63; Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande, Serie A Nr. 274, § 33; Hentrich ./. Frankreich, Serie A Nr. 296-A, § 56; Bulut./. Österreich, Reports 1996-11, § 47; Ankerl./. Schweiz, Reports 1996-V, § 38; Nideröst-Huber./. Schweiz, Reports 1997-1, § 23; De Haes u. Gijsels ./. Belgien, Reports 1997-1, § 53; Werner ./. Österreich, Reports 1997-VII, § 63; Belziuk ./.Polen, Reports 1998-11, § 37. EGMR, Neumeister./. Österreich, Serie A Nr. 8; De Wilde, Ooms u. Versyp./. Belgien, Serie A Nr. 12, § 76; Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, § 36; Luedicke, Belkacem u. Κος ./. Deutschland, Serie A Nr. 29, § 42; vgl. auch: EGMR, Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, § 48. EGMR, Winterwerp ./. Niederlande, Serie A Nr. 33, § 45. EGMR, Deweer ./. Belgien, Serie A Nr. 35, § 49; Stran Greek Refineries ./. Griechenland, Serie A Nr. 301-A, §46.
402
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
das Schema der Mindestrechte des Art. 6 Abs. 3 einfügen, ist der Gerichtshof gewillt, auf das allgemeine Fairnessgebot zurückzugreifen. Dieser eher abstrakte Ansatz wird auch in Zukunft einen extensiven und dynamischen Schutz des Beschuldigten durch die Konventionsgarantien ermöglichen. Jedenfalls hat der Gerichtshof einer restriktiven Auslegung des Art. 6 Abs. 1 schon früh eine klare Absage erteilt.74 Die Vertragsstaaten müssen ihre nationalen Rechtssysteme so ausgestalten, dass diese den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 genügen. Auf der einen Seite billigt ihnen der Gerichtshof bei der Wahl geeigneter Mittel einen durchaus weiten Beurteilungsspielraum zu. Andererseits trifft die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte aber eine aus dem Gebot der Verfahrensfairness abzuleitende Sorgfaltspflicht („diligence"). Sie müssen sicherstellen, dass der Beschuldigte wirklich in den Genuss der in Art. 6 niedergelegten Rechte kommt („ensure that the rights ... are enjoyed in an effective manner"). 75 Wenn es um die Einhaltung eines fairen Verfahrens geht, überlässt der EGMR die Beurteilung der maßgeblichen Tatsachen den nationalen Gerichten („it is not within the province of the European Court to substitute its own assessment of the facts for that of the domestic courts"). Seine Zurückhaltung impliziert aber zugleich deren Überwachungspflicht. Wollen die nationalen Gerichte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 verhindern, so müssen sie zwangsläufig die entsprechenden Umstände und Tatsachen ermitteln. Der EGMR beschränkt sich dagegen auf die Prüfung, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Beweisaufnahme fair war („whether the proceedings in their entirety, including the way in which evidence was taken, were fair"). Das Recht auf ein faires Verfahren hat letztlich auch die Brücke zur Anwendung des Art. 6 im strafprozessualen Ermittlungsverfahren geschlagen. Den endgültigen Durchbruch brachten hier die Entscheidungen Imbrioscia und John Murray.16 Im Urteil Edwards hatte der Gerichtshof noch vorsichtig darauf hingewiesen, dass auch auf Unregelmäßigkeiten zu achten sei, die auftreten, bevor ein Fall vor das Strafgericht oder ein Rechtsmittelgericht gebracht wird („having regard to any possible irregularities before the case was brought before the courts of trial and appeal"), zugleich aber auch betont, dass derartige vorprozessuale Unregelmäßigkeiten durch die Gerichte geheilt werden können („courts had been able to remedy them"). Bei der Prüfung, ob ein bestimmtes Verfahren mit Art. 6 Abs. 1 in Einklang steht, ist auf das gesamte Verfahren einschließlich der Entscheidungen von Rechtsmittelgerichten zu achten („proceedings as a whole including the decision of the appellate court"). 77
74
75
76
77
EGMR, Moreira de Azevedo ./. Portugal, Serie A Nr. 189, § 66 („no justification for interpreting Article 6 para. 1 ... restrictively"); siehe hierzu auch: Weh EuGRZ 1985, 469,472. EGMR, Colozza u. Rubinat./. Italien, Serie A Nr. 89, § 28; F.C.B../. Italien, Serie A Nr. 208-B, § 33; Τ ./. Italien, Serie A Nr. 245-C, § 29. EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275; John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1. EGMR, Edwards ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-B, § 34; Miailhe ./. Frankreich, Reports 1996-1V, § 43.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
403
Auf der einen Seite zwingt dieser Gesamtansatz die nationalen Gerichte zu verstärkter Aufmerksamkeit, liegt es doch in ihrer Hand, einem etwaigen Konventionsverstoß vorzubeugen oder abzuhelfen, bevor der Fall nach Straßburg gelangt. Auf der anderen Seite entsteht jedoch das Problem, dass klare Konturen der Verfahrensfairness in den unterschiedlichen Stadien eines Strafverfahrens gar nicht erst entstehen - oder schlimmer noch - bestehende nationale Garantien durch den Gesamtansatz des EGMR aufgewässert werden. Verstärkt wird diese Problematik noch dadurch, dass der Gerichtshof in den letzten Jahren mehr und mehr dazu übergegangen ist, die Fairness des Verfahrens anhand der allgemeinen Vorschrift des Art. 6 zu prüfen, auch wenn die Bf. eine spezielle Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 gerügt hatten.78 Inhalt und Umfang der von der Konvention geforderten Verfahrensfairness richten sich nach der Art des speziellen Verfahrens und den Umständen des Einzelfalls. Das gilt nicht nur für das Strafverfahren insgesamt, sondern auch für seine einzelnen Bestandteile. Prüft etwa ein Gericht die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung, so sind die fundamentalen Garantien eines gerichtlichen Verfahrens zu beachten („toutes les garanties fondamentales d'une procedure judiciaire")-79 Der Inhalt und Umfang dieser Garantien hängt im einzelnen von der Art der jeweiligen Freiheitsentziehung ab. Im folgenden Teil der Arbeit sollen nun die Mindestgarantien („necessary guarantees") im Vordergrund stehen, die der EGMR für die Verhandlung über eine erhobene strafrechtliche
2.
Anklage (Art. 6 Abs. 1) verlangt.
Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Offenbarung sämtlichen Beweismaterials
Schon die in Art. 6 Abs. 2 garantierte Unschuldsvermutung impliziert, dass die Beweislast in einem Strafverfahren auf Seiten der Anklagebehörde liegt („burden of proof is on the prosecution"). Dem Beschuldigten muss jeder Zweifel an seiner Schuld zum Vorteil gereichen („any doubt should benefit the accused"). Es entspricht daher dem Gebot der Fairness, dass die Strafverfolgungsbehörden der Verteidigung sämtliches den Beschuldigten belastende und entlastende Beweismaterial offen legen („disclose to the defence all material evidence for or against the accused").80 Die von der Anklage vorgelegten Beweise müssen außerdem für eine Verurteilung ausreichen („adduce evidence sufficient to convict him").81 An die Mitteilung des Beweismaterials hat der EGMR im Urteil Barberä recht strenge Anforderungen gestellt.
78 79
80 81
EGMR, Edwards./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-B, §§ 6-15, 33, 36-39. EGMR, Neumeister./. Osterreich, Serie A Nr. 8; zur Anwendbarkeit der Grundsätze eines fairen Verfahrens vor einem Verfassungsgericht vgl.: EGMR, Ruiz-Mateos ./. Spanien, Serie A Nr. 262, §§ 61, 63-68 (Enteignung von Aktien); Süßmann ./. Deutschland, Reports 1996-1V, § 39. EGMR, Edwards ./. Vereinigtes Königreich, Serie Α Nr. 247-B, § 36. EGMR, Barberä, Messegue u. Jabardo ./. Spanien, Serie A Nr. 146, § 77 („inform the accused of the case that will be made against him, so that he may prepare and present his defence accordingly").
404
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Dort hatte die spanische Regierung geltend gemacht, ein Zwischenverfahren, in dem die Parteien vorläufige Erklärungen („interim submissions") abgeben und die von ihnen zusammengetragenen Beweise darlegen konnten („indicate the evidence which they propose to tender"), habe der Information der Bf. gedient. Die Staatsanwaltschaft hatte die ihrer Ansicht nach bestehende Tatsachenlage dargelegt und diese rechtlich bewertet. Obwohl sie außerdem die Beweise auflistete, die sie im Hauptverfahren heranzuziehen beabsichtigte - darunter die Ermittlungsakte, deren überwiegender Teil sich nicht auf die Bf. bezog - , sah der EGMR die gewährten Informationen als nicht ausreichend an, weil sie nicht im Detail darlegten, auf welche speziellen Beweise sich die auf die Beschuldigten bezogenen Tatsachen gründeten („not specify in detail the particular evidence on which he based his account of the facts in relation to the defendants"). Das Vorenthalten von Tatsachen oder Beweisen gegenüber der Verteidigung führt jedoch nicht in jedem Fall zu einem Konventionsverstoß. Stützt sich ein Gericht in seinem Urteil auf ein bestimmtes Beweisstück („admitted in evidence"), das nicht in der Anklageschrift erwähnt ist, so liegt dennoch kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 vor, wenn dieses Beweisstück weder für die Verurteilung noch für die Strafzumessung von entscheidender Bedeutung ist („not decisive in the conviction or sentence"). 82 Wie beim Frage- und Konfrontationsrecht des Beschuldigten aus Art. 6 Abs. 3(d) betritt der E G M R auch hier die Ebene der Beweiswürdigung, um abschließend über die Einhaltung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit zu befinden. Dieser Gesamtansatz untergräbt nicht nur die Autorität der in Art. 6 Abs. 1(a) bis (e) genannten speziellen Beschuldigtenrechte, sondern erschwert außerdem die Vorhersage, wie ein Verfahren vor dem E G M R ausgehen wird. Darüber hinaus hält der E G M R eine Heilung im Instanzenzug für möglich. Überprüft ein Rechtsmittelgericht im Detail die Relevanz von Tatsachen, die im erstinstanzlichen Verfahren weder der Verteidigung offenbart worden sind noch dem Gericht bekannt waren, und hat der Verteidiger des Beschuldigten die Möglichkeit, das Rechtsmittelgericht davon zu überzeugen, dass die Verurteilung aufgrund der vorenthaltenen Tatsachen aufzuheben ist, werden die Mängel des ursprünglichen Verfahrens durch das Verfahren vor dem Rechtsmittelgericht geheilt („defects of the original trial were remedied"). 83 Der Bf. Edwards war wegen Raubes und Einbruchsdiebstahls verurteilt worden. Vor einem Crown Court waren die schriftlichen Angaben eines Tatopfers (Z) verlesen worden. Ζ hatte eine Täterbeschreibung abgegeben und behauptet, den Täter bei einer Gegenüberstellung wiederzuerkennen. Als der Verdacht entstand, dass die Polizei der Verteidigung relevante Tatsachen vorenthalten hatte, wurde eine polizeiliche Untersuchung des Falles eingeleitet, nach deren Abschluss der Fall zur Neuverhandlung vor ein Berufungsgericht gebracht wurde. Vor dem Crown Court hatte ein Polizeibeamter angegeben, am Tatort seien keinerlei Fingerabdrücke gefunden worden, obwohl die 82 83
EGMR, Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, §§ 31, 47. EGMR, Edwards ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-B, §§ 33, 36-39 („considered in detail the impact of the new information on the conviction", „every opportunity to seek to persuade the court that the conviction should not stand in view of the evidence of non-disclosure").
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Fingerabdrücke eines Wohnungsnachbarn sichergestellt worden waren. Außerdem behauptete der Bf., die Polizei habe ihm vorenthalten, dass Ζ ihn bei einer Lichtbildvorlage nicht identifiziert hatte. Das Berufungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Glaubwürdigkeit der Polizeibeamten nicht in Frage gestellt war und die Jury bei Kenntnis der vorenthaltenen Informationen zu keinem anderen Ergebnis gekommen wäre. Der Bf. rügte einen Verstoß gegen die Verfahrensfairness, da es ihm bei Kenntnis der vorenthaltenen Umstände möglich gewesen wäre, die polizeilichen Zeugen angemessen zu überprüfen und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben in Zweifel zu ziehen. Die Vorenthaltung der Ermittlungsergebnisse bezeichnete der EGMR als Mangel („defect"), der aber durch das Berufungsgericht geheilt worden sei, da dieses das erstinstanzliche Verhandlungsprotokoll durchgesehen und im Detail den Einfluss der neuen Informationen auf die Verurteilung geprüft habe. Dass das Gericht weder die Hauptbelastungszeugen - die beiden Polizeibeamten - erneut vernommen noch den polizeilichen Abschlussbericht verwertet hatte, begründete nach Ansicht des EGMR ebenfalls keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, da der Bf. deren Einvernahme bzw. Vorlage nicht beantragt hatte. Soweit es den Abschlussbericht betrifft, ist diese Argumentation äußerst fragwürdig, weil dessen Überlassung dem Bf. wegen eines angeblich entgegenstehenden öffentlichen Interesses verweigert worden war. Die Entscheidung Edwards hinterlässt einen faden Beigeschmack, weil dem Beschuldigten im Ergebnis eine „faire" Tatsacheninstanz vor dem Crown Court genommen wurde. Sie macht deutlich, dass das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 nicht die Einhaltung der Vorschriften des nationalen Rechts verlangt. Verfahrensverstöße sind auf der Ebene der E M R K einer Kompensation sogar eher zugänglich als in einem Rechtsmittelverfahren vor den nationalen Gerichten. Innerhalb der Konvention ergeben sich an dieser Stelle Widersprüche, weil der E G M R an anderer Stelle einen Durchgriff der Konvention auf das nationale Recht praktiziert. So ist es unverständlich, warum eher unbedeutende Verstöße gegen das nationale Recht zur Unrechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung führen (Art. 5 Abs. 1) oder einem Eingriff in das Privatleben die gesetzliche Grundlage entziehen (Art. 8 Abs. 2), wohingegen sonstige Verfahrensmängel im Gesamtkontext der Verfahrensfairness gesehen werden und einer Kompensation im Instanzenzug zugänglich sein sollen. Eine echte Heilung oder Kompensation des eingetretenen Konventionsverstoßes - den der E G M R nicht einmal ausdrücklich als solchen benannt hat - hätte im konkreten Fall allein in der Neuverhandlung des Falles vor der Jury des Crown Court bestanden, nicht aber in einer Art Beruhensprüfung, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen hatte. Unabhängig davon, ob für den Beschuldigten eine Pflicht bzw. Obliegenheit zur Stellung von Beweisanträgen besteht, muss diesem geraten werden, die Erhebung sämtlicher von ihm als relevant eingestuften Beweise zu beantragen, will er sich nicht zu einem späteren Zeitpunkt einem entsprechenden Unterlassungsvorwurf durch den E G M R ausgesetzt sehen. Diskrepanzen zum deutschen Recht sind an dieser Stelle nicht so ohne weiteres zu erkennen. Wenn das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung Ermittlungen anstellt, muss es nach Ansicht des B G H wegen des Gebotes der Verfahrensfairness dem Beschuldigten und der Verteidigung durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen, und zwar
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2. Teil: D a s strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
auch dann, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen nicht für entscheidungserheblich hält. Entsprechend müssen der Beschuldigte und die Verteidigung auch von solchen Urkunden und anderen Beweismitteln in Kenntnis gesetzt werden, die ohne Veranlassung durch das Gericht zu den Akten gelangen und deren Erheblichkeit für die Behandlung des Tatvorwurfs nicht ausgeschlossen werden kann.84 Mit dem Ansatz, dass die Verfahrensbeteiligten selbst beurteilen können müssen, ob es sich bei den Ermittlungsergebnissen bzw. bei den zur Akte gelangten Beweismitteln um „relevante Umstände" handelt, liegt der BGH durchaus auf der Linie des EGMR. Als problematisch erweist sich allerdings, dass er im Falle einer nicht erfolgten Unterrichtung im Rahmen der Revision in die von § 337 StPO geforderte Beruhensprüfung eintritt, weil diese zwangsläufig in eine nachträgliche Inhalts- und Erheblichkeitsprüfung einmündet, die der EGMR im Rahmen der aus Art. 6 Abs. 1 abgeleiteten Mitteilungspflicht bedauerlicherweise akzeptiert.
3.
Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren
a)
Kenntnis und Möglichkeit der Stellungnahme zu Beweisen und Erklärungen
Die Konvention enthält keine ausdrückliche Regelung zum Recht des Beschuldigten auf rechtliches Gehör. Dass streitende Parteien gehört werden müssen („principle that contending parties should be heard"), gehört aber nach Ansicht des Gerichtshofs zu den grundlegenden Garantien eines gerichtlichen Verfahrens.85 Während die englische Fassung eher auf ein reines Anhörungsrecht des Beschuldigten schließen lässt, entlehnt der EGMR der französischen Fassung („le principe du contradictoire") einen Anspruch des Beschuldigten auf ein vollumfanglich kontradiktorisches Verfahren.86 Im Kern verlangt das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, dass den an einem Strafverfahren beteiligten Personen die Kenntnisnahme von und Stellungnahme zu sämtlichen vorgelegten Beweisen und eingereichten Stellungnahmen ermöglicht wird, um die Entscheidung des Gerichts beeinflussen zu können („opportunity for the parties to a criminal or
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BGHSt 36, 305, 308ff., B G H , StV 2001, 4f. (unterbliebene Mitteilung über einen zu den Akten gelangten Brief eines Mitangeklagten). E G M R , Kamasinski ./. Österreich, Serie A Nr. 168, § 102 („one of the principal guarantees of a judicial procedure"). Vgl. zum Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör die zivilrechtliche Entscheidung Winterwerp ./. Niederlande (Serie A Nr. 33, §§ 61, 73-75). Demnach liegt in einem Verfahren, in dem es um die Einweisung einer Person in eine psychiatrische Klinik und den dadurch bedingten unmittelbaren Verlust der Geschäftsfähigkeit und der Fähigkeit geht, über das eigene Vermögen zu verfügen, eine faire Anhörung („fair hearing") - hier wörtlich zu verstehen - nicht bereits dann vor, wenn die betroffene Person überhaupt angehört wird. Vielmehr müssen in diesem Verfahren sämtliche Gesichtspunkte zur Sprache kommen, die Grundlage und mögliche Folge der zu treffenden Entscheidung sind. Als ausreichend wird man es aber ansehen müssen, wenn ein Vertreter der betroffenen Person gehört wird. Vgl. auch: E G M R , Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, §§ 38-39.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
407
civil trial to have knowledge of and comment on all evidence adduced or observations filed ... with a view to influencing the court's decision").87 Neben dem Recht des Beschuldigten zur Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung über die gegen ihn erhobene Anklage vor einem Gericht muss die Waffengleichheit auch hinsichtlich der ihm im gerichtlichen Verfahren zustehenden Rechte und Befugnisse beachtet werden. Nimmt ein Gericht auf in der Verfahrensakte befindliche Schriftstücke oder auf mündliche Erklärungen eines Verfahrensbeteiligten Bezug, von deren Existenz weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger Kenntnis haben, liegt darin regelmäßig ein Verstoß gegen das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1,88 (1) Erklärungen einer Justizbehörde Auch von Beweisen und Stellungnahmen, die eine zur Objektivität verpflichtete Justizbehörde vorlegt bzw. abgibt, muss der Beschuldigte Kenntnis haben, bevor das Gericht über sie berät und entscheidet. Ebenso muss er zu ihnen eine Stellungnahme abgeben können, um die Entscheidung des Gerichts beeinflussen zu können.89 In welchem Umfang die Grundsätze eines fairen Verfahrens im konkreten Fall Anwendung finden, hängt von der Art der Erklärungen ab („nature of the submissions"). Weiterhin kommt es darauf an, was für den Beschuldigten in dem jeweiligen Verfahren auf dem Spiel steht („what was at stake ... in the proceedings"), bzw. auf die Auswirkungen, welche die gerichtliche Entscheidung für ihn haben kann („judgment ... may rebound in different degrees on the position of the person concerned"). Nimmt der Vertreter einer Justizbehörde an der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht teil, richten sich die konkreten Anforderungen an die Einhaltung eines kontradiktorischen Verfahrens nach der Rolle, die dieser Vertreter tatsächlich in dem Verfahren spielt („part actually played") sowie danach, ob Art, Inhalt und die Folgen seiner Erklärungen von Bedeutung für das Urteil sind („content and effects of his submissions", „nature of the advisory opinion"). Wie der Fall Borgers zeigt, gilt dies auch, wenn die Prüfungskompetenz des Gerichts auf reine Rechtsfragen beschränkt ist, sowie dann, wenn die Justizbehörde und ihr Vertreter unabhängig und zur Objektivität verpflichtet sind. Kontradiktorisch muss das Verfahren sein, wenn die Erklärungen des Vertreters die Meinung der Behörde selbst wiedergeben („contain an opinion which derives its authority from ...") und - seien sie auch noch so objektiv und rechtlich begründet („objective and reasoned in law") - das Gericht beraten und beeinflussen sollen („intended to advise and accordingly influence").
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EGMR, Vermeulen ./. Belgien, Reports 1996-1, § 33; vgl. auch: Ruiz-Mateos ./. Spanien, Serie A Nr. 262, § 63; McMichael./. Vereinigtes Königreich, Series A Nr. 307-B, § 80; Kerojärvi./. Finnland, Serie A Nr. 322, § 42; K.D.B../. Niederlande, Reports 1998-11, § 44; J.J../. Niederlande, Reports 1998-11, §43. EGMR, Brandstetter./. Österreich, Serie Α Nr. 211, §§ 66-69. EGMR, Vermeulen ./. Belgien, Reports 1996-1, § 33; vgl. auch: Ruiz-Mateos ./. Spanien, Serie A Nr. 262, § 63; McMichael./. Vereinigtes Königreich, Series A Nr. 307-B, § 80; Kerojärvi./. Finnland, Serie A Nr. 322, § 42; K.D.B../. Niederlande, Reports 1998-11, § 44; J.J../. Niederlande, Reports 1998-11, §43.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Art. 6 Abs. 1 steht zwar der Teilnahme des Vertreters einer v o n der Anklagebehörde verschiedenen staatlichen Stelle oder Justizbehörde an der Verhandlung vor dem Strafgericht nicht per se entgegen. Von dem M o m e n t an, w o sich der Vertreter gegenüber d e m Gericht zu den Erfolgsaussichten der Anklage bzw. eines v o m Beschuldigten eingelegten Rechtsmittels äußert oder gar empfiehlt, das Rechtsmittel zu verwerfen, wird er objektiv z u m Gegner des Beschuldigten. Spätestens von diesem Zeitpunkt an ist die Einhaltung der Verteidigungsrechte und der Waffengleichheit erforderlich. Wird dem Beschuldigten - oder seinem Verteidiger - zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit gegeben, zu den Erklärungen bzw. Anträgen Stellung zu nehmen, begründet dies einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, der durch die etwaige spätere Teilnahme des Vertreters an den Urteilsberatungen des Gerichts n o c h verstärkt wird („aggravated", „inequality was increased"). A l s letzter Zeitpunkt für die Gewährung einer Stellungnahme ist der Schluss der Verhandlung anzusehen („before argument was closed", „before the end o f the hearing"). Ein Wiedereintritt in die Verhandlung zur Gewährleistung der Anhörungsund Verteidigungsrechte erscheint aber keineswegs ausgeschlossen. 9 0 Die Entscheidungen Delcourt und Borgers betrafen strafrechtliche Rechtsmittelverfahren vor dem belgischen Cour de Cassation. In beiden Fällen hatte ein Generalanwalt als Vertreter der Generalprokuratur („le parquet de la Cour beige de cassation") an den Beratungen des Gerichts teilgenommen, die weder der Öffentlichkeit noch dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger zugänglich waren. Zuvor hatte er am Schluss der öffentlichen Verhandlung im Anschluss an den Vortrag des Berichterstatters eine Stellungnahme abgegeben und beantragt, das Rechtsmittel des Bf. zu verwerfen. Die Erklärung des Generalanwalts war dem Bf. entsprechend der gängigen Praxis zuvor weder inhaltlich bekannt gegeben worden, noch war ihm eine Stellungnahme am Ende der Verhandlung gestattet. Im Fall Borgers stimmte die Stellungnahme des Generalanwaltes sogar inhaltlich mit der des Berichterstatters überein. In beiden Fällen war der Cour de Cassation der Empfehlung gefolgt und hatte die Rechtsmittel der Bf. zurückgewiesen. Diese hatten neben der fehlenden Unabhängigkeit des Cour de Cassation einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit gerügt. 91 Die Rolle einer Anklagebehörde („act as prosecuting party") besaß die Generalprokuratur nur in den seltenen Verfahren, die sie selbst eingeleitet hatte und in denen der Cour de Cassation in der Sache selbst entscheiden sollte („hears a case on the merits"). In den meisten Fällen war ihre Funktion darauf beschränkt, in völliger Unabhängigkeit die Pflichten eines gerichtlichen Beraters wahrzunehmen. Es war keinesfalls unüblich, dass der Vertreter der Generalprokuratur empfahl, ein von der einem Instanzgericht zugewiesenen Staats90
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EGMR, Borgers ./. Belgien, Serie A Nr. 214-B; J.J. ./. Niederlande, Reports 1998-11, §§ 37-40 (Steuerstrafe); vgl. ebenso die zivilrechtlichen Entscheidungen: Vermeulen ./. Belgien, Reports 1996-1, §§ 31-34; Lobo Machado ./. Portugal, Reports 1996-1, §§ 29-32. Im Fall Delcourt beruhte die Teilnahme des Generalanwaltes an den Beratungen des Cour de Cassation auf dem Arrete du Prince souverain vom 15 März 1815, wonach „(...) en matiere de cassation le ministere public a le droit d'assister ä la deliberation lorsqu'elle na pas lieu ä Γ instant et dans la meme salle d'audience, mais il na pas voix deliberative". Die Beteiligung des Generalanwalts am Verfahren vor dem Cour de Cassation beruhte in dem der Beschwerde Borgers zugrundeliegenden Sachverhalt auf dem 1967 in Kraft getretenen Code Judiciaire, der die Regelungen im königlichen Dekret aus dem Jahre 1815 im wesentlichen bestätigte.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
409
anwaltschaft eingelegtes Rechtsmittel zurückzuweisen oder ein Rechtsmittel des Beschuldigten zuzulassen. Eine schriftliche Stellungnahme im Anschluss an den Vortrag des Vertreters der Generalprokuratur in der Verhandlung war ausdrücklich untersagt („whereafter no further documents shall be accepted"). Dagegen war der Generalprokuratur die Teilnahme an den gerichtlichen Beratungen gestattet, soweit sie nicht selbst das zu überprüfende Rechtsmittel eingelegt hatte. Ein Stimmrecht in den Beratungen besaß ihr Vertreter jedoch nicht. Obwohl der Generalanwalt in der mündlichen Verhandlung eine für den Bf. negative Stellungnahme abgegeben hatte, sah der E G M R - wie auch in den späteren zivilrechtlichen Urteilen Vermeulen und van Orshoven in seiner Beteiligung an der mündlichen Verhandlung und in seiner Anwesenheit während der Beratungen des Gerichts keinen Anlass, die von Art. 6 Abs. 1 geforderte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Cour de Cassation in Frage zu stellen. Im Urteil Borgers waren jedoch durch die Teilnahme des Generalanwaltes an der mündlichen Verhandlung und durch seine Beteiligung an den Urteilsberatungen weder die Rechte der Verteidigung noch das Prinzip der Waffengleichheit gewahrt. Im Fall Delcourt hatte der E G M R den Vertreter der Generalprokuratur nicht als Verfahrensgegner angesehen und dementsprechend einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 verneint. Obwohl der Gerichtshof an der Objektivität der Generalprokuratur keine Zweifel hatte, gab er nun zu bedenken, dass ihr durch den Generalanwalt geäußerter Standpunkt aus dem Blickwinkel des Beschuldigten nicht als neutral angesehen werden konnte („cannot be regarded as neutral from the point of view of the parties to the cassation proceedings"), weil der Generalanwalt durch seine Empfehlung, das vom Beschuldigten eingelegte Rechtsmittel betreffend, objektiv gesehen zu dessen Verbündetem oder Gegner wurde („becomes objectively speaking his ally or his opponent"). Einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 nahm der E G M R an, weil der Bf. zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens zu dem für ihn nachteiligen Antrag des Generalanwaltes hatte Stellung nehmen können. Diese Ungleichheit wurde nach Ansicht des E G M R noch dadurch verstärkt, dass der Generalanwalt in beratender Funktion an den Urteilsberatungen des Gerichts teilnahm. Genau genommen lagen damit zwei Konventionsverstöße vor: die fehlende Möglichkeit zur Stellungnahme zum Antrag des Generalanwalts - faktisch mangels Kenntnis bzw. rechtlich wegen des gesetzlich ausdrücklich normierten Verbots der Stellungnahme - und die Teilnahme des Generalanwalts an den Urteilsberatungen nach der Stellung eines für den Beschuldigten nachteiligen Antrags. Es ist zu vermuten, dass der E G M R einen Konventionsverstoß auch dann angenommen hätte, wenn der Generalanwalt nicht an den Beratungen des Gerichts teilgenommen hätte. Auf die Trennbarkeit beider Verstöße deutet auch die spätere - zivilprozessuale - Entscheidung Vermeulen hin („this fact in itself amounts to a breach"). 92
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EGMR, Delcourt./. Belgien, Serie A Nr. 11, § 35; Borgers ./. Belgien, Serie A Nr. 214-B, §§ 13, 15,24, 26-29 (vgl. den Bericht der EKMR, die der Ansicht war, dass die Generalprokuratur nicht als neutrales Hilfsorgan des Kassationsgerichtshofs angesehen werden konnte und deshalb einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 wegen der fehlenden objektiven Unparteilichkeit des Gerichts angenommen hatte). Die im Urteil Borgers entwickelten Grundsätze hat der Gerichtshof in den späteren zivilrechtlichen Entscheidungen Vermeulen, van Orshoven, Lobo Machado und K.D.B. bestätigt, dort allerdings Verstöße gegen das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren angenommen („right to adversarial proceedings"). Auch in einem Verfahren über einen zivilrechtlichen Anspruch entspricht es nicht den
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Nicht zu verwechseln mit dem Recht zur Stellungnahme auf die Erklärung einer Anklage- oder Justizbehörde ist das in einigen nationalen Strafprozessordnungen garantierte letzte Wort des Beschuldigten, das durch die Konvention nicht ausdrücklich geschützt ist, sich aber über das Fairnessgebot herleiten ließe. Als Beleg dafür, dass der Beschuldigte generell und immer die Möglichkeit haben muss, als letzter eine Stellungnahme abzugeben, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzieht und über die strafrechtliche Anklage entscheidet, kann das Urteil Borgers allerdings nicht bemüht werden. In den Urteilen J.J. und Reinhardt u. Slimane-Kai'd zu Strafverfahren vor dem niederländischen Höge Raad und dem französischen Cour de Cassation hat der EGMR seine Rechtsprechung zum Recht des Beschuldigten auf Abgabe einer Stellungnahme zu Erklärungen objektiver Justizbehörden bestätigt. Eine Besonderheit bestand in der Entscheidung J.J. darin, dass der Bf. vor dem Höge Raad im Staatssekretär beim Finanzministerium neben der Generalprokuratur einen zweiten Gegner besaß, der sogar eine Verteidigungsschrift gefertigt hatte.93 Im Urteil Reinhardt u. Slimane-Kai'd hatten die Bf. die mündlich vor dem Cour de Cassation abgegebene Stellungnahme des Generalanwalts weder vor der Verhandlung in schriftlicher Form erhalten, noch konnten sie in der Verhandlung zu ihr Stellung nehmen. Aus der Formulierung der Entscheidungsgründe („the fact that the advocate-general's submissions were not communicated to the applicants likewise questionable") wird nicht ganz klar, ob der EGMR in der unterbliebenen Mitteilung der Erklärungen des Generalanwaltes einen Konventionsverstoß gesehen hat, zumal er zuvor bereits einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 angenommen hatte (Zusendung des Urteilsentwurfs nur an den Generalanwalt). Das Urteil ist aber aus anderer Sicht interessant, weil der EGMR die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung geänderte Rechtslage in Frankreich geprüft und als konventionsgemäß bewertet hat. Nach dem im Urteil mitgeteilten Verfahren informiert der Generalanwalt jetzt die Anwälte der Parteien spätestens einen Tag vor der Verhandlung über den Tenor seiner Erklärung („tenor of his submissions"). In den Fällen, in denen auf Antrag des Verteidigers eine mündliche Verhandlung stattfindet, kann dieser auf die Erklärung mündlich und schriftlich gegenüber dem Gericht Stellung nehmen.94 (2) Erklärungen der Anklagebehörde Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren im Strafprozess verlangt, dass jedem Verfahrensbeteiligten eine angemessene Möglichkeit zur Darstellung des Falles ein-
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Grundsätzen eines kontradiktorischen Verfahrens, wenn eine Partei den Inhalt einer Stellungnahme zu den Erfolgsaussichten eines von ihr eingelegten Rechtsmittels, die der Vertreter einer objektiven Justizbehörde entweder vor der Verhandlung schriftlich erstellt und/oder in der Verhandlung mündlich abgegeben hat, weder kennt noch zu ihr Stellung nehmen darf, bevor das Gericht über das Rechtsmittel berät oder entscheidet: E G M R , Vermeulen ./. Belgien, Reports 1996-1, §§ 30-34 (Feststellung der Insolvenz); Lobo Machado ./. Portugal, Reports 1996-1, §§ 30-32 (arbeits-/rentenrechtliche Streitigkeit); van Orshoven ./. Belgien, Reports 1997-III, §§ 37-42 (ärztliches Berufsverbot - ziviloder strafrechtlichen Charakter offen gelassen); K.D.B. ./. Niederlande, Reports 1998-11, §§ 42-44 (tierseuchenrechtliche Zwangsanordnung); siehe auch das Kapitel zur Urteilsberatung. E G M R , J.J../. Niederlande, Reports 1998-11, §§ 7-16, 37-40. E G M R , Reinhardt u. Slimane-Kai'd ./. Frankreich, Reports 1998-11, §§ 67-69, 105-107.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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schließlich seiner Beweise gegeben wird („be afforded a reasonable opportunity to present his case including his evidence"). Dies muss unter Bedingungen geschehen, die für keinen Verfahrensbeteiligten eine wesentliche Benachteiligung darstellt („under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-ä-vis his opponent"). Dieses zunächst auf der Grundlage zivilrechtlicher Entscheidungen entwickelte Prinzip hat der EGMR im Urteil Bulut ausdrücklich auf Strafverfahren übertragen. Da jedoch eine Benachteiligung der Anklagebehörde niemals einen Konventionsverstoß nach sich ziehen kann, wird nur ihr bzw. einem ihrer Vertreter die Rolle des „opponent" zukommen.95 Deshalb ist es überraschend, dass der Gerichtshof die Grundsätze eines kontradiktorischen Verfahrens strafprozessual „neutral" formuliert. In einem fairen und kontradiktorischen Strafprozess muss sowohl die Anklagebehörde als auch die Verteidigung die Möglichkeit erhalten, Stellungnahmen und Beweise der Gegenseite zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern („both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party").96 Die für objektive Justizbehörden aufgestellten Grundsätze gelten α fortiori für die Staatsanwaltschaft oder eine mit der Strafverfolgung betraute Anklagebehörde („body charged with the prosecution"), die ohne die Kenntnis der Verteidigung eine Erklärung gegenüber dem erkennenden Strafgericht abgibt („unfair ... to make submissions to a court without the knowledge of the defence"). Wie bei der Unparteilichkeit eines Gerichts spielen auch hier die Äußerlichkeiten im Verfahren („appearances") eine gewisse Rolle. Liegt objektiv eine verfahrensrechtliche Ungleichbehandlung vor („procedural inequality"), kommt es für die Annahme eines Konventionsverstoßes nicht auf einen bestimmten Grad an Unfairness an, weil sich eine Ungleichbehandlung oder Unfairness im Verfahren nicht quantifizieren lässt („does not depend on further, quantifiable unfairness"). Auch das Strafgericht ist nicht befugt, darüber zu befinden, ob eine Stellungnahme der Anklagebehörde eine Reaktion der Gegenseite verlangt. Dies ist allein Sache der Verteidigung („assess whether a submission deserves a reaction"), auch in einem Verfahren vor einem Rechtsmittelgericht.97 Auf welche Art und Weise die Stellungnahme einer Anklagebehörde dem Beschuldigten zur Kenntnis gebracht wird, insbesondere ob dies durch die Behörde oder das Strafgericht erfolgen muss, hat der Gerichtshof offen gelassen. Vielmehr hat er klargestellt, dass die Vertragsstaaten und die nationalen Gerichte die Einhaltung dieser verfahrensrechtlichen Anforderungen auf verschiedene Art und Weise erfüllen können, solange jede Partei von eingehenden Stellungnahmen der Gegenseite
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E G M R , Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande, Serie A Nr. 274, § 33; Hentrich ./. Frankreich, Serie A Nr. 296-A, § 56; Bulut./. Österreich, Reports 1996-11, § 47; Ankerl./. Schweiz, Reports 1996-V, § 38; Nideröst-Huber ./. Schweiz, Reports 1997-1, § 23; De Haes u. Gijsels ./. Belgien, Reports 1997-1, § 53; Werner./. Österreich, Reports 1997-VII, § 63. E G M R , Brandstetter ./. Österreich, Serie A Nr. 211, § 67; Bulut ./. Österreich, Reports 1996-11, §§ 48-49 („a position which was not communicated to the defence and to which the defence could not reply"). E G M R , Bulut./. Österreich, Reports 1996-11, §§47,49.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
informiert wird und eine echte Möglichkeit erhält, sich zu ihnen zu äußern („ensure that the other party will be aware that observations have been filed and will get a real opportunity to comment thereon").98 Der Beschuldigte muss die Einlassung der Anklagebehörde überprüfen und direkt zu ihr Stellung nehmen können („right to examine and reply directly to submissions made by the prosecution"). Daher darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft stützen, wenn dem Beschuldigten lediglich eine indirekte und nur hypothetische Möglichkeit gewährt wird, die in dieser Stellungnahme enthaltenen Argumente zu kommentieren („indirect and purely hypothetical possibility ... to comment on prosecution arguments"). Namentlich die wörtliche Wiedergabe einer solchen Stellungnahme in einer gerichtlichen Entscheidung, welche im späteren Instanzenzug aufgehoben wird, kann kein geeigneter Ersatz für das Recht auf unmittelbare Prüfung der in ihr enthaltenen Argumente sein. Ebenso kommt die Heilung eines solchen Verstoßes durch ein Rechtsmittelgericht nur eingeschränkt in Betracht. Die Aufhebung des Urteils, welches auf diesem Mangel beruht, genügt jedenfalls nicht, wenn sie aus einem ganz anderen Grund erfolgt." Im Fall Brandstetter war die Berufung des Bf. verworfen worden. Die Generalprokuratur erhob eine Nichtigkeitsbeschwerde, weil das Berufungsgericht ihrer Ansicht nach fehlerhaft besetzt war. Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil auf und verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück, welches sein früheres Urteil bestätigte. Als der Bf. bei der Generalprokuratur die Einlegung einer erneuten Nichtigkeitsbeschwerde beantragte, nahm er zur Kenntnis, dass beide Urteile des Berufungsgerichts fast wörtlich die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft („Croquis") wiedergaben, die noch vor Erlass des ersten Urteils bei Gericht eingegangen war. Von dem Croquis hatte der Bf. weder eine Kopie erhalten noch war ihm dessen Eingang mitgeteilt worden. Die Regierung hatte geltend gemacht, der Bf. habe sich mittels einer anwaltlichen Akteneinsicht Kenntnis von der Existenz und vom Inhalt des Schriftstücks verschaffen können. Der EGMR maß dem Croquis erhebliche Bedeutung bei („considerable importance") und hielt eine Praxis, die von der Verteidigung Wachsamkeit und Bemühungen verlangt („vigilance and efforts"), um im Wege der Akteneinsicht Kenntnis vom Eingang einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu erhalten, für nicht mit dem Fairnessgebot vereinbar. Die EKMR hatte argumentiert, der Bf. habe sich im zweiten Teil des Verfahrens zu den im Croquis enthaltenen Argumenten äußern können, da das erste Urteil den Text des Croquis fast wörtlich wiedergab und die Oberstaatsanwaltschaft danach keine neue Stellungnahme abgegeben hatte. Diese indirekte, hypothetische Möglichkeit der Stellungnahme zu den Argumenten der Staatsanwaltschaft genügte dem EGMR jedoch nicht. Auch die aus anderen Gründen erfolgte Aufhebung des ersten Berufungsurteils konnte den Verfahrensmangel nicht heilen. Stellungnahmen der Anklagebehörde müssen dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger so rechtzeitig mitgeteilt werden, dass ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vor-
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EGMR, Brandstetter ./. Österreich, Serie Α Nr. 211, § 67; Belziuk ./.Polen, Reports 1998-11, § 37. EGMR, Brandstetter ./. Österreich, Serie Α Nr. 211, §§ 30-34, 67-69.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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bereitung der Verteidigung bleibt (Art. 6 Abs. 3(b)). Bei einer staatsanwaltlichen Stellungnahme zu den Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels reichte dem EGMR in der Entscheidung Kremzow ein Zeitraum von drei Wochen. Je nach Umfang und Inhalt der Stellungnahme und des jeweiligen Verfahrensstadiums können aber auch längere Zeiträume erforderlich sein. Der Bf. war u.a. wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt worden. Zusätzlich wurde seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet. Gegen dieses Urteil erhoben der Bf., seine Frau sowie seine Mutter beim Obersten Gerichtshof Nichtigkeitsbeschwerde. Zusätzlich legten Staatsanwaltschaft, der Sohn des Tatopfers als Privatbeteiligter sowie die Mutter und die Frau des Bf. Berufung ein. Am 2.5.1985 übersandte der Oberste Gerichtshof der Generalprokuratur die Verfahrensakte, welche auch die Dokumente der eingelegten Rechtsmittel enthielt. Der betreffende Aktenvermerk enthielt den Namen des Berichterstatters und war von diesem unterzeichnet. Das 49 Seiten umfassende und auf den 24.7. datierte Croquis der Generalprokuratur ging am 2.8. beim Obersten Gerichtshof ein. Es setzte sich intensiv mit den verschiedenen Nichtigkeitsgründen auseinander, äußerte sich jedoch nicht zu den Berufungen gegen den Strafausspruch. Obwohl der Bf. und sein Verteidiger bereits am 18.9. und 2.10. um die Mitteilung des Croquis gebeten hatten, wurde dieses dem Verteidiger erst am 9.6.1986 zugestellt. Bereits am 4.6. hatte der Oberste Gerichtshof den Termin zur Verhandlung über die Rechtsmittel auf den 2.7. festgesetzt. Wie üblich hatte der Berichterstatter einen Urteilsentwurf gefertigt, der zu den Akten genommen wurde. Dieser Entwurf folgte im allgemeinen der Argumentation im Croquis der Generalprokuratur, die sich für die Durchführung einer Verhandlung und die Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerden ausgesprochen hatte. Der Bf. rügte, dass er eine Ausfertigung des Croquis erst drei Wochen vor dem Gerichtstermin erhalten hatte, nachdem bereits ein Urteilsentwurf erstellt und im zuständigen Spruchkörper vorberaten worden war, was ihm eine Einflussnahme auf dessen Inhalt unmöglich gemacht habe. Der EGMR verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(b), weil seiner Ansicht nach der Zeitraum von drei Wochen dem Bf. und seinem Verteidiger genügend Zeit und Gelegenheit geboten habe, ihre Einlassung rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung zu formulieren und auf das Croquis zu reagieren. Bemerkenswert ist allerdings das Argument, der Verteidiger habe mittels einer Akteneinsicht den Inhalt des Croquis zu einem früheren Zeitpunkt erfahren können, weil sowohl der Bf. als auch der Verteidiger mehrfach vergeblich um dessen Übersendung gebeten hatten.100 Erklärungen einer Anklagebehörde zu den Erfolgsaussichten eines vom Beschuldigten eingelegten Rechtsmittels müssen diesem vor allem dann zur Kenntnis gebracht werden, wenn sich aus ihnen eine klare Position der Behörde ergibt, wie das Gericht mit dem Rechtsmittel verfahren soll („take up a clear position"). Wie der Fall Bulut zeigt, nimmt eine Anklagebehörde eine solch klare Position nicht erst dann ein, wenn sie das Rechtsmittel explizit für unzulässig oder unbegründet hält und seine Verwerfung beantragt,
™ EGMR, Kremzow ./. Österreich, Serie A Nr. 268-B, §§ 10-18,45-50.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
sondern auch dann, wenn die Behörde ohne Angabe von Gründen auf eine nationale Verfahrensvorschrift verweist, nach der das Rechtsmittel in geheimer Verhandlung ohne eine weitere Untersuchung einstimmig und ohne mündliche Verhandlung verworfen werden kann. Im Fall Bulut hatte der Bf. eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Strafurteil erhoben. In ihrem Croquis, welches der Verteidigung nicht mitgeteilt worden war, äußerte die Generalprokuratur die Ansicht, dass über die Nichtigkeitsbeschwerde gemäß Art. 285 d öStPO entschieden werden könne. Dementsprechend verwarf der Oberste Gerichtshof die Nichtigkeitsbeschwerde. Anders als den Procureur geniral am belgischen Cour de Cassation sah der E G M R die Generalprokuratur am österreichischen Obersten Gerichtshof nicht als objektive Justizbehörde, sondern als mit der Anklage betraute Stelle an („body charged with the prosecution"). Obwohl das Croquis keine rechtlichen Gründe enthielt und hinsichtlich des Rechtsmittels lediglich eine bestimmte Verfahrensweise empfahl, nahm der E G M R einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit an, weil die Generalprokuratur mit dieser Stellungnahme eine klare Position zu dem vom Beschuldigten eingelegten Rechtsmittel abgeben konnte („allowed ... to take up a clear position as to the ... appeal"), die der Verteidigung nicht mitgeteilt worden war.101
Einen Grenzfall zwischen einer objektiven Justizbehörde und einer mit der Anklage betrauten Stelle hatte der EGMR im Urteil Belziuk zu entscheiden. Dort hatte ein Vertreter der Staatsanwaltschaft in der Verhandlung vor einem Rechtsmittelgericht in Abwesenheit des Beschuldigten eine Erklärung abgegeben, wonach das von diesem eingelegte Rechtsmittel verworfen und die im erstinstanzlichen Urteil ausgesprochene Verurteilung aufrechterhalten werden sollte. Der EGMR nahm einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit an, obwohl die Staatsanwaltschaft nach der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht nur die Rolle einer Anklagebehörde einnahm, sondern zugleich als Wächterin des öffentlichen Interesses galt („guardian of the public interest"), weil sie im konkreten Fall angesichts der Art der von ihrem Vertreter abgegebenen Erklärung die Rolle einer Anklagebehörde im traditionellen Sinne eingenommen hatte („role ... of a prosecuting authority in the traditional sense"). Wegen der Anwesenheit des Vertreters der Staatsanwaltschaft im Gerichtssaal kann einem derartigen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit auch nicht dadurch abgeholfen werden, dass der Beschuldigte vor Beginn der mündlichen Verhandlung ebenfalls eine umfangreiche Stellungnahme abgibt („having regard both to the presence of the public prosecutor in the courtroom and to the forcefulness of his oral statements").102 Der Bf. hatte gegen ein Urteil, in dem er wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, Berufung eingelegt. Neben der Einvernahme mehrerer Zeugen beantragte er seine Teilnahme an der Verhandlung, die das Berufungsgericht indes nicht
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EGMR, Bulut./. Österreich, Reports 1996-11, §§ 8-20,47-50. EGMR, Belziuk ./. Polen, Reports 1998-II, § 39.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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für erforderlich hielt, weil sich der Bf. bereits detailliert in erster Instanz zu der ihm zur Last gelegten Tat geäußert, in seiner Rechtsmittelschrift die seiner Ansicht nach gegen die Verurteilung sprechenden Gründe umfänglich dargelegt und ausreichend Zeit gehabt habe, weitere schriftliche Einlassungen abzugeben. Die Berufung wurde verworfen, nachdem ein Vertreter der Staatsanwaltschaft in der Verhandlung vor dem Berufungsgericht eine Erklärung abgegeben und beantragt hatte, das erstinstanzliche Urteil aufrechtzuerhalten. Polnische Staatsanwälte sind trotz ihrer hierarchischen Weisungsgebundenheit in der Ausübung ihrer Pflichten unabhängig. Die polnische Regierung hatte behauptet, dass der Staatsanwalt vor dem Berufungsgericht nicht nur die Rolle einer Anklagebehörde eingenommen hatte, sondern zur Gleichbehandlung aller Bürger verpflichtet war und auch zum Schutz eines öffentlichen Interesses gehandelt habe („was present at the appellate hearing not in the capacity of prosecuting authority but as the guardian of the public interest"). Dem folgte der Gerichtshof jedoch nicht. Seiner Ansicht nach hätte es dem Bf. aus den bereits oben genannten Gründen gestattet werden müssen, an der Verhandlung teilzunehmen und die Erklärungen des Staatsanwalts in Frage zu stellen („allowed to attend the hearing and to contest the submissions"). Auch zusätzliche schriftliche Stellungnahmen des Bf. hätten diesem Mangel nicht abhelfen können, so dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(c) vorlag.103 Die Entscheidung Belziuk fügt sich durchaus in die bis dato vorhandene Rechtsprechung des Gerichtshofs ein. Gleichwohl scheint der E G M R hier eine neue Richtung einzuschlagen. Den Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit leitet er nicht mehr ausschließlich aus dem Inhalt der von der Anklagebehörde abgegebenen Erklärung ab. Er berücksichtigt nunmehr auch die Art und Form, in der die Erklärung abgegeben wird, insbesondere die durch die Anwesenheit eines ihrer Mitglieder in der gerichtlichen Verhandlung potentiell mögliche Einflussnahme der Anklagebehörde auf die gerichtliche Entscheidung. Zur Wahrung des Prinzips der Waffengleichheit reicht es also nicht (mehr) aus, wenn dem Beschuldigten die Erklärungen einer Anklage- oder Justizbehörde mitgeteilt werden und er zu ihnen schriftlich Stellung nehmen kann. Das dürfte nicht nur für Verfahren gelten, in denen über ein vom Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel entschieden wird und - wie im Urteil Belziuk - der Vertreter der Anklagebehörde ausdrücklich die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt, sondern für sämtliche Verfahren und Entscheidungen über die strafrechtliche Anklage. Insbesondere wäre eine Differenzierung nach der Person des Rechtsmittelführers oder der Art des Rechtsmittels dem Fairnessgebot abträglich. Offensichtlich sieht der E G M R im Recht des Beschuldigten auf Anwesenheit in der Verhandlung und auf Stellungnahme zu Erklärungen eines anderen Verfahrensbeteiligten zwei Elemente der Waffengleichheit, die kombiniert betrachtet werden müssen. Die Folgen der Entscheidung Belziuk reichen über den Bereich staatsanwaltlicher Erklärungen hinaus. Auch bei Stellungnahmen objektiver Justizbehörden, wie sie der Entscheidung Borgers zugrunde lagen, dürfte es nicht länger ausreichen, wenn dem Beschul-
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EGMR, Belziuk ./. Polen, Reports 1998-11, §§ 6-13, 37-39.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
digten die Stellungnahme vor Beginn der Verhandlung mitgeteilt wird, er sich zu ihr schriftlich äußern kann, dann aber in der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht im Gegensatz zu dem Vertreter der Behörde nicht anwesend sein darf oder kein Recht zur Stellungnahme besitzt.104 Mittelbar hat der Gerichtshof durch das Urteil Belziuk auch das Anwesenheitsrecht des Beschuldigten in der Verhandlung vor dem Strafgericht nachhaltig gestärkt. Obwohl es in der Entscheidung Werner um die Gewährung einer Haftentschädigung und damit um einen zivilrechtlichen Anspruch ging, wird man ihr den Grundsatz entnehmen können, dass eine Stellungnahme der Anklagebehörde dem Beschuldigten auch dann mitgeteilt werden muss, wenn die Anklagebehörde bereits in der Vorinstanz eine inhaltlich gleiche Stellungnahme abgegeben hat, die dem Beschuldigten mitgeteilt worden ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gerichtshof in diesem Punkt an ein strafrechtliches Verfahren geringere Anforderungen stellen wird. Der Bf. hatte nach Einstellung des gegen ihn geführten Strafverfahrens einen Anspruch auf Haftentschädigung gestellt. Daraufhin hatte die Staatsanwaltschaft beim Wiener Landesgericht eine Erklärung eingereicht, wonach der Antrag abzulehnen war, weil der Verdacht gegen den Bf. nicht vollständig entfallen sei. Diese Erklärung wurde dem Bf. während einer Anhörung von einem Untersuchungsrichter mitgeteilt. Gegen die ablehnende Entscheidung des Landesgerichts rief der Bf. das Oberlandesgericht Wien an. Einer schriftlichen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft folgend, die dem Bf. nicht mitgeteilt wurde, lehnte das Oberlandesgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Haftentschädigungsantrag ab. Obwohl ein Vertreter der Staatsanwaltschaft weder an den Beratungen des Landesgerichts, noch an denen des Oberlandesgerichts teilgenommen hatte, war die WafTengleichheit nicht gewahrt. 105 (3) Stellungnahme eines Gerichts In Rechtsmittelverfahren ist es auch denkbar, dass nicht die Anklagebehörde oder eine andere Justizbehörde, sondern das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, eine den Fall betreffende Erklärung abgibt. Über eine solche Konstellation hatte der Gerichtshof in der Entscheidung Nideröst-Huber aus Anlass einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit zu befinden. Aufgrund der Formulierung „it is also of little consequence that the case concerned civil litigation ...on this point the requirements ... are the same in both civil and criminal cases" kann kein Zweifel daran bestehen, dass der EGMR in Strafverfahren ebenso entscheiden wird. Demnach wird man festhalten können, dass es zwar grundsätzlich nicht gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstößt, wenn das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, eine Erklärung zu den Erfolgsaussichten des gegen sein Urteil eingelegten Rechtsmittels abgibt. Das Fairnessgebot verlangt jedoch, dass der
104
105
Davon muss man ausgehen, obwohl der EGMR im Urteil Belziuk nur pauschal von „written submissions" spricht. Die Möglichkeit, dem Bf. den konkreten Antrag der Staatsanwaltschaft mitzuteilen, war im konkreten Fall offensichtlich weder erwogen noch angesprochen worden. EGMR, Werner ./. Österreich, Reports 1997-VII, §§ 6-17, 18-24, 34-40,45-51, 54-60, 63-69.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
417
Beschuldigte nicht nur zu Erklärungen der Gegenseite, sondern prinzipiell zu allen vorgelegten Beweisen und eingereichten Erklärungen Stellung nehmen kann („right for the parties to a trial to have knowledge of and comment on all evidence adduced or observations filed"). Jedenfalls wenn die Stellungnahme eines Untergerichts die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts nachhaltig beeinflussen soll („manifestly aimed at influencing ... decision"), muss der Beschuldigte von ihrer Existenz in Kenntnis gesetzt werden („be informed that ... had sent observations") und zu ihr seinerseits Stellung nehmen können („given the opportunity to comment on them"). Ob und in welchem Umfang die Erklärung tatsächlich Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts hat, ist ebenso wenig von Bedeutung wie die Frage, ob die Erklärung Tatsachen oder Argumente enthält, die bereits in der angefochtenen Entscheidung zur Sprache gekommen sind („present any fact or argument which has not already appeared in the impugned decision"). Auch hier ist es allein die Aufgabe des Beschuldigten zu entscheiden, ob er zu dieser Erklärung Stellung nehmen will. Selbst eine etwaige mit der Stellungnahme beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung kann einen solchen Verfahrensmangel nicht rechtfertigen. Der Bf. Nideröst- Huber hatte seinen früheren Arbeitgeber auf Zahlung einer Abfindung verklagt. Ein Bezirksgericht und ein Kantonsgericht hatten die Klage abgewiesen und das vom Bf. eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen. Gegen dieses Urteil legte der Bf. Berufung ein. Daraufhin übersandte das Kantonsgericht die Akte zusammen mit einer Stellungnahme an das Schweizerische Bundesgericht. In dieser Stellungnahme, die weder dem Bf. noch dem Gegner mitgeteilt wurde, forderte es die Verwerfung des Rechtsmittels. Die Berufungserwiderung des Arbeitgebers wurde dem Bf. übermittelt, die Berufung vom Schweizerischen Bundesgericht verworfen. Die Stellungnahme des Kantonsgerichts als solche verstieß nach Ansicht des Gerichtshofs nicht gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens. Die zivilprozessuale Besonderheit des Falles lag nun darin, dass der EGMR auch einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit verneinte, weil keinem der beiden Verfahrensbeteiligten die Stellungnahme des Berufungsgerichts mitgeteilt worden war und weder das Kantonsgericht noch das Bundesgericht wegen ihrer Unabhängigkeit als Gegner des Bf. angesehen werden konnten. Statt dessen lag ein Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens vor, weil dem Bf. die Existenz der Stellungnahme nicht mitgeteilt worden war und er sich demzufolge nicht zu ihr äußern konnte. Das weitere vom Gerichtshof angeführte Argument, das Bundesgericht sei von dem sonst üblichen, dem Schutz der Verfahrensbeteiligten dienenden Verfahren abgewichen, deutet zumindest an, dass auch eine solche Abweichung ein Grund für die Nichteinhaltung der Verfahrensfairness sein kann.
b)
Einholung dienstlicher Erklärungen durch das Gericht
In einem fairen Strafverfahren muss dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, zu allen Beweisen Stellung zu nehmen, die sich auf streitige Tatsachen beziehen („comment on evidence obtained in regard to disputed facts"). Da der EGMR den Begriff „evidence" sehr weit auslegt, fallen darunter auch solche Umstände, die eher eine Verfahrensfrage als die zu prüfende strafrechtliche Anklage betreffen. Deshalb muss ein kontradiktorisches Verfahren auch bei der Einholung dienstlicher Erklärungen der
418
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Verfahrensbeteiligten eingehalten werden. 106 Dies dürfte nicht nur - wie im Fall Kamasinski - vor einem Rechtsmittelgericht, sondern auch im erstinstanzlichen Verfahren gelten. Im Fall Kamasinski hatte der Bf. mit einem Rechtsmittel die unzureichende Ubersetzung im erstinstanzlichen Verfahren gerügt. Daraufhin wurde der Vorsitzende Richter des Gerichts, welches in erster Instanz entschieden hatte, durch den Berichterstatter des zuständigen Senats am Obersten Gerichtshof telefonisch befragt. Dieser beschrieb das Verfahren und gab sinngemäß an, dass sämtliche wichtigen Aussagen und Dokumente übersetzt worden seien und auch im übrigen kein Übersetzungsmangel vorgelegen habe. Weder der Bf. noch sein Verteidiger waren von der telefonischen Befragung in Kenntnis gesetzt oder über deren Ergebnis informiert worden. Der Oberste Gerichtshof zitierte in seinem Urteil die Stellungnahme des Vorsitzenden fast wortwörtlich und sah durch sie die vom Bf. behaupteten Verfahrensmängel als widerlegt an. Weil es sich bei dem befragten Richter im konkreten Fall genau um die Person handelte, die nach Ansicht des Bf. für die unzureichende Übersetzung verantwortlich war, verstieß das Verfahren nach Ansicht des EGMR gegen den Grundsatz, dass streitende Parteien zu hören sind. c)
Mitteilung
des
Urteilsentwurfs
Eng mit dem Recht zur Stellungnahme verbunden ist das Problem, ob es mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens vereinbar ist, wenn vor Beginn der mündlichen Verhandlung ein Urteilsentwurf und das Votum des Berichterstatters des erkennenden Gerichts lediglich der Anklagebehörde oder wie im Fall Reinhardt u. Slimane-Kaid dem Vertreter einer am Verfahren beteiligten Justizbehörde mitgeteilt werden. Auch hier hängt die Einhaltung der Verfahrensfairness vor allem vom Inhalt und der Bedeutung der mitgeteilten Dokumente, den mit dem Verfahren verbundenen Folgen und von der Rolle ab, die der Vertreter der Behörde in dem Verfahren spielt. Wenn er aufgrund seiner beratenden Funktion und der Autorität seines Amtes („authority of his office") auf die gerichtliche Entscheidung zugunsten oder zum Nachteil des Beschuldigten einwirken kann („may influence their decision in a way that is either favourable or runs counter to the case put forward by appellants") und die mitgeteilten Dokumente eine gewisse Bedeutung besitzen, geht der E G M R von einer mit den Prinzipien eines fairen Verfahrens unvereinbaren Ungleichbehandlung aus („imbalance"). Im Fall Reinhardt u. Slimane-Kaid hatten die Bf. Rechtsmittel gegen ein Berufungsurteil eingelegt. Die Verfahrensakte wurde dem Cour de Cassation übersandt und dort einem Berichterstatter zugeteilt. Dieser erstellte vor der mündlichen Verhandlung einen Bericht nebst Urteilsentwurf („draft judgment"), der dem inzwischen bestellten Generalanwalt übersandt wurde. Während der erste Teil des Berichts eine Zusammenstellung der Tatsachen, des Verfahrens und der Rechtsmittelgründe enthielt, bestand der zweite Teil aus einer rechtlichen Bewertung des Falles und einem Votum über die 106
E G M R , Kamasinski./. Österreich, Serie Α Nr. 168, § 102 (hier noch wörtlich: „fair hearing"); vgl. zur Einholung telefonischer Auskünfte auch das Urteil Wassink (Serie A Nr. 185-A), in dem der E G M R einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 verneinte.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
419
Erfolgsaussichten des Rechtsmittels. Die gerichtliche Verhandlung begann mit dem Vortrag des Berichterstatters, sodann gab der Generalanwalt eine mündliche Stellungnahme ab. Auf der Grundlage des Vortrags, der Stellungnahme und der Schriftsätze der Parteien verwarf der Cour de Cassation das Rechtsmittel der Bf., die einen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens rügten, weil der Bericht des Berichterstatters weder ihnen noch ihren Verteidigern, wohl aber dem Generalanwalt mitgeteilt worden war. Dem schloss sich der EGMR an, wobei er vor allem auf die beratende Rolle des Generalanwalts („advocate-general's role"), dessen Einflussmöglichkeit auf die gerichtliche Entscheidung, deren mögliche Folgen für die Bf. („consequences of the outcome of the proceedings") und die Bedeutung der Schriftstücke („importance of the reporting judge's report") abstellte. Als nicht ausreichend bewertete es der Gerichtshof, dass die Verteidiger eine Woche vor der Verhandlung aus einer Liste ersehen konnten, ob der Berichterstatter die Verwerfung oder Stattgabe des Rechtsmittels empfohlen hatte. Dass sie in der mündlichen Verhandlung zum Vortrag des Berichterstatters mündlich Stellung nehmen hätten können, genügte dem EGMR ebenfalls nicht, weil sich der Vortrag nur auf den ersten Teil des Berichtes bezog und der zweite Teil sowie der Urteilsentwurf der Verteidigung nicht mitgeteilt werden durften. Zu beachten ist allerdings, dass der EGMR lediglich eine Ungleichbehandlung im Verfahren festgestellt hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Bericht eines Berichterstatters und ein etwaiger Urteilsentwurf dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger generell mitgeteilt werden müssen. Der EGMR hat ausdrücklich festgestellt, dass die Nichtoffenlegung des zweiten Teils des Berichts und des Urteilsentwurfs als Bestandteile der Urteilsberatung gegenüber der Verteidigung an sich nicht zu beanstanden war („were legitimately privileged from disclosure as forming part of the deliberations"). Nur hätte eben auch eine Mitteilung gegenüber der Generalprokuratur unterbleiben müssen.107 Die vorgenannten Grundsätze gelten entsprechend bzw. - wie der EGMR im Fall Bulut im anderen Zusammenhang sagt - α fortiori, wenn die Mitteilung gegenüber der mit der Anklage befassten Behörde erfolgt. d)
Mitteilung
der Person des
Berichterstatters
Keine Probleme dürfte die einseitige Mitteilung der Person des Berichterstatters aufwerfen, auch wenn die Anklage- bzw. Justizbehörde durch sie erkennen kann, welcher Spruchkörper mit der Entscheidung über die Anklage befasst sein wird. Im Fall Kremzow hatte der Oberste Gerichtshof die Verfahrensakte der Generalprokuratur zur Fertigung eines Croquis übersandt. Der betreffende gerichtliche Aktenvermerk enthielt den Namen des Berichterstatters und war von diesem unterzeichnet. Nach Ansicht des Bf. verstieß es gegen den Grundsatz der Waffengleichheit, dass der Generalprokuratur, nicht aber der Verteidigung, die Identität des Berichterstatters mitgeteilt worden war, weil so erkennbar war, welcher Senat des Obersten Gerichtshofs den Fall behandeln würde. Eine mangelnde Fairness des Verfahrens sah der EGMR in diesem Punkt jedoch nicht.108
107 108
EGMR, Reinhardt u. Slimane-Kaid ./. Frankreich, Reports 1998-11, §§ 67-69, 105-107. EGMR, Kremzow ./. Österreich, Serie A Nr. 268-B, §§ 10-17, 24, 33, 73, 75.
420
4.
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Aussetzung des Strafverfahrens bis zum Abschluss eines anderen Verfahrens
Die Aussetzung eines Strafprozesses ( „ a d j o u r n m e n t of a hearing"), u m den A u s g a n g eines a n d e r e n Verfahrens abzuwarten, steht grundsätzlich im Ermessen der nationalen Gerichte. Sind hinsichtlich eines Lebenssachverhalts sowohl ein Zivilrechtsstreit als a u c h ein S t r a f v e r f a h r e n anhängig, so ist d a s Strafgericht keineswegs gezwungen, seine E n t scheidung solange auszusetzen bis ü b e r d a s zivilrechtliche Verfahren entschieden ist. Im Fall Gillow ging es um ein von F geführtes Zivilverfahren, dessen wesentliche zivilrechtliche Streitfrage auch Gegenstand des gegen den Ehemann (M) geführten Strafverfahrens war. F klagte auf Erteilung einer - in erster Instanz versagten - Genehmigung, um zusammen mit Μ ein Haus auf der Kanalinsel Guernsey bewohnen zu können. Μ wurde beschuldigt, das besagte Haus unrechtmäßig, d.h. ohne die erforderliche Genehmigung bewohnt zu haben. Ein Magistrates' Court verurteilte M, ohne den Ausgang des von F angestrengten Berufungsverfahrens abzuwarten. Μ legte gegen das Urteil Berufung ein. Zur Entscheidung über die Rechtsmittel von F und Μ war der Royal Court berufen. Dieser entschied zunächst über das Rechtsmittel der F, sodann über das des M. Die Bf. rügten einen Verstoß gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens, da - soweit es das Strafverfahren gegen Μ betraf - das erstinstanzliche Strafurteil die Entscheidung des Royal Court in der Zivilsache gegen F und diese Entscheidung wiederum die Entscheidung über die gegen den Μ erhobene Anklage in unfairer Weise beeinflusst habe. Der E G M R wies darauf hin, dass die Aussetzung des Strafverfahrens im Ermessen des Magistrates' Court gestanden habe und die Berufung in der Zivilsache zu dem für die Durchführung des erstinstanzlichen Strafverfahrens bereits bestimmten Termin noch nicht anhängig gewesen sei.109
5.
Exkurs: Übertragbarkeit zivilprozessualer Grundsätze auf Strafverfahren
F ü r die Ausgestaltung des Verfahrens, in d e m ü b e r zivilrechtliche A n s p r ü c h e o d e r Verpflichtungen entschieden wird, lassen sich a u s der K o n v e n t i o n n u r wenige Verfahrensgarantien herleiten, wobei die wichtigsten sicherlich d e m A r t . 6 Abs. 1 zu e n t n e h m e n sind. D e n n o c h hat der E G M R in den letzten J a h r e n a u c h f ü r die E n t w i c k l u n g eines europäischen Zivilverfahrensrechts beachtliche A n s t ö ß e gegeben u n d erste Leitlinien vorgezeichnet. D a insbesondere die Vorschrift des A r t . 6 sowohl auf zivilrechtliche als a u c h auf strafrechtliche Verfahren A n w e n d u n g findet, ergeben sich zwangsweise Ü b e r schneidungen zwischen beiden Verfahrensformen. G e h t es u m die Kriterien u n d Elem e n t e eines fairen Verfahrens in Strafsachen, d a r f a u c h ein kurzer Überblick über die Entscheidungen des E G M R z u m fairen Verfahren in zivilrechtlichen Streitigkeiten nicht fehlen. Soweit sie eine Vertiefung u n d Ausweitung der Beschuldigtenrechte bewirken,
109
EGMR, Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 109, §§ 23-26, 70.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
421
sind etwaige Überschneidungen durchaus zu begrüßen. Das gilt namentlich für die Grundsätze eines fairen Verfahrens. Das auch in Strafverfahren fundamentale Recht des Beschuldigten, den Fall aus seiner Sicht darlegen zu können („opportunity to present his case including his evidence"), und die damit unmittelbar zusammenhängende Garantie, von Erklärungen und Beweisen der Gegenseite Kenntnis zu erlangen und zu ihnen Stellung zu nehmen („opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed or evidence adduced by the other party"), hat der Gerichtshof zunächst in zivilrechtlichen Entscheidungen entwickelt und erst später auf Strafverfahren übertragen. 110 Wie erwähnt, hat der EGMR umgekehrt nicht davor zurückgeschreckt, den Beschuldigtenrechten und strafprozessualen Verfahrensgarantien über den Bereich des Strafrechts hinaus Geltung zu verschaffen. Die im Strafprozess geforderte Waffengleichheit zur Herstellung eines fairen Gleichgewichts zwischen den Parteien muss prinzipiell („in principle") auch in zivilrechtlichen Verfahren gewahrt sein. Deshalb verstößt es gegen die WafTengleichheit, wenn in einem Zivilprozess eine Partei eine bessere Stellung als die andere hat. Dies kann vor allem durch eine Ungleichbehandlung bei der Einvernahme der von den Parteien benannten Zeugen geschehen („difference of treatment in respect of the hearing of the parties' witnesses").111 Weil die Vertragsstaaten bei der Gestaltung des Verfahrens zur Verhandlung über zivilrechtliche Streitigkeiten einen größeren Spielraum besitzen („greater latitude"), darf eine Übertragung zivilprozessualer Verfahrensgarantien auf Strafverfahren nicht uneingeschränkt und ohne jede Zurückhaltung erfolgen. Die Anforderungen an die Verfahrensfairness in Fällen, die eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen betreffen, sind nicht notwendigerweise identisch mit denen, die für die Verhandlung über eine strafrechtliche Anklage gelten. Dafür spricht schon das Fehlen detaillierter zivilprozessualer Konventionsbestimmungen, wie sie etwa in Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 für angeklagte Personen vorhanden sind.112 Einige Gesichtspunkte zivil-
110
111
112
E G M R , McMichael ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 307-B, §§ 79, 80, 83-84. Hier nahm der E G M R einen Verstoß gegen das Fairnessgebot an, weil einem Elternteil in einem Sorgerechtsverfahren Sozialberichte über ein Kind nicht zugänglich gemacht worden waren („vital documents"), auf deren Grundlage über die Anordnung von Pflegezwangsmaßnahmen und die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie zu entscheiden war; vgl. außerdem: E G M R , Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande, Serie A Nr. 274, § 33; Hentrich./. Frankreich, Serie A Nr. 296-A, § 56; Ankerl./. Schweiz, Reports 1996-V, § 38; Nideröst-Huber./. Schweiz, Reports 1997-1, § 23; De Haes u. Gijsels./. Belgien, Reports 1997-1, § 53; Werner ./. Österreich, Reports 1997-VII, §§ 63-65. EGMR, Dombo Beheer B.V../. Niederlande, Serie A Nr. 274, § 33; Ankerl./. Schweiz, Reports 1996-V, § 38; vgl. auch: Feldbrugge ./. Niederlande, Serie A Nr. 99, § 44; Werner ./. Österreich, Reports 1997VII, § 66. E G M R , Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande, Serie A Nr. 274, § 32; Levages Prestations Services ./. Frankreich, Reports 1996-V, § 46; vgl. auch E G M R , Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, § 39; Diennet ./. Frankreich, Serie A Nr. 325, §§ 27-28 (Verhängung eines Berufsverbots durch die Disziplinarorgane einer Ärztekammer). Der E G M R ließ es offen, ob gegen den Bf. eine strafrechtliche Anklage erhoben war, da er die mangelnde Öffentlichkeit der Verhandlung und die Parteilichkeit des Gerichts gerügt hatte („rules which the applicant alleged to have been breached apply to both civil and criminal matters").
422
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
prozessualer Verfahrensfairness sind zudem auf den Parteiprozess zugeschnitten, der bereits begriffslogisch von einer Gleichstellung der Verfahrensbeteiligten ausgeht, wie sie zumindest für den kontinentaleuropäischen Strafprozess - bei aller gebotenen Waffengleichheit - durchaus untypisch ist. Auf vielen Gebieten des Strafprozessrechts hat der E G M R mittlerweile spezielle Ausprägungen der Verfahrensfairness entwickelt (Schweigerecht, Selbstbelastungsprivileg, Recht zur Information und Stellungnahme usw.). Auch in Zukunft ist es keineswegs ausgeschlossen, dass der Gerichtshof bei einzelnen strafprozessualen Fragestellungen auf zivilprozessuale Grundsätze zurückgreift und diese dann auf Strafverfahren entsprechend anwendet. Dies könnte beispielsweise für die im Urteil Siran Greek Refineries getroffene Feststellung gelten „ the principle of the rule of law and the notion of fair trial enshrined in Article 6preclude any interference by the legislature with the administration of justice designed to influence the judicial determination of the dispute". Einflussnahmen des Gesetzgebers auf anhängige gerichtliche Verfahren sind auch in Strafsachen denkbar. Namentlich die Stellung von Vertagungsanträgen mit dem Ziel, ein für den Verfahrensgegner nachteiliges Urteil zu erreichen, dürfte auch in Strafsachen kaum den Grundsätzen eines fairen Verfahrens entsprechen. 113 Wenn die Vereinbarkeit von Vereidigungsverboten mit der E M R K auf dem Prüfstand steht, wird der Gerichtshof sicherlich nicht umhinkommen, das eine Räumungsklage betreffende Urteil Ankerl einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Von ausschlaggebender Bedeutung war in diesem Fall, o b die Parteien bei einem Treffen einen mündlichen Mietvertrag geschlossen hatten. An dem Treffen hatten der Bf., seine Ehefrau und eine weitere Person (L) teilgenommen, die im Lager der gegnerischen Partei stand. Gemäß dem kantonalen Verfahrensrecht konnte die Ehefrau vor Gericht nicht als Zeugin unter Eid („as a witness to give evidence on oath") aussagen. Sie wurde informatorisch befragt, blieb jedoch als „witnesses ... solely for information purposes" im Gegensatz zu den beiden anderen gerichtlich vernommenen Zeugen - darunter L unvereidigt. Der E G M R sah darin keine verfahrensrechtliche Benachteiligung des Bf., weil das Gericht entsprechend dem Grundsatz einer freien Beweiswürdigung verfahren war. Allerdings hob er ausdrücklich hervor, „it does not appear from the judgment that the court attached any particular weight to Mr Linder's testimony on account of his having given evidence on oath" und daher nicht erkennbar war, „how the fact of Mrs Ankerl's giving evidence on oath could have influenced the outcome of the proceedings". Wäre dies - wie in Strafverfahren häufig der Fall - anders gewesen, hätte der Gerichtshof vermutlich einen Konventionsverstoß angenommen. 1 1 4
Besteht in einem Strafverfahren eine Kontroverse um die Erforderlichkeit der Beiziehung bestimmter Dokumente oder Schriftstücke, darf die Entscheidung De Haes u. Gijsels nicht unberücksichtigt bleiben. 113
114
EGMR, Stran Greek Refineries ./. Griechenland, Serie A Nr. 301-A, §§ 46, 49-50 („intervening in a manner which was decisive to ensure that the - imminent - outcome of proceedings in which it was a party was favourable to it"); siehe auch: EGMR, Papageorgiou ./. Griechenland, Reports 1997-VI, § 37 (Änderung der zuständigen Gerichtsbarkeit). EGMR, Ankerl./. Schweiz, Reports 1996-V, §§ 9-19, 25, 38.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
423
Hier hatten die Bf. in mehreren Zeitungsartikeln ehrenrührige Tatsachen behauptet, waren aber in einem Strafverfahren vom Vorwurf der Verleumdung freigesprochen worden, weil ihnen der erforderliche Vorsatz nicht nachzuweisen war. Das Berufungsgericht hatte u.a. darauf verwiesen, dass die Behauptungen durch die Aussagen anderer namhafter Personen gestützt wurden. In einem anschließenden Zivilrechtsstreit beantragten die Bf. zur Wahrung der Waffengleichheit die Beiziehung mehrerer in den Zeitungsartikeln genannter Dokumente und die schriftlichen, der Justiz vorliegenden Aussagen dieser Personen. Dass zwei Zivilgerichte diesen Antrag zurückwiesen hatten, bedeutete für die Bf. nach Ansicht des EGMR einen erheblichen Nachteil gegenüber den Klägern („a substantial disadvantage vis-ä-vis the plaintiffs"), der gegen das Prinzip der Waffengleichheit verstieß." 5 Weil in einem gerichtlichen Verfahren neben dem Recht auf Abgabe einer Stellungnahme zu Erklärungen der Gegenseite auch im übrigen eine angemessene Beteiligung der Parteien gewährleistet sein muss („proper participation of the appellant party"), können Probleme entstehen, wenn ein Gericht Akten oder Schriftstücke beizieht, davon aber die Parteien nicht informiert. D a ein solches Vorgehen auch in Strafverfahren nicht ausgeschlossen werden kann, dürfte die Grundaussage des Urteils Kerojärvi trotz der sehr speziellen Rechtsmaterie auch für strafprozessuale Entscheidungen gelten. Mit ihrer Hilfe könnte die bereits gefestigte Vorlage- und Mitteilungspflicht der Anklagebehörde auch auf Strafgerichte ausgedehnt werden. Ob der E G M R diesen Weg geht, bleibt abzuwarten. Der Bf. Kerojärvi hatte gegen die Entscheidung einer für die Entschädigung von Kriegsfolgeschäden zuständigen Behörde geklagt. Obwohl die Verfahrensakte während des gesamten Verfahrens vor dem Insurance Court zugänglich war, nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 an, weil der Oberste Gerichtshof auf der Grundlage einer Stellungnahme und medizinischer Berichte entschieden hatte, die der Insurance Court beigezogen und - zunächst - in die Verfahrensakte eingefügt, hiervon aber den Bf. nicht informiert hatte. Auch Kopien dieser Dokumente waren dem Bf. nicht übermittelt worden. Eine dem Art. 6 Abs. 1 entsprechende angemessene Beteiligung des Bf. im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof war nach Ansicht des EGMR nicht erfolgt. Diese Aussage ist insofern interessant, als sie zeigt, dass allein der potentielle Zugang zur Verfahrensakte nicht in jedem Fall die Einhaltung eines fairen Verfahrens garantiert. Insbesondere wenn einem Verfahrensbeteiligten nicht bekannt ist, dass das Gericht bestimmte Stellungnahmen oder Dokumente beigezogen und zur Akte genommen hat, trifft die staatlichen Stellen eine gewisse Fürsorgepflicht, diesen über die Beiziehung zu informieren und ihm entsprechende Kopien zukommen zu lassen („take any measures to make the documents available to him"), wenn für ihn andernfalls kaum eine Möglichkeit besteht, die für ihn negative Entscheidung anzugreifen („capability of challenging the contested decision was adversely affected"). 116
115 116
E G M R , De Haes u. Gijsels ./. Belgien, Reports 1997-1, §§ 7-14, 54-59. E G M R , Kerojärvi./. Finnland, Serie A Nr. 322, §§ 6 - 1 5 , 4 0 - 4 3 („does not consider that the possibility available to the applicant of consulting the documents in the Insurance Court is of significance for the assessment of the fairness of the proceedings in the Supreme Court").
424
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Als mittlerweile gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Grundsatz gelten, dass es für die Einhaltung des Fairnessgebots immer auf das Verfahren in seiner Gesamtheit ankommt („proceedings taken as a whole"). Welche Kriterien dabei im einzelnen und in Komposition zu berücksichtigen sind, hat der Gerichtshof bisher in Strafsachen nie deutlich herausgestellt. Um so interessanter ist deshalb die kirchenrechtliche Entscheidung Helle, wo der EGMR mehrere Aspekte aufzählt: „all the relevant circumstances, including the nature of the dispute and the character of the proceedings in issue, the way in which the evidence was dealt with and whether the proceedings afforded the applicant an opportunity to state his case under conditions which did not place him at a substantial disadvantage vis-ä-vis his employer".117 Diese Beispiele sollen lediglich zeigen, dass die Beziehungen zwischen Straf- und Zivilverfahren sowie ihr Zusammenspiel auf der Ebene der EMRK durchaus enger sind als man es vielleicht vermuten sollte. Am Ende bleibt festzuhalten, dass ein Vertragsstaat, der sicherstellen will, dass sowohl seine strafrechtlichen Bestimmungen als auch die Arbeit seiner Behörden und Justizorgane mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens in Einklang stehen, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu zivilprozessrechtlichen Fragestellungen mit Sorgfalt und Interesse verfolgen muss, will er unliebsame Überraschungen aus Straßburg vermeiden. Doch nun zurück zu den im Kern strafprozessualen Verfahrensgarantien.
6.
Zugang zur Verfahrensakte
a)
Beschränkung
des Zugangs zur Akte auf die Person des Verteidigers
Die Konvention enthält keine Vorschrift, aus der ein Beschuldigter explizit ein Recht auf Zugang zur Verfahrensakte herleiten könnte. Naturgemäß von großer Relevanz ist der Zugang zur Akte für den inhaftierten Beschuldigten, der in einem Haftprüfungsverfahren mit dem Wissen über die in der Akte enthaltenen Dokumente und Informationen die Entkräftung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und damit seine Freilassung erreichen will. Mit der Situation inhaftierter Beschuldigter befasst sich das Urteil Lamy, auf das schon im Zusammenhang mit dem von Art. 5 Abs. 4 verbürgten Recht auf Haftprüfung eingegangen wurde.118 Auch außerhalb eines solchen Haftprüfungsverfahrens kann das Gebot der Verfahrensfairness einen Zugang des Beschuldigten zur Verfahrensakte erfordern. Aus dem Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 hat der Gerichtshof bislang keinen allgemeinen Anspruch des Beschuldigten bzw. der Verteidigung auf Akteneinsicht abgeleitet, sondern die Fälle, in denen die Verteidigung keinen oder eingeschränkten
117
118
EGMR, Helle ./. Finnland, Reports 1997-VIII, §§ 53-54. In der Sache ist die Entscheidung weniger interessant, weil der Bf. zu Erklärungen der Gegenseite Stellung nehmen konnte und der EGMR von einem kontradiktorischen Verfahren ausging. EGMR, Lamy ./. Belgien, Serie A Nr. 151, §§ 32, 37.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
425
Zugang zur Akte erhalten hatte, über das Prinzip der Waffengleichheit aufgerollt.119 Auch beim Recht auf Zugang zur Verfahrensakte gilt einmal mehr der Grundsatz, dass die Einhaltung der Verfahrensfairness immer nur unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrens beurteilt werden darf. Eine spezielle Art des Zugangs zur Verfahrensakte ist die Gestattung der Einsichtnahme in die Akte oder in einige ihrer Bestandteile. Im Urteil Kamasinski hat der Gerichtshof erklärt, dass eine Beschränkung der Akteneinsicht auf den Verteidiger mit den in Art. 6 geschützten Verteidigungsrechten nicht unvereinbar sei („not incompatible with the rights of the defence"). Eine Regelung, wonach die Einsichtnahme in die Gerichts- und Ermittlungsakte und das Recht zur Fertigung von Kopien ihrer Bestandteile auf die Person des Verteidigers beschränkt ist und nur der nicht verteidigte Beschuldigte dieses Recht persönlich wahrnehmen kann, verstößt für sich gesehen nicht gegen das von Art. 6 Abs. 3(b) garantierte Recht auf Vorbereitung der Verteidigung. Dieser Grundsatz - von dem sich der EGMR im Urteil Foucher nicht distanziert hat gilt sowohl für den vom Beschuldigten gewählten als auch für einen gerichtlich bestellten Verteidiger. Aus der Behauptung, der (gerichtlich bestellte) Verteidiger habe ihn nach der Einsichtnahme in die Akte nicht in ausreichendem Maße über deren Inhalt und das belastende Beweismaterial informiert, folgt für den Beschuldigten kein Anspruch auf persönliche Akteneinsicht, es sei denn - hier zieht der EGMR eine Parallele zum Recht auf den Verteidigerbeistand - , es wird für die Justizbehörden erkennbar, dass das von Art. 6 Abs. 3(c) verbürgte Recht auf Verteidigung aufgrund des Verteidigerverhaltens nicht mehr effektiv gewährleistet ist. Unterhalb dieser Schwelle ist ein Gericht nicht verpflichtet, die Bestellung des Verteidigers aufzuheben, um dem Beschuldigten eine persönliche Akteneinsicht zu ermöglichen.120 Im Fall Kamasinski beschränkte das nationale Recht die Einsicht in die Gerichtsakte sowie das Recht, Kopien zu fertigen, auf die Person des Verteidigers. Nur einem unverteidigten Beschuldigten wurde ein persönlicher Zugang zur Akte gewährt. Der verteidigte Bf. sah darin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(b), weil nur sein Verteidiger, nicht aber er persönlich die Gerichtsakte habe durchsehen („inspect the court file") und das belastende Beweismaterial prüfen können („review the evidence against him"). Obwohl der Bf. in einem Brief an das Gericht vor Beginn der Hauptverhandlung um persönliche Akteneinsicht zur Vorbereitung seiner Verteidigung gebeten und die Ablösung des für ihn bestellten Verteidigers beantragt hatte, falls dessen Beiordnung ein Grund für die Verweigerung einer persönlichen Akteneinsicht sei, verneinte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(b). Die auf die Person des Verteidigers beschränkte Akteneinsicht im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof hielt er im Fall Kremzow ebenfalls für konventionsgemäß.
119
120
EGMR, Foucher ./. Frankreich, Reports 1997-11, § 34; vgl. auch: Bulut./. Österreich, Reports 1996-11, §47. EGMR, Kamasinski ./. Österreich, Serie A Nr. 168, §§ 23, 48, 66-69, 88; Kremzow ./. Österreich, Serie A Nr. 268-B, § 52.
426
b)
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Zugang zur Akte für den nicht verteidigten Beschuldigten
Das Urteil Foucher hatte zunächst Zweifel an der weiteren Gültigkeit der vom E G M R in den Entscheidungen Kamasinski und Kremzow getroffenen Aussagen zur Beschränkung des Aktenzugangs auf den Verteidiger geweckt. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz ausdrücklich für nicht anwendbar erklärt, wenn sich der Beschuldigte im Einklang mit der nationalen Strafverfahrensordnung in dem gegen ihn geführten Strafverfahren selbst verteidigt („chose to conduct his own case"). Wird einem nicht verteidigten Beschuldigten der Zugang zur Verfahrensakte und die Aushändigung von Kopien der in ihr enthaltenen Dokumente verweigert („access to his case file and to obtain a copy of the documents it contained"), so stellt dies einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit dar, wenn dem Beschuldigten dadurch die Vorbereitung einer angemessenen Verteidigung unmöglich gemacht wird („unable to prepare an adequate defence"). Letzteres ist dann der Fall, wenn er ohne Durchführung einer Voruntersuchung, deren Vertraulichkeit geschützt werden müsste, direkt vor einem Gericht angeklagt („committed directly for trial") und ausschließlich auf der Grundlage eines in der Akte befindlichen Dokuments verurteilt wird („conviction ... based solely ..."), das im nationalen Recht bis zum Beweis des Gegenteils ein ausreichendes Beweismittel für die Verurteilung darstellt („good evidence in the absence of proof to the contrary"). In einer solchen Konstellation muss dem Beschuldigten nicht nur ein Zugang zur Akte gewährt werden („access to his case file"). Er muss außerdem die Möglichkeit haben, Kopien von den in der Akte enthaltenen Dokumenten zu erhalten, die er benötigt, um das ihn belastende Beweismaterial angreifen zu können („obtain a copy of the documents it contained in order to be able to challenge ..."). 121 Der Bf. Foucher und sein Vater waren gemäß einer „direct committal procedure" vor ein Polizeigericht geladen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, zwei Jagdaufseher beleidigt und bedroht zu haben. Für dieses als „fifth-class minor offence" klassifizierte Vergehen war ein Strafrahmen von 10 Tagen bis zu einem Monat Freiheitsstrafe und/oder eine Geldbuße zwischen 2.500 und 5.000 FF vorgesehen. Der Bf. entschied sich, das Verfahren selbst zu führen. Sowohl er selbst als auch seine Eltern versuchten, bei der Gerichtskanzlei Einsicht in die Akte zu nehmen und Kopien der in ihr enthaltenen Dokumente zu erhalten. Der zuständige Staatsanwalt teilte mit, dass Kopien aus der Akte an Privatpersonen nur über Anwälte und Versicherungsgesellschaften erteilt würden. Das Gericht sah in der Verweigerung des Zugangs zur Akte eine mit Art. 6 unvereinbare Beschränkung der Verteidigungsrechte und stellte das Verfahren ein. Nachdem u.a. die StA gegen dieses Urteil Rechtsmittel eingelegt hatte, erschien der Bf. trotz Ladung nicht vor dem Berufungsgericht. Seinen Angaben zufolge hatte seine Mutter vergeblich versucht, bei der Kanzlei des Berufungsgerichts Informationen über den Zugang zur Akte zu erlangen. Auf der Grundlage des von den beiden Jagdaufsehern gefertigten offiziellen Berichtes sowie der Aussage eines Jägers verhängte das Berufungsgericht Geldstrafen in Höhe von jeweils 3.000 FF wegen Beleidigung. Die Verwertung des Berichtes erfolgte aufgrund von Art. 537 der französischen Straf-
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EGMR, Foucher ./. Frankreich, Reports 1997-11, §§ 35-36.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Prozessordnung: „Minor offences shall be proved by official reports or, where there are no such reports, or in support thereof by evidence taken from witnesses. Save where the law provides otherwise, official reports by ... shall be good evidence in the absence of proof to the contrary. Proof to the contrary must be established by either written or witness evidence." Der E G M R nahm einen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit an (Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3), weil der Bf. Zugang zur Akte und Kopien der in ihr enthaltenen Dokumente hätte erhalten müssen, um den Bericht der Jagdaufseher angreifen und eine angemessene Verteidigung vorbereiten zu können. Neben dem Umstand, dass sich der Bf. im Gegensatz zu den Bf. Kamasinski und Kremzow für eine Verteidigung in eigener Person entschlossen hatte, sprachen hierfür noch zwei weitere Gesichtspunkte („considerations are of crucial importance"): das Verfahren vor den französischen Polizeigerichten und der Umstand, dass die Verurteilung allein aufgrund des offiziellen Berichtes der Jagdaufseher erfolgt war, der bis zum Beweis des Gegenteils ein taugliches Beweismittel war. Unbeachtlich war dagegen, dass der Bf. weder bei der StA des Berufungsgerichts die Einsicht in die Akte und die Gewährung der von ihm gewünschten Kopien beantragt hatte - obwohl ihm dies die französische Strafprozessordnung gestattete - , noch vor dem Berufungsgericht erschienen war. Gegen eine Verwirkung seiner Verteidigungsrechte sprach nach Ansicht des E G M R , dass dem Bf. in erster Instanz der Zugang zur Akte verweigert worden war, die Verurteilung allein auf der Grundlage des offiziellen Berichtes der Jagdaufseher erfolgt war („the decisive factor in this case is t h a t . . . sentenced him solely on the basis of the ... report") und sowohl das Berufungsgericht als auch der Cour de Cassation einen Anspruch auf Akteneinsicht und Überlassung kopierter Aktenbestandteile abgelehnt hatten. D i e Urteilsgründe lassen leider nicht klar erkennen, in welchem U m f a n g der Beschuldigte Z u g a n g zur A k t e u n d K o p i e n ihrer Bestandteile erhalten muss. So lässt sich nicht sicher sagen, o b es ausreichend gewesen wäre, wenn der Bf. lediglich eine Kopie des Berichtes der Jagdaufseher erhalten hätte. D a v o n ist eher nicht auszugehen, weil es - so der E G M R - f ü r den Bf. wichtig gewesen wäre, „obtain a copy of the documents it contained". A u s g a n g s p u n k t aller Ü b e r l e g u n g e n muss die v o m E G M R v o r g e n o m m e n e Differenzierung sein zwischen d e m eigentlichen Z u g a n g zur A k t e u n d der Ü b e r l a s s u n g von Aktenbestandteilen in Kopie. Zwischen beiden Rechten besteht eine enge Korrelation, so dass der erforderliche U m f a n g des einen nicht o h n e die Bestimmung des a n d e r e n beurteilt werden k a n n . A b s t r a k t formuliert müssen d e m Beschuldigten, der sich selbst verteidigt, Kopien von A k t e n b e s t a n d t e i l e n in d e m U m f a n g gewährt werden, wie es eine angemessene u n d effektive Verteidigung erfordert. D a m i t d ü r f t e d a s G e b o t der angemessenen und effektiven Verteidigung nicht n u r Obergrenze f ü r den von der Konvention geforderten U m f a n g a n zu überlassenden (kopierten) A k t e n b e s t a n d t e i l e n sein. Es ist zugleich M a ß s t a b f ü r den U m f a n g des zu gewährenden Z u g a n g s zur Akte. D e m Beschuldigten ist eine Auswahl der zu seiner effektiven Verteidigung erforderlichen D o k u m e n t e - von denen er d a n n Kopien erhalten muss - n u r bei einem u n b e s c h r ä n k t e n Z u g a n g zur A k t e möglich. Welche D o k u m e n t e f ü r eine angemessene u n d effektive Verteidigung erforderlich sind, bestimmt sich zwar n a c h objektiven G e s i c h t s p u n k t e n u n d nicht maßgeblich aus seiner Sicht. Eine d u r c h staatliche Stellen v o r g e n o m m e n e Auswahl bestimmter Aktenbestandteile k a n n hier aber nicht genügen, weil d a n n der Beschuldigte
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
praktisch gar keinen „access" zur Akte mehr erhalten müsste. Das Recht auf Zugang zur Akte würde zu einem reinen Mitteilungs- und Informationsrecht degradiert. Der Beschuldigte muss deshalb selbst Zugang zur Akte erhalten, um kontrollieren zu können, ob die ihm (in Kopie) überlassenen Dokumente zur effektiven Verteidigung genügen. Hierfür spricht auch das von Art. 13 verbürgte Recht auf eine wirksame Beschwerde. Eine Behauptung, dass ihm nicht sämtliche für seine effektive Verteidigung erforderlichen Dokumente überlassen worden sind, wird der Beschuldigte nur dann plausibel aufstellen können, wenn er zuvor Zugang zur gesamten Verfahrensakte hatte. Das Zugangsrecht muss - im Grundsatz - auch die in Bezug genommenen Akten anderer Behörden umfassen. Im Interesse einer effektiven Strafverfolgung kommen aber Beschränkungen des Zugangsrechts in Betracht (dazu später). Dem Urteil Foucher ist nicht zu entnehmen, auf welche Art und Weise und durch wen auf staatlicher Seite der Zugang des Beschuldigten zur Akte bzw. die Gewährung von Kopien ihrer Bestandteile sichergestellt werden muss. Ein Zugang zur Akte verlangt vom Wortlaut her nicht zwingend die Überlassung der Originalakte. Wegen der Gefahr einer Aktenmanipulation liefe eine solche Forderung den Erfordernissen einer effektiven Strafverfolgung auch evident zuwider. Den Verteidigungsrechten ist auch dann entsprochen, wenn dem Beschuldigten eine Einsicht in die Akte bei Gericht oder in den Räumlichkeiten der Strafverfolgungsbehörden gestattet wird. Diese Einsichtnahme kann unter Aufsicht erfolgen, solange damit keine Beschränkung des „access" als solchem verbunden ist. Nach der Einsichtnahme in die Akte muss der Beschuldigte Kopien sämtlicher der für seine effektive Verteidigung erforderlichen Aktenbestandteile erhalten. Da der EGMR hier von einem Erhalten („obtain") dieser Kopien spricht, genügt auch eine Anfertigung der Kopien durch das Justizpersonal der Konvention. Wird dem Beschuldigten eine seiner Ansicht nach erforderliche Kopie verweigert, so führt das nur dann zu einem Konventionsverstoß, wenn dieser Bestandteil der Akte für die Effektivität der Verteidigung objektiv erforderlich war. Den Streit hierüber muss der Beschuldigte mit Hilfe einer wirksamen Beschwerde austragen können (Art. 13). Der EGMR hat im Urteil Foucher angedeutet, dass der Anspruch des (nicht verteidigten) Beschuldigten auf Zugang zur Verfahrensakte Beschränkungen unterliegt. Zum einen deutet die Formulierung „which he was entitled to do both under the express terms of the Convention and under domestic law" darauf hin, dass das Zugangsrecht nur dann besteht, wenn der Entschluss des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen sowohl mit der nationalen Rechtsordnung als auch mit der Konvention in Einklang steht. Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf persönlichen Zugang zur Akte und dem in Art. 6 Abs. 3(c) garantierten Recht auf effektive Verteidigung, welches zwar auch ein Recht auf Verteidigung in eigener Person verbürgt, unter bestimmten Voraussetzungen aber das „Aufdrängen" eines Verteidigers erlaubt und u.U. sogar verlangt. Wird dem Beschuldigten - und sei es gegen seinen Willen - im Einklang mit Art. 6 Abs. 3(c) ein Verteidiger bestellt, dürften die Urteile Kamasinski und Kremzow ins Spiel kommen, die bekanntlich eine Beschränkung der Akteneinsicht auf den Verteidiger legitimieren. Diese Rechtsprechung hat der EGMR im Fall Foucher nicht ausdrücklich aufgegeben. Er hat sie lediglich im konkreten Fall für nicht anwendbar erklärt
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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(„Court's reasoning in the cases of Kamasinski and Kremzow ... does not therefore apply"). Ein generelles und vom Gebot einer angemessenen und effektiven Verteidigung losgelöstes Zugangsrecht zur Akte eines nicht verteidigten Beschuldigten lässt sich schon deshalb nicht aus dem Urteil Foucher ableiten, weil der Fall eben ein spezielles Verfahren vor einem Polizeigericht betraf, in dem zum Nachweis der Schuld ein in der Akte enthaltenes Schriftstück verwertet werden durfte, das bis zum Beweis des Gegenteils für die Verurteilung ausreichte. Überdies war die Anklage ohne eine gerichtliche Voruntersuchung erhoben worden und die Verurteilung - nach Ansicht des EGMR ausschließlich122 - aufgrund des in der Akte befindlichen Berichtes der Tatopfer erfolgt. Letzteres hat der Gerichtshof als „the decisive factor in this case" bezeichnet. Erhebliche Bedeutung kam auch dem Umstand zu, dass der Bericht bis zum Beweis des Gegenteils ein taugliches und ausreichendes Beweismittel war. Weil der Beschuldigte den Bericht nur durch „written or witness evidence" entkräften konnte, war die Erforderlichkeit einer Akteneinsicht evident. Ob dies aber auch gilt, wenn eine nationale Rechtsordnung eine solche Beweisregel nicht kennt, sondern vom Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung ausgeht, bleibt abzuwarten. Die Verteidigungsgarantien des Art. 6 Abs. 3(c) dürften die Quelle für die Beantwortung der Frage sein, ob und unter welchen Voraussetzungen das im Interesse einer effektiven Verteidigung bestehende persönliche Zugangsrecht des nicht verteidigten Beschuldigten durch die Bestellung eines Verteidigers „abgewendet" werden darf, auf dessen Person entsprechend der Argumentationslinie Kremzow/Kamasinski dann der Zugang zur Akte beschränkt wird. Ein ohne relevanten und ausreichenden Grund gegen den Willen des Beschuldigten erfolgendes „Aufdrängen" eines Verteidigers stellt nach den vom EGMR im Urteil Croissant aufgestellten Grundsätzen einen Verstoß gegen das Recht auf Verteidigung in eigener Person dar. Kein relevanter und ausreichender Grund für die Bestellung des Verteidigers ist jedenfalls der dem Beschuldigten andernfalls in persona zu gewährende Aktenzugang. Das wäre ein Zirkelschluss in der Argumentation. Denkbare Gründe können aber die Vertraulichkeit des Akteninhalts, die Gefahrdung des Untersuchungszwecks, der Schutz von Persönlichkeitsrechten (Art. 8) und der Zeugenschutz sein. So ließe sich mit der „aufgedrängten" Bestellung eines Verteidigers und der diesem gewährten Aktenseinsicht wenigstens eine Totalverweigerung des Zugangs zur Akte vermeiden. Fraglich ist aber, ob ein Verteidiger die durch die Akteneinsicht gewonnenen Erkenntnisse an den Beschuldigten weitergeben darf oder seinerseits zur Vertraulichkeit verpflichtet ist. Der EGMR muss das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3(c)) und dem Recht des Beschuldigten auf Verteidigung und Aktenzugang in eigener Person dadurch auflösen, dass er die Zulässigkeit einer Beschränkung der Akteneinsicht auf den Verteidiger auf die Fälle begrenzt, in denen das Gebot einer effektiven Verteidigung des Beschuldigten die Beiordnung eines Verteidigers verlangt. Aufzulösen wäre auch der Widerspruch zwischen
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Dass das Berufungsgericht zusätzlich auch die Aussage eines Jägers zum Nachteil des Bf. verwertete, scheint nicht wesentlich ins Gewicht zu fallen.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
der Stärkung des Rechts auf Verteidigung in eigener Person und der vom EGMR im Urteil Croissant vertretenen Ansicht, wonach es nicht gegen die Konvention verstößt, wenn ein Beschuldigter während sämtlicher Phasen des gerichtlichen Verfahrens anwaltlich vertreten sein muss.123 Erhebliche strafprozessuale Brisanz birgt ein weiterer Satz der Entscheidungsgründe. D i e A u s s a g e „the question
of ensuring the confidentiality
of the investigation
did not
arise"
dürfte das Einfallstor für im Interesse der Strafverfolgung erforderliche Beschränkungen des Zugangs zur Akte sein - auch für den verteidigten Beschuldigten. Anknüpfungspunkt für eine solche, zur Wahrung der Vertraulichkeit der Ermittlungen statthafte Beschränkung des grundsätzlich umfassend zu gewährenden Aktenzugangs sind neben einer Gefahrdung des Untersuchungszwecks möglicherweise auch Gesichtspunkte des Zeugenschutzes. Auch für zeitliche Beschränkungen des Zugangsrechts dürfte der EGMR mit dieser Aussage den Weg geebnet haben. Hier sind im einzelnen aber noch viele Fragen ungeklärt. Zu erörtern bleibt noch, wann bzw. bis zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten der Zugang zur Verfahrensakte gewährt werden muss. Maßgebliches Kriterium muss auch hier die Angemessenheit und Effektivität der Verteidigung iSv Art. 6 Abs. 3(b) sein, so dass gute Gründe für ein Recht auf - grundsätzlich - unbeschränkten Zugang zur Akte bereits im Ermittlungsverfahren sprechen, vorbehaltlich der vom EGMR angedeuteten Beschränkungen. Außerdem ist auf Verflechtungen des Rechts auf Zugang zur Akte mit anderen von der Konvention garantierten Beschuldigtenrechten zu achten, namentlich zum Fragerecht des Art. 6 Abs. 3(d). Dessen Effektivität bzw. das Fairnessgebot kann die Gewährung eines Zugangs zur Akte für den Beschuldigten - oder seinen Verteidiger schon bei der Befragung eines Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren erforderlich machen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Beschuldigten eine effektive Befragung dieses Zeugen in diesem Stadium des Verfahrens nur mit einer ausreichenden Kenntnis der gegen ihn in der Akte befindlichen Beschuldigungen möglich ist und im späteren Verfahren keine Konfrontation („confrontation") mit diesem Zeugen mehr erfolgt, obwohl dessen Angaben zum Nachteil des Beschuldigten verwertet werden.124 Im Fall Bricmont hatte ein Belastungszeuge im Ermittlungsverfahren zwei Fragenkataloge schriftlich beantwortet. Anschließend kam es zu einer Gegenüberstellung zwischen ihm und einem der Bf., bei der jedoch wegen der Geheimhaltung im Ermittlungsverfahren („secrecy of the judicial proceedings") und der dadurch bedingten mangelnden Aktenkenntnis des Bf. nur einer von fünf Anklagepunkten zur Sprache kam, auf deren Grundlage der Bf. verurteilt wurde. D a dem Bf. auch später keine Gelegenheit mehr gegeben worden war, jeden Punkt der Anklage mit Hilfe einer Gegenüberstellung oder Befragung des Zeugen anzugreifen und die im Ermittlungsverfahren erfolgte Konfrontation wegen der mangelnden Aktenkenntnis des Bf. unzureichend war, nahm
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124
EGMR, Croissant./. Deutschland, Serie A Nr. 237-B, § 27 („requirement that a defendant be assisted by counsel at all stages of the ... proceedings cannot ... be deemed incompatible with the Convention"). EGMR, Bricmont./. Belgien, Serie A Nr. 158, §§ 79, 84.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens an. Auch das Urteil Bricmont macht deutlich, dass ein faires Strafverfahren keinen (zeitlich) uneingeschränkten Zugang des Beschuldigten zur Verfahrensakte verlangt. Wäre diesem nämlich in einem späteren Verfahrensstadium, etwa im Rahmen der Hauptverhandlung, Gelegenheit gegeben worden, den Zeugen zu sämtlichen Anklagepunkten zu befragen, hätte der E G M R einen Verstoß gegen das Fairnessgebot sicherlich verneint. Kernpunkt des festgestellten Konventionsverstoßes war die fehlende Kenntnis des Beschuldigten von sämtlichen Anklagepunkten und die ihm später nicht gewährte Möglichkeit, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Festzuhalten bleibt aber, dass die Befragung eines Zeugen im Ermittlungsverfahren nicht dem von Art. 6 Abs. 3(d) iVm Art. 6 Abs. 1 geforderten Fragerecht entspricht, wenn der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt mangels Aktenkenntnis nicht in der Lage ist, den Zeugen zu sämtlichen Anschuldigungen zu befragen. D a s s eine verweigerte oder unzureichende Akteneinsicht in einem späteren Verfahrenss t a d i u m geheilt werden k a n n , zeigt a u c h die E n t s c h e i d u n g Zumtobel. Sie betraf das Recht auf Zugang zur Verfahrensakte in einem Verwaltungsverfahren zur Vorbereitung eines Enteignungsbeschlusses der Landesstraßenverwaltung. Einem der Bf. war während des Enteignungsverfahrens der Zugang zu Teilen der Verfahrensakte verweigert worden. Dies hatte der österreichische Verwaltungsgerichtshof als rechtmäßig eingestuft, da die KG des Bf. nicht Beteiligte des Verwaltungsverfahrens war und wesentliche Teile der Akte weder die KG betrafen noch Grundlage für die spätere Enteignungsentscheidung waren. Ebenso habe keine Pflicht der Verwaltungsbehörde bestanden, dem Bf. eine Kopie der gesamten Verfahrensakte oder bestimmter Schriftstücke zu überlassen. Der E G M R verneinte einen Konventionsverstoß, da der Verwaltungsgerichtshof die das Verwaltungsverfahren betreffenden Beschwerden in einem den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 entsprechenden Verfahren geprüft und zurückgewiesen hatte. 125 D a s s der Beschuldigte zu sämtlichen von der A n k l a g e b e h ö r d e oder d e m Strafgericht beigezogenen A k t e n oder E r k l ä r u n g e n eine S t e l l u n g n a h m e abgeben können muss, bevor d a s G e r i c h t ü b e r die Anklage entscheidet, ist gefestigte R e c h t s p r e c h u n g des Gerichtshofs. Schwieriger zu b e a n t w o r t e n ist dagegen die Frage, o b es gegen die G r u n d s ä t z e eines fairen Verfahrens verstößt, w e n n der Beschuldigte vergeblich die Beiziehung einer A k t e a u s einem anderen Verfahren b e a n t r a g t u n d ihm der Z u g a n g zu dieser A k t e verweigert wird. Über eine solche Fallkonstellation hatte der E G M R im Fall Bendenoun zu entscheiden. Hier waren gegen den Bf. wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung parallel ein Zoll-, Steuer- und ein Strafverfahren eingeleitet worden. Das Zollverfahren endete mit einem Vergleich. Der Bf. gestand die ihm vorgeworfenen Zoll- und Außenhandelsvergehen ein und zahlte eine Geldbuße. Während des Verfahrens hatte er Zugang zu sämtlichen in der Akte enthaltenen Dokumenten (24 Berichte und 353 andere Schriftstücke). Im Steuerverfahren setzte die Finanzverwaltung gegen den Bf. und seine Firma
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EGMR, Zumtobel./. Österreich, Serie A Nr. 268-A, §§ 8-9, 14, 22, 35.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Steuernachzahlungen inklusive sog. Steuerstrafzuschläge („tax surcharges") fest, gegen die der Bf. Klage vor den Verwaltungsgerichten erhob. Die Finanzverwaltung fügte ihren Schriftsätzen insgesamt vier Berichte sowie zwei Briefe aus der Zollakte bei. Der Anwalt des Bf. beantragte daraufhin beim Verwaltungsgericht, die gesamte Zollakte beizuziehen und ihm zu überlassen, da das Zollverfahren sehr umfangreich gewesen sei und eine große Anzahl weiterer in der Akte befindliche Dokumente, deren Existenz die Finanzverwaltung verschwiegen habe, von unmittelbarer Relevanz für das aktuelle Verfahren seien. Zwei Anfragen des Verwaltungsgerichts bei der Staatsanwaltschaft - in deren Händen sich die Zollakte mittlerweile befand - um Übersendung der Akte blieben erfolglos. Der Anwalt des Bf. hatte zwischenzeitlich noch zwei weitere Male die Überlassung bzw. Einsichtnahme in die Zollakte beantragt: „I would add that production is being sought at my request and not at that of the Revenue, since it is precisely the Revenue that is relying on documents from the customs investigation, and unless he has been able to inspect the customs file in its entirety Mr Bendenoun cannot make any sensible comments." Das Verwaltungsgericht wies die Klagen gegen die Steuernachzahlungen ab. Nach Ansicht des Bf. war das verwaltungsgerichtliche Verfahren nicht kontradiktorisch, weil die Finanzverwaltung einseitig die ihn belastenden Berichte aus der Zollakte ausgewählt habe, ohne ihm Zugang zur gesamten Zollakte zu gewähren. Dadurch sei ihm die Suche nach entlastenden Umständen verwehrt worden. Zudem habe er den anonymen Anzeigeerstatter weder als Zeugen laden noch überprüfen können. Der E G M R bewertete die Erhebung der Steuerzuschläge als strafrechtliche Anklage, prüfte jedoch die Einhaltung eines fairen Verfahrens nur in Hinblick auf den Vorwurf der Steuerhinterziehung. Seiner Ansicht nach hatte sich die Finanzverwaltung lediglich auf die von ihr vorgelegten vier Berichte gestützt, in denen der Bf. seine Zollvergehen zugestanden hatte, sich aber nicht auf Dokumente bezogen, um deren Beiziehung der Bf. vergeblich gebeten hatte. Da sich die Dokumente, um deren Vorlage der Bf. gebeten hatte, nicht in der dem Verwaltungsgericht vorgelegten Akte befanden und auch der Verfahrensgegner sich nicht auf sie stützte, hätte die Finanzverwaltung zur Wahrung eines fairen Verfahrens einer Überlassung der Zollakte oder einiger ihrer Bestandteile an den Bf. allenfalls dann zustimmen müssen, wenn dieser - und sei es in kurzer Form - spezielle Gründe für seinen Antrag dargelegt hätte („given, even if only briefly, specific reasons for his request"). Statt dessen habe der Bf. die komplette Überlassung einer umfangreichen Akte begehrt („production in full of a fairly bulky file"), ohne jemals im Verfahren irgendein präzises Argument für seine Behauptung darzulegen, dass es ihm - unbeschadet seiner Eingeständnisse im Zoll- und Strafverfahren - ohne Überlassung einer Kopie der Akte unmöglich war, den Vorwurf der Steuerhinterziehung anzugreifen („not ... put forward any precise argument to support his contention t h a t . . . he could not counter the charge of tax evasion without having a copy of that file"). Dieses Versäumnis („omission") sah der E G M R gerade deswegen als schädlich an, da dem Bf. die Existenz und der Inhalt der meisten in der Zollakte befindlichen Dokumente bekannt war, und sowohl er als auch sein Verteidiger, jedenfalls während des parallel laufenden Strafverfahrens, Zugang zur kompletten Akte hatten. Dementsprechend waren weder die Rechte der Verteidigung noch das Prinzip der Waffengleichheit verletzt. 126
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EGMR, Bendenoun ./. Frankreich, Serie A Nr. 284, §§ 7-32, 52-53.
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Eine Pflicht zur präzisen Benennung einzelner Dokumente oder sonstiger Aktenbestandteile kann allenfalls für beizuziehende Akten, keinesfalls jedoch für die eigentliche Verfahrensakte gelten. Auch in diesem Umfang begegnet eine solche Obliegenheit des Beschuldigten Bedenken. Selbst wenn der Beschuldigte Kenntnis über bestimmte, ihn entlastende Bestandteile in einer bestimmten Akte hat, kann das Gebot einer effektiven Verteidigung gleichwohl für deren vollständige Beiziehung sprechen, etwa wenn sie u.U. noch weiteres entlastendes Material enthält. Grenze dieses Anspruchs auf Beiziehung von Akten sollte daher die Willkür sein, von der jedoch nur ausgegangen werden kann, wenn die Akte unter keinem denkbaren Gesichtspunkt einen Beitrag zur Entscheidung über die Anklage liefern kann. Der restriktive Ansatz des E G M R im Urteil Bendenoun ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Bf. und sein Verteidiger während des zeitweise parallel geführten Strafverfahrens Zugang zur kompletten Akte hatten. Auch hier schlägt der vom E G M R bei der Bewertung der Verfahrensfairness herangezogene Gesamtansatz voll zu Buche. Dass die Vorenthaltung bestimmter Dokumente während des Ermittlungsverfahrens oder eines dem Strafverfahren vorgelagerten Verwaltungsverfahrens durch den in einem späteren Verfahrensstadium gewährten unbeschränkten Zugang zur Akte geheilt werden kann, zeigt auch die Entscheidung Miailhe (Nr.2). Aus ihr wird aber ebenso klar, dass ein Zugang zur Akte etwaige Beschränkungen der Verteidigungsrechte in einem früheren Verfahrensabschnitt nur dann heilen kann, wenn sämtliche Schriftstücke, auf die sich die Strafverfolgungsbehörden stützen, in der Akte enthalten sind und der Beschuldigte zu ihnen Stellung nehmen kann. Insgesamt legt der Gerichtshof zu wenig Wert auf die dem Strafprozess vorgelagerten Stadien des Strafverfahrens, in denen ein irreparabler Verlust von Verteidigungsrechten droht. Es besteht ein nicht aufzulösender Widerspruch, wenn der E G M R im Urteil John Murray als Ausprägung des Fairnessgebots einen Zugang des Beschuldigten zu einem Verteidiger prinzipiell bereits in der ersten polizeilichen Vernehmung fordert, den für die Effektivität der Verteidigung aber ebenfalls wichtigen Zugang zur Akte zeitlich nicht fixiert. Gegen den Bf. Miailhe hatte die Steuerfahndung im März 1983 ein Verfahren eingeleitet und ihn aufgefordert, Steuerbescheide der philippinischen Behörden und eine Aufstellung sämtlicher Bankkonten einzureichen. Der Bf. gab an, dass ihm dies nicht möglich sei, weil einige Dokumente von den französischen Zollbehörden im Rahmen einer Durchsuchung im Januar 1983 beschlagnahmt worden seien.127 Im Mai 1983 bzw. März 1985 nahm die Steuerfahndung Einsicht in die von den Zollbehörden beschlagnahmten 9 478 Dokumente - von 1200 bis 1 300 dieser Dokumente wurden Kopien gefertigt - sowie in zahlreiche Unterlagen, welche die philippinischen Behörden an die Steuerfahndung in Frankreich übersandt hatten. Daraufhin wurden gegen den Bf. vier Steuernachzahlungen für die Jahre 1979 bis 1982 festgesetzt. Im April 1986 erhob das Finanzministerium gegen den Bf. eine Strafanzeige wegen Steuerhinterziehung in den Jahren 1981 und 1982. Die Finanzverwaltung fügte der Anzeige einige Dokumente bei,
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Diese Durchsuchung und Beschlagnahme hatte der EGMR im ersten Urteil Miailhe ./. Frankreich (Serie A Nr. 256-C) als mit Art. 8 unvereinbar angesehen.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
die sie von den Zollbehörden erhalten hatte. Die Dokumente der philippinischen Behörden wurden jedoch nicht Bestandteil der Akte. Nach einer Aufforderung durch den mit der Anzeige befassten Untersuchungsrichter (U) fügte die Steuerfahndung der Akte diejenigen Dokumente der philippinischen Behörden bei, die den Bf. und das gegen ihn anhängige Strafverfahren betrafen. Die Dokumente, die nicht Bestandteil der Akte wurden, bezogen sich entweder auf die Ehefrau des Bf. und die von ihm geleitete Firma oder auf Steuerjahre, die nicht Gegenstand der Anzeige waren. Im Mai 1988 erhob der U Anklage wegen Steuerhinterziehung. Der Bf. beantragte, das Verfahren für null und nichtig zu erklären, weil seiner Ansicht nach die Finanzverwaltung gegen das Prinzip eines kontradiktorischen Verfahrens verstoßen, den Justizbehörden Dokumente vorenthalten sowie falsche Angaben gemacht hatte. Zugleich reichte er mehrere Dokumente ein, die er von den philippinischen Behörden erhalten hatte. Ein Strafgericht wies die Vorwürfe zurück und verurteilte den Bf. wegen Steuerhinterziehung. Der EGMR verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1, weil das Strafverfahren in seiner Gesamtheit betrachtet fair gewesen sei. Sämtliche für das Strafverfahren erforderlichen Dokumente seien in der dem Bf. zugänglichen Strafakte enthalten gewesen. Die für das Strafverfahren maßgeblichen philippinischen Dokumente seien zwar erst nach der Aufforderung des U der Akte beigefügt worden. Auch habe die Akte nicht alle übersandten Dokumente enthalten. Dadurch, dass dem Bf. aber die Möglichkeit gegeben worden sei, einige dieser Dokumente selbst einzureichen, habe er die Echtheit seiner Bindung zu den Philippinen nachweisen können. Zudem hätten die nationalen Gerichte innerhalb des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums den vom Bf. erhobenen Nichtigkeitseinwand geprüft und zurückgewiesen, sich dabei ausschließlich auf in der Akte enthaltene Dokumente gestützt, zu denen die Verfahrensbeteiligten Stellung nehmen konnten. Dadurch, dass bestimmte Dokumente in dem der Strafanzeige vorgelagerten Steuerverfahren und im Strafverfahren selbst nicht vorgelegt worden waren, seien die Verteidigungsrechte des Bf. und das Prinzip der Waffengleichheit nicht verletzt worden. Im konkreten Fall bestand noch die Besonderheit, dass im Steuerverfahren das Tax Offences Board (CIF) - für das Finanzministerium verbindlich - über die Erhebung der Anzeige und damit über die Einleitung des Strafverfahrens zu entscheiden hatte. In diesem Verfahrensabschnitt hatte der Bf. noch keinen Zugang zu sämtlichen nachträglich der Akte beigefügten Dokumenten gehabt. Dennoch verneinte der EGMR einen Konventionsverstoß, weil die Strafgerichte ein unbegrenztes Ermessen bei der Beurteilung der Tatsachen besaßen, freisprechen konnten und es sich bei der Entscheidung der CIF lediglich um eine „preliminary intervention of an advisory body" gehandelt habe. Weil eine gerichtliche Untersuchung stattgefunden hatte und das Strafverfahren über zwei Instanzen geführt worden war, sei es dem Bf. möglich gewesen, zu den Beweisen der Anklage und den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen.128 Beschränkungen des Zugangs zur Verfahrensakte muss der Beschuldigte mit Hilfe einer wirksamen Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz geltend machen können (Art. 13). Entscheidend f ü r die G e w ä h r u n g eines der Konvention entsprechenden Beschwerderechts ist seine Wirksamkeit. Hier stellt sich die in der deutschen Rechts-
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EGMR, Miailhe ./. Frankreich, Reports 1996-IV, §§ 7-24, 41-46.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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praxis äußerst umstrittene - und durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 nur teilweise beantwortete - Frage, ob der Beschuldigte die Verweigerung eines Zugangs zur Akte im Ermittlungsverfahren sofort oder erst nach Abschluss der Ermittlungen, d.h. nach Anhängigkeit der Strafsache bei Gericht anfechten können muss. Im untersuchten Zeitraum hat der EGMR hierzu keine Aussage getroffen. Die Frage lohnt aber allemal eine Vorlage nach Straßburg. Das Urteil Foucher hat in Deutschland eine beachtliche Resonanz erfahren und Auswirkungen auf die auf dem Gebiet der Akteneinsicht erfolgten Änderungen in der StPO gehabt. Die vor dem Straßburger Urteil geltende Beschränkung der Akteneinsicht auf den Verteidiger hatte zur Folge, dass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen war, wenn er sich ohne eine vollständige Akteneinsicht nicht angemessen verteidigen konnte. Aus dem Urteil Foucher wird nun die Konsequenz gezogen, dass dem Beschuldigten in persona Akteneinsicht zu gewähren ist, wenn eine solche Pflichtverteidigerbestellung - etwa wegen der Geringfügigkeit des Tatvorwurfs - unterbleibt.129 Anstelle des im Ermessen der Verwaltungsbehörde stehenden Zugangsrechts zur Akte in Bußgeldverfahren (§ 49 I OWiG) wird einem uneingeschränkten Akteneinsichtsrecht das Wort geredet.130 Ob der EGMR tatsächlich einen so weitreichenden Schutz des Beschuldigten proklamieren wollte, erscheint allerdings fraglich. Eingang gefunden in die deutsche Rechtsprechung hatte das Urteil Foucher durch den Beschluss des LG Mainz vom 22.10.1998, in dem sich das Gericht bedauerlicherweise nicht mit den konkreten Folgen des Urteils für das deutsche Strafprozessrecht auseinandersetzt. So hätte es nahegelegen, ein Recht des - im konkreten Fall - nicht verteidigten Beschuldigten unmittelbar aus Art. 6 Abs. 3(c) herzuleiten. Statt dessen hat das LG unter Hinweis auf die Gewaltenteilung ein solches Recht verneint, immerhin aber Zweifel an der Beschränkung der Akteneinsicht auf den Verteidiger angemeldet und darauf hingewiesen, dass es durchaus Möglichkeiten gebe, „ das Akteneinsichtsrecht des anwaltlich nicht vertretenen Beschuldigten nicht durch Zusendung der Strafakten, sondern anderweitig aus Gründen der Waffengleichheit - etwa durch Zusendung von fotokopierten Aktenbestandteilen auf Kosten des Beschuldigten oder durch Einsichtsrecht auf der Geschäftsstelle unter Aufsicht - zu befriedigen. ...".' 31 Der im Beschluss des LG Mainz angeklungenen Forderung nach einer gesetzlichen Neuregelung des Akteneinsichtsrechts hat der Gesetzgeber im Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 nur unzureichend Folge geleistet.132 Ein Akteneinsichtsrecht des nicht verteidigten Beschuldigten sieht § 147 StPO auch nach der Gesetzesänderung nicht vor. § 147 VII StPO regelt lediglich eine im Ermessen der Strafverfolgungsbehörden stehende Erteilung von Auskünften und Abschriften aus den Akten an den Beschuldigten. Einen Anspruch auf Zugang zur Akte, d.h. auf Einsichtnahme und die Überlassung der für seine Verteidigung erforderlichen Bestandteile, hat der nicht verteidigte Beschuldigte -jedenfalls in einer Konstellation, wie sie dem Urteil Foucher zugrunde lag - unmittelbar aus
129 130 131
132
Vgl. hierzu: KleinknechtlMeyer-Goßner § 147 Rn. 4; Haass NStZ 1999,442,444. Deumeland NStZ 1998,429, mit Hinweis auf die beschuldigtenfreundliche Rechtslage in Österreich. LG Mainz, Beschluss v. 22.10.1998, NJW 1999, 1271 f.; kritisch auch: Eisele JA 2000,424,428. Nicht zitiert werden die Urteile des EGMR zur Akteneinsicht dagegen bei: BGH, NJW 2000, 84, 85. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 1999), BGBl. 2000 I 1253; vgl. BT-Dr 14/1484.
436
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR Art. 6 Abs. 3(b) iVm Art. 6 Abs. 1. Die jetzige Regelung des § 147 VII StPO, die nur den zweiten Teil dieses Anspruchs betrifft, genügt nicht den Straßburger Vorgaben, zumal sie offen lässt, nach welchen Kriterien das staatliche Ermessen zur Erteilung von Auskünften und Abschriften auszuüben ist.133 Weiterhin steht dem Verteidiger ein uneingeschränkter Zugang zur Akte erst nach Abschluss der Ermittlungen zu (§ 147 II StPO). Die Beschränkung des Zugangs zur Akte bei Gefährdung des Untersuchungszwecks - die für den Beschuldigten ebenfalls gilt (§ 147 VII StPO) - wird der E G M R akzeptieren, deutet man seine Ausführungen im Urteil Foucher richtig. Ob und in welchem Umfang eine Verweigerung des Zugangs zur Akte einer Begründung bedarf, bleibt abzuwarten. Ein vorläufig gegenüber dem Beschuldigten abgeschirmtes Ermittlungsverfahren hat das BVerfG zur Erforschung des Sachverhalts und Wahrheitsfindung als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen. Eine differenzierende Bewertung kann sich wegen der Schwere und Bedeutung des Eingriffs in das Recht des Beschuldigten auf Freiheit der Person (Art. 2 II 2 G G ) bei der Vollstreckung eines Haftbefehls ergeben. In diesem Fall hält das BVerfG unter bestimmten Voraussetzungen die Gewährung einer teilweisen Akteneinsicht für erforderlich. 134 Häufig kritisiert wurde vor dem Inkrafttreten des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1999, dass eine Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren nicht gerichtlich überprüfbar war.135 §§ 147 V, VII iVm § 161a III 2 bis 4 StPO sehen nunmehr einen Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in drei Fällen vor, von denen der wichtigste der des inhaftierten bzw. untergebrachten Beschuldigten ist. Es bleibt aber dabei, dass der nicht inhaftierte Beschuldigte, dessen Verteidiger vor Abschluss der Ermittlungen die Einsicht in die Ermittlungsakte versagt wird, die Verweigerung des Zugangs zur Akte nicht mit einer wirksamen Beschwerde iSv Art. 13 anfechten kann. 136 Ein Anspruch auf gerichtliche Entscheidung lässt sich in den von § 147 V StPO nicht geregelten Fällen auch nicht unmittelbar aus Art. 13 herleiten, weil diese Konventionsgarantie nicht „self-executing" ist, sondern die Einrichtung einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit auf nationaler Ebene verlangt. Dass dem Verteidiger nach Abschluss der Ermittlungen Akteneinsicht gewährt wird, stellt jedenfalls keine wirksame Beschwerde hinsichtlich der früheren Verweigerung, sondern lediglich die möglicherweise verspätete Erfüllung eines Anspruchs aus Art. 13 dar. Mit der Beschwerde iSv Art. 13 soll gerade die Frage geklärt werden, ob dieser Anspruch nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte erfüllt werden müssen.
133 134
135
136
A.A. aber: Beulke Rn. 160. BVerfG, NStZ-RR 1998, 108; NStZ 1994, 551; BGH, NJW 1996, 734; vgl. hierzu § 3 VIII 4f.; zur Beschränkung der Akteneinsicht im Beschwerdeverfahren gegen einen Durchsuchungsbeschluss: BGH, NJW 2000,84, 85 f. Vgl. hierzu: OLG Frankfurt, StV 1993, 292ff. mit abl. Anm. Taschke StV 1993, 294; OLG Frankfurt, StV 1993, 297 ff.; OLG Hamm, StV 1993, 299 (einschränkend: Rechtsschutz in angemessener Zeit). Zur Neuregelung des Rechtsschutzes bei der Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft durch das StVÄG 1999: Schlothauer StV 2001, 192.
437
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
7.
Unterrichtung über Art und Grund der Beschuldigung (Art. 6 Abs. 3(a))
a)
Art und Grund der
Beschuldigung
Neben der aus dem Gebot der Verfahrensfairness abgeleiteten Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Offenbarung sämtlichen Beweismaterials erfahrt das Interesse des Beschuldigten an einer umfassenden Information über den Inhalt des gegen ihn geführten Strafverfahrens eine spezielle Absicherung durch die Unterrichtungspflicht des Art. 6 Abs. 3(a). Die Vorschrift gewährt jeder angeklagten Person das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden („to be informed promptly, in a language which he understands and in detail, of the nature and cause of the accusation againgst him"). Der Beschuldigte muss von dem gegen ihn geführten Verfahren zeitlich und inhaltlich in einer Art und Weise informiert werden, die es ihm erlaubt, seine Verteidigung effektiv vorzubereiten. Die Unterrichtungspflicht besteht daher nicht nur für die Strafverfolgungsbehörden, sondern auch für die Gerichte, die über die strafrechtliche Anklage entscheiden, wenn sich im Laufe des Verfahrens ein für die Verteidigung des Beschuldigten erheblicher Umstand einstellt.137 Bei inhaftierten Beschuldigten überschneidet sich der Schutzbereich der Vorschrift teilweise mit dem des Art. 5 Abs. 2. Indes gilt die von der Konvention geforderte Mitteilung über die Gründe der Festnahme und die erhobenen Beschuldigungen nur für festgenommene Personen. Weil die Inhaftierung eines Tatverdächtigen nur unter den engen Voraussetzungen der Art. 5 Abs. 1(c) und Abs. 3 erlaubt ist, verbürgt Art. 6 Abs. 3(a) ein für alle Beschuldigten geltendes strafprozessuales Informationsrecht. Art. 6 Abs. 3(a) und Art. 5 Abs. 2 verbindet aber eine teilweise identische sprachliche Fassung („promptly", „language which he understands"). Im Einzelfall macht es deshalb Sinn, die zu der jeweils anderen Vorschrift ergehenden Urteile im Auge zu behalten. In welcher Form die von Art. 6 Abs. 3(a) geforderte Unterrichtung über Art und den Grund der Beschuldigung zu erfolgen hat, lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen.138 Bereits im Urteil Τ hat der EGMR darauf hingewiesen, dass die Mitteilung über eine Strafverfolgung eine so bedeutende Rechtshandlung darstellt, dass sie nur unter förmlichen und inhaltlichen Bedingungen erfolgen darf, die dem Beschuldigten die effektive Ausübung seiner Verteidigungsrechte garantieren. Ebenso wie für die Mitteilung nach Art. 5 Abs. 2 kann auch für die Unterrichtung nach Art. 6 Abs. 3(a) ein vages oder informelles Wissen des Beschuldigten über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe
137
138
Vgl. EGMR, Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, §§ 54, 62 („sub-paragraphs (a) and (b) of Article 6 § 3 are connected and that the right to be informed of the nature and the cause of the accusation must be considered in the light of the accused's right to prepare his defence"); vgl. auch: Gea Catalan ./. Spanien, Serie A Nr. 309; De Salvador Torres ./. Spanien, Reports 1996-V. EGMR, Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, § 53 („does not impose any special formal requirement as to the manner in which the accused is to be informed against him").
438
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
nicht genügen.139 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Unterrichtung schriftlich erfolgen muss. Die Entscheidung Kamasinski kann für ein generelles Schriftformerfordernis nicht ins Feld geführt werden, weil der Gerichtshof dort die schriftliche Übersetzung der Anklageschrift an einen der Verfahrenssprache nicht mächtigen Beschuldigten lediglich unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung gefordert hat.140 Auch das Urteil Pelissier u. Sassi ist für die Beantwortung dieser Frage kaum ergiebig, weil der EGMR dort unter Bezugnahme auf das Urteil Kamasinski die Bedeutung einer schriftlichen Mitteilung der Tatvorwürfe hervorhebt, dann aber klarstellend darauf hinweist, dass Art. 6 Abs. 3(a) kein Formerfordernis für die Unterrichtung entnommen werden kann. 141 Abgesehen vom Gebot der Gleichbehandlung entsprechen sowohl schriftliche als auch mündliche Unterrichtungen dem Gebot des Art. 6 Abs. 3(a). Die Konvention gewährt dem Beschuldigten also keinen Anspruch auf eine Anklageschrift iSv §§ 1701,200 StPO. Es wäre allerdings zu wünschen, dass der Gerichtshof der Form der Unterrichtung in Zukunft stärkeres Gewicht verleiht und zumindest für die Entscheidung, mit der die Strafsache bei Gericht anhängig wird, ein obligatorisches Schriftformerfordernis statuiert. Weil Art. 6 Abs. 3(a) keine Formvorschriften enthält, ist der Inhalt der Unterrichtung umso wichtiger. Die Worte „in detail" und „natur and cause" sprechen dafür, dass die Unterrichtung inhaltlich umfangreicher sein muss als die Mitteilung des Art. 5 Abs. 2.142 Nicht zu Art und Grund der Beschuldigung gehören die belastenden Beweise. Eine Pflicht zur umfassenden Mitteilung des be- und entlastenden Beweismaterials entnimmt der EGMR dem Art. 6 Abs. 1, wobei aber noch nicht abschließend geklärt ist, in welchem Verfahrensstadium dieses Recht gewährleistet sein muss.143 Das Urteil Steel ließ erhebliche Zweifel aufkommen, ob der EGMR es mit einer Unterrichtung in allen Einzelheiten wirklich ernst meint. Zwar ist die Konkretisierung des der Anklage zugrunde liegenden Verhaltens nach Ort und Zeitpunkt grundsätzlich nicht zu beanstanden. Bedenklich stimmt jedoch, dass der EGMR nicht die Angabe einer Tages- oder Uhrzeit verlangt, wenn der Beschuldigte an einem Tag mehrere strafrechtlich relevante Handlungen begangen hat. Auf die Angabe einer Tageszeit könnte man allenfalls dann verzichten, wenn das Verhalten des Beschuldigten - etwa durch Ortsangaben - so konkret formuliert wird, dass sich verschiedene Handlungen individualisieren lassen. Der EGMR hat es jedoch ausreichen lassen, dass in der Unterrichtung der strafrechtliche Tatbestand als solcher benannt wird. Auch dessen unbestimmte und abstrakte Umschreibung soll den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3(a) genügen, wenn das Delikt durch eine gefestigte Rechtsprechung hinreichend konkretisiert ist.144 Dem Beschuldig-
139 140 141 142 143 144
EGMR, Τ ./. Italien, Serie A Nr. 245-C, § 28 („vague and informal knowledge cannot suffice"). EGMR, Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, § 79. EGMR, Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, §§ 51, 53. Ebenso: Frowein/Peukert Art. 5 Rn. 102. Siehe die Ausführungen unter § 4 II 2. EGMR, Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 48, 54-55, 86-87 („a breach of the peace occasioned").
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
439
ten dürfte aber die Ausarbeitung einer effektiven und angemessenen Verteidigung nur möglich sein, wenn er erkennen kann, welches konkrete Verhalten ihm zur Last gelegt wird. Hat er an einem Tag mehrere oder gar wesensverschiedene strafrechtlich relevante Handlungen vorgenommen, wird dem Zweck des Art. 6 Abs. 3(a) nur dann entsprochen, wenn die Unterrichtung eine Individualisierung des Verhaltens anhand der Tageszeit oder sonstiger genauer Ortsangaben ermöglicht. Im Urteil Pelissier u. Sassi erhielt der EGMR Gelegenheit, die inhaltlichen Anforderungen an eine Unterrichtung des Art. 6 Abs. 3(a) zu präzisieren. Im konkreten Fall ging es um die Frage, wie ein Gericht - speziell ein Rechtsmittelgericht - reagieren muss, wenn es das dem Beschuldigten zur Last gelegte Verhalten anders als die Strafverfolgungsbehörden bewertet. Die Ausführungen des Gerichtshofs haben auch Bedeutung für das Ermittlungsverfahren und das gerichtliche Verfahren in erster Instanz. Zum Grund der Beschuldigung zählt der Gerichtshof die Handlungen, die dem Beschuldigten zur Last gelegt werden und auf die sich die Anklage stützt („acts he is alleged to have committed and on which the accusation is based"), wohingegen die Art der Beschuldigung - der EGMR sagt das nicht ausdrücklich, aus der gegensätzlichen Formulierung kann sich aber nichts anderes ergeben - die rechtliche Beurteilung dieser Handlungen meint („legal characterisation given to those acts"). Beide Informationen müssen „in detail" erfolgen. Ausdrücklich hebt der Gerichtshof hervor, dass die vollständige und detaillierte Information über die Anklage und die rechtliche Einordnung der Tat durch das Gericht eine unerlässliche Voraussetzung für die Durchführung eines fairen Verfahrens sind.145 Speziell die Anforderungen an die Unterrichtung über die rechtliche Klassifizierung der Tat müssen vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 die Vorbereitung der Verteidigung sicherstellen wollen. Deshalb ist eine Unterrichtung des Beschuldigten über eine Änderung von Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung immer dann erforderlich, wenn sich die rechtliche Beurteilung des ihm zur Last gelegten Verhaltens ändert und zu einer - in der Diktion des EGMR - „new charge" führt.146 Wann letzteres der Fall ist, lässt sich derzeit noch nicht abschließend sagen. Als abstrakten Maßstab hat der Gerichtshof zu erwartende Änderungen in der Verteidigung des Beschuldigten bei einer entsprechenden Unterrichtung herangezogen. Hier ist mit einer umfangreichen Straßburger Rechtsprechung zu rechnen, so dass sich in ein paar Jahren eine dem § 265 StPO vergleichbare Kasuistik entwickelt haben wird. So hat der EGMR entschieden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte den Beschuldigten darüber unterrichten müssen, dass sie ihn nicht entsprechend der Anklage als Täter, sondern nur als Teilnehmer bestrafen wollen. Eine neue Anklage liegt im Verhältnis verschiedener Handlungs- und Teilnahmeformen jedenfalls dann vor, wenn das nationale Recht klar zwischen ihnen differenziert („clear distinction") und für die jeweilige Handlungsform nicht nur ganz spezielle tatbestandliche Voraussetzungen
145
146
EGMR, Pelissier u. Sassi ./. Frankreich, Reports 1999-11, §§ 51-52 („full, detailed information concerning the charges against a defendant, and consequently the legal characterisation that the court might adopt in the matter, is an essential prerequisite for ensuring that the proceedings are fair"). In diese Richtung auch: Frister StV 1998, 159, 161.
440
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
benennt („specific elements"), sondern außerdem strikte rechtliche Bedingungen stellt („strict, cumulative conditions").147 In zeitlicher Hinsicht beginnt die Unterrichtungspflicht des Art. 6 Abs. 3(a) mit der Erhebung der strafrechtlichen Anklage. Sie setzt deren Erhebung also gerade voraus. Für die Erhebung der Anklage kommen - wie im ersten Kapitel gesehen - ganz unterschiedliche Anknüpfungspunkte in Betracht. Neben einer Vernehmung oder Festnahme - bei der auch Art. 5 Abs. 2 zu beachten ist - ist an jede Form der offiziellen Mitteilung eines Tatvorwurfs zu denken.148 Zur Kürze der Frist hat der Gerichtshof im untersuchten Zeitraum nicht explizit Stellung nehmen können. Alis Gründen der Rechtsstaatlichkeit und des Willkürschutzes muss man eine kurze Zeitspanne zwischen der Erhebung der Anklage und der Unterrichtung fordern. Umso mehr überrascht es, dass der EGMR im Fall Steel eine erst gut zehn Stunden nach der polizeilichen Festnahme erfolgte Information noch als konventionskonform angesehen hat.149 Wie bei Art. 5 Abs. 2 wird man keine sofortige Unterrichtung nach einer Festnahme oder sonstigen „anklageerhebenden" Maßnahme verlangen können. Unvollständige und überhastete Erklärungen sind auch nicht im Interesse des Beschuldigten. Ebenso muss die Unterrichtungspflicht beim Einsatz geheimer Überwachungsmaßnahmen entfallen, soweit und solange die Durchführung der Maßnahme im Einklang mit der Konvention erfolgt (Art. 8 Abs. 2). Nach dem Wegfall eines Geheimhaltungsinteresses hat die Unterrichtung aber kurzfristig zu erfolgen, es sei denn, die Anklage ist zwischenzeitlich weggefallen. Eine „nachträgliche" Informationspflicht kann dann jedoch wegen der von Art. 8 geforderten effektiven Kontrolle strafprozessualer Zwangsmaßnahmen bestehen, die mit einem Eingriff in das Privatleben, die Wohnung oder die Korrespondenz einer Person verbunden sind. Die Kurzfristigkeit der von Art. 6 Abs. 3(a) geforderten Unterrichtung steht vor allem auf dem Prüfstand, wenn eine Festnahme des Tatverdächtigen oder eine sonstige „anklageerhebende" Maßnahme unterbleibt, die Strafverfolgung aber trotzdem betrieben wird. Worum es hier im Kern geht, ist die schon im ersten Kapitel aufgeworfene Frage, wann die von einer Strafverfolgung betroffene Person durch die staatlichen Stellen von der Einleitung des Verfahrens informiert und damit angeklagt werden muss. Eine solche Pflicht zur Anklage lässt sich weder dem Art. 6 Abs. 1 noch Art. 6 Abs. 3(a) entnehmen. Auch das Fairnessgebot greift erst ab der Erhebung der Anklage. Dass das grundlose Zurückhalten einer Anklage - und damit einer Unterrichtung - bis zum Abschluss der Ermittlungen, dem Schutzzweck des Art. 6 Abs. 3(a) evident zuwider läuft, ist zwar
147
148
149
E G M R , Pelissier u. Sassi ./. Frankreich, Reports 1999-11, §§ 58, 60 (Akzessorität der Teilnahme zur Haupttat; spezieller Teilnahmevorsatz; bestimmte Teilnahmehandlung); vgl. zum deutschen Recht: KleinknechtlMeyer-Goßner § 265 Rn. 14; BGH, M D R 1977, 63 (Hinweispflicht trotz Erörterung eines anderen Strafgesetzes). Vgl. hierzu das Kapitel zum Begriff der strafrechtlichen Anklage iSv Art. 6 Abs. 1; die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 3(a) ist auch nach ihrer Überarbeitung nicht ganz frei von Widersprüchen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Einleitungssatz des Art. 6 Abs. 3 den Begriff Anklage verwendet, dann aber in Absatz (a) - dort allerdings korrekt - von Beschuldigung spricht. E G M R , Steel u.a../. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 6-10, 86-87.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
441
offensichtlich. D a s ändert aber nichts daran, d a s s sich der K o n v e n t i o n eine Pflicht zur A n k l a g e nicht e n t n e h m e n lässt. D i e s e Schutzlücke k a n n a u c h der E G M R
nicht
schließen, will er sich nicht d e m Vorwurf unzulässiger R e c h t s f o r t b i l d u n g aussetzen. Statt dessen bedarf es der Z e i c h n u n g eines weiteren Zusatzprotokolls m i t einer entsprechend e n Regelung. Es bedarf einer Regelung, w o n a c h nicht nur die U n t e r r i c h t u n g über die A n k l a g e s o n d e r n a u c h diese selbst kurzfristig erfolgen muss. A n k n ü p f u n g s p u n k t k ö n n t e hier d a s Entstehen eines Tatverdachts sein. Allenfalls Gesichtspunkte, die sich an d e m v o n der K o n v e n t i o n g e d e c k t e n - G e b o t einer effektiven Strafverfolgung orientieren, dürfen den Z e i t p u n k t der A n k l a g e p f l i c h t verzögern. N u r w e n n die U n t e r r i c h t u n g z u einer G e f a h r d u n g des U n t e r s u c h u n g s e r f o l g s führen würde, k a n n ein solches H i n a u s z ö g e r n der Anklage
- keinesfalls aber ein Totalverzicht - in Betracht k o m m e n . 1 5 0
D e m Bf. Brozicek war eine Comunicazione giudiziaria in italienischer Sprache a n seine Heimatadresse in Deutschland zugestellt worden. D u r c h sie wurde eine tatverdächtige Person von der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in Kenntnis gesetzt u n d zumeist aufgefordert, einen Verteidiger zu bestellen sowie eine Zustelladresse anzugeben. Sie war der verdächtigen Person gleich zu Beginn der U n t e r s u c h u n g zuzustellen. Der E G M R sah sie als Unterrichtung iSv Art. 6 Abs. 3(a) an, d a sie die zur Last gelegten Straftaten aufzählte, den N a m e n des Tatopfers angab, den Tatort u n d das betreffende D a t u m b e n a n n t e sowie auf die entsprechenden Vorschriften im italienischen Strafgesetzbuch Bezug nahm. 1 5 1 Auch die Entscheidung Albert u. Le Compte d ü r f t e Aufschluss über den erforderlichen Inhalt der Unterrichtung geben. Obwohl sie ein zivilrechtliches Disziplinarverfahren vor O r g a n e n der belgischen Ä r z t e k a m m e r betraf, wandte der E G M R die A r t . 6 Abs. 3(a), (b) u n d (d) entsprechend an u n d hielt eine Vorladung f ü r mit Art. 6 Abs. 3 (a) vereinbar, in der einem Arzt der Vorwurf gemacht wurde, in mindestens drei Fällen - diese wurden nach D a t u m u n d Patient konkretisiert - ohne medizinische Unterlagen u n d D u r c h f ü h r u n g einer U n t e r s u c h u n g Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt zu haben. 1 5 2 I m Fall Steel waren die Festnahmen der Bf. S u n d L wegen eines breach of the peace erfolgt. S war u m 14.00 U h r anlässlich einer Protestaktion gegen eine M o o r h u h n j a g d festgenommen worden, die bereits vormittags begonnen hatte. Sie hatte sich vor einen Schützen gestellt u n d ihn so an der Abgabe eines Schusses gehindert. U m 0.56 U h r - also fast elf Stunden nach der Festnahme - wurde sie d u r c h ein ihr übergebenes charge sheet belehrt u n d beschuldigt: „ That you did on Saturday 22 August 1992 at Wheeldale Beck in the Parish of Sefton behaved [sic] in a manner whereby a breach of the peace was occasioned. The complaint of PC 676 Dougall of North Yorkshire Police who applies for an order requiring that you enter into a recognizance with or without sureties to keep the peace. Pursuant to section 115 of the Magistrates' Courts Act 1980." L hatte gegen den A u s b a u einer A u t o b a h n
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Vgl. zu der in Deutschland geführten Diskussion: Frister StV 1998, 159, 162; Vogler Internationaler Kommentar Art. 6 Rn. 477; Weigend StV 2000, 384, 385, Fn. 18 mwN; die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens (Stand: 6.4.2001) sehen eine solche Pflicht zur frühzeitigen Unterrichtung ausdrücklich vor (vgl. StV 2001, 314 (315 - Punkt 3). EGMR, Brozicek ./. Italien, Serie A Nr. 167, §§ 16, 24-25,42; siehe auch: EGMR, Corigliano ./. Italien, Serie A Nr. 57, § 35. EGMR, Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, §§ 9,41.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
protestiert. Mehrere Protestler waren immer wieder in eine Baustelle eingedrungen, hatten Baumaschinen und Bäume bestiegen und sich widerstandslos von Sicherheitskräften entfernen lassen. Formen von Gewalt oder Schäden an den Baumaschinen waren nicht aufgetreten. L war gegen 16.15 Uhr, unter der Schaufel eines Baggers stehend, wegen eines Verhaltens „likely to provoke a disturbance of the peace" festgenommen worden. Gegen 17.30 Uhr wurde ihr auf einer Polizeistation ein charge-sheet mit folgendem Inhalt übergeben: „Arrested as a person whose conduct on 15 September 1993 at Cambridge Park, Wanstead, was likely to provoke a disturbance of the peace to be brought before a Justice of the Peace or Magistrate to be dealt with according to law." Beide Bf. hatten einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(a) gerügt, da ihrer Ansicht nach der Vorwurf eines „breach of the peace" eine zu allgemeine Beschuldigung darstellte und das diesem Vorwurf zugrunde liegende Verhalten hätte spezifiziert werden müssen. Nach Ansicht des EGMR entsprachen die charge-sheets den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3(a).153 b)
Pflicht zur Mitteilung
der
Anklageschrift
Eine enge Interpretation des Wortlauts von Art. 6 Abs. 3(a) könnte zu der Annahme verleiten, dass eine angeklagte Person nur einmal über Art und Grund einer Beschuldigung unterrichtet werden muss, wenn sich im weiteren Ablauf des Verfahrens keinerlei Veränderungen in der rechtlichen Beurteilung der Tat ergeben. Als Argument ließe sich das zeitliche Erfordernis innerhalb kurzer Frist bemühen. Als fristauslösende Ereignisse kämen nur die Erhebung der Anklage und eine nachträgliche Änderung von Art und/oder Grund der Beschuldigung in Betracht. Wäre aber Art. 6 Abs. 3(a) auf die erstmalige Belehrung des Beschuldigten zugeschnitten, hätte die Vorschrift einen sehr begrenzten Schutzbereich. Bei inhaftierten Personen würde sie sogar in eine echte Konkurrenz zu Art. 5 Abs. 2 treten. Da Art. 6 Abs. 3(a) eo ipso keine schriftliche Unterrichtung fordert, bräuchte dem Beschuldigten eine im nationalen Gericht vorgesehene Anklageschrift nicht mitgeteilt werden, mittels derer das Verfahren vor einem Strafgericht anhängig gemacht wird, wenn der Beschuldigte zuvor bereits über Art und Grund der Beschuldigung unterrichtet worden ist und letztere in unveränderter Form den Inhalt der Anklageschrift bildet. Der E G M R hat sich im Urteil Kamasinski gegen eine solch enge Interpretation des Art. 6 Abs. 3(a) entschieden. Dort ging es um die Frage, ob und in welchem Umfang eine Anklageschrift einem der Verhandlungssprache nicht mächtigen Ausländer übersetzt werden muss. Die Entscheidung betraf zwei separate Fragestellungen: zum einen, ob Art. 6 Abs. 3(a) zeitlich gesehen in diesem Stadium des Verfahrens (noch) anwendbar ist, wenn der Beschuldigte zuvor bereits über Art und Grund der Beschuldigung unterrichtet worden ist, und zum zweiten, ob und in welchem Umfang Art. 6 Abs. 3(a) eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift verlangt. Der E G M R hat ausdrücklich hervorgehoben, dass dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen sei, dass die relevante Information schriftlich oder für einen ausländischen Beschuldigten schriftlich übersetzt
153
E G M R , Steel u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, §§ 6-10, 14-16, 84-87.
443
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
mitgeteilt werden muss („does not specify that the relevant information should be given in writing or translated in written form for a foreign defendant"), zugleich aber auf die besondere Bedeutung der Unterrichtung gegenüber sprachunkundigen Beschuldigten hingewiesen („need for special attention to be paid to the notification of the accusation").154 Aus dem Umstand, dass der Gerichtshof die Vorschrift des Art. 6 Abs. 3(a) als Prüfungsmaßstab für die Erforderlichkeit einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift heranzieht, muss man schließen, dass die Vorschrift die Unterrichtung des Beschuldigten über den Inhalt der Anklageschrift verlangt, wenn das nationale Recht eine solche vorsieht, und zwar auch dann, wenn er bereits zuvor über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung belehrt worden ist und die Anklage diesbezüglich keine neuen Gesichtspunkte enthält. Unabhängig von Art. 6 Abs. 3(a) muss dem Beschuldigten der Inhalt einer Anklageschrift zur Wahrung eines kontradiktorischen Verfahrens mitgeteilt werden, weil es sich bei ihr um eine Erklärung der Gegenseite („opponent") handelt, die den Gegenstand der Anklage verbindlich bestimmt, über die das Gericht zu verhandeln hat.155 Für den Beschuldigten ist es naturgemäß von Interesse zu erfahren, ob sich seit der ersten Unterrichtung, die regelmäßig anlässlich der Festnahme oder bei der ersten Vernehmung erfolgt, etwas am Inhalt der Beschuldigung geändert hat. Davon streng zu unterscheiden ist die bereits behandelte Frage, in welcher Form diese Unterrichtung über die Anklageschrift zu erfolgen hat. Hier bleibt es dabei, dass aus Straßburg noch keine verbindliche Aussage darüber vorliegt, ob Art. 6 Abs. 3(a) oder das in den Art. 6 Abs. 3(b) und (c) verkörperte Recht auf effektive Verteidigung eine schriftliche Unterrichtung über die Anklageschrift verlangen. c)
Unterrichtung in einer verständlichen
Sprache
Sowohl die Mitteilung des Art. 5 Abs. 2 als auch die Unterrichtung des Art. 6 Abs. 3(a) müssen in einer für den Beschuldigten verständlichen Sprache erfolgen. Die Strafverfolgungsbehörden trifft jedenfalls dann eine Beweislast für die Verständlichkeit der von ihnen für die Unterrichtung gewählten Sprache, wenn der Beschuldigte ausdrücklich Schwierigkeiten beim Verständnis dieser Sprache geäußert hat und die Behörden nicht feststellen können („in a position to establish"), dass der Beschuldigte über so umfangreiche Kenntnisse dieser Sprache verfügt, dass er den Inhalt einer Unterrichtung über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen verstehen kann. Besondere Aufmerksamkeit ist bei der Wahl der Verfahrenssprache geboten, wenn den Strafverfolgungsbehörden bekannt ist, dass der Beschuldigte eine andere Abstammung besitzt oder im Ausland lebt. Äußert der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren die ausdrück154
155
E G M R , Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, § 79; allgemein zur Bedeutung der Unterrichtung: E G M R , Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, § 51. Ebenso: Kähne StV 1994, 66, 67; vgl. auch: E G M R , Pelissier u. Sassi./. Frankreich, Reports 1999-11, § 51 („Particulars of the offence play a crucial role in the criminal process, in that it is from the moment of their service that the suspect is formally put on written notice of the factual and legal basis of the charges against him").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
liehe Bitte, dass ihm Schriftstücke in einer anderen als der gewählten Sprache mitgeteilt werden, müssen die Behörden entsprechende Schritte unternehmen, um die Anforderungen des Art. 6 Abs. 3(a) sicherzustellen. 156 Der Bf. Brozicek hatte noch vor der Mitteilung über die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens eine in französischer Sprache geschriebene Stellungnahme zu der ihm zur Last gelegten Tat an die Staatsanwaltschaft geschickt. Die ihm Monate später in italienischer Sprache an seine Heimatadresse in Deutschland zugestellte comunicazione giudiziaria (s.o.) sandte er umgehend an die Staatsanwaltschaft zurück, wobei er in deutscher Sprache hinzufügte: „Ich sende das anliegende Dokument an den Absender zurück, da ich Schwierigkeiten damit habe, es zu verstehen. In meiner detaillierten Stellungnahme ... und in der sämtlichen übrigen Korrespondenz mit den italienischen Behörden habe ich immer ausdrücklich darum gebeten, dass entweder die Muttersprache der betroffenen Personen oder eine der internationalen offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen benutzt wird, um gleich von Anfang an jedes Risiko eines Missverständnisses zu vermeiden." Spätere Schreiben und Mitteilungen an ihn waren erneut in italienischer Sprache verfasst. Da der Bf. weder italienischer Abstammung war noch in Italien lebte, die italienischen Behörden in einer unzweideutigen Weise darüber informiert hatte, dass er wegen mangelnder Kenntnisse der italienischen Sprache Schwierigkeiten hatte, den Inhalt der comunicazione giudiziaria zu verstehen, und zudem ausdrücklich darum gebeten hatte, dass ihm das Schreiben entweder in seiner Muttersprache oder in einer der offiziellen UN-Sprachen zugestellt werde, konnten die italienischen Behörden nicht davon ausgehen, dass der Bf. ausreichende Kenntnisse der italienischen Sprache besaß, um den Inhalt der comunicazione giudiziaria erschließen zu können. Erfolgt die Unterrichtung des Art. 6 Abs. 3(a) in einer für den Beschuldigten nicht verständlichen Sprache, ist eine Übersetzung erforderlich. 157 In der Entscheidung Kamasinski hatte sich der E G M R mit der Frage auseinander zu setzen, in welcher Form und in welchem Umfang eine Anklageschrift zu übersetzen ist, die in einer Sprache abgefasst ist, die der Beschuldigte nicht versteht oder spricht. Eine allgemeine Pflicht zur Übersetzung der Anklageschrift ergibt sich bereits aus Art. 6 Abs. 3(e), weil es sich bei ihr um ein Dokument handelt, auf dessen Übersetzung der Beschuldigte zur Wahrung eines fairen Verfahrens angewiesen ist. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass diese Übersetzung schriftlich erfolgen muss. Einen prinzipiellen Anspruch des Beschuldigten auf eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift wird man dem Urteil Kamasinski nicht entnehmen können, weil dort bereits das nationale Recht deren schriftliche Mitteilung vorschrieb. In diesem Fall ergibt sich bereits unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung eine Pflicht zur schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift gegenüber sprachunkundigen Personen. Der E G M R gibt zu bedenken, dass ein Beschuldigter, der mit der Verfahrenssprache des Gerichts nicht vertraut ist, jedenfalls in solchen Vertragsstaaten, in denen die Anklageschrift eine bedeutende Rolle im Strafverfahren spielt, weil
156 157
EGMR, Brozicek ./. Italien, Serie A Nr. 167, §41. Kritisch dazu, dass der Anspruch auf Übersetzung im deutschen Recht - außer durch Art. 6 Abs. 3(a) nur „unverbindlich" in Nr. 181 RiStBV geregelt ist: Weigend StV 2000, 384, 385.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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von diesem Moment an dem Beschuldigten die tatsächliche und rechtliche Grundlage der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen schriftlich mitgeteilt wird („an indictment plays a crucial role in the criminal process, in that it is from the moment of its service that the defendant is formally put on written notice of the factual and legal basis of the charges against him"), faktisch benachteiligt wäre, wenn er keine schriftliche Übersetzung in einer für ihn verständlichen Sprache erhielte („may in fact be put at a disadvantage if he is not also provided with a written translation of the indictment in a language he understands"). Eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift ist damit aber nicht in jedem Fall erforderlich. Die Erforderlichkeit einer schriftlichen Übersetzung richtet sich sowohl danach, ob die dem Beschuldigten zur Last gelegten Delikte in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplex sind, als auch nach dem Umfang und der Komplexität der Anklageschrift selbst. Ebenso spielt es eine Rolle, ob der Beschuldigte bereits umfassend zu den ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Taten vernommen worden ist und dabei in einem ausreichenden Maße Einzelheiten über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen erfahren hat. Mit der ihm gewährten Art der Übersetzung muss er in der Lage sein, die Anklageschrift anzugreifen („challenging the indictment"). Als Maßstab kommt die Effektivität der Verteidigung ins Spiel. Besitzt der Beschuldigte aufgrund früherer, in Gegenwart eines Übersetzers durchgeführter Vernehmungen ausreichende Kenntnisse über die gegen ihn erhobene Beschuldigung („made aware in sufficient detail of the accusations") und sind weder die ihm zur Last gelegten Delikte noch die Anklageschrift selbst komplex, so ist Art. 6 Abs. 3(a) genügt, wenn ihm die Anklageschrift vor Beginn der Hauptverhandlung übergeben wird und von einem Dolmetscher die Überschriften der betreffenden Delikte („titles of the crimes") - nicht jedoch die Tatsachengrundlage, auf die sich die Beschuldigungen gründen („material substance upon which the charges were ground") - in einer für ihn verständlichen Sprache mündlich übersetzt werden.158 Als für die Angemessenheit der Übersetzung sprechende Umstände hat der EGMR ex-post betrachtet u.a. berücksichtigt, dass der Beschuldigte Kamasinski bei der Mitteilung der Anklage keine Rüge zur Angemessenheit der mündlichen Übersetzung erhoben noch eine schriftliche Übersetzung der Anklage beantragt hatte und nach Verlesung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung auf eine Übersetzung verzichtet bzw. ausdrücklich erklärt hatte, ihren Inhalt verstanden zu haben.159 Ähnlich wie bei der von Art. 6 Abs. 3(e) geforderten Übersetzung in der Hauptverhandlung wird man die Ausführungen des EGMR auch hier nicht so verstehen können, dass ein Konventionsverstoß von einer ausdrücklichen Rüge des Beschuldigten abhängt. Weil ihr Fehlen jedoch ex-post gesehen ein Kriterium für die Angemessenheit der Übersetzung im konkreten Fall sein kann, muss man dem Beschuldigten raten, etwaige Übersetzungsmängel in geeigneter Form zu fixieren und bereits in der Verhandlung geltend zu machen. 158
159
E G M R , Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, §§ 15, 78-81; für ein generelles Erfordernis einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift im deutschen Strafprozess: Kühne StV 1994, 66, 67. E G M R , Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, §§ 15, 24, 80-81.
446
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
Dem Bf. Kamasinski war die Anklageschrift vor Beginn der Hauptverhandlung im Rahmen eines Gerichtstermins („indictment hearing") übergeben worden. Er behauptete, ihm seien anschließend von dem anwesenden „registrierten Dolmetscher" lediglich die Uberschriften der Delikte mündlich übersetzt worden. Aus dem über diese Verhandlung aufgenommenen Protokoll ergab sich, dass der Bf. in der Hauptverhandlung Einwände gegen den Inhalt der Anklageschrift erhoben, aber weder deren schriftliche Übersetzung beantragt noch den Umfang ihrer Übersetzung beanstandet hatte. Nach Verlesung der Anklageschrift zu Beginn der Hauptverhandlung hatten der Bf. und sein Verteidiger ausdrücklich auf eine Übersetzung verzichtet und angegeben, der Bf. habe die Beschuldigungen verstanden. Nach Ansicht des EGMR besaß der Bf. aufgrund der polizeilichen und richterlichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren eine ausreichende Kenntnis über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung. Die unterlassene Rüge der schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift bewertete er lediglich als einen Umstand, der für die Einhaltung eines fairen Verfahrens sprach. Eine Rügepflicht - mit Verwirkungsfolge - hat er dabei allerdings nicht statuiert. d)
Mitwirkungspflichten
Obwohl Art. 6 Abs. 3(a) ein klassisches Beschuldigtenrecht verkörpert, ist es nicht ausgeschlossen, dass der Beschuldigte bei einem Verstoß gegen bestimmte Mitwirkungspflichten bzw. Obliegenheiten seinen Anspruch auf Unterrichtung verwirkt. Denkbar wäre dies etwa, wenn er eine schriftliche Unterrichtung mit dem von Art. 6 Abs. 3(a) geforderten Inhalt vor dem Lesen mutwillig zerreißt oder ihre Entgegennahme in sonstiger Art und Weise verhindert. In diese Richtung gehen die Erwägungen des EGMR im Urteil Campbell und Fell. Dort entschied er, dass ein Strafgefangener einen etwaigen Verstoß der Vollzugsbehörden gegen die ihnen aus Art. 6 Abs. 3(a) obliegenden Aufklärungspflichten im Rahmen eines Disziplinarverfahrens nicht rügen kann, wenn er Verhandlungen, bei denen er weitere Informationen über die ihm vorgeworfenen Beschuldigungen hätte erlangen können, aus Gründen fernbleibt, die er selbst zu vertreten hat („within his own responsibility"). Inwieweit diese Entscheidung Auswirkungen auf herkömmliche Strafverfahren hat, kann derzeit nur vermutet werden. Eine Verwirkung darf aber nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht kommen. Das gegen den Strafgefangenen geführte Disziplinarverfahren hatte eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand und fand vor den in den englischen Gefängnissen eingerichteten Überwachungsausschüssen („Boards of Visitors") statt. Der Bf. war fünf Tage bevor der Ausschuss zusammentrat über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert worden. Einen Tag vor der Ausschusssitzung erhielt er Disziplinaranzeigen („notices of report"), die auf die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme hinwiesen. Der Verhandlung vor dem Ausschuss, in der die Disziplinarmaßnahme verhängt wurde, war der Bf. ebenso wie einer fünf Tage vorher abgehaltenen Vorverhandlung vor dem Direktor des Gefängnisses ferngeblieben.160
160
E G M R , Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 13, 96.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
447
Eine Pflicht zur Unterrichtung nach Art. 6 Abs. 3(a) kann auch dann entstehen, wenn ein Gericht den Beschuldigten aufgrund einer Vorschrift oder Tat verurteilen will, die nicht Gegenstand der Anklage und/oder der Verhandlung war. Die Problematik einer Divergenz zwischen der Beschuldigung in der Anklage und im Strafurteil wird im Kapitel über die strafgerichtliche Entscheidung abgehandelt.
8.
Ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung (Art. 6 Abs. 3(b))
Art. 6 Abs. 3(b) garantiert dem Beschuldigten eine ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung („adequate time and facilities for the preparation of his defence" / „disposer du temps et des facilites necessaires ä la preparation de sa defense"). Ob ein Zeitraum zur Vorbereitung der Verteidigung ausreichend ist, bestimmt sich in erster Linie nach der Schwierigkeit der Angelegenheit („complexite de l'affaire"). So stellt es eine ernsthafte Beschränkung der Fairness dar, wenn einem (Wahlverteidiger in einem komplexen und gravierende Straftaten betreffenden Strafverfahren ein Zeitraum von nur vier Tagen zwischen seiner Beauftragung und der Urteilsverkündung bleibt, um die Verfahrensakte zu studieren und die Verteidigung auszuarbeiten. Einen solchen Zeitraum hat der EGMR in der Entscheidung Twalib als „very limited time" bezeichnet. Ist der Verteidiger mit dem Fall bereits vertraut, etwa weil er in demselben Verfahren einen Mitbeschuldigten verteidigt, ist eine derart kurze Vorbereitungszeit jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn zwischen den beiden Beschuldigten ein Interessenkonflikt besteht („conflict of interests").161 Einen Anhaltspunkt dafür, welche Zeit für eine Verteidigung noch als ausreichend angesehen werden kann, liefert auch das Urteil Albert undLe Compte. Zwar ging es dort um ein - zivilrechtliches - Disziplinarverfahren vor Organen der belgischen Ärztekammer, auf das der EGMR die Garantien der Art. 6 Abs. 3 (a), (b) und (d) entsprechend anwandte. In einer Vorladung wurde einem Arzt vorgeworfen, in mindestens drei Fällen ohne die erforderlichen Untersuchungen Arbeitsunfahigkeitsbescheinigungen ausgestellt zu haben. Da die Angelegenheit keinerlei Schwierigkeit aufwies, sah der Gerichtshof eine Vorbereitungszeit für die „Verteidigung" von mehr als 15 Tagen als angemessen an.162
Ob der Beschuldigte gehalten ist, die Vertagung der Verhandlung über die Anklage zu beantragen, wenn ihm seiner Ansicht nach keine ausreichende Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung bleibt, lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht mit Sicherheit entnehmen. Im Fall Campbell u. Fell stellte der EGMR lediglich fest, dass der Bf. „apparently did not seek an adjournment of the hearing". Ob man diesem Satz eine Rügepflicht entnehmen kann, erscheint eher fraglich. 161 162
EGMR, Twalib ./. Griechenland, Reports 1998-IV, § 40. EGMR, Albert u. Le Compte ./. Belgien, Serie A Nr. 58, §§ 9,41 („parait en soi raisonnable").
448
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Ein anderes Problem ist, ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(b) wegen einer zu kürzen Vorbereitungszeit entfällt, wenn weder der Beschuldigte noch sein (neuer) Verteidiger diesen Mangel in der Rechtsmittelinstanz rügen. Mit der Formulierung „it does not appear from the evidence that the applicant's lawyer contended on appeal that the conviction was unsafe and that a retrial should be ordered on account of the defects in the applicant's representation at first instance" schien der EGMR in die Richtung einer Rügepflicht zu gehen. Er hat diesen Gedanken aber im Urteil Twalib nicht zu Ende geführt („be that as it may"), weil seiner Ansicht nach der Mangel in der Berufungsinstanz geheilt worden war. Daraus muss man schließen, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(b) in erster Instanz dadurch geheilt werden kann, dass der Beschuldigte in einer dem Fairnessgebot entsprechenden Verhandlung vor einem Rechtsmittelgericht - das eine vollumfangliche Prüfungskompetenz sowohl für Tatsachen- als auch für Rechtsfragen besitzt und das erstinstanzliche Urteil aufheben kann („full competence/empowered to examine/consider all questions of fact and of law arising in the case and to quash the impugned judgment") - den behaupteten Mangel rügen („raise the alleged deficiency at the appeal hearing") und sowohl seine Verurteilung als auch die ihm gegenüber verhängte Strafe angreifen kann („challenge conviction and sentence"). Dies dürfte unabhängig davon gelten, ob der Beschuldigte in erster Instanz verteidigt war oder nicht.163 Kurzum, Art. 6 Abs. 3(b) verlangt offensichtlich nur die Gewährleistung einer den Grundsätzen des Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3(b) entsprechenden gerichtlichen Instanz. Damit toleriert der EGMR faktisch den Verlust einer „fairen" Instanz. Ob das trotz des mittlerweile in Art. 2 des 7. ZP normierten Anspruchs auf ein Rechtsmittel Bestand hat, bleibt abzuwarten. Diese Rechtsmittelgarantie sollte der Heilbarkeit von Verfahrensmängeln im Instanzenzug deutliche Schranken setzen. Hier gilt es zu beachten, dass Art. 7 des 7. ZP bestimmt, dass alle Bestimmungen der Konvention entsprechend der durch das ZP eingeführten Zusatzartikel auszulegen sind.164 Ein gewisser Widerspruch zur Heilung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 3(b) im Instanzenzug liegt darin, dass der EGMR im Urteil Goddi klargestellt hat, dass auch in einem Rechtsmittelverfahren die Gewährung einer angemessenen Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung erforderlich sein kann, vor allem dann, wenn es zu einer Auswechslung des Verteidigers kommt. Auch einem erst in der Berufungsverhandlung auf der Stelle („designe sur-le-champ") bestellten Verteidiger, der keine Kenntnis über die Akten und die Person des Beschuldigten hat, muss die notwendige Vorbereitungszeit („temps necessaire pour se preparer") zum Aktenstudium, zur Vorbereitung seines Vortrags und zur Kontaktaufnahme mit seinem Mandanten eingeräumt werden, insbesondere dann, wenn die Verhandlung noch am selben Tag mit einem Urteil abgeschlossen werden soll und die Verhängung einer höheren Strafe als in der Vorinstanz möglich ist. Zu diesem
163
164
EGMR, Twalib ./. Griechenland, Reports 1998-IV, §§ 40-42; siehe auch das kritische Sondervotum van DijklMakarczyk/Jambrek. Ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(b) ausscheidet, wenn das Rechtsmittelgericht ohne einen Hinweis den Mangel aus der ersten Instanz nicht erkennen kann, hat der Gerichtshof dahinstehen lassen. Siehe zum 7. ZP: Nowak EuGRZ 1985, 240, 241; Trechsel in: FS für Ermacora, S. 195 ff.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
449
Zweck muss das Gericht die Verhandlung vertagen („ajourner les debats") oder aus eigenem Antrieb die Unterbrechung der Sitzung für eine „genügend lange Zeitspanne" anordnen („ordonner de sa propre initiative une suspension de seance d'une duree süffisante"). 165 Die Verhängung einer höheren Strafe in der Rechtsmittelinstanz sollte jedoch kein Kriterium für die Erforderlichkeit einer bestimmten Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung sein, weil auf diese Weise wieder ein „Schadenselement" in die Prüfung einbezogen wird, das der Gerichtshof an anderer Stelle zu Recht ausklammert. Die von Art. 6 Abs. 3(b) verbürgte ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung setzt vor allem dem Beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff. StPO) und dem Vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) Grenzen. So erlaubt § 418 I iVm § 417 I StPO die sofortige bzw. kurzfristige Durchführung der Hauptverhandlung, wenn die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist. Ein solcher auf die Komplexität des Verfahrens und den Umfang der Beweise abstellender Ansatz ist mit der Forderung nach „adequate time" für die Vorbereitung der Verteidigung nicht prinzipiell unvereinbar, zumal der EGMR beide Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines Strafverfahrens berücksichtigt (Art. 6 Abs. 1). Ob aber bei einer Ladungsfrist von 24 Stunden (§ 418 II 3 StPO) - selbst bei einfachen Sachverhalten - die Verteidigungsrechte eines Beschuldigten gewahrt sind, erscheint mehr als fraglich, vor allem wenn man bedenkt, dass das Gericht im Beschleunigten Verfahren eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verhängen kann (§ 41912 StPO).166 Derzeit wird in Hessen außerhalb der von StPO und JGG geregelten Beschleunigungsverfahren in mehreren Modellprojektiven ein sog. „Vorgezogenes Jugendverfahren" durchgeführt, das auf einer Absprache aller am Verfahren beteiligten Personen beruht. Eine schnelle Reaktion auf strafrechtliche Verfehlungen Jugendlicher ist aus kriminologischer Sicht sinnvoll. Gleichwohl müssen selbstverständlich auch bei solchen „einverständlichen" Verfahrensbeschleunigungen die Beschuldigtenrechte der EMRK gewahrt sein. Die Durchführung der Hauptverhandlung innerhalb von 4 bis 6 Wochen nach der Tat dürfte dem Jugendlichen eine angemessene Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewähren. In Einzelfällen können jedoch auch längere Fristen erforderlich sein. Ist objektiv betrachtet die Gewährung eines längeren Zeitraums zur Vorbereitung der Verteidigung erforderlich, stellt sich die Frage, ob der Jugendliche mittels einer Verfahrensabsprache auf das Verteidigungsrecht des Art. 6 Abs. 3(b) verzichten kann. Prinzipiell wird man von einer Disponibilität des Art. 6 Abs. 3(b) ausgehen können. Für die Wirksamkeit eines solchen Verzichts dürfte der EGMR aber gerade bei Jugend-
165
EGMR, Goddi ./. Italien, Serie A Nr. 76, §§ 27, 31; vgl. zur Vorbereitungszeit des Art. 6 Abs. 3(d): EGMR, Campbell und Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 13, 98. Dort ging es um ein strafrechtliches Disziplinarverfahren gegen einen Strafgefangenen vor einem in den englischen Gefängnissen eingerichteten Board of Visitors. Der Gefangene wurde fünf Tage bevor der Ausschuss zusammentrat über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert. Einen Tag vor der Ausschusssitzung erhielt er eine Disziplinaranzeige („notices of report"), die auf die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zu den Anklagen aufmerksam machte. Der EGMR ging von einer ausreichenden Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung aus.
166
Zur Missachtung des Art. 6 Abs. 3(c) durch das Beschleunigte Verfahren (§§ 417 ff. StPO): Weigend ZStW 113(2001)271,295.
450
2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des E G M R
liehen strenge Maßstäbe anlegen, weil bei ihnen aufgrund mangelnder Verstandesreife die Gefahr unüberlegter Verfahrenshandlungen besonders groß ist. Ein solcher Verzicht dürfte daher allenfalls nach hinreichender Aufklärung über die mit dem Verzicht verbundenen Folgen, wahrscheinlich sogar nur bei verteidigten Jugendlichen in Betracht kommen.167
9.
Recht auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 1, Abs. 3(c))
a)
Zugang zu einem Verteidiger im („access to lawyer")
Ermittlungsverfahren
Ein Beschuldigter muss sich in dem gegen ihn geführten Strafverfahren angemessen verteidigen können. Diese Garantie kommt in zahlreichen Vorschriften der Konvention zum Ausdruck. Neben Art. 6 Abs. 3(b), der eine ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung fordert („have adequate time and facilities for the preparation of his defence" / „disposer du temps et des facilites necessaires ä la preparation de sa defense"), ist Art. 6 Abs. 3(c) zu nennen, der jeder angeklagten Person drei Rechte gewährt: das Recht, sich selbst zu verteidigen („defend himself in person", „se defendre lui-meme"), das Recht, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen („through legal assistance of his own choosing" / „avoir l'assistance d'un defenseur de son choix") und - unter bestimmten Voraussetzungen - unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten („if he has no sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when interests of justice so requires" / ,,il n'a pas les moyens de remunerer un defenseur, pouvoir etre assiste gratuitement par un avocat d'office, lorsque les interets de la justice l'exigent"). Insofern ist es missverständlich, dass der Gerichtshof vom „right set out in paragraph 3 (c) of Article 6" spricht.168 Die Art und Weise, in der diese Rechte von einem Beschuldigten wahrgenommen werden können, lässt die Konvention offen. Deshalb fiel vor allem dem Gerichtshof die Aufgabe zu, die eher abstrakten Vorschriften und Voraussetzungen mit Leben zu erfüllen. Man darf es als eines der Grundprinzipien der Konvention bezeichnen, dass den Vertragsstaaten die Wahl der Mittel überlassen bleibt, mit deren Hilfe sie die Gewährleistung und Einhaltung der Konventionsrechte in ihren Rechtsordnungen sicherstellen wollen („choice of the means of ensuring that it is secured in their judicial systems"). Der Gerichtshof hat sich wiederholt auf die Prüfung zurückgezogen, ob die von den Vertragsstaaten gewählte Methode den Anforderungen an ein faires Verfahren
167
168
Vgl. zum Vorgezogenen Jugendverfahren in Hessen: Pressemitteilungen des Hessischen Justizministeriums Nr. 133/2000 v. 18.8.2000 und Nr. 95/2001 (zitiert nach: NJW 2000, Informationen, Heft 39, S. XVIII; N J W 2001, Informationen, Heft 29, XIV). E G M R , Pakeiii./. Deutschland, Serie A Nr. 64, § 42; Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 28; Monnell u. Morris ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 115, § 53; Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, §37.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
451
entspricht („whether the method ... is consistent with ... a fair trial")· 169 Dies lässt den Vertragsstaaten genügend Spielraum, um auf gegen andere Staaten ergehende Urteile angemessen reagieren zu können. Weil Art. 6 Abs. 3(c) einen wirksamen Schutz der Verteidigungsrechte garantieren will, muss die dem Beschuldigten gewährte Verteidigung konkret und effektiv sein („defense concrete et effective").170 Das Recht auf Verteidigung leitet der EGMR unmittelbar aus dem Konzept eines fairen Verfahrens in Strafverfahren ab. Wie schon in anderem Zusammenhang erläutert, kann das Fairnessgebot auch bestimmte Fürsorgepflichten für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte begründen. Das gilt namentlich beim Recht auf Verteidigung. So formuliert der Gerichtshof im Fall Goddi, ein Gericht müsse dafür Sorge tragen, dass dem Beschuldigten der Genuss eines fairen Verfahrens einschließlich einer angemessenen Verteidigung gewährt wird.171 Es ist zu beobachten, dass der Gerichtshof auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 3(c) mit Verschuldenselementen auf Seiten des Vertragsstaates arbeitet. Im Fall Goddi prüfte er, inwieweit ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) dem betreffenden Staat zur Last gelegt werden konnte („situation de fait est imputable ä l'Etat"). Umgekehrt scheint aber auch eine Verwirkung der in Art. 6 Abs. 3(c) genannten Garantien möglich zu sein, wenn das Verhalten des Beschuldigten Anlass zu Kritik gibt („comportement ne merite aucune critique"). Mitunter hat der EGMR auch eine auf Seiten des Beschuldigten bestehende Rügeobliegenheit angesprochen. 172 Auch die Heilung einer an sich konventionswidrigen Beschränkung des Rechts auf eine angemessene Verteidigung in einem späteren Verfahrensstadium ist durchaus denkbar. Dass jedoch die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens nicht in jedem Fall die Heilung vorinstanzlicher Verfahrensverstöße zur Folge hat, zeigt das Urteil Goddi. Dort nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) an, da der Wahlverteidiger nicht zur Verhandlung vor einem Berufungsgericht geladen worden war und der italienische Kassationshof diesem Mangel nicht abgeholfen hatte („n'y a pas remedie"). Ebenfalls von einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) ist der EGMR im Urteil Quaranta ausgegangen, da dem Bf. sowohl vor einem Untersuchungsrichter als auch in erster Instanz der gebotene unentgeltliche Beistand eines Verteidigers verweigert worden war. Obwohl der Bf. vor dem Berufungsgericht durch einen Verteidiger vertreten war und vor dem Schweizerischen Bundesgericht die unentgeltliche Beiordnung eines Verteidigers erhalten hatte, kam eine Heilung dieses Verfahrensmangels aufgrund der beschränkten Prüfungskompetenz dieser beiden Gerichte nicht in Betracht.173
169 170
171
172 173
EGMR, Quaranta ./. Schweiz, Serie A Nr. 205, § 30; Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 38. EGMR, Artico ./. Italien, Serie A Nr. 37, § 33; Pakeiii./. Deutschland, Serie Α Nr. 64, § 31; Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 27. EGMR, Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 31 („a veille ä garantir au prevenu le benefice d'un proces equitable comprenant la possibilite d'une defense adequate"). EGMR, Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, §§ 28-32. EGMR, Quaranta ./.Schweiz, Serie A Nr. 205, §§ 35-37 („because of the limits on the scope of the review").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
Art. 6 Abs. 3(c) verbürgt dem Beschuldigten das Recht auf eine angemessene Verteidigung in eigener Person oder mit Hilfe eines Verteidigers.174 Will sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen oder an der gerichtlichen Verhandlung über die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage teilnehmen, muss er auf den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zurückgreifen können. Von einem Beistand kann nur gesprochen werden, wenn es vor der Verhandlung über die Anklage zu irgendeiner Form von Besprechung zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger kommt („some previous consultation").175 Lange Zeit war nicht klar, ob die Beschuldigtenrechte des Art. 6 überhaupt im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren Anwendung finden. Vor allem war umstritten, ob der Beschuldigte aus der Konvention ein Recht auf Zugang zu einem Verteidiger während einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren herleiten kann. Für die Anwendbarkeit der von Art. 6 garantierten Beschuldigtenrechte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bedeutete die Entscheidung Imbrioscia den Durchbruch. Dort entschied der EGMR, dass Art. 6 zwar in erster Linie den Zweck verfolgt, ein faires Verfahren vor dem zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage berufenen Gericht zu garantieren („primary purpose of Article 6 ... is to ensure a fair trial by a tribunal competent to determine any criminal charge"). Seine Anwendbarkeit im vorgerichtlichen Verfahren sei damit aber keineswegs ausgeschlossen („but it does not follow that ... [art. 6] has no application to pre-trial proceedings"). Letztlich ist es Art. 6 Abs. 3(c), der den Beschuldigtenrechten im strafprozessualen Ermittlungsverfahren den Weg geebnet hat. Dass die in Art. 6 Abs. 3 genannten Rechte schon relevant sein können, bevor ein Strafverfahren bei Gericht anhängig wird („may also be relevant before a case is sent for trial"), weil die Fairness schon in diesem Stadium ernsthaft beeinträchtigt werden kann, hat der EGMR in der späteren Entscheidung John Murray nachdrücklich bekräftigt.176 Die Art und Weise, in der Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3(c) auf das vorgerichtliche Stadium Anwendung finden, hängt von dem speziellen Verfahren und den Umständen des Einzelfalls ab.177 174
175
176
177
EGMR, Artico./. Italien, Serie A Nr. 37, § 33 („droit de se defendre de maniere adequate en personne ou par l'intermediaire d'un avocat"). EGMR, Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 13, 36, 97, 99. Im Fall Campbell u. Fell (s.o.) war der Antrag eines Strafgefangenen auf Gestattung einer anwaltlichen Vertretung vor dem Uberwachungsausschuss abgelehnt worden. Auch ein vorbereitender anwaltlicher Beistand, den der Bf. nicht verlangt hatte, wäre ihm entsprechend der gängigen Praxis vermutlich verwehrt worden. In der Vorenthaltung der Möglichkeit, sich durch einen selbst gewählten Verteidiger vertreten zu lassen, sah der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c). EGMR, Imbrioscia./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 36; John Murray./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62 („fairness of the trial is likely to be seriously prejudiced by an initial failure to comply with them"); vgl. auch die früheren Urteile: Engel u.a../. Niederlande, Serie A Nr. 22, § 91; Luedicke, Belkacem u. Κος ./. Deutschland, Serie A Nr. 29, § 48; Campbell u. Fell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, §§ 95-99; Can ./. Österreich, Serie A Nr. 96, § 17; Lamy ./. Belgien, Serie Α Nr. 151, § 37; Delta ./. Frankreich, Serie A Nr. 191-A, § 36; Quaranta ./. Schweiz, Serie A Nr. 205, §§ 28, 36; S ./. Schweiz, Serie A Nr. 220, §§46-51. EGMR, Imbrioscia./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 38; John Murray./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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Dass Art. 6 schon im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zu beachten ist, steht mittlerweile außer Zweifel.178 Wenn das nationale Recht an das Verhalten des Beschuldigten während einer polizeilichen Vernehmung Folgen knüpft, die für die Erfolgsaussichten der Verteidigung in späteren Stadien des Strafverfahrens ausschlaggebend sind („attach consequences to the attitude of an accused at the initial stages of police interrogation which are decisive for the prospects of the defence in any subsequent criminal proceedings"), oder sich der Beschuldigte bereits bei Beginn der Vernehmung in einer Situation befindet, in der die Rechte der Verteidigung möglicherweise unwiderruflich beeinträchtigt werden („situation where the rights of the defence may well be irretrievably prejudiced"), gebietet es die Fairness des Verfahrens, dass der Beschuldigte schon zu Beginn der polizeilichen Vernehmung die Unterstützung eines Verteidigers erhält („benefit of the assistance of a lawyer already at the initial stages of police interrogation").179 Mit dieser klaren Aussage erweist sich das Urteil John Murray als Speerspitze gegen das auf nationaler Ebene zu verzeichnende Defizit der Verteidigerstellung im strafrechtlichen „Vorverfahren".180 Dass aber der Zugang zu einem Verteidiger während einer polizeilichen Vernehmung Beschränkungen unterliegen kann, deutet schon die Formulierung „normally" an. Für eine solche Beschränkung müssen aber gute Gründe vorliegen („restrictions for good cause"). Was ein solcher guter Grund für die Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger sein kann, lässt der EGMR leider offen. Die Urteilsgründe lassen aber erkennen, dass er die durch den Northern Ireland Emergency Provisions Act 1987 erlaubte Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger toleriert hätte, wenn sich der Beschuldigte - durch die drohende Verwertung seines Schweigens während dieser Zeit - nicht in einer die Fairness des Verfahrens gefährdenden Situation befunden hätte.181 Auf diese Weise bringt der Gerichtshof das Fairnessgebot als Schranken-Schranke für die Beschränkung der Verteidigungsrechte ins Spiel. Richtschnur und Grenze für Beschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem Verteidiger ist also die Fairness des Verfahrens, wobei es auch hier wieder auf das Strafverfahren in seiner Gesamtheit ankommt („entirety of the proceedings"). Ohne Zweifel hat der Gerichtshof auch in dieser Frage den Inhalt der Konvention von den Regelungen der nationalen Rechtsordnung gelöst. Demnach kann auch eine dem nationalen Recht entsprechende Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger gegen die Grundsätze des Fairnessgebots verstoßen. Außerdem macht das Urteil John Murray deutlich, dass die Unterstützung durch einen Verteidiger während einer polizeilichen Vernehmung nicht in jedem Fall, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich ist („under such conditions"), eben
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179
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EGMR, John Murray./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 62 („applies even at the stage of the preliminary investigation into an offence by the police"). EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 65-66; dieses Recht auf Verteidigerkonsultation wird in der deutschen Rechtsordnung durch § 137 StPO garantiert; vgl. BGH, StV 1996, 187; BVerfGE 39, 156, 163. Zu diesem Verteidigerdefizit: HeinelRonzanilSpartiol StV 1987, 74fT.; Λ/ng StV 1990, 509, 516. Ebenso: Kühne EuGRZ 1996, 571, 572.
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
dann, wenn sich der Beschuldigte in einer Situation befindet, in der die Rechte der Verteidigung möglicherweise unwiderruflich beeinträchtigt werden.182 Im Fall John Murray nahm der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 6 an, weil sich der Bf. in einer solchen Situation befunden hatte und ihm in den ersten 48 Stunden einer polizeilichen Vernehmung der Zugang zu einem Verteidiger verwehrt worden war. Welche Bedeutung dem Recht auf Zugang zu einem Verteidiger zukommt, zeigt der Zusatz in den Urteilsgründen „whatever the justification for such denial". Indes sollten
die im konkreten Fall zu bewertenden 48 Stunden nicht die Untergrenze für einen Konventionsverstoß darstellen. Auch kürzere Zeiträume dürften kaum mit dem Ausdruck „at the initial stages of police interrogation" vereinbar sein. Damit drängt sich die Frage auf, wann allgemein vom Vorliegen einer solchen Situation auszugehen ist. In Anlehnung an die Entscheidung John Murray wird man den Zugang des Beschuldigten zu einem Verteidiger am Beginn einer polizeilichen Vernehmung dann für erforderlich halten müssen, wenn aus dem Schweigen des Beschuldigten negative Schlüsse gezogen werden dürfen. In diesem Fall befindet sich der Beschuldigte nämlich schon zu Beginn der Vernehmung in einem - wie der EGMR es ausdrückt - elementaren Dilemma („fundamental dilemma"). Entschließt er sich, Angaben zur Sache zu machen, kann dies mit Nachteilen für seine Verteidigung verbunden sein, wobei nicht auszuschließen ist, dass auch in diesem Fall aus seinem Verhalten negative Schlüsse gezogen werden („runs the risk of prejudicing his defence without necessarily removing the possibility of inferences being drawn against him"). Schweigt er dagegen, können aus diesem Verhalten in jedem Fall nachteilige Schlüsse gezogen werden.183 Weil es für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(c) allein darauf ankommt, dass der Beschuldigte durch einen verweigerten Zugang zu einem Verteidiger und durch die nachfolgenden Beschränkungen seiner Verteidigungsrechte betroffen wird, bedarf es keiner hypothetischen Betrachtungsweise im Sinne einer Prognose, wie die Reaktion des Beschuldigten oder seines Verteidigers ausgefallen wäre, wenn schon in der Anfangsphase der Vernehmung ein entsprechender Kontakt bestanden hätte. Damit hat der Gerichtshof Ansätzen einer „hypothetical clean path "-Doktrin klar den Weg verstellt. Ob sich der Beschuldigte bei einem früheren Kontakt mit seinem Verteidiger anders verhalten hätte, ist ganz und gar unerheblich. Vor allem kann ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) auch dann vorliegen, wenn sich das Verhalten des Beschuldigten nach Gewährung des Kontaktes zu einem Verteidiger nicht ändert und er wie anfanglich zu den Tatvorwürfen schweigt.184 Die Entscheidung John Murray macht auch deutlich, dass die Belehrung des Beschuldigten über die möglichen negativen Folgen seines Schweigens einen Konventionsverstoß nicht verhindern kann. Der Bf. war am 7.1.1990 gegen 17.40 Uhr von der Polizei verhaftet und wie folgt belehrt worden: „ You do not have to say anything unless you wish to do so but I must warn you
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EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 63. EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 66. EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, §§ 67-68.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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that if you fail to mention any fact which you rely on in your defence in court, your failure to take this opportunity to mention it may be treated in court as supporting any relevant evidence against you. If you do wish to say anything, what you say may be given in evidence." Der Bf. machte keine Angaben. Auch nach der Ankunft auf einem Polizeirevier verweigerte er die Angabe seiner persönlichen Daten. Sodann wurde er auf sein Recht hingewiesen, einen Freund oder Angehörigen von seiner Festnahme in Kenntnis zu setzen. Stattdessen äußerte der Bf. den Wunsch, einen solicitor sprechen zu wollen. Gegen 19.30 Uhr wurde ihm auf der Grundlage des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1987 der Kontakt mit einem solicitor für die höchstzulässige Dauer von 48 Stunden von der Festnahme an gerechnet untersagt, weil die Polizei befürchtete, dass ein entsprechender Kontakt die Sammlung von Informationen über die Begehung terroristischer Straftaten beeinträchtigen würde. Um 21.27 Uhr wurde der Bf. von einem Polizeibeamten über den Inhalt von Art. 6 der Criminal Evidence (Northern Ireland) Order 1988 belehrt und aufgefordert, eine Erklärung für seine Anwesenheit in dem Haus zu geben, in dem er festgenommen worden war. Er wurde darauf hingewiesen, dass andernfalls „ein Gericht, ein Richter oder eine Jury aus dem Fehlen oder der Verweigerung solcher Angaben geeignete Schlüsse ziehen könne" („if he failed or refused to do so, a court, judge or jury might draw such inference from his failure or refusal as appears proper"). Auf die Belehrung hin gab der Bf. lediglich an: „Nothing to say." Am 8. und 9.1.1990 fanden insgesamt zwölf polizeiliche Vernehmungen mit einer Gesamtzeit von 21 Stunden und 39 Minuten statt. Zu Beginn jeder Vernehmung wurde der Bf. entweder wie bei der ersten Vernehmung nach der Festnahme belehrt oder an den Inhalt der vorangegangenen Belehrung erinnert. Während der ersten zehn Vernehmungen machte er keinerlei Angaben. Mit einem solicitor traf er erstmals am 9.1.1990 um 18.33 Uhr zusammen. Bei einer Vernehmung um 19.10 Uhr gab der Bf. an: „I have been advised by my solicitor not to answer any of your questions." Auch in einer weiteren Vernehmung machte er keine Angaben. Dem Solicitor war bei keiner Vernehmung die Anwesenheit gestattet worden. Während der Hauptverhandlung vor dem Lord Chief Justice of Northern Ireland - der den Fall als Einzelrichter verhandelte sagte ein Zeuge aus, dass er in dem Haus, in dem der Bf. festgenommen worden war, in einem Schlafzimmer festgehalten und unter Bedrohung mit dem Tod zur Abgabe eines Geständnisses gezwungen worden sei. Der Zeuge hatte den Bf. als einen seiner Peiniger erkannt. Zudem war der Bf. von einem Polizeibeamten auf der Treppe des Hauses gesehen worden. Zu keinem Zeitpunkt während des Verfahrens hatte der Bf. eine Erklärung für seinen Aufenthalt im Haus gegeben. Am Ende der Verhandlung forderte der Lord Chief Justice sämtliche acht Angeklagten auf, Beweise zu ihrer Entlastung vorzubringen („give evidence in their own defence") und belehrte sie wie folgt: „I am also required by law to tell you that if you refuse to come into the witness box to be sworn or if after having been sworn, you refuse, without good reason, to answer any question, then the court in deciding whether you are guilty or not guilty may take into account against you to the extent that it considers proper your refusal to give evidence or to answer any questions." Der Bf. trug keine entlastenden Beweise vor. Sein Verteidiger gab lediglich an, dass sich der Bf. zufällig und schuldlos in dem Haus aufgehalten habe. Der Bf. wurde wegen Anstiftung und Beihilfe zur Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt. In der Urteilsbegründung machte der Richter ausdrücklich von den in Art. 4 und Art. 6 der Criminal Evidence Order gestatteten Schlussfolgerungen Gebrauch und verwertete den Umstand, dass der Bf. während des gesamten Verfahrens
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keine Angaben zu seinem Aufenthalt im Haus gemacht hatte. Aufgrund des gesetzlichen Schemas („scheme") von Belehrungspflichten und der möglichen Verwertung fehlender Angaben zu seinem Aufenthalt am Tatort wäre nach Ansicht des Gerichtshofs die Unterstützung des Bf. durch einen Verteidiger schon zu Beginn der polizeilichen Vernehmungen erforderlich gewesen. Es ist nicht zu erwarten, dass der EGMR das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Verteidiger auf polizeiliche Vernehmungen beschränken wird. Der dem Urteil John Murray zugrunde liegende Schutz der Verteidigungsrechte muss bei sämtlichen Vernehmungen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gewahrt sein. Darüber hinaus täte der Gerichtshof gut daran, ein von der Vernehmungssituation unabhängiges Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Verteidiger zu statuieren, weil der Beschuldigte auch bei Durchsuchungen, körperlichen Untersuchungen oder sonstigen strafprozessualen Zwangseingriffen eines angemessenen Schutzes bedarf. Der EGMR hat es im Urteil John Murray bei der Feststellung belassen, dass der Beschuldigte einen Zugang zu einem Verteidiger seiner Wahl hätte erhalten müssen, es aber ausdrücklich offen gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Verteidiger während einer Beschuldigtenvernehmung anwesend sein muss („be present during police interviews").185 Das ist bedauerlich, weil sich gerade im Laufe einer Vernehmung ein plötzlicher und unvorhergesehener Beratungsbedarf ergeben kann und die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte auf die Konsultation mit dem nicht anwesenden Verteidiger verzichtet, um die Vernehmung zu einem schnellen Ende zu bringen. Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung des Zugangsrechts besteht daher noch ein erheblicher Klärungsbedarf. Zu wünschen wäre ein klares Bekenntnis des Gerichtshofs zu einem Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei sämtlichen den Beschuldigten betreffenden Vernehmungen und Zwangsmaßnahmen, unabhängig davon, in welchem Stadium des Strafverfahrens sie stattfinden. Auf Dauer wird der EGMR auch nicht umhin kommen, aus dem abstrakten Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 konkrete Anforderungen für die Verwertung konventionswidrig erlangter Beweise zu entwickeln. Im Urteil John Murray hat er es versäumt wahrscheinlich sogar bewusst vermieden - ausdrücklich ein Verwertungsverbot für die Angaben eines Beschuldigten zu normieren, dem unter Verstoß gegen die Konvention der Zugang zu einem Verteidiger verwehrt worden ist. Diese Problematik war bereits Gegenstand der Entscheidung Barberä. Zwar wird man dem EGMR darin zustimmen können, dass die Verwertung von Angaben des Beschuldigten aus einer konventionswidrigen Vernehmungssituation nicht gegen die in Art. 6 Abs. 2 geschützte Unschuldsvermutung verstößt, da diese nur dann verletzt ist, wenn eine justitielle Entscheidung den Eindruck erweckt, der Beschuldigte sei schuldig, ohne dass seine Schuld zuvor auf gesetzlichem Wege festgestellt worden ist. Die Urteilsgründe im Fall Barberä deuten aber zumindest an, dass die Verwertung einer vom Beschuldigten vor der Polizei oder einem Untersuchungsrichter ohne den nach Art. 6 Abs. 3(c) erforderlichen Beistand eines
185
EGMR, John Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-1, § 69.
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§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
Verteidigers abgegebenen Erklärung nur dann nicht gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstößt, wenn der Beschuldigte auf die Unterstützung eines Verteidigers wirksam verzichtet hat.186 Diesen Weg muss der Gerichtshof konsequent weiter beschreiten. Im Fall Barberä hatte das Gericht Angaben verwertet, welche die Bf. ohne den Beistand eines Verteidigers in der Polizeihaft bzw. vor einem Untersuchungsrichter (U) gemacht hatten, nachdem sie u.a. des Mordes beschuldigt worden waren und entsprechende Ermittlungen gegen sie bereits begonnen hatten. Die Angaben vor der Polizei betrachtete der EGMR mit Zurückhaltung („give rise to reservations"), zumal sie nach einer längeren Isolationshaft zustande gekommen waren. Weiterhin wies er darauf hin, dass U die Bf. trotz ihrer widersprüchlichen Einlassungen niemals persönlich vernommen, sondern die Ermittlungen ausschließlich durch Vernehmungsersuchen betrieben hatte. Dieses Vorgehen verstieß nach Ansicht des EGMR gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens. b)
Gewährleistung einer effektiven Unterstützung
durch einen
Verteidiger
(1)
Garantie einer wirksamen und effektiven Verteidigung („benefit of a practical and effective defence") Die in Art. 6 Abs. 3(c) enthaltenen Verteidigungsgarantien stellen Wahlrechte des Beschuldigten dar. Ihren optionalen Charakter hat der Gerichtshof immer wieder deutlich hervorgehoben. Da Art. 6 keine aktive Zusammenarbeit des Beschuldigten mit den Justizbehörden verlangt, kann dieser nicht für eine Verzögerung des Verfahrens verantwortlich gemacht werden, die durch seine Weigerung zur Benennung eines Verteidigers bei einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren entsteht. 187 Andernfalls würde das Recht auf Zugang zu einem Verteidiger zu einem Verteidigungszwang degradiert. Davon zu unterscheiden ist das „Aufdrängen" eines Verteidigers, das unter bestimmten Voraussetzungen mit der Konvention vereinbar sein kann (dazu später). Obwohl der Gerichtshof den drei Verteidigungsrechten des Art. 6 Abs. 3(c) einen jeweils originären Charakter beimisst, ist in den letzten Jahren eine Tendenz zu beobachten, die auf die Anerkennung eines allgemeinen Anspruchs des Beschuldigten auf eine angemessene und effektive Verteidigung hinausläuft. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) kann daher auch dann anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger seiner Wahl mit der Verteidigung beauftragt hat oder ihm ein Verteidiger bestellt worden ist, gleichwohl aber seine effektive Verteidigung objektiv nicht gewährleistet ist. Wie der EGMR hervorhebt, garantiert die Bestellung eines Verteidigers für sich gesehen noch keinen effektiven Beistand („assigning a counsel does not in itself ensure the effectiveness of the assistance he may afford an accused").188 Deshalb bestehen für die Ver186
181 188
EGMR, Barberä, Messegue u. Jabardo ./. Spanien, Serie A Nr. 146, §§ 87, 90-91 („did not have the assistance of a lawyer, although they do not appear to have waived their right to one", „and the file does not show that they had agreed to do without it"). EGMR, Corigliano ./. Italien, Serie A Nr. 57, §§ 17,42. EGMR, Granger ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 174, § 44; Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, §§ 38,44; Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, § 38.
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tragsstaaten hinsichtlich der Gewährleistung einer effektiven Verteidigung gewisse Fürsorgepflichten. Diese hat der Gerichtshof zunächst zurückhaltend interpretiert und die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten unter Berücksichtigung der Unabhängigkeit der Anwaltschaft („legal profession's independence") beschränkt. Demnach kann ein Vertragsstaat grundsätzlich nicht für Entscheidungen, Handlungen oder Unzulänglichkeiten auf Seiten eines gerichtlich bestellten oder vom Beschuldigten gewählten Verteidigers verantwortlich gemacht werden („be held responsible for the actions or decisions/every shortcoming on the part of a lawyer appointed for legal aid purposes or chosen by the accused"). Dieser für gerichtlich bestellte Verteidiger entwickelte Grundsatz gilt seit der Entscheidung Daud auch für den Wahlverteidiger. Die konkrete Ausgestaltung der Verteidigung („conduct of the defence") ist in erster Linie eine zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger zu regelnde Angelegenheit. Einschreiten müssen die Vertragsstaaten erst dann, wenn es offensichtlich ist oder sie in ausreichendem Maße davon Kenntnis erlangen, dass der Verteidiger dem Beschuldigten keine effektive Vertretung mehr gewährt („effective representation"). 189 Der Gerichtshof hat - freilich aus der Retrospektive - eine Zwei-Stufen-Prüfung entwickelt, an der sich auch die Strafverfolgungsbehörden auszurichten haben. Zunächst muss sichergestellt sein, dass der Beschuldigte in den Genuss einer praktischen und effektiven Verteidigung kommt („benefit of a practical and effective defence"). Ist dies nicht der Fall, ist auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob die Gerichte und Justizorgane unter Beachtung der Unabhängigkeit der Anwaltschaft zur Sicherstellung dieser effektiven Verteidigung zum Handeln gehalten sind.190 Der Beschuldigte hat aus Art. 6 ein Recht auf effektive Teilnahme an der Verhandlung des Gerichts über die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage („right to participate effectively in a criminal trial"). Ob ein Strafverfahren diesem Grundsatz entspricht, ist - wie die Entscheidung Imbrioscia zeigt - auf der Grundlage des gesamten Verfahrens einschließlich der Entscheidungen der Rechtsmittelgerichte zu beurteilen („proceedings as a whole"). Eine effektive Teilnahme an der Verhandlung umfasst nicht nur das Recht des Beschuldigten auf Anwesenheit, sondern ebenso das Recht, die Verhandlung zu hören und ihr zu folgen („right to be present, but also to hear and follow the proceedings"). Diese Rechte leitet der Gerichtshof sowohl aus dem Prinzip eines kontradiktorischen Verfahrens als auch aus den in Art. 6 Abs. 3 (c), (d) und (e) enthaltenen Garantien „ to defend himself in person ", „ to examine or have examined witnesses" und „ to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court" ab.191
189
190
191
E G M R , Kamasinski./. Österreich, Serie A Nr. 168, § 65; Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, § 41; Stanford ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 282-A, § 28; Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, § 38 („whether counsel be appointed under a legal aid scheme or be privately financed"). E G M R , Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, §§ 39-40 („whether it was for the relevant authorities ...to act so as to ensure that the applicant received the effective benefit of his right"). E G M R , Stanford ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 282-A, §§ 24-26.
§ 4 Die Rechte des Beschuldigten
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(a) Unterbliebene Ladung des Verteidigers zu einem Verhandlungstermin Der vom Beschuldigten gewählte Verteidiger ist zu jedem Termin zu laden, in dem das Gericht über die erhobene Anklage verhandelt, da er nur so in der Lage ist, das ihm übertragene Mandat wahrzunehmen.192 Diese Ladungspflicht muss auch für den gerichtlich bestellten Verteidiger gelten, weil sich die Interessenlage des Beschuldigten insofern nicht unterscheidet. Wird der (Wahl-)Verteidiger nicht zu einem Verhandlungstermin geladen, will das Gericht aber gleichwohl in diesem Termin über die Anklage verhandeln und entscheiden, so müssen im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles die Grundsätze einer wirksamen und effektiven Verteidigung gewahrt sein. Wenn es für das Gericht aufgrund der Umstände des Falles und der vorangegangenen Abschnitte des Verfahrens ersichtlich ist („auraient dü amener ä penser"), dass nur die Teilnahme des Wahlverteidigers eine effektive Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet, so kann auch die Bestellung eines anderen Verteidigers im Termin die unterbliebene Ladung und Teilnahme des Wahlverteidigers am Verhandlungstermin regelmäßig nicht kompensieren. Allerdings hat der E G M R im Fall Goddi die Gewährleistung einer wirksamen und effektiven Verteidigung durch die Bestellung eines anderen Verteidigers im Termin nicht gänzlich ausgeschlossen. Eine Kompensation für die unterbliebene Ladung des Wahlverteidigers kommt aber nur dann in Betracht, wenn das Gericht - unter Rücksichtnahme auf die Unabhängigkeit der Anwaltschaft - konstruktive Maßnahmen ergreift, um dem im Termin bestellten Verteidiger die Erfüllung seiner Aufgabe unter bestmöglichen Umständen zu ermöglichen.193 Dieser Gedanke ist nicht unproblematisch. Indem der Gerichtshof ganz offensichtlich von der Austauschbarkeit des Verteidigers ausgeht, trägt er dem Vertrauensverhältnis, das zwischen einem Wahlverteidiger und dem Beschuldigten bereits bestehen kann, zu wenig Rechnung. Die Besonderheit im Fall Goddi war nun die, dass nicht nur der Wahlverteidiger des Beschuldigten, sondern auch der Beschuldigte selbst wegen einer Inhaftierung in anderer Sache nicht in der Verhandlung vor einem Berufungsgericht erschienen war. In einem solchen Fall kann die Bestellung eines Verteidigers im Termin keinen Ausgleich für die unterbliebene Ladung und Abwesenheit des Wahlverteidigers in einem Verhandlungstermin gewähren, wenn dieser nicht den Grund für die Abwesenheit des Beschuldigten kennt, dementsprechend keinen Vertagungsantrag stellen kann und - in einem Rechtsmittelverfahren - die Verhängung einer höheren Strafe möglich ist. Diese Grundsätze dürften auch bei Anwesenheit des Beschuldigten und im erstinstanzlichen Verfahren gelten, denn die Abwesenheit des Bf. und die drohende Verschärfung der Strafe waren im Fall Goddi lediglich zwei - wenn auch gewichtige - Argumente für die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Wahlverteidigers im Termin. Unter diesen Umständen genügt es auch nicht, dass das Gericht einen früheren Wahlverteidiger zur Verhandlung lädt, dem der Beschuldigte zwar nicht ausdrücklich - wohl
m
E G M R , Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 27.
193
E G M R , Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 31 („adopter des mesures positives destinees ä permettre a l'avocat d'office de remplir sa täche dans les meilleures conditions").
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aber im Einklang mit der nationalen Rechtslage stillschweigend und für das Gericht ersichtlich - zwischenzeitlich das Mandat entzogen hat. Von einem solchen stillschweigenden Mandatsverlust muss das Gericht namentlich dann ausgehen, wenn der neue Wahlverteidiger des Beschuldigten im Gegensatz zu seinem Vorgänger bereits an einem Verhandlungstermin teilgenommen hat. Handelt es sich um ein Verfahren vor einem Rechtsmittelgericht, reicht die Ladung des früheren Wahlverteidigers auch dann nicht aus, wenn dieser noch die Rechtsmittelbegründungsschrift für den Beschuldigten erstellt hat.194 Es wäre allerdings noch zu klären, ob ein Konventionsverstoß entfallt, wenn weder der Beschuldigte - so er denn anwesend ist - noch der ihm im Termin bestellte Verteidiger einen Antrag auf Vertagung der Verhandlung stellen. In diesem Punkt lässt die Entscheidung Goddi keine klare Aussage erkennen. Im konkreten Fall wäre das Berufungsgericht zwar nach Ansicht des EGMR zu einem aktiven Handeln verpflichtet gewesen, um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten, so dass weder der Beschuldigte noch der im Termin bestellte Verteidiger verpflichtet waren, eine Vertagung der Verhandlung zu beantragen. Allerdings hat der Gerichtshof eine Handlungspflicht des Gerichts mit den außergewöhnlichen Umständen des Falles - der Abwesenheit des Beschuldigten und der unterbliebenen Benachrichtigung des Wahlverteidigers vom Verhandlungstermin - begründet, so dass offen und zu befürchten ist, dass der Gerichtshof bei einer Anwesenheit des Beschuldigten möglicherweise eine Art Rügepflicht in Betracht ziehen wird.195 Der im Termin bestellte Verteidiger sollte deshalb in jedem Fall eine Vertagung beantragen. Der Bf. Goddi war u.a. zu einer 18-monatigen Haftstrafe verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hatten er und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. In erster Instanz war der Bf. durch zwei Wahlverteidiger (X, Y) vertreten worden, von denen einer (X) auch die Berufungsbegründungsschrift gefertigt hatte. Im ersten Termin vor dem Berufungsgericht erschien X trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht. Dem Bf. wurde sodann ein Verteidiger bestellt. Nach Vertagung erschienen im Termin der Bf. und ein neuer Wahlverteidiger (W), der den Bf. bisher nicht vertreten hatte. Ausdrücklich hatte der Bf. X und Y zu keinem Zeitpunkt das Mandat entzogen. Aus prozessualen Gründen wurde die Verhandlung erneut vertagt. Die Staatsanwaltschaft Bologna bat daraufhin die Staatsanwaltschaft Orvieto, in deren Bezirk sich der Bf. aufhielt, diesen von dem neuen Verhandlungstermin am 03.12.1977 zu benachrichtigen. D a der beauftragte Gerichtsvollzieher weder den Bf. noch eine gesetzlich zum Empfang bevollmächtigte Person antraf, hinterlegte er die Ladung im Rathaus und benachrichtigte den Bf. mittels eingeschriebenen Briefes und einer an dessen Wohnsitz hinterlassenen Mitteilung. Den Brief vom 05.10.1977 holte der Bf. am 7.10. persönlich ab. W wurde zu der Verhandlung am 03.12. nicht geladen, wohl aber X und Y. Am 29.10. war der Bf. verhaftet worden, um eine Strafhaft in anderer Sache anzutreten. Im Termin am 03.12. waren weder er noch W erschienen. Das Gericht, das keine Kenntnis von der Inhaftierung des
194 195
EGMR, Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 30. EGMR, Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 31.
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Bf. hatte, erklärte diesen für widerrechtlich abwesend und führte die Verhandlung fort, wobei es dem Bf. einen Verteidiger (P) bestellte. Da dieser weder mit den schriftlichen Unterlagen vertraut war noch den Bf. kannte oder von dessen Inhaftierung wusste, bezog er sich in der Verhandlung lediglich auf die Begründungsschrift des X. Einen Vertagungsantrag der Staatsanwaltschaft lehnte das Gericht ab und verurteilte den Bf. zu einer Haftstrafe von 4 Jahren und einer fast doppelt so hohen Geldstrafe wie in der Vorinstanz. Obwohl dem Bf. im Termin Ρ als Verteidiger bestellt worden war, verstieß die unterbliebene Ladung des W nach Ansicht des Gerichtshofs gegen die Grundsätze einer effektiven Verteidigung, weil Ρ weder mit den schriftlichen Unterlagen vertraut war noch den Bf. kannte oder von dessen Inhaftierung wusste und auch nicht die erforderliche Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung erhalten hatte. Ob die unterbliebene Teilnahme des Bf. an der Verhandlung selbst einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) bedeutete, lässt das Urteil dagegen offen. Die Urteilsgründe lassen eher vermuten, dass eine den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3(c) entsprechende Bestellung des Pflichtverteidigers - bzw. die Ladung und Teilnahme des Wahlverteidigers an der Verhandlung einen Konventionsverstoß verhindert hätte. (b) Ladung des verteidigten Beschuldigten zu einem Verhandlungstermin Von der Erforderlichkeit einer Ladung des Beschuldigten und seines Wahlverteidigers zum Verhandlungstermin zu unterscheiden ist die Frage, wem gegenüber eine solche Ladung erfolgen muss. Im Urteil Goddi hat der E G M R die persönliche Ladung und Benachrichtigung des Beschuldigten von einem Verhandlungstermin zumindest nicht explizit beanstandet, obwohl der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Wahlverteidiger bevollmächtigt hatte, der bereits vor Gericht aufgetreten war. Das Problem, ob neben dem Beschuldigten auch sein Wahlverteidiger zum Termin geladen werden muss, behandelt der E G M R unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen und effektiven Verteidigung. Letztlich dürfte die Entscheidung Goddi in diesem Punkt kaum eine verlässliche Aussagekraft haben, weil die Ladung der Verfahrensbeteiligten nicht das eigentliche Problem des Falles darstellte. Nicht zu entscheiden hatte der E G M R bisher den umgekehrten Fall, nämlich ob der Beschuldigte immer persönlich zu einem Verhandlungstermin geladen werden muss oder ob es ausreicht, wenn nur der (Wahl)Verteidiger eine Ladung zum Termin erhält. Dem Urteil Goddi ist zu entnehmen, dass die Benachrichtigung und Ladung des Beschuldigten zu einem Verhandlungstermin auch im Wege einer öffentlichen Zustellung erfolgen kann. Ohne die Benennung der konkreten Voraussetzungen, unter denen eine solche öffentliche Ladung erfolgen kann, bestehen gegen eine solche Aussage erhebliche Bedenken, weil der Beschuldigte von den in der Konvention genannten Rechten nur dann effektiv Gebrauch machen kann, wenn er individuell und zuverlässig vom Termin der Hauptverhandlung in Kenntnis gesetzt wird. Nicht umsonst sieht § 232 II StPO vor, dass auf Grund einer Ladung durch öffentliche Bekanntmachung eine Hauptverhandlung ohne den Angeklagten nicht stattfindet. In jedem Fall wird man ein Bemühen der Gerichte und Justizbehörden zu fordern haben, damit der Beschuldigte noch rechtzeitig vor dem Termin eine individuelle Kenntnis von der Ladung erhält. Auf diesen Aspekt hat der Gerichtshof auch im Urteil Goddi eindeutig abgestellt. Ein Zeitraum von etwas weniger als zwei Monaten zwischen dem Zugang der Ladung zum Termin und dessen
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Durchführung ist nicht zu beanstanden. 196 Wahrscheinlich dürften auch kürzere Ladungsfristen noch als konventionskonform anzusehen sein. (c) Benachrichtigung des Verteidigers von einer Terminverschiebung Es stellt einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) dar, wenn das Gericht entgegen einer dem Verteidiger mitgeteilten Terminierung früher als angekündigt über die strafrechtliche Anklage entscheidet, ohne diesen von der Terminänderung zu benachrichtigen. Weil es bei der Einhaltung der Konventionsgarantien nicht auf den Eintritt eines Schadens ankommt, gilt dies in einem Rechtsmittelverfahren unabhängig von den Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsmittels. Bei einer Terminänderung müssen die staatlichen Stellen Maßnahmen ergreifen, um eine Vertretung des Bf. bei der Verhandlung über die Anklage sicherzustellen („possibility of being represented by a lawyer at the examination of his appeal"). 197 Obwohl der E G M R im Urteil Alimena hinsichtlich der konkret geforderten Maßnahmen („steps") keinerlei Vorgaben macht, wäre im konkreten Fall nur eine neue Ladung des Verteidigers in Betracht gekommen. Die Mitteilungspflicht bei einer Änderung der Terminierung der Verhandlung über die strafrechtliche Anklage darf nicht auf verteidigte Beschuldigte in einem Rechtsmittelverfahren beschränkt bleiben. Auch ein nicht verteidigter Beschuldigter muss vor einer Überrumpelung durch ein zeitlich überraschendes Urteil geschützt werden, erst recht in erster Instanz. (d) Verlegung eines Verhandlungstermins wegen Verhinderung des Verteidigers Eng mit der Ladungspflicht verbunden ist die Frage, ob ein Verhandlungstermin verlegt werden muss, wenn der Verteidiger an einer Teilnahme verhindert ist. Leider legt der Gerichtshof auch in dieser Frage keine verbindlichen Standards fest, sondern berücksichtigt zwei unterschiedliche Gesichtspunkte: die besonderen Merkmale des Verfahrens („special features of the procedure") und das Verhalten des Verteidigers („conduct of the applicant's lawyer"). Auch hier gilt der Grundsatz, dass die staatlichen Stellen nicht für jede Inaktivität und Unzulänglichkeit eines - vom Beschuldigten gewählten - Verteidigers verantwortlich sind. Das Urteil Tripodi steht außerdem dafür, dass unter ganz engen Voraussetzungen auch eine in Abwesenheit des Beschuldigten und seines Verteidigers ergehende Entscheidung über die Anklage der Konvention entsprechen kann. Zu beachten ist allerdings, dass es im konkreten Fall um die Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts ging. In einem erstinstanzlichen Strafverfahren dürften für die staatlichen Stellen weitaus strengere Voraussetzungen gelten. Geht es dagegen um das Verfahren vor einem Rechtsmittelgericht, vor dem das angefochtene Urteil nur auf Rechtsfehler („points of law") überprüft wird, und sieht die nationale Rechtsordnung hierfür ein
196 197
E G M R , Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 29. E G M R , Alimena ./. Italien, Serie A Nr. 195-D, §§ 18-20. Der italienische Kassationsgerichtshof hatte die Verhandlung terminiert und den Verteidiger (V) entsprechend benachrichtigt. Als V vor Gericht erschien, erfuhr er, dass das Rechtsmittel bereits am Vortag zurückgewiesen worden war. Die unterbliebene Benachrichtigung des V verstieß gegen Art. 6 Abs. 3(c) („deprived him of legal assistance").
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prinzipiell schriftliches Verfahren vor („essentially written"), so dass der Verteidiger des Beschuldigten rechtliche Ausführungen in der mündlichen Verhandlung nur unter Bezugnahme auf die bereits in den Schriftsätzen erhobenen Rügen machen kann, verstößt es nicht gegen Art. 6 Abs. 3(c), wenn das Gericht in Abwesenheit des Verteidigers - und des nicht zugelassenen Beschuldigten - über das Rechtsmittel verhandelt. Allerdings muss der Termin der Verhandlung dem Verteidiger so rechtzeitig mitgeteilt werden, dass er für eine Vertretung sorgen oder einen zusätzlichen Schriftsatz einreichen kann. Bei Fragen, die auch in der Verhandlung geltend gemacht werden können und die das Gericht in eigener Kompetenz selbst überprüfen kann, ist eine Verhandlung in Abwesenheit des Verteidigers dagegen nicht so ohne weiteres möglich. 198 Die Bf. Tripodi und die Staatsanwaltschaft hatten gegen ein Berufungsurteil Rechtsmittel zum Kassationsgerichtshof eingelegt. Vor diesem konnte sich die Bf. nur durch einen Verteidiger vertreten lassen und bis 8 Tage vor der Verhandlung eine Rechtsmittelbegründungsschrift bei der Gerichtskanzlei einreichen. In der mündlichen Verhandlung waren die Anwesenheit eines Verteidigers und die Stellung von Anträgen nicht erforderlich. Das Auftreten eines anderen als in der Rechtsmittelschrift genannten Verteidigers konnte gestattet werden. Dagegen war eine Vertagung der Verhandlung nur in den gesetzlich vorgesehenen oder absolut notwendigen Fällen vorgesehen. Die Bf. hatte am 11.3.1985 eine Rechtsmittelschrift eingereicht. Am 26.3. informierte die Kanzlei den (Wahl-)Verteidiger (V), dass er innerhalb von 15 Tagen Einsicht in die Akte nehmen, Kopien fertigen und neue Stellungnahmen fertigen könne. Am 2.10. wurde V der Verhandlungstermin (6.12.) mitgeteilt. In einem Schreiben vom 18.11.- welches am 25.11. bei Gericht einging - bat V aus gesundheitlichen Gründen um eine Vertagung. Das Gericht lehnte diesen Antrag ab und verhandelte in Abwesenheit des V. Der EGMR hob zwar die Bedeutung der mündlichen Auseinandersetzung („value of oral argument") und die Vertretungspflicht vor dem Kassationsgerichtshof hervor, war aber der Ansicht, dass die mangelnde Aktivität des V - dem die Vertagungsvorschriften und seine Verhinderung bekannt waren - dem italienischen Staat nicht zugerechnet werden konnten („cannot hold the State responsible for a shortcoming on the part of the lawyer"), weil sich V spätestens nach dem 18.11. um eine Vertretung hätte bemühen müssen oder einen weiteren Schriftsatz einreichen (lassen) können. (e) Verteidigung eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Beschuldigten Lange Zeit war umstritten, ob ein Beschuldigter, der freiwillig auf sein persönliches Erscheinen vor Gericht verzichtet, das Recht behält, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen. Der E G M R prüft dieses Problem auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3 („both provisions taken together"). Während es im Urteil Poitrimol offen blieb, ob das unberechtigte Fernbleiben eines Beschuldigten mit dem Entzug der Verteidigungsrechte geahndet werden kann, sprechen die Entscheidungen Lala, Pelladoah und van Geyseghem eine deutliche Sprache: das Interesse an einer angemessenen Verteidigung überwiegt das Interesse an einer Anwesenheit des Beschuldig-
198
E G M R , Tripodi ./. Italien, Serie A Nr. 281-B, §§ 28-31 („issues which may be raised also at the hearing and indeed may be examined by the court of its own motion").
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
ten in der Verhandlung.199 Der EGMR legt den von Art. 6 Abs. 3(c) geforderten Beistand weit aus und erstreckt ihn auch auf die Verteidigung eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Beschuldigten. Anders ausgedrückt, ein Beschuldigter verliert sein Recht auf einen Verteidigerbeistand nicht durch sein Fernbleiben in der Verhandlung („merely on account of not being present at the trial").200 Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Verfahrensfairness („crucial importance") muss eine angemessene Verteidigung des Beschuldigten sowohl in erster Instanz als auch in einem Rechtsmittelverfahren gewährleistet sein („be adequately defended, both at first instance and on appeal"). Während üblicherweise die Beschränkung von Konventionsrechten vor einem Rechtsmittelgericht eher in Betracht kommt als in erster Instanz, ist es beim Recht auf Verteidigung eines abwesenden Beschuldigten quasi umgekehrt. Vor allem wenn das Rechtsmittelgericht die strafrechtliche Anklage letztmals vollständig in Hinblick auf Tatsachen- und Rechtsfragen überprüfen kann („last instance where ... the case could be fully examined as to questions of both fact and law"), muss auch der abwesende Beschuldigte das Recht haben, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen, weil die Vertretung für ihn die einzige und letzte Möglichkeit im Verfahren darstellt, tatsächliche und rechtliche Argumente zu der gegen ihn erhobenen Anklage vorzutragen. Neben der Art und Bedeutung der konkret durch die Verteidigung aufgeworfenen Fragen ist vor allem der Umfang der gerichtlichen Prüfungskompetenz von Bedeutung, weniger die Frage, ob das Urteil, das in Abwesenheit des Beschuldigten ergehen würde („default judgment"), unanfechtbar ist. Für Verschuldenselemente auf Seiten des Beschuldigten ist hier kein Raum. Auch ein ordnungsgemäß geladener, aber ohne jede Entschuldigung („even in the absence of an excuse") nicht erschienener Beschuldigter behält das Recht, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen. Unerheblich ist, ob er nach nationalem Recht verpflichtet ist an der Verhandlung teilzunehmen, oder ob ihm eine solche Teilnahme freisteht.201 Auch dass er in der Vorinstanz bereits Gelegenheit zur Verteidigung hatte und das Gericht die vom Verteidiger aufgeworfene Frage von Amts wegen klären muss, ändert nichts daran, dass dem Verteidiger die Teilnahme an der Verhandlung gestattet werden muss.202 Diese Grundsätze gelten auch für einen Beschuldigten, der nicht nur freiwillig auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet, sondern sich durch eine Flucht gezielt der Gerichtsbarkeit und dem Zugriff der nationalen Behörden entzieht. Auch er muss sich vor einem Rechtsmittelgericht vertreten lassen können, selbst wenn er sich weigert, einer 199
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EGMR, Poitrimol ./. Frankreich, Serie A Nr. 277-A, § 35 („whether it is permissible in principle to punish such absences by ignoring the right to legal assistance"); Lala./. Niederlande, Serie A Nr. 297-A, §§ 26, 33; Pelladoah ./. Niederlande, Serie A Nr. 297-B, §§ 33, 40; van Geyseghem ./. Belgien, Reports 1999-1, §§ 34-36. EGMR, Poitrimol./. Frankreich, Serie A Nr. 277-A, §§ 33-35; vgl. auch: EGMR, Campbell u. Fell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 80, § 99. EGMR, Lala./. Niederlande, Serie A Nr. 297-A, §§31-33; Pelladoah./. Niederlande, Serie A Nr. 297-B, §§ 38-40; van Geyseghem ./. Belgien, Reports 1999-1, §§ 34-35 („the defence ... intended to put forward concerned a point of law", „... an issue which the Court has described as crucial"). EGMR, van Geyseghem ./. Belgien, Reports 1999-1, § 35.
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gerichtlichen Haftanordnung Folge zu leisten („surrendered to a judicial warrant for his arrest"). Ein etwaiges Vertretungsverbot sieht der E G M R als unverhältnismäßige Sanktion für ein unberechtigtes Fernbleiben an. Zusätzlich besteht hier noch eine verfahrensrechtliche Absicherung. Wenn ein in der Hauptverhandlung nicht erschienener Beschuldigter Einwände gegen seine Verurteilung und die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage nur mit einer ausreichenden Entschuldigung für sein Fernbleiben erheben kann („depends largely on whether he has provided valid excuses for his absence"), muss eine Möglichkeit zur Überprüfung der Gründe bestehen, aufgrund derer das Gericht die vorgebrachte Entschuldigung zurückgewiesen hat. 203 D i e Ausübung des Rechts, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, darf nicht von übermäßigen Formalien abhängen („unduly formalistic conditions"). Richtschnur sind hier die Praktikabilität und Effektivität der Verteidigungsrechte. Die Gerichte müssen sicherstellen, dass der Verteidiger den nicht anwesenden Beschuldigten effektiv verteidigen kann. Deshalb darf die Vertretung des Beschuldigten durch einen Verteidiger in der Verhandlung nicht untersagt werden, weil dieser es unterlassen hat, das Gericht ausdrücklich um eine entsprechende Genehmigung zu ersuchen. 204 Im französischen Strafprozessrecht bestand für persönlich geladene Beschuldigte eine Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung. Ein ohne Entschuldigung nicht erschienener Beschuldigter galt als anwesend. Wurde ihm lediglich eine mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von weniger als zwei Jahren bedrohte Straftat zur Last gelegt, konnte er eine Verhandlung in Abwesenheit beantragen und sich durch einen Verteidiger vertreten lassen, soweit das Gericht seine Anwesenheit nicht für erforderlich hielt. Ein zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilter Beschuldigter, der einer Haftanordnung nicht Folge leistete oder von dieser Pflicht nicht befreit war, verlor im Falle seines Nichterscheinens das Recht zur Einlegung einer Rechtsbeschwerde. In erster Instanz war dem Bf. Poitrimol, der sich nach einer Kindesentführung im Ausland aufhielt, das Fernbleiben von der Verhandlung gestattet worden, in der er durch zwei Verteidiger vertreten war. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Zugleich erging ein Haftbefehl gegen ihn. Gegen dieses Urteil legten der Verteidiger (V) und die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel ein. Trotz einer Ladung erschien der Bf. nicht im Termin. Obwohl V angab, dass sein Mandant durch ihn vertreten werden wolle, ordnete das Gericht die Ladung des Bf. an und vertagte die Verhandlung. Im neuen Termin beantragte V erneut, ihm die Vertretung des nicht erschienenen Bf. zu gestatten. Das Gericht gab diesem Antrag wegen des bestehenden Haftbefehls und der Flucht des Bf. nicht statt und bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Die Ausführungen des V blieben unberücksichtigt. Der E G M R grenzte den Fall von den Urteilen Goddi, Colozza, F.C.B, und Τ ab, da der Bf. von sämtlichen Verhandlungsterminen informiert worden war, ausdrücklich auf sein Teilnahmerecht und das Recht, sich selbst zu verteidigen, 203
204
EGMR, Poitrimol./. Frankreich, Serie A 277-A, §§ 35, 37-38 („it is accordingly essential that there should be an opportunity for review of the legal grounds on which a court of appeal has rejected such excuses"). EGMR, Lala ./. Niederlande, Serie A Nr. 297-A, § 34; Pelladoah ./. Niederlande, Serie A Nr. 297-B, §41.
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verzichtet hatte und durch einen Verteidiger vertreten werden wollte. Er sah den Entzug des Rechts auf Verteidigung durch einen Verteidiger als unverhältnismäßige Strafe für die unberechtigte Abwesenheit des Bf. an, da dieser der einzigen Möglichkeit beraubt worden sei, in zweiter Instanz tatsächliche und rechtliche Argumente zu der gegen ihn erhobenen Anklage vorzutragen. Nach niederländischem Recht war ein Beschuldigter nicht verpflichtet, an der Verhandlung vor dem Berufungsgericht teilzunehmen. Das Gericht konnte einen geladenen Beschuldigten für abwesend erklären und über den Fall in seiner Abwesenheit verhandeln. Dies galt auch, wenn der Beschuldigte vorher seine Abwesenheit angekündigt, eine Vertagung beantragt und seine Verteidigung schriftlich eingereicht hatte oder ihm seine Abwesenheit nicht vorgeworfen werden konnte. Ein Einspruch war nur gegen erstinstanzliche Abwesenheitsurteile statthaft. Die Vertretung eines abwesenden Beschuldigten war nur zulässig, wenn dieser hierfür besonders ermächtigt war. Ein für abwesend erklärter Beschuldigter konnte sich nur bei einem zwingenden Grund durch einen Verteidiger vertreten lassen. Ansonsten stand die Zulassung eines Verteidigers im Ermessen des Gerichts. Ein Verteidiger, der für seinen abwesenden Mandanten auftreten wollte, musste hierfür ausdrücklich eine Genehmigung bei Gericht beantragen. Der Bf. Lala war in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von vier Wochen verurteilt worden. In anderer Sache war eine Geldstrafe gegen ihn verhängt worden, deren Nichtzahlung eine Inhaftierung zur Folge hatte. Weil er trotz Ladung nicht vor dem Berufungsgericht erschienen war, wurde er für abwesend erklärt. Der in der Verhandlung anwesende Verteidiger (V) des Bf. gab an, dass sein Mandant nicht erscheinen werde, da er die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für eine noch offene Geldstrafe befürchtete. Das Berufungsgericht verurteilte den Bf. in Abwesenheit zu einer zweiwöchigen Freiheitsstrafe. Im Fall Pelladoah bestand die Anklage aus einem Haupt- und Alternativvorwurf. In erster Instanz wurde der Bf. wegen des Hauptvorwurfs zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, aus der Untersuchungshaft entlassen und kurze Zeit später aus den Niederlanden ausgewiesen. Ein Berufungsgericht erklärte ihn für abwesend. Sein Verteidiger (V) beantragte, ihm die Verteidigung zu gestatten, da sein Mandant aufgrund seines Aufenthaltsortes (Mauritius) nicht in der Verhandlung erscheinen könne. Das Gericht lehnte diesen Antrag ab und ordnete eine Neuverhandlung des Falles an. In der zweiten Verhandlung, in welcher der geladene Bf. wiederum abwesend war, stellte der V den Antrag, ihm die Verteidigung hinsichtlich des Alternativvorwurfs zu gestatten. Das Gericht lehnte dies ab, da der V die erforderliche Ermächtigung nicht nachgewiesen hatte und zunächst über den Hauptvorwurf zu entscheiden sei. Das Gericht verurteilte den Bf. in Abwesenheit im Hauptvorwurf zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren. In beiden Fällen nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c) iVm Art. 6 Abs. 1 an, weil die Gerichte zur Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung die Teilnahme der Verteidiger an der Verhandlung hätten sicherstellen müssen, da das Verfahren die letzte Instanz war, in welcher der jeweilige Fall vollständig hinsichtlich aller Tatsachen- und Rechtsfragen überprüft werden konnte. (f) Effektivität einer Verteidigerunterstützung Eine polizeiliche oder staatsanwaltliche Vernehmung des Beschuldigten in Abwesenheit seines - bestellten oder gewählten - Verteidigers begründet nur d a n n keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3, wenn die Verteidigung unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrens noch als fair angesehen werden kann. Dies ist etwa d a n n der Fall, wenn die
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Vernehmungen in einem kurzen Zeitraum („period ... short") erfolgen, der Beschuldigte sich nicht über die mangelnde Aktivität seines Verteidigers beschwert und ein anderer, später bestellter Verteidiger nach einer Akteneinsicht die aus der Akte ersichtliche Abwesenheit seines Vorgängers bei früheren polizeilichen oder staatsanwaltlichen Vernehmungen nicht rügt. Sehr bedenklich ist jedoch, dass der EGMR eine effektive Verteidigung auch dann noch als gewährleistet ansieht, wenn ein Verteidiger nicht über Vernehmungen des Beschuldigten informiert wird und diese aus diesem Grund in seiner Abwesenheit stattfinden. Offensichtlich kann ein während der Vernehmungen unterbliebener Beistand dadurch kompensiert werden, dass dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben wird, vor und nach jedem Termin mit seinem Verteidiger zu sprechen, der Protokolle sämtlicher Vernehmungen erhält und nach Abschluss der Ermittlungen deren Ergebnis in Zweifel ziehen kann. Die Fairness im Ermittlungsverfahren wird aber geradezu entwertet, wenn Verteidigungsmängel bei einer Beschuldigtenvernehmung in diesem Stadium noch im späteren Strafprozess geheilt werden können. 205 Der Bf. Imbrioscia war am 2.2.1985 nach einem Drogenfund festgenommen worden. Noch am Tag der Festnahme wurde er von einem Bezirksanwalt vernommen. Nach polizeilichen Vernehmungen am 13. und 15.2. erfolgte am 18.2. eine weitere Vernehmung durch den Bezirksanwalt. Obwohl der Bf. zwischenzeitlich die B.G. mit seiner Verteidigung beauftragt hatte, war diese zu den Vernehmungen weder geladen worden noch hatte sie eine Teilnahme beantragt. Am 25.2. legte B.G. das Mandat nieder, ohne den Bf. jemals im Gefängnis besucht zu haben. Noch am selben Tag wurde F zum Verteidiger bestellt, der sogleich Akteneinsicht beantragte und den Bf. am 1.3. und 15.3. im Gefängnis besuchte. Am 8.3. und 11.4. war der Bf. jeweils in Abwesenheit von F erneut durch den Bezirksanwalt vernommen worden. Von beiden Vernehmungen und den zwischenzeitlich in Italien durchgeführten Ermittlungen hatte F Protokolle erhalten, war jedoch - was hinsichtlich der Vernehmung am 11.4. umstritten war - nicht von den geplanten Vernehmungen benachrichtigt worden Am 6.6. wurde dem Bf. in Gegenwart seines Verteidigers der Abschluss der Ermittlungen und der Tatvorwurf mitgeteilt, den der Bf. bestritt. F gab keinerlei Stellungnahme ab. Der Bf. wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gemäß der Strafprozessordnung des Kantons Zürich konnte dem Verteidiger die Anwesenheit bei Vernehmungen des Beschuldigten gestattet werden. Das Schweizerische Bundesgericht erlaubte jedoch die Versagung der Anwesenheit bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten. Lediglich bei späteren Vernehmungen war für einen Ausschluss des Verteidigers die Angabe von Gründen erforderlich. Nach Ansicht des EGMR hatte der Bf. zwar zunächst nicht die erforderliche rechtliche Unterstützung erhalten. Dennoch begründeten die drei Vernehmungen in Abwesenheit von B.G. keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3(c), da sie innerhalb einer kurzen Zeitspanne erfolgt waren („period in question ... so short") und der Bf. sich nicht über die mangelnde Aktivität von B.G. beschwert hatte, so dass ein Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden nicht erwartet werden konnte. Zudem wies der EGMR darauf hin, dass dem
205
E G M R , Imbrioscia./. Schweiz, Serie Α Nr. 275, §§41-43. Ob das spätere gerichtliche Verfahren überhaupt für die Verfahrensfairness erforderlich war, bleibt offen, weil der E G M R hier die wenig aussagekräftige Formulierung „furthermore" benutzt.
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Bf. noch am Tag der Mandatsniederlegung durch B.G. der F zum Verteidiger bestellt worden war, der nach Einsichtnahme in die Verfahrensakte die aus der Akte ersichtliche Abwesenheit von B.G. in den Vernehmungen nicht gerügt hatte. Dass F nicht über die staatsanwaltlichen Vernehmungstermine am 8.3. und 11.4. informiert worden war, sprach ebenfalls nicht für einen Konventionsverstoß, weil der Bf. vor und nach jedem Termin mit F sprechen konnte, dieser Protokolle sämtlicher Vernehmungen erhalten hatte und nach Abschluss der Ermittlungen am 6.6. weder Fragen gestellt noch die Untersuchungsergebnisse in Zweifel gezogen hatte. Außerdem sah der EGMR im gerichtlichen Verfahren angemessene Schutzvorkehrungen („adequate safeguards"), weil der Bf. in zwei Instanzen in Gegenwart des Verteidigers vernommen worden war, der ihn und seinen Mitbeschuldigten jederzeit befragen und Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft überprüfen konnte. Die Betrachtung des gesamten Verfahrens vor einer abschließenden Bewertung seiner Fairness mag auf den ersten Blick sinnvoll und verständlich sein. Beim Recht des Beschuldigten auf Beistand durch einen Verteidiger und dem Gebot einer effektiven Verteidigung ist dieser Gesamtansatz aber durchaus problematisch. Die mit ihm verbundenen Nachteile werden in der Entscheidung Imbrioscia besonders deutlich. Wenn die Strafverfolgungsbehörden anfangliche Verteidigungsmängel - von denen ging im konkreten Fall offensichtlich auch der E G M R aus - durch eine entsprechende Gestaltung des späteren Verfahrens kompensieren können, ist einem Missbrauch der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren Tür und Tor geöffnet. Das gilt vor allem dann, wenn diese keine scharfen, klaren Konturen haben, deren Einhaltung und Heilung untersucht werden könnte. So differenziert der Gerichtshof weder im Urteil Imbrioscia noch im Urteil John Murray zwischen dem Recht auf Zugang zu einem Verteidiger und dem Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei Beschuldigtenvernehmungen, wobei letzteres freilich nur ein Recht des Beschuldigten darstellt, weil die Konvention dem Verteidiger - soweit es die Verteidigung des Beschuldigten betrifft - keine eigenen Rechte gewährt. Außerdem erhöht der Gesamtansatz im Rahmen des Fairnessgebots die Gefahr, dass die Straßburger Rechtsprechung kasuistisch bleibt, weil sich ohne die exakte Kenntnis der Umstände des jeweils entschiedenen Falles keine verbindliche Beschreibung oder Aussage über die Einhaltung der Verteidigungsrechte treffen lässt.206 Insgesamt zieht sich der E G M R im Urteil Imbrioscia sehr weit aus dem Verhältnis von Verteidiger und Mandant zurück. Das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Zustimmen können wird man auch darin, dass den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3(c) genügt ist, wenn dem Beschuldigten im Falle einer Mandatsniederlegung seines Verteidigers noch am selben Tag ein neuer Verteidiger bestellt wird, vorausgesetzt natürlich, dieser erhält eine ausreichende Zeit zur Einarbeitung in den Fall. Erhebliche Bedenken rufen jedoch die vom Gerichtshof zumindest angedeuteten Rügepflichten für den Beschuldigten und seinen Verteidiger auf den Plan. Insbesondere darf eine Akteneinsicht nicht dazu führen, dass der Verteidiger von nun an alle erkennbaren Verteidigungs-
206
Zur Problematik des „Fallrechts" bereits: Trechsel ZStW 101 (1989) 819, 832.
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mängel rügen muss.207 Inakzeptabel ist auch das Argument, die ohne den Verteidiger erfolgten Vernehmungen seien nur über einen kurzen Zeitraum erfolgt. Es hat nicht nur eine äußerst geringe Aussagekraft, sondern verkennt auch den Umstand, dass jede Vernehmung des Beschuldigten unabhängig von ihrer Dauer oder ihres Zeitpunkts zu einer irreparablen Beschränkung der Verteidigungsrechte führen kann, vor allem wenn sie im Anschluss an eine Festnahme erfolgt. Das hat auch der EGMR im Urteil John Murray erkannt. Sehr viel konkretere Anforderungen an eine mit der Konvention vereinbare Verteidigung ergeben sich aus dem Urteil Daud. Demnach ist eine Verteidigung weder wirksam noch effektiv, wenn ein Verteidiger im Anschluss an die Vernehmung des Beschuldigten über einen Zeitraum von zehn Monaten weder Kontakt mit diesem aufnimmt noch rechtliche Schritte ergreift („taken any steps as counsel") und der Beschuldigte während dieser Zeit erfolglos seine Verteidigung betreibt. Als ein Indiz für eine nicht effektive Verteidigung ist die Zurückweisung seiner Anträge aus formalen Gründen anzusehen.208 In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass Verteidiger im Laufe eines Strafverfahrens das Mandat niederlegen bzw. um die Aufhebung ihrer gerichtlichen Bestellung bitten. Die Entscheidung Daud spricht dafür, dass die staatlichen Stellen dem Beschuldigten in einem solchen Fall einen neuen Verteidiger bestellen müssen, wenn ansonsten keine wirksame und effektive Verteidigung gewährleistet ist. Bemerkenswert ist, dass der EGMR diese Frage im Urteil Daud unabhängig von der finanziellen Bedürftigkeit des Beschuldigten gelöst hat. Naturgemäß benötigt der neue Verteidiger eine gewisse Zeit zur Einarbeitung in den Fall und für die Besprechung mit seinem Mandanten. Aus diesem Grund ist es für die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden wichtig zu erfahren, welcher Zeitraum einem neu bestellten Verteidiger zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden muss. Zu diesem Problem enthalten die Entscheidungen Goddi und Daud Vorgaben, die aber noch einer weiteren Spezifizierung bedürfen. Dem Urteil Goddi ist zu entnehmen, dass die Bestellung eines Verteidigers im Urteilstermin regelmäßig keine effektive Verteidigung mehr ermöglicht.209 Ansonsten kommt es auf den Gegenstand und die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens an. In einem komplexen Strafverfahren, in dem eine hohe Strafe ausgesprochen werden wird („heavy sentence"), ist es mit den Grundsätzen einer effektiven Verteidigung unvereinbar, wenn zwischen der Bestellung eines Verteidigers und dem Beginn der Hauptverhandlung acht Tage liegen und der Beschuldigte erst drei Tage vor der Hauptverhandlung von dem Verteidigerwechsel erfährt, weil die vorhandene Zeit es dem Verteidiger nicht erlaubt, die Akte zu studieren, den Mandanten im Gefängnis zu besuchen und die Verteidigung vorzubereiten. Interessanterweise hat der EGMR nicht auf die Bestellung des neuen Verteidigers, sondern auf die diesbezügliche Benachrichtigung des Beschuldigten abgestellt. Es bleibt abzuwarten, ob er auch bei einer längeren Einarbeitungszeit für den Verteidiger einen Konventionsverstoß annehmen 207 208 209
EGMR, Imbrioscia ./. Schweiz, Serie A Nr. 275, §41. EGMR, Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, § 39 („tried unsuccessfully to conduct his own defence"). EGMR, Goddi./. Italien, Serie A Nr. 76, § 27.
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wird, wenn die Zeitspanne zwischen der Benachrichtigung des Beschuldigten und dem Beginn der Verhandlung nur wenige Tage beträgt.210 Den staatlichen Stellen muss man in jedem Fall raten, den Beschuldigten unverzüglich von einem Verteidigerwechsel zu benachrichtigen. Dass einem Antrag des Beschuldigten auf Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung oder sonstigen Ermittlungs- bzw. Beweiserhebungsanträgen aus formalen Gründen nicht stattgegeben wird, berührt nicht die Fairness des Verfahrens, wenn die beantragten Ermittlungen zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden.211 Im Fall Daud war der Bf. am 10.3.1992 auf dem Flughafen Lissabon verhaftet worden, weil er einen gefälschten Pass und einen Koffer mit Kokain bei sich führte. Am 11.3. wurde er von einem Untersuchungsrichter in Gegenwart eines für ihn bestellten Verteidigers (V) vernommen und blieb anschließend in Untersuchungshaft. In der Folgezeit wurden zwei vom Bf. persönlich gestellte Anträge auf Haftprüfung bzw. Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung abgelehnt, letzterer deshalb, weil er nicht die formalen Mindestvoraussetzungen erfüllte und in Spanisch abgefasst war. Nachdem das Gericht einen Verhandlungstermin bestimmt hatte, beantragte der Bf. am 22.12. die Einvernahme mehrerer Zeugen, eine Untersuchung des Koffers sowie eine Auswechslung des Dolmetschers. Außerdem bat er um Kontakt mit V, der ihn bisher nicht kontaktiert habe. Der zuständige Richter lehnte die Gesuche ab, weil sie schwierig zu lesen, in Spanisch geschrieben und nicht übersetzt waren. Am 14.1.1993 wurde V aus gesundheitlichen Gründen von seinen Verteidigerpflichten entbunden. Daraufhin wurde C.G. am 18.1. als neue Verteidigerin bestellt. Der Bf. erfuhr von dieser Bestellung erst am 23.1. In der Hauptverhandlung am 26.1. und 1.2. vernahm das Gericht mehrere Zeugen und ließ auf Antrag der C.G. den Koffer identifizieren. Der Bf. wurde schließlich wegen Drogenhandels und eines Passvergehens zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Sein gegen dieses Urteil eingelegtes Rechtsmittel wurde wegen der mangelhaften Darlegung der Rechtsmittelgründe zurückgewiesen. In begrüßenswerter Deutlichkeit stellt der EGMR fest, dass Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 3(c) vom Beginn der Ermittlungen bis zum Beginn der Hauptverhandlung nicht genügt („failure to comply with the requirements of ... from the stage of the preliminary inquiries until the beginning of the hearings ...) und das mit Art. 6 Abs. 3 verfolgte Ziel durch die dem Bf. bestellten Verteidiger nicht erreicht worden sei („intended outcome of Article 6 § 3 was not achieved"), da V überhaupt nicht tätig geworden sei und der Bf. vergeblich versucht habe, sich selbst zu verteidigen. Die Zeit zwischen der Bestellung von C.G. und dem Beginn der Hauptverhandlung reichte zur Vorbereitung der Verteidigung nicht aus. Anders als in der Entscheidung Imbrioscia hat der EGMR im Urteil Daud keine Kompensation der im Ermittlungsverfahren aufgetretenen Verteidigungsmängel durch die Verhandlung vor dem Strafgericht erwogen. Das bedeutet einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Verfahrensfairness im Ermittlungsverfahren. Bedauerlich an den Urteilen Imbrioscia und Daud ist freilich, dass sich der Gerichtshof nicht zu einer klaren und
210 211
EGMR, Daud ./. Portugal, Reports 1998-II, § 39. EGMR, Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, §41.
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eindeutigen Aussage durchringen konnte, dass die Bf. angesichts der ihnen zur Last gelegten Straftaten die Unterstützung eines Verteidigers benötigten. Seine Zurückhaltung in dieser Frage mag vor dem Hintergrund verständlich sein, dass die Konvention den Beistand eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege ausdrücklich nur bei einer Mittellosigkeit des Beschuldigten verlangt. Die Entscheidung Daud geht aber klar in die Richtung eines vom Erfordernis der Mittellosigkeit losgelösten Instituts der notwendigen Verteidigung, wobei sich die Notwendigkeit hier auf die Effektivität der Verteidigerunterstützung bezieht. Auch wenn der Gerichtshof dies so deutlich nicht sagt, kann man die Entscheidung nur so verstehen, dass auch der nicht mittellose Beschuldigte Anspruch auf die effektive Unterstützung eines Verteidigers hat, wenn nur auf diese Weise die Verfahrensfairness insgesamt gewährleistet ist. Auffallend ist, dass der Gerichtshof einen von der finanziellen Situation des Beschuldigten unabhängigen Konventionsverstoß wegen einer mangelhaften Verteidigung bisher nur in Fällen angesprochen hat, in denen die Beschuldigten einen Verteidiger gewählt (Imbrioscia) oder bestellt bekommen hatten (Daud), aber eben schlecht verteidigt wurden. In Urteilen, in denen den Bf. der beantragte Beistand durch einen Verteidiger verweigert worden war, hat sich der E G M R dagegen an der Vorschrift des Art. 6 Abs. 3(c) orientiert und die Erforderlichkeit des Verteidigerbeistands sowohl von einem Interesse der Rechtspflege als auch von der Mittellosigkeit
der Beschuldigten abhängig
gemacht. Damit ergeben sich praktisch vier Fallgruppen: Der mittellose und unverteidigte Beschuldigte hat Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dieser Anspruch ergibt sich unmittelbar aus dem Text der Konvention. Der mittellose Beschuldigte, der nicht effektiv - egal ob durch einen bestellten oder gewählten Verteidiger - verteidigt wird, hat ebenfalls Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers. Auch dieser Anspruch folgt unmittelbar aus der Konvention. Der nicht mittellose und unverteidigte Beschuldigte hat nach dem eindeutigen Wortlaut der Konvention keinen Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers, selbst wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich wäre. Der nicht mittellose und uneffektiv verteidigte Beschuldigte hat nach Ansicht des EGMR einen Anspruch auf ein aktives Tätigwerden der nationalen Gerichte und Behörden. Dieser Anspruch läuft praktisch auf die Auswechslung des Verteidigers und die Bestellung eines anderen Verteidigers hinaus. Das hat der EGMR zumindest angedeutet. Es dürfte auch keinen Unterschied machen, ob es sich bei dem uneffektiv verteidigenden Verteidiger um einen Wahlverteidiger (Imbrioscia) oder um einen bestellten Verteidiger (Daud) handelt. Zwar hat der EGMR im Urteil Imbrioscia einen Konventionsverstoß verneint, allerdings nicht wegen der mangelnden Mittellosigkeit des Bf., sondern weil seiner Ansicht nach die Verteidigung nicht uneffektiv war.
Aufgrund der vergleichbaren Interessenlage ist zu vermuten, dass der Gerichtshof bei der Beurteilung der Kriterien für das Vorliegen einer effektiven Verteidigung eines nicht mittellosen Beschuldigten auf Gesichtspunkte zurückgreifen wird, die im Interesse der Rechtspflege den unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers für mittellose Beschuldigte erfordern (dazu sogleich). Hier dürfen jedoch im Kontext der Konventionsgarantien keine Wertungswidersprüche entstehen. Wenn das Interesse der Rechtspflege
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2. Teil: Das strafprozessuale Potential der Rechtsprechung des EGMR
einen Verteidigerbeistand des mittellosen Beschuldigten spricht, darf beim nicht mittellosen Beschuldigten kein Verteidigungsmangel angenommen werden, so unwirksam und uneffektiv seine Verteidigung auch sein mag. Dass dies nicht im Sinne der von Art. 6 Abs. 3(c) angestrebten effektiven Verteidigung eines Beschuldigten ist, liegt auf der Hand. Es gilt deshalb mit Interesse zu verfolgen, wie der EGMR entscheidet, wenn ein nicht mittelloser Beschuldigter mangelhaft verteidigt wird, aber im Falle seiner Mittellosigkeit keinen Anspruch auf einen (unentgeltlichen) Verteidigerbeistand hätte, weil das Interesse der Rechtspflege dies - etwa wegen der Geringfügigkeit des Vergehens und der zu erwartenden Strafe - nicht erfordert. Das Entstehen von Wertungswidersprüchen zwischen den drei Garantien des Art. 6 Abs. 3(c) durch die Spruchpraxis des Gerichtshofs lässt sich letztlich nur durch eine Erweiterung des Schutzgehaltes des gesamten Art. 6 Abs. 3(c) vermeiden. Denkbar wäre es, den Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers nur noch vom Interesse der Rechtspflege abhängig zu machen. Das dürfte jedoch angesichts der damit verbundenen Kostenbelastung für die Justizhaushalte so schnell nicht durchsetzbar sein. Man müsste dann wohl an der Unentgeltlichkeit „sparen". Eine andere Möglichkeit wäre, die Schwelle für das Interesse der Rechtspflege deutlich zu senken, wozu der Gerichtshof aber bei mittellosen Beschuldigten kaum Bereitschaft hat erkennen lassen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der EGMR im Urteil Daud den Weg zu einem Institut der notwendigen Verteidigung geebnet hat. (2) Pflicht der staatlichen Stellen zum Einschreiten gegen Verteidigungsmängel Wie schon eingangs erläutert, begründet eine unwirksame und nicht effektive Art der Verteidigung für sich allein noch keinen Konventionsverstoß. Die Mangelhaftigkeit der Verteidigung muss zusätzlich für die staatlichen Stellen offensichtlich sein oder ihnen auf andere Weise zur Kenntnis gelangen. Eine denkbare Art der Kenntnisnahme ist die Mitteilung durch den Beschuldigten. Beantragt der Beschuldigte mehrere Monate - im Fall Daud waren es acht - nach seiner Festnahme bei den staatlichen Stellen um ein Gespräch mit seinem Verteidiger und weist er zugleich darauf hin, dass dieser ihn seit der Vernehmung im Anschluss an die Festnahme nicht mehr kontaktiert hat, müssen die staatlichen Stellen von einem offensichtlichen Verteidigungsmangel ausgehen („should have alerted the relevant authorities to a manifest shortcoming"), insbesondere dann, wenn der Verteidiger seit seiner Bestellung keinerlei rechtliche Schritte unternommen hat („not taken any step since being appointed"). Der Gerichtshof gibt den nationalen Gerichten das erforderliche Vorgehen im Anschluss an eine solche Kenntniserlangung zumindest beispielhaft vor. Hat der Beschuldigte einen Mangel der Verteidigung angezeigt, muss das Gericht von sich aus ergründen, wie der bestellte Verteidiger seine Pflicht erfüllt, und ihn erforderlichenfalls ersetzen, noch bevor dieser von sich aus die Verteidigung niederlegt („inquired into the manner in which the lawyer was fulfilling his duty and possibly replaced him sooner"). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte über einen längeren Zeitraum seine Verteidigung erfolglos betrieben hat und dabei vorwiegend an Formalien gescheitert ist. Ist zur Wahrung einer wirksamen und effektiven Verteidigung die Bestellung eines
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anderen Verteidigers erforderlich und ist den zuständigen Stellen bewusst, dass der ausgewechselte Verteidiger für den Beschuldigten keine angemessene Vertretung war („must have known that ... had not had any proper legal assistance until then"), muss das weitere Verfahren so gestaltet werden, dass der neue Verteidiger eine angemessene Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung hat. Hierzu ist - auch ohne einen ausdrücklichen Antrag des neuen Verteidigers - die Hauptverhandlung zu vertagen („could have adjourned the trial on its own initiative"). Jedenfalls dürfen die staatlichen Stellen unter diesen Umständen nicht länger passiv bleiben („required that the court should not remain passive"). D a die Verteidigungsmängel im Fall Daud auch vom Obersten Gerichtshof nicht geheilt worden waren, war der Bf. nicht in den Genuss einer wirksamen und effektiven Verteidigung gekommen. Sein Brief vom 15.12.1992 hätte die Behörden von einem offensichtlichen Verteidigungsmangel alarmieren müssen, zumal V seit seiner Bestellung im März keine rechtlichen Schritte in der Sache unternommen hatte. D a s Strafgericht hätte nicht mit der Bestellung des neuen Verteidigers abwarten dürfen bis V um seine Entpflichtung bat. Vielmehr hätte es aktiv die Effektivität der Verteidigung des V prüfen und von Amts wegen die Hauptverhandlung vertagen müssen, um dem neuen Verteidiger die Einarbeitung in den Fall zu ermöglichen. 212
Dass die zuständigen staatlichen Stellen eine Pflicht zum aktiven Handeln trifft, sobald sie von der Mangelhaftigkeit einer Verteidigung - die den Grad einer nach der Konvention intolerablen Ineffektivität erreicht - erfahren haben, hat der EGMR klar formuliert („circumstances of the case required that the court should not remain passive"). Indes dürften die Entscheidungsgründe nicht so zu verstehen sein, dass die staatlichen Stellen eine Art Überwachung über die dem Beschuldigten gewährte Verteidigung trifft. Dies wäre nämlich mit dem Grundsatz, dass nicht jeder Verteidigungsmangel die Justizorgane zu einem Einschreiten veranlassen muss, kaum in Einklang zu bringen. Wenn die staatlichen Stellen allerdings von einem konventionswidrigen Verteidigungsmangel erfahren dies muss nicht, kann aber durch den Beschuldigten geschehen müssen sie einschreiten („intervene") und dürfen nicht länger passiv bleiben. Eine gewisse Diskrepanz entsteht hier allerdings zum Umfang der Überwachungspflicht hinsichtlich eines dem mittellosen Beschuldigten bestellten Verteidigers, die der Gerichtshof weniger streng interpretiert. Auch hier ist eine Angleichung in der Entscheidungspraxis erforderlich. Im übrigen ist es aber zu begrüßen, dass der Gerichtshof in der Entscheidung Daud innerhalb des dort beibehaltenen Gesamtansatzes bei der Prüfung der Verfahrensfairness einen Konventionsverstoß im vorgerichtlichen Verfahren klar benannt hat und dann ausdrücklich - so problematisch der Gedanke auch sein mag - von einer Heilung gesprochen hat, die im konkreten Fall freilich nicht erfolgt war („did not remedy the situation"). Es bleibt zu hoffen, dass ähnlich klare Formulierungen auch in Entscheidungen auftauchen, in denen nach Ansicht des EGMR von einer solchen Heilung auszugehen ist. 212
EGMR, Daud ./. Portugal, Reports 1998-11, §§ 9-23, 37-43; vgl. zur Aussetzung des Verfahrens bei Verteidigerwechsel: BGH, NJW 2000, 1350 (Wiederholung aller für eine sachgemäße Verteidigung unbedingt notwendigen Teile der Haupt Verhandlung).
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10.
Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers
a)
Voraussetzungen für das Recht auf
Verteidigerbeistand
Der Anspruch des Beschuldigten auf eine effektive Verteidigung wird gestärkt durch die Verpflichtung der Vertragsstaaten, ihm in bestimmten Fällen unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu gewähren. Dieses Recht stellt nach Ansicht des Gerichtshofs ein Element des von der Konvention geforderten fairen Verfahrens dar.213 Angesichts dessen ist es nicht konsequent, dass der EGMR in der Entscheidung Pakeiii den optionalen Charakter der drei Verteidigungsrechte des Art. 6 Abs. 3(c) gestärkt und den Schutzbereich der Vorschrift dahingehend interpretiert hat, dass - vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen - auch ein Beschuldigter, der nach dem nationalen Strafprozessrecht persönlich vor einem Strafgericht erscheinen und sich selbst verteidigen kann, Anspruch auf den unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers hat.214 Deshalb müssen die Vertragsstaaten einem Beschuldigten, der sich nicht selbst verteidigen will, die Möglichkeit geben, auf den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zurückzugreifen und, wenn er nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, einen Verteidiger seiner Wahl zu bezahlen, den unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers gewähren, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob einem (mittellosen) Beschuldigten, der sich selbst verteidigen will und dies nach der innerstaatlichen Rechtsordnung auch darf, im Interesse der Rechtspflege ein Verteidiger bestellt werden kann. Auf die Problematik einer „aufgedrängten" Verteidigung wird später unter dem Punkt der zwangsweisen Beiordnung eines Verteidigers eingegangen. Im Unterschied zu den übrigen Garantien des Art. 6 Abs. 3 ist das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht absolut gewährleistet. Es handelt sich um eines der Beschuldigtenrechte, welche die Konvention vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen abhängig macht. Unbeschadet der vom EGMR durch das Urteil Daud in Gang gesetzten Entwicklung sind die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nur dann zur Gewährung eines Verteidigerbeistands verpflichtet, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind („conditions"): die Mittellosigkeit des Beschuldigten („lack of sufficient means to pay for legal assistance") und das Bestehen eines Interesses der Rechtspflege an einem Verteidigerbeistand („interests of justice"). 215 Liegen diese beiden Voraussetzungen vor, reicht es für die Einhaltung der Konvention nicht aus, dass ein solcher Beistand im nationalen Recht vorgesehen ist. Vielmehr muss man die vom EGMR im Urteil Twalib gewählte Formulierung „nothing to suggest that the availability of this facility was brought to the attention" so verstehen, dass die staatlichen Stellen aktiv werden und die Möglichkeit eines solchen Beistands dem Beschuldigten auch zur Kenntnis bringen müssen, weil
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EGMR, Artico ./. Italien, Serie A Nr. 37, §§ 32-33; Quaranta ./. Schweiz, Serie A Nr. 205, § 27; Pham Hoang./. Frankreich, Serie A Nr. 243, § 39; Twalib ./. Griechenland, Reports 1998-IV, § 46. EGMR, Pakeiii./. Deutschland, Serie A Nr. 64, § 31. EGMR, Boner ./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-B, § 36; Maxwell./. Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 300-C, § 33.
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dieser sonst die ihm in Art. 6 Abs. 3(c) gewährte Option gar nicht wahrnehmen kann. 216 Das ist wichtig, weil die Konvention im Gegensatz zu Art. 14111(d) IPBPR keine Pflicht zur Unterrichtung des Beschuldigten über sein Recht auf Zugang bzw. Beistand durch einen Verteidiger normiert. 217 (1) Mittellosigkeit Ausdrücklich verlangt die Konvention die Gewährung des unentgeltlichen Beistands eines Verteidigers nur dann, wenn dem Beschuldigten die für die Bezahlung einer solchen Unterstützung notwendigen Mittel fehlen, unabhängig davon, ob der Beschuldigte seine finanziellen Verhältnisse zu vertreten hat. 218 Im Einzelfall kann es schwierig sein, die von einem Beschuldigten behauptete Mittellosigkeit zu überprüfen. Welche Kriterien über die Mittellosigkeit entscheiden, lässt die Konvention offen. Bedauerlicherweise ist auch aus den Entscheidungen Pakeiii und Twalib, in denen der Gerichtshof über eine Mittellosigkeit aus der ex-post Perspektive zu befinden hatte, nicht mit Eindeutigkeit zu ersehen, ob der Beschuldigte seine Mittellosigkeit beweisen bzw. glaubhaft machen muss, oder ob es allein Sache der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ist, das Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel beim Beschuldigten darzulegen. Auch zu der Frage, über welche Mittel ein Beschuldigter verfügen darf, um noch als mittellos iSv Art. 6 Abs. 3(c) zu gelten, hat die Straßburger Rechtsprechung bisher k a u m Aufschlüsse gebracht. U m seine Mittellosigkeit glaubhaft zu machen, hatte der Bf. Pakeiii eine Aufstellung seines Vermögens angeboten. Vor der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof hatte er zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen und Bescheinigungen vorgelegt, aus denen seine bescheidenen finanziellen Verhältnisse hervorgingen. Obwohl der E G M R daraus nicht auf die Mittellosigkeit des Bf. schließen wollte, ging er von einer Mittellosigkeit zum Zeitpunkt der Verhandlung vor dem B G H aus. Im Urteil Twalib nahm der E G M R wie schon die E K M R eine Mittellosigkeit an und berücksichtigte - aus der Retrospektive als Indiz, dass der Bf. bereits in den Vorinstanzen von einem bestellten bzw. ehrenamtlich tätigen Verteidiger vertreten worden war. Andererseits soll der Umstand, dass eine Rechtsmittelbegründung mit Hilfe eines Verteidigers erstellt worden ist, nicht zwingend darauf schließen lassen, dass der Beschuldigte mittlerweile über die erforderlichen Mittel verfügt. 219 Diese Ausführungen sind für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte keine rechte Hilfe, wenn sie im Einzelfall über die Erforderlichkeit eines Verteidigerbeistands entscheiden müssen. D a der von Art. 6 Abs. 3(c) geforderte Beistand unentgeltlich zu gewähren ist und die nationalen Justizhaushalte zumindest vorläufig belastet werden,
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EGMR, Twalib ./. Griechenland, Reports 1998-IV, § 55. Das Recht des Beschuldigten, über seinen Anspruch auf Zugang zu einem Verteidiger unterrichtet zu werden, gehörte ursprünglich zum Katalog der Garantien, über deren Einführung im Zuge des 7. ZP diskutiert wurde. Die Unterrichtungspflicht wurde am Ende jedoch nicht aufgenommen; vgl. hierzu: Nowak EuGRZ 1985, 240, 241. EGMR, Croissant./. Deutschland, Serie A Nr. 237-B, § 33. EGMR, Pakeiii./. Deutschland, Serie A Nr. 64, § 34; Twalib ./. Griechenland, Reports 1998-IV, § 51.
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andererseits die Mittellosigkeit eine echte tatbestandliche Voraussetzung für den Anspruch ist, besteht hier eine beachtliche Schutzlücke in der Konvention. Es ist daher zu hoffen, dass der EGMR diese Lücke durch die Herausbildung praktikabler Kriterien zur Bestimmung der Mittellosigkeit schließt. Darüber hinaus ist zu erwägen, die Erforderlichkeit eines Verteidigerbeistands nicht länger von der Mittellosigkeit des Beschuldigten abhängig zu machen, sondern die Mittellosigkeit des Beschuldigten lediglich bei der Unentgeltlichkeit des gewährten Beistands zu berücksichtigen. (2) Interesse der Rechtspflege („interests of justice") Ob das Interesse der Rechtspflege den Beistand eines Verteidigers erfordert, muss anhand verschiedener Gesichtspunkte beurteilt werden. Weil oberste Richtschnur für die Erforderlichkeit eines Verteidigerbeistands die Verfahrensfairness ist, erweist sich die deutsche Terminologie im Interesse der Rechtspflege als zumindest missverständlich. Im Vordergrund steht der Schutz des Beschuldigten, nicht die Belange der Justiz.220 Wie beim Verteidigerzugang im Ermittlungsverfahren erteilt der EGMR einer hypothetischen Kausalität aus der