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German Pages 340 Year 2019
Sandra Carreras Die Rolle der Opposition im Demokratisierungsprozeß Argentiniens
Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 49
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 12 - Sozialwissenschaften - der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Titel „Die Rolle der Opposition im Demokratisierungsprozeß Argentiniens. Der Peronismus 1983-1989" im Jahre 1998 zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. phil. angenommen.
Sandra Carreras
Die Rolle der Opposition im Demokratisierungsprozeß Argentiniens Der Peronismus 1983 - 1989
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1999
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cameras, Sandra: Die Rolle der Opposition im Demokratisierungsprozeß Argentiniens : der Peronismus 1983 - 1989 / Sandra Carreras. [Institut für IberoamerikaKunde, Hamburg ; Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut]. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 49) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-89354-249-3 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany: Rosch-Buch, Scheßlitz
A quienes han vivido cuidando de no subordinar la ética a las ventajas personales. Entre ellos, muy especialmente a mi madre.
A quienes sin querer han despertado en otros talentos que ellos mismos no pudieron o no supieron desarrollar. Entre ellos, muy especialmente a mi padre.
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
10
Verzeichnis der Schaubilder
12
Danksagung
13
Einleitung
15
1. 1.1 1.2
21 21
1.5
Analyserahmen und methodische Herangehensweise Das Konzept "Opposition" Wandel oder Wechsel? Die Konzepte "Transition" und "demokratische Konsolidierung" Akteure und Institutionen: zwei Forschungsansätze Die Rolle der oppositionellen Akteure in politischen Transformationsprozessen - Fragen, Prämissen und Thesen Stand der Forschung und methodische Herangehensweise
43 52
2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.3
Die historischen Legate Wesentliche Merkmale der politischen Tradition Argentiniens Die institutionelle Entwicklung Die soziopolitischen Machtfaktoren Das Vermächtnis des letzten Militärregimes Zwischenbilanz I
57 58 63 66 73 78
3. 3.1 3.2 3.3
81 82 89
3.4
Der Peronismus: ein vielschichtiger politischer Akteur Das Selbstverständnis des Peronismus Die Organisationsstruktur der Justizialistischen Bewegung Der Peronismus in der Opposition: Seine Einstellungen und Strategien Zwischenbilanz II
4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Die Rolle des Peronismus während der Transition Der argentinische Transitionsprozeß Die Situation des Peronismus zu Beginn der Transition Der Wahlkampf von 1983 Zwischenbilanz III
1.3 1.4
30 40
92 97
99 99 105 110 117 7
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.3.3 6.1.3.4 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.4
7. 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5
Die interne Umstrukturierung des Peronismus während der Regierung Alfonsin Orthodoxe und Erneuerer: Der lange Kampf um die parteiinterne Macht Die Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften Veränderungen der Organisationsstruktur des Justizialismus Die Rekonstruktion der Identität Zwischenbilanz IV
121 122 133 147 161 167
Die Strategien der peronistischen Opposition im Rahmen der verschiedenen Handlungsebenen Die peronistische Opposition im Parlament Das argentinische Parlament Die Machtkonstellation während der Regierung Alfonsin Die Rolle des Parlaments in der Strategie der Opposition Die Mitwirkung am Gesetzgebungsprozeß Die Öffentlichkeitsfunktion Die parlamentarische Arbeit als Transmissionsriemen Das Parlament als strategische Ressource im Rahmen innerparteilicher Auseinandersetzungen Die peronistischen Provinzregierungen als Opposition gegenüber der Zentralregierung Der Konflikt um die Aufteilung des Steueraufkommens Cafiero und Menem: zwei paradigmatische Strategien Das oppositionelle Handeln der Gewerkschaften Der Kampf um die Ressourcen Die Streiks des Gewerkschaftsdachverbands CGT Die sektorialen Konflikte Die Opposition als Regierungsbeteiligte Die Verbündeten der peronistischen Gewerkschaften Zwischenbilanz V
193 194 197 203 203 209 212 214 216 218
Standpunkte und Zielsetzungen der peronistischen Opposition Die Wirtschaftspolitik Die Vorstellungen vor den Wahlen Die neokeynesianische Strategie Der Plan Austral Der Plan Bienal Der Plan Primavera
221 222 223 225 232 240 245
169 170 170 172 175 175 184 188 190
7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.3 7.4
Die Frage des Umgangs mit den Streitkräften Die Vorstellungen vor den Wahlen Die ursprüngliche Strategie der UCR-Regierung Der Rekurs auf das Gesetz und die Justiz Der Druck von Seiten des Militärs Das Verteidigungsgesetz und die Restrukturierung der Streitkräfte Der Peronismus und die Frage der Menschenrechte Die Verfassungsreform Der Zusammenbruch der UCR-Regierung
265 268 270 279
7.5
Zwischenbilanz VI
284
8.
Allgemeine Schlußfolgerungen
287
Quellen- und Literaturverzeichnis
248 249 251 256 259
313
9
Abkürzungsverzeichnis AAA ADS AF ANSSAL BCRA CELAM CES CGT CNA COLINA CONADEP CTERA DC FAR FATLYF FIP FOETRA FREJULI IBFG ILO INOS IWF JP JSP JTP JUP MAS MID MUSO ORIT PC PCP PDP PEN PI PIN PJ PO 10
Alianza Anticomunista Argentina ("La Triple A") Alianza Demócrata Socialista Alianza Federal Administración Nacional del Seguro de Salud Banco Central de la República Argentina Consejo Episcopal Latinoamericano Conferencia Económico-Social Confederación General de Trabajadores Constitución de la Nación Argentina Convergencia para la Liberación Nacional Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas Confederación de Trabajadores de la Educación de la República Argentina Democracia Cristiana Fuerzas Armadas Revolucionarias Federación Argentina de Trabajadores de Luz y Fuerza Frente de Izquierda Popular Federación de Obreros y Empleados Telefónicos de la República Argentina Frente Justicialista de Liberación Internationaler Bund Freier Gewerkschaften International Labor Organisation Instituto Nacional de Obras Sociales Internationaler Währungsfonds Juventud Peronista Juventud Sindical Peronista Juventud Trabajadora Peronista Juventud Universitaria Peronista Movimiento al Socialismo Movimiento de Integración y Desarrollo Movimiento de Unidad, Solidaridad y Organización Organización Regional Interamericana de Trabajadores Partido Comunista Partido Conservador Popular Partido Demócrata Progresista Poder Ejecutivo Nacional Partido Intransigente Partido de Izquierda Nacional Partido Justicialista Partido Obrero
PRP-ERT PSD PSP SMATA SRA UCeDé UCR UIA UOM UTA
Partido Revolucionario de los TrabajadoresEjército Revolucionario del Pueblo Partido Socialista Democrático Partido Socialista Popular Sindicato de Mecánicos y Afines al Transporte Automotor Sociedad Rural Argentina Unión del Centro Democrático Unión Cívica Radical Unión Industrial Argentina Unión Obrera Metalúrgica Unión Tranviarios Automotor
11
Verzeichnis der Schaubilder 1. Die Dimensionen der Demokratisierung nach Robert Dahl
26
2. Argentinische Präsidenten im 20. Jahrhundert
59
3. Von Militärregierungen durchgeführte institutionelle Veränderungen
68
4. Die peronistischen Gewerkschaftsströmungen ( 1983-1989)
139
5. Tradition und Wandel im Urteil der Gewerkschaftsströmungen
142
6. Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses ( 1983-1989)
173
7. Zusammensetzung des Senats (1983-1989)
173
8. Justizialistische Blöcke im Abgeordnetenhaus (1983-1989)
174
9. Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments (10.12.1983-08.07.1989)
182
12
Danksagung Dieses Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im August 1998 vom Fachbereich 12 - Sozialwissenschaften - der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommen wurde. Ohne die Unterstützung vieler Menschen wäre diese Studie sicherlich nie zustande gekommen. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Manfred Mols danken, an dessen Lehrstuhl ich Gelegenheit hatte, einen tiefen Einblick in die deutsche Lateinamerikaforschung zu gewinnen. Prof. Dr. Ernesto Garzón Valdés danke ich nicht nur für zahlreiche methodische Anregungen, sondern auch für seine schlagenden Argumente, die mich in manchen dunklen Phasen immer wieder dazu ermutigten weiterzuarbeiten, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Dank seiner analytischen Strenge lernte ich in einer Reihe von Seminarveranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen, die jedoch - das habe ich erst im nachhinein verstanden - eine unermüdliche und konsequente Auseinandersetzung mit einer einzigen grundlegenden Frage darstellten, nämlich der nach den Bedingungen einer freiheitlichen und gerechten Ordnung, daß man im wissenschaftlichen Diskurs nichts leichtfertig behaupten darf und daß jegliche Aussage einer logischen wie einer ethischen Überprüfung bedarf. Christoph Wagner und Ruth Zimmerling danke ich für die Zeit und die Geduld, die sie für die Lektüre vorläufiger Versionen des Manuskripts aufgebracht haben, sowie für ihre Kritik und Anregungen zur Verbesserung. Peter Birle verdanke ich nicht nur seine Kommentare, sondern vor allem seinen enormen Einsatz für die Fertigstellung der deutschsprachigen Fassung. Natalja KarthausBirle leistete auch wertvolle Hilfe durch eine aufmerksame und minutiöse Endkorrektur. Bei dem Institut für Iberoamerika-Kunde bedanke ich mich für die Aufnahme meiner Forschungsarbeit in seine Schriftenreihe sowie für die damit verbundene finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung. Auch Jutta Breitenstein, Nora Eisenbarth und Michael Goebel möchte ich an dieser Stelle meine tiefe Verbundenheit aussprechen. Ihre großzügige Freundschaft legte den Grundstein für meine rasche Eingliederung in die deutsche Gesellschaft. Aus gesunder Entfernung zum akademischen Mikroklima begleiteten sie den langandauernden Arbeitsprozeß, gewährten sie mir emotionale und lo13
gistische Unterstützung für die Umsetzung meines Vorhabens und bestärkten mich bei auftretenden "Durchhängern" durch ihren Vertrauensvorschuß. Klaus Bodemer werde ich nie in angemessenem Umfang dafür danken können, wieviel diese Arbeit seinen mannigfaltigen supports und vielseitigen demands schuldig bleibt. Ohne Übertreibung kann man ihn sogar als die eigentliche Ursache dieses Buches bezeichnen, denn ohne seine Existenz wäre das gewagte Unternehmen, die Doktorwürde ausgerechnet in Deutschland zu erwerben, für mich überhaupt nicht möglich gewesen, geschweige denn nötig. Die tiefste Dankbarkeit empfinde ich jedoch für Menschen, die nur selten im Vorwort einer wissenschaftlichen Veröffentlichung erwähnt werden: meiner Mutter, die ihrem einzigen Kind von Anfang an eine ausgeglichene Mischung von Schutz und Freiheit bot; einer Großmutter, die ihre Enkelin dazu motivierte, ihre erste Rede im Alter von drei Jahren zu halten, wodurch sie jegliche Angst vor öffentlichen Auftritten schon früh verlieren konnte; einer Tante, die sämtliche ungeschriebenen Gesetze ihrer Umwelt brach und ihre Nichte bei jeder Gelegenheit mit Büchern statt mit Puppen beschenkte; einer anderen nicht minder mutigen Tante, die sich von der Tapsigkeit eines kleinen Mädchens nicht beeindrucken ließ und ihm das Fahrradfahren beibrachte; einer Freundin, die schon in der Kindheit ihre fünf (!) Jahre jüngere Spielkameradin als gleichberechtigte behandelte und stets auf ihren Willen Rücksicht nahm; und schließlich einer jungen Frau, die dazu bereit war, mit ihrer Studienkommilitonin lange byzantinische Debatten zu führen und diese mit einem unerschütterlichen common sense zu beenden. Ohne das Zutun all jener Frauen, die far away and long ago sowohl meine Wißbegierde wie auch mein Selbstvertrauen förderten, hätte ich mir nie zugetraut, dieses Opus zu verfassen.
Hamburg, im März 1999
14
Einleitung Von allen Militärdiktaturen, die sich in den 70er Jahren in Südamerika ausbreiteten, wagte es nur eine, ein Mitgliedsland der NATO zu einem internationalen Krieg herauszufordern. Und nur ein südamerikanischer Präsident hat Anfang der 90er Jahre - in einer Zeit, in der sich die jungen Demokratien des Subkontinents mit großen sozioökonomischen Problemen konfrontiert sahen und in der die Geltungskraft ihrer Institutionen ständig durch innere Schwäche, durch Korruption und durch die Weigerung verschiedener Akteure, sich ihnen unterzuordnen, gefährdet war - ohne Zaudern erklären können, daß seine Nation zur Ersten Welt gehöre und daß seine Regierung daher den Beitritt zur NATO anstrebe. Es ist kein Zufall, daß diese beiden Beispiele eines fehlenden Augenmaßes - und es ließen sich problemlos noch zahlreiche weitere anfuhren - aus ein und demselben Land stammen: der Republik Argentinien. Dieser südamerikanische Staat, der seine eigenen Bürger Tag für Tag in Erstaunen versetzt, hat immer wieder die Aufmerksamkeit nationaler und ausländischer Experten auf sich gezogen, die versuchten, die zahlreichen Widersprüche der Geschichte und Gegenwart des Landes zu erklären. Auch die Suche nach den Ursachen der jahrzehntelangen institutionellen Instabilität hat bereits mehrere Generationen von Spezialisten beschäftigt. Allerdings ließ das Interesse an diesem Thema nach dem Regierungswechsel von 1989 - zum ersten Mal seit 1928 folgte auf einen aus freien Wahlen hervorgegangenen Präsidenten ein ebenfalls demokratisch gewählter Mandatsträger - etwas nach, denn viele Beobachter betrachteten diesen Machtwechsel ein wenig voreilig als endgültigen Beleg für die Konsolidierung der Demokratie. Und tatsächlich begann nach dem Rückzug der Streitkräfte von der Macht mit der von Raúl Alfonsin geführten UCR-Regierung (1983-1989) eine Zeit, in der man mit einem gewissen Gründerelan die Etablierung und dauerhafte Verankerung eines demokratischen Regimes in einem Land anstrebte, das auf eine lange autoritäre Tradition zurückblickt. Aber das abrupte Ende dieser Administration mit einer überhasteten Machtübergabe inmitten einer tiefgreifenden sozioökonomischen Krise sowie der Stil und die Regierungspraxis des gegenwärtigen Präsidenten Carlos Menem lassen zahlreiche Zweifel an der Erfüllung solcher Zielsetzungen aufkommen. Guillermo O'Donnell hat den Begriff "delegierte Demokratie" (democracia delegativa) als Bezeichnung für Systeme eingeführt, die dem Grundsatz folgen, 15
daß der Sieger einer Präsidentschaftswahl berechtigt ist, das Land bis zum Ende seiner Mandatszeit nach eigenem Ermessen zu regieren. Ob die tatsächliche Politik eines Präsidenten auch nur im Ansatz noch etwas mit seinen Wahlkampfversprechen zu tun hat, spielt in einem solchen System überhaupt keine Rolle. Auch die Idee einer obligatorischen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament oder gegenüber der Justiz wird als unnötige Einschränkung der präsidentiellen Autorität betrachtet. Angesichts der Geringschätzung jeglicher Kontrollmechanismen werden der Präsident und seine persönliche Equipe zum Alpha und Omega der Politik. Der scheinbare Vorteil einer delegierten Demokratie ist die Möglichkeit zur raschen Ausarbeitung von Politiken, allerdings zum Preis einer großen Wahrscheinlichkeit grober Fehlleistungen, einer ungewissen Implementierung und einer hochgradigen Konzentration von Verantwortlichkeiten in der Person des Präsidenten 1 . Der Begriff "delegative Demokratie" als allgemeine Bezeichnung der lateinamerikanischen politischen Systeme der Gegenwart ist mit guten Gründen kritisiert worden2. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß das argentinische Regierungssystem viele seiner Komponenten aufweist und dementsprechend über einen sehr geringen Institutionalisierungsgrad verfugt. Zwar erscheint die Existenz des demokratischen Regimes auch mehr als zehn Jahre nach seiner Etablierung nicht unmittelbar bedroht, aber ebensowenig kann eine Beseitigung oder wenigstens eine Reduzierung der „delegativen" Merkmale konstatiert werden. Angesichts der Tatsache, daß es keine unmittelbaren Gefahren zu geben scheint, die einen gewaltsamen Bruch mit der Demokratie befurchten lassen, ist es am wahrscheinlichsten, daß die Stabilität mittelfristig erhalten bleibt. Das demokratische Regime wird also "überdauern", allerdings ohne notwendigerweise seine gravierenden Defizite zu überwinden. Die Themen, denen sich die Sozialwissenschaften in beschreibender und analytischer Absicht zuwenden, werden selten bis zu den letzten Konsequenzen erörtert. Vielmehr verlieren sie an Aufmerksamkeit, wenn sie an Aktualität einbüßen. Daher ist es auch nicht besonders erstaunlich, daß das Nachdenken über die jüngere Vergangenheit, über die Veränderungen, die diese neue, zerbrechliche Demokratie von der langanhaltenden Instabilität früherer Jahre unterscheidet, aber auch über die Kontinuitätslinien, die zwischen der gegenwärtigen Situation und früheren Zeiten zu beobachten sind, etwas an Bedeutung verloren hat gegenüber der Erforschung anderer Fragestellungen, die als drängender perzipiert werden. Trotzdem - und auf die Gefahr hin, den Überdruß der Leser zu provozieren, weil hier Entwicklungen analysiert und interpretiert werden, die bereits einige Jahre zurückliegen - wird auf den folgenden Seiten der Versuch unternommen, einige bislang nicht weiter vertiefte Aspekte des Regimewechselprozesses vor dem Vergessen zu bewahren. Ein erheblicher Teil der Analysen, die sich mit der politischen Entwicklung unmittelbar nach dem Übergang zur Demokratie beschäftigen, konzentrierten 1
Vgl. O'Donnell (1992a: 1 Off.).
2
Vgl. vor allem Thibaut (1996: 300ff.).
16
sich in erster Linie auf das Handeln der neuen Regierung sowie auf deren Fähigkeit oder Unfähigkeit, auf die Herausforderungen, mit denen sich das demokratische Regime konfrontiert sieht, angemessen zu reagieren. Selbstverständlich spielt die Regierung in einem derartigen Kontext eine wichtige Rolle. Allerdings erscheint es gerade unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten notwendig, diese Perspektive zu vervollständigen und auch das Verhalten der Opposition - eines Akteurs, dessen Bedeutung in empirischen Untersuchungen meist vernachlässigt wird - stärker zu berücksichtigen. Eva Kolinsky meinte in diesem Zusammenhang: "Die Opposition stand niemals im Mittelpunkt des Interesses politischer Analysen. Ihr Schicksal könnte mit dem des Verlierers bei einem Pokalfinale verglichen werden: Die Aufmerksamkeit der Medien richtet sich auf das siegreiche Team und erwartet für die Zukunft alles von denjenigen, die dazu in der Lage waren zu gewinnen"3.
Diese Aussage trifft in besonderem Maße für Lateinamerika zu, wo man dem Thema "Opposition" in der Vergangenheit bestenfalls am Rande Aufmerksamkeit geschenkt hat. Symptomatisch ist so auch, daß das Konzept "Opposition" unter den mehr als 500 Begriffen eines modernen "Wörterbuchs der Sozialwissenschaften" (Diccionario de Ciencias Sociales y Políticas4), das vor einiger Zeit in Argentinien herausgegeben wurde und bei dessen Erstellung zahlreiche lateinamerikanische Forscher mitwirkten, keine Berücksichtigung fand. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle des Peronismus in Argentinien zwischen 1983 und 1989. Damit will sie auch zum besseren Verständnis der Opposition in Demokratisierungsprozessen beitragen. Die Zeitspanne, auf die sich die Untersuchung bezieht, mag dem Betrachter als relativ kurz erscheinen, sie weist jedoch eine Reihe von weichenstellenden Entwicklungen auf. Nach einer kurzen Übergangsperiode wurde mit den Wahlen von 1983 die letzte argentinische Militärherrschaft beendet. Die Merkmale sowohl des autoritären Regimes wie der Übergangsperiode sollten wichtige Konsequenzen für die zukünftige politische Entwicklung haben. Zur Überraschung vieler Beobachter konnte Raúl Alfonsin, Führer der damals bereits fast 100 Jahre alten Unión Cívica Radical, den justizialistischen Kandidaten Italo Luder und die peronistische Bewegung auf den zweiten Platz und damit in die Rolle der Opposition verweisen. Die Teilwahlen zum Abgeordnetenhaus in den Jahren 1985 und 1987 sowie die Gouverneurswahlen von 1987 führten dazu, daß es im Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Opposition nach 1983 eine Reihe von Verschiebungen gab. Schließlich markierte der Sieg Carlos Menems im Jahr 1989 eine Umkehrung der bisherigen Rollen beider Akteure. Das turn over wurde in Anlehnung an das spanische Modell von vielen Forschern als erfolgreiches Ende der Konsolidierungsphase interpretiert.
3
Kolinsky (1987: 1).
4
di Telia (1989).
17
Die Termini "Peronismus" und "Justizialismus" wurden als Selbstbezeichnung jener Bewegung gewählt, die in den 40er Jahren um Juan Domingo Perön entstand und von diesem bis zu seinem Tod angeführt wurde. Im folgenden werden die beiden Begriffen synonym verwandt. Die Bedeutung und die Besonderheiten dieses Akteurs verlangen einige Vorbemerkungen: • 1983 wurde der Peronismus zum ersten Mal seit seiner Gründung in freien Wahlen besiegt. Damit kam es zum Bruch jenes "eisernen Gesetzes" der argentinischen Politik, das besagte, daß der Peronismus nur an der Macht oder in der Illegalität denkbar sei. Es handelte sich um eine einzigartige historische Konstellation, die sich auf die Konstituierung des neuen Regimes entscheidend auswirken sollte. • Im Verlauf verschiedener Etappen hat der Justizialismus, der seit seiner Gründung eine zentrale Rolle in der argentinischen Politik spielte, alle denkbaren Formen von Opposition ausgeübt und sich als äußerst vielschichtiger politischer Akteur erwiesen: politische Partei, Gewerkschaft, klassenübergreifende Bewegung, Widerstandsbewegung etc. Allein diese Umstände rechtfertigen es, auch eine weniger glorreiche Phase des Peronismus - den schwierigen Selbstflndungsprozeß nach der Rückkehr zur Demokratie - zu analysieren. • Aufgrund seiner Bedeutung und Stärke gilt der Peronismus als einer der wichtigsten politischen Akteure vor und nach dem autoritären Regime. Insofern kann man auch davon ausgehen, daß sein Verhalten eine entscheidende Rolle im Demokratisierungsprozeß gehabt haben muß. Daher ist es notwendig zu untersuchen, wie sich der Peronismus an die jeweiligen Bedingungen der einzelnen Etappen angepaßt und vor allem wie er selbst diese Entwicklungen beeinflußt hat. • Im Jahr 1989 wechselte der Justizialismus von der Opposition in die Regierung. Es ist zu vermuten, daß die Art und Weise, wie er diese Funktion heute wahrnimmt, durch die in den Jahren der Opposition durchlebten Transformationsprozesse und die in dieser Rolle gesammelten Erfahrungen geprägt wurde. Die vorliegende Arbeit versteht sich grundsätzlich als empirisch-monographische Studie in einem weiten Sinne. Es geht um eine umfassende, in Teilen deskriptive, grundsätzlich jedoch theoriegeleitete Untersuchung von Strukturen und Prozessen in einer spezifischen historischen Konstellation. Im ersten Kapitel wird der Untersuchungsrahmen entwickelt. Die Konzepte "Opposition", "Transition" und "Konsolidierung" werden ebenso diskutiert wie die Vor- und Nachteile verschiedener Analyseansätze. Auf dieser Grundlage erfolgt die Formulierung zentraler Thesen, die im weiteren Verlauf der Arbeit im Hinblick auf ihre Erklärungskraft bezüglich des argentinischen Falls überprüft werden. Um die Charakteristika des 1983 begonnenen Prozesses angemessen verstehen zu können, ist es notwendig, einige Aspekte der historischen Entwicklung des Landes zu berücksichtigen. In Kapitel 2 wird daher in aller gebotenen Kür18
ze die konfliktbeladene politische Entwicklung des Landes untersucht, in deren Verlauf die Institutionen sowie die Beziehungsmuster zwischen verschiedenen Machtfaktoren ihre spezifische Ausprägung erhielten. Erwähnt werden in diesem Zusammenhang auch die wichtigsten Legate, die die letzte Militärdiktatur den nachfolgenden Zivilregierungen hinterlassen hat. Kapitel 3 ist der Vorstellung des zentralen Akteurs dieser Untersuchung gewidmet. Dabei kann es nicht um eine umfassende Interpretation eines derart komplexen Phänomens wie des Justizialismus gehen. Vielmehr wird der historische Hintergrund einiger Variablen beleuchtet, die im weiteren Verlauf der Analyse eine wichtige Rolle spielen. Im Mittelpunkt stehen die Wandlungen des peronistischen Selbstverständnisses, seine Organisationsform sowie die Handlungsmuster und Strategien, die der Justizialismus als Opposition anwandte. In Kapitel 4 werden die spezifischen Merkmale des argentinischen Transitionsprozesses herausgearbeitet, um dann die Rolle der verschiedenen Akteure, insbesondere des Peronismus, im Rahmen dieses Prozesses angemessen bewerten zu können. Zunächst wird der allgemeine Verlauf des Transitionsprozesses geschildert. Anschließend werden die damalige Situation des Peronismus sowie die Merkmale des Wahlkampfs von 1983 im Detail analysiert. Infolge der Wahlniederlage - aber nicht nur aus diesem Grund - kam es zu einer tiefgreifenden internen Krise des Peronismus, die während des größten Teils der in der vorliegenden Arbeit analysierten Periode andauerte. Diese Krise manifestierte sich sowohl in einem ideologischen Disput um die Neudefinition der peronistischen Identität als auch in einem erbarmungslos geführten Kampf um die Macht innerhalb der Partei und innerhalb der Gewerkschaften. In Kapitel 5 werden die beteiligten Gruppen charakterisiert, die Entwicklung der verschiedenen Konfliktlinien rekonstruiert und die daraus resultierenden Veränderungen der internen Struktur des Justizialismus bewertet. In Kapitel 6 wird das Verhalten der peronistischen Opposition gegenüber der Regierung Alfonsin in verschiedenen Arenen untersucht. Dabei wird die spezifische Machtkonstellation zwischen den Akteuren berücksichtigt. Die Aufmerksamkeit gilt dementsprechend sowohl dem klassischen Oppositionshandeln im Parlament als auch den Beziehungen zwischen der nationalen Exekutive und den peronistischen Provinzgouvemeuren. Letzteres wird anhand von zwei paradigmatischen Beispielen analysiert: dem Fall Antonio Cafiero, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, sowie dem Fall Carlos Menem, damals Regent der Provinz La Rioja. Auch die verschiedenen Formen oppositioneller Aktivitäten von Seiten der peronistischen Gewerkschaften werden im einzelnen untersucht. In Kapitel 7 werden die Positionen und Zielsetzungen der peronistischen Opposition zu den wichtigsten Themenbereichen, mit denen sich das neue Regime auseinandersetzen mußte, dargestellt. Dabei handelt es sich um die Wirtschaftspolitik, um die Politik gegenüber den Streitkräften sowie um die Verfassungsreform. Besondere Aufmerksamkeit wird der letzten Phase der radikalen 19
Regierung zuteil sowie dem Verlauf des Wahlkampfes, der dem Peronismus die Zurückeroberung der Macht mit Carlos Menem als Präsidentschaftskandidat einbrachte. Schließlich werden im letzten Kapitel die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefaßt, die im ersten Kapitel herausgearbeiteten Thesen diskutiert und eventuell umformuliert sowie einige allgemeine Schlußfolgerungen hinsichtlich der Rolle der peronistischen Opposition im argentinischen Demokratisierungsprozeß präsentiert.
20
1. Analyserahmen und methodische Herangehensweise 1.1 Das Konzept "Opposition" Wenn man auch sagen könnte, daß es politische Opposition im weiteren Sinne immer gegeben hat, so steht das Konzept und vor allem die Anerkennung von Opposition als einer legitimen politischen Erscheinung doch in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des britischen Parlamentarismus1. Tatsächlich verläuft die Herausbildung von Opposition als einer tolerierten und loyalen Institution deckungsgleich mit dem Prozeß der Anerkennung politischer Parteien, auch wenn deren empirische Existenz weiter zurückreicht2. Die ersten theoretischen Reflexionen über die Opposition waren aufs engste mit dem historisch-politischen Kontext verknüpft, in dem sie entstanden. Der Begriff wurde damals in einem ganz anderen Sinn als heute ausgelegt. So sah beispielsweise der erste Theoretiker der Opposition, Lord Bolingbroke (16781751), in ihr eine vorübergehende Erscheinung, deren Aufgabe die Wiederherstellung der seines Erachtens durch Walpole verletzten Verfassung sei. Eine systematische Opposition innerhalb des Parlaments, deren Ziel die Übernahme der Regierungsgewalt wäre, hielt Lord Bolingbroke fiir aufrührerisch und verfassungswidrig3. Lange Zeit blieb die wissenschaftliche Reflexion über die Merkmale und Funktionen von Opposition den Besonderheiten des britischen Parlamentarismus verhaftet, dessen Zweiparteiensystem eine deutliche Identifizierung der Regierung mit der Parlamentsmehrheit und der Opposition mit der Minderheit erlaubte. In einem solchen System, in dem das Parlament als zentraler Schauplatz der politischen Auseinandersetzung galt, bestanden die Chancen der Opposition darin, alle ihr zur Verfugung stehenden Mittel auf die Kritik und Kontrolle der Regierung zu konzentrieren und dabei sich selbst als natürliche Alter-
Für einen historischen Überblick über empirische und theoretische Aspekte des Oppositionskonzeptes siehe McLennan (1973b). Vgl. Jäger (1971: 26 ff.). Vgl. Jäger (1971: 122 ff.).
21
native anzubieten, die bei der erstbesten Gelegenheit die amtierende Regierung ersetzen könnte4. Im Laufe der Zeit zwangen die Ergebnisse einer Reihe von vergleichenden Studien jedoch zur Anerkennung der Tatsache, daß "die Opposition mit großgeschriebenem O" weniger eine Regel als eine Ausnahme war5. Tatsächlich können die Funktionsweise des nordamerikanischen Präsidentialismus, die spätere politische Entwicklung Großbritanniens und die verschiedenen Merkmale der übrigen parlamentarischen Systeme des Westens nicht einfach als Abweichungen oder als gefahrliche Fehlentwicklungen betrachtet werden, wie dies Landshut vor geraumer Zeit getan hat6. Dies gilt um so mehr für die vielfältigen Erscheinungsformen der Opposition in den Ländern des ehemaligen Ostblocks und der Dritten Welt. Paradoxerweise hat die Zunahme von Kenntnissen über die empirische Vielfalt oppositioneller Kräfte und Verhaltensweisen in den verschiedenen Ländern der Welt nicht zu einer gleichzeitigen Perfektionierung der entsprechenden theoretischen Überlegungen gefuhrt. Vielmehr ist es zu einer allgemeinen Konfusion hinsichtlich des Begriffs "Opposition" gekommen. Die existierenden Widersprüche zwischen den einzelnen Standpunkten beziehen sich 1) auf den Bedeutungsgehalt des Konzeptes sowie 2) auf dessen Reichweite bzw. Umfang. Hinsichtlich des Bedeutungsgehalts lassen sich mehrere Varianten unterscheiden. Erstens wird der Begriff "Opposition" gewöhnlich mit einem "Subjekt" oder einem "Akteur" identifiziert, beispielsweise wenn die Opposition als "eine Partei innerhalb des Parlaments"7 definiert wird oder als diejenigen "Parteien), Gruppe(n), deren Angehörige die Politik der herrschenden Partei(en), Gruppe(n) ablehnt(en)"8. Wenngleich die Betonung in diesem Fall auf "Gruppen oder Parteien" liegt, so ist doch klar, daß diese nur insofern als Opposition zu betrachten sind, wie sie eine spezifische Rolle des "Opponierens gegen die Politik der Regierung" ausüben. Dies fuhrt unmittelbar zur zweiten Variante, gemäß der Opposition, entsprechend der klassischen Formel von Robert Dahl, als eine "Rolle" zu verstehen ist. "Angenommen, daß A einige Aspekte der Regierungsführung bestimmt und daß B gegen die Führung der Regierung durch A opponiert. Dann handelt es sich bei B um das, was wir als 'eine Opposition' bezeichnen. Zu beachten ist, daß zu einem anderen Zeitpunkt B die Führung der Regierungsgeschäfte innehaben und A sich 'in Opposition' befinden könnte. Es ist also die Rolle der Opposition, für die wir uns interessieren; wir betrachten A und B nur insofern, als sie diese Rolle auf unterschiedliche Art und Weise ausüben"9.
4
Zu den Voraussetzungen und Besonderheiten, die zur Einzigartigkeit der Opposition im Rahmen des britischen Parlamentarismus geführt haben, siehe Johnson (1975) und Potter (1966).
5
Vgl. Dahl (1966 und 1973), Oberreuter (1975), Kolinsky (1987), Steffani (1991a).
6
Vgl. Landshut (1955: 219 ff.).
7
Oberreuter (1975: 11).
'
Duden (1989: 1103).
9
Dahl (1966: xviii) (Hervorhebung im Original).
22
Um die Definitionsmerkmale von Opposition als Rolle zu bestimmen, müssen zunächst die Merkmale des jeweiligen politischen Systems untersucht werden. Daher zielte die Definition von Robert Dahl auch lediglich darauf ab, einen Weg für vergleichende Untersuchungen aufzuzeigen, um auf diese Art und Weise unterschiedliche Typen oder Formen (patterns) von Opposition zu bestimmen. Die dritte Variante ist in der Systemtheorie angesiedelt. In diesem Kontext wurde der Terminus "Opposition" mit dem Bedeutungsgehalt eines "Elements" oder einer "Funktion" versehen. So heißt es beispielsweise, es handle sich bei Opposition um ein "nichtorganschaftliches Subsystem" des politischen Systems10 oder um einen feedback-Prozeß auf politischen Märkten, der als Schaltstelle im Regelkreis der Beziehungen zwischen dem System und seiner Umwelt funktioniere '. Betont wird auch, die Opposition sei eine spezifische Form der Konfliktaustragung in demokratischen Systemen und einer der effizientesten Beiträge zu deren Legitimation12. In diesem Fall und anderen ähnlichen Fällen gehen die Autoren implizit oder explizit von einem abstrakten Modell des politischen Systems aus, auf dessen Grundlage sie die Funktion(en) der Opposition ableiten13. Auf einem noch höheren Abstraktionsniveau präsentiert schließlich Lothar Kramm die Opposition als eine "ordnungspolitische Konsequenz" der modernen politischen Theorie, genauer gesagt einer Demokratietheorie, in deren Rahmen die Regierung keinen Anspruch auf ein Repräsentationsmonopol im Namen "wahrer" oder "vorbestimmter" Interessen des Volkes erheben kann14. Wenn die verschiedenen Bedeutungsgehalte von Opposition eine Gemeinsamkeit aufweisen, so die, daß sie sich stets auf die Existenz von Gegensätzen beziehen. Tatsächlich wird nach der allgemeinsten Definition die Opposition mit all denjenigen identifiziert, die 'opponieren'. Dabei handelt es sich um eine Tautologie, deren substantieller Inhalt von der Bedeutung abhängt, die man dem Verb zuschreibt, und die im allgemeinen folgendermaßen verstanden werden kann: "Opponieren ('in Opposition stehen' bzw. 'Opposition betreiben') heißt sich entgegenstellen, Gegenposition beziehen"15. An dieser Stelle ist eine wichtige Anmerkung notwendig: Wie bereits die Etymologie des Wortes Opposition anzeigt (die lateinische Bezeichnung opponere im Sinne von 'entgegensetzen', 'entgegenstellen' verweist auf eine konträre Beziehung zwischen zwei Elementen), existiert Opposition nicht in sich selbst, sondern nur unter Bezugnahme auf eine andere Position (das Regime, die Regierung, eine bestimmte Politik etc.). Daher hat man auch gesagt, eine Untersuchung der Opposition sei ebensowenig von der der Macht zu trennen wie eine 10
Vgl. S t e f f a n i ( 1991b: 21).
"
Vgl. Gnibmüller (1972: 132 ff.).
12
Vgl. Obeneuter (1975: 13 ff.).
13
Vgl. Fach (1974: 153).
14
Vgl. Kramm (1986: 41 ff.).
"
Steffani (1970: 314 f.).
23
Betrachtung des Schattens ohne das Licht möglich sei16. In den Worten von Niklas Luhmann: "Von Opposition kann man nur im Kontext von Unterscheidungen sprechen. Eine Opposition unterscheidet sich von dem, wogegen sie opponiert. Für den Fall des politischen Systems heißt dies: Von Opposition kann man nur sprechen in Bezeichnung der einen Seite einer Unterscheidung, deren andere Seite als Regierung aufzufassen ist. Der Begriff der Opposition hat nur als Moment der Unterscheidung von Regierung und Opposition Sinn. Er bezeichnet kein selbständiges Phänomen"17.
Hinsichtlich der zweiten Achse, die als Ordnungskriterium für die verschiedenen Definitionen des Begriffes Opposition herangezogen werden kann - der Reichweite des Konzepts - , existieren zwei Extrempositionen: Während die einen sich darum bemühen, die Operationalisierbarkeit des Konzepts zu garantieren und es dabei soweit einschränken, daß sogar diejenigen Phänomene, die untersucht werden sollen, nicht mehr damit erfaßt werden können, dehnen andere die Reichweite des Konzepts derart weit aus, daß schließlich alle möglichen Formen von Konflikt und Dissens darunter subsumiert werden. Ein gutes Beispiel für die erstgenannte Haltung ist die Konzeptualisierung, die Heinrich Oberreuter als Einleitung zu einer Reihe von Fallstudien vorstellt. Dort heißt es, der Begriff Opposition sei keine brauchbare analytische Kategorie zur Untersuchung von hegemonialen oder gemischten Regimen. In Anbetracht seines Entstehungshintergrundes beschreibe das Konzept "[...] von jeher eine eigenständige verfassungspolitische Position gegenüber oder zumindest außerhalb der Regierung(smehrheit), die durch ständige systematische Beteiligung am politischen Prozeß und die Intention zur Kontrolle der Regierung [...] charakterisiert ist"18.
Wie problematisch diese Definition ist, zeigt sich an der Tatsache, daß - wenn der Leser bereit ist, sie zu akzeptieren - er konsequenterweise zu dem Schluß kommen muß, daß in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz, den beiden ältesten Demokratien der Welt, keine Opposition existiert, insofern es dort unmöglich ist, eine eindeutig "gegenüber" oder "außerhalb" der "Regierungsmehrheit" angesiedelte Instanz zu identifizieren. So erklärt Jürg Steiner auch einige Seiten weiter, daß es in der Schweiz nicht möglich sei, die Grenzen zwischen Regierung und Opposition abzustecken, denn in der auf proportionaler Repräsentation basierenden Schweizer Demokratie seien alle im Parlament vertretenen Parteien Teil der Regierung, so "daß die Regierungsparteien zu einem großen Teil selber die Funktion der Opposition wahrnehmen" 19 . Das präsidentielle System der Vereinigten Staaten bestimmt seinerseits, daß die oppositionellen 16
Vgl. Ionescu/De Madariaga (1971: 5).
17
Luhmann (1991: 13).
18
Oberreuter (1975: 11 f.).
"
Steiner (1975: 130).
24
Kräfte in großem Ausmaß integraler Teil der mit der Entscheidungsfindung betrauten Institutionen sind, so daß es niemals möglich ist, die Opposition oder selbst die Regierung eindeutig zu lokalisieren, "da alle drei Gewalten Machtmittel zur Beeinflussung des politischen Prozesses besitzen" 20 . Um dem Dilemma auszuweichen, das sich bei der Anwendung eines enggefaßten Oppositionskonzepts auf präsidentielle Regime ergibt, hat Peter Lösche vor einiger Zeit das Konzept "oppositionelles Verhalten" vorgeschlagen. Damit sollen Fälle bezeichnet werden, in denen "eine Gruppe von Parlamentariern je aktuell (und nicht prinzipiell und auf Dauer) bestrebt ist, Ziele zu verwirklichen, die im Widerspruch zum Träger exekutiver Gewalt stehen, wenn diese sich also dem Präsidenten entgegenstellt" 2 '. Als Beispiel für die oben beschriebene zweite Extremposition (weitgefaßtes Oppositionskonzept) kann die Zeitschrift "Government and Opposition" angeführt werden, die seit 1966 in London erscheint und seitdem Forschungsarbeiten zu allen möglichen Formen von Konflikten und Dissens in den unterschiedlichsten politischen Regimen veröffentlicht. Im Grunde genommen geht es bei der Frage nach der Reichweite des Konzeptes um die Beziehungen zwischen Opposition und demokratischem Regime. In der modernen politischen Theorie ist die Idee der Demokratie untrennbar mit der Vorstellung einer legitimen Opposition verbunden, insofern die Möglichkeit zur Realisierung von Freiheit mit dem Recht zur Artikulation politischer Opposition identifiziert wird 22 . In diesem Sinne unterstreicht Robert Dahl, der sich besonders um die Aufklärung der Beziehungen zwischen verschiedenen Dimensionen von Demokratisierung bemüht hat, zu Recht, daß die Entwicklung eines Systems, das die Möglichkeit öffentlichen Wettstreits (public contestation) und damit die Ausübung von Opposition vorsieht, nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit vollständiger Demokratisierung ist, denn ebenso bedeutend wie diese erste Dimension ist diejenige der Partizipation (inclusiveness). Beide Dimensionen können unabhängig voneinander verschiedene Grade erreichen, d.h. ein Regime kann große Fortschritte in Richtung Liberalisierung machen, ohne daß gleichzeitig die Partizipation steigt und umgekehrt. Erst mit der Entwicklung beider Dimensionen wird jener Zustand erreicht, den Dahl als Polyarchie bezeichnet 23 . Er hat seine Argumente in folgendem Schaubild zusammengefaßt:
20
Romoser (1975: 63).
21
Lösche (1990: 144).
22
Vgl. Steffani (1970: 314), Lawson (1993: 192 ff.).
23
Vgl. Dahl (1978: 1 ff.).
Schaubild 1: Die Dimensionen der Demokratisierung nach Robert Dahl
Liberalization
(public contestation)
Inclusiven«» (pnrlicipnlion) Quelle: Dahl (1978) 7
Zu akzeptieren, daß es keine Demokratie ohne Opposition geben kann, berechtigt nicht - und noch weniger verpflichtet es - zu der Behauptung, daß nur in der Demokratie Spielräume für eine politische Opposition existieren können. Davon gehen jedoch die Verfechter einer enggefaßten Definition des Begriffes aus, die nur dann von der Existenz von Opposition sprechen, wenn die Konfrontation zwischen der Mehrheit und einer Minderheit sich innerhalb eines von allen akzeptierten Grundkonsenses abspielt, der das Regime nicht in Frage stellt. Von Opposition könne nur im Hinblick auf repräsentative Demokratien gesprochen werden, während ähnliche Phänomene in anderen politischen Systemen mit der Kategorie des "Widerstands" zu erfassen wären24. Das Konzept könnte dann auch nicht auf Situationen angewandt werden, in denen das Funktionieren von Opposition lediglich erlaubt ist, sondern nur auf solche Fälle, in denen der Opposition darüber hinaus eine Funktion innerhalb des politischen Systems anvertraut wird. In dieser Konzeption wird die Opposition zur krönenden Institution einer völlig institutionalisierten politischen Gesellschaft und stellt somit das charakteristische Markenzeichen der demokratischen bzw. pluralistischen politischen Regime dar25. Die Beschränkung des Oppositionskonzepts auf den Rahmen der entwickelten und stabilen Demokratien und mehr noch auf die parlamentarische Arena führt zu einer Reihe von Problemen. Erstens besteht in modernen Demokratien nicht nur die Opposition in der Form einer einheitlichen Oppositionspartei, sonVgl. Oberreuter ( 1 9 9 1 : 4 2 8 ) . Vgl. Ionescu/De Madariaga(1971: 11).
26
dem auch innerhalb der politischen Parteien existiert organisierte Opposition, die sich im übrigen bis in die Regierungssphäre verlagern kann 26 . Zudem umfaßt das oppositionelle Verhalten der politischen Parteien sowohl parlamentarische als auch außerparlamentarische Aspekte, genauso wie die verschiedenen Formen außerparlamentarischer Opposition und nicht durch die Parteien kanalisierter Proteste Auswirkungen auf diese zeitigen. Auf die eine oder andere Weise müssen die Parteien solche Proteste berücksichtigen, denn "es handelt sich um einen Rivalen, der gebändigt oder abgelenkt werden muß, nicht nur um einen weiteren input"27. Zweitens ist es offensichtlich, daß auch im Rahmen moderner demokratischer Regime oppositionelle Gruppen existieren können - und tatsächlich existiert haben bzw. existieren - , die nicht notwendigerweise den demokratischen Grundkonsens teilen. Es handelt sich um jenes Phänomen, das man als Fundamentalopposition, als disloyale Opposition oder als Anti-System-Opposition bezeichnet hat 28 . Sicherlich ist die Existenz eines solchen Typs von Opposition, insbesondere wenn sie in Form einer politischen Partei mit parlamentarischer Repräsentation auftritt, ein Symptom für die Krise eines demokratischen Systems 29 . Dies erlaubt es jedoch nicht, die Existenz einer solchen Opposition zu verneinen oder sie ohne weiteres mit revolutionären Bewegungen gleichzusetzen, denn sie kann durchaus auf einer legalen Grundlage agieren und - zumindest teilweise - über öffentliche Anerkennung und Institutionalisierung verfugen. Entsprechend meint auch Juan Linz: "Kein Regime, und erst recht kein demokratisches Regime, das die Artikulation und Organisation aller politischen Positionen erlaubt, existiert ohne eine disloyale Opposition" 30 . Drittens kann es zwar nur wenige Zweifel daran geben, daß geschlossene Herrschaftssysteme oder totalitäre Regime nicht dazu bereit sind, irgendeine Form von Opposition zu tolerieren, so daß jede Form einer konträren Position gegenüber der Regierung als Widerstand gilt. Aber in der großen Grauzone autoritärer und gemischter Systeme und erst recht in Situationen des Übergangs öffnet sich eine breite Palette verschiedenartiger Nuancen. Auf diese Tatsache sind die Widersprüche zurückzuführen, in die sich die Verfechter eines allzu eng gefaßten Oppositionskonzeptes zu verwickeln pflegen. Dies gilt beispielsweise für Ionescu/De Madariaga, die bei der Untersuchung politischer Konflikte in von ihnen als "oppositionslos" definierten Ländern nicht umhinkommen, einige Akteure mit dem Begriff "Opposition" zu benennen, so etwa Gewerkschaften, Studentenbewegungen oder außerparlamentarische und/oder semi-legale politische Gruppen, die auch unter bestimmten autoritären Regimen über Spielräume für politisches Handeln verfugen können 31 . Ebensowenig wäre es ange-
26
Vgl. Smith (1987: 49).
27
Smith (1987: 50).
28
Vgl. Steffani( 1970: 315).
29
Vgl. Oberreuter (1975: 13).
30
Linz (1991:57).
51
Vgl. Ionescu/De Madariaga (1971) passim.
27
messen, von "Widerstand" oder "Kollaborateuren" im Hinblick auf Akteure zu sprechen, die sich mit dem erklärten oder realen, ausdrücklichen oder heimlichen Ziel, die existierenden Machtverhältnisse wenigstens teilweise zu modifizieren, in der Grauzone der Semi-Legalität bewegen und dabei zwischen Anerkennung, Verhandlungen und offener Konfrontation schwanken. Um solche Probleme zu vermeiden, führte Juan Linz in seiner Studie über das Franco-Regime in Spanien die Kategorie "Semi-Opposition" ein. Sie besteht in den Worten des Autors "[...] aus denjenigen Gruppen, die nicht dominierend oder innerhalb der regierenden Gruppe repräsentiert, aber bereit zur Partizipation an der Macht sind, und die das Regime nicht grundlegend herausfordern."32
Zur Haltung semi-oppositioneller Gruppen gehört eine gewisse kritische Einstellung sowie ein unabhängiges Auftreten und eine entsprechende Identität, die sie von den dominierenden politischen Kreisen unterscheidet. Die Mitglieder der semi-oppositionellen Gruppierungen teilen gewisse Standpunkte. Wenn sie auch nicht unbedingt über eine einheitliche Ideologie verfugen, so ist ihnen doch zumindest eine ähnliche Denkungsart gemeinsam. Diese Gruppen sind nicht wie politische Parteien institutionalisiert, aber auch nicht vollständig illegal, auch wenn unter Umständen kein eindeutiger rechtlicher Rahmen für ihre Aktivitäten vorhanden ist. Die Distanz der Semi-Opposition zu den Machthabern kann unterschiedliche Abstufungen aufweisen. Neben Akteuren, die innerhalb der herrschenden Elite eine abweichende Meinung vertreten, gibt es andere, die sich zunächst mit dem Regime identifizieren, jedoch nicht Teil des establishment sind, und wieder andere, die ganz bestimmten Politiken Nachdruck verleihen wollen. Der wesentliche Unterschied im Vergleich zur Opposition in demokratischen Regimen liegt in der fehlenden Verantwortlichkeit gegenüber einer potentiellen Wählerschaft ("accountability to potential constituencies"), denn es handelt sich ja um Gruppen, die nur dann an der Macht teilhaben können, wenn sich die Repräsentanten des Regimes dazu entscheiden, sie zu kooptieren. In solchen Regimen existiert auch eine "illegale Opposition", die außerhalb des Systems steht und einen grundlegenden Wandel der politischen Institutionen des Regimes sowie seiner sozioökonomischen Strukturen anstrebt33. Gegen die Verfechter eines allzu eng gefaßten Oppositionsbegriffes läßt sich also einwenden, daß zwar eine Demokratie ohne Opposition nicht vorstellbar ist, jedoch sehr wohl die Existenz verschiedener Typen von Opposition in undemokratischen, aber nicht-totalitären Regimen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird detaillierter gezeigt werden, daß genau dies die Position der modernen sozialwissenschaftlichen Transitionsforschung ist, insbesondere die der Vertreter des akteurstheoretischen Ansatzes. Auch in demokratischen Regimen muß OpLinz (1973: 191) (Hervorhebung im Original). Vgl. Linz (1973: 192 ff.; 219 ff.).
28
Position sich nicht auf parlamentarische Formen beschränken. Vielmehr kann sie eine Reihe von Organisationsformen annehmen und in diversen Handlungsarenen agieren. Ein solcher Standpunkt ermöglicht es, demokratische Regime anhand der Typen und Handlungsfelder der jeweils vorhandenen Opposition zu unterscheiden. Damit lassen sich auch jene Schwierigkeiten überwinden, die beim Versuch entstehen, einen engen Oppositionsbegriff für die Analyse präsidentieller Systeme oder kollegialer Exekutiven mit proportionaler Repräsentation zu benutzen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird Opposition als Gesamtheit derjenigen Akteure definiert, die die Oppositionsrolle übernehmen, d.h. die eine konträre Position gegenüber der Politik der Regierung einnehmen, unabhängig davon, auf welchen Handlungsfeldern sie ihre Aktivitäten entfalten. Dazu können sehr unterschiedliche Akteure gehören, von politischen Parteien, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften, Basisbewegungen und Bürgerinitiativen bis hin zu den Streitkräften, den Medien und jenen Gruppierungen, die zivilen Ungehorsam leisten. Es existiert zwar nur eine Regierung, aber es kann durchaus verschiedene Akteure geben, die eine konträre Position gegenüber der Regierungspolitik oder zumindest gegenüber einzelnen Aspekten dieser Politik einnehmen und die mit unterschiedlichen Zielsetzungen gleichzeitig auf verschiedenen Schauplätzen der Auseinandersetzung aktiv werden. Die Opposition kann somit ein äußerst heterogenes Bild abgeben, und es gibt keinen Grund dafür, a priori davon auszugehen, daß die verschiedenen oppositionellen Akteure eine Interessengemeinschaft bilden oder daß sie die gleiche Haltung gegenüber dem Regime einnehmen. In dieser Hinsicht kann zwischen loyaler, unloyaler und semi-loyaler Opposition unterschieden werden. Als loyal können nur jene oppositionellen Akteure gelten, die einen internen Standpunkt einnehmen, d.h. die die etablierten Spielregeln akzeptieren und befolgen, weil sie sie als richtig anerkennen und nicht lediglich aus Gewohnheit, Apathie oder taktischem Kalkül34. Die unloyale Opposition bilden dagegen diejenigen Akteure, die das Regime grundsätzlich in Frage stellen bzw. es abschaffen wollen, ob sie dies öffentlich verkünden oder nicht. Eine semi-loyale Haltung zeigt sich u.a. in der Bereitschaft, mit unloyalen Kräften zusammenzuarbeiten sowie Handlungen zu tolerieren oder zu rechtfertigen, die nicht als regimekonform angesehen werden können35.
Zur Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt s. Hart (1994: 88 ff.), Garzón Valdés (1988a: 35 ff.). Vgl. Linz (1991: 65 ff.).
29
1.2 Wandel oder Wechsel? Die Konzepte "Transition" und "demokratische Konsolidierung" Die Beschäftigung mit der Transformation politischer Systeme ist keine Erfindung unserer Tage, und wie fast alle wichtigen Fragen wurde auch diese bereits ausfuhrlich von der klassischen Philosophie diskutiert. Heute spricht man von "Transformation" im Hinblick auf alle Veränderungen eines Systems oder seiner Subsysteme. Dementsprechend bezieht sich der Begriff auf sehr verschiedene Phänomene, von denen grundsätzlich zwei Typen unterschieden werden können: einerseits ein "Systemwandel", d.h. diejenigen Veränderungen, die innerhalb eines Systems stattfinden, und andererseits solche grundlegenden Modifikationen, die einen "Systemwechsel" implizieren. Der Begriff Systemwandel bezieht sich auf die ständigen funktionalen und unter Umständen auch strukturellen Anpassungsprozesse jedes Systems zur Stabilitätserhaltung und Ausgleichung der dysfunktionalen Auswirkungen, die durch interne oder externe inputs verursacht werden. Der Begriff Systemwechsel bezieht sich dagegen auf Fälle, in denen die Veränderungen der Strukturen und der Entscheidungsprozesse derart tiefgreifend sind, daß das System seine Identität verliert36. Das Problem besteht also darin zu bestimmen, in welchem Moment es zu einer grundlegenden Veränderung der Systemidentität kommt. Unabhängig davon, welche Aspekte betont werden sollen unter den zahlreichen Elementen, aus denen ein modernes politisches System besteht, existieren zwei Kriterien, die auf einen Entwicklungsbruch hindeuten: 1) wenn die Veränderungen sich nicht im Einklang mit den Änderungsregeln vollziehen, die das System selbst vorsieht, sondern einen Verstoß gegen diese Regeln implizieren; und 2) wenn die Modifikationen Wirkungen auf die Herrschaftsstruktur zeigen, d. h. wenn es zu grundlegenden Veränderungen in bezug auf die Formulierung, Anwendung und Kontrolle von Normen kommt37. Das Vorhandensein beider Faktoren kann als notwendige und hinreichende Bedingung für einen Systemwechsel betrachtet werden. Ein Bruch kann daher zwar mit raschen Umwandlungen einhergehen, er ist jedoch nicht damit gleichzusetzen. Zweifellos kann immer dann von einem Bruch die Rede sein, wenn "[...] eine Diktatur errichtet oder eliminiert wird, wenn freie Wahlen verboten oder wieder zugelassen werden, wenn servile Richter eine unabhängige Justiz ersetzen oder umgekehrt, wenn die Existenz von Parteien (im Plural) erlaubt oder verboten wird"38.
Vgl. Sandschneider (1995: 38ff.), der noch einen dritten Transformationstyp nennt: den Zusammenbruch oder das Verschwinden eines Systems (Systemzusammenbruch). In diesem Fall verliert ein System nicht nur seine Identität, sondern es büßt auch seine Existenz als eigenständige Einheit ein, indem es beispielsweise von anderen Systemen absorbiert wird oder sich in kleinere Einheiten auflöst. Da aber auch jeder Identitätswechsel bereits das Verschwinden des ursprunglichen Systems impliziert, könnte diese dritte Kategorie genausogut als Spezialfall des zweiten Typs betrachtet werden. Vgl. Sartori (1987:1 323). Sartori (1987:1 322).
30
Das vermehrte Auftreten derartiger Situationen hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einem verstärkten Interesse von Seiten der Politikwissenschaft gefuhrt und eine Reihe von Studien über die Transformation politischer Systeme stimuliert. Zunächst wurden zahlreiche Publikationen vorgelegt, die sich mit dem Zusammenbruch demokratischer politischer Systeme und mit den Bedingungen auseinandersetzten, die zur Errichtung unterschiedlicher Typen von autoritären Systemen führten. Später galt die Aufmerksamkeit der - wie von Huntington 1991 formuliert - "dritten Welle" von Demokratisierungsprozessen, die in den 70er Jahren in Südeuropa begann, sich Anfang der 80er Jahre auf Lateinamerika ausdehnte und schließlich gegen Ende der 80er Jahre auch Osteuropa erreichte 39 . Diese umfassende wissenschaftliche Produktion hat sich nicht auf eine Beschreibung der politischen Transformationsprozesse beschränkt, sondern ebenso theoretische Überlegungen formuliert, unter denen auch normative Gesichtspunkte nicht fehlten Zu den wichtigsten konzeptionellen Beiträgen gehört das Konzept "Transition", definiert als "das Intervall zwischen einem politischen Regime und einem anderen". 41 Der Begriff impliziert die Vorstellung von Bewegung, von einem Übergang von einer Situation zu einer anderen. Er bezeichnet jenen nur schwer zu erfassenden Moment, in dem ein Regime aufgehört hat zu sein, was es vorher war, ohne sich bereits in etwas neues umgewandelt zu haben sozusagen ein Hybride zwischen dem ancien régime und dem neuen Regime: "Die Transition beginnt mit dem Zerfall des früheren autoritären Regimes und endet mit der Etablierung einer relativ stabilen Konfiguration politischer Institutionen innerhalb eines demokratischen Regimes" 42 . Die Transition vom Autoritarismus zur Demokratie impliziert zwei verschiedenartige Prozesse, die zwar in der Praxis oft zeitgleich ablaufen und die zweifellos miteinander in Verbindung stehen, die jedoch von einem konzeptionellen Standpunkt aus unterschieden werden müssen: einerseits der Zerfall des autoritären Regimes und andererseits die Herausbildung eines demokratischen Regimes. Der letztgenannte Aspekt bezieht sich auf die Bildung und Artikulation der einem demokratischen Regime eigenen Strukturen, auf dessen Institutionen und Verfahrensregeln. Morlino nennt diesen Prozeß "Errichtung" (instaurazione), während Stepan von "Aufbau" (building) spricht 43 . Im Rahmen der vorliegen-
"
Zu den wichtigsten diesbezüglichen Studien gehören, in der Reihenfolge ihres Erscheinens: O'Donnell (1972), Linz/Stepan (1978), Illy/SielafPWerz (1980), Mols (1985), RouquiiS/Schvarzer (1985), Orrego Vicufla (1985), Viola/Mainwaring (1985), Morlino (1986), Baloyra (1987a), Mols/Wolf (1987), O'Donnell/Schmitter/Whitehead (1988), Nohlen (1989), Pastor (1989), Huntington (1991), Przeworski (1991), Higley/Gunther (1992), Mainwaring/O'Donnell/Valenzuela (1992), Bermeo (1992a), Diamond/Plattner (1993), Nohlen/Thibaut (1994b), Merkel (1994a), Sandschneider (1995), Gunther/Diamandouros/Puhle (1995a), Nohlen (1995), Linz/Stepan (1996).
40
Für eine kritische Auseinandersetzung mit den (neuen) theoretischen Konzepten siehe Merkel (1994a), Munck (1994), Shin (1994) und Sandschneider (1995). Für die Beiträge der Lateinamerikanisten im besonderen siehe Nohlen/Thibaut (1994a).
41
O'Donnell/Schmitter (1988: 19).
42
Gunther/Puhle/Diamandouros (1995b: 3).
43
Vgl. Morlino (1986: 205 ff.), Stepan (1993: 67 f.).
31
den Arbeit wird der neutralere Begriff "Herausbildung" bevorzugt. Im Unterschied zu den beiden anderen Termini, die zumindest implizit von einem willentlichen und bewußten Handlungsakt ausgehen, kann mit diesem Begriff vom Willen der beteiligten Akteure abstrahiert werden. Aus den bisherigen Erörterungen wird deutlich, daß von Transition nur im Zusammenhang mit dem Regimekonzept die Rede sein kann. Als Regime definieren O'Donnell und Schmitter "die Gesamtheit der - impliziten oder expliziten - Regeln, die die Formen und Kanäle des Zugangs zu den wichtigsten Regierungsposten, die Merkmale der zugelassenen und der vom Zugang ausgeschlossenen Akteure sowie die Ressourcen oder Strategien festlegen, die eingesetzt werden dürfen, um einen derartigen Zugang zu erhalten"4 .
Stephanie Lawson betont ihrerseits, daß das Regime nicht nur festlegt, wie Regierungen gebildet werden und wie sie ihre Funktionen ausüben, sondern auch, worauf ihre Legitimität basiert und bis zu welchem Punkt sie ihre Autorität ausüben dürfen: "Regime beinhalten die Normen und Prinzipien der politischen Organisation des Staates, die sich in Regeln und Prozeduren konkretisieren, die den Rahmen für das Handeln von Regierungen festlegen"45. Die Regimedefinition ist also mit der Frage verbunden, wie die Macht erreicht und ausgeübt wird, wie Politiken formuliert und durchgeführt werden und welche Behandlung die Opposition erfahrt. Die unterschiedlichen Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden können, verweisen auf jene Kriterien, die im allgemeinen für eine Unterscheidung zwischen demokratischen und undemokratischen Regimen herangezogen werden46. Die meisten Forscher, die sich mit Regimetransformationen beschäftigen47, bekennen sich zu einer Definition von Demokratie im Sinne eines procedural mínimum, ähnlich dem Vorschlag von Robert Dahl, der für "realexistierende Demokratien" nicht zufallig den Begriff Polyarchie bevorzugte48. In Anlehnung an die Überlegungen Dahls hat Peter Smith Demokratie auf der Grundlage von drei elementaren Prinzipien definiert: "1. Das Prinzip des Wettbewerbs dergestalt, daß alle Sektoren der Bevölkerung (und nicht nur ein Teil von ihr) über angemessene Möglichkeiten verfugen, am Wettbewerb um die politische Macht teilzunehmen. 2. Das Prinzip der Partizipation dergestalt, daß a) keine Gruppen oder Sektoren der Gesellschaft vom Wettbewerb um die Macht gewaltsam oder mit gesetzlichen Mitteln ausgeschlossen werden und b) alle Sektoren der Bür-
44
O'Donnell/Schmitter (1988:118).
45
Lawson (1993: 187).
46
Vgl. Baloyra( 1987b: 12).
47
Siehe beispielsweise O'Donnell ( 1992b: 18), Nohlen ( 1989: 139), Huntington ( 1989: 11 ff ), Weffort ( 1993 : i54fr.)
"
Vgl. Dahl (1978: 5ff.).
32
gerschaft gleichermaßen einen Anspruch darauf haben (wenn nicht sogar aktiv dazu aufgefordert werden), sich am Wettbewerb zu beteiligen. 3. Das Prinzip der Verantwortlichkeit dergestalt, daß Regierungsmitglieder vor den Bürgern (oder ihren Repräsentanten) öffentlich für ihre Handlungen und Politiken Rechenschaft ablegen müssen"49.
Mit Blick auf Lateinamerika hielt Terry L. Karl eine vierte Bedingung für notwendig, um von Demokratie sprechen zu können: die zivile Kontrolle über die Streitkräfte50. Diese Ergänzung ist jedoch überflüssig, denn ein Regime, in dem die Ausübung der Macht auf der Grundlage eines politischen Wettbewerbs und der Partizipation der Bürger funktioniert und in dem die Regierenden dazu verpflichtet sind, Rechenschaft über ihre Handlungen abzulegen, schließt per deflnitionem eine militärische Macht aus, die sich diesen Regeln nicht unterwirft. Berücksichtigt man, daß ein Regime als ein System von Regeln aufzufassen ist, wäre es sinnvoll, auf einige Ideen aus dem Bereich der Rechtstheorie zurückzugreifen. Nach Hart bestehen Rechtssysteme aus einer Kombination von Regeln, die zwei unterschiedlichen Klassen zugeordnet werden können. Sogenannte "primäre Regeln" haben verbindlichen Charakter und sind Regeln, die die Rechtssubjekte dazu verpflichten, gewisse Handlungen zu realisieren oder sich ihrer zu enthalten. "Sekundäre Regeln", die keinerlei Verpflichtung auferlegen, sind dagegen von entscheidender Bedeutung für die Identität, die Dynamik und die Effizienz eines Systems51. Hart unterscheidet drei Typen von sekundären Regeln: Änderungsregeln, Zuerkennungsregeln und Anerkennungsregeln. Die Änderungsregeln legen fest, welche Mechanismen bei der Einfuhrung neuer Regeln zu beachten sind, und erlauben es dadurch, den statischen Charakter eines Systems zu überwinden. Durch die Zuerkennungsregeln wird einigen Individuen die Befugnis übertragen zu entscheiden, ob es in einer bestimmten Situation zum Verstoß gegen eine primäre Regel gekommen ist. Die Anerkennungsregel schließlich legt diejenigen Merkmale fest, die eine Regel besitzen muß, damit sie definitiv als eine von der Gruppe beschlossene Norm anerkannt werden kann52. Es dürfte bereits aufgefallen sein, daß die Veränderung dieser sekundären Regeln mit denjenigen Kriterien übereinstimmt, die weiter oben vorgeschlagenen wurden, um das Vorhandensein eines Bruchs festzustellen. Aber die Präzisierung des Konzepts der Anerkennungsregel ermöglicht es, noch einen Schritt voranzukommen. Die Komplexität der modernen Rechtssysteme schlägt sich notwendigerweise in der Komplexität ihrer Anerkennungsregel nieder: Die Kriterien, die benötigt werden, um die Gültigkeit eines Gesetzes zu bestimmen, sind im allgemeinen vielfaltig und beinhalten unterschiedlich alte Prinzipien und Maximen, von denen viele nicht schriftlich fixiert wurden, während andere in einem Verfas49
Smith (1992: 297) (Hervorhebung im Original).
50
Vgl. Karl (1990: 2).
51
Vgl. Hart (1994: 81; 94) sowie Garzón Valdés (1988a: 33).
52
Vgl. Hart (1994: 94ff.)
33
sungstext enthalten sein können und wieder andere auf parlamentarischen Entscheidungen und juristischen Präzedenzfällen beruhen. Daher ist es notwendig, eine Hierarchie festzulegen, die im Konfliktfall eine Entscheidung ermöglicht. Die Anerkennungsregel, die dann ausgesprochen komplex wird, kann von keinem Rechtswerk vollständig erfaßt werden. Die Anerkennungsregel wird also nicht komplett dargelegt, wohl aber angewandt: "Üblicherweise wird die Anerkennungsregel nicht explizit aufgestellt; ihre Existenz zeigt sich aber dadurch, daß einzelne Regeln durch Gerichte, durch andere offizielle Stellen oder durch Privatpersonen oder deren Berater identifiziert werden"53.
Die konkrete Ausgestaltung dieser ungeschriebenen Regel ist ein Ergebnis diverser Faktoren, die von der politischen Kultur über historische Erfahrungen bis zu den alltäglichen Verhaltensweisen der Regierungsfunktionäre reichen. Sie ist für die Bestimmung der Identität von zwei verschiedenen politischen Systemen wesentlich entscheidender als diejenigen Unterschiede, die aus den jeweiligen Verfassungstexten herausgelesen werden können. So war beispielsweise der Übergang der Weimarer Republik zum Dritten Reich nicht das Ergebnis einer Modifikation des Verfassungstextes, sondern einer veränderten Haltung der Machthaber hinsichtlich seiner Auslegung und Anwendung. Die Anerkennungsregel eines gegebenen Systems kann eigentlich nur von einem externen Beobachter formuliert werden. Im Falle eines politischen Systems sind dann die Politologen gefordert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Anerkennungsregel sozusagen das Fundament der Identität und Einheit eines Systems ausmacht, denn sie allein legt fest, welche Kriterien für die Gültigkeit aller anderen Regeln angesetzt werden. Dementsprechend kann jedes politische und rechtliche System immer nur einer einzigen Anerkennungsregel gehorchen. Ist dagegen die gleichzeitige Existenz von mehreren Anerkennungsregeln festzustellen, so handelt es sich dabei um ein System, das sich in einem pathologischen Zustand befindet 54 . Nach diesen Klarstellungen ist es sinnvoll, noch einmal die Diskussion über das Transitionskonzept aufzugreifen. Wenn als Transition das Intervall zwischen einem autoritären und einem demokratischen Regime verstanden wird, so ist diese durch einen terminus a quo und einen terminus ad quem begrenzt. Der terminus a quo entspricht dem Moment, in dem die Liberalisierung des autoritären Regimes einsetzt, d.h. wenn die Regierenden anfangen, ihre eigenen Regeln zu modifizieren und den Herrschaftsunterworfenen - aus welchen Gründen auch immer - mehr individuelle und kollektive Rechte und Garantien zuzugestehen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis wichtig, daß solche Prozesse weder einer logischen noch einer irreversiblen Sequenz folgen: Genauso, wie die Liberalisierung den Weg für die Transition zur Demokratie öffnen kann, ist
Hart (1994: 101) (Hervorhebung im Original). Vgl. Garzón Valdés (1988a: 34).
34
es möglich, daß sie in einer erneuten Verhärtung oder in einer Rückkehr zum autoritären System endet 55 . Wenn allerdings die Entwicklung zur Demokratie Fortschritte macht, so gilt die Transition in dem Augenblick als beendet, in dem die ersten freien Wahlen abgehalten werden und eine aus ihnen hervorgegangene Regierung ihr Amt antritt 56 . Dabei ergibt sich allerdings ein Problem. Bei dieser Betrachtungsweise wird der terminus ad quem der Transition, d.h. der Beginn eines demokratischen Regimes, ausschließlich an der Ursprungslegitimität der neuen Regierenden festgemacht, während die Frage, wie die Regierungsgewalt nach dem Machtwechsel ausgeübt wird, völlig außer Betracht bleibt. Die Tatsache, daß eine Regierung demokratisch gewählt wurde, ist jedoch für sich genommen weder eine Garantie dafür, daß diese Regierung auch dazu in der Lage ist, ihre Entscheidungen gegenüber den überkommenen Machtstrukturen durchzusetzen, noch dafür, daß die neuen Machthaber immun sind gegen die Versuchung, nun ihrerseits einen autoritären Regierungsstil sowie eine dementsprechende Behandlung der Opposition an den Tag zu legen. Um feststellen zu können, ob der Antritt einer durch freie Wahlen legitimierten Regierung wirklich den Beginn eines demokratischen Regimes markiert, muß daher beobachtet werden, wie diese Regierung funktioniert. Nur dann kann entschieden werden, ob die Abkehr von der Anerkennungsregel des vorhergehenden Regimes tatsächlich zur Übernahme einer mit den Definitionsmerkmalen von Demokratie kompatiblen Anerkennungsregel geführt hat, oder ob es bei einer Situation bleibt, in der zwei oder mehr Anerkennungsregeln im Wettstreit miteinander stehen. Die Herausbildung eines demokratischen Regimes ist erst dann wirklich gelungen, wenn die demokratische Anerkennungsregel sich gegen die autoritäre(n) Anerkennungsregel(n) durchgesetzt hat. In den konkreten Fällen kann ein solcher Prozeß viele Jahre dauern bzw. überhaupt nicht stattfinden. Ohne sich von solchen konzeptionellen Schwierigkeiten einschüchtern zu lassen, begrüßten viele Politiker und Politikwissenschaftler in den 80er Jahren mit großer Begeisterung die Schwächung der autoritären Militärdiktaturen in Lateinamerika und die Machtübernahme durch zivile Regierungen als unbestreitbaren Beginn einer demokratischen Ära. Bereits nach kurzer Zeit traten allerdings eine Reihe von Problemen und Schwächen der neuen Regime zutage. Der Begriff der "demokratischen Konsolidierung" bot sich dann als theoretischer Ausweg an. Darunter verstand man eine Periode, in deren Verlauf nach und nach die Überbleibsel der autoritären Regime beseitigt würden, um schließlich stabile demokratische Regime zu erreichen. Im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet der Begriff "konsolidieren" so viel wie "befestigen", "sichern" oder "stärken". Die Konsolidierung einer Mauer oder eines Gebäudes beispielsweise geschieht mit dem Ziel zu vermeiden, daß sie nach Beendigung der Konstruktionsphase zusammenbrechen. In gewisser Vgl. O'Donnell/Schmitter (1988: 20ff.). Vgl. Nohlen (1988: 5), Mainwaring/O'Donnell/Valenzuela (1992: 2).
35
Hinsicht suggeriert die Konsolidierung der Demokratie eine Anstrengung, dem Regime eine Art erdbebensichere Struktur zu verleihen. Die theoretischen Überlegungen haben gezeigt, daß Konsolidierung als Prozeß oder als Ergebnis aufzufassen ist57 und insofern zu derjenigen Begriffsklasse gehört, die durch "Prozeß-Produkt-Doppeldeutigkeit" charakterisiert ist58. Die meisten Autoren beschäftigen sich mit der ersten Variante, denn es scheint einen weitgehenden Konsens dahingehend zu geben, daß das Produkt des Konsolidierungsprozesses sich nicht grundlegend von einer stabilen Demokratie unterscheidet: "Transition resultiert in der Schaffung eines neuen Regimes; Konsolidierung resultiert in der Stabilität und Persistenz dieses Regimes, sogar für den Fall ernsthafter Bedrohungen"59. Eine verbreitete Definition von Konsolidierung als Prozeß lautet dagegen, daß es sich dabei um "die Herstellung jener politischen, wirtschaftlichen, sozialen und sozio-kulturellen Bedingungen [handelt], die den Bestand der Demokratie höchstwahrscheinlich machen"60. Diese Konzeption kreist um ein teleologisches Element. Der dauerhafte Bestand des demokratischen Regimes gilt als a priori definiertes Ziel, und der Begriff "Herstellung" suggeriert die Vorstellung von einer Vielzahl politischer, sozialer und wirtschaftlicher Akteure, die sich eifrig um die Verwirklichung dieses Ziels bemühen. Dies ist jedoch insofern unrealistisch, als in der "realexistierenden" Welt die meisten Akteure mit der Realisierung viel unmittelbarerer Interessen beschäftigt sind und sich wenig um die Festlegung - geschweige denn die Verwirklichung auf längere Sicht der Bedingungen einer stabilen Demokratie kümmern. Die schon klassische Definition von Morlino bietet insofern einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten, als sie ihr Augenmerk nicht auf die Ziele der Akteure, sondern auf die strukturellen Veränderungen richtet. Nach diesem Autor meint Konsolidierung "den Prozeß der Anpassung/des Einfrierens der demokratischen Normen und Strukturen, die - teilweise oder vollständig - von der Zivilgesellschaft als legitim akzeptiert wurden"61. Heute ist es üblich, die demokratische Konsolidierung als einen mehrdimensionalen Prozeß zu begreifen, der eine "strukturelle", eine "verhaltensmäßige" und eine "einstellungsmäßige" - bzw. constitutional, behavoral und attitudinaf2 - Komponente umfaßt: "Konsolidierung [...] bezieht sich auf das Erringen substantieller einstellungsmäßiger Unterstützung für und verhaltensmäßigen Einverständnisses
57
Vgl. Morlino (1986: 204).
58
Zu dieser Begriffsklasse s. Zimmerling (1991: 203).
59
Gunther/Puhle/Diamandouros (1995b: 3). Zum Konzept der Stabilität politischer Systeme siehe Garzón Valdés (1988a: 32ff.) und Sandschneider (1995: 1 lOff.).
60
Nohlen (1988: 5 f.).
61
Morlino (1986: 210).
62
Linz/Stepan (1996: 5f.). Merkel präsentiert ein ähnliches Modell in vier Ebenen. Vgl. Merkel (1995: 38f.).
36
mit den neuen demokratischen Institutionen und den durch sie etablierten Spielregeln"63.
Linz, Stepan und Gunther vertreten eine ähnliche Ansicht und geben sogar ausdrücklich zu, daß die strukturelle Dimension "[...] sich etwas mit unserer Definition von Demokratie überschneidet. Diese beinhaltet, daß keine signifikanten Machtdomänen mehr existieren sollten, die verhindern, daß wichtige staatliche Politiken durch Gesetze, Prozeduren und Institutionen bestimmt werden, die durch den neuen demokratischen Prozeß sanktioniert wurden"64.
Nun ist Konsolidierung nicht notwendigerweise ein Prozeß, der automatisch nach der Errichtung einer Demokratie einsetzt, sondern lediglich eine Möglichkeit unter vielen anderen. So würde es heute absurd klingen, im Hinblick auf die Weimarer Republik der 20er Jahre zu behaupten, die Demokratie habe sich damals in ihrer Konsolidierungsphase befunden. Und selbst wenn ein Konsolidierungsprozeß erfolgreich verläuft, so ist dies keine Garantie dafür, daß das fragliche Regime auf unabsehbare Zeit stabil bleiben wird: Langfristig kann keine Demokratie als immun gegen das Risiko der Dekonsolidierung oder gar des Zusammenbruchs gelten65. In der letzten Zeit hat man eine Reihe von Beinamen ersonnen, mit deren Hilfe die Merkmale der neuen lateinamerikanischen Regime präzisiert werden sollen: neue Demokratien, unkonsolidierte Demokratien, Übergangsdemokratien66, schwache Demokratien67, zerbrechliche Demokratien68, democracy by default69, delegierte Demokratien,70 ausgrenzende Demokratien etc. Die neuen lateinamerikanischen Regime wurden sogar schlicht als post-national security regimes7\ "Wahl-Autoritarismen"72 und "gemischte Regime"73 bezeichnet. Wenn gegenwärtig viele Autoren nicht wagen, von Demokratie "ohne Adjektive" zu sprechen, so zeigt dies eine allgemeine Wahrnehmung, daß es sich in Wirklichkeit um Demokratien handelt, die - aus von Fall zu Fall unterschiedlichen Gründen - offenkundige Defizite aufweisen. Solche Charakterisierungen wurden wiederum von anderen Autoren zurückgewiesen. Die Vertreter dieser Richtung halten die Kritik an den real existierenden Demokratien Lateinamerikas in den meisten Fällen für übertrieben und be63
Gunther/Puhle/Diamandouros (1995b: 3) (Hervorhebung d.V.).
64
Linz/Stepan/Gunther (1995: 79).
65
Vgl. Morlino (1986: 204), Gunther/Puhle/Diamandouros (1995b: 18).
66
Mainwaring/O'Donnell/Valenzuela (1992: 3f.).
67
Weffort (1993: 176ff.).
6!
Whitehead (1989).
69
Whitehead (1993: 314f.).
70
O'Donnell (1992a).
71
Zagorski (1992).
72
Petras/Vieux (1994).
73
Weffort (1993: 141).
37
klagen, daß man sich einseitig auf die Defizite der neuen Regime stürze, um auf dieser Grundlage Diagnosen und Prognosen zu erarbeiten, die gar nicht anders als negativ ausfallen können. Die Verfechter dieser Position werfen den oben erwähnten Kritikern vor, sie würden von einer normativen Perspektive aus argumentieren, die den demokratischen Charakter einer auf Übereinkünften basierenden Politik verkenne, solche Pakte a priori als elitistisch und ausgrenzend abqualifiziere und implizit oder explizit ein auf die sozioökonomische Ordnung ausgedehntes Demokratiekonzept vertrete 74 . Auch im Hinblick auf solche Ansichten sind allerdings einige Bemerkungen angebracht. Erstens ist festzuhalten, daß - auch wenn eine Demokratie sicherlich Übereinkünfte und Absprachen beinhaltet - nicht jeder Typ von Pakt demokratisch ist. Es sind ja gerade die Verfechter einer prozessualen Demokratiedefinition, die immer wieder daran erinnern, daß demokratische Übereinkünfte keinen substantiellen Kompromiß darstellen können, sondern nur eine kontingente institutionelle Übereinkunft 75 . Zweitens sprachen einige Autoren auch deshalb von Demokratien "mit Adjektiven", um die oftmals übereilte Katalogisierung diverser noch nicht eindeutig ausgeprägter Regime als "Demokratien" zu korrigieren. Inzwischen ist evident geworden daß "ein Schritt weg von der autoritären Herrschaft nicht notwendigerweise ein Schritt in Richtung demokratische Herrschaft ist"76. Selbst wenn die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder diese Richtung eingeschlagen haben sollte, gibt es gute Gründe für die Annahme, daß viele von ihnen die kritische Schwelle (noch) nicht überschritten haben. Drittens, daraufhat Samuel Valenzuela hingewiesen, setzt jede auch noch so eingeschränkte Vorstellung von Demokratie als einem procedural minimum die Herausbildung eines komplexen Institutionensystems voraus, das unabdingbar für die Reproduktion des demokratischen Prozesses ist. Wenn es gleichzeitig zur Installation von Mechanismen kommt, die genau dies unterwandern, so haben wir es mit einer "perversen Institutionalisierung" zu tun. Beispiele dafür wären vormundschaftliche Machtbefugnisse, rechtsfreie Räume, hochgradig diskriminierende Wahlprozesse sowie wiederholte Revolten oder Aufstandsversuche der Streitkräfte, durch die das Prinzip der Wahl als einziger Zugang zur Macht in Frage gestellt wird. Es ist durchaus möglich, daß gleichzeitig perverse und geglückte Formen der Institutionalisierung koexistieren; diese Verbindung wird jedoch stets eine defekte Institutionalisierung darstellen 77 . Viertens muß berücksichtigt werden, daß die demokratischen Spielregeln häufig durch das tatsächliche Verhalten von wichtigen Akteuren de facto in Frage gestellt werden. Semi-loyale und unloyale Akteure sind praktisch in allen politischen Systemen der Welt zu finden. Wenn diese jedoch große Bedeutung erlangen bzw. zahlreich sind, stellen sie eine Bedrohung für das demokratische Vgl. Nohlen/Thibaut (1994a: 2 l 4 f f . ) ; (1994b: 235ff.). Vgl. Przeworski (1988: 98). Anglade (1994: 233). Vgl. Valenzuela (1992: 61ff.).
38
Regime dar 78 . Die Tatsache, daß sie in einer Weise handeln, daß sie mit ihrem Verhalten die Autorität der demokratischen Institutionen unverhüllt herausfordern bzw. sie öffentlich unter Druck setzen, ohne dafür sanktioniert zu werden, kann als eindeutiges Indiz für die Schwäche eben dieser Institutionen gelten. Ein großer Teil der Beinamen, die benutzt werden, um auf verschiedene Defizite der demokratischen Regime hinzuweisen, erscheint daher selbst auf der Grundlage einer Minimaldefinition von Demokratie gerechtfertigt zu sein und hat nichts mit der Betrachtung konkreter Outputs zu tun. Es handelt sich lediglich um verschiedene Versuche, auch solche Fälle und Systeme zu kategorisieren, in denen die perversen Formen der Institutionalisierung derart gravierend sind, daß man nicht einfach über sie hinwegsehen kann, oder die als "schizophren" einzustufen sind, weil mehrere Anerkennungsregeln im Wettstreit miteinander stehen. Wenn aber die Existenz perverser Elemente zwangsläufig die Grundlagen eines demokratischen Regimes untergräbt, dann kann in solchen Fällen der Begriff "demokratische Konsolidierung" nicht als Synonym für eine Stärkung der bestehenden Strukturen und Mechanismen gelten, sondern im Gegenteil für deren Transformation. Mit anderen Worten: Wenn ein Gebäude miserabel gebaut wurde, ist es sehr schwer, es nachträglich zu stabilisieren. Wenn die Schwäche bereits in den Grundpfeilern liegt, dürfte eine spätere Sanierung so gut wie ausgeschlossen sein. Und selbst wenn es dazu kommt, hätten wir es auf jeden Fall mit einem erneuten Transformationsprozeß zu tun. In den Worten von Valenzuela: "Der Prozeß der demokratischen Konsolidierung besteht in der Eliminierung der Institutionen, Prozeduren und Erwartungen, die unvereinbar mit dem minimalen Funktionieren eines demokratischen Regimes sind" 79 . Bei manchen Fällen kann ein solcher Prozeß derart tiefgreifende Veränderungen voraussetzen, daß einige Autoren von der Konsolidierung als einer "zweiten Transition" 80 sprechen. Es erscheint allerdings sinnvoller, den Begriff "Transition" nach wie vor so zu benutzen, wie er weiter oben definiert wurde. Im hier diskutierten Zusammenhang ist eher ein Rückgriff auf den allgemeineren Begriff "Transformation" angebracht, denn es ist nicht möglich, a priori zu bestimmen, ob es sich notwendigerweise um einen weiteren Regimewechsel oder lediglich um einen Wandel innerhalb des bestehenden Regimes handelt. Im Rahmen dieser Arbeit wird also "Transition" als jenes Intervall verstanden, das zwischen der Liberalisierung eines autoritären Regimes und der Machtübernahme durch eine demokratisch gewählte Regierung liegt. Als "demokratische Konsolidierung" wird der Prozeß bezeichnet, in dessen Verlauf a) ein neu errichtetes Regime Fortschritte in Richtung einer Stärkung seiner demokratischen Institutionen macht, b) das Verschwinden semi-loyaler Einstellungen und Verhaltensweisen von seiten der wichtigsten politischen Akteure zu beobachten ist und c) die Mehrheit der Bevölkerung die Legitimität der demo78
Vgl. Linz (1991:57ff.).
79
Valenzuela (1992: 70).
10
Vgl. O'Donnell (1992b: 18ff.).
39
kratischen Regeln und Verfahrensweisen akzeptiert und autoritäre Alternativen konsequent zurückweist. Die Zeitspanne, die unmittelbar nach dem Amtsantritt einer demokratisch gewählten Regierung einsetzt, wird hier nicht automatisch als Konsolidierungsphase bezeichnet, sondern als Post-Transitionsphase. Dieser neutrale Begriff wurde bewußt gewählt, um zunächst die dornenreiche Frage umgehen zu können, ob es sich bei dem zu untersuchenden Prozeß tatsächlich um eine demokratische Konsolidierung handelt oder nicht. Da das zentrale Interesse dieser Arbeit darin besteht, die Entwicklung Argentiniens in den Jahren unmittelbar nach der Etablierung einer demokratisch gewählten Regierung zu beleuchten, wäre es unangemessen, diesen Prozeß a priori als Konsolidierung zu bezeichnen und somit von vornherein auf die Frage nach seinem Wesen zu verzichten.
1.3 Akteure und Institutionen: zwei Forschungsansätze Im Zuge der Erforschung der "dritten Welle" der Demokratisierung wurde den Akteuren ein zentraler Stellenwert zugeordnet. Was heute als akteurstheoretischer Ansatz bekannt ist, entstand im Zusammenhang eines Forschungsprojektes des Lateinamerikaprogramms des Woodrow Wilson International Center for Scholars, in dessen Kontext auch auf die damals noch nicht allzuweit zurückliegenden Erfahrungen mit den Demokratisierungsprozessen im Süden Europas als Referenzrahmen und normativer Bezugshorizont zurückgegriffen wurde 81 . Dieser (nicht mehr ganz so) neue Ansatz zur Untersuchung des Regimewechsels unterstreicht die Bedeutung von Gruppen und Individuen, die am Transformationsprozeß teilnehmen und diesen gestalten. Entsprechend gelten die Ziele, Präferenzen, Interessen, Perzeptionen und Verhaltensweisen der dominierenden Eliten und der oppositionellen Gruppen als determinierende Variablen solcher Prozesse 82 . Inmitten der allgemeinen Unsicherheit, durch die sich Situationen des Übergangs auszeichnen, sind es die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Akteuren, deren Übereinkünfte und Strategien, die den Rahmen des politischen Spiels abstecken und die letztendlich dazu entscheidend beitragen, daß es zu einer Demokratisierung kommt oder auch nicht. Die Untersuchungen, die sich einem akteurstheoretischen Ansatz verpflichtet fühlen, sind stark prozeßanalytisch orientiert. Sie betonen die Wahlmöglichkeiten der verschiedenen Akteure stärker als strukturelle Kausalitäten 83 . Nicht zufallig stammt diese theoretische Herangehensweise, die später auch auf andere Situationen angewandt wurde, aus dem Kontext der Lateinamerikaforschung. Dafür sind zwei Motive zu nennen: Erstens ist der akteurstheoretische Ansatz als ein Versuch entstanden, die im Rahmen der Modernisierungs-
"
Vgl. O'DonnelI/Schmitter/Whitehead (1986).
82
Vgl. B o s ( 1994: 87ff.).
"
Vgl. Nohlen/Thibaut (1994a: 203), Bos (1994: 105).
40
theorie entworfenen, oft deterministischen und vielfach als defizitär und als wenig geeignet für eine Analyse der äußerst komplizierten lateinamerikanischen Politik kritisierten Herangehensweisen zu überwinden. Zweitens sahen sich gerade diejenigen Forscher, die sich mit einer derart von Personalismus durchsetzten Politik wie der lateinamerikanischen beschäftigten, ständig damit konfrontiert, wie wichtig die Entscheidungen der Akteure für die allgemeine politische Entwicklung waren. Es handelt sich bei diesem Ansatz jedoch nicht nur um eine ad-hoc-Konstruktion, um dem Individualismus der lateinamerikanischen Politiker angemessen Rechnung zu tragen. Der approach ist vielmehr im Zusammenhang einer wesentlich allgemeiner angelegten Theorie angesiedelt, die in der Regel als rational choice bezeichnet wird 84 . Mit dem Ziel einer Erklärung von Handlungen 85 geht die rational choice-Theorie von drei grundlegenden Prämissen aus: "(1) daß soziale Situationen auf individuelle Handlungen zurückgeführt werden können (methodologischer Individualismus); (2) daß solche individuellen Handlungen auf Entscheidungen beruhen, die rational getroffen werden, daß also individuellem Handeln rationale Wahlen zugrunde liegen (woher der Ansatz seinen Namen hat); und (3) daß eine Wahl dann rational ist, wenn das Kriterium für die Wahl die Frage ist, welche unter den jeweils effektiv gegebenen Handlungsalternativen unter Berücksichtigung aller damit verbundenen Vor- und Nachteile den Präferenzen des betreffenden Individuums am meisten entspricht, d.h. seinen (zu erwartenden) Nutzen maximiert"*6.
In zahlreichen Situationen hängt das Handlungsergebnis nicht ausschließlich von den Entscheidungen eines Akteurs ab - wie rational dieser auch sein mag - , sondern auch vom Verhalten weiterer Teilnehmer. Mit dieser Art von Situationen, zu der auch fast alle normalerweise als "politisch" betrachteten Entscheidungen gehören, beschäftigt sich die Spieltheorie 87 . Innerhalb dieses Rahmens interessieren sich die Strategie choice-Modelle insbesondere für die Anstrengungen der einzelnen Spieler, die Entscheidungen der anderen Akteure zu beeinflussen. Folgt man diesen theoretischen Ansätzen, so sind politische Ergebnisse ein Resultat des Zusammenspiels der strategischen Entscheidungen der Akteure und nicht etwa ein Resultat externer Determinanten 88 . Damit wird nicht behauptet, daß die Spieler in einem Vakuum operieren. Ganz im Gegenteil, sie treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Überlegungen, in die die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen über die übrigen intervenieren-
84
Für eine Beurteilung der rational choice-Theorie und einen Überblick über Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Politikwissenschaft siehe Monroe (1991), Coleman/Fararo (1992) und Druwe/Kunz (1994).
85
Vgl. Elster (1989a: 3).
16
Zimmerling (1994: 16) (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Collier/Norden (1992: 229f.).
87
Als Einführung in die Spieltheorie siehe Ordershook (1986) und Rieck (1993: 15ff.).
88
Vgl. Collier/Norden (1992: 230f.).
41
den Faktoren sowie über die möglichen Entscheidungen der anderen Akteure einfließen. Nachdem im Zuge der sozialwissenschaftlichen Erforschung der "dritten Demokratisierungswelle" die Rolle der Akteure aufgewertet worden war, trat auch immer offener zutage, daß die neuen Demokratien gewisse Funktionsschwierigkeiten aufwiesen. Von da an richtete sich die Aufmerksamkeit der Forscher stärker auf die Institutionen. Dieser "neue Institutionalismus" zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß er von einem weitgefaßten Institutionenkonzept ausgeht. Er beschränkt sich nicht auf formalrechtliche Strukturen, sondern umfaßt auch institutionelle Übereinkünfte, die als Bedingungen oder als Restriktionen für das Handeln der Akteure fungieren 89 . North beispielsweise definiert Institutionen als "die Beschränkungen, die die Menschen sich selbst auferlegen", und unterstreicht: "Institutionelle Beschränkungen beinhalten sowohl, was Individuen nicht tun dürfen als auch, manchmal, unter welchen Bedingungen es bestimmten Individuen erlaubt ist, gewisse Aktivitäten zu unternehmen. So definiert bilden sie den Rahmen, innerhalb dessen sich menschliche Interaktion abspielt. Sie sind vollständig analog den Spielregeln in einer Wettkampfsportart"
Verschiedene Forscher haben dann die institutionellen Merkmale von Regierungs- und Wahlsystemen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. So spielte die Diskussion über die Vor- und Nachteile parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme und über verschiedene Projekte einer politischen Reform in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und auch noch zu Beginn der 90er Jahre eine wichtige Rolle auf der Tagesordnung zahlreicher Politiker und Politikwissenschaftler 9 1. Nun handelt es sich bei Institutionen und Akteuren nicht um zwei voneinander unabhängige Phänomene, so daß die beiden Ansätze konsequenterweise als komplementär verstanden werden können. Wie Rüb zu Recht hervorgehoben hat, sind Institutionen nicht für sich genommen stabil, sondern ihre Entwicklung hängt von externen Kräften ab, die die Beachtung ihrer Regeln und deren Stabilisierung garantieren 92 . Zudem werden Institutionen von Akteuren geschaffen und transformiert, genauso wie sie ihrerseits die Handlungen der Akteure beeinflussen: "Die Gründung, Veränderung und Stabilisierung von politischen Institutionen [...] wird von den Akteuren vorgenommen, die in einer gegebenen historischen Situation in diesen Institutionen handeln und damit unmittelbar betroffen sind. Politische Entscheidungen über politische Institutionen sind grundsätzlich zirkulär, da die politischen Akteure über sich selbst entschei"
Vgl. Thibaut/Skach (1994: 3).
90
North (1990: 4).
"
Siehe Thibaut (1992), Nohlen (1991a), Nohlen/De Riz (1991), Nohlen/Solari (1988), Nohlen/Fernändez (1991), Valenzuela (1993), Linz/Valenzuela (1994), Nohlen (1994), Jackisch (1994).
92
42
Vgl. RUb( 1994: 117).
den: über die zukünftige Verteilung von Macht, den Zugang zu ihr, den Umfang ihrer Ausübung, Zugänge zu alternativem Wissen, soziale Reputation, Strukturierung von Aufmerksamkeit u.ä."93.
Dies bedeutet, daß viele Entscheidungen der Akteure im Moment eines Systemwechsels sich nicht auf ihre unmittelbaren Auswirkungen beschränken. Vielmehr handelt es sich um constitutional choices94, insofern diese Entscheidungen die Herausbildung der neuen Institutionen grundlegend beeinflussen. Diese wiederum werden, wenn sie erst einmal etabliert sind, zu dem, was Karl als confining conditions95 bezeichnet hat, d.h. zu Bedingungsfaktoren, die die Entscheidungsspielräume der Akteure begrenzen oder - in einigen Fällen - erweitern. Entsprechend entwickelt sich jeder Regimewechsel als dialektischer Prozeß, der nur dann angemessen analysiert werden kann, wenn sowohl die constitutional choices der Akteure als auch die confining conditions, denen diese unterworfen sind, berücksichtigt werden.
1.4 Die Rolle der oppositionellen Akteure in politischen Transformationsprozessen - Fragen, Prämissen und Thesen Ausgehend von den bisherigen Überlegungen stellen sich drei grundlegende Fragen: 1) In welchem Ausmaß hängen politische Transformationsprozesse jeweils von strukturellen Faktoren einerseits sowie von den Entscheidungen der Akteure andererseits ab? 2) Über welche tatsächlichen Handlungsspielräume verfugen die Akteure? 3) Welche wechselseitigen Beziehungsmuster entstehen zwischen den Entscheidungen der Akteure und den existierenden und/oder entstehenden Institutionen? Je nachdem, welche Phase des Prozesses untersucht werden soll, können auch auf die drei Fragen unterschiedliche Antworten gegeben werden. Zudem ist es offensichtlich, daß die Begleitumstände jeder einzelnen Etappe (Transitions- und Post-Transitions-Phase sowie die Abschnitte, in die sie unterteilt werden können) jeweils in einem nicht zu unterschätzenden Maße davon abhängen, was in den vorhergehenden Phasen passiert ist. Im folgenden wird versucht, einige diachronische und synchronische Zusammenhänge herauszuarbeiten. Da kein Regimewechsel in einem Vakuum abläuft und da auch die in diesen Prozeß eingreifenden Akteure nicht von einem Tag auf den anderen auf der politischen Bühne erscheinen, gilt es zunächst, die Vorgeschichte zu berücksichtigen. Dabei sind sowohl vorherige demokratische Erfahrungen als auch die während des autoritären Regimes eingeleiteten Veränderungen zu beachten.
93
RUb (1994: 118) (Hervorhebung im Original).
94
Munck (1994: 370).
"
Karl (1990: 7).
43
Im Falle von Ländern, in denen das autoritäre Regime lediglich eine relativ kurze Unterbrechung einer langen demokratischen Tradition bedeutet hat, kann angenommen werden, daß die neuen Regierenden unmittelbar nach der Machtübernahme auf der Grundlage jener demokratischen Normen und Institutionen agieren werden, die ihnen bekannt und von ihnen akzeptiert sind. Ein Beispiel dafür ist die 1984 erfolgte Wiederherstellung der Demokratie in Uruguay, deren Entwicklung als einer der wenigen lateinamerikanischen Fälle tatsächlich dem Modellschema Liberalisierung-Transition-Konsolidierung entsprach96. Dagegen kann die Herausbildung eines demokratischen Regimes in Ländern, die über keinerlei entsprechende Erfahrungen verfugen, mehrere Generationen in Anspruch nehmen, wie dies auch der lange Prozeß der Herausbildung der okzidentalen Demokratien nahelegt. Zwar kann dieser Prozeß heute durch die bewußte Aneignung der durch andere demokratische Nationen gesammelten Erfahrungen beschleunigt werden, aber trotzdem ist es unwahrscheinlich, daß sowohl die institutionelle Organisation eines demokratischen Regimes und die vollständige Ausarbeitung seiner Regeln als auch ihre bedingungslose Anerkennung durch die relevanten Akteure und die Bevölkerung insgesamt in kurzer Zeit erreicht werden können. Unwahrscheinlich heißt aber nicht unmöglich. Nun sind die meisten lateinamerikanischen Fälle irgendwo zwischen diesen beiden Extrembeispielen angesiedelt. Folgende These könnte also zur Erklärung der unterschiedlichen Situationen beitragen: These 1: Verfügt ein Land nur über geringe demokratische Erfahrungen, so wirkt sich dies negativ auf die Herausbildung eines demokratischen Regimes aus: Die verschiedenen Akteure haben dann Schwierigkeiten, so zu handeln, daß ihr Verhalten eine mit der Demokratie kompatible Anerkennungsregel widerspiegelt. Zweitens hängen die Entwicklungsmöglichkeiten eines neuen Regimes mit der jeweiligen Form des Transitionsprozesses zusammen. In dieser Phase, die von intensiven Auseinandersetzungen zwischen einer Reihe von Akteuren geprägt wird, die jeweils sehr unterschiedliche politische Alternativen durchsetzen wollen, existieren kaum genau definierte Spielregeln des politischen bargaining91. Daher befinden sich alle beteiligten Akteure sowohl hinsichtlich ihrer unmittelbaren Handlungsoptionen als auch hinsichtlich der möglichen mittel- bis langfristigen Auswirkungen ihrer Entscheidungen in einer Situation der Unsicherheit und Unbestimmtheit. O'Donnell und Schmitter haben für solche Situationen die Metapher einer Partie Schach vorgeschlagen, die auf mehreren Brettern gleichzeitig gespielt wird. Die einzelnen Akteure können dabei jeweils untereinander Allianzen eingehen, um ihre Positionen zu schützen. Sie können auch Regeln ausarbeiten, durch die bestimmte Sektoren des Brettes iso-
*
Zu Uruguay siehe Wagner (1991).
"
Vgl. Baloyra( 1987b: 12).
44
liert werden oder durch die das Verhalten der anderen Spieler hinsichtlich dieser Positionen neutralisiert wird98. Wer aber sind nun diese Spieler? O'Donnell und Schmitter unterscheiden zunächst zwischen zwei Blöcken: den Eliten des Regimes und der Opposition. Innerhalb der Regimeeliten kann zwischen Hardlinern (hardliner) und Reformern (liberalizers oder reformers) differenziert werden. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des autoritären Lagers sind entscheidend, denn die oppositionellen Gruppen sind nie in der Lage, allein einen Transitionsprozeß gegenüber einem Regime einzuleiten, das seinen internen Zusammenhalt bewahren kann und zu Repressionsmaßnahmen bereit ist. Bei der Transition handelt es sich somit immer um eine - direkte oder indirekte - Folge grundlegender Spaltung der autoritären Machthaber. Innerhalb der Opposition - die im allgemeinen im Zuge von Mobilisierungs- und Politisierungsprozessen in Erscheinung tritt, die auf die Öffnung oder Liberalisierung des Regimes folgen - kann zwischen "Radikalen" und "Moderaten" unterschieden werden". Die Perzeptionen und Strategien der vier Gruppen sowie die zwischen ihnen gebildeten Allianzen sind ausschlaggebend für den Ablauf sowie für Erfolg oder Scheitern einer Transition. Przeworski, der auf der Grundlage eines im Rahmen der rational c/zo/ce-Theorie angesiedelten Ansatzes ein detailliertes Modell der Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure entworfen hat, gelangt zu der Schlußfolgerung, daß - ausgenommen in Systemen, in denen die Streitkräfte kein autonomer und mit einer einheitlichen Position auftretender Akteur sind - die Auflösung eines autoritären Regimes nur dann möglich ist, wenn es zu einem Verständigungsprozeß zwischen den Reformern innerhalb des ancien régime und den moderaten Oppositionskräften kommt100. Über das Verhalten der Akteure in Fällen, in denen die Transition durch einen Zusammenbruch des autoritären Regimes erfolgt, ist bislang nur wenig nachgedacht worden. Im allgemeinen geht man davon aus, daß die Etablierung eines demokratischen Regimes in solchen Fällen ohne Übereinkünfte zwischen der Opposition und den autoritären Machthabern stattfindet, da letztere jegliche Fähigkeit zur Konditionierung des Übergangsprozesses eingebüßt haben. Przeworski unterstreicht allerdings, daß jede Transition zur Demokratie Verhandlungsprozesse erfordert, sei es zwischen den Repräsentanten des alten Regimes und der Opposition oder nur zwischen den prodemokratischen Kräften. Auch wenn Verhandlungen nicht unbedingt erforderlich sein müssen, damit sich eine Gesellschaft von einem autoritären Regime befreien kann, so sind sie doch immer notwendig, um demokratische Institutionen zu errichten101. Im Hinblick auf mögliche Übereinkünfte zwischen den Akteuren kann grundsätzlich zwischen zwei Typen unterschieden werden: zum einen institu"
Vgl. O'Donnell/Schmitter ( 1988: 105ff.).
"
Vgl. O'Donnell/Schmitter (1988: 79ff.).
100
Vgl. Przeworski (1988: 89ff.), Przeworski (1992: 117-122), Bos (1994: 87ff.), Merkel (1994b: 314ff.).
101
Vgl. Przeworski (1992: 122f.) Damit soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, daß die Etablierung eines demokratischen Regimes nur als Resultat von sogenannten "paktierten Transitionen" im engeren Sinne möglich wäre.
45
tionelle Pakte, die sich ausschließlich auf Spielregeln beziehen, zum anderen substantielle bzw. inhaltliche Pakte, durch die bestimmte konfliktive Themen geregelt und damit a priori dem politischen Wettbewerb entzogen werden. Beide Typen von Übereinkünften tragen zu einer Reduzierung der jeder Übergangssituation eigenen Unsicherheit bei. Während jedoch das Vorhandensein institutioneller Pakte eine notwendige Bedingung für die Etablierung eines demokratischen Regimes ist, trifft dies für die Aushandlung substantieller Übereinkünfte nicht notwendigerweise zu, auch wenn solche Absprachen in bestimmten Fällen angebracht sein können. Es stellt sich die Frage, welche Arten von institutionellen Übereinkünften in einer Situation des Übergangs möglich sind. Folgt man Przeworski, so hängen die Verhandlungsergebnisse davon ab, welches Kräfteverhältnis im Moment der Entscheidung zwischen den Akteuren existiert, und vor allem von deren Kenntnisstand darüber. Wenn das Kräfteverhältnis nicht bekannt ist, werden alle Teilnehmer daran interessiert sein, die fiir den Fall von Niederlagen drohenden Risiken so weit wie möglich zu reduzieren. In solchen Fällen ist es sehr wahrscheinlich, daß im Rahmen des institutionellen Gefuges die Betonung auf Kontrollen und Gegengewichte gelegt wird, so daß auch Verlierer auf bestimmte Garantien zählen und Minderheiten mit einem gewissen Einfluß rechnen dürfen. Wenn das Kräfteverhältnis dagegen bekannt und unausgewogen ist, muß mit der Schaffung von Institutionen gerechnet werden, die den Interessen der stärksten Akteure dienlich sein sollen und die auf eine Aufrechterhaltung - oder sogar eine weitere Akzentuierung - des existierenden Ungleichgewichts abzielen. Wenn schließlich das Kräfteverhältnis bekannt und ausgeglichen ist, sind zwei Entwicklungen möglich. Entweder macht die Unvereinbarkeit der jeweiligen Interessen eine Übereinkunft zwischen den Akteuren unmöglich, oder die Angst vor einer möglichen chaotischen Situation veranlaßt die Akteure dazu, sich schnell auf eine Lösung zu einigen, die für alle Schlimmeres verhütet und somit nicht als eindeutige Begünstigung einer bestimmten Gruppe aufgefaßt wird. In solchen Fällen wäre es am einfachsten, auf verfügbare Modelle zurückzugreifen, die entweder der eigenen historischen Tradition entstammen oder aber einem ausländischen Vorbild entsprechen102. Es fallt allerdings schwer zu glauben, daß das institutionelle Design in konkreten Situationen tatsächlich "irgendeinem" dieser Modelle entspricht, und bislang ist kein Fall bekannt, in dem man auf die zugrundeliegenden Fragen eine Antwort per Los gesucht hätte. Selbst wenn das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Akteuren relativ ausgeglichen ist, können die jeweiligen Präferenzen sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Auch wenn einige Akteure tatsächlich dazu bereit sein mögen, jede Lösung zu akzeptieren, um anarchische Zustände zu verhindern, so ist es kaum wahrscheinlich, daß dies fiir alle Akteure gilt. Entsprechend kann folgende These formuliert werden:
102
46
Vgl. Przeworski (1991: 82ff.).
These 2: In einer Situation des Übergangs mit ausgeglichenem Kräfteverhältnis, in der ein erheblicher Teil der Akteure eine Fortschreibung der Ungewißheit als größtes Übel betrachtet, wird sich diejenige institutionelle Lösung durchsetzen, die von den unnachgiebigsten Kräften verfochten wird. Wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, daß während der Transition substantielle Übereinkünfte zwischen den verschiedenen oppositionellen Akteuren ausgehandelt werden und daß Übereinkünfte zwischen den Eliten des ancien régime und ihren vermeintlichen zivilen Nachfolgern zustande kommen? Im Verlauf des Transitionsprozesses wächst - neben dem Bedürfnis, dem autoritären Regime den entscheidenden Schlag zu versetzen - das Interesse der oppositionellen Kräfte, sich jeweils selbst eine möglichst günstige Ausgangsposition in dem zu erwartenden demokratischen Regime zu sichern. Dies kann zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten innerhalb der Opposition führen. Zudem ist nach Jahren der Unterdrückung mit einer großen Anzahl kontroverser Fragen zu rechnen, für die die verschiedenen Gruppen sehr unterschiedliche Lösungen anstreben. Die genannten Faktoren erschweren die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms aller prodemokratischen Kräfte103. In einer solchen Situation können die autoritären Machthaber versuchen, Diskrepanzen innerhalb der Opposition zu ihren Gunsten auszunutzen, beispielsweise durch Kompromisse mit einer der widerstreitenden oppositionellen Gruppen, die sich wiederum dadurch eine Verbesserung ihrer Stellung erhofft. These 3: Oppositionelle Akteure, die ihre eigene Position als schwach einschätzen, neigen dazu, sich während des Transitionsprozesses auf substantielle Übereinkünfte mit den Eliten des autoritären Systems einzulassen. Auch im Hinblick auf die Post-Transitionsphase unterstreichen einige Autoren die Bedeutung des Verhaltens der Akteure104. Die meisten Analysen konzentrieren sich jedoch auf andere Aspekte, so etwa auf die wirtschaftliche Situation, die Sozialstruktur, die Charakteristika des Institutionensystems, die Probleme der Interessenvermittlung, die Notwendigkeit einer Staatsreform, die Lösung überkommener Probleme, die internationale Situation etc. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Protagonisten des Transitionsprozesses nach der Installierung einer neuen Regierung weder von der politischen Bühne verschwinden, noch daß ihre Handlungen irrelevant für die weitere Entwicklung sind, auch wenn ihr Verhalten und dessen Wirkungen nicht mehr derart offensichtlich sind wie zuvor. Der Amtsantritt einer demokratisch legitimierten Regierung impliziert zwar einen Rollenwechsel, aber nicht notwendigerweise veränderte Identitäten der 103
Vgl. Przeworski (1992: 124), Stepan (1993: 67).
104
So verfahren Morlino (1986: 222ff.), Lechner (1990: 32ff.), O'Donnell (1992b: 20ff.) und Weffort (1993: 147ff.).
47
beteiligten Akteure. Jetzt existiert eine neue Regierung, gegenüber der verschiedene oppositionelle Gruppen agieren, aber diese Rollenverteilung ist nicht etwa als genaue Umkehrung der vorherigen Situation zwischen dominierenden und oppositionellen Eliten zu verstehen. Mehr noch: Akteure, die in Opposition zum autoritären Regime standen und die in der Koalition der Anti-RegimeKräfte mitgearbeitet haben, müssen nicht notwendigerweise demokratische Akteure sein. Denkbar ist sogar eine paradox anmutende Situation, in der lediglich eine Minderheit von wahrhaft demokratischen Akteuren existiert, die sich um die Konsolidierung eines politischen Regimes bemüht, das auf dem Mehrheitsprinzip basiert 105 . Bei einer Analyse des Verhaltens der politischen Akteure nach der Transitionsphase gibt es daher keinen Grund, von vornherein davon auszugehen, daß diese irgendein besonderes Interesse an einer Stabilisierung des demokratischen Regimes hätten. Ebensowenig gibt es Gründe zu glauben, daß die öffentlich geäußerten Zielsetzungen dieser Akteure notwendigerweise ihren wirklichen Zielen entsprechen. Im Gegenteil können die Ziele und Interessen der in der PostTransitionsphase intervenierenden Akteure bestenfalls als Resultat einer konkreten Untersuchung und nicht aufgrund ihrer Prämissen festgestellt werden. Vielmehr ist von einer weitaus neutraleren Prämisse auszugehen, nämlich daß diese Akteure sich an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen mit der schlichten Absicht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen oder zumindest den Triumph gegnerischer Interessen zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, muß ein rationaler politischer Akteur die wichtigsten Bedingungsfaktoren und Beschränkungen berücksichtigen, denen er unterliegt. Dabei können grundsätzlich zwei Typen unterschieden werden: formale Regeln und informelle Restriktionen. Bei den erstgenannten handelt es sich um Institutionen, während letztere Teil der Kultur einer jeden Gesellschaft und im allgemeinen schwieriger zu bestimmen sind. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie deswegen weniger wichtig wären. Soziale und individuelle Verhaltensnormen sowie Regeln, die im Zusammenhang wiederholter Interaktionsprozesse entstehen, können zu einer Stärkung, aber genausogut auch zu einer Schwächung oder sogar zu einer Neutralisierung der formalen Regeln beitragen 106 . Freiwillige Übereinkünfte, die die Akteure während des Transitionsprozesses eingehen, können sowohl formaler als auch informeller Natur sein. Beide Typen funktionieren später als Beschränkungen, die - indem sie die Unsicherheit reduzieren - das Verhalten der Akteure und bis zu einem gewissen Punkt sogar die Ergebnisse des politischen Spiels durchschaubarer machen. Offensichtlich ist es möglich, daß bei einer veränderten Situation ein Pakt nicht mehr respektiert wird. Sich für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden, das einem Vertragsbruch gleichkommt, bleibt stets problematisch - und wenn auch nur wegen möglicher negativer Sanktionen seitens der anderen Beteiligten. In den Fällen, wo während der Transitionsphase - aus welche Gründen auch immer - kaum 105
Vgl. O'Donnell (1992a: 19f.).
106
Vgl. North (1990: 36 ff.).
48
Übereinkünfte erreicht wurden, sind entsprechende Restriktionen auch nicht vorhanden, so daß mit einem größeren Maß an Unsicherheit zu rechnen ist. Angesichts dieser Beobachtungen kann folgende These aufgestellt werden: These 4: Werden während der Transition kaum Übereinkünfte institutioneller oder substantieller Natur getroffen, dann wird die spätere Entwicklung durch ein Spiel von trial and error zwischen den wichtigsten beteiligten Akteuren bestimmt. Die bisherigen Ausfuhrungen bezogen sich sowohl auf die Regierung als auch auf die verschiedenen oppositionellen Gruppen. Aber auch wenn das Verhalten der Opposition zweifellos überaus wichtig für die Entwicklung des neuen Regimes ist, so kann ihre Handlungskapazität nicht mit der der Regierung gleichgesetzt werden. Unter bestimmten Umständen ist es möglich, daß oppositionelle Parteien ihren Willen zumindest punktuell im Rahmen parlamentarischer Abstimmungen durchsetzen können. Aber da die Regierung im Zentrum der Staatsmacht steht, bleibt die Opposition auf dieser Ebene auf Einflußnahme beschränkt107. Über welche Mittel verfügt sie überhaupt, um entsprechende Versuche zu unternehmen? Zunächst einmal bedeutet ihre bloße Existenz in einem Regime, das sich vom Autoritarismus distanzieren will, bereits eine Form der Einflußnahme. Im allgemeinen wird die Palette der verfügbaren Ressourcen entsprechend der jeweiligen Konstellation und der beteiligten Akteure variieren, ohne daß irgendein denkbares Mittel a priori ausgeschlossen werden könnte: Sowohl der einfache verbale Protest und Verhandlungen als auch der Einsatz von Gewalt und Druck sind Ressourcen, mittels derer Einfluß auf eine Regierung ausgeübt werden kann. Ruth Zimmerling, die sich ausführlich mit dem Einflußkonzept auseinandergesetzt hat, unterscheidet zwischen zwei grundlegenden Formen: Einfluß auf Fakten und Einfluß auf Präferenzen. Beide Dimensionen sind eng miteinander verbunden: Die Kenntnis von Fakten kann Auswirkungen auf die Präferenzen eines Akteurs haben, und Präferenzen können zur Veränderung von faktischen Gegebenheiten fuhren. Im ersten Fall kann Einfluß durch die Anpassung eines Verfahrens an die herrschenden Bedingungen oder durch die Anpassung der herrschenden Bedingungen an die Anforderungen eines bestimmten Verfahrens ausgeübt werden. Einfluß auf Präferenzen ist dagegen vorhanden, wenn ein Akteur in einer gegebenen Situation eine Entscheidung trifft, die er in der gleichen Situation ohne den von einem anderen Akteur ausgehenden Impuls nicht getroffen hätte. Gleich ob es sich um Einfluß auf Fakten oder auf Präferenzen handelt, in beiden Fällen kann die Einflußnahme beabsichtigt oder unbeabsichtigt sein, sie kann durch eine Handlung oder durch eine Unterlassung erfolgen und sie kann positive und negative Auswirkungen haben. Ob bei einer bestimmten Situation unbeabsichtigte Einflußnahme vorliegt oder nicht, hängt vor allem davon ab, wie der angeblich beeinflußte Akteur seine eigene Situation und seine 107
Vgl. Steffani( 1991b: 22).
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Beziehung mit dem beeinflussenden Akteur einschätzt. In diesem Zusammenhang spielen die wechselseitigen Perzeptionen sowie die Spekulationen über mögliche Handlungsoptionen der übrigen Akteure eine zentrale Rolle 108 . Alle diese Überlegungen über unterschiedliche Formen von Einfluß spielen für die Analyse der Strategien, die von der Opposition angewandt werden, eine Rolle. Um die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs oder Scheiterns der verschiedenen möglichen Strategien einschätzen zu können, müssen die oppositionellen Gruppen in ihrer Eigenschaft als rationale Akteure nicht nur ihre Präferenzen beachten, sondern auch die formalen und informellen Beschränkungen, denen sie unterliegen, sowie ihre Möglichkeiten, sie zu verändern. Denn auch wenn die jeweiligen Interessen und Gelegenheiten das Verhalten der Akteure beeinflussen, so können ihre Handlungen sowohl zu beabsichtigten als auch zu unbeabsichtigten Ergebnissen führen, die die - eigenen und fremden - zukünftigen Möglichkeiten positiv oder negativ verändern. Auf jeden Fall können sich die Protagonisten auch verkalkulieren, egal wie rational sie ihre Entscheidungen treffen. Ein rationaler Akteur kann lediglich diejenige Strategie auswählen, die er für die beste "hält": Irren ist menschlich und kann sogar rational sein, wenn die zur Verfügung stehende Information falsch oder unvollständig ist und in eine falsche Richtung deutet 109 . Für alle diese Kalkulationen werden die Akteure unter anderem die jeweils aktuelle Situation und ihre eigene Position innerhalb einer bestimmten Konstellation überprüfen. Sie werden aber auch ihre früheren Erfahrungen berücksichtigen. Hinsichtlich dieser beiden Punkte können folgende Thesen formuliert werden: These 5: Die oppositionellen Akteure werden versuchen, die Konfliktaustragung auf diejenige Arena zu verlagern, in der sie ihre Einflußmöglichkeiten am größten einschätzen. These 6: Akteure neigen dazu, solange auf die Strategien zurückzugreifen, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, bis sie wahrnehmen, daß die Kosten-Nutzen-Relation sich grundlegend verändert hat. Nun ist allerdings darauf hinzuweisen, daß strenggenommen nur Individuen über Interessen verfugen und handeln können. Kollektive Akteure sind nicht etwa Einheiten, die dazu in der Lage wären, Entscheidungen in monolithischer Form zu treffen und auszufuhren, sondern lediglich Ansammlungen von Individuen, die untereinander sowie mit Personen, die nicht der fraglichen Gruppe angehören, interagieren. Wenn es sich nicht um eine totalitäre Körperschaft handelt, wird das "gemeinsame Interesse" lediglich in solchen Fällen sichtbar, in denen die Gruppe es einstimmig definieren kann. Solche Fälle sind jedoch seltene Ausnahmen, und oft kann selbst die Anwendung der Mehrheitsregel die 108
Vgl. Zimmerling (1991: 159ff.; 201ff ).
109
Vgl. Frey (1989: 7 0 f f . ) , 0 p p ( 1989: 105), Elster(1989b: 25; 91ff.).
50
innerhalb von Gruppen existierenden Widersprüche nicht in zufriedenstellender Form lösen110. Wenn man die Prämisse akzeptiert, daß Individuen gemäß ihrer eigenen Interessen handeln, muß man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß diejenigen, die sich zur Mitarbeit in einer politischen oder sozialen Organisation entscheiden und in deren Führungsgremien tätig sind, dies tun, weil sie davon ausgehen, daß sie damit über ein gutes Mittel verfugen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Gleichzeitig impliziert die Mitgliedschaft in einer Organisation jedoch immer auch die Akzeptanz bestimmter Normen und interner Entscheidungsmechanismen, die Übernahme von Rollen sowie eine gewisse persönliche Identifikation. All dies sind Elemente, die die Handlungsspielräume der Mitglieder einer Organisation einschränken und somit als interne Restriktionsmechanismen wirken. So kann die Existenz gravierender Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedern einer Organisation bis zu einem gewissen Punkt dadurch ausgeglichen werden, daß umstrittene Entscheidungen einer von allen als legitim anerkannten Autorität unterworfen, Resultate von als verbindlich betrachteten Wahlen anerkannt und disziplinarische Normen, die zentrifugalen Tendenzen entgegenwirken sollen, als gültig betrachtet werden. Letztendlich bleibt die Umsetzung getroffener Entscheidungen jedoch in den Händen von Individuen, die ihrerseits durchaus entgegengesetzte Interessen aufweisen können. Im Fall von politischen Akteuren ist es beispielsweise offensichtlich, daß alle Spitzenfunktionäre ein besonderes Interesse daran haben, ihre führende Position sowohl innerhalb der eigenen Organisation als auch im Hinblick auf die Interaktionsräume mit anderen Organisationen aufrechtzuerhalten, weshalb sie zur ständigen Teilnahme an zwei simultan ablaufenden strategischen Spielen gezwungen sind: einerseits in jener Arena des allgemeinen Willensbildungsprozesses, in der die Eliten der verschiedenen Parteien interagieren, andererseits in der innerparteilichen Arena, wo sich die diversen Sub-Eliten gegenüberstehen 1 ". Um das Verhalten eines kollektiven Akteurs zu verstehen, ist es daher notwendig, dessen Binnenstrukturen, die Handlungsmöglichkeiten seiner Mitglieder sowie die zwischen diesen existierenden Kräfteverhältnisse zu untersuchen. Aufgrund dieser Feststellung kann folgende These formuliert werden: These 7: Ein kollektiver Akteur, dessen interne Restriktionsmechanismen geringe Wirksamkeit zeigen, wird sich als Opposition nicht erfolgreich behaupten können. Erfolg kann allerdings nur in Hinblick auf die Ziele der jeweiligen konkreten Akteure gemessen werden, welche nicht a priori zu bestimmen sind. Es ist lediglich zu vermuten, daß jede Opposition daran Interesse haben muß, entweder die Regierung zu ersetzen oder zumindest Einfluß auf ihre Entscheidungen aus-
Vgl. Elster (1989b: I54ff ), '"
Vgl. Czudnowski (1991:214f.).
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zuüben, so daß diese den Präferenzen der Opposition so weit wie möglich entsprechen. Wenn ihr dies gelingt, kann sie prima facie als erfolgreich gelten. In der Post-Transitionsphase spielen die wechselseitigen Beziehungen zwischen Regierung und Opposition eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Effizienz des neuen Regimes. Unter Effizienz soll im Rahmen dieser Arbeit im Anschluß an Linz die Fähigkeit eines Regimes verstanden werden, Lösungen für die grundlegenden Probleme zu finden. Die Kategorie entspricht der Ebene des decision-making und kann auf der Grundlage der konkreten Outputs des politischen Systems gemessen werden. In diesem Sinne unterscheidet sich das Konzept der Effizienz von dem der Effektivität, das sich auf die Fähigkeit bezieht, beschlossene Maßnahmen tatsächlich zu implementieren und die gewünschten Ergebnisse zu erzielen112. Um die Effizienz von Regimen zu beurteilen, wird in der Regel untersucht, welche Prioritäten eine Regierung setzt und welche Aufmerksamkeit sie verschiedenen Fragen zuwendet. Vernachlässigt wird dabei oft die Tatsache, daß das Verhalten der Opposition in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen kann. Beispielsweise hängt in einem präsidentialistischen System, in dem die Kräfteverhältnisse innerhalb des Parlaments ungünstig für die Exekutive sind, die Verabschiedung von Gesetzesinitiativen der Regierung davon ab, ob die Opposition dazu bereit ist, sich auf inhaltliche Übereinkünfte mit der Regierung einzulassen. Bevor es dazu kommt, müssen die Akteure sich allerdings zunächst einmal selbst über ihre jeweiligen Interessen und Präferenzen klarwerden. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der sich weitaus komplizierter darstellen kann, als gewöhnlich angenommen wird. Hieraus ergibt sich eine weitere These: These 8: Ein kollektiver oppositioneller Akteur, dessen einzelne Mitglieder divergierende Interessen vertreten, wird nicht dazu fähig sein, Übereinkünfte mit der Regierung zu treffen.
1.5 Stand der Forschung und methodische Herangehensweise Bereits zu Beginn der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß das Hauptinteresse dieser Arbeit der Rolle gilt, die die peronistische Opposition während des 1983 in Argentinien begonnenen Regimewechselprozesses und der darauffolgenden Phase gespielt hat. Die formulierten Thesen dienen in diesem Kontext als Erklärungsvorschläge, deren Plausibilität im weiteren Verlauf der Arbeit überprüft werden soll. "Erklärung" versteht sich hier im Sinne der Identifizierung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die ein Phänomen jeweils möglich und notwendig machen. Dabei geht es nicht um eine mechanische Relation zwischen Ursache und Wirkung, die sich auf ähnliche Phänomene 112
52
Vgl. Linz (1991: 46ff.).
ohne weiteres generalisieren läßt, sondern um eine quasi-kausale historische Erklärung, die auf der Verknüpfung von mehreren praktischen Syllogismen basiert. Damit ist eine Argumentationsform gemeint, deren Obersatz irgendeinen Wunschgegenstand oder ein Handlungsziel erwähnt, während deren Untersatz eine bestimmte Handlung quasi als Mittel zum Zweck mit dem erwünschten Gegenstand oder Ziel in Verbindung setzt. Die Conclusio besteht schließlich in der Verwendung dieses Mittels zur Erreichung jenes Zwecks" 3 . In diesem Sinne geht es in dieser Arbeit u.a. um das Ausleuchten des Handlungshintergrunds der beteiligten Akteure und ihre Motivationen, die zum Verständnis der von ihnen getroffenen Entscheidungen und unternommenen Handlungen unabdingbar sind, sowie um die Feststellung von den durch diese Handlungen ausgelösten SituationsVeränderungen, die wiederum Wirkungen auf den Handlungshintergrund haben. Die Darlegung folgt einer Gliederung, die aus der Kombination einer chronologischen (Vorgeschichte/Transition/Post-Transitionsphase) und einer thematischen Achse (interne Organisation/Strategien/Interessen und Ziele der peronistischen Opposition) besteht. Anders als zunächst vermutet werden könnte, stellt eine solche Gliederung keine "natürliche Ordnung der Dinge" dar, vielmehr entspricht sie der analytischen Absicht, die eingangs formulierten Thesen zu überprüfen, von denen einige bestimmte Korrelationen zwischen den verschiedenen chronologischen Phasen postulieren, während andere sich auf den Zusammenhang zwischen der internen Beschaffenheit der Opposition und ihrem Verhalten sowie zwischen diesem und der allgemeinen politischen Entwicklung beziehen. Da die Überprüfung der Thesen eine Reihe von Analyseschritten erfordert und die Thesen bzw. Teilkomponenten von ihnen in verschiedenen Kapiteln angesprochen werden, wird im Laufe der Exposition auf Querverweise und Zwischenbilanzen Wert gelegt. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit präsentierten Daten und Informationen basieren auf der Auswertung unterschiedlicher Materialien. Zunächst erfolgte eine Durchsicht der Sekundärliteratur (Monographien, Artikel, papers), die in Argentinien erschienen ist, sowie der Beiträge ausländischer Forscher, unter denen die englisch- und deutschsprachigen besonders hervorzuheben sind. Auf den ersten Blick könnte sich aus der Lektüre dieser Materialien der Eindruck ergeben, daß der in Argentinien erfolgte Regimewechselprozeß bereits ausreichend erforscht wurde. Tatsächlich liegen eine ganze Reihe von Arbeiten zum letzten autoritären Regime" 4 und zum Transitionsprozeß115, der dieser Diktatur ein Ende setzte, vor. Auch zur ersten Phase der UCR-Regierung unter Präsident Alfonsin existiert eine Fülle politischer und politikwissenschaftlicher Literatur" 6 . Im Hinblick auf diese Etappe interessierten sich die Forscher vor 113
Vgl. Von Wright (1991: 33ff.; 123ff.).
1.4
Vgl. Waldmann/Garzón Valdés (1983), Schvarzer (1983; 1986), Abós (1984), Vázquez (1985), Mignone (1986), Castiglione (1992), Quiroga (1994).
1.5
Vgl. Haffa (1984), Cavarozzi/Sábato (1984), Fontana (1984), Oszlak et al. (1984), Landi (1985). Vgl. Garzón Valdés/Mols/Spitta (1988), Nun/Portantiero (1987), Peralta Ramos/Waisman (1987), Fundación Rafael Campalans (1989), Birle (1991), Epstein (1992a).
53
allem für zwei Typen von Fragen: Zum einen erfolgte ein ausführliches und oft sehr normativ geprägtes Nachdenken über die historische und gegenwärtige Rolle der politischen Parteien117 und der Institutionen des demokratischen Systems118, zum anderen analysierte man die konkreten Outputs des neuen Regimes in verschiedenen Politikbereichen, insbesondere die Wirtschaftspolitik119 und die Politik gegenüber den Streitkräften120. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Regierung und Opposition in dieser Phase konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf das Agieren der Gewerkschaften121. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzufuhren, daß die Tag für Tag publizierten diesbezüglichen Meldungen der argentinischen Medien ganz und gar nicht den Erwartungen jener Forscher entsprachen, die mit einer zentralen Rolle der politischen Parteien rechneten. Weitaus geringer fiel das Interesse für die Justizialistische Partei (PJ) aus, und die wenigen überhaupt veröffentlichten Überlegungen waren eher programmatischer als analytischer Natur122. Daher liegt praktisch keine Studie über die Funktionsweise des PJ vor, die über journalistische Anekdoten hinausreichen würde. Über das oppositionelle Verhalten der justizialistischen Gouverneure ist so gut wie nichts geschrieben worden, und auch das Verhalten der peronistischen Opposition innerhalb des Parlaments wurde kaum untersucht123. Ebensowenig existiert eine Studie, die den Versuch unternommen hätte, die genannten Faktoren in einem systematischen Zusammenhang zu betrachten und - aus einer allgemeineren Perspektive - die Rolle der Opposition im argentinischen Demokratisierungsprozeß zu untersuchen. Für die vorliegende Arbeit mußte daher neben der Sekundärliteratur auf weiteres Material zurückgegriffen werden. Eine Analyse des öffentlichen Agierens des Justizialismus im Untersuchungszeitraum war nur auf der Grundlage einer systematischen Auswertung der argentinischen Presse möglich. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die Wochenzeitung "El Periodista de Buenos Aires" sowie auf "El Bimestre Político y Económico" hinzuweisen. Die Einstellung des wegen seiner anspruchsvollen Analysen angesehenen "El Periodista" im Jahr 1988 hinterließ eine Lücke, die bisher kein anderes argentinisches Medium schließen konnte. "El Bimestre", veröffentlicht vom Centro de Investigaciones Sociales sobre el Estado y la Administración (CISEA), bietet eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse, wie sie von den bedeutendsten argentinischen Tageszeitungen und einigen Wochenzeitungen präsentiert wur117
1,8
Vgl. Sidicaro (1984), De Riz (1986a), Mainwaring (1988), Birle (1989), Cavarozzi (1989), Jackisch (1990). Vgl. Smulovitz (1988), De Riz/Smulovitz (1990), Muzzopappa/Smulovitz/Wainfeld (1989), Nohlen/De Riz (1991).
119
Vgl. Acufla (1995), Bodemer (1988; 1991), Ehrke (1988), Schvarzer (1990), Birle (1995:228ff.)
120
Vgl. Nino (1988), Garzón Valdés (1988b), Druetta (1990), Fontana (1990), López (1987; 1988; 1994).
121
Vgl. Bomer/Mármora (1985), Palomino (1985a), CEPNA (1987), Beliz (1988), Lamadrid (1988), Gaudio/Thompson (1990), Godio (1991), Villanueva (1994), Grewe (1994).
122
Vgl. Chumbita (1989a; 1989b) sowie zahlreiche von der Zeitschrift "Unidos" seit 1983 veröffentlichte Beitrüge.
123
Ausnahmen bilden die verdienstvollen Arbeiten von Goretti/Mustapic (1993) und De Riz (1994).
54
den. Die systematische Kennzeichnung der einzelnen Meldungen nach dem Medium, in dem sie zuerst veröffentlicht wurden, erlaubt einen direkten Zugriff auf die von einem breiten Spektrum von Publikationen gelieferten Informationen. Die vorliegende Untersuchung stützt sich außerdem auf eine Reihe von Dokumenten, die nur zum Teil der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Es handelt sich um Reden, öffentliche und manchmal auch nicht ganz so öffentliche Deklarationen der peronistischen Führungsriege, um Programme, Berichte, Statuten, Organigramme und "interne Dokumente" der Justizialistischen Partei, der peronistischen Gewerkschaftsorganisationen und vor allem der Confederación General del Trabajo (CGT). Besonders hilfreich war die Einsichtnahme in Parlamentsprotokolle. Sie erwiesen sich als unverzichtbare Informationsquelle hinsichtlich des Verhaltens der justizialistischen Opposition in beiden Kammern des Kongresses124. Etwa in der Mitte zwischen Sekundärliteratur und Primärquelle sind einige Texte anzusiedeln, die aus der Feder von Wissenschaftlern stammen, die dem Justizialismus nahestehen. Sie liefern nicht nur interessante Informationen über die jeweils behandelten Fragen, sondern geben gleichzeitig Aufschluß über die ideologische Entwicklung ihrer Verfasser. Die meisten diesbezüglichen Artikel sind in der "Revista Unidos" erschienen, einem Diskussions- und Analyseforum, das in vielen Fällen über die Grenzen des Justizialismus hinausreichte. Schließlich lieferte eine Reihe von 1992 in Buenos Aires durchgeführten offenen Interviews mit verschiedenen Mitgliedern der politischen und gewerkschaftlichen Führungsriege des Justizialismus, mit Intellektuellen, die an der Programmdiskussion des Peronismus beteiligt waren, sowie mit einigen UCRPolitikern unschätzbare Zeugnisse hinsichtlich der subjektiven Perzeptionen, die dem politischen Verhalten der verschiedenen Akteure zugrunde lagen. Die Materialsammlung - ein ohnehin nie ganz einfaches Unterfangen bei Studien wie der vorliegenden - erwies sich vor allem deshalb als ausgesprochen schwierig, weil die argentinischen Archive und Bibliotheken sich oftmals in einem beklagenswerten Zustand befinden. Dies gilt insbesondere für entsprechende Einrichtungen des Peronismus, der in allen seinen Varianten solchen "formalen" Aspekten eine nahezu unglaubliche "Unaufmerksamkeit" entgegenbringt. So existiert tatsächlich keine Instanz, die sich um eine Katalogisierung oder wenigstens um eine Sammlung der verschiedenen Programme und Statuten der Organisation kümmern würde. Das dem Peronismus nahestehende Centro Cultural Congreso, das sich eigentlich um solche Aufgaben kümmern sollte, verwahrt mit großer Sorgfalt einige der alten offiziellen Publikationen, die noch von Perón selbst abgezeichnet wurden. Aber auf eine Nachfrage hinsichtlich des in den 80er Jahren gültigen Parteistatuts schafften es die Verantwortlichen Sowohl der "Diario de Sesiones de la Cámara de Diputados" (D.F.C.D.) als auch der "Diario de Sesiones de la Cámara de Senadores" (D.F.C.F.) tragen als Publikationsdatum das jeweilige Legislativjahr, das im Monat Mai beginnt, und nicht das Kalenderjahr. Daraus ergibt sich, daß beispielsweise der Bericht über eine im März 1986 durchgeführte außerplanmäßige Parlamentssitzung mit dem Datum des Jahres 1985 zitiert wird.
55
des Büros gerade einmal, eine Hochglanzkopie des ersten Programms der Peronistischen Partei und des Organigramms der 50er Jahre zur Verfügung zu stellen. Vielfach war es erst nach langwierigen Recherchen möglich, die mühsam zusammengetragenen Dokumente zeitlich einzuordnen, denn viele von ihnen waren weder mit einem Datum noch mit dem Namen des Verfassers versehen. Diese Arbeit erwies sich jedoch als ungemein wichtig, denn angesichts des schwindelerregenden Tempos, mit dem sich die politische Landschaft Argentiniens damals veränderte, konnte bestimmten Deklarationen oder Verhaltensweisen eine völlig andere Bedeutung zukommen, je nachdem ob sie einige Monate früher oder später gemacht bzw. an den Tag gelegt worden waren. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung hat man einigen in Lateinamerika entstandenen politikwissenschaftlichen Arbeiten einen naiven Historizismus vorgeworfen, weil sie sich unkritisch auf Presseinformationen und politische Dokumente stützen, die ganz unvermeidbar oft nur partielle Ansichten und unvollständige Informationen liefern 125 . Um diesen Fehler zu vermeiden, mußten die im Rahmen dieser Arbeit benutzten Materialien einer kritischen Revision unterzogen werden. Dabei ging es zum einen um eine Überprüfung der Authentizität, zum anderen um die Wahrhaftigkeit, wozu die alte Methode der Gegenüberstellung angewandt wurde. Da der wechselseitigen Wahrnehmung von Regierung und Opposition eine wichtige Rolle in der vorliegenden Untersuchung zukommt, sind nicht nur die tatsächlichen Handlungen der Akteure von Bedeutung, sondern auch, was sie zu tun vorgaben oder zu tun glaubten. Dies zwingt zu einer sorgfaltigen Überprüfung der Selbst- und Fremdeinschätzungen der politischen Akteure sowie der politisch engagierten Autoren, wobei beide Ebenen deutlich auseinanderzuhalten sind. Der Zeitaufwand und gelegentlich auch der Überdruß, den die geschilderten Verfahrensweisen verursachten, wurden gewissermaßen dadurch belohnt, daß nur so einige Schlußfolgerungen möglich waren, die sich von Analysen, die auf unkritisch übernommenen Selbstzeugnissen der politischen Protagonisten basieren, grundlegend unterscheiden.
125
56
Vgl. dos Santos( 1989).
2. Die historischen Legate "Wollte man versuchen, die Art und das Ausmaß der Macht der Exekutive in diesen Ländern zu bestimmen, so wäre dies nicht nur schwierig, sondern unmöglich. An einem Tag stellt Ihr fest, daß der Gouverneur auf eigene Verantwortung einen Mann standrechtlich erschießen läßt, und am nächsten Tag, daß er den Kongreß um Erlaubnis bittet, eine Messe abzuhalten oder das Gehalt eines Schreibers der Regierungsbüros zu erhöhen. Wenige Tage später löst er vielleicht den Kongreß auf." (Robertson/Robertson: Cartas sobre el Paraguay1, 1838)
Diese Beobachtung, die in den ersten Jahren des unabhängigen Argentinien gemacht wurde, sollte über lange Zeit Gültigkeit behalten. Einige ihrer Elemente tauchten sogar noch bis vor wenigen Jahren immer wieder auf. Darüber hinaus zeichnet sich der politische Prozeß in Argentinien in diesem Jahrhundert durch eine wiederholte Tendenz zur allgemeinen Anomie und Ungesetzlichkeit aus. Darunter soll hier die Mißachtung der rechtlichen, moralischen und sozialen Normen verstanden werden, und zwar sowohl durch die Gesellschaft im allgemeinen als auch durch die Machtgruppen einschließlich der jeweiligen Regierungen2. Bis in neuere Zeit sprachen sich die Kräfte, die im politischen Leben Argentiniens aufeinandertrafen, gegenseitig jegliche Legitimität ab; sie stimmten nicht einmal in der Definition der Kriterien überein, aufgrund derer Legitimität bestimmt werden sollte3. Um zu überprüfen, ob Argentinien das Beispiel eines Landes mit nur geringer demokratischer Erfahrung - wie in These 1 behauptet - darstellt, ist es notwendig einen Blick auf seine politische Geschichte zu werfen. Dementsprechend werden in den folgenden Abschnitten die wesentlichen Merkmale der politischen Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert herausgearbeitet, wobei nicht nur die institutionelle Entwicklung, sondern vor allem die Beziehungen zwischen den wichtigsten soziopolitischen Machtgruppen und das diesen Be'
Trotz des Titels beziehen sich die Beobachtungen der Gebrüder Robertson auf die La Plata-Länder allgemein und insbesondere auf die Regierung in Buenos Aires.
2
Vgl. N i n o ( 1992a: 24).
3
Vgl. Halperin Donghi (1994: 11 f.).
57
Ziehungen zugrunde liegende Muster analysiert werden. Im Anschluß daran wird auf die Hinterlassenschaften des letzten autoritären Regimes eingegangen, nicht lediglich der chronologischen Vollständigkeit zuliebe, sondern weil die Argumentationslogik der Untersuchung diesen Schritt erforderlich macht. Dabei geht es um die Identifizierung der während der militärischen Herrschaft getroffenen Entscheidungen, die sich später auf die Rahmenbedingungen der Transition und der Post-Transition auswirken sollten.
2.1 Wesentliche Merkmale der politischen Tradition Argentiniens Das Hauptmerkmal, das jedem Beobachter der politischen Entwicklung Argentiniens während des 20. Jahrhunderts ins Auge fallt, ist die Instabilität: "Vom 6. September 1930 bis zum 10. Dezember 1983 hatte Argentinien vierundzwanzig Präsidenten - einschließlich des nur kurz amtierenden General Rawson und des Übergangspräsidenten Lastiri von denen sechzehn Generäle waren. In diesem Zeitraum fanden sechs erfolgreiche Staatsstreiche der Streitkräfte gegen gewählte Regierungen statt (...). Die fehlgeschlagenen Putschversuche sowie die ultimativen Forderungen des Militärs sind in Zehnern, wenn nicht Hunderten zu zählen"4.
Tatsächlich kennt die politische Geschichte dieses Jahrhunderts fast keinen friedlichen Wechsel zwischen den jeweiligen Regierungsparteien und der Opposition. Vor 1983 hatte sich nur ein einziger demokratischer Übergang zwischen der Regierung und der Opposition ergeben, nämlich als Hipölito Yrigoyen 1916 zum ersten Mal die Präsidentschaft übernahm 5 . Alle übrigen Präsidentschaftsnachfolgen, die zwischen diesem Jahr und den achtziger Jahren stattfanden, waren entweder das Ergebnis von Wahlfälschung, einem Putsch, einem auf Verhandlungen zwischen Streitkräften und Zivilisten basierenden Ausweg aus einem autoritären Regime, oder sie bestanden in einem bloßen Austausch von Personen und nicht in einem Wechsel zwischen Parteien 6 .
4
Sábato/Schvarzer (1985: 175). General Arturo Rawson war zwar der Führer des Militärputsches gegen Präsident Ramón Castillo und somit der neue starke Mann fllr eine kurze Zeit. Aufgrund des Widerstands anderer Mitglieder der Streitkräfte schaffte er es jedoch nicht, eine neue Regierung offiziell zu etablieren, weshalb sein Name im Schaubild 2 nicht aufgenommen wurde.
5
Streng genommen ergab sich bei diesem Anlaß nicht nur ein Regierungswechsel, sondern auch ein Regimewechsel, da Yrigoyen der erste Präsident war, der dieses Amt durch freie Wahlen erlangte.
6
1922 folgte Marcelo T. Alvear seinem radikalen Parteigenossen Hipólito Yrigoyen, und sechs Jahre später löste jener ersteren erneut ab. 1973 ersetzte Juan D. Perón den Justizialisten Héctor Cámpora, ein Jahr später erlangte die bisherige Vizepräsidentin Maria Estela Martínez de Perón die Präsidentschaft infolge des Todes ihres Ehemanns.
58
Schaubild 2: Argentinische Präsidenten im 20. Jahrhundert Amtszeit
Ñame
1898-1904 1904-1906 1906-1910
Julio A. Roca Manuel Quintana José Figueroa Alcorta
1910-1914 1914-1916
Roque Sáenz Peña Victorino de la Plaza
1916-1922 1922-1928 1928-1930 1930-1932 1932-1938
Hipólito Yrigoyen Marcelo T. de Alvear Hipólito Yrigoyen José F. Uriburu Agustín P. Justo
1938-1942 1942-1943
Roberto Ortiz Ramón S. Castillo
1943-1944 1944-1946 1946-1952 1952-1955 1955 1955-1958 1958-1962 1962-1963 1963-1966 1966-1970 1970-1971 1971-1973 1973 1973
Pedro P. Ramírez Edelmiro Farrell Juan D. Perón Juan D. Perón Eduardo Leonardi Pedro E. Aramburu Arturo Frondizi José M. Guido Arturo H. Illia Juan C. Onganía Roberto M. Levingston Alejandro A. Lannusse Héctor Cámpora Raúl Lastiri
1973-1974 1974-1976
Juan D. Perón María E. M. de Perón
1977-1981 1981
Jorge R. Videla Roberto Viola
1981-1982 1982-1983 1983-1989 1989-1995 1995- ?
Leopoldo Galtieri Reynaldo Bignone Raúl Alfonsín Carlos Menem Carlos Menem
Emennungsmodalität Wahlbetrug Wahlbetrug Rechtmäßige Nachfolge nach dem Tod des Präsidenten Wahlbetrug Rechtmäßige Nachfolge nach dem Tod des Präsidenten Freie Wahlen (für Männer) Freie Wahlen (für Männer) Freie Wahlen (für Männer) Staatsstreich Wahlen ohne Beteiligung der UCR, deren Kandidaten verfolgt wurden Wahlbetrug Rechtmäßige Nachfolge nach dem Tod des Präsidenten Palastputsch der Streitkräfte Palastputsch der Streitkräfte Freie Wahlen (für Männer) Freie Wahlen Staatsstreich Palastputsch der Streitkräfte Wahlen mit Proskription Staatsstreich Wahlen mit Proskription Staatsstreich Palastputsch der Streitkräfte Palastputsch der Streitkräfte Freie Wahlen Rechtmäßige Nachfolge nach dem Rücktritt der Regierung Cämpora Freie Wahlen Rechtmäßige Nachfolge nach dem Tod des Präsidenten Staatsstreich Ernannt nach einem von der Militärjunta beschlossenen Verfahren Palastputsch der Streitkräfte Palastputsch der Armee Freie Wahlen Freie Wahlen Freie Wahlen
Quelle: eigene Zusammenstellung
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Zivil- und Militärregierungen, oligarchische und populistische, legitime und durch Wahlfälschung an die Macht gekommene Regierungen - sie alle hatten große Schwierigkeiten, sich an der Macht zu halten. Deren Gemeinsamkeiten reichen allerdings noch weiter: Auf die eine oder andere Weise setzten alle das Prinzip der Ausgrenzung ein; einige waren durch die jeweiligen Umstände mehr oder weniger dazu gezwungen, andere taten es freiwillig. Dieselben Akteure, die, als sie die Macht besaßen, die Rechte der Opposition nicht anerkannten, nahmen unter anderen Bedingungen eben diese Rechte mit Gewalt für sich in Anspruch. Instabilität und Ausgrenzung waren die zwei Seiten einer Entwicklung, die fast das ganze 20. Jahrhundert umfaßte und deren Wurzeln bis zur Staats- und Nationenbildung Argentiniens im 19. Jahrhundert zurückreichen. Nach langen Jahrzehnten andauernder Bürgerkriege konnte sich die in der Verfassung von 1853 verankerte politische Formel erst während der sogenannten "Konservativen Ordnung" (1880-1916) stabilisieren. Die herrschende Klasse übte in diesen Jahren eine eiserne Dominanz über sämtliche Bereiche des politischen Lebens aus. Durch institutionelle Mechanismen sicherte sie sich die Kontrolle über die Präsidentschaftsnachfolge, über den Senat, der vom Willen der Provinzgouverneure abhängig war, und über die Provinzregierungen, deren Kompetenzen durch die Interventionen der Zentralregierung stark eingegrenzt wurden. Die Wahlentscheidungen der Bürger wurden manipuliert, die Wahlresultate nicht selten gefälscht7. Die Integration in den Weltmarkt sowie die massive Einwanderung verwandelten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die soziale und wirtschaftliche Struktur des Landes mit atemberaubender Geschwindigkeit8. Dieser rasche Wachstumsprozeß und die ihn begleitende sozioökonomische Modernisierung sollten bald den Mangel an Repräsentativität einer oligarchischen Klasse offenbaren, die systematisch jede Opposition durch Betrug vom politischen Geschäft ausschloß. Diese erste Repräsentationskrise des politischen Systems schien überwunden, als es im Jahr 1912 der fortschrittlichen Fraktion der Elite gelang, eine Wahlreform durchzuführen, die als Ley Sáenz Peña (1912) bekannt geworden ist. Die Öffhungsbestrebung zielte auf eine Stärkung der Machtbasis der Bourgeoisie in einem Moment, in dem Sozialisten und Anarchisten nicht nur das politische System, sondern auch die kapitalistische Ordnung an sich in Frage stellten. Der Weg zur Beilegung der Legitimitätskrise bestand in den Augen der Initiatoren der Ley Sáenz Peña darin, die durch die Unión Cívica Radical (UCR) gestellte Opposition als Juniorpartner in das System zu integrieren. Diese Partei war bis dahin nur den Weg der Wahlenthaltung und der (versuchten) Revolution gegangen, mit dieser Strategie jedoch wiederholt gescheitert. Aber die Auswirkungen der Ley Sáenz Peña übertrafen die Erwartungen bei weitem: Die ersten nationalen Wahlen, die 1916 auf der Grundlage eines allgemeinen
7
Vgl. Botana (1986).
8
Vgl. Gallo/Cortés Conde (1972; 1973).
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Wahlrechts für Männer bei gleichzeitiger Wahlpflicht abgehalten wurden 9 , brachten Hipólito Yrigoyen, den fast mythischen Führer der radikalen Partei, ins Präsidentenamt. Dieser Rückschlag war eine unangenehme Überraschung für eine politische Klasse, die es gewohnt war, die Angelegenheiten des Staates als ausschließlich ihr Ressort anzusehen, und die nicht wahrhaben wollte, daß die rasante sozioökonomische Modernisierung des Landes früher oder später politische Veränderungen zur Folge haben mußte. Die aufeinanderfolgenden Wahlsiege des Radikalismus machten dann auch deutlich, daß die zuvor regierenden Gruppen nicht dazu in der Lage waren, die Präsidentschaft durch freie Wahlen wiederzuerlangen. Das bedeutet nicht, daß sie ihr gesamtes politisches Gewicht verloren hätten, zumal sie sich starke Machtenklaven in den Provinzregierungen und im Senat bewahrt hatten. Aus dieser Situation ergaben sich ständige Konflikte /wischen diesen Institutionen und der nationalen Exekutive10. Nach fast fünfzehn Jahren radikaler Regierungen kündigte der wachsende Ansehensverlust Yrigoyens eine Niederlage seiner Partei an. Dennoch entschied sich die Opposition genau in jenem Augenblick, als sie der Machtübernahme auf legalem Weg am nächsten war dafür, einen Bruch mit dem demokratischen politischen System herbeizuführen. Mitten in der Wirtschaftskrise von 1930 setzte ein Militärputsch die verfassungsmäßige Ordnung außer Kraft und leitete eine konservative Restauration ein. Sicherlich kann der Staatsstreich von General Uriburu nicht nur aus der politischen Haltung der konservativen Gruppen erklärt werden, denn darüber hinaus spielten internationale, wirtschaftliche, ideologische und institutionelle Faktoren eine Rolle, darunter vor allem Veränderungen in der Organisation und Funktion der Streitkräfte. Andererseits muß betont werden, daß die politische Entscheidung für einen Bruch der institutionellen Kontinuität in einem Moment getroffen wurde, als ein solcher Schritt nicht einmal unbedingt notwendig war, um einen Regierungswechsel zu ermöglichen". Im Laufe der folgenden Jahre, die als die Década Infame bekannt sind, wurde der Versuch unternommen, die Formel des goldenen Zeitalters der Oligar'
In der Praxis bedeutete die neue Wahlgesetzgebung die Erlangung des Wahlrechts filr nur 40 bis 45% der erwachsenen Bevölkerung, da Frauen und Ausländer nach wie vor von dem Genuß politischer Rechte ausgeschlossen waren. Vgl. De Riz/Smulovitz ( 1991 a: 127).
10
Vgl. Potter ( 1981 ), Mustapic ( 1984).
"
Vgl. Cornblit (1985: 28). Dagegen liefert Potter hierzu eine ganz andere Interpretation aus "institutioneller Sicht". Diese Autorin betont unter anderem, daß die von der Regierung Yrigoyen verordneten Interventionen in den Provinzen die Marginalisierung bis hin zur Zerstörung der Opposition auf lokaler Ebene bewirkte. Diese Kontrolle der Provinzen würde bald die Kontrolle des Senats durch die regierungstreue Fraktion als Folge nach sich ziehen. Angesichts dieser Situation bliebe der Opposition der Einsatz von illegalen Methoden als einzige Alternative, um ihre Identität und ihren politischen Einfluß zu bewahren (vgl. Potter 1981: lOlff.). Die Interventionspolitik der Regierung stellte keine faire Behandlung der Opposition dar und trug sicherlich zur Entstehung von Bedrohungsperzeptionen seitens der Oppositionsgruppen, d.h. der Konservativen, der Sozialisten und der Antipersonalisten der UCR, bei. Insofern kann sie als ein "Motiv" ihrer Handlungen angesehen werden. Das heißt jedoch nicht, daß sie als objektive Ursache des Putsches gelten kann. Bei den Parlamentswahlen 1930 bekam die UCR weniger Stimmen als ihre Gegner insgesamt. Die angeblich zerstörte Opposition hatte tatsächlich gute Wahlaussichten für die kommenden Jahre, zumal die Regierung immer stärker in Mißkredit geriet.
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chie neu aufzulegen: Um die Einfuhr von Devisen zu sichern, suchte man zunächst privilegierte Handelsbeziehungen zu einem Großbritannien, dessen Weltmachtstellung bereits der Vergangenheit angehörte. Andererseits gab es auch diejenigen, die auf eine importsubstituierende Industrialisierung setzten. Dieser Trend setzte sich definitiv zu Beginn des Zweiten Weltkriegs durch. Beide Wirtschaftsstrategien wurden durch politische Veränderungen begleitet. Der fraude patriótico (patriotischer Wahlbetrug) bewirkte die Ausgrenzung der Opposition. Dieselbe Klasse, die vorher auf den Liberalismus geschworen hatte, wurde nun engstirnig konservativ und hing einer nationalistischen Ideologie mit zunehmend korporatistischem Inhalt an, während die Streitkräfte, die 1930 die politische Bühne betraten, von ihr nicht so schnell wie erwartet verschwinden sollten. Die übrige Bevölkerung, die von politischen Entscheidungen völlig ausgeschlossen war, setzte keine Erwartungen auf die politischen Parteien, zumal deren Führungen darauf verzichteten, die Forderungen der Gesellschaft zu vermitteln.12 Unter diesen Umständen war ein Ausweg aus der autoritären Situation in Richtung einer liberalen Demokratie nicht zu erwarten. Mit dem Aufstieg des Peronismus ab 1943 setzte vielmehr eine erneute politische Transformation ein, die unter dem Vorzeichen einer politischen Kraft stattfand, die unmöglich als politische Partei im engeren Sinne bezeichnet werden kann - wie im Kapitel 3 näher analysiert wird. Zwischen 1955 (dem Jahr, in dem ein erneuter Militärputsch Perón von der Macht vertrieb) und 1973 (als der Justizialismus wiederum die Regierung übernahm) kreiste die zentrale Frage der argentinischen Politik um die Integration oder den Ausschluß des Peronismus und seines Führers. Die wiederholte Präferenz des Militärs und eines nicht gering zu schätzenden Teils des politischen Spektrums für letztere Option verwandelte die Situation in ein "unmögliches Spiel", bei dem sich alle Versuche einer Wiederherstellung der Institutionen nicht nur als undurchführbar, sondern auch als illegitim erwiesen. Dies wiederum trug dazu bei, einer antisystemischen und wenig demokratischen Opposition eine gewisse Legitimation zu verschaffen13. In den siebziger Jahren kam es zu einem Versöhnungsversuch zwischen den beiden großen politischen Kräften des Landes. Die ehemaligen Feinde Perón und Baibin unterzeichneten ein Abkommen, das sich die "Stunde des Volkes" nannte, und an welchem sich auch kleinere Parteien beteiligten. In diesem Abkommen verzichteten die Radikalen darauf, politische Lösungen zu unterstützen, die den Justizialismus ausschlössen, und Perón gab einige seiner alten politischen Grundsätze auf. Insgesamt ging es darum, die politischen Parteien als wichtige Achse der Interessenartikulation aufzuwerten14. Aber auch dieser Ver-
Im Hinblick auf diese Jahre siehe Ciria (1985) und Cantön/Moreno/Ciria (1986). In bezug auf den Ursprung und die Entwicklung des nationalistischen Gedankenguts und der verschiedenen Strömungen der Rechten in Argentinien siehe McGee Deutsch/Dolkart (1993) und Spektorowsky (1994). Vgl. O'Donnell (1972: 167ff.). Vgl. Cavarozzi (1984: 147f.).
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such scheiterte: Die innerhalb wie außerhalb der Justizialistischen Bewegung entfesselte Gewalt brachte in Argentinien einmal mehr die Demokratie zu Fall. Diese konfliktive historische Entwicklung wirkte prägend auf die Besonderheiten der politischen Institutionen und den Charakter der beteiligten Akteure.
2.1.1 Die institutionelle Entwicklung Die wesentliche Konstante der Entwicklung des institutionellen Systems in Argentinien im Laufe dieses Jahrhunderts bestand in der wiederholten Aufhebung der verfassungsmäßigen Rechte und Garantien. Alle Akteure, die in einem bestimmten Moment in den Genuß der Macht gekommen waren, versuchten diese zu nutzen, um die Regeln zum eigenen Vorteil zu verändern, sei es durch Wahlbetrug, Proskription, Verfassungsreform, Wahlgesetzreform oder durch die Reform der Satzungen der politischen Parteien 15 . Theoretisch blieb im Laufe vieler Jahrzehnte ein Verfassungstext 1 6 gültig, der gleichzeitig permanent verletzt wurde. Dieses Paradoxon hat eine lange Geschichte. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts behauptete der von Yrigoyen geführte Radikalismus, sein Programm sei die Verfassung. In der Opposition focht er die Legitimität des politischen Regimes an, nicht etwa, weil die Verfassung ungerecht gewesen wäre, sondern weil sie nicht beachtet wurde. Bei seinen Revolutionsversuchen berief sich der Radikalismus stets darauf, im Namen der Verfassung zu handeln 1 7 . Im Jahre 1930 erhielt die Abkehr von dem demokratischen Regime juristische Rückendeckung sogar vom Obersten Gerichtshof in Form der sogenannten "de yäc/o-Doktrin" 1 8 . Von da an wurden verschiedene Änderungsversuche mit der Absicht eingeleitet, eine grundlegende Reform durchzuführen, die unweigerlich von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung als illegitim angesehen wurde. Die Justizialistische Verfassung von 1949 wurde aufgrund ihres mit Mängeln behafteten Ursprungs von der radikalen Opposition angefochten. Die Tatsache, daß sowohl ihre Anhänger wie ihre Gegner sie als "Justizialistische Ver-
Vgl. De Riz/Smulovitz (1991a: 127ff.). Die Verfassung von 1853 erfuhr kleinere Modifikationen in den Jahren 1860, 1886 und 1897/8. Sie alle wurden in Einklang mit der in der Verfassung niedergelegten Änderungsregel durchgeführt. Vgl. Dazu de Riz/Smulovitz (1992: 190). Vgl. Botana/Mustapic (1991: 52). Am 10. September 1930 veröffentlichten die Richter des Obersten Gerichtshofes eine Anweisung, die neues Recht setzte. Unter Bezugnahme auf die Militärregierung, die sich gerade in offener Verletzung der Verfassung etabliert hatte, ist dort zu lesen, daß "diese Regierung Uber die Streitkräfte und jene polizeilichen Kräfte vertilgt, die notwendig sind, um den Frieden und die Ordnung der Nation zu gewährleisten und folglich auch die Freiheit, das Leben und das Privateigentum zu beschützen. Außerdem erklärt sie öffentlich, daß sie an dem Vorrang der Verfassung und der grundlegenden Gesetze des Landes bei ihrer Machtaus(lbung festhalten werde [...] Die provisorische Regierung, die sich gerade in diesem Land gebildet hat, ist daher eine de facto-Regierung, deren Machtanspruch rechtlich insofern nicht erfolgreich angefochten werden kann, als sie die administrative und politische Funktion, die sich aus ihrer Machtposition ergibt, ausübt [...]." (Zitiert nach Ciria (1985: 24ff.) Für weitere Informationen Uber die Rolle der Justiz hinsichtlich der Legalisierung der Staatsstreiche siehe Spoerr (1989) und Nino (1992b: 131 ff.).
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fassung" oder anschaulicher als die "Verfassung Peröns" bezeichneten, bestätigt, daß ihr Wortlaut von niemandem als die Verfassung der gesamten argentinischen Nation angesehen wurde. Nach dem Fall des Justizialismus wurde der alte Text durch ein Militärdekret wieder in Kraft gesetzt und durch einen noch illegitimeren Verfassungskonvent 1957 minimal geändert. Bei dieser Gelegenheit scheiterte der Versuch, zu einer grundlegenden Reform der Verfassung zu gelangen, weil die Radikalen sich weigerten, in einer Verfassunggebenden Versammlung mitzuarbeiten, die nicht aus freien Wahlen hervorgegangen war. Die Versammlung beschränkte sich unter diesen Umständen darauf, den Text von 1853 wieder rechtsgültig zu machen, unter Hinzufügung eines Artikels, der die wesentlichen sozialen Rechte, die vom Peronismus eingeführt worden waren, aufgriff. Damit wurde berücksichtigt, daß man die Zeit nicht mehr völlig zurückdrehen konnte. 1972 diktierte auch eine Militärregierung eine Verfassungsänderung. Vier Jahre später wurde mit einem während der Präsidentschaft von Maria Estela Martinez de Perön unterzeichneten Dekret der Exekutive eine Verfassunggebende Versammlung einberufen in frappierender Mißachtung der in der Verfassung festgeschriebenen Änderungsregel. Diesem Dekret wurde nicht gefolgt, da kurz danach die justizialistische Regierung durch den Militärputsch von 1976 abgesetzt wurde 19 . Diese Wechselfalle weisen darauf hin, daß die lange Geltungsdauer des Verfassungstextes aus dem 19. Jahrhundert nicht etwa einem einmütigen Konsens zu verdanken war, sondern vielmehr dem Unvermögen, zu einer Übereinstimmung hinsichtlich einer Reform zu gelangen. Die Verfassung wurde ständig in Wort und Sinn verletzt. Die bürgerlichen und zivilen Rechte ganzer Bevölkerungsteile wurden wiederholt eingeschränkt, wenn nicht ganz aufgehoben, ohne daß dadurch eine Lösung für die gravierenden politischen Konflikte des Landes gefunden wurde. Das führte wiederum dazu, daß die alte Verfassung den Charakter eines politischen Programms behielt, denn Argentinien war nach wie vor weit von dem Ziel entfernt, "die nationale Einheit herzustellen, die Gerechtigkeit zu stärken, den inneren Frieden zu festigen [...], die allgemeine Wohlfahrt zu fordern und die Wohltaten der Freiheit zu gewährleisten" 20 . Wenn bereits die 1853 verabschiedete Verfassung eine präsidiale darstellte, so war die politische Praxis noch viel mehr auf den Präsidenten ausgerichtet. Tatsächlich bildete sich sozusagen ein hyperpräsidiales System heraus, in dem der Präsident der Nation nach und nach Funktionen des Kongresses, der Judikative und der Provinzregierungen absorbierte. Die Militärregierungen entschieden sich wiederholt für die Auflösung des Nationalen Parlaments, womit alle politischen Entscheidungskompetenzen auf die Exekutive übertragen wurden. So gewöhnte sich die öffentliche Meinung nach und nach an die Vorstellung, daß es möglich, ja sogar wünschenswert wäre, ohne den Kongreß zu regieren 21 .
19
Vgl. Botana/Mustapic (1991: 55ff.), Nino (1992b: 137ff.).
20
CNA Präambel.
21
Vgl. Nino (1992a: 73ff.).
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Darüber hinaus verlieh die Verfassung dem Präsidenten die Befugnis, diejenigen Vorschriften und Verordnungen zu erlassen, "die notwendig sind für die Ausführung der nationalen Gesetze, wobei Sorge zu tragen ist, daß der Sinn der Gesetze nicht durch die Ausnahmeregelungen verändert wird" 22 . Aus diesem Text leiteten die Militärregierungen für sich wiederholt das Recht ab, Gesetzesdekrete in Phasen zu erlassen, in denen der Kongreß aufgelöst war. Diese Praxis wurde auch von mehr als einer zivilen Regierung übernommen 23 . Die Verfassung von 1853 berechtigte den Präsidenten dazu, auf eigene Verantwortung den Ausnahmezustand auszurufen, wenn der Kongreß nicht zusammentrat, und so die verfassungsmäßigen Garantien kurzfristig außer Kraft zu setzen. Verschiedene Regierungen ge- und mißbrauchten diese Kompetenz in unterschiedlichem Maße. Die Kehrseite der Stärke der Exekutive besteht in der Schwäche des Kongresses, der sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hat, einen guten Teil seiner Funktionen nicht auszuüben und in der Hilflosigkeit der Judikative, deren Mitglieder wiederholt durch die Streitkräfte abgesetzt bzw. ernannt wurden. Die dritte Gewalt erklärte einen großen Teil der präsidentiellen Amtsmißbräuche für gültig und schuf damit neues "Recht". Das Oberste Gericht erkannte verschiedene deyäc/o-Regierungen an und erweiterte die Befugnisse der Präsidenten im Hinblick auf die Intervention in den Provinzen und die Verkündigung des Ausnahmezustandes. Es bestätigte außerdem, die Befugnis des Präsidenten, Notund Dringlichkeitsdekrete zu erlassen, eine Rechtsfigur, die im Verfassungstext von 1853 nicht vorgesehen war 24 . Sowohl der präsidiale Charakter des Regimes als auch die politischen Gepflogenheiten des Landes veranlaßten die Akteure dazu, ihre ganze Kraft dafür einzusetzen, die Präsidentschaft zu erlangen. Andererseits unterwarf die Kombination von Präsidentschaftswahlen (die gemäß der Verfassung von 1853 alle sechs Jahre durchgeführt werden mußten) und Parlamentswahlen (die teilweise Erneuerung des Abgeordnetenhauses mußte alle zwei, die des Senats alle drei Jahre stattfinden) das Regime einem permanenten Wahldruck, ohne daß dadurch gesichert worden wäre, daß die Zusammensetzung der Regierung der aus den letzten Parlamentswahlen hervorgegangenen Kräftekonstellation entsprach. Daraus ergaben sich wiederholt Situationen, in denen sich die Exekutive und die Legislative gegenseitig blockierten. Um solche Pattsituationen überwinden zu können, neigten die Präsidenten dazu, ihre verfassungsmäßigen Befugnisse zu mißbrauchen 25 . Die Wahl solcher Methoden zur Beilegung von Streitigkeiten ergibt sich nicht automatisch aus dem Wortlaut der Verfassung. Sie entspricht vielmehr den Präferenzen der Akteure und ihrer Fähigkeit, trotz Verstößen gegen die Verfassung gesellschaftliche Unterstützung zu erlangen. Darum ist das BezieCNA Art. 86 § 2. In bezug auf die Praxis der "Regierung per Dekret" siehe Ferreira Rubio/Goretti (1994). Vgl. N i n o ( 1992a: 73ff.). Vgl. Botana (1985: 19ff ).
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hungsgeflecht, das sich zwischen den verschiedenen Machtgruppen in der argentinischen Gesellschaft herausgebildet hat, mindestens genauso wichtig wie das institutionelle Ungleichgewicht.
2.1.2 Die soziopolitischen Machtfaktoren Die wesentlichen Machtfaktoren der argentinischen Gesellschaft im größten Teil des 20. Jahrhunderts sind die politischen Parteien, das Militär, die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die Kirche. Hier soll nur auf die ersten drei eingegangen werden, da sie die wichtigsten Akteure während der im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses stehenden Transitions- und Post-Transitionsphase stellten26. Völlig dem Geist der Verfassung von 18 5 3 27 widersprechend, entstanden die politischen Parteien Argentiniens nicht durch den Willen des Verfassungsgebers, sondern durch die Macht der Umstände. Seit ihrer Entstehung teilen sie die grundsätzlichen Charakteristika ihrer lateinamerikanischen Pendants: personalistische Struktur, Tendenz zum Faktionalismus und organisatorische Schwäche 28 . Tatsächlich stellten die Honoratiorenparteien der "Konservativen Ordnung" instabile Allianzen dar, die kein Monopol bei der Aufstellung von Kandidaten hatten. Bei diesem wie bei anderen Themen genossen die Entscheidungen der "Liga der Gouverneure" oder des ausscheidenden Präsidenten Priorität. Die Parteien funktionierten eher als Wahlmaschinen, die von starken Führungspersönlichkeiten dominiert waren. Die parteipolitischen Aktivitäten waren durch den Einsatz von sogenannten punteros, großzügigem Klientelismus und Patronage geprägt: Nur so konnten die Parteien ihren wenigen Wählern in einem Umfeld von generalisiertem Wahlbetrug Anreize zur Mobilisierung bieten 29 . Vor diesem Hintergrund bildeten sich Oppositionsgruppen von unterschiedlicher ideologischer Färbung, unter denen bald die Sozialisten und die Radikalen hervortraten. Sie waren die ersten, die sich eine Organisationsform gaben, die der moderner politischer Parteien vergleichbar war. Zu diesen kam im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Parteiorganisationen hinzu, deren Entwicklung durch wiederholte Gründungen, Teilungen und Restrukturierungen gekennzeichnet war 30 .
26
Bezüglich des politischen Verhaltens der Unternehmer und der Unternehmerverbände siehe Birle (1995), in bezug auf die Kirche können Snow/Manzetti (1993: 143ff.) herangezogen werden.
27
Die Verfassung von 1853 zeigte sich sogar abgeneigt, jeglicher Form der politischen Vereinigung Legitimität zuzugestehen. So heißt es in Artikel 22: "Das Volk soll weder beraten noch regieren, außer durch seine Repräsentanten und durch die von der Verfassung geschaffenen Institutionen. Jegliche bewaffnete Kraft oder Versammlung von Personen, die sich die Rechte des Volkes anmaßt und in dessen Namen Ansprüche stellt, begeht die Straftat des Aufruhrs." (Hervorhebung d.V.)
2!
Hinsichtlich der Charakteristika der politischen Parteien Lateinamerikas siehe Mols (1985: 140ff ).
29
In bezug auf die Funktionsbedingungen und die Merkmale der Parteien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende siehe Garcia (1985: 15ff.), Botana (1986).
30
Hinsichtlich der historischen Entwicklung der argentinischen politischen Parteien im allgemeinen siehe vor allem Cantón (1973), Paso (1974), Garcia (1985), Puiggrós (1986), Jackisch (1990).
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Von allen politischen Parteien Argentiniens gelang es nur zweien, an die nationale Regierung zu kommen: dem Radikalismus (1916-1930, 1958-1962, 1963-1966) und dem Peronismus (1946-1955, 1973-1976). Die Expansion dieser beiden großen Massenparteien brachte eine bedeutende Modernisierung des politischen Lebens des Landes mit sich31. Es kam jedoch nicht zur Herausbildung eines stabilen Parteiensystems. Dem stand eine Reihe von Faktoren entgegen, von denen die folgenden hervorzuheben sind: • Beide argentinischen Großparteien, der Peronismus wie der Radikalismus, verstanden sich eher als breite politische Bewegungen. Jede von ihnen erhob den Anspruch, eine umfassende Legitimität zu besitzen, weigerte sich aber gleichzeitig, die Legitimität des Gegners anzuerkennen 32 . • Im Besitz der Regierungsverantwortung zeigten die argentinischen Parteien wiederholt die Neigung, sich als hegemoniale Kraft auf Dauer etablieren zu wollen. Mit diesem Ziel vollzogen sie eine systematische Beschneidung des der Opposition zur Verfugung stehenden Spielraums, was wiederum eine unloyale Haltung seitens der Oppositionsparteien provozierte und sie zur Duldung bis hin zur Mitarbeit am institutionellen Bruch veranlaßte 33 . • Sowohl der Radikalismus als auch der Peronismus zielten auf die Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen und die Aggregation heterogener Forderungen. Trotzdem können sie nicht mit den catch-all parties aus anderen politischen Kontexten gleichgesetzt werden, in denen institutionelle Stabilität, soziale Homogenität und parlamentarische Auseinandersetzung prägende Merkmale sind 34 . • Die Entwicklung der Parteiorganisationen wurde wiederholt von militärischen Interventionen unterbrochen. Während längeren Zeitabschnitten konnten also die argentinischen Parteien die Funktionen der Interessenaggregation, Interessenartikulation und Vermittlung nicht wahrnehmen. • Die argentinischen Parteien bildeten zwar Subkulturen mit starker Identifikationskraft, erwiesen sich aber gleichzeitig als schwache Vermittlungsstrukturen im Vergleich zu den Korporationen (Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Streitkräfte, Kirche), denen es immer gelang, direkten Druck auf die jeweilige Regierung auszuüben 35 . • Der Radikalismus als Partei von Bürgern und der Peronismus als Bewegung korporatistischen Charakters waren als Repräsentanten zweier völlig verschiedener Demokratieauffassungen entstanden. Demzufolge war das von ihnen gebildete Parteiensystem durch strukturelle Heterogenität gekennzeichnet und litt an konstitutiver Schwäche 36 . Die Eigenheiten des Justizialismus werden im folgenden Kapitel behandelt. Bezüglich des Radikaiismus siehe besonders Rock (1975), Clementi (1986) und Birle (1989). Vgl. d e R i z ( 1 9 8 6 : 672ff.). Vgl. Mainwaring (1988: 20ff.). Vgl. Landi (1988: 115f.). Vgl. Snow/Manzetti (1993: 83ff.). Vgl. Grossi/Gritti (1989: 4 7 f ) , Cavarozzi (1989) und de Riz (1986: 673).
67
• Das Fehlen einer rechten Partei, die fähig gewesen wäre, die Interessen der konservativen Kreise und der einflußreicheren wirtschaftlichen Gruppen zu kanalisieren und gleichzeitig Wahlerfolge zu erzielen, verleitete diese Kräfte zur Suche nach außerinstitutionellen Lösungen37. Die politischen Aktivitäten des argentinischen Militärs lassen sich bis hin zu den Unabhängigkeits- und Bürgerkriegen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Wenn die "Konservative Ordnung" und die ersten radikalen Regierungen in der kollektiven Erinnerung weiterhin als die zivile Epoche par excellence lebendig sind, ist das nicht dem Fehlen jeglicher politischer Aktivität der Uniformierten zu danken, sondern ihrer Unfähigkeit, sich allein mit Waffengewalt durchzusetzen. 1930 jedoch gelangten die Militärs durch einen Staatsstreich an die Macht, der der erste einer langen Serie dieser Art sein sollte38. Von diesem Zeitpunkt an nahm sowohl die Dauer der militärischen Interventionen als auch die Reichweite der von den Streitkräften durchgeführten institutionellen Veränderungen zu, wie das folgende Schema verdeutlicht: Schaubild 3: Von Militärregierungen durchgeführte institutionelle Veränderungen 1930 * Auflösung des Parlaments * Intervention in den Provinzen * Verbot politischer Aktivitäten * Intervention der Gewerkschaften Mehrheitlich von Militärs gestellte Regierungen Intervention der Unternehmerverbände Auflösung des Obersten Gerichtshofes Regierungen ohne Interimscharakter Änderung der Eidesformel Verfassungsänderungen Intervention der Universitäten Auflösung der Provinzgerichte 17 M. Dauer
M.: Monate
J.: Jahre
1943
1955
1962
1966
1976
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•
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2 J„ 9 M. 2 J„ 5 M.
1 J. 6 J., 9 M.
6 J.
Quelle: Castiglione ( 1 9 9 2 : 3 0 ) .
Während bei den ersten militärischen Interventionen noch zivile Kräfte maßgeblich beteiligt waren, wurde das Militär ab 1955 jedoch zu einem entscheidenden Akteur, der das Modell einer "vormundschaftlichen Intervention" einV g l . d i Telia (1971). Zur Entwicklung des Militärs und seiner Rolle in der argentinischen Politik siehe Rouquii (1982a) und Potash (1986).
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führte, dessen Ergebnis der Ausschluß des Peronismus und ein massiver Druck auf die Zivilregierungen war. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden die Streitkräfte immer unabhängiger von der zivilen Macht. Die Bildung einer korporativen Identität auf Seiten der Militärs reichte so weit, daß diese ihre Ziele, Aufgaben, Organisation sowie ihre Doktrin eigenständig definierten 39 . Mitte der sechziger Jahre begannen die Streitkräfte, eine hegemoniale Neigung zu zeigen und zu behaupten, daß ihnen die alleinige Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten zukomme, was zu dem Ausschluß der Parteien und der völligen Abschaffung von Wahlen und parlamentarischen Mechanismen führte. Auf diese Weise verwandelten sich die Streitkräfte in eine "parallele und autonome Macht mit eigenen Zielen, einer eigenen Doktrin sowie einer eigenen Interpretation der nationalen und internationalen Situation" 40 . Sie fingen an, wie eine "Militärpartei" zu handeln, was zu einer Entwicklung führte, die Alain Rouquie als "prätorianische Umkehrung" bezeichnet hat: In einem Kontext, in dem die Militärs das Zentrum der Macht bilden, definieren auch die Parteien und die sozialen Gruppen ihre Rollen neu. Sie verwandeln sich in Interessengruppen, die Druck auf die "Militärgesellschaft" ausüben. In einer Gesellschaft, die diese aufweist, werden die Streitkräfte als legitime Akteure angesehen, während die Parteien die Unterstützung des Militärs suchen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen 41 . Die Streitkräfte lehnten ihrerseits eine solche Interpretation ab und sahen sich lieber als Verkörperung des Staates und somit als eine den verschiedenen Partikularinteressen und den zwischen diesen ausgebrochenen Konflikten übergeordnete Instanz. Alle späteren Staatsstreiche (1962, 1966, 1976) sowie die daraus hervorgegangenen Militärregierungen versuchten sich eine Legitimationsbasis zu verschaffen, indem sie die Existenz einer (von Mal zu Mal variierenden) internen oder externen "Gefahr für die Nation" behaupteten. Die Militärs rechtfertigten jeden ihrer Angriffe auf das politische Leben mit der Erklärung, ihr Ziel sei lediglich die Wiederherstellung der demokratischen Institutionen, deren normaler Gang durch feindselige Kräfte gestört sei. Es kann nicht behauptet werden, daß die verschiedenen Militärregierungen identische ökonomische Vorstellungen vertreten hätten, auch wenn ihre Politik meist den Interessen des Großkapitals entgegenkam, sei es nun der Agrarsektor oder die Industrie. In allen Fällen fanden die Militärputsche jedoch mit der Zustimmung und/oder der Unterstützung großer Teile der Gesellschaft statt. Die Militärregierungen konnten sich in der Anfangsphase auf einen gewissen Konsens stützen, dessen Zerfall immer wieder zu einer Rückgabe der Macht an die zivilen politischen Kräfte im Rahmen von Verhandlungslösungen führte. Dabei bemühten sich die Militärs darum, einen ihnen genehmen Verlauf der nächsten Wahlen vorzugeben, womit sie gleichzeitig die Legitimität der zukünftigen Regierung untergruben. 39
Vgl. Sidicaro (1985: 281f.), Cavarozzi (1987: 31 f.), L6pez(1994: 52ff.).
40
FleitasOrtiz de Rosas (1983: 39).
41
Vgl. Rouquie (1982b: 67), Löpez (1994: 29f.).
69
Die argentinischen Gewerkschaften entstanden im 19. Jahrhundert als autonome Organisationen unter zunächst starken anarchistischen, dann sozialistischen, syndikalistischen und kommunistischen ideologischen Vorzeichen. Später wurden sie zum wichtigsten Stützpfeiler des Justizialismus, woraus wichtige Konsequenzen für die politische Entwicklung des Landes resultierten42. Bis in die vierziger Jahre fanden die Probleme der Arbeitswelt keinen Niederschlag in den politischen Auseinandersetzungen. Die Regierungen betrachteten die Proteste der Arbeiter sowie Streiks als ein polizeiliches Problem, während gleichzeitig die Gewerkschaftler den illegitimen ebenso wie den legitimen Regierungen mißtrauten. Die Situation änderte sich radikal, als Perón an die Macht kam. Durch die Institution der personería gremial, die den repräsentativsten Vereinigungen jedes Industriezweiges zugestanden wurde, räumte er den Gewerkschaften einen legalen Status ein. Auf diese Weise erlangten bestimmte Organisationen ein Vertretungs- und Verhandlungsmonopol und konnten über Arbeitsbedingungen und Löhne mit den Unternehmerverbänden verhandeln. Außerdem wurden die Unternehmen dazu verpflichtet, automatisch einen bestimmten Prozentsatz der Gehälter ihrer Angestellten an die Gewerkschaften abzuführen. Diese Politik brachte ein enormes Wachstum der gewerkschaftlichen Strukturen mit sich. Gleichzeitig wurde durch die personería gremial ein Mechanismus zur staatlichen Kontrolle der Gewerkschaften geschaffen. Die Arbeitervereinigungen waren nicht länger autonom: Sowohl ihre Finanzierung als auch ihre juristische Identitätsberechtigung hingen von nun an vor allem von den Entscheidungen der Regierung ab43. Dieser Prozeß bewirkte darüber hinaus einen fundamentalen ideologischen Wandel. Die Gewerkschaftsbewegung trat geschlossen der justizialistischen Bewegung bei und verwandelte sich in ihr "Rückgrat". Die Identifikation der Gewerkschaften mit dem Peronismus wurde sogar in die Statuten aufgenommen. So unterstreicht die Satzung des Gewerkschaftsdachverbandes, der Confederación General del Trabajo (CGT), die während der Präsidentschaft von Perón verabschiedet wurde, die "unbeugsame Entscheidung, sich als eifrige Verfechterin und zuverlässige Vollstreckerin der hohen Postúlate der peronistischen Doktrin und als loyale Wächterin der Verfassung von Perón zu konstituieren, insofern beide in Wort und Geist das ewige Trachten der Arbeiterklasse konkretisieren und unübertreffliche Regeln aufstellen, um den argentinischen Arbeitern den Weg zu weisen in der Erfüllung ihrer unwiderruflichen Bestimmung, nämlich ein sozial gerechtes, wirtschaftlich freies und politisch souveränes Vaterland zu schaffen"44.
In bezug auf die Anfänge und die Entwicklung der argentinischen Gewerkschaftsbewegung bis in die vierziger Jahre siehe Bittner ( 1982) Matsushita (1983), Bilsky (1985), Falcön (1984), Godio (1988). Vgl. Bittner (1982), Bomer/Märmora (1985: 27ff.), Cordone (1993: 53ff.). Für weitere Details über die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung unter den peronistischen Regierungen siehe Torre (1988). Zitiert nach Roudil (o.J.: 58).
70
Da die peronistische Ideologie einen Kompromiß zwischen Arbeitern und Unternehmern und eine Integration beider Gruppen in die übergeordnete Instanz der nationalen Gemeinschaft propagierte, hörten die Gewerkschaften auf, die Unternehmer als Klassenfeinde anzusehen, und richteten ihre Forderungen an den Staat. Dieser handelte als Vermittler und war außerdem in der Lage, durch die Gewährung von Krediten und Zuschüssen gleichzeitig Lohnsteigerungen und Unternehmensgewinne herbeizufuhren 45 . Der Sturz des Peronismus 1955 konnte die grundlegenden Transformationen, die diese Bewegung auf soziopolitischem Feld in Argentinien durchgesetzt hatte, nicht ohne weiteres rückgängig machen, und noch viel weniger die Erinnerung an sie ausradieren. Die argentinischen Arbeiter blieben dem abgesetzten Führer treu. Die CGT, die zu einem neuen wichtigen politischen Akteur geworden war, übernahm die Oppositionsrolle und stellte sich an die Spitze des "Widerstandes" 46 . Nach dem Sturz Peröns bildeten sich zwei Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung heraus, die - mit unterschiedlichen Nuancen und wiederholten Seitenwechseln - Geschichte machen sollten: die Gemäßigten bzw. Kooperationsbereiten, denen daran gelegen war, sich den jeweiligen Konjunkturen anzupassen, um auf diese Weise die Position ihrer Organisationen zu sichern, und die Hardliners bzw. Konfrontationsorientierten, die auf eine direkte Opposition gegenüber allen nicht-peronistischen Regierungen setzten. Zwischen diesen beiden Polen hin- und herschwankend siedelten sich die Befürworter von Verhandlungen an, die je nach den Umständen die eine oder andere Haltung einnahmen. Gegen Ende der sechziger Jahre tauchten auch einige (peronistische und/oder marxistische) am Klassenbegriff orientierte Strömungen auf, denen es jedoch niemals gelang, die Gewerkschaftsbewegung zu hegemonisieren oder größere Akzeptanz innerhalb des Justizialismus zu finden47. Sowohl aufgrund der besonderen Umstände, auf die die argentinische Gewerkschaftsbewegung traf, als auch aufgrund der verschiedenen Strategien ihrer Führer erprobte sie praktisch alle möglichen Aktionsformen: den Widerstand, die Konzertierung (immer von kurzer Dauer), den Opportunismus, den Streik, die großen Mobilisierungen und Fabrikbesetzungen, den Straßenkampf und den korporativen Pakt. Abgesehen von diesen unterschiedlichen Aktionsformen gibt es einige Konstanten, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: • Trotz aller Versuche der "Entperonisierung" behielt die argentinische Gewerkschaftsbewegung über viele Jahrzehnte hinweg ihre Identifikation mit
45
Vgl. Palomino (1989: 74).
46
Die Erklärungen, die man fllr die bedingungslose Treue der argentinischen Arbeiter gegenüber dem Peronismus zu finden versuchte, sind zahlreich und reichen von verschiedenen sozialpsychologischen Erklärungsmustern bis hin zu sehr konkreten Sachverhalten. Ohne den übrigen Ansätzen Gültigkeit absprechen zu wollen, verdient ein Umstand aufgrund seiner Evidenz besonders hervorgehoben zu werden: Der Anteil der Löhne und Gehälter am BIP erreichte seinen höchsten Wert in der ersten peronistischen Regierungszeit; von da an sank er fast konstant, mit einer kurzen Erholung in der ersten Phase der dritten Präsidentschaft Peróns (vgl. Sbarra Mitre 1983: 27).
47
Vgl. Fernández (1988: II, 120ff.).
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der justizialistischen Bewegung bei. Auch wenn der entsprechende Passus später aus den Statuten gestrichen wurde, so änderte sich damit weder die Haltung der großen Mehrheit der Basis noch die der Führer. In den 18 Jahren der Proskription des Justizialismus und seines Führers waren die Zugehörigkeit zu und die Treue gegenüber dem Peronismus das wichtigste Legitimationskriterium der Gewerkschaftsführer gegenüber den Arbeitnehmern 48 . • Ungeachtet der Existenz der verschiedenen Strömungen in der CGT, war diese immer bereit, eine "politische" Haltung in dem Sinne einzunehmen, daß sie Positionen vertrat, die weit über die Forderungen der Arbeitnehmer hinausgingen. Zunächst wurde sie aufgrund ihrer Identifikation mit dem Peronismus zu diesem Verhalten getrieben, da die Proskription der Justizialistischen Partei ihren Anhängern keine andere Ausdrucksmöglichkeit offenließ. Später orientierte sich die Strategie der Gewerkschaftsbosse an anderen Zielen: der Bewahrung der Privilegien einer Führungsschicht, die einen gegenüber dem Anführer der Bewegung und ihrer Basis immer unabhängigeren Machtfaktor darstellte. • Die argentinische Gewerkschaftsbewegung sah sich häufig dazu berufen, sehr weitreichende Forderungen 49 zu formulieren und auf jegliches Mittel zurückzugreifen, das ihr das Erreichen dieser Ziele ermöglichen würde. Dabei konnten ihre Handlungsstrategien je nach Situation mit den Bestrebungen anderer Akteure (Parteien, Streitkräfte, Unternehmerverbände, Kirche) konvergieren. • Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Staat sind immer mit Widersprüchen behaftet gewesen. Dadurch, daß die personería gremial — und somit die Berechtigung zu Verhandlungen und zur Erhebung von Geldern - nur einer Organisation pro Wirtschaftszweig zugute kam, wurde das Repräsentationsmonopol und die Abhängigkeit der Gewerkschaften gegenüber dem Staat festgelegt. In dieser Konstellation forderte eine eifersüchtig über ihre Autonomie wachende Gewerkschaftsbewegung immer wieder staatlichen Schutz zur Garantie ihrer eigenen Funktionsfahigkeit 50 . Dies alles zeigt, daß die Aktionsstrategien der Gewerkschaften sich über Jahrzehnte hinweg am justizialistischen Modell der Comunidad Organizada ("Organisierte Gemeinschaft") orientierten. Die jeweiligen Gewerkschaftsführungen strebten immer danach, die ihnen in diesem Modell zuerkannte Position 48
Vgl. Borner/Märmora(1985: 31).
49
1963 lancierte die (nach einem Verbot durch die Militärregierung) wieder zugelassene CGT zum Beispiel einen Kampfplan zur Erlangung eines "Minimalprogramms", das folgende Punkte einschloß: " I . Angleichung der Löhne an die steigenden Lebenshaltungskosten, 2. Kontrolle der Kosten und Festsetzung der Höchstpreise filr unentbehrliche Verbrauchsgüter, 3. Eintreten für die Vollbeschäftigung, 4. Zahlung von ausstehenden Ruhestandsgeldern und Renten, 5. Eliminierung des nationalen Haushaltsdefizits, 6. Aufwertung des öffentlichen Bildungssektors, 7. eine an der Reaktivierung der Produktion orientierte Kreditpolitik, 8. Verteidigung der Produktion der argentinischen Landwirtschaft, 9. Förderung des sozialen Wohnungsbaus, 10. Untersuchung der Geldunterschlagung und des Schmuggels, 11. Wiedereinstellung von Arbeitern, die im Zuge von Arbeitskonflikten entlassen worden waren." Zitiert nach Godio (1991: 136).
50
Vgl. Palomino (1989: 70).
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zu bewahren, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, daß das Schema schon 1955 definitiv aufgelöst wurde. Wenn der Ausschluß des Peronismus von der Macht sie nicht dazu veranlaßte, eine andere Integrationsstrategie zu formulieren, dann lag das daran, daß das korporative Modell am ehesten ihren Absichten entgegenkam. Aus diesem Grund ließen die Gewerkschaftsführer keine Gelegenheit aus, um eine Wiederherstellung dieses Modells zu versuchen, wobei sie je nach den Umständen auf verschiedene Strategien zurückgriffen: von direktem Druck auf die zivilen Regierungen bis zur Suche nach neuen korporativen Bündnissen mit den Militärregimen.
2.2 Das Vermächtnis des letzten Militärregimes Das letzte de facto-Regime, bekannt als "Proceso de Reorganización Nacional" (1976-1983), unterschied sich qualitativ in mehrfacher Hinsicht von den vorhergehenden Diktaturen. Zunächst einmal war es das Militärregime, dessen Institutionalisierung am weitesten voranschritt. Zweitens kam in diesem Zeitraum eine Wirtschaftspolitik zur Anwendung, deren Auswirkungen eine nicht umkehrbare Wende in der sozioökonomischen Entwicklung des Landes einleiteten und die eine große Belastung für die nachfolgende demokratische Regierung schufen. Schließlich erreichte der Staatsterrorismus ein bis dahin in Argentinien unbekanntes Ausmaß. Diese drei Aspekte sollten wichtige Konsequenzen für die weitere politische Entwicklung des Landes haben. Der Militärputsch vom 24. März 1976 wurde als koordinierte Aktion der drei Teilstreitkräfte unter den Kommandanten Jorge R. Videla, Emilio Massera und Orlando R. Agosti durchgeführt, die von da an die Militärjunta bildeten. Die Junta übernahm verfassunggebende sowie eine Reihe von legislativen und judikativen Funktionen. Sie bestimmte ihre eigenen Regeln, etablierte ein Verfahrenssystem zur Ernennung des Chefs der Exekutive und schuf die Cámara de Asesoramiento Legislativo (CAL), ein Beratungsgremium mit quasi-legislativem Charakter. So existierte in der Praxis eine Gewaltenverschränkung, wobei sich die Junta das letzte Wort und die exklusive Verfassungsgewalt vorbehielt51. In der CAL und der Militärjunta galt das Prinzip der dreigeteilten Repräsentation. Die drei Teilstreitkräfte beteiligten sich gleichberechtigt an der Besetzung der Ministerien. Auf diese Weise wurde versucht, den Kollegiumscharakter der neuen Administration und die Einheit der Streitkräfte zu betonen. Trotzdem war das besondere Gewicht des Heeres zu spüren: Am 29. März avancierte Videla zum Staatspräsidenten, ohne dabei auf sein Amt als Oberbefehlshaber des Heeres zu verzichten. Mitglieder des Heeres übernahmen die Regierung von zwölf Provinzen, während die Marine die Gouverneure von nur fünf Provinzen sowie des Nationalen Territoriums Feuerland, der Antarktis und der SüdatlantiVgl. Castiglione (1992: 35ff.), Groisman (1984: 61«".).
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sehen Inseln stellte, und sich die Luftwaffe mit der Regierungsgewalt in den übrigen fünf Provinzen und der Stadtverwaltung von Buenos Aires zufrieden gab. Nach einer langen Auseinandersetzung zwischen den drei Teilstreitkräften ernannte Videla im Juli 1978 General Roberto Viola zu seinem Nachfolger an der Spitze des Heeres. Kurz danach löste Armando Lambruschini Massera in der Führung der Marine ab, und im folgenden Jahr übernahm Omar Graffigna die Leitung der Luftwaffe. Damit war die vollständige Erneuerung der Militärjunta abgeschlossen. Seinerseits blieb Videla bis 1981 Präsident des Landes 52 . Im Gegensatz zu den vorhergehenden Militärregierungen beschränkte sich der "Proceso" nicht darauf, die Spitze des Staatsapparates zu kontrollieren, sondern entwickelte eine "kapillare Besetzung" desselben mittels der Einsetzung von Militärpersonal auf allen Administrationsebenen. Die Uniformierten übernahmen persönlich die Verwaltungsgeschäfte, wobei sie eine besondere Form der Militärbürokratie schufen, die sowohl von aktiven hohen Offizieren der drei Waffengattungen als auch von solchen im Ruhestand gebildet wurde. Diese Militarisierung der Staatsstruktur erlaubte die Ausübung einer effektiven Kontrolle des Verwaltungsapparates und hatte darüber hinaus auch andere Auswirkungen, denn dadurch verfugte das Militärpersonal, das unter anderen Umständen aufgrund der eingeschränkten Beförderungsmöglichkeiten innerhalb der militärischen Institutionen kaum Aufstiegsperspektiven gehabt hätte, nun über umfassende berufliche Alternativen sowie über zusätzliche finanzielle Einnahmequellen. Außerdem vergrößerte die Wiedereingliederung der pensionierten Offiziere die militärische Gemeinschaft und stärkte die Integration ihrer Mitglieder. 1980/81 stellte diese neue Bürokratie einen bedeutenden Anteil des höheren Dienstes dar: 41% in der Nationalverwaltung, 48,5% in den Staatsbetrieben, 30,7% in den Provinzen und Stadtverwaltungen und 22,2% in den dezentralisierten Einheiten 53 . Das Wirtschaftsministerium gehörte zu den Bereichen mit der geringsten Militärpräsenz. Ebenso wie das Erziehungsministerium wurde dieses Ressort an einen Zivilisten, José A. Martinez de Hoz, vergeben, der das Amt fast fünf Jahre lang innehatte (1976-1981). Die Dauer seiner Amtszeit steht in starkem Kontrast zu den kurzen Amtsperioden seiner Vorgänger in den vorhergehenden vier Jahrzehnten. Keinem von ihnen war es gelungen, sich länger als die Hälfte dieser Zeit im Amt zu behaupten. Die von dem neuen Minister verkündeten Ziele waren die Bekämpfung der Inflation, die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Beseitigung des Staatsdefizits. Die von ihm ergriffenen Maßnahmen brachten allerdings ganz andere Ergebnisse. Der unmittelbarste Effekt der Politik von Martinez de Hoz war ein drastischer Rückgang der Arbeitnehmereinkünfte. In einem inflationären Kontext provozierte die Freigabe der Preise bei gleichzeitigem Einfrieren von Löhnen und Gehältern Reallohnverluste von etwa 40% im ersten Amtsjahr, ohne daß
Vgl. Quiroga (1994: 70ff., 186ff.). Vgl. Castiglione (1992: 52ff.).
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später eine Erholung zu verzeichnen gewesen wäre 54 . Die Reallöhne sanken nicht nur in absoluten Zahlen, auch ihr Anteil am Bruttosozialprodukt ging zurück. Die Schätzungen variieren, deuten aber im allgemeinen auf einen starken Rückgang von ungefähr 45% im Jahr 1975 auf 35% im Jahr 1980 hin. Dies bedeutete eine beträchtliche Umverteilung der Einkommen zugunsten der Oberschichten und der nicht-lohnabhängigen Sektoren 55 . In der Praxis wurden die antiinflationären Maßnahmen und die Reduzierung des Haushaltsdefizits anderen Interessen geopfert. Zwischen 1976 und 1981 kam es nicht zu einer Verkleinerung des öffentlichen Sektors, sondern im Gegenteil zu seiner Ausweitung; die staatlichen Ausgaben, weit davon entfernt zu sinken, stiegen sogar an. Ursache dafür waren unter anderem die gestiegenen Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit, für die Infrastruktur in den Grenzgebieten und für die Energiepolitik 56 . Gleichzeitig wurde eine eigenartige Privatisierungspolitik durchgeführt. Einige große Betriebe wurden zergliedert und in Teilen verkauft; andere wurden samt und sonders aufgelöst. Die realen Einnahmen des Staates waren bei diesen Transaktionen sehr gering, wenn nicht sogar negativ. Die tatsächlichen Verkaufspreise waren bedeutend geringer als die Summen, die bei der ersten Ausschreibung als Basis festgesetzt worden waren. Außerdem übernahm der Staat in vielen Fällen die Passiva der transferierten Unternehmen. Die auf längere Sicht wichtigsten Konsequenzen dieser Politik beziehen sich auf die Fälle peripherer Privatisierung bzw. der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen an Private. Dieser Mechanismus ermöglichte die stufenweise Teilprivatisierung bestimmter Bereiche, in denen sich unmittelbar danach ein schnelles Wachstum der beteiligten Unternehmensgruppen abzeichnete. Sie erzielten große Gewinne bei sehr niedrigen Kosten und fast keinem Risiko. Der Staat trat als Käufer der Dienstleistungen auf, die er zuvor veräußert hatte, wobei er sogar Rentabilitätsgarantien anbot. So förderte die Wirtschaftspolitik der Militärregierung eine Kapitalkonzentration zugunsten von führenden Unternehmen, die in den Genuß von gesicherten Märkten und kostenunabhängig festgelegten Preisen kamen, ohne daß dieser Vorgang in irgendeiner Weise zu einer Entlastung des öffentlichen Etats oder zu einer Steigerung der Investitionen beigetragen hätte. Die staatlichen Betriebe wurden aufgesplittet und geschwächt. Von nun an hatten sie kaum Möglichkeiten, die Initiative wiederzugewinnen und als Entwicklungsfaktor zu wirken 57 . Die hohen Zinssätze, die Überbewertung der Landeswährung gegenüber dem Dollar, die durch einen im voraus offiziell festgelegten Wechselkurs (die sogenannte tablita) hervorgerufen wurde, die umfangreichen Spekulationsgeschäfte sowie die uneingeschränkte Außenöffnung der Volkswirtschaft wirkten zusammen und lösten einen Rezessions- und Verschuldungsprozeß aus, der jedoch Vgl. Schvarzer (1983: 39), Schvarzer (1986: 395). Vgl. Schvarzer (1986: 395), Beccaria (1991: 258). Vgl. Schvarzer (1986: 238ff.). Vgl. Schvarzer (1986: 254ff.).
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nicht für alle Produzenten die gleichen Folgen hatte. Die kleinen und mittleren Betriebe waren am meisten betroffen, denn sie waren nicht in der Lage, sich gegenüber der Konkurrenz von Billigimporten zu behaupten. Sie verfugten auch nicht über genügend Kapital, um erfolgreich an Finanz- und Wechselkursspekulationen teilzunehmen. Dagegen erreichten die diversifizierten oder integrierten multinationalen Unternehmen und die großen argentinischen Unternehmensgruppen eine Erweiterung ihrer Marktanteile, zumal sie über mehrere Vorteile verfugten, so etwa ihre internationalen Kontakte, eine hohe Anpassungsfähigkeit an die Wirtschaftskonjunkturen aufgrund ihrer Diversifikationsmöglichkeiten, garantierte Einnahmen durch ihre Position als Vertragspartner des Staates und ihre durch die peripheren Privatisierungen erzielten Gewinne 58 . Die Politik von Martinez de Hoz führte zur Entstehung eines Finanzmarktes mit kurzfristigen Anlagen und hoher Liquidität sowie zur Abschaffung aller bisher existierenden Beschränkungen für grenzüberschreitende Kapitalbewegungen. Genau diese Charakteristika des neuen Finanzmarktes schufen eine Instabilität, die paradoxerweise die zentrale politische Rolle der verantwortlichen Wirtschaftsequipe verstärkte, die nun als einziger vertrauenschaffender Akteur galt. Gleichzeitig konzentrierte sich ein beachtlicher Teil der Finanztransaktionen auf eine relativ kleine Zahl von Unternehmen, die zu Marktführern wurden. In dem Maße wie ihre Handlungen den kleinen und mittleren Sparern als Orientierungspunkte dienten, multiplizierten sich ihre Wirkungen mit ungeheurer Geschwindigkeit und entzogen sich jeglicher Kontrolle. Auf diese Weise bildete sich ein Kapitalmarkt neuer Prägung, dessen Funktionsweise allein jeden Versuch, wieder zu den ursprünglichen Bedingungen zurückzukehren, zum Scheitern verurteilte. Somit waren die bis dahin im Lande geltenden Machtverhältnisse grundlegend modifiziert worden 59 . Eine andere langfristige Folge der Wirtschaftspolitik der Diktatur bestand in der Anhäufung einer enormen Auslandsverschuldung, die von US$ 4,875 Milliarden im Jahr 1975 auf US$ 44,438 Milliarden im Jahr 1983 anstieg 60 . Die Schuldenlast, die 1977 14,7% des BIP betrug, war 1983 auf 41,1% angestiegen.61 Bis 1979 diente die externe Kreditaufnahme der Reservenbildung. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Devisen dazu benutzt, um die Nachfrage des privaten Sektors zu befriedigen. In einem Kontext der Marktöffnung und der Überbewertung der Landeswährung wurden sie zu externen Käufen und Finanzspekulationen verwendet. 1980 hatten der Zusammenbruch einiger Kredithäuser und verschiedene Bewegungen innerhalb der Führungsspitze der Militärregierung ein wachsendes Mißtrauen in die Kontinuität der Wirtschaftspolitik zur Folge. Der Markt reagierte sofort, und es kam zu einer Kapitalflucht, die immer
58
Vgl. Azpiazu/Basualdo/Khavisse (1987: 194ff.), Birle (1995: 157ff.).
"
Vgl. Schvarzer( 1983).
60
Vgl. Calcagno (1985: 46).
61
Vgl. Minsburg (1991: 125).
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schneller vonstatten ging. 1984 entsprach die Summe des Fluchtkapitals 66,8% der Auslandsschuld des Landes62. Im Juni 1982, als sich das Militärregime schon im Auflösungsprozeß befand, beschloß der damalige Präsident der Zentralbank, Domingo Cavallo, eine Ausweitung des Systems der Wechselkursgarantien, durch die die nationale Regierung Garantie für die Zahlung von Schulden gegenüber ausländischen Gläubigern gewährte, ohne etwas im Gegenzug zu erhalten. Auf diese Art und Weise wurden aus privaten Schulden staatliche Schulden, deren Rückzahlung der nachfolgenden demokratischen Regierung ebenso wie der gesamten Nation aufgebürdet wurde63. Eine solche Wirtschaftspolitik konnte nur in einem Kontext brutaler Repression durchgeführt werden. Bereits am 24. März 1976 definierte die Militärjunta als eines ihrer Ziele die "Gewährleistung der nationalen Sicherheit"64. Damit berief sich die neue Regierung auf eine in Argentinien wie in ganz Lateinamerika vertraute Sicherheitsdoktrin, deren wesentliche Elemente lauten: eine deutliche internationale Parteinahme im Kontext des Kalten Krieges zur Verteidigung der "westlichen und christlichen Werte"; ein allumfassendes Sicherheitskonzept als höchstes Staatsziel, unter welches sich alle anderen Ziele unterordnen mußten; die Wahrnehmung jeglicher Form von Opposition als innere Bedrohung bzw. Aggression und schließlich die Durchfuhrung einer Anti-Terror-Strategie65. Entschlossen, die Subversion zu vernichten und keine "Opposition gegenüber dem Heilungsprozeß"66 zu tolerieren, wandte die neue Administration harte repressive Methoden an. Weit davon entfernt sich auf die Bekämpfung von terroristischen Gruppierungen zu beschränken, spannte sich der "schmutzige Krieg" wie ein Spinnennetz um die gesamte Gesellschaft. Offiziell deckte der Sicherheitsapparat des autoritären Staates auch die letzten Ecken des Landes ab. Er war als pyramidale Struktur organisiert, deren Spitze durch die Militärjunta besetzt war. In der Praxis besaßen die Kommandanten der Regimenter und Bataillone jedoch die direkte Autorität über etwa 100 geheime Haftanstalten, deren Mehrzahl sich unter der Führung des Heeres befand, während einige auch den anderen Teilstreitkräften oder der Polizei unterstellt waren. Die relativ niedrige Durchdringung des Ministeriums des Inneren sowie des Verteidigungsund Justizministeriums belegt, wie unbedeutend deren Handlungen für die Durchführung der Repression waren. Dagegen hatten die Brigadenfuhrer die Befugnis, "grupos de tareas" zu organisieren, d.h. paramilitärische Organisationen, die zum Teil durch das reguläre Personal der Streitkräfte gebildet wurden, aber nicht öffentlich als solche agierten. Sie waren diejenigen, die die Opfer aus Vgl. Schvarzer (1983: 86ff.), Frenkel/Fanelli/Sommer (1988), Minsburg (1991: 127ff.). Vgl. Calcagno (1985: 62), Minsburg (1991: 132). "Proclama" vom 24. März 1976. In bezug auf die Entwicklung der Doktrin der Nationalen Sicherheit in Argentinien siehe Viaggio (1983) und López (1987: 171ff.). So der Wortlaut der "Acta fijando el propósito y los objetivos básicos para el Proceso de Reorganización Nacional".
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ihren Häusern holten, sie in die geheimen Haftanstalten brachten, dort folterten und/oder verschwinden ließen sowie ihre persönlichen Besitztümer plünderten. Diese Methode hatte den zweifelhaften Vorzug, ein Maximum an Repression mit einem Minimum an Kontrolle seitens des Regimes über seine eigenen Taten zu verbinden. Obwohl eine der hervorstechendsten Eigenschaften der argentinischen Diktatur der willkürliche Charakter der Terrormaßnahmen war, bedeutet dies nicht, daß alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen betroffen gewesen wären. Die Repression hatte klare Prioritäten und zielte vor allem auf militante Gewerkschaftler, kritische Journalisten, Studenten, widerspenstige Intellektuelle und einige Priester sowie christliche Laien, die - im krassen Gegensatz zu der von der Mehrheit der kirchlichen Hierarchie verfolgten Politik - versuchten, Zeugnis ihrer Option für die Armen abzulegen 67 .
2.3 Zwischenbilanz I Die beiden von Robert Dahl genannten Dimensionen der Demokratisierung, d.h. die Anerkennung der Legitimität von Partizipation und von Opposition, wiesen in Argentinien eine sehr unstetige Entwicklung auf. Anders als man dies gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts hätte erwarten können, kam es nicht zu einer schrittweisen Öffnung des politischen Systems und der allmählichen Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten breiter gesellschaftlicher Sektoren. Im Gegenteil, die Destabilisierung des kompetitiv-oligarchischen Regimes der "Konservativen Ordnung" machte einer Phase des Hin- und Herpendeins zwischen einer einschließenden Hegemonie in Form des Peronismus und der geschlossenen Hegemonie der Militärregime Platz, nuanciert durch vergebliche Versuche, zu einem kompetitiv-oligarchischen Regime zurückzukehren. Faktionalismus, Personalismus sowie strukturelle und organisatorische Schwäche der politischen Parteien, Bewegungstradition und Ausschluß der Opposition, politischer Protagonismus der Korporationen, militärischer Interventionismus, Anomie, institutionelle Blockaden, Unmöglichkeit, eine Konzertierungsformel zu finden sowie eine die autoritären Lösungen nicht ablehnende politische Kultur sind die wichtigsten demokratischen Defizite der politischen Tradition Argentiniens. In der Opposition befanden sich stets verschiedene Machtfaktoren, die gleichzeitig in verschiedenen Arenen und über unterschiedliche Kanäle agierten. Ihre Handlungen konvergierten mehrmals in der Destabilisierung der jeweiligen Regierung, ohne daß sie aufgrund einer großen Vielfalt von Zielen und Interessen in der Lage waren, eine lebensfähige Alternative anzubieten. Die Zügigkeit, mit der sich die verschiedenen politischen Akteure wiederholt dafür entschieden, antikonstitutionelle Lösungen zu unterstützen, deutet darauf
Vgl. C O N A D E P (1985), Groisman (1984), Mignone (1986), Pion-Berlin (1989: 102ff.), Castiglione (1992: 67), Andersen (1993: passim).
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hin, daß alle nur solange bereit waren, an Wahlen zu glauben, wie die Ergebnisse nicht einen Sieg des Gegners brachten 68 . Die Wechselfalle der Reformen und Gegenreformen der Verfassung, die militärischen Interventionen und die kurzen zivilen Zwischenspiele sind deutliche Beispiele dafür, wie die Existenz unterschiedlicher Anerkennungsregeln zu pathologischen Erscheinungen führte, die die Stabilisierung der Demokratie und jeglicher anderer Regimeformen verhinderte. Noch Anfang der achtziger Jahre war die Formel, die die Opposition als "Regierung im Wartestand" definiert, in Argentinien unbekannt. Weder die parteipolitische noch die korporative Opposition war jemals bereit gewesen zu warten. So kann Argentinien zunächst eher als ein Land eingestuft werden, das - wie in These 1 behauptet - zu Beginn des letzten Demokratisierungsprozesses geringe demokratische Erfahrung aufwies. Zu bemerken ist allerdings auch, daß diese Erfahrung sowohl negative als auch positive Elemente beinhaltete. Unter den letzten gilt es insbesondere die Tatsache zu unterstreichen, daß zu Beginn des Demokratisierungsprozesses bereits politische Parteien mit Regierungs- und Oppositionserfahrung existierten, ebenso intermediäre Organisationen, die die Interessen ihrer Mitglieder zu kanalisieren wußten, wenn auch nicht selten auf undemokratische Art und Weise. Zu dieser an sich schon problematischen Erfahrung der politischen Akteure in Argentinien gesellten sich die Hinterlassenschaften des letzten autoritären Regimes: der drastische Rückgang der Arbeitnehmereinkommen im Vergleich zu historischen Werten, die Zerstörung der staatlichen Mechanismen zur Steuerung der Wirtschaft, die Hypothek einer enormen Auslandsverschuldung, die traumatischen Nachwirkungen des Staatsterrors und die Folgen der langjährigen Außerkraftsetzung des Rechtsstaates. Diese Situation stellte eine faktische Einschränkung des Handlungsspielraums der politischen Akteure auch nach der Transitionsphase dar, unabhängig davon, ob sie dieses Handicap damals richtig einschätzen konnten bzw. wollten oder nicht. Diese Erkenntnis bezieht sich zwar nicht direkt auf die eingangs formulierten Thesen, bildet jedoch den Hintergrund, vor dem die Transition sowie die gesamte Regierungszeit Alfonsin zu betrachten ist. Wie die Akteure damals diese kritische Situation perzipierten und inwiefern sie fähig waren, ihre bisherigen Erfahrungen zu verarbeiten, wird in anderen Teilen dieser Arbeit - vor allem in den Kapiteln 4 und 7 - thematisiert. Hier bleibt nur festzuhalten, daß die Bewältigung derart vieler bedrängender Probleme eine große Herausforderung für das politische System darstellte.
68
Vgl. Dahl (1978: 140).
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3. Der Peronismus: Ein vielschichtiger politischer Akteur "Es ist auch bekannt: So wie es im Raum unendlich viele Punkte, unendlich viele Geraden und unendlich viele Ebenen gibt, so gibt es im Peronismus schon seit jeher unendlich viele ontologische Lesarten." (F. Mittelbach 1985)
Die um die Person des damaligen Oberst Juan Domingo Perón entstandene politische Bewegung existiert nun schon seit über fünfzig Jahren. Von Anfang an konstituierte sich der Peronismus als einer der wichtigsten politischen Akteure Argentiniens, wobei er wiederholt die übrigen Akteure in den Hintergrund drängte. In der justizialistischen Tradition gilt der 17. Oktober 1945 als Geburtsdatum der Bewegung. Damit wird an den spontanen Massenprotest erinnert, der an jenem Tag eine Militärfuhrung zum Zurückweichen zwang, die ihrerseits mittels eines Palastputsches versucht hatte, den wachsenden Einfluß Peróns einzudämmen. Dieser hatte seine politische Karriere als Mitglied des Grupo de Oficiales Unidos (GOU) begonnen, einer Loge, der große Verantwortung bei den Vorbereitungen des Putsches vom 4. Juni 1943 zukam. Nach seinem Sieg bei den Wahlen des Jahres 1946 übernahm Perón die Präsidentschaft und blieb an der Macht, bis die sogenannte "Befreiungsrevolution" (1955) ihn aus dem Amt vertrieb. Trotz aller Proskriptionen und eines achtzehn Jahre dauernden Exils konnte ihn niemand ersetzen noch seine Bewegung ausschalten. 1973 gewann Héctor Cámpora die Präsidentschaftswahlen, der sich für den Frente Justicialista de Liberación (FREJULI) als Vertreter Peróns beworben hatte. Dessen Kandidatur hatte die Militärregierung untersagt. Schon nach wenigen Monaten legte der neue Präsident die Regierungsgeschäfte erneut in die Hände des alten Generals, der sie bis zu seinem Tod ausübte. Seine dritte Ehefrau und Nachfolgerin, María Estela Martínez de Perón (auch bekannt unter dem Namen Isabel), wurde 1976 durch einen Militärputsch gestürzt, während die peronistische Bewegung zur gleichen Zeit in eine schwere Krise geriet, die ihre Auflösung anzukündigen schien. Dazu kam es jedoch keineswegs: Seit 1989 hat Argentinien wiederum einen justizialistischen Präsidenten, Carlos Menem, der sogar für eine zweite Amtszeit gewählt wurde. 81
Es ist weder möglich noch beabsichtigt, im Rahmen der vorliegenden Arbeit einen Gesamtüberblick über die Entwicklung des Peronismus oder gar eine umfassende Interpretation einer solch komplexen Bewegung zu liefern 1 . Vielmehr geht es darum, die Erfahrungen des Peronismus als oppositioneller Akteur herauszuarbeiten, um später überprüfen zu können, ob und inwiefern der Justizialismus in den Jahren 1983-1989 auf altbewährte Strategien zurückgegriffen hat, wie These 6 behauptet. Da die Untersuchung einem politischen Akteur gewidmet ist, der - wie in Kapitel 2 schon angedeutet - ambivalente Erfahrungen mit der Demokratie hatte, muß hier auch auf seine Beschaffenheit eingegangen werden, d.h. konkret auf sein Selbstverständnis und seine Organisationsstruktur. Die Beschäftigung mit der wechselhaften Entwicklung der Identität und Organisationsformen des Justizialismus soll einerseits Auskunft über den Werdegang der Bewegung geben, dient aber vor allem auch dazu, einen historischen Bezugsrahmen zu definieren, um die Wirksamkeit interner Restriktionsmechanismen sowie die Interessendivergenzen innerhalb des Peronismus - die Erklärungsvariablen in These 7 und 8 - während der Transition und in der PostTransitionsphase zu bewerten.
3.1 Das Selbstverständnis des Peronismus Wenige Themen haben sowohl im eigenen als auch im fremden Lager so viele Kontroversen ausgelöst wie die Definition der peronistisehen Identität, für die eine breite Palette von Interpretationen angeboten wird. Einerseits existiert eine Reihe von Studien, die das Phänomen als Spielart spezifischer Regimevarianten darstellen. So wurde der Peronismus als faschistisches Regime, als bürgerlicher Nationalismus, als eine Form des Bonapartismus, als Entwicklungsdiktatur und als Inbegriff des lateinamerikanischen Populismus interpretiert. Andere Autoren betonen dagegen die Originalität des Justizialismus als eine Bewegung sui gener is. Die Peronisten selbst haben sich ihrerseits stets und übereinstimmend als eine "nationale Volksbewegung" verstanden, wobei die Operationalisierung dieses Konzeptes jedoch zu endlosen Auseinandersetzungen geführt hat 2 . Die Pluralität der Interpretationen der peronistischen Identität ist keineswegs zufallig. Jede einzelne kann sich auf Verlautbarungen stützen, die der Anführer der Bewegung zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten gegeben hat, dabei all jene Äußerungen weglassend, die sich in das jeweils vordefinierte Bild nicht einordnen lassen. Demgegenüber besteht die einzige vernünftige Lösung des "peronistischen Rätsels" darin, den Widersprüchen Rechnung zu tragen und den Darüber existiert eine umfangreiche Literatur, von der hier nur einige der wichtigsten Titel genannt werden sollen: Germani (1965), Murmis/Portantiero (1969), Ciria (1971), Waldmann (1974), Di Telia (1983), Maceyra (1983), Luna (1984), Horowicz (1985), Halperin Donghi (1986), Buchrucker (1987), de Riz (1987), Miguens/Tumer (1988), de Ipola (1989), Torre (1990), Sukup (1992), Plotkin (1994), Borön et al. (1995), Bonasso (1997). Für einen Oberblick über die verschiedenen Interpretationen des Peronismus siehe Chumbita (1989b: 1 9 f f ) , de Ipola (1989; 1990), Jorrat (1990).
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Justizialismus als eine Bewegung zu charakterisieren, die von Anfang an eine Vielfalt von Anschauungen in sich vereinigte. Hat der Beobachter sich für diese Betrachtungsweise entschieden und die vergebliche Suche nach dem "wahren Wesen" des Peronismus aufgegeben, stellt sich die weit wichtigere Frage, wie diese Vielfalt zu erklären ist und welche Folgen sie für die politische Entwicklung des Landes hatte. Die plausibelste Erklärung der justizialistischen Vielfalt ist weder durch eine inhaltliche Analyse der verschiedenen ideologischen Strömungen noch mittels abstrakter Theoriekonzepte zu gewinnen. Sie liegt vielmehr in der politischen Praxis des Peronismus, vor allem in der Taktik, die zuerst Perón selbst, später seine Anhänger und Nachfolger einsetzten, um die Unterstützung unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Machtfaktoren zu gewinnen. Der Militärputsch vom 4. Juni 1943 war mehr eine Reaktion gegen die Perpetuierung der konservativen Herrschaft und das Wiedererstarken pro-alliierter Positionen, die sich mit der Kandidatur von Patrón Costas angekündigt hatte (er konnte angesichts des herrschenden Wahlbetrugs als sicherer Sieger gelten), als eine auf die Implementierung einer konkreten Politik abzielende Bewegung. Wie der argentinische Historiker Tulio Halperin Donghi mit der ihm üblichen Ironie bemerkte, bewiesen die neuen Machthaber, einmal an der Regierung, "daß sie sehr wohl verstanden, daß die Ferien, die sie der repräsentativen Demokratie verordnet hatten, sie nicht von der Notwendigkeit befreiten, unter den Regierten um Unterstützung nachzusuchen. Unter diesen Bedingungen konnte nicht gleichzeitig der Autoritarismus gestärkt und - wie geplant - eine Austeritätspolitik durchgeführt werden"3.
Unter diesen Bedingungen bat Oberst Perón, bis dato einer unter vielen Offizieren zweiten Grades, die sich am Putsch beteiligt hatten, ihm die Leitung der eher unbedeutenden Abteilung für Arbeitsbeziehungen {Departamento de Trabajó) zu übertragen, mithin eines Amtes, das nicht gerade das Interesse politisch ehrgeiziger Personen auf sich zog. Während die Führungsebene des Regimes sich in der Höhenluft der internationalen Politik bewegte, konzentrierte sich Perón von einem nunmehr aufgeweiteten "Staatssekretariat für Arbeit und soziale Sicherung" darauf, Kontakte zu den Gewerkschaftsführern zu knüpfen, die am stärksten politisierten unter ihnen zu verfolgen und den Einfluß der ihm am meisten geneigten zu steigern. All dies tat er, ohne der politischen Tradition, der sich diese Führer verschrieben hatten - der sozialistischen, kommunistischen oder anarchosyndikalistischen - große Aufmerksamkeit zu schenken. Wichtig für ihn war lediglich, daß die so avisierten Gewerkschaftler bereit waren, der durch das Staatssekretariat vorgegebenen Linie zu folgen4. Durch den wachsenden Einfluß Oberst Peróns praktizierte die gleiche Regierung, die Zeitungen schloß, nicht fügsame Funktionäre entließ, in Universitäten 3
Halperin Donghi (1986: 29).
4
Ober die Beziehungen zwischen Perón und der "alten Garde" der Gewerkschaften siehe Matsushita (1983) und Torre (1990).
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intervenierte, des Kommunismus verdächtigte Gewerkschaftsführer verhaftete und in den Schulen den obligatorischen Religionsunterricht einführte, im Zeitraffertempo eine Sozialpolitik, die für das Alltagsleben der unteren Mittelschicht und Unterschicht erhebliche und sehr konkrete Verbesserungen brachte5. Wenn die erstgenannten Maßnahmen den wachsenden Widerstand eines großen Teils der Öffentlichkeit gegen das provozierten, was man als den aufkommenden Faschismus bezeichnete, sicherten die sozialpolitischen Reformen ihrem Initiator, wenn auch nicht der Militärregierung insgesamt, das Vertrauen und die solide Unterstützung zahlreicher Begünstigter, zugleich aber auch das Mißtrauen weiter Teile der Unternehmerschaft. Um die Unterstützung gerade dieses Sektors zu gewinnen, versuchte Perön seine Sozialpolitik als das geeignetste Mittel zur Sicherung der fundamentalen privatwirtschaftlichen Interessen zu präsentieren, die gemäß seiner Deutung durch den wachsenden kommunistischen Einfluß in den Gewerkschaften bedroht waren. In einer Rede in der Bolsa de Comercio von Buenos Aires äußerte er sich diesbezüglich folgendermaßen: "Man hat mir unterstellt, meine Herren, ich sei ein Gegner des Kapitals, aber wenn Sie darauf achten, was ich soeben ausgeführt habe, werden Sie keinen entschiedeneren Verfechter finden als mich, denn ich weiß, daß die Verteidigung der Interessen der Herren der Finanzen, der Industrie und des Handels die Verteidigung des Staates selbst ist"6.
Die soziale und physische Distanz zwischen den verschiedenen Auditorien sollte es ihm erlauben, mit großer Überzeugungs(kraft) genau das Gegenteil auf einer Feier zum 1. Mai zu verkünden: "Daß sich keiner täuschen lasse! Für die kapitalistische Wirtschaft ist kein Platz in unserem Vaterland. Ihre letzten Bastionen werden von uns unversöhnlich zerstört werden."7
Peröns Wahlsieg 1946 machte ihn zu einem verfassungsmäßigen Präsidenten militärischer Herkunft, der über keine strukturierte politische Partei verfügte, die ihm als Unterstützungs- und Vermittlungsinstanz gedient hätte. Er sah sich deshalb dazu genötigt, seine heterogene Gefolgschaft zu disziplinieren, breite soziale Unterstützung zu suchen und soweit wie möglich zu vermeiden, daß die Aufmerksamkeit, die er einem Teil seiner Klientel zuteil werden ließ, ihn die
s
Der größte Teil der unter Perón durchgeführten sozialpolitischen Maßnahmen datiert exakt auf das Jahr 1944, das heißt jenes Jahr, in dem Perón das Staatssekretariat leitete. Unter diesen Maßnahmen verdienen hervorgehoben zu werden die Verabschiedung und/oder die Durchfllhrungskontrolle von Gesetzen und Dekreten, die die Organisation eines Rentensystems regelten; die Schaffung von Arbeitsgerichten; das Landarbeiter-Statut (peón de campo); die Regulierung der Berufsbildung Jugendlicher, der Schutz vor Arbeitsunfällen, Verbesserungen bezuglich der Arbeitsbeziehungen von Hauspersonal und bezahltem Urlaub; Lohnerhöhungen, die Festlegung eines gesetzlichen Rahmens bei Kollektivverhandlungen und gewisse Arbeitsplatzgarantien. Ende 1945, als bereits der Wahlkampf begonnen hatte, wurde schließlich per Dekret die Zahlung eines Weihnachtsgelds verfügt. Vgl. Matsushita (1983: 273ff.).
6
Zitiert nach Peyrou/Villanueva (1969: 226).
7
Zitiert nach Peyrou/Villanueva (1969: 259).
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Geneigtheit der anderen kostete. Unter diesen Umständen waren dem Peronismus all jene hoch willkommen, die dem neuen Machthaber bereitwillig folgten. Wie der Historiker Félix Luna treffend beobachtete: "Wenn etwas Perón während seines gesamten politischen Werdegangs charakterisierte, war es der Pragmatismus, der sein Handeln prägte, der Realismus, der seine Züge lenkte, die Ungezwungenheit, mit der er die eine Sache verfolgte, die andere verwarf, wie es ihm gerade zupaß kam. Diese Handlungsweise ist der Schlüssel zum Verständnis der Natur jenes Staates, den er in der ersten Phase seiner Herrschaft aufbaute: 'weder Yanqui, noch marxistisch', weder faschistisch, noch populistisch, weder bonapartistisch noch eine Massendemokratie. Eine Mischung all dessen, was ihm dienlich war, ein reichhaltiges Allerlei, dem er stets seine persönliche Gewürzmischung beigab, ohne sich um frühere Ideologien oder um Widersprüche zwischen dem, was er sagte und dem, was er tat, zu kümmern"8.
Zu Propagandazwecken mußte solcher Eklektizismus auf schlichte Formeln reduziert werden, die häufig bis zur Ermüdung als Refrains in regierungshörigen Radiosendungen und Printmedien verbreitet wurden. Dank der Mitarbeit mancher regimetreuer Schreiber entstand ab 1949 aus einer Sammlung ziemlich diffuser Postúlate, die von Perón selbst - und in geringerem Maße auch von seiner Frau Eva - geäußert worden waren, die "Justizialistische Doktrin". In diesem peronistischen Gedankengut trafen nationalistische, katholische, sozialistische und korporative Vorstellungen zusammen und verschmolzen in der Figur der "Organisierten Gemeinschaft" und ihrer drei Grundprinzipien der "politischen Souveränität", "wirtschaftlichen Unabhängigkeit" und "sozialen Gerechtigkeit". Als einer der ersten Marksteine bei der offiziellen Formulierung der justizialistischen Weltanschauung gelten die sogenannten "Zwanzig Wahrheiten" 9 . Sie wurden ergänzt durch den 1949 verabschiedeten Verfassungstext, in dem Aussagen über die Rechte der Arbeiter, über die Familie, das Alter, die Ausbildung, die Kultur und die soziale Funktion des Eigentums sowie der Unternehmen zu finden sind. Dort wurde auch festgelegt, daß Mineral- und Wasserressourcen, Erdöl-, Kohle- und Erdgasvorkommen sowie alle anderen natürlichen Energiequellen unantastbares und unveräußerliches Eigentum der Nation seien. Auch alle öffentlichen Dienstleistungen sollten in staatlichen Besitz kommen. Auf dem Gebiet der internationalen Politik postulierte der Justizialismus eine "dritte Position" und die Notwendigkeit der südamerikanischen Einigung 10 .
8
Luna (1984:407f.)
9
Darin heißt es beispielsweise: " 1. Echte Demokratie ist nur diejenige, in der die Regierung das macht, was das Volk will, und nur ein Interesse kennt: das des Volkes. 2. Der Peronismus ist seinem Wesen nach volksnah. Politische Zirkel sind es nicht, daher sind sie auch nicht peronistisch.f...] 4. Im Neuen Argentinien ist Arbeit ein Recht, das die Würde des Menschen begründet, und sie ist eine Pflicht, weil es gerecht ist, daß jeder zumindest das produziert, was er konsumiert.!...] Für das politische Handeln eines jeden Peronisten gilt folgende Werteskala: zuerst das Vaterland, dann die Bewegung, dann die Menschen.[...] 14. Der Justizialismus ist eine neue Lebensphilosophie, einfach, praxisorientiert, volksnah, zutiefst christlich und zutiefst humanistisch.!...] 18. Wir wollen ein sozial gerechtes, wirtschaftlich freies und politisch souveränes Argentinien." (Perön 1950: 41 f.)
10
Vgl. CNA (1949).
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Zur gleichen Zeit, als sich dieser nationalistische Diskurs herauskristallisierte, die industriepolitischen Postúlate wiederholt und die Vorrechte der Arbeiter bestätigt wurden, machte die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Perón eine Kehrtwende zugunsten der Exporteure, wurde eine Anpassungspolitik begonnen und nordamerikanischen Unternehmen beachtliche Rechte bezüglich der Erdölexploration gewährt. Perón behielt sich das Recht vor, die "Doktrin" entsprechend den wechselnden politischen Umständen auszulegen: "Die Doktrin ist für niemanden eine festgelegte Regel. Sie gibt vielmehr eine grobe Orientierung vor, mit Grundsätzen, die stets in unterschiedlicher Form eingehalten werden. Man ist an nichts Festes gebunden, verfügt vielmehr über eine geistige Orientierung, um in jeder Situation innerhalb einer bestimmten Richtung, jedoch mit überaus großem Spielraum bezüglich der jeweiligen konkreten Handlungen, zu entscheiden"11.
Als es nach dem Ende der "fetten Jahre" immer schwieriger wurde, die Umverteilungspolitik beizubehalten, konnte kaum überraschen, daß sich die offizielle Propaganda alle Mühe gab, die emotionalen Bindungen aufrechtzuerhalten, ein Gebiet, auf dem die Figur Eva Peróns eine bedeutende Rolle spielte, und dies auch noch nach ihrem Tode12: "Hier benötigen wir nicht viele Köpfe, sondern viele Herzen, da man den Justizialismus mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand erfaßt"13.
Rhetorik und Praxis der ersten beiden Amtszeiten von Perón (1946-1955) enthielten deutlich autoritäre Komponenten. Der Justizialismus behauptete, einziger genuiner Repräsentant des Willens des argentinischen Volkes zu sein, womit er der Opposition jegliche Legitimität absprach und sie in einer nebulösen Zone der Oligarchie, der Antipatria, als "Vaterlandsverräter" verortete. Dazu kamen Personenkult14 und ein Führungsverständnis, das den liberaldemokratischen Prinzipien grundlegend widersprach: "Die Völker müssen wissen, daß der Führer geboren wird. Er entsteht weder aufgrund von Dekreten, noch von Wahlen. Führen ist eine Kunst, und der Künstler wird geboren, nicht gemacht. Kunstwerke werden weder anhand von Rezepten, noch von Handbüchlein geschaffen. Was den Künstler im Kern ausmacht, ist, etwas zu schaffen. Für die Führung gibt es keine Muster, der Führer muß vielmehr seine eigenen Gußformen schmieden, um sie dann mit einem Inhalt zu füllen, der bezüglich seiner Effizienz dem geheiligten Öl Samuels entspricht, das der Führer von Gott empfangen hat"15.
Perón in: "La conducción política", zitiert nach Ciria (1971: 147). Im Jahr 1951 wurde eine offizielle Autobiographie von Eva Perón mit dem Titel "La razón de mi vida" veröffentlicht, die nach ihrem Tode in allen Sekundärschulen des Landes zur Pflichtlektüre wurde. Zur Person und politischen Rolle Eva Peróns siehe auch Luna (1984:426ff.) und vor allem Navarro (1996). Eva Perón in "Historia del Peronismo", zitiert nach Peyrou/Villanueva (1969: 336). Dazu siehe Waldmann (1974: 147ff.), Luna (1984: 363ff.) Perón in einer Rede von 1944, zitiert nach Peyrou/Villanueva (1969: 333).
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Der Sturz Peróns 1955 führte zu einem Wandel der peronistischen Identität. Das Verbot und die Verfolgung, die die Peronisten und ein Großteil ihrer Sympathisanten erdulden mußten, mündete in eine Kultur des Widerstands, die um so stärker wurde, je mehr das Militärregime zu repressiven Maßnahmen griff mit dem Ziel, das Land und vor allem die Gewerkschaften zu "entperonisieren". Während den Proskriptionsjahren flössen in den peronistischen Diskurs aufrührerische bis hin zu revolutionäre Töne ein, die je nach den Umständen lauter oder leiser wurden. Zu jener Zeit gelangten die Ansichten Peróns aufgrund des Verbots und der Zensur nur über verschiedene Abgesandte ins Land, die alle darum bemüht waren, sich als seine legitimen Repräsentanten darzustellen. Gegen Ende der sechziger Jahre nahm der peronistische Diskurs teilweise linke Positionen an und näherte sich dabei rhetorisch der kubanischen Revolution. Von da an trat eine neue Generation von Aktivisten dem Justizialismus bei, die die Juventud Peronista (JP) bildete. Sie nahm wesentlich radikalere Positionen als die Gründergeneration ein. Zur gleichen Zeit schlössen sich zahlreiche Intellektuelle dem Peronismus an. Sie begannen in ihm eine wahrhaft revolutionäre Kraft zu sehen. Die Studentenschaft, in der Vergangenheit eines der Bollwerke des Anti-Peronismus, war nunmehr mehrheitlich peronistisch und setzte ihr ganzes Vertrauen auf den exilierten General. Einem großen Teil dieser Sektoren diente Eva Perón in ihrer kämpferischsten Version als Leitfigur, wie sie in ihrer Parole zum Ausdruck kam: "Das Leben für Perón". Gleichzeitig wurde das "sozialistische Vaterland" proklamiert. Treu seiner Gewohnheit, sich um Unterstützung zu jeglichem ideologischen Preis zu bemühen, fachte Perón von seinem spanischen Exil aus diese (widersprüchlichen) Parolen ebenso an wie die Hoffnung seiner Gefolgschaft, daß er, einmal an der Macht, alle ihre Wünsche erfüllen würde 16 . Innerhalb der Bewegung kam es zur Konfrontation zwischen den linken Gruppen, der alten gewerkschaftlichen Garde und den rechtsnationalistischen Gruppen. Das Massaker von Ezeiza machte deutlich, daß die bis dahin praktizierte friedliche Koexistenz verschiedener ideologischer Strömungen innerhalb des Peronismus auf Dauer unmöglich war 17 . Erneut an der Regierung versuchte Perón 1973, einen "Sozialpakt" abzuschließen, der per definitionem jeden revolutionären Ansatz ausschloß. Das zwang die JP dazu, nach Mechanismen zu suchen, die ihre Legitimation innerhalb des Peronismus stärkten. Dabei bemühten sich ihre Anhänger zunächst um den Segen des Generals. Als dieser seine Unterstützung kategorisch und öffentlich verweigerte 18 , sah die JP keinen anderen Vgl. Sigal/Verón (1986: 9Iff.), Halperin Donghi (1994: 61fF.) Während der öffentlichen Feier, die fllr die Rückkehr Peróns aus dem Exil am 20. Juni 1973 in der Nähe des internationalen Flughafens Ezeiza organisiert worden war, kam es zu zwei heftigen Schußwechseln zwischen verschiedenen Gruppen von Anhängern. Beide wurden von den fllr die Sicherheit des Aktes Verantwortlichen ausgelöst. Diese gehörten nicht der Polizei an, vielmehr handelte es sich um parapolizeiliche Kräfte und gewerkschaftliche Leibwächter. Vgl. Verbitsky (1985), Feinmann (1987: 87ff.). Am 12. Oktober 1973 hatte Perón vom Balkon des Regierungsgebäudes aus die Wiederbelebung einer alten Tradition verkündet, nach der er am I. Mai jeden Jahres das Volk rhetorisch fragte, ob es mit der Regierung zufrieden sei. Er wußte damals noch nicht, daß die JP diese Frage ein Jahr später emst nehmen würde. Sie zögerte nicht, ihre Kritik an der Vizepräsidentin Perón, an der gewerkschaftlichen Bürokratie und an der
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Ausweg, als sich eine eigene, von den Erklärungen des alten Führers unabhängige Legitimation zu verschaffen. Von nun an präsentierte sie sich selbst als den "echten Peronismus" und die übrigen Sektoren als Verräter. Der Diskurs und die Haltung der übrigen Gruppierungen wichen kaum von diesem Muster ab. Auch der rechte Flügel stellte sich als der wahrhafte Peronismus gegenüber den "linken Infiltranten" dar. Trotz seines konzilianten Diskurses nach beiden Seiten war Perön denen gegenüber, die rechts von ihm standen, nachgiebiger und rügte niemals ihr Verhalten. Innerhalb jedes Flügels gab es zudem verschiedene Gruppierungen und Sektoren, so daß sich die internen Konflikte vervielfachten. Der Streit zwischen den peronistischen Strömungen beschränkte sich nicht auf die rhetorische Ebene, sondern nahm bald die Züge einer gewalttätigen Auseinandersetzung an. Die inneren Widersprüche innerhalb der Bewegung verlagerten sich auf die Regierung und somit auf die gesamte Nation. Zum Zeitpunkt von Peröns Tod war die sogenannte "nationale Bewegung" schon
Wirtschaftspolitik der Regierung zu äußern. Während der Präsident versuchte, seine Rede zu halten, brachten militante Jugendliche ihre Beschwerden lautstark zum Ausdruck. Perón sah sich gezwungen, das Programm zu ändern, um seine Position deutlich in einer Art Dialog zu definieren: "Kameraden: Heute ist es zwanzig Jahre her, daß ich von eben diesem Balkon aus [den argentinischen Arbeitern] empfahl, ihre Organisationen zu stärken, da schwierige Zeiten bevorstünden. Ich inte mich weder in der Einschätzung der kommenden Zeiten noch hinsichtlich der Qualität der Gewerkschaftsbewegung, die sich Uber zwanzig Jahre hinweg behauptete, trotz jener Dummköpfe, die schreien ... Was ist los, was ist los, was ist los? General, warum ist die Volksregierung von Gorillas besetzt? [So wurden die Antiperonisten im Volksmund genannt; d.V.] Es wird ein Ende haben, es wird ein Ende haben, mit der Gewerkschaftsbürokratie. Ich sagte, daß die Gewerkschaften über zwanzig Jahre hinweg unerschütterlich geblieben sind, und nun stellt sich heraus, daß einige Milchbärte meinen, größere Verdienste zu haben als die, die zwanzig Jahre lang gekämpft haben... Was ist los, was ist los, was ist los? General, warum ist die Volksregierung von Gorillas besetzt? Darum Kameraden will ich, daß wir an dieser ersten Versammlung am Tag der Arbeit die Verdienste jener Organisationen und ihrer weisen und umsichtigen Führer ehren, die sich ganz in den Dienst der Sache gestellt haben und ihre ermordeten Anführer haben fallen sehen, ohne daß bis heute die Schuldigen die gerechte Strafe getroffen hätte. [Dieser Kommentar war eine deutliche Anspielung auf José Rucci, den Generalsekretär der CGT, der kurz zuvor von den Montoneros, der linksperonistischen Guerillaorganisation, ermordet worden war; d.V.] Rucci, Verräter, Grüße an Vandor. [Letzterer war ebenfalls ein Gewerkschaftsfunktionär, der ermordet worden war. d.V.] Kameraden, wir haben uns neun Jahre auf diesem Platz versammelt, und hier waren wir uns immer einig im Kampf, den wir für die Rechte des argentinischen Volkes gefuhrt haben. Wenn dieses hier nicht das Volk ist. Wo ist dann das Volk? Nun stellt sich heraus, daß es nach zwanzig Jahren einige gibt, die immer noch nicht mit dem zufrieden sind, was wir erreicht haben. Zufrieden, zufrieden, zufrieden General zufrieden sind die Gorillas aber das Volk wird kämpfen." Der Dialog endete mit dem spontanen Rückzug der Montoneros und der JP, während Perón weitersprach. Diese Rekonstruktion der Ereignisse vom 1.5.75 basiert auf Godio (1986: 215ff.) und Sigal/Verón (1986: 212f).
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nicht mehr als eine Ansammlung von Faktionen, die sich gegenseitig bekämpften. Jede von ihnen beanspruchte für sich allein die genuine Repräsentation des "peronistischen Wesens" und der Interessen der Nation und konnte sich dabei auf Passagen aus den unzähligen Reden des Generals berufen. Ein Augenzeuge jener Jahre, der Historiker José Luis Romero, erkannte schon damals mit aller Klarheit, daß die Verantwortlichkeit für derartige Verworrenheiten sich all jene teilen mußten, die an dem Prozeß beteiligt waren: "Mag sein, daß Perón jede dieser offensichtlich widersprüchlichen Hoffnungen in gewissem Sinne genährt hatte. Wichtiger jedoch als die vermutliche Verantwortlichkeit eines Staatsmannes zu bestimmen, ist es, die Frage zu beantworten, warum es einem Politiker gelang, sich in ein wirksames Symbol so widersprüchlicher Aspirationen zu verwandeln. Denn das Problem bestand nicht in erster Linie in dem, was Perón dem einen oder anderen zu verstehen gab, sondern in dem Strom der unerfüllten Sehnsüchte, die in der argentinischen Gesellschaft nach so viel Frustrationen zum Durchbruch kamen. In dem, was alle ihm anvertrauten in der Hoffnung, daß er es verkörpere: Darin lag das Charisma Peróns. Daß er sie enttäuschte, ist nur in geringem Maße ihm anzulasten. [...] Ein Gutteil der Verantwortung tragen jene, die mithalfen, dieses illusionäre synkretistische Symbol aller argentinischen Sehnsüchte - und Frustrationen - zu schaffen, vorangetrieben durch eine Art Halluzination, die bei den Neubekehrten die Begeisterung entfachte, die sie für gewöhnlich ergreift. Von dem traditionellen Erbe der argentinischen Politik und von all dem, das sich Perón hätte entgegenstellen können, blieb nichts übrig angesichts der überwältigenden und irrationalen Überzeugung, daß Argentinien keine andere Option hatte als Perón, genährt vielleicht inbrünstiger durch die Neubekehrten als durch die alten Anhänger"19.
3.2 Die Organisationsstruktur der Justizialistischen Bewegung "[...] denn was ich über die Organisation gesagt habe, war nur zum Schein [...] Wir sind Meister darin, im Chaos zu regieren! Wir müssen uns so verhalten, unorganisiert: Wenn dieser Mensch uns nützlich ist, so lassen wir ihn da, wo er ist; wenn nicht, dann entledigen wir uns seiner; wenn jener allzusehr hochkommt, ersetzen wir ihn durch jemand anderen, und so weiter [...]" [Erklärungen von J.D. Perón 1947, zitiert nach Luna (1984: 56f.)]
Perón war völlig unabhängig von den bis dahin im Land existierenden Parteistrukturen an die Macht gekommen. Er präsentierte sich als Kandidat des kurz zuvor gegründeten Partido Laborista, der sich vor allem auf gewerkschaftliche "
Romero (1975: 291).
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Kader stützte. Der damalige Oberst, der bald zum General befördert werden sollte, verwandelte sich in die Schlüsselfigur eines neuen politischen Experiments. In vierfacher Hinsicht übernahm er eine Führungsrolle: als politischer Anfuhrer der Arbeiterklasse, als Staatschef, als politischer und institutioneller Führer der Streitkräfte und als Chef einer neuen Partei20. Der erste Schritt in diese Richtung war die unverzügliche Auflösung des Partido Laborista, der nicht so gefugig war wie zunächst erwartet. Statt dessen wurde mit staatlicher Unterstützung der Partido Peronista gegründet und institutionalisiert. So wurden der Partei beispielsweise zahlreiche Büros von der öffentlichen Verwaltung zur Verfugung gestellt. Die Mitarbeiter der Parteibüros erhielten ihr Gehalt vom Staat. Gleichzeitig verfugte die Regierung den Beitritt aller Staatsbediensteten zur Peronistischen Partei und die Indoktrinierung der Polizei. 1949 wurde zudem der Partido Peronista Femenino unter dem Vorsitz von Eva Perón gegründet21. Die Satzung der Peronistischen Partei wurde 1947 verabschiedet. Unterste Organisationseinheiten der Partei waren danach die Unidades Básicas, Basiseinheiten, die in gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche unterteilt waren. Das institutionelle Gebäude sollte als eine homogene und hierarchisierte Struktur funktionieren, die sehr wenig Raum für Meinungsvielfalt offen ließ: "Die Partei ist eine spirituelle und doktrinäre Einheit, in deren Mitte weder Faktionen noch Cliquen geduldet werden, die diese Einheit gefährden"22. Die gesamte Organisationsstruktur der Bewegung war mittels einer ad-hocKlausel direkt der Person Peróns untergeordnet: "Im Falle, daß ein Parteimitglied die Präsidentschaft der Republik innehat und damit von der Nationalen Verfassung zum 'Obersten Befehlshaber der Nation' bestimmt wird, so wird er mit demselben Rang innerhalb der Partei anerkannt und kann dementsprechend Entscheidungen der Parteigremien modifizieren, für die Erneuerung von Amtsinhabern durch außerordentliche Wahlen sorgen und solche Fragen, bei denen er es für angebracht hält, dem Parteikongreß oder den Parteimitgliedern zur Abstimmung vorlegen"23.
Die offizielle organisatorische Gliederung der Partei hat in der Praxis nicht funktioniert. Die verschiedenen Parteibezirke wurden von Interventoren und der weibliche Sektor durch eine von oben eingesetzte Delegierte geleitet. Die unbestrittenen de yäc/o-Autoritäten waren Perón und seine Frau. Die Rolle von "Partei" und "Bewegung" wurde niemals klar definiert. Letztere bestand theoretisch aus der "politischen", der "weiblichen" und der "gewerkschaftlichen" Säule24, eine Struktur, auf die sich die mündliche Tradition immer wieder berufen hat, die aber als Organisationsprinzip nie zur effektiven Anwendung kam. 20
Vgl. Horowicz (1985: 102).
21
Vgl. Luna (1984: 57ff.), Navarro (1996: 217ff.)
22
Partido Peronista (o.J.: 33).
23
Partido Peronista (o.J.: 34).
24
Rama ("Zweig") war die diffiise spanische Bezeichnung dafür.
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Die angebliche gleichmäßige Verteilung der zur Wahl stehenden Posten zwischen den einzelnen Säulen wurde weder in die Satzungen aufgenommen noch kam sie als ungeschriebenes Gesetz zur Geltung. Wenn das Schwergewicht bei den Gewerkschaften lag, so vor allem deshalb, weil es kaum peronistische Politiker gab. Zu erwähnen ist auch, daß niemand jemals auch nur im Traum damit gerechnet hätte, daß tatsächlich ein Drittel der zur Wahl stehenden Posten an die Frauenvertreterinnen vergeben würde 25 . Perón zog es vor, die Informalität beizubehalten, um über Kandidaturen selbst entscheiden zu können bzw. sich die Schiedsrichterrolle in bezug auf die Ansprüche der verschiedenen Sektoren vorzubehalten. Wenn er auch einerseits nicht müde wurde, von der Bedeutung der Organisation sowie der Führung der Bewegung, des Staates und der ganzen Gesellschaft zu reden, so bemühte er sich doch andererseits ständig darum, das Provisorische und die NichtDefinition in jeder Hinsicht aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise sorgte seine instinktive Regierungskunst dafür, daß die einzige gesicherte Autorität seine eigene war 26 . Dieser Stil wurde auch in den Jahren des "Widerstandes" beibehalten. Das Verbot der Peronistischen Partei machte jeden Versuch einer institutionalisierten politischen Struktur unmöglich, wodurch die gewerkschaftlichen Kader noch mehr Gewicht erhielten. Im Laufe dieser Jahre versuchte Perón, die Bewegung unter seiner persönlichen Kontrolle zu halten und die Stärkung jedweder Kraft zu verhindern, die ihm hätte gefahrlich werden können. Hierzu bediente er sich verschiedener Gesandter, die im Fall des Falles leicht ersetzt werden konnten. Der ernsthafteste Versuch, das enorme Potential des Justizialismus ohne Rücksicht auf den Willen des exilierten Perón zu bündeln, ging auf Augusto Vandor zurück, einen aus den Reihen der damals außerordentlich mächtigen Metallarbeitergewerkschaft Unión Obrera Metalúrgica (UOM) stammenden Gewerkschaftsführer. Ihm gelang es 1963, seine Führung innerhalb der CGT durchzusetzen. Wegen seiner unabhängigen Ansichten wurde er vom exilierten General zur Ordnung gerufen, der auch nicht zögerte, andere Sektoren der peronistischen Bewegung gegen Vandor aufzubringen 27 . Im Kontext der Volksmobilisierungen der sechziger Jahre entstanden neue Gruppierungen, die mehrheitlich von Jugendlichen gebildet wurden. Ihre Eingliederung in die Bewegung vollzog sich über neue Organisationsformen. Mehrere von ihnen betrachteten sich als "revolutionäre Organisationen". Manche schlössen bewaffnete Gruppen unterschiedlicher ideologischer Schattierungen ein. Obwohl ihre Ansichten in vielen Fällen völlig miteinander unvereinbar waren, suchten sie alle einen Platz unter dem justizialistischen Dach. Die Formaciones especiales (etwa "Sonderorganisationen") dienten insofern den Interessen des exilierten Generals, als ihre Aktionen zur Destabilisierung der Regie25
Vgl. Chumbita (1989b: 92ff ).
26
Vgl. Halperin Donghi (1994: 26ff.)
27
Vgl. Godio (1991: 149ff.).
91
rung Onganía beitrugen. Die Stärke und Dynamisierungskraft, die die Jugend damals innerhalb des Justizialismus erlangte, führte dazu, daß in dieser Zeit die Juventud Peronista (JP) als "Vierte Säule" der Justizialistischen Bewegung galt28. Als Perón 1973 erneut an die Regierung kam, schien seine Führung das einzige verbindende Element einer Bewegung zu sein, deren Teile sich voneinander verselbständigt hatten. Auch bei dieser Gelegenheit kam es weder zu einer demokratischen Institutionalisierung der internen Strukturen des Justizialismus noch erhielt die Bewegung eine solide, ihrer breiten sozialen Basis angemessene politische Organisation. Nur eine derartige Struktur hätte es ermöglicht, die bevorstehende Krise der Führungsnachfolge zu überwinden und die Interessenaggregation innerhalb des Justizialismus zu gewährleisten. Perón zog es statt dessen vor, bis zum letzten Moment eine Schiedsrichterrolle zu spielen, der allerdings damals nur noch symbolische Bedeutung zukam29.
3.3 Der Peronismus in der Opposition: Seine Einstellungen und Strategien Nach seinem Sturz im Jahr 1955 übernahm der Peronismus de facto eine Rolle als wichtigste Oppositionskraft. Obwohl er verboten blieb, beeinflußte er paradoxerweise den Verlauf der politischen Entwicklung maßgeblich, ein Umstand, der ihm den sonderbaren Titel einer "hegemonialen Partei in der Opposition"30 einbrachte. Im Laufe der achtzehn Jahre des Verbots wandte der Peronismus alle möglichen Strategien an. Kurz nach der "Befreiungsrevolution" kam es unter Führung von General Valle zu einer Militärrevolte von Offizieren, die dem abgesetzten General treu geblieben waren. Dieser Versuch scheiterte, und seine Anführer wurden standrechtlich erschossen31. Die Kraft des Peronismus in der Opposition konzentrierte sich in den Gewerkschaften. Das "Rückgrat" der Justizialistischen Bewegung widerstand allen Versuchen der Regierung, sie zu zerschlagen. Gewerkschaftliche Aktivitäten wurden verboten, peronistische Gewerkschaftler standen unter Bewachung. Die zweite Garde übernahm jedoch sofort die Führung der Arbeiterbewegung. Betriebsräte und Delegierte setzten ihre Aktivitäten heimlich fort. Schon Ende 1955 stieg die Anzahl der Streiks auf Sektor- und Betriebsebene und es bildeten sich Arbeitergruppen, die Widerstandsaktionen und Sabotageakte durchführten. 1957 konstituierten sich die 62 Organizaciones Peronistas, zusammengesetzt aus den Gewerkschaften, deren Führungsspitzen dem abgesetzten Präsidenten 28
Vgl. Ivancich/Wainfeld (1983: 7 3 f f ) .
29
Vgl. Aznar (1987: 308f.)
30
García Delgado/Palermo (1983: 62).
31
Vgl. Luna (1973: 108ff.).
92
treu blieben. Dieser Zusammenschluß erlaubte es der peronistischen Gewerkschaftsbewegung, den politischen Kampf fortzusetzen, während sich die schon ohnehin schwache Parteistruktur vollständig auflöste. Sowohl die 62 Organisationen als auch die CGT - wenn sie nicht gerade unter staatlicher Aufsicht stand - übernahmen eine Oppositionsrolle gegenüber allen nicht-peronistischen Regierungen, seien es zivile oder militärische 32 . So wurden die gewerkschaftlichen Strategien zum integralen Bestandteil - und bisweilen sogar zum Synonym der peronistischen Strategie. Auf diese Symbiose wies der Gewerkschaftsführer Andrés Framini deutlich hin: "[...] wir hatten einen Vorteil, den die Gewerkschaftsführer, die nach der Rückkehr Peróns oder nach seinem Tod tätig waren, nicht besaßen. Dieser Vorteil bestand darin, daß wir politisches und gewerkschaftliches Handeln problemlos miteinander vereinbaren konnten: Wenn wir Kampfmaßnahmen zur Verteidigung der spezifischen Interessen der Arbeiter ergriffen, erklärten wir ihnen, daß der Kampf für ihre Rechte durch die Rückkehr von Perón erfolgreich sein würde. Anders ausgedrückt, die Kampfbewegung besaß einen politischen Charakter, denn sie war Teil des Kampfes, der die Rückkehr Peróns ins Land ermöglichen sollte, und die Arbeiter schlössen sich massenhaft dem Streik an, in dem Bewußtsein, daß die Verteidigung ihrer Interessen und ihre Befreiung durch die Rückkehr von Perón erreicht werden würden" 33 .
1958 war es ebenso unmöglich für den Peronismus, durch einen revolutionären Aufstand an die Macht zu gelangen, wie für die militärische Regierung, den Justizialismus definitiv auszuschalten. Vor diesem Hintergrund entschied sich Perón zur Unterzeichnung eines Paktes mit Frondizi, dem Präsidentschaftskandidaten der Unión Cívica Radical Intransigente. In diesem Abkommen verpflichtete sich der Anführer des Justizialismus, seine Anhänger anzuweisen, keinen eigenen Kandidaten für die Wahlen zu nominieren, die den Sieg von Frondizi verhindern könnten. Im Gegenzug sollte dessen zukünftige Regierung das Verbot politischer und gewerkschaftlicher Aktivitäten des Peronismus aufheben 34 . So wurden die Gewerkschaftsorganisationen wieder zugelassen und die unter der Regierung Perón definierten gesetzlichen Rahmenbedingungen wieder in Kraft gesetzt. Eine Gruppe von Gewerkschaftsfunktionären zeigte sich daraufhin geneigt, Verhandlungen mit der Regierung Frondizi einzugehen, in der Überzeugung, daß diese Taktik dem Endziel - d.h. der Rückkehr des Peronismus an die Macht - nicht widersprach. 1962 wurden diese Bemühungen erneut durch einen Militärputsch zum Stillstand gebracht 35 . Unter der Führung von Augusto Vandor entwickelten sich die peronistischen Gewerkschaften in den sechziger Jahren zu einem Machtfaktor, der in der Lage Vgl. Godio (1991: 54ff.). Zitiert nach Calello/Parcero (1984:1 52). Vgl. "Pacto
Perön-Frondizi".
Vgl. Godio (1991: 65ff.).
93
war, gleichberechtigt mit anderen gesellschaftlichen Kräften zu verhandeln. Vandor, der - wie bereits erwähnt - aus der Vereinigung der Metallarbeiter UOM stammte, hatte die Unterstützung der großen Industriegewerkschaften. Auf dieser Basis gelang es ihm, die Arbeiterbewegung insgesamt zu stärken, ihren Einfluß innerhalb des Justizialismus zu vergrößern und die Autorität Peróns herauszufordern. Vandor, der unter dem Spitznamen "der Wolf' bekannt war, vertrat die Ansicht, die beste Strategie zur Ausweitung des Handlungsspielraumes der Gewerkschaftsbewegung sei ein Doppelspiel: einerseits die direkte Konfrontation durch Streiks, Protestakte mit zum Teil Aufstandscharakter und eine breite Palette von Widerstandsaktionen, andererseits die Kompromißbereitschaft, die zum Beispiel in den Verhandlungen mit der Unión Cívica Radical Intransigente sowie in der Billigung des Militärputsches zum Ausdruck kam. Diese doppelte Strategie wurde damals in einer prägnanten Formel zusammengefaßt: golpear y negociar (etwa: "erst zuschlagen und dann verhandeln") 36 . 1963 veröffentlichte die CGT ein "Minimalprogramm" 37 , dessen Forderungen weit über die spezifischen Belange der Arbeiterklasse hinausgingen, und kündigte Kampfmaßnahmen gegen die zivil-militärische Regierung des Präsidenten Guido an, die schon ziemlich geschwächt war. Kurz danach konzentrierte die Gewerkschaftszentrale ihre Attacken auf die radikale Regierung Illia. Bei dieser Gelegenheit rief die CGT nicht nur zu breiten Massenmobilisierungen und Fabrikbesetzungen auf, sondern sie versuchte auch, sich an der Spitze einer breiten Oppositionsfront zu behaupten, die in der Form sogenannter "Bürgerversammlungen" mit der Beteiligung von politischen Parteien, Studentenorganisationen, Genossenschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen gegen die Regierung aktiv werden sollte38. 1966 signalisierte die Gewerkschaftsfuhrung ihr Einverständnis mit dem sich ankündigenden Militärputsch. Sie berief sich dabei auf die fehlende Ursprungslegitimität des Präsidenten, der dank des Verbots des Justizialismus an die Macht gekommen war. Das Argument war äußerst fragwürdig, da der Staatsstreich von Ongania an sich offensichtlich weitaus illegitimer war als die Regierung Illia. Außerdem hatten während seiner Präsidentschaft Teilwahlen zur Erneuerung des Abgeordnetenhauses stattgefunden, aus denen die justizialistischen Kandidaten als Sieger hervorgegangen waren. Die Haltung der Regierungspartei in bezug auf die Verfassungsordnung ließ zudem erwarten, daß sie ihr Versprechen, das Verbot des Peronismus aufzuheben, einhalten würde. Die Ursache der Entscheidung der CGT lag in der Annahme - sie sollte sich später als absolut falsch herausstellen - , daß die nationalistischen Sektoren des Heeres an einer Neuauflage jenes korporativen Paktes interessiert seien, der zur Entstehung des Peronismus geführt hatte. Die Worte Paulino Niembros, eines
Vgl. Godio (1991: 130ff.). Vgl. Fußnote 49 in Kapitel 2 dieser Arbeit. Vgl. Calello/Parcero (1984:160ff.), Godio (1991: 135ff.).
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damals aktiven vandoristischen Gewerkschafters, belegen die zu jener Zeit in der Führung des Gewerkschaftsdachverbandes dominierende Vorstellung: "Für uns war jeder Regierungssturz ein Schritt zur Macht. Die Erfahrung deutete darauf hin, daß der Peronismus nach dem angekündigten Normalisierungsplan nie an die Regierung kommen würde. Alle legten ihm Steine in den Weg, sogar die Radikalen. Deshalb wollten wir Tatsachen schaffen. Nicht umsonst haben wir versucht, Perön [ins Land] zurückzubringen. Man mußte das Ganze destabilisieren. Um weiter Druck auszuüben, blieb uns nichts anderes übrig, als uns den Militärs anzunähern"39.
Um so größer war die Überraschung, als unter der diktatorialen Regierung Ongania eine allgemeine Repression einsetzte, die auch die Verfolgung der Gewerkschaftsführer einschloß. Die Antwort der Peronisten auf diese Situation bestand in der Bildung eigener bewaffneter Organisationen, d.h. in der Militarisierung des Widerstandes 40 . Zwischen 1973 und 1976 stellte der Peronismus gleichzeitig die Regierung und die Opposition. Der linke Flügel der Bewegung war von Anfang an gegen die Wirtschaftspolitik von Minister Gelbard. Im Juli 1975 zwangen die Gewerkschaftsführer den Präsidenten dazu, einige Kabinettsmitglieder zu entlassen, und dachten sogar über die Möglichkeit nach, einen Sturz der Regierung herbeizuführen 41 . Vor dem Hintergrund der von den peronistischen und nichtperonistischen Guerillaorganisationen entfesselten Gewalt erließ die Regierung im Oktober ein Dekret, das die Streitkräfte beauftragte, alle militärischen Operationen und Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, die nötig wären, um "das Wirken der subversiven Elemente im gesamten Staatsgebiet auszulöschen" 42 . Das Dokument, das von Italo Luder, dem damaligen Interimspräsidenten des Senats in Ausübung der Exekutivgewalt, sowie den Kabinettsmitgliedern der justizialistischen Regierung unterzeichnet wurde, öffnete die Tür zu einer blutigen staatlichen Repression, die auch nach dem Sturz der zivilen Regierung fortgesetzt werden sollte. Der Militärputsch von 1976 bewirkte die Einstellung der Aktivitäten der justizialistischen Führung ebenso wie die der Parteianhänger. Einige politische Führer wurden verhaftet. Den meisten von ihnen wurde jegliche politische Betätigung untersagt. Am stärksten trafen die Repressionsmaßnahmen die Gewerkschaften. Die Arbeiterbewegung hatte unter den Auswirkungen einer restriktiven Gesetzgebung zu leiden, die darauf abzielte, sie zu zersplittern. Im März 1976 wurde der Gewerkschaftsdachverband von der Militärdiktatur interveniert. Alle gewerkschaftlichen Aktivitäten und insbesondere die der 62 Organisationen wurden verboten. Ein am 15. November 1979 erlassenes Gesetz
39
Zitiert nach Calello/Parcero (1984:1 76).
40
Vgl. López (1994: 33).
41
Bezüglich der dritten peronistischen Präsidentschaft siehe Torre (1983), di Telia (1983: 131 ff".), de Riz (1987).
42
Decreto 2.772.
95
ordnete ausdrücklich die Auflösung der Organisationen dritten Grades (dies betraf konkret die CGT) an, um die Arbeiterbewegung politisch auszuschalten43. Gleichzeitig konzentrierte sich die illegale Repression insbesondere auf die Zerstörung der gewerkschaftlichen Konfliktpotentiale. Die gesellschaftliche Gruppe, die die meisten Verhafteten und Verschwundenen aufwies, waren die Industriearbeiter (30% der Gesamtzahl)44. Noch unter der Diktatur begann jedoch ein Wiederaufbauprozeß, der in der Bildung von zwei konkurrierenden Gewerkschaftsdachverbänden kulminierte. 1977 entstand die Comisión Nacional de los 25, die zum damaligen Zeitpunkt eine bunte Mischung von Positionen und Ideologien repräsentierte. Im folgenden Jahr bildete sich die Comisión de Gestión y Trabajo, geleitet von Jorge Triaca, der sich von Anfang an dialogbereit zeigte. Zu dieser Kommission wechselten dann viele Mitglieder der "25", was zur Gründung der Comisión Nacional del Trabajo (CNT) führte45. Im April 1979 initiierten die "25" trotz ausdrücklicher Ablehnung der übrigen Sektoren einen Generalstreik. Von da an galten sie als kämpferischer Flügel der Gewerkschaftsbewegung. Obwohl die Führer der "25" inhaftiert wurden, konnten die Behörden das geheime Streikkomitee nicht rechtzeitig zerschlagen. Der Streik wurde zwar nur zum Teil befolgt, war aber die erste Widerstandsaktion gegen das autoritäre Regime. Der Vizepräsident der PJ, Deolindo Bittel, und der Führer der UCR, Ricardo Baibin, bemühten sich dann um die Freilassung der Gewerkschaftsführer46. 1980 entstand die CGT-Brazil als Folge der Annäherung des kampfbereiten Sektors und der orthodoxen Peronisten, die durch die 62 Organisationen repräsentiert wurden. Dieser Schritt fand nach der Freilassung des Führers der Metallgewerkschaft Lorenzo Miguel statt, der bis dahin im Gefängnis gesessen hatte. Saúl Ubaldini, der aus einer kleinen Brauereigewerkschaft stammte, avancierte zum Generalsekretär des neuen Dachverbandes, dessen bloße Bildung bereits eine Herausforderung gegenüber dem Militärregime bedeutete. Auf der anderen Seite fanden sich 1982 die CNT und die Gruppe der 20, eine Gruppierung, die sich bis dahin sowohl von dem kämpferischen Flügel als auch von den Sektoren, die sich kooperationsbereit zeigten, distanziert hatte, in einem Verband zusammen, der CGT-Azopardo genannt wurde. Diese zweite Zentrale zeichnete sich durch ihre Dialogbereitschaft und konfrontationsmeidende Einstellung gegenüber der Militärregierung aus47.
43
Vgl. Ley 22.105.
44
Vgl. Delich (1983: 107ff.), Abós (1984: 63ff.), Dasso (1994: 56ff.), Pion-Berlin (1989: 11 Iff.), CONADEP (1985) und Blake (1992: 104ff.).
45
Vgl. Beliz (1988: 53ff.).
46
Vgl. Godio (1991: 336ff.).
4
Vgl. Abós (1984: 75ff. und Godio (1991: 326ff.).
'
96
3.4 Zwischenbilanz II Vor 1983 hatte der Peronismus nur zwei Zustände gekannt: Er war entweder an der Macht oder verboten. Vor diesem Hintergrund entwickelte er eine Vielzahl von Oppositionsstrategien. Wahlkampf, direkte Konfrontation, korporativer und politischer Pakt, Volksmobilisierung bis hin zur bewaffneten Rebellion - all dies waren taktische Alternativen, die zum Teil gleichzeitig von den verschiedenen Sektoren eines vielschichtigen, zugleich politisch, gewerkschaftlich und militärisch organisierten Akteurs eingesetzt wurden. Nicht alle eingeschlagenen Strategien zeigten jedoch gleiche Erfolge. Die besten Ergebnisse brachten dem Peronismus - und vor allem den Gewerkschaftsfunktionären - die von der Arbeiterbewegung ab den 60er Jahren bevorzugte Strategie des "golpear y negociar". Allerdings ist der Hinweis wichtig, daß dieses Verhalten nicht immer auf eine bewußte Entscheidung zurückgeführt werden kann. Mehrfach führten die innergewerkschaftlichen Divergenzen zu Situationen, in denen eine Gruppe zuschlug, während die andere verhandelte. Diese Feststellungen bezüglich des traditionellen Oppositionsverhaltens des Peronismus bilden den ersten analytischen Schritt bei der Überprüfung von These 6. Dementsprechend sind die Identifizierung der Oppositionsstrategien, die von den verschiedenen peronistischen Sektoren in der Vergangenheit angewandt wurden, sowie die Einschätzung ihrer jeweiligen Erfolge ein wichtiges Ergebnis dieses Kapitels. Die zur Überprüfung der These gleichfalls erforderliche Analyse des Oppositionsverhaltens des Peronismus während der PostTransitionsphase erfolgt im Kapitel 6. Darüber hinaus müssen hier noch die wesentlichen Erkenntnisse in bezug auf die Beschaffenheit des Peronismus festgehalten werden. Der Justizialismus, der als eine heterogene Bewegung entstanden war und sich selbst als natürlichen Repräsentanten des Willens des argentinischen Volkes betrachtete, war nicht in der Lage, seine Identität klar zu definieren und seine eigenen Grenzen innerhalb der politischen Landkarte abzustecken. Statt dessen stellte er einen Versuch dar, sehr unterschiedliche Strömungen, die eigentlich zu verschiedenen politischen "Regionen" gehörten, unter einem Dach zu vereinen. Die gefahrliche Kombination von schwacher Organisationsstruktur und hierarchischem Vertikalismus, die den Peronismus immer gekennzeichnet hatte, führte in den 70er Jahren zum Ausbruch heftiger Konflikte, die mit Gewalt ausgetragen wurden. Alle internen Gruppierungen weigerten sich, die Möglichkeit einer Spaltung zu akzeptieren und zogen statt dessen die Vernichtung ihrer internen Rivalen vor, selbst unter dem Risiko der eigenen Zerstörung. Keine von ihnen wollte auf jenen Machtanteil verzichten, der die Zugehörigkeit zu einer Bewegung versprach, die an den Wahlurnen als unbesiegbar galt. Es wird häufig behauptet, daß der Tod Peröns das Land der einzigen Person beraubte, die die innerhalb und außerhalb der Justizialistischen Bewegung ausgebrochenen Konflikte hätte friedlich schlichten können. Dabei wird allerdings übersehen, daß gerade die gelobte politische Weisheit des Führers die Haupt97
Verantwortung dafür trug, daß der Justizialismus nie transparent institutionalisiert wurde. Die Bewegung funktionierte lange Zeit weitgehend gemäß dem Prinzip der Folgsamkeit gegenüber den von Perön verfügten Anweisungen. Er stellte die einzige Autorität, die von allen Justizialisten anerkannt war. Nur er entschied über die Verteilung von Zuständigkeiten. Mit seinem Tod verlor die Bewegung ihre Zuerkennungsregeln. Der Rückgriff auf die Gewalt blieb dann als einzig verfügbarer Weg, um Anerkennung innerhalb des Justizialismus zu erlangen. All dies bedeutet, daß mindestens seit Perons Tod die internen Restriktionsmechanismen dieses kollektiven Akteurs eine ausgesprochen geringe Wirksamkeit zeigten. Eigentlich waren sie kaum vorhanden. Gleichzeitig waren die Interessendivergenzen innerhalb des Justizialismus stark ausgeprägt. Damit sind die Erklärungsvariablen in These 7 und 8 angesprochen. Die Untersuchung beider Aspekte in der Phase vor 1983 reicht zur Überprüfung dieser Thesen, die sich auf die Transition und die Post-Transitionsphase beziehen, zwar nicht aus, stellt jedoch einen ersten analytischen Schritt in diese Richtung insofern dar, daß dadurch diese Merkmalsausprägungen in ihrer historischen Dimension bewertet werden können. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit, insbesondere in den Kapiteln 4, 5 und 7 soll überprüft werden, ob die Interessendivergenz und die geringe Wirksamkeit der internen Restriktionsmechanismen des Peronismus während und nach dem Jahr 1983 fortdauerten und eventuell dazu führten, daß der Peronismus in der Opposition kaum Erfolge verbuchen oder keine Übereinkünfte mit der Regierung treffen konnte.
98
4. Die Rolle des Peronismus während der Transition Um die spezifischen Merkmale der argentinischen Transition und die Rolle, die die verschiedenen Akteure und insbesondere der Peronismus dabei gespielt haben, bestimmen zu können, wird in diesem Kapitel zunächst die allgemeine Entwicklung des Übergangsprozesses skizziert. Im Anschluß daran erfolgt eine genauere Analyse der damaligen Situation des Peronismus sowie des Wahlkampfes von 1983. Ziel dieser Ausfuhrungen ist die Erlangung von Erkenntnissen, die zur Überprüfung jener der eingangs formulierten Thesen, die sich auf die Transitionsphase beziehen, benötigt werden. Im Sinne von These 2 gilt es hier zu beantworten, ob es sich im argentinischen Fall um eine Übergangssituation mit ausgeglichenem Kräfteverhältnis gehandelt hat, in der ein erheblicher Teil der Akteure eine Fortschreibung der Ungewißheit als größtes Übel betrachtete, und ob sich am Ende diejenige institutionelle Lösung durchgesetzt hat, die von den unnachgiebigsten Kräften verfochten wurde. Ferner soll zur Überprüfung von These 3 ermittelt werden, welche oppositionellen Akteure sich in einer schwachen Position befanden bzw. zu befinden glaubten, und ob sie sich auf substantielle Übereinkünfte mit den autoritären Eliten eingelassen haben. Ergänzend soll als erster analytischer Schritt zur Überprüfung der These 4 herausgefunden werden, ob in Argentinien während der Transition bedeutende Übereinkünfte institutioneller oder substantieller Natur getroffen wurden. Schließlich gilt es zu überprüfen, ob die Unwirksamkeit interner Restriktionsmechanismen des Peronismus, die für frühere Phasen festgestellt wurde, während der Transition fortdauerte, und ob der Justizialismus sich innerhalb dieses kurzen Zeitraums erfolgreich als Opposition behaupten konnte. Damit sind die zwei Variablen von These 7 angesprochen.
4.1 Der argentinische Transitionsprozeß Der Prozeß, in dessen Verlauf das 1976 in Argentinien errichtete Militärregime zu Ende ging, gilt als typisches Beispiel für eine "Transition durch Kollaps". In einer der ersten Arbeiten, die sich mit einer Analyse dieses Zeitraums beschäf99
tigten, charakterisierte Andrés Fontana den Übergang zur Demokratie in Argentinien als Ergebnis eines "Zusammenbruchs des Militärs infolge interner Konflikte" und fügte hinzu, der Prozeß sei "einseitig durch die Streitkräfte gesteuert worden" 1 . Diese beiden Aussagen erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich und verlangen daher nach einer Präzisierung. Der Übergang Argentiniens zur Demokratie war kein linearer Prozeß. Im Dezember 1979 wurde Leopoldo Galtieri zum Oberkommandierenden des Heeres ernannt und sein Vorgänger, General Viola, begann sich auf die Übernahme der Präsidentschaft vorzubereiten. Gemäß einer früher erfolgten Absprache sollte er im März 1981 die Nachfolge von General Videla antreten. Im Laufe des Jahres 1980 verstärkten sich innerhalb der Streitkräfte die Auseinandersetzungen über die Politik von Wirtschaftsminister Martínez de Hoz. Konflikte gab es auch im Hinblick auf die Frage, ob es angemessen sei, die Kommunikation zwischen der Regierung und den politischen Parteien zu verbessern. Die kurze Regierungszeit des Generals Viola (März-Dezember 1981) zeichnete sich durch den Versuch der Softliner innerhalb des Regimes aus, eine kontrollierte Öffnung einzuleiten und den Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung zu modifizieren. Die neue Administration war jedoch erfolglos und wurde durch einen Palastputsch, in dessen Folge Galtieri die Präsidentschaft übernahm, von der Macht verdrängt. Die Hardliner innerhalb der Militärjunta hatten sich wieder durchgesetzt und überließen erneut den neoliberalen Ökonomen die Gestaltung der Wirtschaftspolitik 2 . Auch wenn diese erste Öffnung nicht in eine Transition zur Demokratie, sondern in eine erneute Verhärtung des autoritären Systems mündete, so hatte sie doch wichtige Konsequenzen. Sie offenbarte die Divergenzen innerhalb des autoritären Blocks, während die oppositionellen Akteure damit beginnen konnten, sich wieder zu organisieren. Unter Mitwirkung des Partido Justicialista (PJ), der Unión Cívica Radical (UCR), des Movimiento de Integración y Desarrollo (MID), des Partido Demócrata-Cristiano (PDC) und des Partido Intransigente (PI) konstituierte sich am 14. Juli 1981 die Multipartidaria, ein lockerer Zusammenschluß mehrerer Parteien, der das Regime auf gemäßigte Art und Weise in Frage stellte3. Wie in Chile und Uruguay 4 versuchten die Streitkräfte auch in Argentinien, ihre Herrschaft durch eine Verfassungsreform zu legitimieren, die für eine rechtliche Institutionalisierung der de facto ausgeübten Macht sorgen sollte. Daher arbeiteten sie eine Reihe von Verfassungsprojekten zur Etablierung einer "begrenzten Demokratie" aus, in der die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger
1
Fontana (1984: 34f.).
2
Vgl. Fontana (1984: 1 lff.), Quiroga (1994: 291ff.).
3
Vgl. Fontana (1984: 13, 23).
4
Die offiziellen Ergebnisse eines 1980 unter massiven Beschränkungen für die Opposition durchgeführten Plebiszits in Chile verliehen der Verfassung von Pinochet eine gewisse Legitimation. Dagegen sprach sich die Mehrheit der uruguayischen Bevölkerung anläßlich einer ähnlichen Volksabstimmung gegen die Pläne der Militärs aus.
100
und die Handlungsspielräume der Parteien eingeschränkt und den Streitkräften bestimmte politische Vorrechte eingeräumt werden sollten5. Die Realisierung dieser Pläne wurde jedoch dadurch verhindert, daß heftige interne Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik die Einheit des Militärs beeinträchtigten. Daher bemühte sich Galtieri um die Unterstützung der konservativen zivilen Führungspersönlichkeiten einiger Provinzparteien zur Bildung einer politischen Organisation, die die Fortsetzung der von den Militärs verfolgten Politik und die Beibehaltung ihres Einflusses gewährleisten sollte. Mit dieser Absicht ernannte er einige von ihnen zu Gouverneuren, weshalb es zu Protesten von Seiten der nicht einbezogenen Politiker kam, vor allem der Justizialisten und Radikalen. Schon damals zeichneten sich innerhalb der Multipartidaria zwei Positionen ab: die "Moderaten" (die UCR, ein großer Teil des Peronismus, der MID und ein Sektor der Democracia Cristiana) und die "Radikalen" (der PI, einige Fraktionen des Peronismus und eine andere Strömung der Democracia Cristiana). Gleichzeitig mehrten sich die Zeichen für eine Zunahme der politischen Aktivitäten innerhalb der Bevölkerung: Im März 1982 rief die Multipartidaria zu Protestaktionen auf, während die CGT einen Generalstreik ankündigte. Auch die drohende Repression durch die Polizei konnte diese Aktionen nicht verhindern. Die Wahrscheinlichkeit einer von oben kontrollierten Öffnung sank, und die wachsende soziale Mobilisation reduzierte den Handlungsspielraum der autoritären Machthaber, deren interne Konflikte von Tag zu Tag stärker wurden 6 . In dieser Situation ordnete die Militärregierung die Invasion der von Großbritannien seit 1833 besetzten Malwinen-Inselgruppe an und beschwor damit einen internationalen Krieg herauf. Diese Entscheidung, die einer "Flucht nach vorn" gleichkam, veränderte das innenpolitische Panorama von einem Tag auf den anderen grundsätzlich. Die Multipartidaria solidarisierte sich mit der Regierung. Die Führer der wichtigsten Parteien nahmen gemeinsam mit den militärischen Autoritäten an der Amtseinführung von General Menéndez als Gouverneur der Inseln teil, und bekannte Politiker begleiteten die diplomatischen Missionen ins Ausland mit dem Ziel, für den argentinischen Standpunkt zu werben. Keine der bedeutenden Parteien zeigte sich in der Lage, inmitten der nationalistischen Euphorie, die fast die gesamte Gesellschaft ergriffen hatte, eine eigene Position zu formulieren. Auf diese Art und Weise ordnete sich die politische Klasse erneut den Wünschen der Streitkräfte unter 7 . Der Krieg im Südatlantik endete am 14. Juni 1982 mit der Kapitulation der argentinischen Truppen. Die triumphalistische Stimmung machte dem Gefühl einer schmerzlichen Niederlage Platz. International war das Land isoliert. Die Streitkräfte waren nunmehr sogar in ihrer ureigensten Funktion gescheitert. In dieser Situation büßten die Militärs einen Großteil ihrer politischen Handlungs-
5
Zu den verschiedenen Projekten, die damals in Erwägung gezogen wurden, siehe Manna (1989: 89ff.).
6
Vgl. Fontana (1984: 29ff.), Quiroga (1994: 376ff.), López (1994: 39ff.).
7
Vgl. López (1994: 41ff.), Quiroga (1994: 3 9 6 f f ) .
101
kapazität ein, nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre Kräfte in Schuldzuweisungen zwischen den verschiedenen Waffengattungen verzettelten. Die Luftwaffe verlangte eine stärkere Beteiligung an der Macht. Sie war viel weniger als die anderen Teilstreitkräfte an der internen Repression beteiligt gewesen, während ihre Soldaten auf dem Schlachtfeld die größten Verdienste verzeichneten, so daß sie dadurch in den Augen der Bevölkerung ein gewisses Ansehen genoß. Als Galtieri zurücktrat, konnten sich die drei Teilstreitkräfte nicht auf einen Nachfolger einigen. Gegen den Willen der Luftwaffe und der Marine ernannte das Heer Reynaldo Bignone, einen General im Ruhestand, zum neuen Präsidenten. Die Militärjunta löste sich auf, nachdem sie zuvor noch verkündet hatte, daß die neue Regierung nur eine Übergangslösung sei und daß die "Institutionalisierung des Landes" bis März 1984 vollzogen werden sollte. Gleichzeitig mit ihrem Rückzug aus der Junta erklärte die Marine, daß sie sich bis zum Amtsantritt einer verfassungsmäßigen Regierung nicht dem Oberbefehl des Präsidenten unterordnen, sondern ihre Autonomie bewahren werde8. Der Mangel an Unterstützung schwächte die Position Bignones und zwang ihn dazu, das Verbot der politischen Aktivitäten aufzuheben und Gespräche mit Parteien und Gewerkschaften zu suchen. Diese blieben zwar auf Distanz zum Regime, aber allein die Tatsache, daß sie sich auf Verhandlungen mit dem neuen Präsidenten einließen, bedeutete die öffentliche Anerkennung und damit paradoxerweise auch die Stärkung einer Militärregierung, die in den eigenen Reihen nur wenig Rückhalt besaß. Im Moment der größten Schwäche des militärischen Blocks verzichteten die Parteien darauf, die Initiative zu ergreifen. Dagegen dehnten Presse und Menschenrechtsbewegung ihre Aktivitäten aus und gaben die durch das Militärregime verübten Menschenrechtsverletzungen und Wirtschaftsvergehen sowie die zweifelhaften Vorgänge während des MalwinenKrieges bekannt9. Die fehlende Initiative der parteipolitischen Kräfte verhalf den Streitkräften zu einer gewissen Erholung. Im September 1982 - nachdem die persönlichen Fehden zwischen denjenigen, die die Kriegshandlungen angeführt hatten, infolge der Ablösung der Oberkommandierenden der drei Teilstreitkräfte keine Rolle mehr spielten - konnte sich die Militärjunta rekonstituieren. Ausgehend von dem "Angebot", die Regierungsgewalt 1984 abzugeben, bemühten sich die Streitkräfte darum, Bedingungen für ihren Rückzug auszuhandeln. Sie präsentierten den politischen Parteien eine Liste mit zu "konzertierenden" Themen. Zu ihren wichtigsten Forderungen gehörte die Institutionalisierung ihrer Beteiligung innerhalb der nächsten Regierung sowie der Verzicht auf eine Untersuchung von Wirtschaftsstraftaten. Auch eine Überprüfung des Vorgehens der Militärs im Krieg gegen die Subversion sollte unterbleiben. Der "Vorschlag" war begleitet von Drohungen, den Demokratisierungsprozeß zu unterbrechen,
8
Vgl. Fontana (1988: 41 ff.), Quiroga (1994:414ff.).
9
Vgl. Haffa (1984: 3ff.) Für eine detailliertere Darstellung der Menschenrechtsbewegung und ihrer Rolle während der Transition siehe Jelin (1987), Garcia Delgado/Palermo (1989) und Brysk (1994).
102
sowie von Gerüchten, daß die Vorbereitungen für einen erneuten Staatsstreich bereits im Gange seien 10 . Die Multipartidaria wies die Bedingungen pauschal zurück. Fast gleichzeitig trat die gewerkschaftliche Opposition wieder in Erscheinung. Am 5. Dezember kam es zum ersten Generalstreik, den die beiden CGTs gemeinsam organisierten. Sie forderten Lohnerhöhungen und protestierten gegen die Arbeits- und Gewerkschaftsgesetzgebung der Diktatur. Der Streikaufruf stieß auf großen Rückhalt. Zunächst schien auch die Multipartidaria die Maßnahme zu unterstützen. Aber dann verweigerte der damalige Chef der UCR, Carlos Contin, ausdrücklich seine Zustimmung. Viele fuhrende Persönlichkeiten der verschiedenen Parteien fürchteten damals, sie könnten durch ihre Beteiligung an solchen Maßnahmen eine breite Massenmobilisierung in Bewegung setzen, die sich später als unkontrollierbar erweisen könnte. Schließlich rief die Multipartidaria zu einer Protestkundgebung gegen die Versuche der Militärs auf, der zukünftigen verfassungsmäßigen Regierung Beschränkungen aufzuerlegen. An dieser Demonstration nahmen mehr als 100.000 Menschen teil. Die Multipartidaria warf der Regierung vor, sie würde ihrer Verantwortung hinsichtlich der Klärung der Vermißtenvorfalle ausweichen. Kritisiert wurde auch die fehlende Bereitschaft, die im Zusammenhang mit dem Malwinen-Krieg gegen die Militärs erhobenen Vorwürfe aufzuklären. Zudem wurde die Regierung zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel aufgefordert". Zu Beginn des Jahres 1983 wurde offensichtlich, daß die Streitkräfte nicht dazu in der Lage sein würden, ihre Bedingungen durchzusetzen. Zudem stiegen die nationalen und internationalen Kosten für den Fall einer erneuten Verhärtung des autoritären Regimes von Tag zu Tag an. Am 1. März 1983 kündigte die Regierung für den 30. Oktober allgemeine Wahlen auf der Grundlage der Verfassung von 1853 an, die ohne Veränderungen wieder in Kraft gesetzt werden sollte. Die Übergabe der Macht an die neue Regierung würde am 30. Januar 1984 stattfinden 12 . Nachdem es den Streitkräften nicht gelungen war, von der politischen Führungsschicht des Landes insgesamt Garantien zu erhalten, bemühten sie sich um eine Annäherung an einzelne führende Persönlichkeiten. Zum damaligen Zeitpunkt gab es kaum Zweifel daran, daß der Sieger der Wahlen - wie immer - der Justizialismus sein würde, dessen Mobilisierungskraft und Rückhalt in der Bevölkerung durch die massive Befolgung eines erneuten Generalstreiks Ende März unter Beweis gestellt schien 13 . Angesichts dieser Umstände entschied sich die Führung der Streitkräfte für eine Annäherung an diejenigen Kräfte, die bislang als kämpferischer Flügel der Gewerkschaftsbewegung gegolten hatten. Anscheinend wurde diese Entscheidung auch dadurch begünstigt, daß der Führer der Metallarbeitergewerkschaft, Lorenzo Miguel, sich anläßlich einer Veranstal10
Vgl. Cheresky (1985: 25ff.), Fontana (1988: 46f.).
"
Vgl. Abös (1984: 91ff.), Quiroga (1994: 4 5 8 f t ) .
12
Vgl. ElBimestre 8 ( 1 9 8 3 : 5 ) .
13
Vgl. E l B i m e s t r e 8 (1983:38).
103
tung zur Erinnerung an den Wahlsieg von FREJULI im Jahr 1973 mit linksperonistischen Gruppen angelegt hatte, so daß die Militärs begannen, in ihm einen guten Verbündeten zu sehen. Auf diese Art und Weise kam es zu einer 180-Grad-Wende der Beziehungen zwischen Streitkräften und Gewerkschaften: Jetzt, wo das Regime sich in einem Auflösungsprozeß befand, begannen die bisherigen Hardliner unter den Gewerkschaftlern zu verhandeln, während diejenigen, die bislang zur Zusammenarbeit bereit gewesen waren und jetzt als privilegierte Gesprächspartner der Militärs abgelöst wurden, ihre Kritik verschärften14. Gleichzeitig breiteten sich Gerüchte hinsichtlich möglicher Kontakte zwischen Admiral Massera und der Witwe Peröns aus. Die damals in Madrid lebende Chefin des Peronismus, die jegliche Gespräche mit ihren eigenen Parteifreunden ablehnte, zeigte sich dagegen bereit, das ehemalige Mitglied der Militär/'wHfa zu empfangen. Massera plante eine Fortsetzung seiner politischen Karriere und hatte aus diesem Grund den Partido para la Democracia Social gegründet. Es ist durchaus möglich, daß er damals überlegt hatte, eine Wahlallianz mit dem Justizialismus einzugehen15. Ob alle diese Kontakte zu einem geheimen Abkommen führten oder nicht, kann bis heute nicht bewiesen werden. Fest steht allerdings, daß einige Sektoren des Justizialismus keinen Grund hatten, gegen die Absichten der Streitkräfte allzu starke Bedenken vorzubringen, denn eine sorgfältige Untersuchung der zweifelhaften Vorgänge im Bereich der Wirtschaft und der illegalen Repression mußte automatisch ebenfalls eine Reihe von unerfreulichen Aspekten der letzten peronistischen Regierung ans Tageslicht befördern. Tatsache ist auch, daß die Militärjunta im April das gegen die frühere Ex-Präsidentin, Lorenzo Miguel und andere Führer des Peronismus verhängte Verbot politischer Betätigung aufhob. Trotzdem erhielt die Militärregierung keine öffentlichen und ausdrücklichen Garantien dafür, daß es keine Untersuchung ihrer Handlungen geben würde16. Gedrängt von den wachsenden Beschwerden der Menschenrechtsorganisationen und dazu entschlossen, eine Untersuchung des anti-subversiven Kampfes zu verhindern, versuchten die Streitkräfte durch die Vorlage eines von ihnen als endgültig betrachteten Dokuments die Diskussion zu beenden. Darin wollten sie mögliche "Fehler" mit dem Argument rechtfertigen, die Vorgehensweise der terroristischen Gruppen habe zu einer angemessenen Reaktion und damit auch zu nie zuvor angewandten Maßnahmen gezwungen. Nur "das Urteil der Geschichte" könne über die Verantwortlichkeiten dafür entscheiden, was unter solchen Bedingungen vorgefallen sei17.
Vgl. El Bimestre 8 (1983: 32). Vgl. El Bimestre 9 (1983: 65). Die politischen Pläne Masseras scheiterten, da er wegen seiner Beteiligung am Verschwinden des Unternehmers Branca im Jahr 1977 wenige Monate vor den Wahlen festgenommen wurde. Dabei handelte es sich um ein "normales " Verbrechen und weniger um eine der unzähligen Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge der Repression verübt wurden. Vgl. El Bimestre 9 (1983) 97ff. Vgl. Vacs (1987: 30f.). Vgl. "Documento Final ".
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Das Dokument stieß auf Ablehnung in großen Teilen der Zivilgesellschaft. Die Menschenrechtsorganisationen veranstalteten eine große Protestdemonstration. Die meisten fuhrenden Parteipolitiker und Gewerkschafter kritisierten den Text mit moderaten Tönen. Die Führungen von PJ und UCR ließen den Veranstaltern der Demonstration eine Grußbotschaft zukommen, entsandten jedoch keine offizielle Delegation. Dagegen nahmen die Vertreter verschiedener interner oppositioneller Strömungen teil - von seiten des Peronismus Intransigencia y Movilización Peronista und von Seiten der UCR der Movimiento de Renovación y Cambio. Keine der beiden CGTs beteiligte sich an dem Protest, obwohl ihre Unterstützung direkt und explizit eingefordert worden war 18 . Während die Streitkräfte und fuhrende Parteipolitiker sich an das Thema nur rhetorisch annäherten, wurden in den Gerichten die ersten Anklagen gegen Verantwortliche eingereicht. Zudem vermehrten sich die Anzeigen vor nationalen und internationalen Organisationen. Nachdem es den Militärs nicht gelungen war, von den führenden Politikern Garantien zu erhalten, entschied sich die kurz vor der Ablösung stehende Regierung dazu, ihre eigenen Interessen durch Schaffung vollendeter Tatsachen durchzusetzen: Im September erließ sie ein Amnestiegesetz, das als salomonische Lösung präsentiert wurde und die strafund zivilrechtliche Verfolgung sowohl von subversiven Delikten wie von bei ihrer Bekämpfung begangenen Straftaten verhindern sollte. Die Marine sprach sich ausdrücklich gegen dieses Gesetz aus, da sie eine Gleichsetzung von Extremisten und Sicherheitskräften für ungerechtfertigt hielt. Die politischen Parteien waren zum damaligen Zeitpunkt bereits mit dem Wahlkampf beschäftigt. Die Multipartidaria löste sich auf, ohne daß die parteipolitischen Kräfte einen gemeinsamen Standpunkt zu dieser gravierenden Frage erarbeitet hätten 19 .
4.2 Die Situation des Peronismus zu Beginn der Transition Jener Peronismus, der in den 80er Jahren ans Licht der politischen Öffentlichkeit trat, unterschied sich deutlich von dem der 70er Jahre. Zum Zeitpunkt, als die Niederlage im Malvinenkrieg die rapide Öffnung des Regimes verursachte, war die innere Situation des Justizialismus von der Erfahrung ihrer letzten Regierungsperiode und von den während der Diktatur eingetretenen Veränderungen geprägt. Die Witwe Peróns war nach wie vor die Parteivorsitzende, aber ebenso wie andere Führungspersönlichkeiten durfte sie sich aufgrund der von den Streitkräften erlassenen "Actas de Responsabilidad Institucional" nicht politisch betätigen. Frau Perón lebte außer Landes und hüllte sich in Schweigen. Sie weigerte sich sogar, jenen Justizialisten eine Antwort zu geben, die sich um ein Gespräch mit ihr bemühten.
18
Vgl. El Bimestre 8 (1983: 71 ff.), El Bimestre 9 (1983: 51).
19
Vgl. Ley N° 22.924, El Bimestre 11 (1983: 45ff.), Quiroga (1994: 475ff.).
105
Die Konflikte zwischen Links- und Rechtsperonisten waren nicht mehr so scharf wie in den 70er Jahren. Die von den paramilitärischen Organisationen beider Strömungen gegeneinander ausgetragene Gewalt war durch den Staatsterrorismus niedergeschlagen worden. Jedoch blieb die justizialistische Bewegung durch tiefgreifende interne Spaltungen charakterisiert, die sich bis in die intellektuelle Produktion der dem Peronismus nahestehenden Wissenschaftler fortsetzten. So gingen beispielsweise Maronese, Cañero de Nazar und Waisman davon aus, daß die interne Situation des Peronismus durch die jeweilige Haltung der verschiedenen Gruppen gegenüber zwei grundsätzlichen Fragen geprägt sei: 1) der gegenüber der Regierung von María Estela Martínez de Perón und deren Führung eingenommenen Position, und 2) der grundlegenden Konzeption des Peronismus als Partei oder als Bewegung. Aus der Kombination dieser beiden Achsen schlössen die Autoren auf vier Positionen: a) Die anti-vertikalistische Rechte um Robledo, Matera und der CGTAzopardo betonte die fuhrende Rolle der Partei innerhalb der Bewegung, sprach sich gegen die Witwe Peróns aus und verlangte interne Direktwahlen, um über die Vergabe von Partei- und Wahlämtern zu entscheiden. Außerdem befürwortete diese Gruppe den Dialog mit den Streitkräften. b) Die vertikalistische Rechte bestand aus einer Reihe kleiner Gruppen (wie dem Comando de Organización, der Guardia de Hierro etc.), die eine strikte Unterordnung unter die Witwe Peróns proklamierten. c) Die Linke war durch die von Vicente Saadi geführte Gruppe Intransigencia y Movilización Peronista20 repräsentiert. Sie zeichnete sich durch eine frontale Opposition gegenüber der Diktatur und eine kritische Haltung gegenüber der Parteivorsitzenden aus. Innerhalb der Gewerkschaften und in den Strukturen des PJ verfugte diese Strömung, die als Nachfolgerin der Montoneros betrachtet wurde, nur über geringen Rückhalt. d) Die Mitte war eine breite Strömung mit weniger genau definierten Vorstellungen. Sie erkannte Frau Perón als Chefin der Bewegung an, bemühte sich aber in der Praxis um eine Stärkung alternativer Entscheidungsmechanismen. Sie erhielt gewerkschaftliche Unterstützung von den "25" und den 62 Organisationen. Der Movimiento de Unidad, Solidaridad y Organización (MUSO) stellte die Organisationsstruktur dieser Linie. Auch die von Carlos Grosso angeführte Strömung Convocatoria Peronista war hier angesiedelt 21 .
Diese Strömung war mit dem expliziten Ziel gegründet worden, eine "dringend notwendige Organisation der Partei und eine tiefgreifende ideologische Debatte" zu fördern. Sie schlug die Bildung einer "Nationalen Befreiungsfront [vor], die die revolutionären Ideen des argentinischen Volkes in ihrer ganzen Reinheit und Weite ausdrückt." ("Declaración de la Intransigencia Peronista " 1981). Vgl. Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985: 247ff.)
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Ganz offensichtlich hat die von den Autoren vorgenommene Charakterisierung der vier Strömungen kaum etwas mit den von ihnen selbst genannten Hauptkonfliktachsen zu tun. Vielmehr ist das gesamte Interpretationsgebäude nichts anderes als ein Versuch, die "Mitte" und insbesondere den MUSO zu legitimieren. Letzterer wird als eine weite und umfassende Strömung präsentiert, die geradezu ideal geeignet sei, einen von seinen gewaltsam ausgetragenen internen Kämpfen gereinigten Peronismus zu repräsentieren. Für einige Wissenschaftler, die anderen Strömungen näherstanden, war der MUSO dagegen dem Vertikalismus zuzuordnen, während die Heterodoxie ihren Ausdruck auf nationaler Ebene in anderen Linien finde, beispielsweise in Intransigencia y Movilización, im Movimiento de Reafirmación Doctrinaria und in der Coordinadora de Acción Justicialista22. Auf den ersten Blick scheinen diese unterschiedlichen Interpretationen zu zeigen, daß der ideologische Kampf innerhalb des Peronismus weiterbestand. Allerdings bezogen sich die neuen internen Auseinandersetzungen mehr auf bestimmte Personen als auf wirkliche konzeptionelle Differenzen. Die fünf wichtigsten Köpfe des Peronismus im Jahr 1983 waren: Deolindo Bittel23, Lorenzo Miguel24, Herminio Iglesias25, Antonio Cafiero26 und Italo Luder27. Allerdings besaßen sie nicht alle die gleiche Macht oder dieselben Ansprüche. Im Februar zeichneten sich nicht weniger als vier Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur des Peronismus ab: Cafiero (der auf die Unterstützung Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985:20ff.). Bittel war Gouverneur der Provinz El Chaco und Erster Stellvertretender Vorsitzender der Justizialistischen Partei, als der Putsch von 1976 stattfand. Er wurde festgenommen, erlangte jedoch kurze Zeit später seine Freiheit zurtlck. Da die Witwe Peróns länger in Haft blieb und nach ihrer Freilassung ins Ausland ging, war Bittel der hochrangigste Parteifunktionär, als die Reorganisation der Partei einsetzte. Ab 1981 vertrat Bittel den Justizialismus im Rahmen der Multipartidaria. Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 90flf). Als Gewerkschafter der ersten Stunde und Nachfolger von Vandor in der Unión Obrera Metalúrgica repräsentierte Miguel immer die Orthodoxie. Seinen größten Erfolg konnte er an jenem Tag verbuchen, als die Gewerkschaften María Estela Martínez dazu zwangen, López Rega, den ehemaligen Privatsekretär Peróns und graue Eminenz der Regierung, zu entlassen. Nach dem Putsch wurde Miguel festgenommen und blieb mehrere Jahre in Haft. 1980 Ubernahm er erneut die Fuhrung der 62 Organisationen und entwickelte sich mehr und mehr zur maßgeblichen Figur eines politisch destrukturierten Peronismus, dessen einzige organisierte Basis die Arbeiterbewegung blieb. Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 138 ff ), Nogués (1989: 161). Iglesias war Uber seine gewerkschaftlichen Aktivitäten zum Peronismus gelangt, Ubernahm den Posten des Bürgermeisters von Avellaneda und entwickelte sich in der Folgezeit zum führenden Kopf des Peronismus in der Provinz Buenos Aires. Vgl. Nogués (1989: 129). Mit 29 Jahren avancierte der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Cafiero zum jüngsten Minister der zweiten justizialistischen Regierung, als er 1952 das Handelsministerium Ubernahm. 1975 wurde er zum Wirtschaftsminister ernannt. Später war er einer der Gründer des MUSO. Vgl. Nogués (1989: 70), GordiIlo/Lavagno (1987: 15). Auch Luder konnte auf eine langjährige Karriere innerhalb des Justizialismus zurückblicken. 1948 wurde er ftlr die Provinz Buenos Aires in den Nationalen Verfassungskonvent gewählt. Er war Mitglied der Kommission, die den endgültigen Text der Verfassung von 1949 ausarbeitete. In den Gerichtsverfahren, die die Militärregierung nach dem Putsch von 1955 gegen General Perón, gegen die peronistischen Abgeordneten und gegen die Mitglieder des Sekretariats der CGT anstrengte, übernahm Luder die Verteidigung. 1973 wurde er zum Senator gewählt und 1975 zum Senatspräsidenten ernannt. Während einer vorübergehenden Abwesenheit von Frau Perón im September und Oktober des gleichen Jahres übernahm er provisorisch die Präsidentschaft. Kurz vor dem Putsch von 1976 kursierte Luders Name im Zusammenhang mit Überlegungen, doch noch eine institutionelle Lösung aus der Regierungskrise zu finden. 1982 vertilgte Luder nicht Uber eine eigene Hausmacht innerhalb der Partei. Vgl. Luder (1983: 9ff.).
107
des MUSO und den Rückhalt der "25" zählen konnte), Luder (der jetzt der Wunschkandidat von Miguel, d.h. der 62 Organisationen war und die Unterstützung des Frente de Unidad Peronista28 erhielt), Matera (der Kandidat der "20") und Robledo (unterstützt von Gestion y Trabajo). Jeder der Kandidaten verfugte also über die Unterstützung eines Sektors der Gewerkschaften. Auf diese Art und Weise reproduzierten sich die gewerkschaftsinternen Auseinandersetzungen in den Parteikandidaturen, und ein weiteres Mal wurde die Abhängigkeit der Justizialistischen Partei von der Arbeiterbewegung offensichtlich. Nachdem die Regierung Bignone Vorschriften für eine innere Neuordnung der politischen Parteien29 erlassen hatte, trat ein Parteitag des PJ im Centro Cultural Congreso zusammen. Diese 1971 gegründete justizialistische Organisation hatte während der letzten peronistischen Präsidentschaft Aufgaben im Bereich der politischen Bildung und "Indoktrinierung" wahrgenommen. In ihrer Eigenschaft als "Kulturzentrum" konnte sie auch nach dem Militärputsch ihre Tätigkeit fortsetzen, wohl auch deshalb, weil sie justizialistische Gruppen repräsentierte, die nicht das de facto-Regime, sondern den linken Flügel der eigenen Bewegung als Hauptfeind betrachteten. Tatsächlich fungierte das Zentrum zur Zeit der Öffnung des autoritären Systems als Sitz des politischen Peronismus. Die im Centro Cultural Congreso versammelten Parteimitglieder bestätigten Bittel als Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Justizialismus und forderten die Aufhebung des gegen Maria Estela Martinez de Perön und andere führende Peronisten verhängten politischen Banns, was einen Monat später auch geschah30. Von diesem Zeitpunkt an warteten die Führungspersönlichkeiten, Mitglieder und Anhänger des Peronismus auf irgendein Zeichen der Witwe Peröns zugunsten eines der Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur. Da diese jedoch weiterhin schwieg, verzögerte sich die Entscheidung gefahrlich lange. Angesichts der Tatsache, daß der traditionelle Nominierungsmechanismus - der Wille Peröns - der Vergangenheit angehörte und Peröns Nachfolgerin sich passiv verhielt, begannen die verschiedenen Sektoren des Justizialismus ihre Listenplätze einzufordern. Während die Juventud Peronista ihre Stellung als vierter Zweig der Bewegung betonte und 25% der Listenplätze fur sich beanspruchte, empfahl das Abschlußdokument des Dritten Kongresses der Rama Femenina den weiblichen Mitgliedern des Peronismus, jene Listen zu wählen, die eine Frauenquote von 33% respektierten und die Ex-Präsidentin als Parteichefin anerkannten31. Zu dieser Organisation gehörten die in Buenos Aires angesiedelten Gruppen 17 de Octubre, Justicialista und Sector Independiente.
Propuesta
29
Die Vorschrift legte fest, wie die Binnenstruktur der politischen Parteien auszusehen hatte, und nannte verschiedene Voraussetzungen, unter denen eine Organisation als nationale Partei anerkannt werden konnte: Sie mußte belegen, daß sie als juristisch-politische Person in mindestens fünf Distrikten anerkannt war, die Anzahl der Mitglieder nachweisen, Grundsatzerklärung, Programm oder Grundlagen des politischen Handelns vorweisen und die Satzung sowie die Wahl- und Ernennungsunterlagen der nationalen und Distriktvorsitzenden der Partei vorlegen. Vgl. Ley 22.627.
30
Vgl. El Bimestre 8 (1983: 17, 60), Partido Justicialista (1983a).
31
Vgl. El Bimestre 8 (1983: t l f . )
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Am 14. August fanden die Vorwahlen des Justizialismus in der Provinz Buenos Aires - dem größten Wahldistrikt des Landes und der traditionellen Bastion des Peronismus - statt. Bei diesen Wahlen wurden die 660 Mitglieder des Provinzkongresses der PJ bestimmt, der seinerseits über die Kandidaturen für die Gouverneurswahlen in der Provinz Buenos Aires und über die 235 Repräsentanten des Distrikts auf dem Nationalen Parteitag zu entscheiden hatte 32 . Zu den Vorwahlen traten mehr als 400 Listen an, von denen nur fünf in der ganzen Provinz vertreten waren: die Lista Azul (angeführt von Herminio Iglesias), die Lista Azul y Blanca (auf nationaler Ebene verbündet mit der Comisión de Gestión y Enlace), die Lista Celeste (die Anhänger von Cafiero), die Lista Marrón (die Anhänger Luders) und die Lista Amarilla y Blanca (die Anhänger Materos und Robledos). Vor Bekanntgabe der endgültigen Wahlergebnisse proklamierten 200 Parteitagsmitglieder Iglesias öffentlich zum Gouverneurskandidaten, während eine andere Gruppe Cafiero für diesen Posten ernannte. Noch bevor die Auszählung der Stimmen überhaupt beendet war, betonten beide Kandidaten, daß sie über genügend Wahlmännerstimmen verfugten, um ihre Kandidatur zu gewährleisten 33 . Die internen Auseinandersetzungen wurden jedoch nicht durch den Wahlprozeß entschieden, sondern vor allem durch Vereinbarungen, die in sogenannten "Gipfeltreffen" beschlossen wurden. Am 22. August fand ein Treffen zwischen Bittel (Erster Stellvertretender Parteivorsitzender), Miguel (Chef der 62 Organisationen), Iglesias (Führer des Justizialismus der Provinz Buenos Aires), Luder (der profilierteste Kandidat, aber ohne eigene Hausmacht innerhalb der Partei) und Cafiero (unterstützt durch den MUSO) statt. Bei diesem Treffen wurde hinter verschlossenen Türen entschieden, das Gespann Luder-Bittel ins Rennen um die Präsidentschaft zu schicken 34 . Anscheinend versuchte Miguel in dieser Sitzung auch, Herminio Iglesias zu einem Verzicht auf seine Kandidatur in der Provinz Buenos Aires zugunsten von Cafiero zu überreden. Dieser weigerte sich jedoch, so daß die endgültige Entscheidung in den Händen des Parteitages der Provinz lag. Bei dessen Sitzungen kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen, angesichts derer sich die 200 hinter Cafiero stehenden Wahlmänner dazu entschlossen, den Parteitag zu verlassen. Die übrigen Delegierten setzten ihre Beratungen fort und bestätigten die Kandidatur des Gespanns Iglesias-Amerise. Die Anhänger Cañeros legten ge-
Die Gesamtzahl der Mitglieder des Nationalen Parteitages betrug 701, d.h. auf die Provinz Buenos Aires entfielen 33,5%. Die Zusammensetzung richtete sich nach der Anzahl der Mitgliedschaften in jeder Zone, und nicht nach der tatsächlichen Anzahl der Wähler. Dies mußte zu groben Verzerrungen filhren, falls tatsächlich mit gefälschten Mitgliedschaften operiert wurde, wie Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985: 251 ff.) dies annehmen. Vgl. El Bimestre 10 (1983: 70f.). Später erklärte Cafiero dazu, daß "es nur die Wahl zwischen diesem 'Gipfel' oder keinem gab. [...] Es ging darum, diese Spielregeln zu akzeptieren oder zu ignorieren, wobei letzteres bedeutet hätte, den Parteitag der Justizialistischen Partei mit einem überflüssigen und kontraproduktiven Konflikt zu belasten, der die Chancen der Bewegung in Mitleidenschaft hätte ziehen können. " Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 240f.).
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gen diese Entscheidung vor einem Wahlgericht Einspruch ein und beklagten tätliche Angriffe sowie Drohungen während des Parteitages. Alle Peronisten hofften inzwischen auf eine Beilegung des Konflikts in der Provinz Buenos Aires, damit endlich der Nationale Parteitag zusammentreten konnte. Nach einem erneuten Gipfeltreffen am 30. August 1983 und weiteren Verhandlungsrunden kam es schließlich zu einer Übereinkunft: Iglesias würde als Gouverneurskandidat antreten, aber auf den Listen sollten auch Plätze für die Anhänger Cañeros reserviert werden. Zudem erklärte sich Cañero zu einem "offiziellen Verzicht" auf seine Kandidatur bereit um zu verhindern, daß die von seinen Gefolgsleuten angestrengten Gerichtsverfahren eine Lösung des Konflikts noch länger hinauszögern könnten. Trotz dieser Absprachen wurde die Zusage, den Anhängern Cañeros Listenplätze einzuräumen, letztendlich nicht eingehalten 35 . In den ersten Septembertagen trat endlich der Parteitag des PJ zusammen. Die Kandidatur des Gespanns Luder-Bittel für die Präsidentschaftswahlen wurde dort "per Akklamation" bestätigt und das Regierungsprogramm in kürzester Zeit verabschiedet. Beschlossen wurde auch die Erneuerung der Parteispitzen: Lorenzo Miguel wurde zum Ersten Stellvertretenden Parteivorsitzenden ernannt und der aus Santiago del Estero stammende Carlos Juárez zum Zweiten. Niemand wagte es, über den ersten Parteirang zu diskutieren. Der Vorsitz blieb nach wie vor in den Händen der in weiter Ferne lebenden und nicht zum Bruch ihres Schweigens bereiten Witwe des Generals 36 . Die nationalen Wahlen sollten in weniger als zwei Monaten stattfinden. Der Justizialismus hatte jedoch noch nicht mit dem Wahlkampf begonnen.
4.3 Der Wahlkampf von 1983 Die UCR, die sich bereits im Juli auf das Gespann Alfonsin-Martinez für die Präsidentschaftswahlen geeinigt hatte und viel weniger innerparteiliche Konflikte als der Justizialismus bewältigen mußte 37 , betrieb seit Monaten einen aktiven Wahlkampf. Ein entscheidender Moment dieser Kampagne war der Ende April von Raul Alfonsin öffentlich erhobene Vorwurf, zwischen den Streitkräften und den Gewerkschaften existiere ein Geheimpakt. Alfonsin, damals lediglich einer unter mehreren Bewerbern um die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei, löste mit diesen Anschuldigungen eine Auseinandersetzung mit jenen beiden Korporationen aus, die seiner Regierung später so viele Schwierigkeiten bereiten sollten. Er präsentierte seine Vorwürfe nie vor Gericht, und auch Be-
Vgl. El Bimestre 10 (1983: 84), Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 30ff.). Vgl. El Bimestre 11 (1983: 18), Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 37ff.). Zur damaligen Entwicklung der UCR siehe Birle (1989:47f.).
110
weise konnte er nie vorlegen 38 . Es handelte sich lediglich um hochgradig politische Äußerungen, die - gerade deswegen - den Wahlkampf auf Touren brachten, indem sie einen allzusehr mit seinen internen Problemen beschäftigten Gegner gehörig unter Druck setzten. Der UCR-Politiker richtete seine Vorwürfe nicht gegen die gesamte Gewerkschaftsbewegung, sondern bemühte sich um eine sorgfaltige Unterscheidung zwischen den 62 Organisationen und jenen Gruppen, die sich durch größeren Kampfgeist gegenüber der Diktatur ausgezeichnet hatten. Die Vorwürfe sollten nicht als typisches Produkt der alten UCR-"Gorillas" 39 abgestempelt werden, sondern als Ausdruck eines fortschrittlichen demokratischen Denkens gelten. Zum einen beabsichtigte Alfonsin mit seinen differenzierten Vorwürfen, eine Bresche in die Reihen der Gewerkschaften zu schlagen. Zum anderen zwang er die Peronisten auch zum Schulterschluß und zur undankbaren Aufgabe, im Namen der Einheit der Bewegung eine Reihe von Personen verteidigen zu müssen, die nicht gerade viele Sympathien bei den Wählern besaßen 40 . Unmittelbar nachdem Alfonsin seine Anschuldigungen erhoben hatte, folgten Dementis von Seiten der justizialistischen Führungsriege und der Streitkräfte sowie verschiedene Verleumdungsklagen vor den Gerichten. All dies konnte jedoch nicht vermeiden, daß in der öffentlichen Meinung zumindest ein Verdacht bestehenblieb. Die Auswirkungen dieser Erklärungen waren um so größer, als die gesamte argentinische Presse seit geraumer Zeit ständig über Kontakte zwischen Gewerkschaftsbossen und einigen Militärs berichteten, ebenso wie über die weiter oben geschilderten Absichten Masseras und seine Annäherung an den Justizialismus 41 . Der Peronismus begann seine Wahlkampagne am 18. September in der festen Überzeugung, daß sich einmal mehr das "eiserne Gesetz" der argentinischen Politik bestätigen würde. Die Mitgliederzahlen der politischen Parteien schienen diesen Optimismus zu rechtfertigen: Die "größte Partei des Westens", wie es damals hieß, vereinigte 54% aller 1983 in Argentinien registrierten Parteimitgliedschaften auf sich. Sie konnte stolz darauf sein, in 17 von 24 Wahldistrikten - darunter der Hauptstadtdistrikt von Buenos Aires sowie die Provinzen Santa Fe und Buenos Aires - die absolute Mehrheit der Mitglieder und in der Provinz Cördoba 49% auf sich zu vereinen 42 . Die öffentlichen Erklärungen und Reden der peronistischen Kandidaten und das vom Parteitag verabschiedete Wahlprogramm spiegelten die weitverbreitete
Zunächst machte Alfonsin nur einige vage Andeutungen gegenüber der Presse, bevor er auf einer Pressekonferenz am 2. Mai eine ausführliche Deklaration zu diesem Thema verlas. Vgl. Gl Bimestre 8 (1983: 68ff.). Der vollständige Text ist abgedruckt in: El Bimestre 9 (1983: 92f.). 39
Als "Gorillas " bezeichneten die Peronisten der ersten Stunde die konservative Opposition.
40
Vgl. Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985: 259f.), Landi (1985: 33ff.).
41
Vgl. El Bimestre 9 (1983) passim.
42
Im Mai präsentierten die politischen Parteien den zuständigen Behörden ihre Mitgliederlisten. Insgesamt wurden 5.610.000 Mitgliedschaften registriert, d.h. 31,4% der Wahlberechtigten gehörten einer Partei an, mehr als jemals zuvor in der Geschichte des Landes. Davon entfielen 3.005.355 auf den PJ (3.079.000 nach Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985: 250) und nur 1.410.123 auf die UCR. Vgl. El Bimestre 9 ( 1 9 8 3 : 4 7 ) , Mündt (1983: 63).
111
Vorstellung wider, daß die bloße Wiederholung der traditionellen Losungen ausreichen würde, um die Wahlen zu gewinnen. So erklärte beispielsweise Torcuato Fino, Spitzenkandidat auf der justizialistischen Abgeordnetenliste für den Hauptstadtdistrikt, daß "[...] d a s a r g e n t i n i s c h e V o l k n i c h t v e r g i ß t , d a ß n i e m a n d d e m L a n d m e h r W o h l s t a n d g e b r a c h t h a t a l s d i e j u s t i z i a l i s t i s c h e n R e g i e r u n g e n . [...] P e r ó n erleuchtet aus seinem Grab heraus den W e g , der eine vierte justizialistische Regierung ermöglichen wird"43.
Der Text des Wahlprogramms stellte u.a. darauf ab, die Errungenschaften der ersten beiden peronistischen Präsidentschaften in Erinnerung zu rufen und dabei sorgfaltig jeden Hinweis auf die Regierungszeit von María Estela Martínez de Perón zu vermeiden 44 . Diese Haltung entsprach der unterschiedlichen Wertschätzung, die die beiden justizialistischen Regierungsperioden bei der Bevölkerung genossen. Eine im Mai durchgeführte Umfrage hatte gezeigt, daß 50% der Befragten die peronistische Administration zwischen 1946 und 1955 positiv beurteilten, während nur 15% ein negatives Bild von ihr hatten. Dagegen ergab sich hinsichtlich der Regierungsperiode 1973-1976 ein umgekehrtes Bild 45 . Zu diesem Zeitpunkt waren auch Umfragen bekannt, die einen Vorsprung für den Radikalismus voraussagten 46 . Trotzdem ging man in den Reihen des Justizialismus davon aus, daß der verspätete Beginn des Wahlkampfes sich als Vorteil erweisen würde. Da die Strategie des wichtigsten Gegners bereits bekannt sei, könne man um so effektiver darauf antworten: Der Justizialismus dürfe sich nur nicht auf die falsche Gegenüberstellung Demokratie versus Faschismus einlassen, mit der der radikale Kandidat ihn attackierte, er müsse sich vielmehr als Garant der nationalen Einheit präsentieren, die Bewegungstradition betonen, die Unterstützung der Arbeiterbewegung für Luder öffentlich demonstrieren und durch eine gezielte Berufung auf Perón, Eva und "Isabelita" die "Mystik und das historische Erbe des Peronismus" hervorheben 47 . Obwohl eine Wahlkampfkommission unter Vorsitz von Adam Pedrini geschaffen wurde, der Matera, Robledo, Cañero (die drei gescheiterten Kandidaten), Saadi und zahlreiche weitere Spitzenpolitiker der Partei angehörten, und Zitiert nach El Bimestre 11 (1983: 59). In dem Wahlprogramm konnte man Sätze wie die folgenden lesen: "Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das Beste, was wir haben, das Volk ist, und wir richten all unsere Handlungen danach aus, ihm das Gltlcksgefühl wiederzugeben, das ihm Perón gegeben hatte" (Partido Justicialista 1983b: 15). "Die Justizialistische Partei ist die einzige historisch gültige Alternative zu einem System, das auf wirtschaftlicher Abhängigkeit und sozialer Ungerechtigkeit beruht. Unsere traditionellen Standarten der Sozialen Gerechtigkeit, der Wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der Politischen Souveränität sind Eigentum des ganzen Volkes. Der Justizialismus hat fllr die Verbreitung dieser Prinzipien gesorgt, er hat sie in der Präambel der Verfassung von 1949 festgeschrieben und die gesamte Gemeinschaft hat sie akzeptiert" (Partido Justicialista 1983b: 109). Vgl. Catterberg (1987: 210). Laut einer Umfrage des Instituto de Psicología Social Aplicada beabsichtigten 31% der Befragten, den Radikalismus zu wählen, dagegen nur 24% den Justizialismus. 31 % hatten sich noch nicht entschieden. Eine andere, zum gleichen Zeitpunkt erhobene Umfrage fllhrte zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Vgl. El Bimestre 10(1983: 58). Vgl. Propuesta de Estrategia (1983: 321 f f ) .
112
obwohl mehrere Vorschläge für die Wahlkampffiihrung erarbeitet wurden, verließ sich der Präsidentschaftskandidat auf seine eigene Strategie 48 . Italo Luder konnte auf eine langjährige Karriere in der Bewegung zurückblicken, aber er genoß keine große Popularität. Sein Image war nur schwer mit einem in der Arbeiterschaft verwurzelten Peronismus zu vereinbaren. Vielmehr traute man ihm als einzigem aus der peronistischen Führungsriege zu, die Stimmen der Mittelklasse zu gewinnen. Und dieses Ziel galt als prioritär, denn niemand bezweifelte, daß die Arbeiter und die Unterschicht insgesamt so oder so den Justizialismus wählen würden. Also versuchte der Präsidentschaftskandidat, sich als derjenige zu präsentieren, der er war: ein untadeliger Rechtsanwalt. Er gab sich nicht besonders zugänglich, bemühte sich nicht um Auftritte im Fernsehen, und auch für die Presse war es nicht einfach, ein Interview von ihm zu erhalten. Sein Diskurs unterschied sich stark von der vertrauten peronistischen Rhetorik 49 . Aus den eigenen Reihen wurde bald Kritik an diesem Stil laut. Carlos Menem, damals Gouvemeurskandidat für die Provinz La Rioja, bekundete öffentlich seine Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie der Wahlkampf auf nationaler Ebene geführt wurde. Er empfahl demgegenüber eine ganz andere Strategie: "Zum Volk muß man in dessen eigener Sprache sprechen. Man muß ihm das sagen, was es hören möchte" 50 . Zwar beschworen die führenden Justizialisten permanent die "Einheit" der Bewegung, aber alle Kandidaten betrieben ihre eigene Wahlkampfpropaganda. Die zahlreichen Konflikte zwischen den verschiedenen Flügeln erlaubten nicht einmal ein Mindestmaß an notwendiger Koordination. Diskrepanzen gab es vor allem über die Verwendung der Wahlkampfgelder. Eine aus diesem Anlaß gegründete Finanzkommission kümmerte sich um die Einwerbung und Verteilung der notwendigen Gelder. Sie rief die Privatwirtschaft, die bereits anläßlich der Vorwahlen Unterstützung gewährt hatte, zur Zusammenarbeit auf. Als überaus nützlich erwiesen sich in diesem Zusammenhang die existierenden Kontakte zwischen den Gewerkschaftern und den Unternehmen der entsprechenden Produktionszweige. Laut periodistischen Angaben gelang es der Kommission, etwa fünf Millionen Dollar in bar einzuwerben (einschließlich etwas mehr als einer Million Dollar Schwarzgelder). Hinzu kamen bedeutende Sachleistungen, so beispielsweise die eintausend Tonnen Papier, die das Unternehmen Papel de Tucumän zur Verfugung stellte und die 90% des im Verlauf des Wahlkampfs benötigten Papiers ausmachten. Eine genaue Kalkulation der vollständigen Einnahmen und Ausgaben ist nicht möglich, denn neben den durch die Finanzkommission kanalisierten Geldern sammelte jeder Kandidat und jede Provinz ihre eigenen Spendengelder, ohne daß darüber genau Buch geführt worden wäre. Allein in der Provinz Buenos Aires war von Einnahmen in Höhe von fast
48
Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 56ff.).
49
So begann Luder beispielsweise eine Wahlkampfrede in Bahía Blanca mit der BegrUBungsformel "Mitbürger " (compatriotas) anstelle der üblichen peronistischen Anrede "compañeros ". Vgl. Cordeu/ Mercado/Sosa (1985: 54).
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Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 90).
113
zweieinhalb Millionen Dollar die Rede. Im Verlauf der Wahlkampagne wurden zahlreiche Beschwerden und Vorwürfe von Seiten peronistischer Politiker wegen verschwundener und veruntreuter Gelder laut. Die vorliegenden Informationen lassen kein endgültiges Urteil über diese Vorgänge zu. Aber allein die Tatsache, daß in einem derart zentralen Bereich solche Vorwürfe während der Wahlkampagne erhoben wurden, wirft einmal mehr ein bezeichnendes Licht auf den zerrütteten Zustand, in dem sich der Peronismus damals befand51. Der Justizialismus maß dem öffentlichen Image seiner Kandidaten und den Massenmedien insgesamt keine allzu große Bedeutung zu. Davon überzeugt, per definitionem die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben, sah er keine Notwendigkeit, die eigenen Kandidaten "zu verkaufen". Man vertraute auf die Mitwirkung der Parteianhänger bei den Flugblattaktionen und Straßenmalereien sowie Informations- und Diskussionsveranstaltungen auf Straßen und Plätzen. Solche Kommunikationsformen waren Bestandteil der peronistischen Tradition, wie sie sich in Jahrzehnten des Verbots herausgebildet hatte, und entsprachen darüber hinaus auch dem Mobilisierungsstil der Bürger während der Diktatur. Daher griff auch der Radikalismus auf solche Formen zurück, ohne deshalb aber die Möglichkeiten moderner Werbetechniken geringzuschätzen52. Schon lange hatte die UCR keine Massenveranstaltungen mehr wie in den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte organisiert. Seit der Entstehung des Peronismus hatte dieser sich gewissermaßen das Monopol für solche Mobilisierungsformen angeeignet. Jetzt, während der Phase der demokratischen Öffnung in den 80er Jahren, wurde der Radikalismus erneut zu einem Massenphänomen. Am 30. September gelang es Raul Alfonsin, in einem Fußballstadion im Viertel Caballito im Herzen der Stadt Buenos Aires mehr als 100.000 Menschen zusammenzuführen - und das, obwohl die Transportarbeitergewerkschaft UTA an diesem Tag streikte. Keine der öffentlichen Erklärungen der Gewerkschaftsführer konnte den Verdacht entkräften, daß der Streik genau an diesem Tag durchgeführt wurde, um die Wahlkampfveranstaltung der Radikalen zu boykottieren53. Die Reden der UCR-Politiker unterschieden sich deutlich von denen der Peronisten. Alfonsin präsentierte sich als Garant dafür, daß sich die dunkle Vergangenheit nicht wiederholen würde. Er versprach Frieden und Demokratie und setzte sich selbstkritisch mit dem bornierten Antiperonismus seiner Partei in früheren Jahren auseinander. Auf eine für den Radikalismus bislang unübliche Art und Weise bemühte sich der Präsidentschaftskandidat um die Unterstützung der Arbeiter, achtete aber gleichzeitig sorgfältig darauf, daß sich seine Botschaft an die gesamte argentinische Bevölkerung richtete. Alfonsin erschien als tolerante und ethische Persönlichkeit. Er pflegte seine Reden zu unterbrechen, um medizinische Hilfe für zusammengebrochene Zuhörer zu erbitten -
Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 61 ff.). Vgl. Laveihle/Seijas (o.J.: 12ff.). Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 47ff.).
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eine symbolische Geste, die seine Achtung vor dem Leben verdeutlichen sollte. Er gefiel sich darin, seine Reden mit der Präambel der Verfassung von 1853 zu beenden und diese gewissermaßen als Synthese seines Programms darzustellen. Einem verjüngten, aber seinen traditionellen Standarten trotzdem treugebliebenen Radikalismus gelang es auf diese Art und Weise, sich gegenüber der öffentlichen Meinung als einziger Garant für die Achtung der bürgerlichen Freiheiten zu präsentieren. Dadurch wurde die Partei auch attraktiv für die junge Generation, die sich in den 70er Jahren massiv dem Peronismus zugewandt hatte 54 . Die internen Streitigkeiten des Justizialismus nahmen im Verlauf des Wahlkampfes nicht ab, sondern spitzten sich weiter zu. Die Aktionen der verschiedenen Kandidaten liefen nicht nur unkoordiniert ab, sondern standen teilweise in offenem Widerspruch zueinander. Am 7. Oktober beispielsweise fand in La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, eine Wahlveranstaltung statt, an der Herminio Iglesias nicht teilnahm. Einige Sätze des an seiner Stelle als Redner auftretenden Amerise, des Kandidaten für den Posten des Vizegouverneurs, waren symptomatisch für die gesamte justizialistische Wahlpropaganda: "Wir haben gewonnen, als Perón im Exil war, als er an der Präsidentschaft war, und als er tot war; mit irgendwelchen Namen und sogar mit weißen Stimmzetteln. Und jetzt werden wir es mit diesem Kandidaten tun, der Italo Luder heißt."55
Eine derartige Äußerung läßt mehrere Lesarten zu. Zunächst einmal spricht aus ihr eine absolute Siegesgewißheit. Sie setzt auch auf Kontinuität: Der Peronismus hatte die Wahlen immer gewonnen, und er würde sie auch diesmal gewinnen. Der Sieg wurde von Perón garantiert, auch wenn er schon tot war. Deswegen würde der Justizialismus sogar mit diesem (schwachen) Kandidaten triumphieren. Die Formulierung sollte das absolute Vertrauen in die Stärke der Bewegung demonstrieren, und sie tat doch nichts anderes, als dessen Schwächen zu entblößen. Herminio Iglesias, der über beachtliche eigene Finanzmittel verfugte, führte einen Wahlkampf, der weit über die Grenzen der Provinz Buenos Aires hinausgriff und das genaue Gegenteil der Kampagne Luders war. Iglesias war ein aggressiver und siegessicherer Kandidat, dessen Reden sich ausschließlich an die Unterschichten und an die Marginalisierten wandten. Er zögerte nicht, sich auf seine Gegner mit üblen Beleidigungen zu beziehen 56 . Die Propaganda für seine Kandidatur arbeitete unter anderem mit Spruchbändern und Flugblättern, auf denen nichts anderes stand als der einfache Satz "Herminio ist das Volk". Auf einer Wahlveranstaltung, die am 14. Oktober in Mar del Plata stattfand, rief Vgl. El Bimestre II (1983) passim, insbesondere 56ff., Landi (1985: 37ff.), Maronese/Cafiero de Nazar/ Waisman (1985: 257ff ). Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 88). Iglesias schreckte nicht vor Deklarationen wie der folgenden zurück: "Ich werde Herrn Alfonsin nicht mehr antworten, denn er verdient es nicht: Für mich ist er ein Wurm." Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 126).
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Iglesias in seiner Rede genau jene Assoziationen hervor, die Luder so gerne verbannen wollte: "Der weiße Elefant, der für den Peronismus steht, hat sich bereits erhoben, und sein Vormarsch walzt alles nieder. Wie eine Planierraupe nähert er sich den nächsten Wahlen, um jene 10 Millionen Stimmen einzusammeln, mit denen der Peronismus triumphieren wird."57
Am 17. Oktober, als die Peronisten mitten im Wahlkampf ihren "Tag der Treue" feierten, traten die Schwierigkeiten innerhalb der justizialistischen Führungsriege einmal mehr offen zutage. Luder blieb in Córdoba und feierte dort seine eigene Veranstaltung, weit weg von der Spitze des Justizialismus. Währenddessen fand in Buenos Aires eine Massenkundgebung statt, die von vereinzelten Gewaltausbrüchen nicht verschont blieb. Viele der Anwesenden machten ihre strikte Opposition zu Lorenzo Miguel deutlich und hinderten ihn fast daran, seine Rede zu halten. Ubaldini und Iglesias dagegen erhielten die explizite Unterstützung der Teilnehmer. Um die existierenden Meinungsunterschiede zu übertünchen und jene Symbole zu betonen, die alle Peronisten einen konnten, appellierten die Redner wieder einmal an die Schutzpatrone der Bewegung. Der Aspirant auf das Amt des Gouverneurs der Provinz Buenos Aires zauderte nicht zu erklären: "Am 30. Oktober gewinnt nicht Herminio, es gewinnt nicht Luder, erneut wird es General Perón sein, der gewinnt" 58 . Der Präsidentschaftskandidat der UCR versäumte nicht die Gelegenheit, die Schwächen seiner Gegner auszunutzen. Auf seiner letzten Wahlveranstaltung, die drei Tage vor dem Urnengang mitten im Zentrum von Buenos Aires stattfand und die größte Veranstaltung des Radikalismus seit mehr als 50 Jahren war, bezog sich Alfonsin auf die Reden der peronistischen Spitzenpolitiker: "Die wichtigsten Repräsentanten des Justizialismus haben gesagt, daß kein Kandidat die Wahlen gewinnen wird, sondern daß Perón sie gewinnen wird, so wie der tote Cid Campeador eine Schlacht gewonnen hat. Ich frage mich, was Millionen Argentinier sich fragen: Wer also wird Argentinien regieren? Und das frage ich mich, genauso wie Millionen Argentinier, denn wir alle erinnern uns sehr gut daran, [was geschah] als Perón starb"59.
Mit diesen Worten rief Alfonsin den Wählern genau das ins Gedächtnis zurück, was die Peronisten vergessen machen wollten: die innere Krise des Justizialismus an der Macht, die sich schließlich auf die gesamte Nation übertragen hatte, der Zerfall der letzten peronistischen Regierung und die Errichtung der Diktatur. Als Gegenmodell zu all dem rezitierten der Kandidat des Radikalismus und seine gesamte Zuhörerschaft einmal mehr nach Art eines laizistischen Gebets das unerfüllte Programm der Verfassungsväter: die nationale Einheit herstellen,
57
Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 126). (Hervorhebung d.V.).
58
Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 141).
59
Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 166f.).
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die Gerechtigkeit stärken, den inneren Frieden festigen, die allgemeine Wohlfahrt fordern und die Wohltaten der Freiheit gewährleisten. Zwei Tage nach der Veranstaltung der UCR fand der Schlußakt des peronistischen Wahlkampfes am gleichen Ort statt. Diesmal waren alle Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene - Iglesias, Miguel, Ubaldini, Cafiero, Bittel und Luder - anwesend und versuchten, Einheit zu demonstrieren. Die Veranstaltung war sehr gut besucht, wahrscheinlich noch besser als die der UCR 60 . Animiert durch die triumphalistische Euphorie der Massen, erklärte der justizialistische Spitzenkandidat: "Dies ist das letzte Mal, daß ich mich als Präsidentschaftskandidat des Justizialismus an Euch wende; nächsten Sonntag werde ich eine Botschaft an Euch richten, aber schon als Präsident aller Argentinier" 61 . Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Mittelschichten für den Peronismus zu gewinnen, entschied sich Luder im letzten Moment dafür, die traditionellen Wähler der Partei noch einmal deutlich anzusprechen. Anläßlich der letzten Rede trat ein veränderter Kandidat auf, der sich - jetzt ohne Krawatte an die Reihen der Arbeiter und an die (semi)-marginalisierten Sektoren wandte - dies waren praktisch die einzigen Zuhörer. Um dem Image des Radikalismus als Personifizierung der Demokratie etwas entgegenzusetzen, unterstrich Luder, daß der Peronismus das wichtigste Opfer aller Militärdiktaturen gewesen sei, während die UCR nicht selten mit diesen zusammengearbeitet habe. Weder seine Aussagen noch die Verhaltensweisen der Anwesenden vertrugen sich jedoch mit der Botschaft von Demokratie und Toleranz. Nachdem der Präsidentschaftskandidat seine Rede beendet hatte, wurde ein Sarg mit einer Krone und der Inschrift "Raúl Alfonsin R.I.P." zur Rednertribüne hinaufgereicht. Herminio Iglesias war derjenige, der den Sarg vor den Fernsehkameras, die diese Szene bis in den letzten Winkel des Landes übertrugen, anzündete. Dies war das letzte Bild des Peronismus, das vor den Wahlen zu sehen war 62 .
4.4 Zwischenbilanz III Jener Peronismus, der während des Transitionsprozesses ans Licht trat, war nicht mehr derselbe wie in den 70er Jahren. Einer der größten "Erfolge" der Diktatur hatte ja gerade darin bestanden, die vierte Säule zu zerschlagen. Die Konsequenz: Die Peronistische Jugend genoß in den folgenden Jahren nie mehr jene Bedeutung, die sie in den 70er Jahren gehabt hatte. Vielmehr blieben die Gewerkschaften - trotz Verfolgungen und Spaltungen - der stärkste Sektor innerhalb des Justizialismus. Die anderen Säulen der Bewegung besaßen kein dem "Rückgrat" vergleichbares Gewicht. Vor diesem Hintergrund wird ver60
Die von der Presse und von den Veranstaltern jeweils präsentierten Zahlen klafften weit auseinander. Hinsichtlich der UCR-Veranstaltung schwankten sie zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen, während für die der Peronisten von 800.000 bis zu 2 Millionen gesprochen wurde. Vgl. El Bimestre 11 (1983: 94).
61
Zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 179).
62
Vgl. El Bimestre 11 (1983: 94), Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 173ff.).
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ständlich, daß Lorenzo Miguel, der Chef der damals mächtigsten Gewerkschaftsorganisation, ungehindert hinter den Kulissen die Fäden ziehen konnte. Dagegen ließ sich die von Herminio Iglesias in der Provinz Buenos Aires errichtete Machtstruktur nicht in die traditionellen gewerkschaftlichen Mobilisierungsformen eingliedern. Dieser Caudillo verstand es, die Unterstützung jener marginalisierten Sektoren an sich zu ziehen, die als Folge der Wirtschaftspolitik der Streitkräfte und der durch sie ausgelösten gesellschaftlichen Entstrukturierungsprozesse entstanden waren. Er wurde von den übrigen Sektoren des Justizialismus als "Residualphänomen" abgestempelt; diese sahen sich jedoch nicht in der Lage, ihn aus seiner Machtposition zu verdrängen. Die in "Waisenkinder Peröns" verwandelten justizialistischen Spitzenpolitiker stritten sich um das Erbe des toten "Vaters". Die internen Auseinandersetzungen fanden jenseits irgendwelcher Verfahrensregeln und ohne jegliche Beteiligung der Parteimitglieder statt. Wichtige Entscheidungen wurden auf Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen getroffen, den Parteitagen lediglich im Nachhinein zur Bestätigung vorgelegt, ohne daß es bei diesen Veranstaltungen Möglichkeiten zu einer offenen Debatte oder entscheidende Abstimmungen gegeben hätte. Nicht alle der getroffenen Entscheidungen wurden später auch eingehalten. Am Vorabend der Gründungswahlen hatte der Peronismus weder seine Vergangenheit aufgearbeitet noch Mechanismen zur Beilegung interner Konflikte gefunden. So wurde die Organisierung einer der wichtigsten politischen Kräfte - eine Aufgabe, die theoretisch der Transitionsphase zugeordnet wird - auf die Zukunft vertagt. Die Mehrheit der Bürger ließ sich von der Wiederholung alter Parolen nicht überzeugen. Zudem stieß das unkoordinierte, teilweise auch bedrohliche bis gewalttätige Verhalten der peronistischen Führer auf Ablehnung. Nicht die Thematisierung von Interessen, sondern die Berufung auf ethische und demokratische Werte spielte bei der Wahlkampagne eine zentrale Rolle. Die Peronisten bemühten sich darum, diesem Thema auszuweichen. Sie verkannten, daß es sich dabei nicht nur um eine werbewirksame Erfindung ihres Rivalen, des UCRPräsidentschaftskandidaten Alfonsin, handelte, sondern daß darin die Erwartungen und Frustrationen einer Bevölkerung zusammenflössen, die gerade die schlimmste politische Erfahrung in der Geschichte des Landes durchlebt hatte. Noch am Ende der Transitionsphase verfügte der Justizialismus über keine eindeutigen Zuerkennungsregeln und so gut wie keine wirksamen internen Restriktionsmechanismen. Da der Justizialismus hauptsächlich mit seinen eigenen internen Konflikten beschäftigt war, verblieben ihm nur wenige Kräfte für ein nach außen gerichtetes Handeln. So ist es nicht verwunderlich, daß er sich als Opposition nicht erfolgreich behaupten konnte und schließlich zum ersten Mal die Wahlen verlor. Insofern trifft These 7 in bezug auf den Peronismus während der Transitionsphase zu. Der argentinische Transitionsprozeß endete mit der Machtübergabe von 1983 ohne nennenswerte Übereinkünfte zwischen den Vertretern des autoritären 118
Regimes und den zivilen Eliten, die später die politische Verantwortung übernehmen sollten. Dies war allerdings nicht eine unmittelbare Konsequenz des Kollapses des Militärs infolge der Niederlage im Südatlantik, wie häufig angenommen wird. Die Streitkräfte waren aufgrund gravierender interner Konflikte zwar gespalten und geschwächt. Dies impliziert jedoch nicht, daß ihr Gegenspieler, die zivilen Kräfte, automatisch stark gewesen wären. Die Festlegung des zukünftigen institutionellen Rahmens, d.h. die Wiederinkraftsetzung der alten Verfassung, fand in einem Moment statt, in dem trotz der starken Legitimationsverluste des autoritären Regimes immer noch ein relatives Kräftegleichgewicht existierte. Außerdem wurde diese Entscheidung zu einem Zeitpunkt getroffen, in dem die Fortsetzung der Ungewißheit sowohl für die Militärs als auch für die zivile Opposition schädlich zu werden drohte, während die Vertreter der Parteien die Gewährung von institutionellen Prärogativen zugunsten der Streitkräfte kategorisch ablehnten. All dies deutet darauf hin, daß These 2 prima facie eine plausible Erklärung für die constitutional choice der argentinischen Transition bietet. Während der gesamten Transitionsphase, die sich immerhin über einen Zeitraum von fast eineinhalb Jahren erstreckte, vollzog sich ein nicht linearer Machtverschiebungsprozeß, in dessen Verlauf verschiedene Konstellationen auftraten. Dabei variierte wiederholt die Bereitschaft der verschiedenen oppositionellen Akteure, Übereinkünfte mit der militärischen Elite einzugehen. Als die Regierung Bignone den fuhrenden Politikern ein Gesprächsangebot unterbreitete, erklärten sich diese sofort zu Verhandlungen bereit. Zu diesem Zeitpunkt waren sie offensichtlich nicht stark genug, um eine bedingungslose Demokratisierung zu verlangen. Erst als sie an Stärke gewonnen hatten, lehnten die zivilen Kräfte das Konzertierungsangebot der Streitkräfte ab. Der Peronismus befand sich, wie gezeigt wurde, vor der Aufhebung der ihn betreffenden Proskriptionen in einer schwächeren Position als die anderen Parteien. Es war genau vor diesem Hintergrund, daß Kontakte und Verhandlungen zwischen militärischen Funktionären und peronistischen Gewerkschaftern sowie Parteipolitikern stattfanden. Wenn hier auch vieles noch Spekulation bleibt, so scheint doch These 3 eine plausible Erklärung zu bieten für die sich verändernde Bereitschaft der oppositionellen Akteure, Übereinkünfte mit den militärischen Machthabern während der Transition abzuschließen. Zu betonen ist schließlich, daß die Spitzenpolitiker der beiden großen Parteien innerhalb kurzer Zeit einen aufgeheizten Wahlkampf begannen, der in Übereinstimmung mit den politischen Traditionen des Landes als ein Kampf des "Alles oder Nichts" angesehen wurde. Unter solchen Bedingungen kümmerten sich die wichtigsten parteipolitischen Akteure kaum um die Erarbeitung eines (gemeinsamen) Konzepts, das der nächsten Regierung bei der Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen hätte behilflich sein können. So endete die Transitionsphase ohne ausdrückliche Übereinkünfte weder zwischen den Vertretern des autoritären Regimes und den zivilen Kräften noch zwischen den parteipolitischen Kräften unter sich, wie These 4 unterstellt. 119
5. Die interne Umstrukturierung des Peronismus während der Regierung Alfonsin Der Radikalismus ging aus den Präsidentschaftswahlen vom 30. Oktober 1983 mit einem Ergebnis von 52% der Stimmen als Sieger hervor, gefolgt vom Justizialismus, der nicht einmal 40% erzielte. Im Wahlmännergremium verfugte die UCR über die absolute Mehrheit. Die Justizialistische Partei gewann die Gouverneurswahlen in zwölf Provinzen (Santa Fe, Santa Cruz, La Pampa, San Luis, La Rioja, Catamarca, Jujuy, Salta, Tucumán, Formosa, Chaco und Santiago del Estero), während der Radikalismus sich in sieben Provinzen durchsetzen konnte (Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Río Negro, Misiones, Entre Ríos und Chubut) 1 . Auch in der Bundeshauptstadt Buenos Aires 2 und in Feuerland (in beiden Bezirken wurden die Vertreter der Staatsgewalt von der nationalen Exekutive ernannt), siegte die UCR. In Corrientes gewann der Pacto Autonomista Liberal, in Neuquén der Movimiento Popular Neuquino und in San Juan der Partido Bloquista. Die bitterste Niederlage erlitt der Justizialismus in der Provinz Buenos Aires: Sogar in Avellaneda, dem "Lehen" von Herminio Iglesias, wurde ein Radikaler zum Bürgermeister gewählt 3 . Italo Luder erkannte öffentlich den Wahlsieg des Radikalismus an, sobald er sich von dem allgemeinen Entsetzen erholt hatte, das alle Peronisten in der Wahlnacht ergriff. Und er war nicht der einzige, der dies tat: María Estela Martínez de Perón schickte in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der Justizialistischen Bewegung ein Glückwunschtelegramm an den neugewählten Präsidenten, womit sie ihr bisheriges Schweigen brach 4 .
Die amtlichen Endergebnisse für die Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten lauteten folgendermaßen: UCR 7.724.559 (317 Wahlmänner); PJ 5.995.402 (259 Wahlmänner); Provinzparteien 409.565 (20 Wahlmänner insgesamt); PI 347.654 (2 Wahlmänner); MID 177.426 (2 Wahlmänner); AF 57.026; ADS 47.736; DC 46.544; MAS 42.500; PSP 21.177; FIP 14.093; PO 13.067; leere Stimmzettel (der viertgrößte Stimmanteil) 334.946 (vgl. de Riz/Smulovitz 1990: 55). Das Kandidatengespann des Radikalismus erzielte seine besten Ergebnisse - mit jeweils weit Uber 50% der Stimmen - in den wohlhabendsten Provinzen (Córdoba, Mendoza und Rio Negro) (vgl. González Esteves/Llorente 1985:40). 2
Im Hauptstadtdistrikt gewann die UCR 64% der Stimmen (vgl. González Esteves/Llorente 1985:40).
5
Vgl. El Bimestre 11 (1983: 102f.), Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 226).
4
Vgl. El Bimestre 12(1983: II).
121
Von nun an war der Peronismus die Oppositionskraft gegenüber einer demokratisch gewählten Regierung, eine für ihn bis dahin unbekannte Rolle. Allein diese Tatsache mußte einen Wandel des peronistischen Selbstverständnisses und somit seiner gesamten Beschaffenheit auslösen. Im folgenden werden das Ausmaß und die Qualität dieser Veränderungen untersucht. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob während der Post-Transitionsphase die Wirksamkeit der internen Restriktionsmechanismen des Justizialismus - die erklärende Variable in These 7 - erhöht wurde oder nicht. Während des Untersuchungszeitraums durchlief der Peronismus einen sehr konfliktiven, auf den ersten Blick ziemlich undurchschaubaren Prozeß. Um dessen innere Logik zu verstehen, werden im folgenden vier Analyseschritte unterschieden: Der erste Teil thematisiert den Machtkampf um die Kontrolle der Partei. Im zweiten Teil wird die Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen gewerkschaftlichen Gruppierungen des Justizialismus behandelt sowie die ideologischen Konzeptionen analysiert, die vermutlich ihren Handlungen zugrunde lagen. In einem dritten Schritt, der die Veränderungen der internen Struktur des Justizialismus zum Gegenstand hat, werden deren Grenzen und Zusammenhänge mit den in den beiden vorhergehenden Abschnitten beschriebenen Verschiebungen der internen Kräfteverhältnisse beleuchtet. Der vierte Teil bezieht sich auf den ideologischen Disput um die Neudefinition der peronistischen Identität sowie die Beschränkungen, denen sie unterlag.
5.1 Orthodoxe und Erneuerer: Der lange Kampf um die parteiinterne Macht Infolge der Wahlniederlage trat die Krise des Justizialismus offen zutage. Die Konflikte ließen sich nicht mehr länger verbergen, auch wenn die peronistischen Spitzenpolitiker in ihren ersten Erklärungen nach der Wahl dies versuchten5. Die verschiedenen Gruppen bezeichneten sich gegenseitig als verantwortlich für die Wahlniederlage. Schon bald waren Stimmen zu hören, die der Führung vorwarfen, sie habe nicht nur "die Mittelklasse, sondern auch die Jugend, die Frauen und selbst die Arbeiterklasse" vergessen6. Der Nationalrat (Consejo National) des PJ sah sich dazu veranlaßt, in einer Erklärung einzugestehen, daß die Justizialisten "einige Fehler" begangen hätten7. Verschiedene Sektoren forderten einen Rücktritt des gesamten Parteipräsidiums8. So begann ein langer 5
Am Tag nach der Wahl sagte Luder gegenüber der Presse, der Justizialismus "befindet sich nicht in der Krise, er ist sogar gut darauf vorbereitet, die Oppositionsrolle auszuüben. Der Peronismus hat Gefilngnisaufenthalte, Schmähungen und Verfolgungen erlitten, ohne sich zu spalten, und er wird dies jetzt nicht wegen eines ungünstigen Wahlergebnisses tun" (zitiert nach Cordeu/Mercado/Sosa 1985: 219).
6
Erklärung von J. Bárbaro, PJ-Abgeordneter fllr den Hauptstadtdistrikt (zitiert nach El Bimestre 12 1983: 4).
7
Zitiert nach El Bimestre 12 (1983: 5).
8
Carlos Menem, der in La Rioja zum Gouverneur gewählt worden war, vertrat die Ansicht, daß "alle führenden Repräsentanten der Partei mit Ausnahme von I. Perón ihren Rücktritt erklären [müßten]" (zitiert nach El Bimestre 12(1983: 5).
122
Kampf um die Kontrolle über den Justizialismus, der sich über die gesamte Regierungszeit der UCR hinzog. Die Wahlniederlage des Justizialismus war nicht allumfassend. Der Sieg in zwölf Provinzen hatte Wirkungen auf die Kräfteverhältnisse innerhalb der Bewegung, denn eine Reihe von fuhrenden Provinzpolitikem des PJ befand sich jetzt in einer besseren Lage als die nationale Parteiführung. Aus dieser Situation heraus wird verständlich, daß damals in Erwägung gezogen wurde, daß der Nationalrat seine Machtbefugnisse an den Föderalen Rat (Consejo Federal), ein Parteiorgan, dem alle Vorsitzenden der justizialistischen Parteigliederungen auf Provinzebene angehörten, übergeben sollte. Tatsächlich übte die Mehrheit der gewählten peronistischen Gouverneure gleichzeitig die Funktion des Parteivorsitzenden in der jeweiligen Provinz aus. Sie wollten nun die Kontrolle über den gesamten Justizialismus mittels des Consejo Federal erlangen9. Dieses Gremium trat zwar zusammen, aber es kam nicht zu unmittelbaren Veränderungen in der Parteiführung10. Die führenden PJ-Politiker von Buenos Aires waren nicht dazu bereit, Einschränkungen ihrer Befugnisse zugunsten des Landesinneren hinzunehmen, nicht einmal nach dem eindeutigen Votum der Wähler. Am 9. Dezember traf die Witwe Peróns im Land ein, um an der Amtseinführung der neuen Regierung teilzunehmen. Bei diesem Anlaß führte die Vorsitzende des Justizialismus Gespräche mit den wichtigsten Politikern und Gewerkschaftern des Peronismus, ohne daß jedoch irgendeine Entscheidung getroffen wurde11. Die ersten Auswirkungen der Krise auf die Parteistrukturen machten sich im Hauptstadtdistrikt bemerkbar. Nach einer Reihe von Rücktritten stand dieser Parteibezirk praktisch ohne Führung da. Am 1. November traf das Leitungsorgan der Partei der Stadt Buenos Aires (der Consejo Metropolitano) daher einen Entschluß, der als erster Akt der "Erneuerung" betrachtet werden könnte: Es wurde ein Parteitag einberufen, der über eine Satzungsreform beraten sollte, und zwar in Richtung einer Direktwahl der Kandidaten für Wahlämter durch alle Parteimitglieder12. Der Parteitag trat zwar tatsächlich zum vorgesehen Zeitpunkt zusammen, aber die Frage wurde erst viel später einer Lösung zugeführt13. Der Gouverneur von La Rioja, Carlos Menem, kündigte seinerseits die Gründung einer Gruppierung namens Restauración Peronista an, die ihn als zukünftigen Parteivorsitzenden vorschlug und eine Neubesetzung der höheren Parteiämter durch Direktwahl der Mitglieder forderte. Gleichzeitig entschlossen sich die Vertreter des MUSO in der Provinz Buenos Aires zur Bildung einer 9
Vgl. Cordeu/Mercado/Sosa (1985: 223ff.).
10
Vgl. El Bimestre 1 2 ( 1 9 8 3 : 5 ) .
"
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 90f.).
12
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 5).
"
Zunächst gab es lediglich eine Reihe wechselseitiger Vorwürfe zwischen den verschiedenen Führungsgremien der Partei auf Distriktebene. Es kam zur Realisierung von zwei parallelen Parteitagen, von denen allerdings keiner das für eine Veränderung der Statuten notwendige Mitgliederquorum aufbringen konnte. Vgl. El Bimestre 13 (1984: 49f.; 73f.), El Bimestre 14 (1984: 26).
123
neuen Strömung, die Cañero als Vorsitzenden dieses Parteibezirks proklamierte' 4 . Im Mai 1984 kehrte die Witwe Peróns erneut nach Argentinien zurück. Nach Gesprächen mit verschiedenen justizialistischen Spitzenpolitikern und vor ihrer Rückkehr nach Spanien ernannte sie ein Comando Superior, dem sie selbst vorstand und das aus 16 Mitgliedern der sogenannten Verbindungskommission (iComisión de Enlace) und anderen Persönlichkeiten bestand, unter anderem Saúl Ubaldini und Jorge Triaca von der inzwischen wiedervereinigten CGT15. Die Vorsitzende des Justizialismus beabsichtigte, die übrigen Parteistrukturen dem neuen Gremium unterzuordnen, sie sorgte damit jedoch nur für noch größere Verwirrung und für erneuten Widerstand. In den folgenden Monaten kam es zu Krisensymptomen, Spaltungsdrohungen und Verhandlungen auf allen Ebenen, ohne daß es möglich gewesen wäre genau zu bestimmen, wer tatsächlich die Führung des Justizialismus innehatte1 . Am 15. Dezember trat der Parteitag des PJ unter Beteiligung der verschiedenen Flügel zusammen. Die Orthodoxen (repräsentiert unter anderem durch die 62 Organisationen, den amtierenden Nationalrat und den Parteivorstand der Provinz Buenos Aires) traten für einen weiteren Verbleib der Witwe Peróns im Amt der Parteivorsitzenden und von Lorenzo Miguel als Zweitem Stellvertretenden Vorsitzenden ein. Zum Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden sollte der Gouverneur von Santa Fe, Luis Maria Vemet, ernannt werden. Den Gegenpol zu den Orthodoxen bildeten sehr heterogene Sektoren: die Liga de Gobernadores - ein loser Zusammenschluß der peronistischen Provinzgouverneure - und der Centro de Trabajo y Coordinación, dem so unterschiedliche Strömungen angehörten wie die Gewerkschaftsgruppierungen Gestión y Trabajo und Comisión de los 25 sowie die von Carlos Grosso angeführte Convocatoria Peronista und die Anhänger von Antonio Cafiero17. Im Verlauf der aufgrund des Tagungsortes als "Odeón-Parteitag" bezeichneten Sitzungen kam es zum Bruch. Der größte Teil der Delegierten aus dem Landesinneren und der Reformer verließ die Veranstaltung, nachdem viele von ihnen tätliche Angriffe aus dem Publikum und von seiten der anwesenden Ordner und Sicherheitskräfte, die den 62 Organisationen angehörten, erlitten hatten. Die verbleibenden Delegierten wählten einen neuen Parteivorstand entsprechend den von den Orthodoxen eingebrachten Vorschlägen, d.h. María Estela Martínez de Perón als Vorsitzende, Luis Maria Vernet als Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden, Lorenzo Miguel als Zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden und Herminio Iglesias als Generalsekretär. Ihrerseits beschlossen die Dissiden-
Vgl. El Bimestre 1 4 ( 1 9 8 4 : 5 7 ) . Vgl. El Bimestre 15 (1984: 7 9 Í ) . Ein guter Indikator fllr den Grad an Desorganisation, den der Peronismus erreicht hatte, ist die Tatsache, daß in jenem Jahr allein in Buenos Aires nicht weniger als drei verschiedene "offizielle" Feiern der Partei zum Gedenken an den 17. Oktober 1945 stattfanden (vgl. El Bimestre 17 1984: 97f.). Vgl. El Bimestre 18 (1984: 55f.) und El Periodista N° 14(11.-17. Januar 1985:4).
124
ten unter Führung des Senators von San Luis, Oraldo Britos, die Parteitagsbeschlüsse vor Gericht anzufechten und einen neuen Parteitag einzuberufen 18 . Anfang 1985 fand in der Stadt Río Hondo ein Treffen der jetzt als "Erneuerer" bezeichneten Gruppierung statt. Auf diesem Parteitag wurde eine Satzungsreform verabschiedet und ein neuer - provisorischer - Vorstand bestimmt, der folgendermaßen zusammengesetzt war: Oraldo Britos (San Luis) bekleidete den Posten des Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden, Roberto Garcia (Gewerkschaftsführer der Comisión Nacional de los 25) den des Zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden 19 , Olga Riutort de Flores (San Juan) den des Dritten Stellvertretenden Vorsitzenden und José Manuel de la Sota (Cordoba) den des Generalsekretärs. Die Witwe Peróns galt weiterhin als Parteivorsitzende. Auf diesem Parteitag wurde auch beschlossen, die Parteigliederung der Provinz Buenos Aires unter kommissarische Aufsicht zu stellen 20 . Der durch den Odeón-Parteitag designierte Nationalrat weigerte sich, den in Río Hondo gewählten Vorstand anzuerkennen, und lehnte auch die Intervention ab. Parallel dazu kam es zum Bruch innerhalb der justizialistischen Parlamentsfraktion. Der Konflikt zwischen den beiden Strömungen gelangte vor das Wahlgericht, das sich mit zahlreichen wechselseitigen Beschuldigungen und Anklagen wegen Aktenfälschung zu befassen hatte. Der zuständige Richter Fégoli entschied, daß die Beschlüsse des Parteitags von Río Hondo rechtens seien 21 . Vor diesem Hintergrund wurden in verschiedenen Provinzen Parteiwahlen abgehalten, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten 22 . Angesichts dieser Situation und aufgrund der bevorstehenden Wahlen zum nationalen Abgeordnetenhaus und zu den Provinzparlamenten begannen Gespräche zwischen den verschiedenen Gruppen mit dem Ziel, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Beide Sektoren vereinbarten, die vor Gericht anhängigen Verfahren einzustellen und die auf den beiden Parteitagen verabschiedeten Beschlüsse außer Kraft zu setzen 23 . Im Juli 1985 trat in der Stadt Santa Rosa (Provinz La Pampa) der "Einheitsparteitag" zusammen. Inzwischen war es in beiden Strömungen zu zahlreichen Veränderungen gekommen, so daß die Unterschiede längst nicht mehr so klar waren wie zuvor. Senator Saadi (Provinz Catamarca) als Kandidat
Vgl. El Bimestre 18 (1984: 85ff.). "
Der Posten wurde zunächst lediglich für einen Gewerkschafter reserviert, ohne Festlegung auf eine bestimmte Person. Garcia wurde erst einige Tage später ernannt. Dies zeigt, daß es den Delegierten nicht leicht fiel, sich gegen die 62 Organisationen zu entscheiden.
20
Vgl. El Bimestre 19 (1985: 58f.).
21
Vgl. El Periodista N° 23 (15.-22. Februar 1985: 6) und N° 24 (22.-28. Februar 1985: 4).
22
In der Provinz San Luis, aus der Britos stammte, siegte die Liste der Orthodoxen unter Führung von Gouverneur Saa; in Mendoza gewann der Sektor von Rio Hondo und in Santa Fe der des Odeón-Parteitags. Für die unter kommissarische Aufsicht gestellte Parteigliederung der Provinz Buenos Aires wurde zwar eine neue Satzung erlassen, aber die Organisation von Neuwahlen zum dortigen Parteivorstand kam nur schleppend voran. Vgl. El Bimestre 20 (1985: 55), El Bimestre 21 (1985: 63), El Periodista N° 27 (15.-21. März 1985: 8 í ) , El PeriodistaN° 30 (5.-11. April 1985: 6).
23
Vgl. El Bimestre 21 (1985: 58f.), El Periodista N ° 42 (21-27 Juni 1985:5).
125
für den Posten des Ersten Stellvertretenden Parteivorsitzenden und der Gewerkschafter Jorge Triaca (Gestión y Trabajó) als Kandidat für das Amt des Zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden waren jetzt die wichtigsten Repräsentanten der Orthodoxen. Die Erneuerer befanden sich in einer schwächeren Situation als auf dem vorhergehenden Parteitag. Einige ihrer damaligen Mitglieder hatten der Strömung den Rücken zugekehrt. Auch im gewerkschaftlichen Bereich trafen sie auf Schwierigkeiten. Es war ihnen nicht gelungen, die Unterstützung Saúl Ubaldinis zu gewinnen, obwohl ihm im Gegenzug das Amt des Zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden angeboten wurde. Trotz der bevorstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus schien niemand von ihnen über Verfahrensfragen oder programmatische Aspekte diskutieren zu wollen. Der Konsens zwischen den verschiedenen Strömungen der Erneuerer beschränkte sich darauf, den Gouverneur Carlos Arturo Juárez (Santiago del Estero) als neuen Parteivorsitzenden des Justizialismus vorzuschlagen24. Der Parteitag von La Pampa bescherte den Orthodoxen einen eindeutigen Sieg: María Estela Martínez de Perón behielt den Vorsitz, Vicente Saadi besetzte das Amt des Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden, Jorge Triaca das des Zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden und Herminio Iglesias das des Generalsekretärs25. Obwohl die Witwe Peróns in einem Brief an beide Flügel ihren Verzicht auf den Parteivorsitz erklärt hatte26, sprachen sich die Orthodoxen für ihren Verbleib in diesem Amt aus. Ihr Desinteresse und die weite Entfernung waren die beste Garantie für eine Aufrechterhaltung des status quo. Auf diese Art und Weise blieb die Macht innerhalb des Peronismus aufgeteilt zwischen den Gewerkschaften, den Caudillos des Landesinneren und denjenigen der Provinz Buenos Aires. Der neue orthodoxe Vorstand des Justizialismus war zweifellos unter legalen Umständen berufen worden, aber dies bedeutete nicht, daß damit die internen Konflikte beendet gewesen wären. Zunächst einmal kündigten einige dem Peronismus nahestehende Intellektuelle und Sozialwissenschaftler, die mit den Erneuerern sympathisierten und von den Ergebnissen des letzten Parteitages frustriert waren, öffentlich ihren Rückzug aus der Partei an. Andere schlugen eine Spaltung vor. Zwar handelte es sich um einen sehr kleinen Personenkreis, aber ihre Entscheidung besaß eine enorme symbolische Bedeutung, denn es handelte sich um bekannte Persönlichkeiten, deren Meinungen durch die Presse eine große Verbreitung in der Öffentlichkeit erfuhren27.
Vgl. El Periodista N° 43 (5.-11. Juli 1985: 6f.) Vgl. El Bimestre 22 (1985: 4). Vgl. El Bimestre 19(1985: 81). Dazu gehörten José Pablo Feinmann, Alvaro Abós, Mario Wainfeld und Vicente Palermo, die ihre Position in verschiedenen journalistischen Medien vortrugen. Die Zeitschrift "Unidos" widmete der Angelegenheit eine ganze Ausgabe. Sowohl im Editorial, das mit "vielen Stimmen" geschrieben wurde, da nicht einmal in der Redaktion eine einheitliche Position gefunden werden konnte, als auch in einem großen Teil der Beiträge ging es um die Frage, ob es notwendig und/oder ratsam sei, eine Abspaltung der Erneuerer von der Mutteipartei anzustreben. Wie nicht anders zu erwarten, gab es ganz unterschiedliche Ansichten zu diesem Problem (vgl. Unidos 6 1985).
126
Ein weiterer Streitpunkt betraf die Strategie des Nationalrats für die bevorstehenden Parlamentswahlen. Um möglichst viele Stimmen zu erhalten, hatte das Gremium beschlossen, ein Bündnis mit zwölf anderen politischen Kräften einzugehen und sich den Wählerinnen und Wählern als FREJULI {Frente Justicialista de Liberación) zu präsentieren. Unter dem gleichen Kürzel hatte der Peronismus die Präsidentschaftswahlen von 1973 gewonnen. Aber zahlreiche Provinzgliederungen der Partei weigerten sich, diesen Beschluß zu akzeptieren, da sie davon gravierende Nachteile befürchteten. In der Tat orientieren sich die argentinischen Wähler bei Wahlen, die nicht die Zusammensetzung der nationalen Regierung betreffen, eher an regionalpolitischen Aspekten als an nationalen Belangen28. Die Einbindung in eine nationale Front, gemeinsam mit Parteien, die in der politischen Landschaft vieler Provinzen praktisch keine Rolle spielten, hätte den Kandidaten des Justizialismus wenig Spielraum gelassen, um sich gegenüber den Wählern ihres jeweiligen Bezirks zu profilieren. Gegen den Willen des Nationalrats traten einige Provinzpolitiker daher ausschließlich als Kandidaten des PJ an, ohne sich dem Wahlbündnis FREJULI anzuschließen29. In der Provinz Buenos Aires trat bei diesen Wahlen neben der FREJULI eine peronistische Gruppierung namens "Frente Renovador para la Justicia, la Democracia y la Participación" an, deren Kürzel JDP unweigerlich Erinnerungen an den Namen Juan Domingo Perón wachrief. An der Spitze der JDP stand Antonio Cañero. Nachdem der orthodoxe Vorstand ihm die Teilnahme an den Partei wahlen auf Provinzebene untersagt hatte, entschied er sich zur Beteiligung an den Parlamentswahlen außerhalb der Parteistrukturen. Dies brachte ihm den offiziellen Ausschluß aus dem PJ ein30. Aus den Parteiwahlen im Hauptstadtbezirk (Capital Federal) war eine Erneuerer-Führung unter Carlos Grosso siegreich hervorgegangen. Sowohl die Erneuerer der Bundeshauptstadt als auch die der Provinz Buenos Aires zählten gewerkschaftliche Repräsentanten der Kommission der 25 zu ihren wichtigsten Kandidaten31. Neben Erneuerern und Orthodoxen existierte eine dritte Strömung innerhalb des Peronismus: Verschiedene Gruppen der peronistischen Linken (Corriente 26 de julio, Bloque Peronista de Capital Federal, Peronismo de Base und Movimiento de Liberación 17 de Octubre, gemeinsam mit einigen unabhängigen Unidades Básicas) beschlossen die Bildung eines weiteren Wahlbündnisses Frente del Pueblo (FREPU) - mit der Kommunistischen Partei und dem Movimiento al Socialismo12. Die Parlamentswahlen vom 3. November 1985 wurden damit zu einer Art offener Wahlen des Justizialismus, in der keine der verschiedenen Strömungen davor zurückschreckte, Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen. Obwohl Dies gilt allerdings nur, wenn die Unzufriedenheit mit der Nationalregierung nicht sehr groß ist. 29
Vgl. El PeriodistaN° 52 (6.-12. September 1985: 4 f ) .
30
Vgl. El Bimestre 23 (1985: 4ff.).
31
Vgl. El Periodista N ° 53 (13.-19. September 1985: 3).
32
Vgl. El Periodista N ° 54 (20.-28. September 1985: 3).
127
die offizielle Bezeichnung Partido Justicialista in den meisten Wahlbezirken von den Orthodoxen beansprucht wurde und sowohl Erneuerer als auch Linke andere Etiketten verwenden mußten, zweifelten weder die Kandidaten noch die Wähler daran, daß alle Peronisten waren. Die Wahlergebnisse brachten zwei überaus wichtige Tatsachen ans Licht: Zum einen machten sie deutlich, daß die Erneuerer in der Wählergunst klar vor den anderen Strömungen lagen. Zum anderen zeigten sie, daß keine der internen Strömungen für sich allein genügend Stimmen erhalten würde, um die Regierungspartei ernsthaft herauszufordern 33 . Somit war klar, daß der Weg zurück an die Macht für alle Peronisten nur über eine Strategie der Einheit führen würde. Gestärkt dadurch, daß sie die besten Wahlergebnisse erzielt hatten, versuchten die führenden Erneuerer, die orthodoxe Führung zu verdrängen und forderten die Einberufung eines neuen Parteitages. Saadi sah sich dazu gezwungen, eine Kompromißlösung vorzuschlagen, die die Wiedereröffnung der Aufnahmeverfahren in allen Distrikten, die Annullierung der bis zu diesem Zeitpunkt verhängten Sanktionen und die Direktwahl der Parteitagsdelegierten beinhaltete. Nachdem sie diese Garantien erhalten hatten, beschlossen die Erneuerer, sich als interne Parteiströmung zu organisieren, angeführt von einer Troika, die aus den sogenannten "drei Referenten" Cafiero, Grosso und Menem bestand. Diese legten jetzt großen Wert auf die Feststellung, daß es ihnen nicht um den Anspruch auf eine parallele Parteiführung gehe. Vielmehr handele es sich ganz einfach um eine interne "Meinungsströmung" 34 . Die Erneuerer bemühten sich um eine Eroberung des Parteiapparates und eine Statutenreform, die die Direktwahl der Führungsriege garantieren sollte. Zur Durchsetzung dieser Ziele legten sie eine genaue Vorgehensweise fest 35 . Außerdem veranstalteten sie im März 1986 eine Vollversammlung, um ihre Institutionalisierung als interner Flügel voranzutreiben 36 . Dort wurde die Troika ratifiziert und bevollmächtigt, mit der orthodoxen Führung weiterhin zu verhandeln 37 . Kurze Zeit später zeichneten sich in den Reihen der Erneuerer zwei Tendenzen ab: Während die Troika im Namen der Einheit dafür plädierte, nicht mit dem orthodoxen Nationalrat des PJ zu brechen, tendierten die Hardliner, unter denen damals Eduardo Vaca, José de la Sota, José Luis Manzano und die Gewerkschafter der Kommission der 25 hervorstachen, eher zu einem Bruch 38 . Aber auch innerhalb der Troika gab es unterschiedliche Positionen. Menem ver-
33
In der Provinz Buenos Aires erzielten die Erneuerer 26,9% der Stimmen, weit mehr als der offizielle Vorstand mit gerade einmal 10%, während 49,4% auf den Radikalismus entfielen (vgl. El Bimestre 24 1985:
34
Vgl. El Bimestre 4 (1985: 3ff.; 12); El Periodista N° 68 (28. Dezember 1985 bis 2. Januar 1986: 5).
35
Vgl. El Periodista N° 68 (28. Dezember 1985 bis 2. Januar 1986: 5).
36
Dort wurde auch ein Sekretariat und ein Consejo Federal ernannt. Außerdem planten die verschiedenen Sektoren unter den Erneuerern, d.h. die Gewerkschaften, Unternehmer, Jugendlichen, Frauen etc. ebenfalls die Durchführung eigener Versammlungen (vgl. El Periodista N° 81 (28. März bis 3. April 1986: 5).
2).
37
Vgl. El Bimestre 26 (1986: 38).
31
Vgl. El Periodista N° 75 (14.-20. Februar 1986: 6).
128
suchte sehr bald, sich von seinen Weggefahrten zu distanzieren, um sich als zukünftiger justizialistischer Kandidat für die Präsidentschaftswahlen von 1989 zu profilieren. Damals galten seine Ansprüche als eine mehr als übereilte Maßlosigkeit. Dennoch unternahm er schon in dieser Zeit politische Aktivitäten, die sich nicht auf die Führung der Regierungsgeschäfte in der Provinz La Rioja beschränkten, sondern auf die Etablierung von Bündnissen mit verschiedenen Parteiflügeln zur Realisierung weitergehender Absichten zielten. Die Tätigkeit Menems war bald in den wichtigsten Distrikten des Landes und vor allem in der Provinz Buenos Aires zu spüren, wo er, statt Antonio Cafiero deutlich zu unterstützen, eine Zusammenarbeit mit dem sogenannten unabhängigen Sektor bevorzugte, einer Gruppe, die sich zwar seit der letzten Wahlniederlage um stärkere Distanz zu Herminio Iglesias und seinen Anhängern bemühte, deren Ziele jedoch nicht mit denen der Erneuerer übereinstimmten. Auf diese Art und Weise versuchte Menem, auf nationaler Ebene eine neue interne Strömung namens Federalismo y Liberación zu etablieren. Dazu suchte er auch eine größere Nähe zum orthodoxesten Teil der 62 Organisationen, die ein Wachstum der "25" an der Seite Cañeros befürchteten39. Ende 1986 kam es erneut zur Durchfuhrung von zwei parallelen Parteitagen. Einer davon war von Herminio Iglesias in dessen Eigenschaft als Generalsekretär einberufen worden und stellte einen letzten Versuch dar, seine schwindende interne Macht wiederzuerlangen40. Gleichzeitig berief die Führung um Vicente Saadi einen anderen Parteitag in Tucumán ein. Damit verband sich die Hoffnung auf einen Kompromiß, der Saadis Position auch nach der Durchfuhrung interner Wahlen, die aller Voraussicht nach vorteilhafter für die Erneuerer ausfallen würden, garantieren sollte41. Nach langem Nachdenken entschlossen sich die Erneuerer zu einer Teilnahme an diesem Parteitag und akzeptierten den Verbleib Saadis an der Spitze des Nationalrats des PJ, allerdings unter der Voraussetzung, daß in den intervenierten Distrikten interne Wahlen durchgeführt würden. Diese Absprache wurde nicht eingehalten, und die Erneuerer zogen sich von dem Parteitag zurück, als dort eine Verschiebung der Wahlen in Córdoba auf das folgende Jahr beschlossen wurde42. Am Ende des Parteitages waren nur noch 150 Delegierte anwesend, weniger als ein Viertel der Gesamtzahl. Menem war bis zum Ende dabei und demonstrierte damit öffentlich seine Distanz zu den Erneuerern. Die Parteiführung blieb in den Händen der wichtigsten Vertreter der Orthodoxie, zu denen sich einige Anhänger Menems gesell-
39
Vgl. El Periodista N° 85 (25. April bis 1. Mai 1986: 3); N° 87 (9.-15. Mai 1986: 6); N° 94 (27. Juni bis 3. Juli 1986:6); N° 98 (25.-31. Juli 1986: 7); N° 100 (8.-14. August 1986: 9).
40
Vgl. El Bimestre 29 (1986: 29), El Bimestre 30 (1986: 27f.).
41
Vgl. Jung (1987a: 7f.).
42
Die Notwendigkeit einer möglichst raschen Durchführung der parteiinternen Wahlen in Córdoba ergab sich daraus, daß dort im Dezember allgemeine Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung der Provinz anstanden. Für den Fall, daß es nicht vor Aufstellung der Kandidaten fllr die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung zur internen Abstimmung kommen sollte, drohte der Erneuerer de la Sota, der gegen die orthodoxe Führung von Bercovich Rodríguez in diesem Distrikt opponierte, mit einem Parteiaustritt und der Bildung eines Bündnisses mit den Christdemokraten.
129
ten 43 . Zuletzt sei erwähnt, daß die Einberufung des parallelen Parteitages zum formalen Ausschluß von Herminio Iglesias und seinen Anhängern aus dem PJ führte 44 . Drei Jahre nach der Wahlniederlage des Jahres 1983 war der Peronismus weit von einer Stabilisierung seiner inneren Situation entfernt. In Córdoba trat der Erneuerer de la Sota aus der Partei aus und nahm an den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Bündnis mit den Christdemokraten teil, und zwar mit relativ guten Ergebnissen 45 . In der Provinz Neuquén beschloß die Parteiführung, an deren Spitze mit Oscar Massei ein Abgeordneter des Bundesparlaments stand, den Austritt aus dem PJ und die Gründung einer neuen Partei namens "Justicia, Democracia y Participación" (wieder einmal die Initialen JDP) 46 . Die internen Konflikte verloren allerdings nach und nach an Intensität, und es gelang den Erneuerern, die sich an fast allen Fronten zu Verhandlungen entschlossen, sich mehr und mehr durchzusetzen. So kam es bei den internen Vorwahlen im Hauptstadtdistrikt für die Aufstellung von Kandidaten für das Abgeordnetenhaus, daß sich zwei Vertreter der Orthodoxie gegenüberstanden, die sich kaum voneinander unterschieden, aber auf ganz unterschiedliche Unterstützung zählen konnten: Der eine, Ruckauf, war ein Verbündeter von Carlos Grosso und der Kommission der 25; der andere, Matera, wurde von Menem und den 62 Organisationen unterstützt. In San Juan siegte eine Liste der Erneuerer mit Unterstützung der 62 Organisationen. Am 16. November wurden endlich die mehrfach verschobenen Parteiwahlen in der Provinz Buenos Aires durchgeführt. Sie erbrachten den deutlichen Sieg Cafieros, der sich im letzten Moment zur Wiederaufnahme von Beziehungen mit der nationalen Parteiführung und den 62 Organisationen entschlossen hatte. Auf diese Art und Weise erzielten die Erneuerer mit ihrer Liste Frente Renovador 64,2% der Stimmen gegenüber 27,3% für die Liste Federalismo y Liberación47. Von jetzt an wurden die Kräfte des Justizialismus durch die Vorbereitung der im September 1987 anstehenden Parlaments- und Gouverneurswahlen in Anspruch genommen. Auch wenn es in einigen Provinzen immer noch mehr als eine Liste mit Kandidaten peronistischer Herkunft gab 48 , spielten die internen
43
Die neue Führung setzte sich folgendermaßen zusammen: Ehrenvorsitzende: María Estela Martínez de Perón; Vorsitzender: V.L. Saadi; Erster Stellvertretender Vorsitzender: J. Romero; Zweiter Stellvertretender Vorsitzender: J. Triaca; Dritter Stellvertretender Vorsitzender: A. Rodríguez Saa; Generalsekretär: M. Quindimil. Die übrigen Mitglieder der Parteiführung waren V. Reviglio, E. Setti, L. Zapata, C. Ferré, J. Corzo, L. Gurdelich de Correa, L. Romero und D. Giménez (vgl. Jung 1987a: 8f.).
44
Vgl. El Periodista N° 112 (31. Oktober bis 6. November 1986) 4, N ° 113 (7.-13. November 1986: 6); El Bimestre 29 (1986: 29); El Bimestre 30 (1986: 27f.).
45
De la Sota erhielt 357.293 Stimmen gegenüber 255.196 filr den PJ (vgl. El Periodista N° 119 (19.-25. Dezember 1986: 9).
46
48
130
Vgl. El Periodista N° 114 (14.-20. September 1986: 6). Vgl. El Bimestre 30 (1986: 30; 32); El Periodista N° 115 (14.-20. November 1986: 40); N° 119 (19.-25. Dezember 1986: 9); Jung (1987a: 4). Jetzt war es Herminio Iglesias, der sich in Buenos Aires als Kandidat für die Gouverneurswahlen außerhalb der Strukturen des PJ präsentierte. Oraldo Britos in San Luis trat ebenfalls aus der Partei aus, um gegen den
Auseinandersetzungen diesmal lediglich eine sekundäre Rolle. Dem "erneuerten Peronismus" gelang ein Wahlsieg auf nationaler Ebene, der die politische Landkarte Argentiniens grundlegend veränderte. Die Regierungspartei verlor ihre absolute Mehrheit und ihr Quorum im Abgeordnetenhaus, während der Justizialismus jetzt siebzehn Provinzen kontrollierte 49 . Am Tag nach der Wahl war die Stadt Buenos Aires voll von Plakaten mit dem Bild des Gouverneurs von La Rioja und dem Motto "Menem Presidente"50. Daran zeigte sich, daß die Wahlen vom 6. September nicht nur wegen ihrer unmittelbaren Ergebnisse interessant waren, sondern auch als Vorgeplänkel der Präsidentschaftswahlen von 1989 betrachtet wurden. Daher zeigten sie wie erwartet auch Wirkung auf die parteiinterne Machtkonstellation. Die Erneuerer und ihre Verbündeten gingen gestärkt aus den Wahlen hervor, denn sie gewannen in Buenos Aires, Mendoza, Entre Ríos, Misiones, San Juan, Jujuy, Chubut, La Pampa, Santa Cruz und Tierra del Fuego 51 . Obwohl sie sich im Hauptstadtbezirk, in Río Negro und in Córdoba nicht durchsetzen konnten, behielten sie in diesen Distrikten die Kontrolle über die Parteiführung. Allerdings behielt der traditionelle Peronismus die Macht in sieben Provinzen: in Santa Fe, Salta, Chaco, Santiago del Estero, Formosa, San Luis und Catamarca. Die von dem ehemaligen Erneuerer Menem regierte Provinz La Rioja war jetzt eher der letztgenannten Gruppe zuzurechnen 52 . Da sie sich jetzt darauf verlassen konnten, die Provinzregierungen bequem zu übernehmen, hatten die Erneuerer das Interesse an größeren Konfrontationen verloren. Die wichtigsten bevorstehenden Entscheidungen wurden anläßlich eines erneuten "Gipfeltreffens" der Parteiführung unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse getroffen. Bei dieser Zusammenkunft verpflichtete sich Saadi, sofort einen neuen Parteitag einzuberufen. Im Gegenzug wurde ihm ein Posten in der zukünftigen "erneuerten" Führungsmannschaft zugesichert 53 . Die Teilnehmer des Treffens besiegelten ihre Übereinkunft mit der Unterzeichnung eines Dokumentes, das unter der Bezeichnung Lista Unidad bekannt wurde 54 . Der Parteitag trat im Dezember in Buenos Aires im Theater Bambalinas zusammen. Die 583 (von insgesamt 716) von Anfang an anwesenden Delegierten waren dazu entschlossen, die Mitglieder des Nationalrats abzuwählen und durch eine mehrheitlich aus Erneuerern bestehende provisorische Parteiführung zu ersetzen, die der Partei bis zu den für das darauffolgende Jahr geplanten inter-
Gouvemeur Rodrlguez Saa anzutreten, während Massei mit einer neuen Partei zu den Wahlen in Neuquin antrat (vgl. El Periodista N° 155 (28. August bis 3. September 1987: 10). 49
Insgesamt erreichte der Justizialismus auf nationaler Ebene 41,5% der Stimmen und Überflügelte damit die UCR, die lediglich auf 37,5% kam (vgl. Jung (1987b: 26). Vgl. Morales Soli (1992:27f.).
91
Hinsichtlich des letztgenannten Falles bezog sich der Erfolg lediglich auf die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, denn die Exekutive der damals noch als Territorio Nacional de Tierra del Fuego verwalteten Region wurde direkt durch die Bundesregierung ernannt.
52
Vgl. El Periodista N° 158 (18.-24. September 1987: 4).
53
Vgl. El Periodista N° 158 (18.-24. September 1987:4).
54
Vgl. "Lista de Unidad Peronista".
131
nen Wahlen vorstehen sollte. Angesichts solcher Aussichten brach der orthodoxe Flügel auseinander. Ein großer Teil seiner Mitglieder wechselte ins andere Lager über, um nicht mit leeren Händen dazustehen. Nach langen Verhandlungen stimmten die Erneuerer auch der Einbeziehung mehrerer Gewerkschafter der 62 Organisationen zu. Der Erneuererflügel befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht, denn es war ihm gelungen, praktisch alle justizialistischen Kräfte unter seine Obhut zu bringen. Die orthodoxen Gouverneure, der Menemismus und die verschiedenen Gewerkschaftsflügel suchten jetzt einen Platz an der Seite der Erneuerer. Schließlich wurde am 10. Januar 1988 die Zusammensetzung des neuen provisorischen Nationalrats der wiedervereinigten Justizialistischen Bewegung bekannt gegeben, dem unter Führung Cañeros die peronistischen Gouverneure, die Distriktvorsitzenden und die Repräsentanten der verschiedenen Gewerkschaftsflügel angehörten55. Aber dieser Pyrrhussieg der Erneuerer sollte nur von kurzer Dauer sein, denn die Parteiwahlen führten zu Überraschungen. Am 9. Juli 1988 siegte Menem mit 53,4% der Stimmen gegen Cañero, der auf 45,8% kam56. Dem neuen Präsidentschaftskandidaten war es gelungen, die Unterstützung des Peronismo Revolucionario (die Nachfolgeorganisation der Montoneros), des Comando de Organización (die radikale Parteirechte), der erst knapp ein Jahr zuvor gegründeten Gewerkschaftsgruppe der "15" und des orthodoxen Syndikalismus zu gewinnen. Entscheidend dürfte aber vor allem die Unterstützung zahlreicher Parteimitglieder gewesen sein, die Menem als den neuen Perón betrachteten, denn schließlich wurde die erste saubere und direkte Wahl eines peronistischen Kandidaten durch ihre Stimmen entschieden. Die Legitimität der Entscheidung konnte nicht in Frage gestellt werden. Paradoxerweise entwickelte sich ausgerechnet die demokratische Kandidatenwahl, die über Jahre hinweg die wichtigste Forderung der Erneuerer gewesen war, zum Schauplatz für deren Niederlage. Die vom Ausgang der Wahlen absolut überraschten Führer des Erneuererflügels mußten sich nun um ihre persönliche politische Zukunft kümmern. Viele von ihnen verwandelten sich im Laufe der Zeit in glühende Anhänger Menems57, während andere in Vergessenheit gerieten oder die Partei verließen. An dieser Stelle muß betont werden, daß es bei der Behandlung der internen Machtkämpfe der Justizialistischen Partei unumgänglich war, detailliert auf einige Namen und Ereignisse einzugehen, die auf den ersten Blick als unbedeutend und irrelevant erscheinen könnten. In der nachfolgenden Analyse wird sich jedoch zeigen, daß ihnen eine Schlüsselrolle für das Verständnis bestimmter Entscheidungen und Verhaltensweisen der Opposition zukommt, die sich ohne entsprechende Hinweise als absolut unerklärlich herausstellen würden.
Vgl. El Periodista N ° 169(4.-10. Dezember 1987: 7); Gaudio/Thompson (1990: 206) u. Beliz (1988: 211). Vgl. G o d i o ( 1 9 9 1 : 44). Dies galt beispielsweise für Manzano, der mehrere Jahre lang der führende Kopf der Erneuererfraktion im Abgeordnetenhaus gewesen war und dann während der Präsidentschaft Menems das Amt des Innenministers bekleidete. Grosso, ein Erneuerer der ersten Stunde in Buenos Aires, wurde später vom neuen justizialistischen Präsidenten zum Bürgermeister der Stadt ernannt.
132
5.2 Die Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften Während der sechs Jahre der UCR-Administration gehörte die Gewerkschaftsfrage zu den wichtigsten Sorgen der Regierung. Im Kapitel 6 dieser Arbeit werden die überaus wichtigen oppositionellen Aktivitäten der peronistischen Gewerkschaften analysiert. An dieser Stelle geht es lediglich um deren interne Reorganisation als untrennbarer Bestandteil des Peronismus. Zu den ersten Maßnahmen der radikalen Regierung, deren traumatische Erinnerungen an die Mitverantwortung der Gewerkschaftsführer für den Putsch gegen die Regierung Illia im Jahr 1966 nach wie vor wach waren, gehörte die Einbringung einer Gesetzesvorlage zur Reorganisation der Gewerkschaften im Kongreß. Damit begann die erste große Schlacht zwischen der Regierung Alfonsin und den peronistischen Gewerkschaften. Der Angriff der Regierung führte dazu, daß es innerhalb kürzester Zeit zum "Wunder" der Wiedervereinigung der beiden Gewerkschaftsdachverbände kam. Sie fand am 25. Januar 1984 statt und wurde durch eine Abmachung möglich, die schlicht darin bestand, daß für jede der miteinander im Streit liegenden Strömungen jeweils ein Führungsposten geschaffen wurde, mit dem Ergebnis, daß die wiedervereinigte CGT über vier Generalsekretäre verfügte: Jorge Triaca, Ramón Baldassini, Osvaldo Borda und Saúl Ubaldini 58 . Die ersten beiden stammten aus der CGT-Azopardo, Borda war Repräsentant der Nationalkommission der "25" in der CGT-Brasil und Ubaldini hatte zuvor das Amt des Generalsekretärs dieses Dachverbandes als Kompromißkandidat zwischen den 62 Organisationen und den "25" bekleidet. Nicht alle genannten Gewerkschaftsführer konnten auf gleich starke Unterstützung bei der Basis zählen. Triaca und Baldassini, bekannt für ihre Zusammenarbeit mit dem Militärregime, sorgten mit ihren Aussagen im Prozeß gegen die Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen während des autoritären Regimes für massive öffentliche Entrüstung. Ubaldini war dagegen nicht nur frei von dem Verdacht, mit den Militärs zusammengearbeitet zu haben, ihm war es auch als einem von wenigen gelungen, sich vor der Welle der Kritik, die nach der Wahlniederlage des Justizialismus entbrannte, in Sicherheit zu bringen. Später wird zu zeigen sein, daß seine oppositionellen Aktivitäten ihn phasenweise zum gefürchtetsten Gegner der Regierung machten. Diese Rolle und das schlechte Ansehen der Führer der 62 Organisationen, die als Hauptverantwortliche für die Wahlniederlage galten, erlaubten es ihm, eine auf seine Person hin orientierte, neue Gewerkschaftsströmung aufzubauen. Die ersten Anhänger Ubaldinis, bekannt als "die fünf Latinos", wiesen ganz unterschiedliche ideologische Vorgeschichten auf 59 , gemeinsam verfolgten sie jedoch das Ziel, Ubal-
Vgl. El Bimestre 13 (1984: 57f.) Pedro Goyeneche, Generalsekretär der Asociación Obrera Textil (Textilarbeiter), und Aldo Serrano, Führer der Gewerkschaft Luz y Fuerza (Elektrizitätsversorgung), hatten einer offiziellen Delegation angehört, die von der Regierung Viola zur ILO-Konferenz entsandt worden war, zu einem Zeitpunkt, als andere Gewerkschaftssektoren es abgelehnt hatten, die Diktatur vor diesem internationalen Forum zu repräsentieren. Miguel Candore von der UPCN und Rüben Pereyra, Generalsekretär der Federación Nacional de Trabajadores de Obras Sanitarias, entstammten der Juventud Sindical Peronista, einer rechtsgerichteten Organisati-
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dini zum alleinigen Generalsekretär der CGT zu machen. Dies gelang schließlich am 20. September 198560. Trotzdem war die CGT von einer Normalisierung ihrer Situation nach wie vor weit entfernt. Im August 1984 war das Verfahren für die Durchführung von Gewerkschaftswahlen verabschiedet worden. Zum damaligen Zeitpunkt waren von 1171 Einzelgewerkschaften 355 nach den Bestimmungen der von der Militärregierung erlassenen Gesetzgebung in die Hände von Gewerkschaftsfunktionären zurückgegeben worden. Von den restlichen 819 besaßen 612 eine Führung, die vor dem Putsch vom März 1976 gewählt und deren Mandat durch die Militäijunta verlängert worden war. 111 wurden von Übergangskommissionen geführt, die in der letzten Phase der Diktatur ernannt worden waren, und 94 standen weiterhin unter staatskommissarischer Verwaltung. Die meisten großen Gewerkschaften gehörten einer der beiden letztgenannten Kategorien an61. Die Verabschiedung des Gesetzes 23.071 im Juli 1984 setzte einen Wahlprozeß in Gang, durch den die Gewerkschaften neue Führungen erhalten sollten. Das Gesetz sah eine Normalisierung von oben nach unten vor. Zuerst sollten die nationalen Führungen der Einzelgewerkschaften und erst dann die Basisdelegierten gewählt werden. Bei der großen Mehrheit der Gewerkschaftswahlen standen sich verschiedene peronistische Listen gegenüber, so daß die Vorherrschaft des Justizialismus innerhalb der Arbeiterbewegung zu keinem Zeitpunkt in Frage stand. Ungewiß war lediglich, welche der peronistischen Gruppierungen jeweils den Sieg davontragen würde. Auf diese Art und Weise kam es zu einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen innerparteilichen und innergewerkschaftlichen Kämpfen 62 . Die jetzt durchgeführten Gewerkschaftswahlen unterschieden sich in einigen Punkten von denen der 60er und 70er Jahre. Statt Einheitslisten traten in vielen Fällen konkurrierende Listen an, meist mehr als zwei. Man registrierte eine Zunahme der Wahlbeteiligung, die Ergebnisse waren relativ ausgeglichen, und die oppositionellen Listen schnitten besser ab, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen war 63 . All dies ist allerdings insofern zu relativieren, als überkommene Verhaltensweisen nicht vollständig verschwanden. In denjenigen Gewerkschaften, deren Führungsmandate von der Militärregierung verlängert worden waren, die wie bereits erwähnt die große Mehrheit stellten, kam es zur Aufstellung von Einheitslisten in 21,6% der Fälle. Zu berücksichtigen ist auch, on, die in den 70er Jahren mit dem Ziel gegründet worden war, ein weiteres Vordringen der Tendencia Revolucionaría unter den jüngeren Gewerkschaftsmitgliedern zu verhindern. José Pedraza schließlich, der Verwaltungssekretär der Unión Ferroviaria, gehörte der Nationalkommission der "25" an und agierte als Verbindungsglied zwischen dieser Gruppe und den Anhängern Ubaldinis (vgl. Beliz (1988: 48ff.). 60
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 130).
61
Vgl. Beliz (1988: 123); Gaudio/Thompson (1990: 74).
62
Vgl. Palomino (1985a: 11); Beliz (1988: 118); Grewe (1994: 63).
63
Wahlen mit Beteiligung von mehr als einer Liste endeten zwischen 1973 und 1976 zu 100% mit einem Sieg der amtierenden Führung, während die oppositionellen Listen sich in den Jahren 1984 und 1985 in 45% der Fälle durchsetzen konnten. Der Effektivitätskoeffizient der Opposition, d.h. die Anzahl oppositioneller Stimmen pro 100 Stimmen für die amtierende Führung, erreichte 113%, während er zwischen 1973 und 1976 nur bei 49,1% gelegen hatte (vgl. Gaudio/Thompson 1990: 75ff. u. Palomino 1985a: 13ff.).
134
daß in einer großen Zahl von Gewerkschaften die Führung vollständig in den Händen der Siegerliste blieb, ohne eine auch noch so geringe Repräsentation der Minderheit. Diese Situation schlug sich auch in den Organen der CGT nieder, die aus den Delegierten der Mitgliedsgewerkschaften bestanden64. Ein anschauliches Beispiel fur die Modalitäten des Normalisierungsprozesses liefert die UOM, jene mächtige Metallarbeitergewerkschaft, die das Herz der 62 Organisationen darstellt. Satzungsgemäß wurde die nationale Führung durch indirekte Wahl im Rahmen eines Kongresses bestimmt, der sich aus den Delegierten aller Sektionen zusammensetzte. Der Repräsentationsschlüssel war jedoch alles andere als proportional: Jede Sektion entsandte mindestens drei Repräsentanten, mit dem Ergebnis, daß die acht größten Sektionen nur 39% der Wahlmänner stellten, obwohl sie 60% der Mitglieder repräsentierten. In diesen Fällen entfiel ein Delegierter auf 1.700 Mitglieder, während die Sektionen mit weniger als 9.000 Mitgliedern, obwohl sie kaum 30% der Gewerkschafter repräsentierten, 61% der Delegierten stellten, was einem Verhältnis von einem Delegierten pro 700 Mitglieder entsprach. In mindestens 25 der 63 Sektionen wurden Einheitslisten aufgestellt, was nicht auf einen Mangel an Alternativen zurückzufuhren war, sondern auf die Tatsache, daß die jeweiligen Wahlvorstände die Präsentation oppositioneller Listen zu verhindern wußten. Aus diesen 25 Sektionen entstammten 132 der insgesamt 282 Wahlmänner. Auf dem Kongreß wurde ebenfalls eine Einheitsliste aufgestellt. Sie war das Ergebnis einer Reihe von Absprachen, denn nicht alle der Einheitslisten, die den Sieg in den einzelnen Sektionen erreichten, repräsentierten die gleiche Strömung65. Dies verlieh den Unabhängigen einen gewissen Verhandlungsspielraum. Da sie keine Möglichkeiten zur Aufstellung einer eigenen Liste besaßen, entschieden sie sich für die Mitarbeit in der neuen Führung66. Die Normalisierung der CGT wurde auf der Grundlage der Satzung von 1963 durchgeführt. Diese Statuten räumen dem Consejo Directivo61 und dem Generalsekretariat weitreichende Vollmachten ein. Ihnen obliegt die Einberufung von Versammlungen und Kongressen, die Aufstellung der Tagesordnung und die Kontrolle der Anmeldungen. In außergewöhnlichen Fällen können sie auch zum Generalstreik aufrufen, und in der Praxis haben sie immer über die jeweilige Taktik und Strategie der Gewerkschaftsbewegung gegenüber Regierungen sowie gegenüber anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften entschieden. Der Comité Central Confédéral ist ein Organismus, der sich aus den Generalsekretären bzw. den Vorsitzenden der Mitgliedsgewerkschaften und deren Delegierten zusammensetzt. Darüber hinaus verfügt die CGT über Regio-
64
Vgl. Gaudio/Thompson ( 1990: 81 ); CEPNA ( 1987: 27).
65
Die wichtigsten Wettbewerber waren Lorenzo Miguel, der alte Caudillo der UOM, und L. Guerrero, der dessen FUhrungsposten Übernommen hatte, nachdem Miguel von der Militärregierung inhaftiert worden war.
66
Vgl. Palomino ( 1985a; 1985b).
67
Der Consejo Direclivo besteht aus zwanzig Mitgliedern, von denen acht das Sekretariat bilden.
135
naldelegationen, deren Bestand und Kompetenzen vom Willen des Generalsekretariats abhängig sind 68 . Am 7. November 1986 trat der "Normalisierungskongreß" zusammen. An ihm nahmen 1.400 Delegierte teil, von denen 80% aus den Reihen des Peronismus stammten. Da es sich um den ersten Kongreß seit 12 Jahren handelte, hatte die Öffentlichkeit große Erwartungen in die dort zu treffenden Entscheidungen gesetzt. Erwartet wurde u.a. eine Bilanzierung der durchlaufenen Periode, Diskussionen über eine mögliche Reform der konfoderativen Statuten, eine Programmdebatte und nicht zuletzt konkrete Aussagen über die Rolle des Gewerkschaftsdachverbandes in der neuen Demokratie. Die Kongreßdeputierten beschränkten sich jedoch darauf, eine neue Führung zu wählen, der mehr oder weniger ein Blankoscheck hinsichtlich der genannten Fragen ausgestellt wurde. Zwar gab es intensive Verhandlungen, sie fanden jedoch nicht im Plenum statt, sondern - wie üblich - hinter verschlossenen Türen zwischen den wichtigsten Repräsentanten der drei großen Strömungen. Als die Verhandlungen zu stagnieren drohten, wurde ein Ausweg durch die Erhöhung der Anzahl der Mitglieder des Consejo Directivo gefunden. Nun gab es 21 Posten zu vergeben, wodurch die Dreiteilung der Macht vereinfacht wurde. Der Kongreß dauerte nicht einmal 45 Minuten, während der die Deputierten der Rede Ubaldinis zuhörten und die Einheitsliste vorgestellt wurde 69 . Die neue Ämterverteilung reflektierte deutlich die damaligen Machtverhältnisse zwischen den internen Strömungen des Dachverbandes. Den Anhängern Ubaldinis gelang es, diesen als Generalsekretär durchzusetzen und sieben weitere Vertreter in den Consejo zu plazieren. Die Orthodoxen, die mit 40% der Deputierten die größte Minorität stellten, erhielten sieben Posten, unter denen besonders die Besetzung des Geschäftsfuhrenden Sekretariats mit Hugo Curto hervorstach. Dem Movimiento Sindical Renovador Peronista (den ehemaligen "25") gelang es, eine Reihe ordinärer Mitglieder zu plazieren sowie zwei Sekretariate zu besetzen: das für Inneres und Gewerkschaftsangelegenheiten sowie das Pressesekretariat. Während das erstgenannte Sekretariat den Erneuerern dabei helfen würde, ihre Position im Landesinneren zu verbessern, gewährte die Kontrolle über das Pressesekretariat großen Einfluß auf die Außendarstellung der CGT 70 . 68
Vgl. Confederación General del Trabajo (1971: 114ff.), "Reglamentación para las Delegaciones les de la CGT' u. Palomino (1989: 71).
Regiona-
69
Vgl. Godio ( 1986a); Godio ( 1991:417ff.); Palomino ( 1987: 296ff.).
70
Die vollständige Zusammensetzung der neuen Führung sah folgendermaßen aus: Generalsekretär: Saúl Ubaldini, Geschäftsführender Sekretär: Hugo Curto (Orthodoxer), Sekretär fìlr Gewerkschaftsfragen und Inneres: José Pedraza (Erneuerer); Stellvertretender Sekretär filr Gewerkschaftsfragen und Inneres: Virgilio Nuflez (Orthodoxer); Finanzsekretär: Alejo Farias (Ubaldinismus); Stellvertretender Finanzsekretär: Hernán Prado (Radikalismus); Pressesekretär: Guerino Andreoni (Erneuerer); Sekretär fllr Soziale Fragen: Pedro Goyeneche (Ubaldinismus). Die Übrigen Posten wurden zu gleichen Teilen besetzt. Für den Ubaldinismus wurden Miguel Candore, Luis Morán, Ruben Pereyra und Juan Palacios ernannt, für die Orthodoxen Juan Reyes, Omar Peombara, Juan Molinas und Lesio Romero und für die Erneuerer Raúl Amin, Victor de Gennaro, Carlos Cabrera und Ricardo Pérez. Außerdem gab es ein den Orthodoxen nahestehendes Mitglied des Rats, der sich damals als Unabhängiger definierte: Gerónimo Izzeta (vgl. El Periodista N° 114 ( 14.-20. November 1986: 7); Godio ( 1989: 59f.); Godio ( 1991:418ff.); Beliz ( 1988: 126f.).
136
Damit waren die Anpassungsprozesse jedoch noch nicht beendet. Die Verlierer des Normalisierungsprozesses, d.h. einige der privilegierten Gesprächspartner der letzten Militärregierung um Triaca, aber auch eine Reihe von Gewerkschaftsführern, die früher zu den kämpferischsten gezählt hatten, begannen mit der Bildung einer Gruppe großer Gewerkschaften. Unter Anerkennung der von der Regierung gesetzten Regeln beschlossen sie eine kompromißorientierte Verhandlungsstrategie, die zu einer Übereinkunft mit der UCR und einer als "Capitanes de la industria" bekannten Unternehmergruppe führen sollte. So entstand im April 1987 die sogenannte "Gruppe der 15". Die Gewerkschaften, die dieser Gruppe angehörten, verfügten über eine Million Mitglieder. Sie besaßen starkes Gewicht innerhalb der Volkswirtschaft und waren zu direkten Verhandlungen mit der Regierung entschlossen. Wie später zu zeigen sein wird, war die Ernennung von Carlos Alderete, einem Gewerkschafter der Gruppe der 15, zum Arbeitsminister, ein Ergebnis dieser Strategie 71 . Die Parlaments- und Gouverneurswahlen von 1987 führten zu einem Erdbeben innerhalb der Gewerkschaften. Die Gruppe der 15 befand sich jetzt, als der PJ die Parlamentswahlen gewann, in einer äußerst ungünstigen Situation aufgrund ihrer Allianz mit der Regierung, während die mit dem siegreichen Cafiero verbündeten "25" sich darauf vorbereiteten, ihre Positionen sowohl innerhalb der Partei als auch innerhalb der Gewerkschaften auszubauen. Cafiero, der zum Gouverneur der Provinz Buenos Aires gewählt worden war, schlug Roberto Garcia, seinen Verbündeten unter den "25", als Kandidaten für das Amt des Dritten Stellvertretenden Vorsitzenden des PJ vor. Die Tage der Orthodoxen und der Gefolgsleute Triacas schienen damit gezählt zu sein. Hugo Curto und mit ihm die übrigen orthodoxen Mitglieder der CGT-Führung reichten geschlossen ihren Rücktritt ein. Die Situation eröffnete die Möglichkeit einer wirklichen Erneuerung, aber ebenso bestand die Gefahr einer erneuten Spaltung. Am 22. Oktober trat der Comité Central Confédéral zusammen. Dort machte sich der Generalsekretär fur die Orthodoxen stark. Obwohl die Koalition aus Erneuerern und Anhängern Ubaldinis über mehr Vertreter als ihre Gegner verfugte, entschloß sich Ubaldini zu einer öffentlichen Umarmung und zum Friedensschluß mit Miguel. Unmittelbar danach wurden Kampfmaßnahmen beschlossen. Eine endgültige Lösung fand man mit Hilfe einer neuen Verteilung der Posten im Nationalrat der Partei, die mittels der berühmten "Einheitsliste" vorgenommen wurde 72 . Die "25" warfen dem Generalsekretär aufgrund seiner Handlung Verrat vor, aber aus einer längerfristigen Perspektive betrachtet handelte es sich nicht um Zu den wichtigsten Mitgliedern der Gruppe der 15 gehörten der Sindícalo de Empleados de Comercio de la Capital Federal (100.000 Mitglieder), die Asociación Bancaria (157.000), die Unión de Trabajadores Gastronómicos (86.000), die Asociación de Trabajadores de la Sanidad (171.000), die Asociación Obrera Textil (74.000), der Sindicato de Trabajadores de la Industria de la Carne (38.000), die Federación de Trabajadores de Luz y Fuerza (70.000), der Sindicato de Mecánicos (54.000), der Sindicato de Petroleros (26.000), die Unión de Obreros y Empleados Plásticos (18.000) und die Federación de Obreros y Empleados Telefónicos (40.000) (vgl. El Periodista N° 130 6.-12. März 1987: 4; N°132 20.-26. März 1987: 8; Beliz 1988: 18; 190ff). Vgl. El Periodista N° 177 (29. Januar bis4. Februar 1988: 10); Beliz(1988: 201ff.).
137
einen allzu überraschenden Vorgang. Ubaldini verdankte seinen Aufstieg der Tatsache, daß er als Kompromißkandidat in einer Zeit, in der der Chef der UOM nicht persönlich auftreten konnte, an die Spitze des Dachverbandes gelangte. Die "25" suchten eine Annäherung an ihn, boten ihm Unterstützung durch ihre Gewerkschaftsstrukturen an und teilten seinen Konfrontationsstil gegenüber der Regierung. Daher mußte die Loyalität Ubaldinis geteilt gewesen sein. Noch mehr: Welche Entscheidung auch immer er treffen würde, die jeweiligen Verlierer würden sie ihm als Verrat auslegen. Letztlich gehorchte Ubaldinis Entscheidung wohl pragmatischen Überlegungen: Die Mehrheit des Bündnisses aus Erneuerem und Anhängern Ubaldinis im Comité Central Confédéral hätte es zwar ermöglicht, die Orthodoxen in diesem Gremium an die Wand zu drücken, aber im Falle der Einberufung eines Außerordentlichen Kongresses würde die Situation anders aussehen. Genau dies wäre jedoch der nächste Schritt gewesen, den die Orthodoxen für den Fall einer Niederlage im Rahmen des Comité Central Confédéral unternommen hätten. Die Zusammensetzung des Kongresses gehorchte einem anderen Repräsentationsschlüssel, so daß die Orthodoxen dort über eine Mehrheit verfügt hätten. Die gewählte Lösung bedeutete nicht nur eine Erholung der Orthodoxen und einen Dämpfer für die Erwartungen der "25". Sie war auch eine Machtdemonstration des Ubaldinismus, der jetzt mit der direkten Rückendeckung durch 50 Deputierte rechnen konnte. Diese Macht wurde registriert und durch die Aufnahme eines Dutzends Anhänger Ubaldinis in die "Einheitsliste" auch entsprechend honoriert73. Angesichts der bevorstehenden Wahlen innerhalb des PJ bemühten sich die Gewerkschaftsführer um ein neutrales Image und verschwiegen so weit wie möglich ihre jeweiligen Positionen. De facto intervenierten sie jedoch massiv. Ubaldini beispielsweise stritt jegliche Parteinahme ab, während er seinen Anhängern gleichzeitig erlaubte, das Gespann Cafiero-de la Sota zu unterstützen, die auch von den "25" bevorzugt wurden. Menem seinerseits konnte auf die Unterstützung der Orthodoxen zählen. Die Vollversammlung der UOMDelegierten des Hauptstadtdistrikts sprach sich für ihn aus, auch wenn Lorenzo Miguel Cafiero bevorzugte. Die "15" liebäugelten zunächst mit dem Kandidaten der Erneuerer, letztendlich unterstützten sie jedoch - unter ihrer neuen Bezeichnung Mes a Sindical Menem Présidente (MSMP) - den Gouverneur von La Rioja74. Der Sieg des Kandidatengespanns Menem-Duhalde führte zum Aufstieg dieser Gewerkschaftsgruppierung zum wichtigsten Gesprächspartner einer möglichen peronistischen Regierung. Gleichzeitig bedeutete er eine Schwächung der "25", Saül Ubaldinis und der CGT sowie Lorenzo Miguels und der 62 Organisationen. Die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes stand nun vor der Alternative, sich in die Strategie Menems einzufügen und damit auf ihre Protagonistenrolle zu verzichten, oder sich gegen den neuen Caudillo zu stellen. Vor Vgl. El Periodista N° 177 (29. Januar bis 4. Februar 1988: 10f ). Vgl. El Periodista N° 190 (29. April bis 5. Mai 1988: 6); Godio (1991: 438ff.).
138
diesem Hintergrund begann die Distanzierung der gewerkschaftlichen Erneuerer von ihren bisherigen Positionen und die Annäherung an den neuen "Star"75. Zur Entscheidungsschlacht zwischen der CGT Saúl Ubaldinis und Carlos Menem kam es in der Anfangsphase der ab 1989 amtierenden justizialistischen Regierung. Sie endete mit einer Niederlage des "Rückgrats". Es stellt sich nun die Frage, inwieweit es möglich ist, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsströmungen genau zu erfassen. McGuire hat dazu ein Analyseschema vorgeschlagen, das vier Variablen berücksichtigt: Ideologie, Einbindung in die Parteistrukturen, Taktik und Strategie. Die beiden letztgenannten Faktoren beziehen sich auf die Kampfbereitschaft einer Gruppierung auf zwei Ebenen, die nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen. Die taktische Kampfbereitschaft findet ihren Ausdruck in Streiks und Protestaktionen und in der Zurückweisung von Verhandlungen und Konzertierungsversuchen. Die strategische Kampfbereitschaft bezieht sich auf das soziale Modell und auf die langfristigen Vorstellungen, von denen die Anfuhrer jeder Gruppierung ausgehen, wenn Entscheidungen über konjunkturelle Taktiken zu treffen sind. Entscheidendes Kriterium für die Einordnung der verschiedenen Strömungen in bezug auf die letzte Kategorie ist für McGuire die Frage, ob eine längerfristige Strategie überhaupt vorhanden war, und nicht, wie diese im einzelnen aussah 76 . Schaubild 4:
Die peronistischen Gewerkschaftsströmungen (1983-1989)
Merkmal Linke Ideologie Kämpferische Haltung Hochgradige Parteieinbindung Strategischer Planungshorizont ' b
"25"
Anhänger Ubaldinis
"62"
"15"
ja ja ja ja
ja" ja nein nein
nein neinb ja nein
nein nein nein ja
Die Ideologie des Ubaldinismus kann am besten als Mitte-Links charakterisiert werden. Die "62" nehmen grundsätzlich eine verhandlungsbereite Position ein, manchmal aber auch eine kämpferische Haltung.
Quelle: McGuire (1992: 64).
Die Einordnung scheint sehr plausibel. Tatsächlich waren die "25" die am meisten links stehende Gruppe, sie standen einer "kämpferischen Strategie" am nächsten und sie propagierten das am besten strukturierte Projekt für eine Reform und Modernisierung der Arbeitsbeziehungen und der Gesellschaft insgesamt. Entstanden als gewerkschaftliche Opposition gegen das Militärregime, hatte die erste Aufgabe der "25" darin bestanden, die unter staatskommissarische Aufsicht gestellten Organisationen zurückzuerobern. Ihr Konzept beinhaltete typische Elemente der Basisbewegung und zielte auf eine Stärkung der Ba75
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 230ff ); Godio (1991: 440f.).
76
Vgl. McGuire (1992: 51ff.).
139
sisvertretungen. Sie setzten sich für mehr Pluralismus in der Gewerkschaftsspitze und - im Gegensatz zu den anderen Strömungen - auch für Menschenrechtsfragen ein. Die gewerkschaftspolitischen Forderungen der "25" verbanden sich mit Vorschlägen für eine grundlegende Veränderung des vorherrschenden Wirtschaftsmodells und eine Neubestimmung der Rolle des Staates im Modernisierungsprozeß 77 . Die "62" und die "15" waren dem rechten Flügel zuzurechnen. Die von Lorenzo Miguel angeführte Strömung setzte in der Regel auf eine auf Verhandlung bedachte Taktik, allerdings war ihre Position eher labil und zielte mehr auf die Sicherstellung der Macht der Organisation innerhalb des gewerkschaftlichen und politischen Spektrums als auf anderweitige strategische Überlegungen ab. Diese orthodoxe Strömung präsentierte sich immer als "politischer Arm" der peronistischen Gewerkschaftsbewegung und bemühte sich um die Bewahrung der "monolithischen Einheit der organisierten Arbeiterbewegung", als deren Kern sie sich selbst betrachtete und deren Führungsstil vertikalistisch zu sein hatte 78 . Die "15" dagegen setzten weiterhin auf jene verhandlungsbereite Strategie, die schon seit der Militärdiktatur charakteristisch für die Männer um Triaca war. Gestiön y Trabajo propagierte eine Gewerkschaftsbewegung, die sich grundsätzlich um Verhandlungen in parastaatlichen Gremien bemühte und deren oberstes Ziel breite Konzertierungsprozesse waren 79 . Die "25" und die "15" zeichneten sich nicht nur durch das Vorhandensein einer - wenn auch völlig gegensätzlichen - Strategie aus, sie verfügten auch beide über einen Modernisierungsdiskurs, während die "62" und der Ubaldinismus auf traditionelle Muster zurückgriffen. Sowohl die "25" als auch die "62" bemühten sich um eine enge Einbindung in die Parteistrukturen, während der Ubaldinismus und die "15" stärker auf eine direkte Beeinflussung der Exekutive setzten, im ersten Fall durch Druck und im zweiten Fall durch Dialog sowie durch Regierungsbeteiligungen. Schließlich war der Ubaldinismus der Hauptverantwortliche für die wiederholten Aufrufe zum Generalstreik gegen die Regierung Alfonsin. Damit gelang es zwar nur sehr eingeschränkt, den eingeschlagenen Wirtschaftskurs zu beeinflussen, aber daraus ergaben sich Vorteile anderer Art: Die regelmäßigen Massenmobilisierungen ermöglichten es Ubaldini, sich als Gesprächspartner der Regierung zu profilieren und sich an der Spitze des Dachverbandes zu behaupten, denn auf die Weise konnte er - der lange Zeit nicht über eine eigene Struktur innerhalb der Gewerkschaften verfügte - sich gewissermaßen legitimieren. Sein Handeln kann als "kämpferische Taktik", nicht als Strategie bezeichnet werden, insofern es nicht zur Formulierung weitergehender Zielsetzungen kam 80 . 77
Vgl. Palomino (1985a: 26ff.).
78
Vgl. Palomino (1985a: 24f.).
79
Vgl. Palomino (1985a: 29ff.).
80
Vgl. McGuire (1992: 58ff.).
140
McGuire stuft die ideologische Position des Ubaldinismus als Mitte-Links und der europäischen Christdemokratie nahestehend ein. Die Stellungnahmen des Ubaldinismus im Hinblick auf einige jener Fragen, die der Autor selbst als Kriterien für die ideologische Einstufung gewählt hat (Menschenrechte, Militäraufstände, Schuldenmoratorium, US-Politik gegenüber Zentralamerika und Legalisierung der Abtreibung) rechtfertigen eine solche Schlußfolgerung allerdings nur mit beträchtlichen Einschränkungen. Die Ergebnisse einer Umfrage, die unter Gewerkschaftern verschiedener Strömungen durchgeführt wurde, belegen beispielsweise, daß der Ubaldinismus am wenigsten Einverständnis mit einer Fortführung der Prozesse gegen die Militärs zeigte 81 . Zudem gibt es eine Reihe von issues, die dafür sprechen, den Ubaldinismus ziemlich rechts einzustufen. Dazu gehören die orthodoxen Vorstellungen hinsichtlich des Justizialismus, die kompromißlose Verteidigung von Privilegien der Gewerkschaftsspitze sowie die Ansprüche auf eine Rolle als führende Oppositionskraft gegenüber der Regierung, ohne Berücksichtigung der Parteistrukturen und unter Mißachtung der parlamentarischen Mechanismen der konstitutionellen Demokratie. Es ist auch kein Zufall, daß die ersten Anhänger Ubaldinis größtenteils der Gewerkschaftsrechten und den alten Kadern von Gestiön y Trabajo entstammten. All dies zeigt, daß es sich nicht um eine Mitte-Links-Position handelt, sondern um eine mit zahlreichen Widersprüchen behaftete Ideologie, die dem traditionellen peronistischen Diskurs sehr nahe steht. Tatsächlich waren es, auch dies zeigt die bereits erwähnte Umfrage, die Anführer des Ubaldinismus, die den Marxismus-Leninismus am schärfsten zurückwiesen und am meisten Besorgnis um die "Einheit" des Justizialismus äußerten. Auf die Frage, welche Faktoren eine Protagonistenrolle des Peronismus im öffentlichen Leben Argentiniens in den kommenden Jahren fordern könnten, antworteten sie vorzugsweise mit traditionellen Wertvorstellungen, während Veränderungsvorschläge keine Beachtung fanden. Die Antwortenverteilung sah folgendermaßen aus:
"
Vgl. CEPNA (1987); Lamadrid (1988). 18,4% der Anhänger Ubaldinis sprachen sich gegen eine Weiterftlhrung der Prozesse aus, weitaus mehr als aus den Reihen der "62", von denen nur 6,7% eine solche Haltung einnahmen (vgl. C E P N A 1987: 97).
141
Schaubild 5: Tradition und Wandel im Urteil der Gewerkschaftsströmungen Ubaldini %
"62" %
"25" %
a) traditionelle Werte - Einheit - Rückbesinnung auf die ursprüngliche Doktrin - Erscheinen eines neuen Führers
40,8
33,3
23,7
20,4
12,4
11,8
4,1
5,7
4,3
Total %
65,3
51,4
39,8
22,4
21,0
23,7
-
6,7 2,9
14,0 9,7
-
1,0
3,2
31,6
50,6
b) Veränderungsmaßnahmen - Repräsentative Führung - Modernisierung der Methoden - Ideologische Erneuerung - Selbstkritik Total %
-
22,4
Quelle: CEPNA (1987: 76f.).
An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, daß es im hier behandelten Zusammenhang nicht gerechtfertigt ist, das item "repräsentative Führung" ohne weiteres den Veränderungsmaßnahmen zuzuordnen. Aus einer orthodox-peronistischen Sicht wäre die "repräsentative Führung" eher das Gegenteil, denn der Peronismus galt als substantieller Repräsentant der Arbeiter, ohne daß dazu notwendigerweise irgendeine Art von Interessenmediation gehören würde. Daher ist eher davon auszugehen, daß sowohl die Anhänger Ubaldinis als auch die Mitglieder der "62" eine repräsentative Führung gerade durch die Aufrechterhaltung des status quo am besten garantiert sahen. Von dieser Perspektive her betrachtet liegt die Vermutung nahe, daß von Seiten des Ubaldinismus keinerlei Veränderungsmaßnahmen befürwortet wurden - und dies ist wohl kaum eine Haltung, die mit einer ideologischen Linksposition vereinbar wäre. Trotz dieser Einschränkungen kann die von McGuire vorgeschlagene Taxonomie dabei helfen, die Volatilität des innergewerkschaftlichen Gleichgewichts zu verstehen, denn seine Analyse macht deutlich, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Strömungen lagen, und welche Motive zur Bildung von Allianzen unter ihnen gefuhrt haben könnten. Die "25" und der Ubaldinismus teilten die kämpferische Taktik und gewisse ideologische Positionen. Zudem konnten die "25" dem Ubaldinismus eine Gewerkschaftsstruktur und eine Integration in den Parteiapparat bieten, die diesem fehlte. Ähnliches könnte man über die Beziehungen zwischen dem Ubaldinismus und 142
den "62" sagen. Auch in diesem Fall gab es ideologische Übereinstimmungen und organisatorische Unterstützung. Die "62" und die "15" stimmten ihrerseits überein in der Ablehnung linker Ideologien und in einer im allgemeinen nicht kämpferischen Taktik. Weniger Berührungspunkte gab es zwischen den "15" und dem Ubaldinismus, auch wenn beide Strömungen sich durch eine relative organisatorische Schwäche und eine geringe Integration in den Parteiapparat des PJ auszeichneten. Diese Situation veranlaßte sie zu Versuchen, ihre Position durch Außenkontakte zu verbessern. Der Ubaldinismus versuchte dies durch seine kämpferische Taktik und die "15" durch Verhandlungen. Beide benötigten die Regierung als Gesprächspartner. Die größten ideologischen Unterschiede bestanden zwischen den "25" und den "15". Zwar verfugten diese beiden Strömungen als einzige über eine langfristige Strategie, dies führte sie jedoch nicht näher zusammen, sondern sorgte im Gegenteil eher noch für eine stärkere Distanzierung, insofern beide völlig gegensätzliche Projekte verfochten. 1987 äußerte sich Triaca gegen das basisorientierte, kämpferische und pluralistische Projekt der "25": "[...] man muß die Gewerkschaftsbewegung mit ihrer pyramidalen Struktur, die einige als korporativ und faschistisch bezeichnen, akzeptieren. Sie dient schließlich dem Zusammenleben mit dem Kapital, nicht mehr und nicht weniger. Diese Gewerkschaftsstrukturen wissen sich mit dem Kapital zu arrangieren. Und in dem Maße, wie wir sie horizontaler und atomistischer gestalten, werden sie anfangen, Forderungen zu stellen [...] Deshalb müssen wir für eine vertikalisierte Gewerkschaftsbewegung eintreten, die sich an den Verhandlungstisch zu setzen weiß, und ständig über sie wachen [...]" 82 .
Im Vorfeld der letzten Parteiwahlen, als es noch nach einem Wahlsieg Cafieros aussah, schlugen die "15" eine Kompromißlösung zwischen den Kandidaten vor und versuchten, mit folgendem Argument eine Protagonistenrolle wiederzuerlangen: "Wenn Antonio [Cafiero] Präsident der Republik wird, wer wird dann verhindern, daß es jeden Tag Streiks gibt? Wer wird vermitteln, damit die Unternehmer und die Streitkräfte gute Beziehungen zum Peronismus pflegen? Wir. Deshalb wollen wir an der Seite Cafieros an der Macht teilhaben" 83 .
Wenn es auch zutrifft, daß ein Verständnis der verschiedenen Allianzen eine Analyse der jeweiligen Ideologie, der innerparteilichen Position und der politischen Taktik der verschiedenen Strömungen voraussetzt, so kam doch nicht allen diesen Faktoren die gleiche Bedeutung zu. Zunächst einmal fällt auf, daß, wenn es darauf ankam, sich alle mit allen zu verständigen wußten. Einige Beispiele dafür mögen genügen: Ubaldini begann seinen Aufstieg als Kompromißkandidat der "25" und der 62 Organisationen zu einer Zeit, als sich ein Teil der 82
Zitiert nach Beliz (1988: 120f.).
83
Erklärungen des Gewerkschaftsführers Cavalieri, abgedruckt in El Periodista N° 190 (29. April bis 5. Mai 1988: 6).
143
späteren Gründer der Gruppe der 15 mit der Diktatur arrangierte. Nach den justizialistischen Parteiwahlen von 1983 kam es zur Wiedervereinigung der "62", und als Ergebnis einer Übereinkunft mit Gestión y Trabajo wurde Lorenzo Miguel zum Generalsekretär ernannt. Als sich 1984 die beiden CGTs mittels einer vierköpfigen Führungsriege vereinigten, was bereits für sich genommen einer nicht sehr sauberen Abmachung entsprach, kam es zu einem Bündnis zwischen den "25" und den Anhängern Triacas mit dem Ziel, Miguel zu schwächen. Der Pakt war nur von kurzer Dauer. Triaca entschied sich für einen Frontenwechsel und eine erneute Annäherung an die "62", was ihm einen Posten als Abgeordneter des Bundesparlaments und einen Sitz in der auf dem Parteitag von Santa Rosa gewählten Parteiführung einbrachte. Die "25" ihrerseits wandten sich den Erneuerern zu, nachdem sie in der orthodoxen Parteiführung keine Berücksichtigung gefunden hatten84. Diese kurze Beschreibung zeigt, welches Ausmaß die "Entideologisierung der gewerkschaftlichen Bündnisse"85 angenommen hatte, eine Tendenz, die noch zusätzlich dadurch verstärkt wurde, daß selbst die Führer ein und derselben Strömung nicht selten sehr unterschiedliche Positionen zu vertreten pflegten. So kritisierte beispielsweise Victor de Gennaro, ein dem Erneuererflügel angehörender Spitzenfunktionär von ATE, in Übereinstimmung mit den sektoralen Forderungen seiner Gewerkschaft, die Anpassungspolitik und die Verkleinerung des Staates um jeden Preis. Statt dessen schlug er eine grundlegende Modernisierung der staatlichen Unternehmen und der Verwaltungsstrukturen vor, um die ökonomische Steuerungsfunktion des Staates zu stärken. Andere Funktionäre der "25" teilten solche Ansichten keineswegs. José Rodriguez, Generalsekretär der SMATA, trat öffentlich für das Subsidiaritätsprinzip ein und legte eine dialogbetonte Haltung an den Tag, was die Gruppe der 15 dazu veranlaßte, ihn für den Posten des Arbeitsministers vorzuschlagen, den schließlich Alderete übernahm86. Taktische Überlegungen scheinen das größte Gewicht bei den Entscheidungen gehabt zu haben, aber sie entsprangen nicht der allgemeinen Situation der Gewerkschaften, sondern unmittelbareren Motiven. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen unterlagen nicht nur einem ständigen Wandlungsprozeß, sondern veränderten auch im gleichen Maße die Affinitäten einzelner Gewerkschaften gegenüber den verschiedenen Strömungen. Die Gewerkschaft der Automechaniker SMATA und des Telekommunikationsbereichs FOETRA wechselten beispielsweise von den "25" zur Gruppe der 15. Der Verband der Stromversorgung FATLYF gehörte 1984 der Gruppe Gestión y Trabajo an, trat etwas später den 62 Organisationen bei und beteiligte sich 1987 an der Gruppe der 1587.
84
V g l . B e l i z ( 1 9 8 8 : 113ff.).
85
B e l i z ( 1 9 8 8 : 122).
86
Vgl. Palomino (1985a: 28).
87
V g l . Belardinelli ( 1 9 9 4 : 126f.).
144
Ebensowenig entsprach die Einbindung der Gewerkschaften in die vier Strömungen den Merkmalen und der Situation der Branchen, die sie repräsentierten. So fand sich in denjenigen Strömungen, die der Regierung mit einem Konfrontationskurs gegenübertraten, nicht etwa, wie man hätte erwarten können, ein großer Teil von Gewerkschaften, die Branchen mit geringen Einkommen oder Staatsangestellte repräsentierten, also jene Gruppen, die am meisten unter der Anpassungspolitik zu leiden hatten. Vielmehr waren es persönliche Entscheidungen einzelner Gewerkschaftsführer, die im maßgeblichen Moment den Ausschlag gaben 88 . Zweifellos gab es Faktoren, die diese Entscheidungen beeinflußten. Dazu gehörte zunächst einmal die Beziehung zu den Parteistrukturen, oder besser gesagt mit der amtierenden Führung, und die Einschätzung der allgemeinen politischen Situation. So entschlossen sich die 62 Organisationen entgegen bisheriger Gepflogenheiten nach den Wahlen von 1987 zu Kampf- und Mobilisierungsmaßnahmen gegen eine durch die Wahlniederlage geschwächte Regierung. Auf diese Art und Weise wollten sie sich von ihrer bisherigen Dialogposition distanzieren. Die "25" dagegen, die bis dahin einen Konfrontationskurs eingeschlagen hatten, sahen jetzt den Zeitpunkt für mehr Rücksichtnahme gekommen, um die Situation nicht weiter zuzuspitzen. Schließlich mußten die peronistischen Erneuerer in der Mehrzahl der Provinzen die Regierungsverantwortung übernehmen; in gewisser Hinsicht war somit die Möglichkeit des Mitregierens gegeben. Ein anderes Kriterium der Taxonomie McGuires, der Grad der Einbindung in die Parteistrukturen, darf nicht als ein Willensakt interpretiert werden. Wenn die "15" und der Ubaldinismus nur schwach in den politischen Peronismus eingebunden waren, so lag dies nicht daran, daß sie aus ideologischen Gründen politische Aktivitäten abgelehnt hätten, sondern schlicht und einfach an einer für sie ungünstigen Kräftekonstellation. Ubaldini, der schon im März 1985 versucht hatte, innerhalb des PJ eine Gruppe namens "Frieden, Brot und Arbeit" ("Paz, pan y trabajo"89) ins Leben zu rufen, konnte sich in der Partei erst mehr Einfluß verschaffen, nachdem er über eine eigene Gewerkschaftsstruktur verfügte, und dies war erst 1988 der Fall. Ubaldini lehnte es wiederholt ab, als Kandidat des PJ für das Abgeordnetenhaus anzutreten. Diese Haltung erklärt sich jedoch dadurch, daß er sonst jene Protagonistenrolle eingebüßt hätte, die er als Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes spielen konnte, zumal die CGT zu diesem Zeitpunkt über wesentlich mehr Macht verfügte als die durch tiefgreifende Divergenzen geschwächte Partei. Die Führer der "15" hatten vor der Gründung dieser Gruppe den 62 Organisationen angehört, und Triaca war Abgeordneter gewesen. Die Tatsache, daß sie sowohl in der CGT als auch in der Partei 90 ihren Einfluß verloren hatten, veran!8
Vgl. McGuire (1992:64fr.).
"
Vgl. El Periodista N° 79 (14.-20. März 1986: 5).
90
Diego Ibáflez war Abgeordneter gewesen, aber später verlor er bei den Parteiwahlen in Buenos Aires; Julio Guillán, der den Erneuerern angehörte, unterlag ebenso wie Zanola im Hauptstadtdistrikt einer von Grosso protegierten Liste.
145
laßte sie jetzt zu direkten Verhandlungen mit der Regierung, unter Umgehung sowohl der Parteistruktur als auch der Gewerkschaftszentrale. Bei den Parteiwahlen von 1988 entschieden sie sich schließlich für eine öffentliche Unterstützung Menems, wodurch sie jene politische und gewerkschaftliche Führungsrolle wiedererlangten, die sie durch den Sieg der Erneuerer verloren hatten. Die Einbindung der 62 Organisationen und der "25" in den PJ wies deutliche Unterschiede auf91. Die "25" bevorzugten eine individuelle Partizipation der Gewerkschafter in den Parteistrukturen und vertraten die Ansicht, daß die Machtfragen durch die interne Dynamik der Partei entschieden werden sollten. Die Identifikation zwischen dem Erneuererflügel der Partei und den "25" war allerdings so stark, daß Roberto Garcia, Generalsekretär des Movimiento Sindical Renovador Peronista und Parlamentsabgeordneter für den PJ, im Vorfeld der Parteiwahlen von 1988 bemerkte: "Dies sind wir. Wir unterstützen Cafiero nicht. Wir sind Cafiero. Wir sind im Innern und die anderen sind ein Nichts"92. Aus diesem Grund führte die innerparteiliche Niederlage der Erneuerer auch für die "25" zu gravierenden Konsequenzen. Der orthodoxe Teil der Gewerkschaften erhob dagegen den Anspruch, die gesellschaftliche Repräsentativität der Arbeiterbewegung müsse unabhängig von einer parteipolitischen Repräsentativität anerkannt werden. Aus dieser Perspektive garantierte das traditionelle "Drittel" für die Gewerkschaften bei der Bestimmung von Kandidaten eine angemessene Repräsentation der Arbeiterbewegung durch die Partei. Ihre Ansichten hinsichtlich einer politisch aktiven (68% dafür) und in ihren Orientierungen autonomen Arbeiterbewegung (83% dafür) decken sich mit der durchschnittlichen Meinung der befragten Gewerkschafter der verschiedenen Strömungen. Diese innerhalb des peronistischen Spektrums in der Mitte angesiedelte Position muß bei einer Erklärung der Macht dieser Organisation und deren Beständigkeit über die Jahrzehnte berücksichtigt werden93. Abschließend bleibt festzustellen, daß es während des gesamten Untersuchungszeitraums nie zu einer Stabilisierung der Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen politischen und gewerkschaftlichen Gruppierungen innerhalb des Peronismus kam. Vielmehr kam es immer wieder zu Verschiebungen, durch die sich nicht nur die Gestalt des Justizialismus insgesamt, sondern auch die seiner internen Strömungen wiederholt veränderte. So kann in diesem Fall nicht von stabilen Kräfteverhältnissen die Rede sein, die den Spielraum der internen Gruppierungen kontinuierlich eingeschränkt hätten. Ein peronistischer Politiker gab sogar ungeniert zu: "Es existieren zahlreiche Peronismen. Einer ist der der 62 Organisationen, ein anderer der der 25; der Cañeros ist einer und der Menems ein anderer, der Grossos noch ein anderer. Die Beziehung zwischen den Teilen sind Alli-
Vgl. Lamadrid (1988: 80ff.). El Periodista N ° 190 (29. April bis 5. Mai 1988: 6). Vgl. Lamadrid (1988: 79; 91).
146
anzen. Und jede Allianz wird geschmiedet, damit sie später gebrochen werden kann. Eine feste Beziehung existiert nicht"94.
Diese Feststellung deutet darauf hin, daß auch während der Post-Transitionsphase die Wirksamkeit der internen Restriktionsmechanismen des Justizialismus gering blieb, was besonders im Kontext der Erörterung von These 7 interessant ist. Möglich wäre jedoch, daß eine positive Entwicklung in der Organisationsstruktur zur Relativierung dieses Bildes fuhren könnte.
5.3 Veränderungen der Organisationsstruktur des Justizialismus Die traditionelle Schwäche der justizialistischen Parteiorganisation und die Tatsache, daß vor den Wahlen von 1983 keine Übereinstimmung hinsichtlich parteiinterner Konfliktregulierungsmechanismen erzielt werden konnte, machte diese Frage in den darauffolgenden Jahren zu einem der wichtigsten Themen auf der peronistischen Tagesordnung. Die alte theoretische Diskussion über die Gegenüberstellung von Partei und Bewegung und die konfliktive Beziehung zwischen dem politischen und dem gewerkschaftlichen Sektor erforderten dringend eine praktische Antwort. Der Erneuererflügel entstand nach der Wahlniederlage als Protest jener Parteisektoren, die sich im Vorwahlkampf nicht hatten durchsetzen können, er erlangte später ein etwas klareres Profil. Hugo Chumbita hat eine Charakterisierung des Erneuererflügels anhand von drei issues erarbeitet, konkret: der Option für eine demokratisch-reformistische Position, für eine Revision des interventionistischen Wirtschaftsmodells und für die Vorrangigkeit des Parteiapparates und der von dort ausgehenden Entscheidungen gegenüber der Bewegung insgesamt 95 . Dieses Kapitel beschränkt sich auf eine Analyse der Parteistrukturen und des durch die Erneuerer angestoßenen internen Demokratisierungsprozesses. Die übrigen Fragen werden im weiteren Verlauf der Arbeit aufgegriffen. Um die Reformen und deren Grenzen angemessen würdigen zu können, ist zunächst eine kurze Beschreibung der institutionellen Situation notwendig, in der sich der Justizialismus vor den Wahlen 1983 befand. Das von der Militärregierung 1982 erlassene neue Parteiengesetz {Nueva Ley Orgánica de los Partidos Políticos) machte die Anerkennung als politische Partei vom Vorhandensein stabiler Organisationsstrukturen und von Statuten abhängig, die "Übereinstimmung mit der Methode der internen Demokratie" aufwiesen. Das Gesetz legte außerdem fest, daß die Führung und Verwaltung von Parteien auf Beratungs-, Exekutiv-, Kontroll- und Disziplinarorgane aufzuteilen sei. Parteiämter auf Distriktebene mußten mittels direkter und geheimer Wahl durch die Mitglieder besetzt werden. Die Parteimitglieder und auch MinBárbaro (1986a: 153). Vgl. Chumbita (1989b: 126ff ).
147
derheiten mußten über Möglichkeiten verfügen, sich am Binnenleben der Parteien zu beteiligen. Die Parteien waren dazu verpflichtet, ein Inventarverzeichnis und ein Kassenbuch zu fuhren sowie alle Protokolle und Resolutionen zu dokumentieren96. Diese Vorschriften führten zu einem eilig anberaumten Treffen des Congreso Nacional der Justizialistischen Partei mit dem Ziel, die alten Statuten an die neuen Normen anzupassen, was am 5. März 1983 im Centro Cultural Congreso geschah, einer Parteiinstitution, die de facto als Sitz der dürftigen justizialistischen Struktur fungierte. Dort wurde die Einrichtung eines Disziplinartribunals beschlossen, ohne die für dessen Ernennung zuständige Instanz genau festzulegen (Art. 30). Die Mitglieder der Parteiräte auf der Ebene der Basiseinheiten, Kreise, Departements und Distrikte sollten "mit einfacher Mehrheit in direkter und geheimer Wahl durch die Mitglieder der jeweiligen Parteigliederungen" bestimmt werden (Art. 16). Die Mandatsdauer für sämtliche Parteiämter wurde von zwei auf vier Jahre verlängert (Art. 16, 18, 20, 26, 30). Die neue Gesetzgebung erlaubte dies zwar, sie schrieb es jedoch keinesfalls zwingend vor. Ferner wurde beschlossen, daß die Partei Nichtmitglieder als Kandidaten für Wahlämter aufstellen könnte (Art. 41). Alle Modifikationen wurden einstimmig und ohne Diskussion angenommen, insofern man sie als bloße formale Requisiten auf dem Weg zum Sieg betrachtete97. Es kam also nicht zu einer grundlegenden Diskussion über die Notwendigkeit wirklicher Satzungsänderungen, die die Repräsentativität der Kandidaten gewährleisten sollten. Selbst die fortschrittlichste Position ging damals davon aus, daß "es notwendig ist, als legitim anzuerkennen, wenn [der offizielle Kandidat der Peronistischen Bewegung] aufgrund einer Übereinkunft zwischen den repräsentativsten Führungspersönlichkeiten des Justizialismus festgelegt wird, um danach dem Urteil des Congreso Nacional Partidario unterworfen zu werden. Aber diese Vorgehensweise ist nach den internen Wahlen zu implementieren, d.h. nachdem feststeht, welches konkrete politische Gewicht und welche reale Unterstützung durch die peronistische Basis die Bewerber genießen" 98 .
Niemand hielt es für angebracht, daß der Kongreß wirklich für die Wahl der Kandidaten zuständig wäre. Das - laut Satzung - "an der Spitze der Parteihierarchie stehende Organ" sollte sich lediglich darauf beschränken, das zu bestätigen, worüber andernorts eine Übereinkunft erzielt worden war. Wie im Kapitel 4 festgestellt wurde, fielen alle wichtigen Entscheidungen bei Treffen der Führungsriege, während die Wahl durch die Mitglieder als Blankoscheck für Verhandlungen zwischen den Kandidaten diente. Das große Gewicht Lorenzo Miguels ging nicht auf ein besonders erfolgreiches Ergebnis bei Vorstandswahlen, "
Vgl. Ley 22.627.
97
Vgl. Partido Justicialista (1983a).
"
Armada (1983: 21 f.) (Hervorhebung im Original).
148
sondern auf dessen Rolle als Gewerkschaftsboß zurück. Die Berufimg auf die traditionelle Dreiteilung der Kandidatenliste sicherte de facto den Einfluß der orthodoxen Gewerkschafter. Das dem Frauenflügel zustehende Drittel wurde schlicht und einfach ignoriert, und die Schwäche der Partei strukturen sorgte dafür, daß Widerstand gegen den Willen der 62 Organisationen kaum möglich war. Alle prominenten Politiker akzeptierten solche Umstände, zumindest solange, wie die entsprechenden Mechanismen sich nicht schädlich auf ihre eigenen Ambitionen auswirkten. Beispielsweise betonte Antonio Cafiero noch 1983 die "zentrale Rolle", die der Witwe Peröns innerhalb der Partei und der Bewegung als "Stabilisierungsfaktor des peronistisehen Lebens" zufalle. Zustimmend nahm er zur Kenntnis, daß "die gewerkschaftliche Macht innerhalb der Partei akzeptiert und anerkannt" werde, und er versicherte, daß dies kein Ansatzpunkt für "eine zukünftige Konfliktlinie innerhalb der Partei" sei". Allerdings betonten einige Politiker, die damals der zweiten Reihe angehörten, die Notwendigkeit neuer Entscheidungsmechanismen. Carlos Alvarez trat bereits für einige derjenigen Themen ein, die von den Erneuerern später als zentral betrachtet wurden: "1. Es ist unabdingbar, das Fiihrungssystem der Bewegung wiederaufzubauen100. Das bedeutet, es mit einer politischen Autorität auszustatten, die umfassend genug ist, der Heterogenität des Peronismus gerecht zu werden. 2. Es ist unbedingt notwendig, die Macht, die früher die Führung [d.h. Perön selbst d.V.] auf sich vereinigt hatte, durch Organisation, Partizipation und politische Entwicklung, zu ersetzen. 3. Der Organisationsapparat der Bewegung muß zu einem heute nicht existierenden Gleichgewicht zwischen der politischen und der gewerkschaftlichen Säule finden. Dafür muß eine solide Parteistruktur geschaffen werden, die in der Lage wäre, die Politik, als Kunst des Ganzen, mit der wachsenden Partizipation der einzelnen Sektoren zu harmonisieren"101.
Solche Ideen gingen nicht auf eine Neubewertung der internen Demokratie als solcher zurück, sondern auf bloße Notwendigkeit, da nach Peröns Tod niemand dessen Rolle hatte übernehmen können102. Nach den Wahlen 1983 begann der Erneuererflügel sich zunächst aus einer negativen Position heraus zu profilieren103, die sich auf eine Infragestellung der als einziger Verantwortlicher für das katastrophale Wahlergebnis geltenden Führung beschränkte. Damals fanden Begriffe wie "die Halbstarkenbande" (la patota), "die Marschälle der Niederlage" (los mariscales de la derrota) und "die
99
Cafiero (1983: 173f.).
100
Im spanischen Original heißt es "reconstruir", was sowohl "wiederauf-" als auch "umbauen" bedeutet.
101
Alvarez (1983: 61).
102
Das wurde auch so deutlich erklärt: "Die Konzentration der Macht soll bei den Organisationen und nicht bei den Menschen liegen, denn nach dem Tod Peröns kann keine Führungspersönlichkeit fllr sich allein die historische Mission des Peronismus garantieren." Alvarez (1983) 62.
,03
Vgl. de Ipola (1987: 334).
149
Ungeheuer" (los monstruos) als Bezeichnung für Personen wie Maria Estela Martinez de Perön, Lorenzo Miguel und Herminio Iglesias wachsende Verbreitung. Ohne sie - dies war nach wie vor allgemeine Überzeugung - wäre es den Radikalen nie gelungen, die Wahlen zu gewinnen, denn in Anbetracht seiner historischen Leistungen "hatte der Peronismus die Niederlage nicht verdient" 104 . Die neuen Kräfteverhältnisse nach den Wahlen von 1983 zogen auch Veränderungen hinsichtlich der internen Struktur des Justizialismus nach sich. Da der Peronismus nicht in der nationalen Exekutive vertreten war, bestanden Möglichkeiten für ein Wachstum neuer interner Machtpole außerhalb der traditionellen vertikalistischen Führung Peröns. In erster Linie handelte es sich dabei um die Provinzgouverneure und die Parlamentsmitglieder. Diese Tendenzen führten zwar nicht zu einer neuen institutionellen Ordnung, aber verschiedene Repräsentanten beider Gruppen legten einen politischen Protagonismus an den Tag, der es ihnen ermöglichte, sich zu Referenzpunkten für die Bildung neuer Bündnisse zu entwickeln. Beispielsweise waren die Hauptwidersacher bei den Parteitagen von 1984 und 1985, Vicente L. Saadi (Catamarca) und Oraldo Britos (San Luis), beide Mitglieder des nationalen Senats. Das Ansehen Carlos Menems innerhalb der Partei stieg nicht zuletzt deshalb, weil es ihm als einzigem Gouverneur des PJ bei den Wahlen von 1985 gelang, den Stimmenanteil der Partei in der von ihm regierten Provinz zu halten. Nur vor dem Hintergrund der katastrophalen Niederlage des PJ in Buenos Aires und Cördoba wird verständlich, warum Politiker aus den ärmsten und rückständigsten Provinzen des Landes innerhalb kurzer Zeit wichtige Posten innerhalb der Parteiführung besetzen konnten. Anfang 1984 stellte sich die Organisation des Justizialismus als ein Puzzle dar, das der peronistische Abgeordnete Miguel Unamuno folgendermaßen beschrieb: "[...] seine Führungsstruktur zeichnet sich durch divergierende, in gewisser Hinsicht nicht miteinander zu vereinbarende Elemente aus. Ein Oberster Parteirat, dessen Mitglieder bei vielen Führungspersönlichkeiten umstritten sind, und der seine formale Autorität in Konkurrenz zu einer sogenannten Verbindungskommission ausübt, die mit dem erklärten Ziel geschaffen wurde, die Einheit [der Bewegung] zu sichern, obwohl ihre Etablierung zu größeren Unstimmigkeiten führte. Auf einer anderen Ebene befinden sich die Distriktvorsitzenden, die, gestärkt durch die in ihren Provinzen errungene Unterstützung, im Moment der Entscheidungsfindung ebenfalls Mitsprache fordern. Die parlamentarischen Blöcke bilden ihrerseits eine weitere Machtquelle. [...] Verwoben mit diesem Geflecht, mit Ämtern in der Partei und in der Bewegung, gruppieren sich die Gewerkschaftsführer ihrerseits in verschiedenen Formationen und beziehen Position, größtenteils ohne sich Mühe zu geben, den gewerkschaftsbezogenen und den politischen Zuständigkeitsbereich voneinander zu trennen. Das Bild wird durch die Einbeziehung der obersten Vorsitzenden der Bewegung ergänzt. Nur sehr wenige haben den Mut, ihre Autorität öffentlich in Zweifel zu ziehen. Trotzdem sind es noch
104
150
Cafiero (1984: 150).
weitaus weniger, die ihr gehorchen. [...] Die ehemalige Präsidentin steht formal an der Spitze der Hierarchie. Aber weit weg in einem freiwilligen Exil und abgeschirmt in ihrem Schweigen, übt sie keine der dem Amt innewohnenden Funktionen aus"105.
Auf dem Parteitag von Río Hondo kam es zum ersten Mal zu einem organisierten Auftreten des Erneuererflügels und zu Versuchen, die Reorganisation der Partei voranzutreiben. Allerdings sollte der fortschrittliche Charakter dieser Versuche nicht überschätzt werden. In erster Linie - und mehr als ein Fortschritt auf dem Weg zu interner Demokratisierung - stellte der Parteitag von Río Hondo eine Initiative der justizialistischen Caudillos aus dem Landesinneren dar, sich gegenüber den fuhrenden Vertretern der Stadt und Provinz Buenos Aires durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wurde eine Satzungsreform beschlossen, die vorsah, daß jeder Distrikt vier Repräsentanten wählen sollte, die ihrerseits die neuen Mitglieder des Nationalrats ernennen würden. Die Einführung des föderalen Prinzips bedeutete in der Praxis die Abschaffung der proportionalen Repräsentation, denn entsprechend der Modifikation würde die Provinz Buenos Aires mit mehr als einer Million Parteimitgliedern nicht mehr Repräsentanten entsenden als beispielsweise die Provinz Río Negro, in der es nur 30.000 Parteimitglieder gab 106 . Zweitens würde die in Rio Hondo bestimmte Führung bis zum Dezember amtieren, so daß sie auch noch für die Organisation des Wahlkampfes für die am 3. November 1985 stattfindenden Parlaments wählen zuständig wäre und über die Auswahl der Kandidaten entscheiden könnte. Drittens legte der Parteitag keinerlei Termin für interne Wahlen fest, so daß deren Durchführung vom guten Willen der Distriktvorsitzenden abhängig sein würde. Viertens wurden weder die Rolle der Witwe Peróns noch das enorme Gewicht der Gewerkschaften in den Führungsgremien der Partei in Frage gestellt, auch wenn die Föderalisierung der Partei de facto eine Verringerung des gewerkschaftlichen Einflusses implizierte, der sich in erster Linie auf die Stadt und Provinz Buenos Aires stützte. Schließlich vermied der Parteitag von Rio Hondo jegliche ideologische Auseinandersetzung oder Programmdiskussion' 07 . Nachdem die Orthodoxen auf dem Parteitag von Santa Rosa die Macht wiedererlangt hatten mit der Konsequenz, daß die innerparteiliche Opposition vom internen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen blieb, versuchten zwei dem Erneuererflügel angehörende Abgeordnete, Miguel Unamuno und Héctor Maya, diese Situation mittels staatlicher Intervention zu verändern. Sie legten einen Gesetzesentwurf zur Regulierung der politischen Parteien vor, dessen wichtigster Vorschlag in einer Öffnung der Parteien allen Bürgern gegenüber bestand. Auch Nichtmitglieder sollten sich an der Auswahl von Kandidaten beteiligen können. Außerdem sollten unterlegene Kandidaten, die bei Parteiwahlen min-
105
Unamuno et al. ( 1 9 8 4 : 8 ) .
106
Dieser Vorschlag wurde mit 197 gegen 153 Stimmen angenommen. Ein anderes Projekt sah vor, das Land in einen einzigen Distrikt umzuwandeln, wobei allerdings einige Mechanismen das enorme Gewicht der großen Wahldistrikte etwas ausgleichen sollten.
101
Vgl. El Periodista N ° 22 (8.-14. Feburar 1985: 4f.); El Bimestre N° 19 (1985: 9; 59f.).
151
destens 25% der Stimmen erhalten hatten, bei nationalen Wahlen mit eigenen Listen antreten dürfen 108 . Dieses Verfahren entsprach im groben dem im benachbarten Uruguay geltenden Wahlsystem des doble voto simultäneo: Die auf die konkurrierenden Listen einer Partei entfallenden Stimmen würden kumuliert, zum Sieger würde diejenige Partei erklärt, deren Listen insgesamt die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten 109 . Die Erneuerer wußten um ihr im Vergleich zum Rest der Partei besseres öffentliches Image und hofften darauf, mit Hilfe der skizzierten Verfahrensweise ihre Position innerhalb der Partei stärken zu können. Die Initiatoren der Gesetzesvorlage faßten deren Vorteile folgendermaßen zusammen: "Das System wird in anderen Ländern mit Erfolg angewendet. Es bietet den Wählern eine breitere Palette von Optionen, auch innerhalb ein und derselben Tendenz, ohne sie mit dem Joch der Polarisierung zu bedrängen. Den Kandidaten ermöglicht es, ihre politische Schlacht zu verlängern, ohne die Partei zu verlassen oder sie zu schwächen" 110 .
Das Projekt hatte keinen Erfolg. Die Führungsriege der Erneuerer entschied sich, zu den Parlamentswahlen von 1985 auf Listen außerhalb des PJ zu kandidieren. Nach ihrem relativ erfolgreichen Abschneiden bei diesen Wahlen organisierten sie sich als interne Strömung des PJ. Auf einem im Dezember 1985 stattgefundenen Treffen verlas Carlos Grosso das erste offizielle Dokument der peronistischen Erneuerer. Darin hieß es: "[...] 4. Das peronistische Volk hat sich bereits entschieden. Es will eine erneuerte und starke Bewegung und Partei. [...] 5. Die Erneuerung des Peronismus muß für transparente Verfahrensweisen, explizite und konsensorientierte Vorschläge stehen und der Politik hinter verschlossenen Türen ein Ende bereiten [...]""'.
Indem sie sich als interner Parteiflügel konstituierten, optierten die Erneuerer für die Aufrechterhaltung der Einheit und trugen damit indirekt auch zur Legitimation der Orthodoxen bei" 2 . Von jetzt an fanden die Verhandlungen unter gleichberechtigten Gesprächspartnern statt, die moderater als zuvor miteinander umgingen. Nach mehreren Annäherungen kam es zu einer Übereinkunft über die Inhalte der Reform, die auf dem Parteitag von Tucumän behandelt werden sollte. Trotz des Rückzuges der Erneuerer wurde dort eine reformierte Parteisatzung verabschiedet, die mehrere von deren Forderungen berücksichtigte" 3 . Das "höchste exekutive Parteigremium", d. h. der Nationalrat, wurde auf 74 Mitglieder erweitert, unter Einbeziehung der 24 Distriktvorsitzenden, von denen viele 108
Vgl. U n a m u n o ( 1985).
">9
Zu den Besonderheiten des uruguayischen Wahlsystems siehe Wagner (1993: 126ff.).
110
Unamuno (1985: 206).
111
"La renovación peronista. Un proyecto y una voluntad para transformar la Argentina" (1987: 7).
112
Siehe die Kritik an dieser Entscheidung in Abós (1986: 132ff.).
113
Vgl. Partido Justicialista (1986).
152
den Erneuerem angehörten. Die Mitglieder des Nationalen Rats sollten - mit Ausnahme der Distriktvorsitzenden - für vier Jahre mittels direkter Wahl durch die Mitglieder bestimmt werden, wobei die Republik als ein einziger Wahlbezirk galt (Art. 24). Die gleiche Verfahrensweise wurde für die Auswahl der Kandidaten für Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft festgelegt (Art. 26). Auch die Mitglieder der Distriktparteitage und -räte sollten mittels geheimer und direkter Wahl der Mitglieder bestimmt werden. Art. 42 enthielt die vage Formulierung, die Partei werde für die "Integration und Anerkennung der Jugend als Säule der Nationalen Justizialistischen Bewegung" sorgen. Die Delegierten stimmten dem offiziellen Ausschluß von Herminio Iglesias aus der Partei zu. Diese Maßnahme hatte einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Charakter: Mit ihm verschwand das wichtigste der für die Niederlage von 1983 verantwortlichen "Ungeheuer" von der Bildfläche. In Tucumän wurden aber auch weniger demokratische Bestimmungen verabschiedet. Anders als 1983 würde in jenen Basiseinheiten, Bezirken, Kreisen oder Distrikten, in denen eine Einheitsliste präsentiert wurde, die Durchführung des Wahlaktes überflüssig (Art. 17). Die Delegierten zum Nationalen Parteitag, dem "höchsten Gremium", könnten durch direkte oder indirekte Wahlen bestimmt werden (Art. 19). Art. 20 sah vor, daß der Parteitag einmal pro Jahr zu einer regulären Sitzung zusammentreffen "könne", nicht "müsse", und die Einberufung einer außerordentlichen Versammlung war vom Willen des Vorsitzenden abhängig. Der Parteitag verlor die Kompetenz, die Intervention in einem oder mehreren Distrikten zu beschließen. Dieses Befugnis stand jetzt ausschließlich dem Rat zu (Art. 25). Die Mitglieder des Nationalen Disziplinartribunals würden durch den Parteitag "oder" den Rat ernannt, so hieß es ohne weitere Konkretisierung (Art. 28). Die Satzung sah keinerlei Vorschriften hinsichtlich der Kontrolle der Wahlprozesse vor, weshalb davon auszugehen ist, daß diese dem freien Ermessen der Vorstände der jeweiligen Parteiebene unterlag. Schließlich ist zu betonen, daß die Frage der Repräsentation der verschiedenen Säulen der Justizialistischen Bewegung in den Parteigremien - mit Ausnahme der erwähnten Formulierung hinsichtlich der Peronistischen Jugend, bei der es sich mehr um eine rhetorische Konzession gegenüber den Erneuerern handelte - überhaupt keine Berücksichtigung in der Satzung von Tucumän fand. Das Ergebnis der Wahlen vom 6. September 1987 führte zu erneuten Veränderungen innerhalb des Justizialismus. Diese Wahlen wurden in einem großen Teil der Analysen als "Sieg des politischen Sektors des Peronismus" interpretiert, der "eine unabhängige Position gegenüber dem Gewerkschaftssektor" gezeigt habe 114 . Als positives Novum galt zudem die "Etablierung und Konsolidierung eines Peronismus, der in erster Linie als Partei Politik betreibt" 115 . Die Erneuerer bezeichneten den Wahlsieg als ihren eigenen Erfolg, aber eine ge-
114
Beliz (1988: 107).
115
Landi (1988: 178).
153
nauere Analyse zeigt, daß innerhalb des Justizialismus nach wie vor eine große Heterogenität existierte. Nur zwei Tage vor den Wahlen hatte Cafiero erklärt: "[...] unsere gesamte Zukunft (und ich spreche nicht nur vom Triumph des Peronismus) hängt davon ab, was in der Provinz Buenos Aires passiert. Ob wir in La Rioja gewinnen, wird kaum einen Einfluß haben. Wenn wir bei den Wahlen schlecht abschneiden, wird ein Teil des Peronismus damit beginnen, auf einen Putsch hinzuarbeiten, andere werden sich dem Alfonsinismus anschließen, einige werden zur Linken abdriften, und nur sehr wenige werden weiterhin versuchen, unsere Bewegung wieder auf Kurs zu brin-
—116
gen
Der Wahlsieg schweißte wieder alle Sektoren in einer neuen Führung zusammen. Erneut fiel die Entscheidung über die zukünftige Parteiführung bei einem Treffen der wichtigsten Führungspersönlichkeiten. Es fand, diesmal mit einem etwas ausgeweiteten Teilnehmerkreis, im Hotel Bauen in Buenos Aires statt. Die dort Anwesenden verpflichteten sich dazu, "sich an keiner anderen Kandidatenliste für den Nationalen Rat der Partei zu beteiligen und alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um ihre Wahl zur legalen Führung des PJ durch die Stimmen der Mitglieder zu erreichen"117.
Die Lista de Unidad Peronista entsprach sehr unterschiedlichen Überlegungen und kündigte eine erneute Satzungsänderung an. Erstens schlug sich die Rolle Cafieros und Menems als führende Köpfe der beiden wichtigsten internen Strömungen der Bewegung nicht nur in ihrer Ernennung zum Vorsitzenden bzw. zum Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden der Partei nieder, sondern auch in einem größeren Gewicht für die von ihnen geführten Provinzen bei der Zusammensetzung des Nationalen Rats. Während nach der geltenden Satzung alle Distrikte nur durch ihre Vorsitzenden repräsentiert werden sollten, legte die Übereinkunft fest, daß La Rioja sechs und Buenos Aires acht zusätzliche Mitglieder entsenden konnten. Zweitens führte man offiziell das Prinzip der Repräsentation nach den Säulen ein, wobei jetzt von "Sektoren" die Rede war. Die Arbeiterbewegung erhielt neun Ämter und der Frauensektor sechs. In dieselbe Richtung zielten die Anweisungen der Versammlung über eine Reorganisierung der Peronistischen Jugend, für die fünf Posten reserviert werden sollten. Da die Anzahl der zur Verfugung stehenden Ämter innerhalb des Rats nicht ausreichte, wurde eine Satzungsänderung zur Erhöhung der Mitgliederzahl dieses Gremiums notwendig. Diese Reform beinhaltete noch weitere Veränderungen 118 . Der Parteitag ging gestärkt hervor, denn jetzt "mußte" er mindestens einmal im Jahr zusammentreten (Art. 20). Zu seinen Kompetenzen gehörte erneut, über die Notwendigkeit von Interventionen in einzelnen Parteidistrikten zu entscheiden, wobei '"
Zitiert nach Palermo (1987: 43f.).
117
"Lista de Unidad Peronista" (1987: 2). Vgl. Partido Justicialista (1987).
154
die Durchführung der Maßnahme an den Rat delegiert werden konnte (Art. 21). Der Parteitag erhielt auch die Zuständigkeit für die Auswahl der Mitglieder des Disziplinartribunals (Art. 30), des Wahlaufsichtsgremiums {Junta Electoral Nacional) (Art. 27) und der Kassenprüfungskommission (Comisión Fiscalizadora) (Art. 33). Das deutlichste Zeichen für den nach den Wahlen von 1987 in der peronistischen Partei vorherrschenden Integrationswillen war die Erweiterung des Rats. Von nun an bestand er aus nicht weniger als 110 Mitgliedern, von denen 17 die Arbeiterbewegung, 10 den Frauensektor und 10 die Jugend repräsentieren sollten und die übrigen auf die Vertreter der einzelnen Distrikte entfielen. Das Bestreben der Erneuerer, eine größere Repräsentativität der Parteiführung zu gewährleisten, kam in einer Reihe neuer Bestimmungen zum Ausdruck. Mit Ausnahme der Distriktvorsitzenden wurden alle übrigen Mitglieder des Nationalen Rats in direkter und geheimer Wahl durch die Parteimitglieder bestimmt (Art. 24), ebenso wie die Kandidaten für Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft sowie die Mitglieder der Distrikträte und -Versammlungen (Art. 18). Um die einwandfreie Durchführung der Wahlen zu garantieren, wurde ein Wahlaufsichtsgremium geschaffen (Art. 27 und 28). Dessen Aufgabe bestand in der Vorbereitung, Durchführung und Überprüfung aller internen Wahlen. Außerdem wurde eine Kassenprüfungskommission etabliert, der die buchhalterische Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben der Partei oblag (Art. 33). Die wichtigsten Veränderungen bezogen sich auf die Repräsentation der einzelnen Sektoren, aber die neuen Bestimmungen waren nicht besonders präzise. Die Arbeiterbewegung, der Frauensektor und die Jugend waren im Sekretariat des Parteitages vertreten (Art. 20) und stellten 33,6% der Mitglieder des Nationalen Rats (46,25% der gewählten Mitglieder). Die Satzung spezifizierte jedoch nicht, was genau unter "Arbeiterbewegung" zu verstehen sei und wie die Ernennungen zustande kommen sollten. Im Hinblick auf die Frauen-"Quote" beschränkte sich die Satzung auf einen Hinweis in Art. 38, daß die Parteigremien und Kandidatenlisten "einen angemessenen Frauenanteil aufweisen" müßten, ohne auf irgendeine Art und Weise zu erläutern, was in diesem Zusammenhang unter dem Begriff "angemessen" zu verstehen sei. Kaum klarer war die Situation der soeben reorganisierten Peronistischen Jugend, deren Strukturen als integrierter Teil der Partei anerkannt waren. Der Jugend stand nämlich das Recht zu, sich auf den Listen für kommunale, provinzielle und nationale Wahlämter sowie auf allen Parteiebenen "zu beteiligen" (Art. 40). Schließlich sollte die Einrichtung eines Planungsrats (Consejo Federal de Planificación) für einen angemessenen Umgang mit programmatischen Vorschlägen aus den Reihen der Partei dienen. Die Aufgabe des Gremiums bestand darin, zukünftige Regierungsprogramme zu erarbeiten (Art. 41). Die unter Federführung der Erneuerer verabschiedeten Satzungsbestimmungen widersprechen deutlich der These, der Erneuererflügel stelle einen neuen Peronismus dar, der sich von den traditionellen Strukturen der Bewegung distanzierte und eine parteizentrierte Haltung einnahm. Die Bemühungen der Er155
neuerer richteten sich im Gegenteil gerade darauf, der Bewegung einen institutionellen Rahmen zu verschaffen, der einen geordneten Umgang mit den Forderungen der verschiedenen Sektoren ermöglichen sollte. In Ermangelung einer Persönlichkeit mit der Integrationsfahigkeit und den politischen Führungsqualitäten Peróns stellte die Partei den Ansatzpunkt für den Wiederaufbau der Bewegung dar: "Ich behaupte, daß die Partei von unten nach oben durch Beteiligung aller Mitglieder organisiert werden muß, während die Bewegung anderen Regeln gehorcht. Die Bewegung muß aufgrund ihrer eigenen Natur notwendigerweise vertikal [organisiert] sein, denn sie vereint gesellschaftliche Sektoren und Strömungen, von denen man keine Bestätigung durch Wahlen, sondern ganz einfach Repräsentativität verlangen kann, und dies funktioniert von oben nach unten [...] Wenn die Partei erst einmal gut organisiert ist, muß die Partei die Organisation der Bewegung vorantreiben und deren Rückgrat, deren Achse sein. Da es keinen Führer gibt, der dazu aufruft, die Bewegung wiederzubegründen, sie zu reorganisieren, muß irgend jemand diese [Aufgabe] übernehmen. Wer, wenn nicht die Partei, soll dies tun"119?
Die gleiche Absicht fand sich in der Satzung des Hauptstadtdistrikts, wo die Erneuerer sich am frühesten durchgesetzt hatten. Unter Berufung auf die "Peronistische Doktrin" legt Art. 1 fest, daß "die Partei sich auf der Grundlage der Bewegung organisiert, und in diesem Sinne werden ihre Führungsgremien und Kandidatenlisten für öffentliche Wahlämter von Genossen [compañeros] aus dem politischen, dem gewerkschaftlichen, dem Frauen- und Jugendsektor besetzt, wobei in allen Fällen die Repräsentativität der Sektoren der Nationalen Justizialistischen Bewegung respektiert wird"120.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Erneuerer auch in der politischen Praxis eine solide Allianz mit den Gewerkschaftern der Kommission der 25 bildeten. Dies hielt sie jedoch nicht von Kontakten mit den anderen Gruppierungen ab. Tatsächlich gelang es den orthodoxen Gewerkschaften am 30. Dezember 1987, eine Reihe ihrer Repräsentanten in den Nationalen Rat des PJ zu plazieren121. Dies erklärt, warum die Gewerkschaftsvertretung in diesem Gremium von den ursprünglich geplanten 10 auf 17 Mitglieder wuchs.
Antonio Cafiero, zitiert nach El Periodista N° 70 (10.-16. Januar 1986: 4) (Hervorhebung d.V.). Partido Justicialista Metropolitano (1986). Die Reform von 1988 sah diesbezüglich keine Veränderungen vor. Siehe Partido Justicialista de la Capital Federal (1988). Lisandro Zapata, Delfor Giménez, Carlos West Ocampo (Gesundheitswesen), Antonio Cassia (Erdöl), José Rodríguez, Juan José Zanola, Lesio Romero, Amadeo Genta (Gemeindeverwaltung), Oscar Lescano und Ramón Valle (Versicherungssektor) waren diejenigen Orthodoxen, die Parteiämter erhielten. Das nach den Auseinandersetzungen innerhalb des Comité Central Confederal der CGT etwas konfliktive Bündnis zwischen Erneuerern und Ubaldinismus behielt seinerseits im Nationalen Rat der Partei Garcia und Lingieri, zu denen noch José Pedraza, Femando Giménez (Ernährung), Andrés Rodríguez, Carlos Cabrera, Abel Hernández (Friseure), José Azcurra (Pharmazie), Jorge Luján (von der Kommission der 20) und Guerino Andreoni hinzukamen (vgl. Beliz 1988: 211).
156
Daher ist es nicht verwunderlich, daß der Abgeordnete des Bundesparlaments und Generalsekretär des Movimiento Sindical Renovador Peronista, Roberto Garcia, seine Unterstützung für den Anführer der Erneuerer bei den Parteiwahlen von 1988 folgendermaßen rechtfertigen konnte: "[...] der Dialog, den er sein ganzes Leben lang mit der Arbeiterbewegung gepflegt hat, macht ihn zu einem von uns. Antonio [Cafiero] unterstützt die Gewerkschaften und gewährt ihnen den Raum, den sie verdienen"122.
Es ist schwer zu sagen, ob die interne Demokratisierung für die Erneuerer eine Grundsatzfrage war oder ob es ihnen lediglich darum ging, auf diesem Weg die Macht innerhalb der Partei an sich zu reißen. Es gibt zumindest Hinweise, die in die zweite Richtung deuten. Beispielsweise ist bekannt, daß einige der Vertrauten Cafieros diesem nach der Niederlage der Erneuerer bei den Parteiwahlen von 1988 "Naivität" vorwarfen, weil er nicht versucht habe, die Wahlergebnisse zu beeinflussen. Die Frage, ob er es aus Prinzip nicht tat oder ob er sich seines Sieges so sicher war, daß er einen Wahlbetrug für überflüssig hielt, kann wohl nur er selbst beantworten. Auf einer weniger subjektiven Ebene gibt es einige Belege, die dafür sprechen, daß die Ziele des Flügels häufig lediglich mit dem persönlichen Erfolg seiner Kandidaten identifiziert wurden. In einer Veröffentlichung, in der die wichtigsten Dokumente der Erneuerer hinsichtlich der Wahlen von 1987 zusammengefaßt sind, ist zu lesen, daß das Treffen von La Falda "nach den internen Wahlen stattfand, die in der großen Mehrheit der Distrikte zu einem Triumph der Kandidaten der Erneuerung führten. Da auf diese Art und Weise das Ziel einer demokratischen Reorganisation unserer Partei fast vollständig erreicht war, traf die Versammlung von La Falda keinerlei Unterscheidung zwischen den Anhängern der Mehrheitsströmung und den anderen"123.
Die Erneuerer betrachteten ihre Aufgabe genau in dem Moment als beendet, als sie eigentlich erst richtig anfangen sollte, und einmal an der Macht interessierten sie sich nicht mehr für die interne Demokratie. So änderte sich durch die von den Erneuerern durchgesetzten Satzungsreformen auch nichts an der restriktiven Regelung der Minderheitenrepräsentation. Nur die erste Minorität wurde, sofern sie mindestens 25% der Stimmen erzielt hatte, an der Besetzung von Führungsgremien der Partei und an den Kandidatenlisten für öffentliche Wahlämter beteiligt 124 . Diese mangelnde Aufmerksamkeit für einen Schlüsselindikator innerparteilicher Demokratie hing zweifellos mit dem Bestreben der Erneuerer zusammen, die Einheit der Partei unter ihrer eigenen Ägide wiederherzustellen.
Zitiert nach El Periodista N° 190 (29. April bis 5. Mai 1988: 5). "La Propuesta
Peronista"
(1987: 3) (Hervorhebung d.V.).
Vgl. Partido Justicialista (1986: art. 37); Partido Justicialista (1987: art. 44).
157
Obwohl die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung zu den wichtigsten Diskursthemen der Erneuerer zählte, war deren diesbezügliche Haltung recht wankelmütig. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rolle, die den Basiseinheiten zugeordnet wurde. Die letzte Satzung beschrieb sie als "primären Organismus der Partei, das natürliche Zentrum für die Indoktrinierung und die Verbreitung ihrer Prinzipien und politischen Handlungsgrundlagen, für kulturelle Aktivitäten und soziale Leistungen" 125 . 1988 wurde ein neues Handbuch zur Anhängerschulung herausgegeben 126 . Das Werk ist ein deutliches Beispiel für die Überlagerung von zwei völlig verschiedenen Grundsätzen. Einerseits wird an die alten justizialistischen Maximen erinnert, für die die grundlegende Aufgabe des militante darin bestand, "die reine Doktrin aufzunehmen, sie mit Lauterkeit fortzuentwickeln und mit Redlichkeit weiterzugeben" 127 . Im Sinne der justizialistischen Idee der "Organisierten Gemeinschaft" galt die Basiseinheit als "eine Schule der Staatsbürgerlichkeit, ein Zentrum der Verbreitung kultureller Werte, der Unterhaltung und des Vergnügens" und gleichzeitig als "eine Fürsorgeeinrichtung zum Schutz und zur Verteidigung der Bedürftigen" 128 . Andererseits sah der modernisierte Diskurs in der Basiseinheit eine Organisation der Mitglieder und militantes, "die der politischen Partizipation des Volkes an der Führung der Partei dient" 129 . Den Berührungspunkt zwischen beiden Versionen lieferte die "soziale Funktion": Die Basiseinheiten bildeten nach wie vor den Transmissionsriemen für den traditionellen Austausch von Wählerstimmen gegen Gefälligkeiten. Bezeichnend ist auch die Tatsache, daß die Absetzung des orthodoxen Rats, der darauffolgende Aufruf zu Wahlen und die Einsetzung der provisorischen Führung sowie alle anläßlich des Parteitages im Theater Bambalinas Ende 1987 verabschiedeten Beschlüsse unter der Überschrift "Übergangsbestimmungen" als fester Bestandteil in die neue Satzung aufgenommen wurden, ganz so als ob es keinen qualitativen Unterschied zwischen den aufgrund einer einfachen temporären Mehrheit verabschiedeten Bestimmungen und dem Organisationsstatut der Partei gebe. In die gleiche Richtung deutet die bereits erwähnte Aufstokkung der Mitgliedszahlen des Nationalen Rats, um jedem einen Platz garantieren zu können. Neben den Merkmalen und Beschränkungen der institutionellen Reformen gab es auch eine Reihe von Übereinkünften und Haltungen, die zur Aufrechterhaltung des alten politischen Stils beitrugen. Beispielsweise unterschieden sich die Praktiken der ersten Erneuerer nicht allzusehr von denen ihrer Gegner. Wenn an dem Parteitag von Rio Hondo ausschließlich Delegierte teilnahmen, die die im Theater Odeön eingesetzte Führung ablehnten, so war dies darauf zurückzufuhren, daß die Polizei von Santiago del Estero, deren oberster Dienst125
Partido Justicialista (1987: art. 12) (Hervorhebung d.V.).
126
Vgl. F U D E P A ( 1988).
127
FUDEPA (1988: 9). Das Zitat stammt direkt aus einer der Reden Peröns.
128
FUDEPA (1988: 26).
129
FUDEPA (1988: 26).
158
herr Gouverneur Juárez war, ein Caudillo alten Stils, die Einreise aller Delegierten mit gewerkschaftlichem Hintergrund verhinderte 130 . So konnte auch der orthodoxe Julio Romero die Legitimität der Lista Unidad anfechten: "Es ist respektlos zu glauben, daß zwanzig Personen den gesamten Peronismus repräsentieren. Außerdem mußten wir [die orthodoxe Führung] aufgrund des durch sie [die Erneuerer] ausgeübten Drucks die Direktwahl durch die Mitglieder akzeptieren. Sie übten Druck aus, damit die Mitglieder befragt wurden, denn zuvor wurde durch die Delegierten gewählt. Und jetzt wollen sie das wieder ändern, eine Einheitsliste aufstellen und nicht wählen"131?
Die Erneuerer pflegten einen personalistischen Stil, der kaum zu vereinbaren war mit der von ihnen ständig propagierten Institutionalisierung. Zweifellos bildeten sie dabei keine Ausnahme, denn der Personalismus war schon immer ein typisches Merkmal des gesamten Justizialismus - und nicht nur dieser politischen Kraft. Es ist jedoch auffallend, daß die Erneuerer weder viele Vorschläge noch Analysen vorlegten. Ihr Profil beschränkte sich immer mehr auf das persönliche Image einiger bekannter Vertreter dieser Linie. Die wenigen Dokumente, die auf mehr oder weniger klare ideologische und konzeptionelle Stellungnahmen zielten, zirkulierten lediglich im Umfeld einer kleinen Gruppe von Eingeweihten 132 , auch wenn die von der Zeitschrift "Unidos" veröffentlichten Beiträge zu einer etwas breiteren Diskussion führten. 1987, zu einem Zeitpunkt, an dem die Lust am Polemisieren bereits verloren gegangen war, wurden offiziellere und auch allgemeinere Erklärungen als umfassendes justizialistisches Programm veröffentlicht 133 . Die größte Verbreitung fand dagegen eine Reihe von als Auftragsarbeiten angefertigten Büchern mit Interviews und persönlichen Profilen der verschiedenen Kandidaten. Im Vordergrund standen dabei konjunkturelle, wahlkampfbezogene Aspekte, nicht aber längerfristige politisch-programmati sehe Entwürfe 134 .
130
Vgl. Morales Solá (1992: 80.
131
El Periodista N° 168 (27. November bis 3. Dezember 1987: 5).
132
Dazu gehören zwei Papiere, die von den Erneuerem nahestehenden Intellektuellen ausgearbeitet wurden: Armada/González/Wainfeld (1986) u. Armada/Wainfeld (1988).
133
Mit Blick auf die Wahlen von 1987 wurde unter dem Titel "La Propuesta Peronista" eine Zusammenstellung von vier Dokumenten veröffentlicht. Das erste trug den Titel "Die peronistische Erneuerung, ein Projekt und ein Wille zur Transformation Argentiniens" [La Renovación Peronista, un proyecto y una voluntad para transformar a la Argentina]. Es war 1983 als offizielle Präsentation der Erneuerer verlesen worden und stammte aus der Feder von Carlos Alvarez und anderer Mitarbeiter der Zeitschrift "Unidos". Die Übrigen Dokumente ("An das Volk des Vaterlandes. Es ist Zeit für einen Wandel, Worte allein reichen nicht mehr aus" [AI pueblo de la patria. Es hora de cambiar, las palabras no alcanzan], "Die Demokratie konsolidieren, um das Land zu verändern" [Consolidar la democracia para transformar el país] und "Leitsätze des Justizialismus für ein alternatives Wirtschaftsprogramm" [Pautas del justicialismo para un programa económico alternativo] waren anläßlich der drei nationalen Zusammenkünfte der Kandidaten für die Gouverneurs- und Parlamentswahlen und die Wahlen der Distriktvorsitzenden des PJ entstanden, die ebenfalls 1987 stattfanden.
134
Zu dieser Kategorie gehören Bárbaro (1986a), Moncalvillo/Femández (1986), Garcia/Montenegro (1986), Menem/Arias (1986), Gordillo/Lavagno (1987) u. Frente Justicialista de la Renovación (1987).
159
Trotz der in den Jahren 1986 und 1987 durchgeführten Kongresse und Treffen konnte die Strömung der Erneuerer ihre organisatorische Schwäche nie überwinden. Nach der Niederlage bei den Parteiwahlen von 1988 stürzte sie wie ein Kartenhaus zusammen, und heute ist keine Spur mehr von ihr vorhanden. Im Hinblick auf die Partei im allgemeinen war die Situation kaum besser. Vicente Saadi sprach aus Erfahrung, als er die Anstrengungen der Erneuerer, nach ihrem Sieg bei den Wahlen von 1987 die institutionelle Reform der Partei voranzutreiben, folgendermaßen kommentierte: "Die Achsen der peronistischen Macht werden nicht durch die formalen Parteistrukturen verlaufen, denn nach dem 10. Dezember wird die Partei nicht mehr existieren, es wird sechzehn Gouverneure geben und ein strategisches Kommando, das, den Blick auf 1989 gerichtet, die wirkliche politische Schaltzentrale sein wird" 135 .
Niemals wurde eine Instanz geschaffen, die dazu in der Lage gewesen wäre, Informationen über alle Aspekte der Parteiarbeit zur Verfügung zu stellen. Die Direktoren des Centro Cultural Congreso - das seit Jahrzehnten funktionierte, als befinde es sich im Privatbesitz einiger Funktionäre - bezeichneten sich zwar selbst als die wichtigsten Spezialisten in Sachen "Justizialistischer Doktrin", dies hinderte sie jedoch nicht daran, alle Äußerungen zu ignorieren, die nicht mit ihren eigenen Positionen übereinstimmten. In der Bibliothek des Centro, die über keinerlei Katalog verfugte und nur mit besonderer Genehmigung konsultiert werden konnte, türmten sich die Publikationen aus der Zeit vor 1955, während sich die Suche nach aktuellen Schriften und Veröffentlichungen als vergeblich darstellte. Auch die Erneuerer bemühten sich nicht um eine systematische Erfassung und Archivierung ihres Wirkens. Die wenigen von ihnen veröffentlichten Dokumente wurden in privaten Sammlungen aufbewahrt, wenn überhaupt. Nicht einmal die Verfechter einer Institutionalisierung der Parteiarbeit und -strukturen hielten es für notwendig oder angemessen, den Text der neuen Satzung zu verbreiten, der konsequenterweise in den Basiseinheiten nicht zu finden war. Äußerungen des späteren Vizepräsidenten Eduardo Duhalde belegen, daß die Parteiorganisation nicht mehr war als ein provisorisches Gerüst: "[...] Die peronistische Partei besitzt in keiner bevölkerungsreichen Zone ein eigenes Büro. Sie sind alle angemietet, tauchen zu Wahlzeiten auf und schießen wie Pilze aus dem Boden. Dies ist ein Zeichen politischer Freiheit und Partizipation. Nach den Wahlen werden alle wieder geschlossen [...]" 136 .
Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Gegen alle Versprechen und Beteuerungen fand die Institutionalisierung des Justizialismus auch dieses Mal nicht statt. Als einzige mögliche Grundlage für die Bildung wirksamer interner ReV. Saadi, zitiert nach El Periodista N° 164 (30. Oktober bis 5. November 1987: 5). Eduardo Duhalde, zitiert nach El Periodista N ° 187 (8.-14. April 1988: 8).
160
striktionsmechanismen blieb nun die Identifikation der Mitglieder mit den ideologischen Inhalten des Justizialismus.
5.4 Die Rekonstruktion der Identität "Niemand weiß, was der Peronismus ist. Und weil es niemand weiß, stellt der Peronismus eine geradezu perfekte Ausdrucksform des Landes dar. Wenn ein Peronismus stürzt, wegen Korruption, eigenem Scheitern oder purem Verschleiß, so erhebt sich ein anderer Peronismus und sagt: 'Jener war eine Lüge. Was jetzt kommt, ist der wahre Peronismus'." (Eloy Martínez 1990)
Zur Zeit des Wiedererwachens der Demokratie in Argentinien befand sich das Identitätsprofil des Peronismus in einem ebenso Undefinierten Zustand wie seine Organisationsstrukturen. Die Übereinstimmungen beschränkten sich auf die gebetsmühlenartig wiederholte Formel von der "nationalen Volksbewegung" (movimiento nacional y popular). Nach der Niederlage bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 1983 spielte die Auseinandersetzung um die peronistische Identität eine grundlegende Rolle in den internen Kämpfen und auch bei der Festlegung des Außenprofils der neuen Opposition. Im Streit um das Erbe versuchten die "Waisen Peróns", die Legitimität ihrer Filiation durch Treueschwüre auf die "Peronistische Doktrin" zu belegen. In dieser Hinsicht unterschied sich die Haltung der Erneuerer nur wenig von der ihrer Gegner. Als beispielsweise 1985 eine Gruppe von dem Justizialismus nahestehenden Sozialwissenschaftlern eine empirische Studie über die Ursachen der Wahlniederlage von 1983 veröffentlichte 37, bevorzugte es Antonio Cafiero, der politische Pate der Untersuchung, die Ergebnisse der Arbeit, zu der er selbst ein enthusiastisches Vorwort verfaßt hatte, zu ignorieren und statt dessen einmal mehr eine Rückkehr zu den Ursprüngen zu propagieren: "Laßt uns unsere historische Identität als Hoffnung auf Wandel betonen. [...] Wir müssen die falschen Projekte besiegen, die uns infiltrieren. [...] Ziehen wir uns auf unsere essentielle Identität zurück. Wir brauchen weder viele Programme noch technische Pläne. Wichtig ist allein, daß wir uns als genuine Erben von Perón und Evita wissen [...]" 38.
In allen Versionen der Parteisatzung wurde betont, daß es sich ausschließlich um die von Perón selbst begründete Bewegung handelte. Beispielsweise war in den Statuten von 1986 zu lesen:
Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985). Maronese/Cafiero de Nazar/Waisman (1985: 13f.).
161
"Die Justizialistische Partei ist keine neue politische Kraft. Es handelt sich um die den Anforderungen des Gesetzes 23.298 angepaßte rechtliche Organisation der überwältigenden Mehrheit des argentinischen Volkes, die 1945 auf Anregung des Generals JUAN DOMINGO PERÖN als transzendentales historisches Phänomen ins Leben gerufen wurde"139.
Problematisch wurde es immer dann, wenn es um die Interpretation der Quellen ging. In dem Maße, wie jede der internen Gruppierungen für sich beanspruchte, den "echten Peronismus" zu repräsentieren, gaben sich alle als Orthodoxe aus. Dieser Begriff wurde allerdings als Bezeichnung für die nationalistischkorporatistische Version des Peronismus reserviert, deren wichtigstes Publikationsorgan die Zeitschrift "Linea" war und die durch ein im Oktober 1984 vom Comando Superior Justicialista verabschiedetes "Manual de Adoctrinadores Peronistas" quasi kanonisiert wurde. In dieser Handreichung waren Textzitate und Reden von Juan und Eva zusammengestellt, die zur Rechtfertigung der reaktionärsten Version des Justizialismus dienten, sowohl was dessen interne Organisation als auch die allgemeinen politischen Stellungnahmen anging. In dem Werk wurde eine Verschwörungstheorie entwickelt, gemäß der die "internationale Synarchie" (ein Begriff, der an keiner Stelle präzisiert wurde), sowohl in ihrer marxistischen als auch in ihrer liberalen Ausprägung, die Nation durch ideologische Penetration zu zerstören trachte. Der Peronismus galt seinerseits als "die Manifestation der Nation als solcher", und der Vertikalismus wurde durch den Hinweis gerechtfertigt, die "natürliche Führung" biete eine Garantie für die Einheit des Justizialismus 140 . In eine ähnliche Richtung gingen die Überlegungen von Herminio Iglesias, dessen Kritik sich gegen jene richtete die glaubten, "[sie verfügten] über die Autorität, um die Doktrin zu 'aktualisieren'", und die doch nichts anderes täten, als die Spaltung der Bewegung zu fördern. Seiner Ansicht nach war der Peronismus eine "aus der historischen Begegnung von Volk und Streitkräften hervorgegangene Bewegung" mit einer "humanistischen und christlichen Philosophie". Die Kritik von Iglesias richtete sich in erster Linie gegen die radikale Regierung, der er vorwarf, die Streitkräfte und die Kirche zu "diffamieren". Sie betreibe eine unverantwortliche Politik, durch die "die Werte unserer Nationalität zerstört" würden. Demgegenüber rief er zur Bildung einer nationalen Front auf, an der sich Arbeiter, Unternehmer, Akademiker und Freiberufler sowie Militärs und Priester beteiligen sollten. Auch die "hombres de campo"m müßten auf Seiten derer aktiv sein, "die das Vaterland vor den marxistischen Absichten verteidigen" 142 . Was diese Äußerungen besonders paradox erscheinen ließ, war die Tatsache, daß sie in der Zeitung "La Prensa" veröffentlicht wurden, die während der ersten Regierungszeit Peröns die Repräsentation der Opposition
Partido Justicialista (1986) (Hervorhebung d.V.). 140
Vgl. "Manual de Adoctrinadores Peronistas" 157ff.; 171.
141
Sammelbegriff fllr Landarbeiter und Großgrundbesitzer, wobei die Betonung auf letzteren liegt (d. V.).
142
Iglesias (1985).
162
übernommen hatte und infolgedessen jahrzehntelang als das anti-peronistische Pressemedium par excellence galt. Auch die Erneuerer mußten nach einer Legitimationsgrundlage sowohl für ihre Rolle innerhalb des Justizialismus als auch gegenüber der Regierung suchen. In diesem Sinne zeichnete sich ihr Diskurs durch zwei Argumentationsstränge aus: zum einen durch die traditionellen Topoi des peronistischen Diskurses, d.h. Rhetorik und Modellcharakter des Führers sowie Einheit und Doktrin der Justizialistischen Bewegung; zum anderen durch die neuen, von der post-diktatorialen argentinischen Gesellschaft hervorgebrachten Themen, konkret die Wiederaufwertung der Demokratie, der Ethik und der Politik sowie die Ablehnung von Gewalt. Um die beiden diskursiven Codes in Einklang miteinander zu bringen, wurde argumentiert, bei den Neuerungen handele es sich eigentlich gar nicht um solche, sondern diese seien vielmehr schon immer Teil des traditionellen Peronismus gewesen. Peronistische Positionen, die sich der demokratischen Öffnung verweigerten, würden dem "echten" Peronismus nicht entsprechen143. Die Erneuerer rechtfertigten die von ihnen geforderten Veränderungen mit dem Argument, diese seien die einzige mögliche Lösung in einer Situation, in der die Führerschaft Peróns nicht mehr für eine Konfliktschlichtung sorgen konnte. Sie formulierten ihre Vorschläge so, daß sie nicht als revolutionäre Neuheiten interpretiert werden konnten. Vielmehr bevorzugten sie es, diese als Rückkehr zu den Ursprüngen des Peronismus darzustellen. Cañero beispielsweise wurde niemals müde zu betonen: "Erneuerung [Renovación] bedeutet, ethymologisch gesprochen, zum Ausgangspunkt zurückkehren"144. Eine solche Argumentation erforderte eine neue Lesart der Geschichte des Justizialismus. In einer dichotomen Sichtweise wurden die negativen Aspekte den Orthodoxen zugeordnet und die positiven dem "echten" Peronismus, d.h. den Erneuerern. Die politische Geschichte Argentiniens wurde als eine Abfolge von Auseinandersetzungen zwischen zwei Antagonisten dargestellt, die sich immer treu blieben: auf der einen Seite die volksnationale Richtung, auf der anderen Seite die liberal-oligarchische. Eine solche Interpretation unterschied sich vom Geschichtsverständnis der Orthodoxen lediglich durch die Zuordnung der jeweiligen Rollen. Wenn die Erneuerer den 17. Oktober 1945 als Geburtsdatum des Peronismus bezeichneten, so diente ihnen dies sowohl dazu, die Spontaneität des Ursprungs der Bewegung zu betonen, als auch dazu, den Militärputsch von 1943 und die Verbindungen Peróns zu den Streitkräften zu verschweigen. Zudem erfüllte der ständige Rekurs auf die Äußerungen des alten Führers die doppelte Funktion, sich die Anerkennung der Zuhörer zu verschaffen und die Legitimität der Erneuerungsbewegung zu beweisen. Als Beleg für diesen Mechanismus bietet sich ein Zitat von Antonio Cañero an, das aus einer Rede stammt, die dieser im Februar 1987 anläßlich des Wahlkampfauftaktes auf der Plaza San Martin in Mar del Plata hielt: l4J
Vgl. Podetti/Qués/Sagol (1988).
144
interview mit Antonio Cafiero, abgedruckt in Gordillo/Lavagno (1987: 15).
163
"Wir sind diejenigen, die die beiden letzten Gebote erfüllen werden, die Juan Perón uns hinterlassen hat - bevor er uns für immer verließ [...]: "Nur die Organisation besiegt die Zeit', und wir haben uns organisiert; 'Mein einziger Erbe ist das Volk', und dort seid Ihr, Ihr als legitime Verwahrer des Vermächtnisses von Juan Perón"145.
Podetti, Qués und Sagol 146 haben die solchen Äußerungen zugrundeliegende Argumentationslogik in Form des folgenden Syllogismus dargestellt: Perón hat X gesagt Wir Erneuerer tun X Wir Erneuerer sind die authentischen Peronisten
Auf diese Art und Weise wurde die Legitimität der Erneuerungsbewegung von der Legitimität des Führers abgeleitet. Eine solche Logik schloß jede Möglichkeit einer Kritik an dem "Schutzheiligen der Bewegung" aus 147 . Nach Ansicht der Erneuerer hatte der Justizialismus erst nach dem Tod Peróns begonnen, Fehler zu machen. Diese von Seiten der Erneuerer propagierte Vorstellung von der Unantastbarkeit Peróns fand ihren Ausdruck in der wiederholten Betonung der beinahe prophetischen Gültigkeit seines Denkens, insbesondere der Äußerungen, die er in seinen letzten Lebensjahren gemacht hatte. Diese waren viel konzilianter als die Reden der ersten peronistischen Regierungen und ließen sich infolgedessen besser mit den neuen Themen der achtziger Jahre vereinbaren 148 . Nun mußten die Erneuerer sich nicht nur innerhalb des Justizialismus eine Legitimation aufbauen, sondern auch gegenüber den politischen Gegnern außerhalb der Bewegung Position beziehen. Auch in dieser Hinsicht wies sich ihr Diskurs durch die erwähnten Merkmale aus. Der traditionelle Peronismus hatte sich immer als Verfechter der "wirklichen Demokratie", d.i. sozialer Reformen, präsentiert und sich von der "formalen Demokratie" abgegrenzt, die in seinen Augen nichts anderes war als ein Vorwand des "liberalen und gegen das Volk agierenden" Feindes (el enemigo liberal y antipopular), um die sozialen Errungenschaften zu verhindern. In den 80er Jahren war dagegen die Demokratie ein für die Bevölkerung unverzichtbarer Wert geworden. Die Erneuerer griffen daher auf einige derjenigen Konzepte zurück, die der Alfonsinismus als seine eigenen präsentierte: Demokratie, Ethik und Modernisierung. Die Erneuerer kritisierten mit Nachdruck das demokratische Glaubensbekenntnis der Radikalen, aber ihre Angriffe richteten sich nicht gegen die Demokratie als solche, sondern 145
Zitiert nach Podetti/Qu6s/Sagol (1988: 97).
146
Podetti/Ques/Sagol (1988: 97).
147
Von Seiten der der Emeuererbewegung angehörenden Intellektuellen kam es zu einigen Versuchen, die kritische Analyse der peronistischen Geschichte zu vertiefen. Siehe dazu beispielsweise Armada/Gonzälez/Wainfeld (1986) und Armada (1984). Solche kritischen Ideen zirkulierten jedoch nur zwischen wenigen Eingeweihten, während alle öffentlichen Erklärungen der Erneuerer im Kern dem oben beschriebenen Mechanismus gehorchten.
148
Vgl. d e l p o l a ( 1 9 8 7 : 3 4 5 f f . ) .
164
entweder gegen die spezifische Auslegung dieser Idee durch die Regierung oder gegen deren Unfähigkeit, sie in die Praxis umzusetzen. Wenn der orthodoxe Peronismus die Regierung von rechts attackierte, so taten die Erneuerer dies von links: Sie bezeichneten die Demokratie der Radikalen als schwach, der Zeit nicht angemessen, liberal, unvollständig, ausgrenzend, partizipationsfeindlich, ineffizient und unfähig, Gerechtigkeit und Gleichheit zu garantieren. Demgegenüber vertraten die Erneuerer ein entgegengesetztes Paradigma: die Errichtung einer gerechten, freien, souveränen, partizipativen, stabilen, transparenten und reifen Demokratie 149 . Die peronistischen Erneuerer bemühten sich darum, den alten Disput über "formale Demokratie" versus "reale Demokratie" beizulegen, indem sie beide Konzepte als die zwei Seiten einer Medaille darstellten: "Eine Demokratie, die die Ungerechtigkeit verwaltet und sich gleichgültig gegenüber den Forderungen des Volkes verhält, verletzt auch die Garantien und die Freiheit. Wachstum und Gerechtigkeit korrespondieren nicht etwa unterschiedlichen Systementwürfen, sondern sie sind Teil einer einzigen und unteilbaren demokratischen Dimension"150.
Trotz entsprechender Vorwürfe seitens ihrer peronistischen Gegner hatten die Erneuerer nie die Absicht, sich von der Bewegungstradition des Peronismus loszusagen. Sie waren auch nicht ohne weiteres bereit, sich als pars partibus zu verstehen. Die erste Rede des Gouverneurs von Buenos Aires, Antonio Cafiero, vor dem Parlament dieser Provinz am 19.12.1987 belegt das Fortbestehen eines peronistischen Bewußtseins, das weiterhin Vorrang gegenüber allen anderen politischen Strömungen für sich beanspruchte: "[...] der Peronismus ist nicht nur eine politische Partei, sondern eine Volkstradition, deren Wurzeln in den Kämpfen der Föderalisten und in dem Demokratieverständnis Yrigoyens liegen [...] der Peronismus übernimmt die Regierungsverantwortung nicht als politische oder ideologische Teilkraft. Er übernimmt sie, wie er dies immer getan hat: als Rückgrat der nationalen Bewegung f...]"151.
Das andere neue Thema der Erneuerer war die Revision des interventionistischen Wirtschafitsmodells152, wobei sie sogar einige Themen des ökonomischen Liberalismus aufgriffen. Genauso wie in den anderen Fällen tauchten die Erneuerer auch bei diesem Thema in die peronistische Geschichte ab, um passende Präzedenzfalle zu suchen, und sie wurden fündig: Schon während der ersten peronistischen Regierung hatte man unter Wirtschaftsminister Gomez Morales eine Anpassungs- und Liberalisierungspolitik in Gang gesetzt. Cafiero selbst hatte dem damaligen Kabinett angehört. 149
Vgl. Podetti/Qués/Sagol (1988: 64ff.).
150
"La Propuesta Peronista" (1987: 8).
151
Zitiert nach Chumbita (1989a: 44) (Hervorhebung d.V.).
152
Vgl. Chumbita (1989b: 46ff ).
165
Die Stellungnahmen der Erneuerer hinsichtlich dieses issues waren jedoch nicht eindeutig. Einerseits erlangten einige liberale Ökonomen immer mehr Einfluß innerhalb des Flügels. Die 1987 erfolgte Kandidatur Guido di Tellas, eines langjährigen Peronisten, der der Unternehmerfraktion der Bewegung angehörte, für das Abgeordnetenhaus sorgte für Kritik, aber nicht für größere Überraschung. Der Fall Domingo Cavallo dagegen war eine neue Entwicklung von weitaus größerer Bedeutung: Der aus Cördoba stammende Ökonom, der 1987 als Listenkandidat des PJ ein Abgeordnetenmandat im Bundesparlament errang, gehörte nicht nur weder der Partei noch der Bewegung an, er war auch während einer kurzen, aber entscheidenden Zeitspanne in der Wirtschaftsverwaltung der letzten Militärregierung tätig gewesen. Andererseits wurden die größten Proteste gegenüber der "neoliberalen Versuchung" aus den Reihen der Erneuerer laut, insbesondere von Seiten der "kritischen Linken" 153 . Diese Gruppe versuchte, die Rolle des Peronismus als Gegenpol zu zwei anderen Alternativen neu zu definieren: zum einen gegenüber einer durch Kapitalkonzentration und rigide Strukturanpassungsmaßnahmen geprägten kapitalistischen Entwicklung, die von dem neoliberalen Diskurs ideologisch untermauert werde, zum anderen gegenüber der dem gleichen Leitbild verpflichteten, aber völlig ineffizienten Wirtschaftspolitik des Radikalismus. Demgegenüber müsse der neue Peronismus eine Alternative präsentieren, die für eine Wiederherstellung der politischen Schlagkraft der unteren Schichten sorge und es dadurch ermögliche, die durch die sozialen, kulturellen und politischen Probleme des Landes verursachten Konflikte im Rahmen der Spielregeln eines demokratischen Systems beizulegen 154 . In einer Situation wie der des Jahres 1988 waren allerdings weder die peronistische Basis noch die Gesellschaft insgesamt, die tagtäglich unter den Folgen der Anpassungspolitik zu leiden hatte, in irgendeiner Weise an technischen Diskussionen interessiert, zumal sich die Argumente der Regierung und der Opposition von Tag zu Tag mehr ähnelten. Carlos Menem bewies Gespür für diese Situation und distanzierte sich im Wahlkampf öffentlich von den Erneuerern und ihren Wirtschaftsfachleuten. Ausstaffiert wie ein Prow'mzcaudillo des 19. Jahrhunderts, verkündete der Mann aus La Rioja, er repräsentiere "den Peronismus Peröns". Er verbesserte seine Position auch dadurch, daß er sich auf den ideologischen Traditionalismus und den Gewerkschaftsapparat stützte und seine Appelle an die Marginalisierten richtete. Um so größer sollte die Überraschung sein, als Menem, nachdem er zum Präsidenten gewählt worden war, ausgerechnet Domingo Cavallo und Guido di Telia in sein Kabinett berief. Als Ergebnis bleibt hier festzustellen, daß die Mannigfaltigkeit der peronistischen Kräfte selbst die Aufrechterhaltung eines Diskurses bestimmte, der umfassend genug war, um den unterschiedlichsten ideologischen Richtungen einen Platz zu bieten. Es war nicht mehr Perön, der den umfassenden Diskurs aus153
Die Intellektuellen der Zeitschrift "Unidos" drückten ihre Kritik in zahlreichen Artikeln aus und widmeten dem Thema ein ganzes Heft (vgl. Unidos N° 18, April 1988).
154
Vgl. Landi (1988: 135f.)
166
drückte. Diese Rolle übernahmen jetzt die verschiedenen Exponenten des Justizialismus selbst, die die Unbestimmtheit der internen Legitimations- und Zuerkennungsregeln zu ihren Gunsten ausnutzen konnten. Wie Emilio de Ipola schon vor einigen Jahren treffend beschrieben hat: "[...] es ist zu beobachten, daß die fuhrenden Köpfe des Peronismus, einschließlich einiger prominenter Erneuerer, eine eigenartige und bislang ungestrafte Freiheit besitzen - und manchmal ausüben: die [Freiheit], unabhängig von dem Bekenntnis zur grundsätzlichen Treue, brüsk die Orientierung zu verändern, ihre Referenzpunkte ohne größere Erklärung zu modifizieren, jemanden zum Gegner zu erklären, der bis gestern noch ein bedingungsloser Verbündeter war, ohne deswegen an Prestige oder Legitimität einzubüßen. Dieses doppelte Spiel einer wirklichen oder vorgetäuschten, aber immer zum Ausdruck gebrachten Treue und einer jederzeit möglichen Kehrtwende zu einer völlig entgegengesetzten Position auf der unmittelbaren Ebene der konkreten Politik begründet den Vorwurf sowohl von Dogmatismus als auch von der absoluten Unberechenbarkeit der peronistischen Politik"155.
5.5 Zwischenbilanz IV Zwischen 1983 und 1989 entwickelte sich innerhalb des Justizialismus eine vielfaltige Konfliktdynamik. Zum einen kam es zu einem hochgradig symbolisch aufgeladenen ideologischen Disput um die Neudefinition der peronistischen Identität. Zum anderen entbrannte ein schonungsloser interner Machtkampf. Beide Auseinandersetzungen nahmen einen unterschiedlichen Verlauf, auch wenn es in kurzen Augenblicken zu Berührungspunkten kam, die sich durch einen Doppelcharakter auszeichneten: Für die Ideologen handelte es sich dabei um Grundsatzfragen, während die Akteure des internen Machtkampfs nichts anderes darin suchten als mehr oder weniger angemessene Taktiken zur Verbesserung ihrer internen Position. Wie nicht anders zu erwarten, wurden die Auseinandersetzungen sowohl auf Gewerkschafts- als auch auf Parteiebene ausgetragen. Überraschender war allerdings die Tatsache, daß einige der internen Konflikte außerhalb der Bewegung entschieden wurden, sei es im Zusammenhang mit nationalen Wahlen oder ganz einfach als Folge von Handlungen der Regierung, die eigentlich anderen Zwecken dienen sollten. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß während des gesamten Untersuchungszeitraums der Perönismus keine wirksamen internen Restriktionsmechanismen entwickeln konnte. Es kam weder zu einer Stabilisierung der internen Kräfteverhältnisse (das gilt sowohl für die Partei und die Gewerkschaften als auch für die Beziehung zwischen den beiden Säulen), die als de facto Restriktionsmechanismus hätten fungieren können, noch zur Etablierung fester institutioneller 155
de Ipola (1987: 372).
167
Regeln für die Beilegung interner Konflikte. Die wiederholten Statutenreformen erfüllten diese Aufgabe nicht, funktionierten sie doch lediglich als Mechanismus zur nachträglichen Bestätigung der jeweils existierenden Kräfteverhältnisse. Zudem konnte die peronistische Ideologie, die jenseits der stets beschworenen Treue kaum etwas Konkretes zu bieten hatte, auch nicht als Verbindungselement gelten. Ob dies, wie die These 7 unterstellt, zu einer Schwächung des Peronismus als Opposition während der Post-Transitionsphase führte, gilt es in den folgenden Kapiteln zu prüfen. Zu unterstreichen ist zudem, daß die ideologischen Divergenzen zwischen den verschiedenen peronistischen Sektoren in der Partei und in den Gewerkschaften sowie der Personalismus und die Unbeständigkeit, die die internen Allianzbildungen prägten, in den Augen vieler Politologen und großer Teile der argentinischen Öffentlichkeit als deutliches Zeichen dafür galten, daß es in absehbarer Zeit zu einer endgültigen Spaltung des Peronismus kommen würde. Daß dies jedoch nicht geschah, ist paradoxerweise mit der festgestellten Schwäche der internen Restriktionsmechanismen zu erklären.
168
6. Die Strategien der peronistischen Opposition im Rahmen der verschiedenen Handlungsebenen In diesem Kapitel werden die Strategien und Methoden der peronistischen Opposition in den unterschiedlichen, hier relevanten Arenen untersucht. Dabei geht es vor allem um die Überprüfung der Thesen 5 und 6. Im Sinne der ersten gilt es zu bestimmen, ob und inwiefern die peronistische Opposition die Konfliktaustragung von einer Arena auf eine andere verlagert hat, in der sie ihre Einflußmöglichkeiten als größer einschätzte. Bezüglich der zweiten stellt sich die Frage, ob der Peronismus auf die Oppositionsstrategien zurückgegriffen hat, die in der Vergangenheit erfolgreich gewesen waren. Ferner soll dieses Kapitel erste Hinweise bezüglich des Erfolgs oder Mißerfolgs der peronistischen Opposition in ihren Auseinandersetzungen mit der Regierung Alfonsin (These 7) liefern. Eine detaillierte Analyse der Inhalte und der Durchfuhrung der Regierungspolitik sowie der jeweiligen Reaktionen des Justizialismus gegenüber dieser Politik erfolgt in Kapitel 7. Die diesbezüglichen Bemerkungen im vorliegenden Kapitel dienen lediglich als Hintergrundinformationen zum besseren Verständnis. Zwei Konfliktfelder erfahren allerdings bereits hier eine besondere Beachtung: der langanhaltende Disput zwischen der nationalen Exekutive und den peronistischen Gouverneuren in der Frage der Aufteilung der Steuereinnahmen zwischen Zentralstaat und Provinzen und die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Gewerkschaften über eine Reform der Arbeitsgesetzgebung. Die Berücksichtigung dieser inhaltlichen Fragen bei der Analyse von Strategien wird dadurch gerechtfertigt, daß es sich in beiden Fällen nicht um typische Kontroversen zwischen alternativen politischen Positionen handelte. Vielmehr ging es bei diesen Konflikten um die Definition der Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume für oppositionelles Handeln.
169
6.1 Die peronistische Opposition im Parlament 6.1.1 Das argentinische Parlament In einem demokratischen politischen System kommt dem Parlament grundsätzlich eine herausragende Bedeutung für die Ausübung von Oppositionsfunktionen zu. Die konkreten Ergebnisse, die eine Partei in dieser Arena erzielen kann, hängen in der Praxis vor allem von den Funktionsmerkmalen des Parlaments, von der dort vorherrschenden Machtkonstellation und von der Rolle ab, die ein politischer Akteur der Legislative im Rahmen seiner Oppositionsstrategie einräumt. Die Verfassung von 1853 etablierte ein aus zwei Kammern bestehendes Bundesparlament mit einem direkt von der Bevölkerung gewählten Abgeordnetenhaus und einem Senat, dessen Mitglieder von den Provinzlegislativen bzw. im Falle des Hauptstadtdistrikts von einem Wahlmännerkolleg bestimmt wurden. Gemäß den Vorstellungen der Verfassungsväter sollte das Abgeordnetenhaus die Funktion eines direkten Repräsentanten der Volkssouveränität erfüllen, während der Senat zur Gewährleistung des föderativen Systems dem Willen der Provinzen Gehör verschaffen sollte 1 . Dem Parlament oblagen in erster Linie Funktionen im Bereich der Gesetzgebung sowie im Hinblick auf die Kontrolle der Regierung. In beiden Fällen haben sowohl institutionelle Gründe als auch die im Laufe der Geschichte von der Exekutive erworbene Macht dazu gefuhrt, daß die Befugnisse des Parlaments in der Praxis nur eingeschränkt zur Geltung kommen konnten. Die zur Zeit der Regierung Alfonsin gültige Verfassung sah vor, daß die reguläre Sitzungsperiode des Kongresses vom 1. Mai bis zum 30. September eines jeden Jahres dauerte. Nur die Exekutive konnte sie verlängern oder außerordentliche Sitzungen einberufen. In diesem Fall bestand eine weithin akzeptierte Praxis darin, ausschließlich die von der Exekutive selbst eingebrachten Gesetzesvorlagen zu behandeln 2 . Der dreistufige Gesetzgebungsprozeß erforderte eine Beteiligung der beiden Parlamentskammern und des Staatspräsidenten: a) Initiative (sie konnte, von einigen Ausnahmen abgesehen, sowohl von einer der beiden Kammern als auch von der Exekutive ausgehen), b) Verabschiedung (durch das Parlament) und c) Verkündung (durch den Präsidenten). Die Exekutive verfugte außerdem über ein Vetorecht, das eine Einschränkung der gesetzgeberischen Befugnis des Parlaments darstellte, denn ein präsidentielles Veto konnte nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern überstimmt werden 3 . Die Kontrollfunktionen des Parlaments gegenüber der Regierung umfaßten folgende Zuständigkeiten: Festlegung des Bundeshaushalts, Aufnahme von 1
Vgl. CNA Art. 3 6 , 3 7 , 4 6 .
2
Vgl. CNA Art. 55.
3
Vgl. CNA Art. 72.
170
Krediten, Management der Staatsschulden und Ratifizierung internationaler Verträge. Außerdem benötigte die Exekutive die Zustimmung des Senats zur Ernennung von Richtern des Obersten Gerichtshofs und an den übrigen Bundesgerichten sowie zur Besetzung der Ämter im obersten Offizierskorps der Streitkräfte. Beide Kammern verfugten über das Recht, die Mitglieder des Kabinetts einer Befragung zu unterziehen. Das Abgeordnetenhaus konnte mit einer Zweidrittelmehrheit ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Minister wegen allgemeiner Verbrechen, mangelhafter Erfüllung der Dienstpflichten oder Delikten bei der Ausübung der Amtsgeschäfte einleiten. Für den erfolgreichen Abschluß eines solchen Verfahrens war eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Senats notwendig4. Aus verschiedenen Gründen konnte das argentinische Parlament seine von der Verfassung vorgesehenen Kontrollfunktionen in der Praxis nicht effizient wahrnehmen. Zum Teil hängt dies mit dem Regierungssystem selbst zusammen. In einem präsidentiellen Regime kann die Befragung von Mitgliedern der Exekutive durch das Parlament zwar u.U. einen wichtigen symbolischen Charakter erhalten, aber der Legislative stehen in der Regel keinerlei Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung, insofern der Präsident nicht dazu gezwungen werden kann, seine Minister zu entlassen. Das Amtsenthebungsverfahren ist lediglich für Extremfalle vorgesehen und stellt keinen geeigneten Mechanismus zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten dar. Zudem birgt ein solches Verfahren die Gefahr eines äußerst starken Bruchs mit der institutionellen Ordnung in einem Kontext, in dem die Exekutive über eine eigenständige Legitimation durch Wahlen verfügt5. Aber die größten Schwierigkeiten des argentinischen Parlaments, seine verfassungsmäßigen Funktionen auszuüben, waren auf die politischen Gewohnheiten und insbesondere auf die Auswirkungen der wiederholten Militärherrschaften zurückzufuhren, deren Dauer und Häufigkeit zwischen 1930 und 1983 stetig zunahmen. Die Militärregierungen bestimmten einen neuen Staatspräsidenten, und manchmal tauschten sie auch die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs aus, ohne daß diese Institutionen an sich dadurch automatisch ihre Funktionen eingebüßt hätten. Das Bundesparlament dagegen wurde regelmäßig aufgelöst, so daß der Kongreß zwischen 1930 und 1983 insgesamt 22 Jahre lang nicht arbeiten konnte6. Dadurch wurde nicht nur die Kontinuität des Parlaments als Institution, sondern auch die Erfahrung und Effizienz der Abgeordneten sowie das öffentliche Ansehen der Legislative erheblich beeinträchtigt.
4
Vgl. CNA Art. 45, 5 1 , 5 2 , 6 3 , 6 7 u. 86.
5
Daher ist es kein Zufall, daß in der gesamten Geschichte des Landes niemals ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten oder Vizepräsidenten eingeleitet wurde. 1975/76 wurde aber die Möglichkeit einer Anklage gegen Isabel Perón spekuliert, um in einem Kontext gravierender Spannungen einen Wechsel an der Spitze der Exekutive im Rahmen der institutionellen Spielregeln in die Wege zu leiten, aber die notwendige Mehrheit kam nicht zustande. Einmal mehr löste der Militärputsch die Frage mit einem Federstrich.
'
Vgl. Molinelli (1991: 143fT.).
171
Die Bestimmungen der Verfassung von 1853 sorgten außerdem dafür, daß die Dauer der Parlamentsmandate nicht mit der Amtszeit des Präsidenten übereinstimmte. Die Abgeordneten wurden für vier Jahre gewählt, aber alle zwei Jahre wurde die Hälfte der Mandate erneuert7. Die Mitglieder des Senats amtierten zwar für neun Jahre, aber alle drei Jahre mußte ein Drittel der Senatoren ausgetauscht werden8. So konnte ein für sechs Jahre gewählter Staatspräsident im Verlauf seiner Amtszeit mit sehr unterschiedlichen Konstellationen im Parlament konfrontiert werden. Genau dies geschah während der Regierungszeit von Präsident Alfonsin.
6.1.2 Die Machtkonstellation während der Regierung Alfonsin Die Wahlen von 1983 verschafften dem Radikalismus eine absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus (129 von 254 Mandaten), womit die Regierungspartei über ein eigenes Quorum verfügte9. Die Justizialistische Partei kam auf 111 Mandate10. Die Parlamentswahlen von 1985 veränderten diese Situation nicht grundlegend. Die Radikalen behielten ihre 129 Mandate, während der Justizialismus einige Sitze einbüßte und nur noch auf 101 kam. Die Wahlen von 1987 führten dagegen zu einer deutlichen Modifikation der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses. Die UCR verlor ihre absolute Mehrheit und verfugte von jetzt an nur noch über 113 Abgeordnete, auch wenn der Justizialismus mit jetzt 103 Mandaten keinen signifikanten Zuwachs verzeichnen konnte. Zu erwähnen ist außerdem, daß die drei Abgeordneten der Christdemokratischen Partei und des Partido Renovador de Buenos Aires auf Listen des Partido Justicialista Frente Renovador ins Parlament einzogen. Die übrigen Abgeordneten gehörten kleineren Parteien an, unter denen der Unión del Centro Democrático (UCeDé) mit sieben Parlamentariern die größte Bedeutung zukam". Im Senat dagegen verfügte die UCR nie über eine eigene Mehrheit. 1983 stellte der Justizialismus 21 von 46 Senatoren, während die Regierungspartei nur auf 18 kam und die 7 übrigen auf verschiedene Provinzparteien entfielen12. Diese Stimmenverteilung blieb bis 1989 unverändert.
7
Vgl. CNA Art. 42.
'
Vgl. CNA Art. 48.
' 10
Dies war insofern wichtig, als das Parlament nach Art. 56 der Verfassung nur beschlußfähig ist, wenn die absolute Mehrheit der Abgeordneten anwesend ist. Vgl. de Riz/Feldman (1990: 65).
"
Vgl. de Riz/Feldman (1990: 67).
12
Vgl. de Riz/Feldman (1990: 69f.).
172
Schaubild 6: Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses (1983-1989) 1983-1985 Mandate
1985-1987
%
Mandate
1987 -1989 %
Mandate
%
UCR
129
50,8
129
50,8
113
44,5
PJ
111
43,7
101
39,7
103
40,5
2
0,8
3
1,2
7
2,7
UCeDé PI
3
1,2
6
2,4
5
Andere
9
3,5
15
5,9
26
2,1 10,2
254
100,0
254
100,0
254
100,0
Total
Quelle: de Riz/Adrogué (1991: 293).
Schaubild 7: Zusammensetzung des Senats (1983-1989) %
Senatoren UCR
18
39,1
PJ
21
45,7
Provinzparteien Total
7
15,2
46
100,0
Quelle: de Riz/Adrogué (1991: 293).
Die peronistischen Mandatsträger waren alles andere als eine homogene Opposition. Als das Abgeordnetenhaus seine Arbeit aufnahm, lag die Führung des "Justizialistischen Blocks" 13 in den Händen von Diego Ibànez, aber nur wenig später kam es aufgrund interner Konflikte zu einer Spaltung. Eine Zeitlang war es nicht möglich, eindeutig festzustellen, welcher Abgeordnete jeweils welcher Gruppe angehörte. Am 20. März 1985 konstituierte sich offiziell der "Peronistische Block" und im Mai der "Block der Justizialistischen Einheit" unter Vorsitz von Diego Ibänez, während der geschwächte "Justizialistische Block" jetzt von José Luis Manzano angeführt wurde, der bislang als dessen stellvertretender Vorsitzender agiert hatte14. Nach den Parlamentswahlen von 1985, an denen sich verschiedene justizialistische Listen beteiligten, verliefen
In Übereinstimmung mit der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses können Gruppen von drei oder mehr Parlamentariern "entsprechend ihrer politischen Affinitäten" Blöcke bilden, ohne daß es erforderlich wäre, daß die Mitglieder eines Blocks derselben Partei angehören. Andererseits kann ein Block aus lediglich einem oder zwei Abgeordneten bestehen, wenn diese einer bereits vor den Wahlen existierenden politischen Partei angehören. Die formale Existenz eines Blockes beginnt, sobald dessen Mitglieder dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses die Zusammensetzung des Blockes und seine FUhrungsriege mitteilen. Blöcke können Uber Hilfspersonal aus dem Haushalt des Abgeordnetenhauses verfügen. Deren Sprecher stehen auch besondere Rederechte zu (vgl. Cámara de Diputados de la Nación (1988: Art. 55, 56 u. 57). Vgl. D.S.C.D. (1984: XI 6802); (1985: I 150).
173
die Trennungslinien deutlicher. Der "Justizialistische Block" verfugte über 62 Abgeordnete, der "Block der Justizialistischen Einheit" über 23, und der "Peronisrische Block" über 3. Hinzu kam der aus nur einem Abgeordneten bestehende "Block FREJULI Catamarca", und im März 1986 meldete sich offiziell der bereits de facto existierende, aus acht Abgeordneten bestehende "Peronisrische Block 17. Oktober". Schließlich gab es noch vier peronisrische Parlamentarier, die keinem Block angehörten15. Nach den Wahlen von 1987 machte sich das Übergewicht der Erneuerer auch im Parlament bemerkbar. Im Februar des darauffolgenden Jahres kam es zur Vereinigung des "Justizialistischen Blocks" mit dem "Block der Justizialistischen Einheit", dem sich bereits die Mitglieder des "Peronisrischen Blocks" angeschlossen hatten. Der vergrößerte, nach wie vor von Manzano angeführte "Justizialistische Block" bestand jetzt aus 97 Abgeordneten, während "FREJULI Catamarca" aus zwei und der "Block 17. Oktober" lediglich aus einem Parlamentarier bestand. Drei weitere peronistische Mitglieder der Legislative schlössen sich nach wie vor keinem der Blöcke an16. Auch im Senat bildeten sich verschiedene peronistische Blöcke: der "Block 17. Oktober", der von Martiarena angeführte "Justizialistische Block" und der "Justizialistische Block" unter Rodriguez Saa. Einige Senatoren schlössen sich keinem dieser Blöcke an17. Schaubild 8: Justizialistische Blöcke im Abgeordnetenhaus (1983-1989) 18 1985-1987
1983-1985*
1987-1989
Justicialista
Justicialista
62
Unidad Justicialista
Unidad Justicialista
23
Peronista
Peronista
3
Per. 17 de Octubre
Per. 17 de Octubre
8
Per. 17 de Octubre
FREJULI Catamarca
1
FREJULI Catamarca 2
Unabhängige
4
Unabhängige
Total
111
Total
101
Justicialista
Total
97
1 3 103
* Detailangaben fllr diese Zeit liegen nicht vor. Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage der zitierten Quellen
Vgl. D.S.C.D. (1985: X 7232); de Riz/Feldman (1990: 24; 66). Vgl. D.S.C.D. (1987: VI 4928); de Riz/Feldman (1990: 67). Vgl. de Riz/Feldman (1990: 70). Die Veränderungen bei der Zusammensetzung der Blöcke fielen nicht genau mit dem Beginn der einzelnen Legislaturperioden zusammen, sondern ergaben sich mit einer gewissen Verspätung. Auch die Anzahl der jeweils einem Block angehörenden Abgeordneten stellt lediglich einen Annährungswert dar, da die verschiedenen Gruppierungen permanenten Fluktuationen unterlagen.
174
Die Geschäftsordnung sieht vor, daß die verschiedenen politischen Strömungen in den Ausschüssen nach Möglichkeit im gleichen Verhältnis repräsentiert sein müssen wie im Plenum, und daß die Ausschußvorsitzenden mit Mehrheit der Stimmen gewählt werden 19 . Da sowohl die erste Spaltung des "Justizialistischen Blocks" als auch die folgenden Anpassungsprozesse jeweils erst nach jener vorbereitenden Sitzung stattfanden, in der über die Zusammensetzung der Ausschüsse für die gesamte Sitzungsperiode entschieden wird, entsprach die Repräsentation der verschiedenen peronistischen Blöcke in den Ausschüssen nicht deren jeweiliger aktueller Stärke. 1986 existierten 26 ständige Ausschüsse mit je drei Führungspositionen (Vorsitz, stellvertretender Vorsitz, Sekretär). Von diesen 78 Posten entfielen 64,1% auf die UCR, 33,3% auf den PJ und nur 2,56% auf den PI20. Obwohl der Radikalismus 1988 seine absolute Mehrheit einbüßte, stellte er mit 53,57% nach wie vor den größten Teil der Führungspositionen der Ausschüsse. Ein ähnliches Bild ergab sich im Senat, wo Radikale und Peronisten über jeweils die Hälfte der Führungspositionen verfugten, obwohl der PJ drei Senatoren mehr stellte als die Regierungspartei 21 .
6.1.3 Die Rolle des Parlaments in der Strategie der Opposition Im Prinzip kann die parlamentarische Arena von der Opposition mit unterschiedlichen Zielsetzungen benutzt werden. Erstens bietet sie eine Möglichkeit zur Beteiligung am Gesetzgebungsprozeß. Zweitens funktioniert das parlamentarische Forum wie ein "Resonanzkörper", der die Wirkung von kritischen Äußerungen gegenüber der Regierungspolitik verstärkt und den Widersachern die Möglichkeit verschafft, sich vor der Öffentlichkeit zu profilieren. Das Agieren im Kongreß ermöglicht den Parteien ebenso, die Funktion eines "Transmissionsriemens" gesellschaftlicher Forderungen auszuüben. Außerdem können Parlamentsmandate auch als strategische Ressource eingesetzt werden, um die Position innerhalb der eigenen politischen Gruppierung zu stärken. Im Rahmen ihrer Strategien wußte sich die peronistische Opposition aller dieser Möglichkeiten zu bedienen, auch wenn sie nicht allen die gleiche Bedeutung einräumte. 6.1.3.1 Die Mitwirkung am Gesetzgebungsprozeß Wie bereits erwähnt, verfügte der Radikalismus zwar bis 1987 über die Möglichkeit, Gesetzesvorlagen mit seiner eigenen Mehrheit durch das Abgeordnetenhaus zu bringen, er besaß jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Kontrolle über den Senat. Trotzdem verabschiedete das Parlament während der Regierungszeit von Präsident Alfonsin nicht weniger als 645 Gesetzesvorlagen 22 , was ohne eine "
Vgl. Cámara de Diputados de la Nación (1988: Art. 87; 88).
20
Vgl. Goretti/Panosyan (1986a: 32ff.).
21
Vgl. de Riz/Feldman (1990: 78ff.; 91ff.).
22
Vgl. Goretti/Mustapic (1993: 12).
175
gewisse Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Parteien nicht möglich gewesen wäre. Da von wenigen Ausnahmen abgesehen im Plenum keine namentlichen Abstimmungen stattfinden, kann diese Zusammenarbeit zunächst nur anhand des Verhaltens der Parteien in den Ausschüssen belegt werden. 89% der verabschiedeten Gesetzesvorlagen verfugten über ein mit einer Mehrheit aus UCR und PJ beschlossenes befürwortendes Ausschußvotum. Mit fortschreitender Regierungsdauer nahm die Zahl der gemeinsam von UCR und PJ verabschiedeten Vorlagen zu: Im Abgeordnetenhaus stieg sie von 82% in den Jahren 1983-1985 über 89% (1986-87) bis auf 90% (1988-89). Die entsprechenden Anteile im Senat fielen mit 88%, 92% und 97% sogar noch höher aus. Der Anteil einstimmig oder in Zusammenarbeit angenommener Regierungsvorlagen erreichte seinen Höchststand in den Jahren 1986-1987. Die Tatsache, daß die Regierung in erster Linie auf eine Abstimmung mit dem Justizialismus und nicht etwa, wie man hätte erwarten können, auf die Unterstützung von kleineren Parteien setzte, wirft ein Licht darauf, wie weit die Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Parteien reichte. Ein anderes Indiz, das in die gleiche Richtung weist, ist die Tatsache, daß von den angenommenen Gesetzesvorlagen aus den Reihen der Legislative etwa gleich große Anteile auf Initiativen der Radikalen Partei (18%) und der Peronisten (15%) zurückgingen 23 . Dies veranlaßte Goretti/Mustapic zu folgender Schlußfolgerung: "[...] In der Regel erfolgte die Verabschiedung der Gesetze nach dem Einstimmigkeitsprinzip. Es ist bekannt, daß Einstimmigkeit nicht leicht herzustellen ist. In Anlehnung an Norberto Bobbio [kann man sagen], daß sie bei trivialen Fragen oder bei gravierenden Umständen erzielt wird. Unsere Untersuchung veranlaßt uns zu dem Gedanken, daß der Rückgriff des Kongresses auf das Einstimmigkeitsgebot zu einem guten Teil als eine Antwort auf die zweite Möglichkeit zu verstehen ist, ohne deshalb das Auftreten der ersten auszuschließen. Unseres Erachtens bestand die außergewöhnliche Situation in der Gefahr einer institutionellen Lähmung. Um sie zu verhindern, operierten Radikale und Justizialisten schließlich auf der Grundlage einer extremen Kooperationsformel, der Einstimmigkeit"24.
Soviel Harmonie mutet allerdings etwas verdächtig an, denn sie steht in augenscheinlichem Widerspruch zu der ablehnenden Haltung, die der Justizialismus damals gegenüber der Regierungspolitik öffentlich zum Ausdruck brachte. Und auch eine Lektüre der Presseveröffentlichungen aus diesen Jahren vermittelt den Eindruck, daß die Opposition die Regierungsinitiativen im Parlament blockierte. Wie sind solche Diskrepanzen zu erklären? Erstens wurden die Entscheidungen nicht in allen Fällen einstimmig getroffen. Die größten Divergenzen traten in den Ausschüssen für Strafrecht, Steuern und Fiskalpolitik, Wohnungsbau und vor allem im Haushaltsausschuß zutage 25 . Goretti/Mustapic weisen darauf hin, daß der PJ zwar bei den grundlegenden Vgl. Mustapic/Goretti (1992: 255ff.); Molinelli (1991: 116). Goretti/Mustapic (1993: 35). Vgl. Mustapic/Goretti (1992: 263f.).
176
Haushalts-, Steuer- und Fiskalgesetzen gegen die Regierung stimmte, aber durch die Bereitstellung des für eine Verabschiedung notwendigen Quorums trotzdem kooperierte. Ein solches Verhalten zeigt ihrer Ansicht nach, "daß Radikale und Peronisten angesichts des Fehlens einer politischen Übereinkunft eine institutionelle Übereinkunft einfädelten, die dazu dienen sollte, die demokratische Kontinuität zu garantieren und so eine Lähmung der Regierung zu verhindern"26.
Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn die Verabschiedung des jährlichen Haushalts fand praktisch am Ende der regulären Sitzungen, d.h. eigentlich kurz vor Ablauf der jeweiligen Geltungsdauer des gebilligten Haushalts statt27. Berücksichtigt man die hohe Inflation, vor deren Hintergrund dies passierte, so wird deutlich, daß diese verspätete Verabschiedung in keinerlei Weise dazu beitrug, eine mögliche Lähmung der Regierung zu verhindern. Sie konnte allenfalls zur nachträglichen Legitimation von Entscheidungen dienen, die die Regierung bereits getroffen hatte, ohne deren Billigung durch das Parlament abzuwarten. Zweitens schließt eine Analyse, die sich auf die verabschiedeten Vorlagen beschränkt, von vornherein jene wirklich kontroversen Fälle aus, die keine Mehrheit fanden. Angesichts eines möglichen gegenseitigen Vetos konnten nur solche Vorlagen angenommen werden, die über die Unterstützung der Regierungspartei und der Opposition - oder zumindest irgendeiner Fraktion des PJ verfugten. Alle übrigen Gesetzesvorlagen blieben auf der Strecke. So scheiterten nicht weniger als 40% der durch die Exekutive eingebrachten Vorlagen. Einige von seiten des Justizialismus vehement abgelehnte Regierungsvorhaben, beispielsweise die Modifikation der Richtlinien für die Obras Sociales28 oder die geplante Reform des Krankenversicherungssystems, wurden nicht einmal in den Ausschüssen behandelt. In einigen Fällen veranlaßte die geschlossene Ablehnung von Initiativen durch die Opposition die Regierung dazu, bereits eingebrachte Gesetzesvorlagen wieder zurückzuziehen. Dieses Schicksal widerfuhr beispielsweise einem Versuch der Exekutive, Kollektivverhandlungen auf das Thema Arbeitsbedingungen zu beschränken und Lohnvereinbarungen davon auszuschließen29. Die Auswirkungen der herrschenden Kräfteverhältnisse auf den Handlungsspielraum von Regierungs- und Oppositionspartei wurden unmittelbar nach Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die UCR deutlich. Als die Exekutive dem Parlament ihre Gesetzesvorlage für eine Neuorganisation der Gewerkschaften, die sogenannte "Ley Mucci" zuleitete, wurde es von den justizialistischen Abgeordneten rundweg abgelehnt. Die Peronisten betrachteten dieses Projekt zur Demokratisierung der Arbeiterbewegung, durch das eine Berück26
Goretti/Mustapic ( 1993: 35).
27
Vgl. Molinelli (1991: 173).
28
Mehr dazu in Abschnitt 6.3 .1 dieses Kapitels.
29
Vgl. de Riz (1994: 39; 1 0 7 f , Fußnoten 23 u. 24).
177
sichtigung von Minderheiten in den Führungsgremien der Gewerkschaften garantiert werden sollte, als direkten Angriff auf sich selbst. Ohne eine Unterscheidung zwischen seiner Rolle als Gewerkschafter und der als Parlamentarier zu treffen, faßte der Abgeordnete Lorenzo Pepe diese Sichtweise folgendermaßen zusammen: "Wir verurteilen weder den ideologischen Pluralismus noch die Minderheitssektoren, aber uns ist klar, was sich dahinter verbirgt: Indem die Arbeiterbewegung zerstört wird, zerstören sie auch den Peronismus; wir sind der Lebensquell, das Herz der politischen Bewegung"30.
Im Abgeordnetenhaus machte die Regierung keinen Versuch, zu einer Übereinkunft mit der Opposition zu gelangen, sie stützte sich ganz einfach auf die dort herrschenden Mehrheitsverhältnisse. Trotz hitziger Debatten wurde die Gesetzesvorlage dort ohne größere Schwierigkeiten gebilligt. Anders stellte sich die Situation im Senat dar. Dort sah sich die Regierung dazu gezwungen, nach der Unterstützung der kleineren Parteien zu suchen, scheiterte aber mit diesem Bemühen. Die Gesetzesvorlage wurde abgelehnt 31 . Die aus dieser ersten Erfahrung gezogenen Schlußfolgerungen sollten die zukünftigen Beziehungen zwischen Regierung und Opposition und somit auch zwischen Exekutive und Parlament bestimmen. In einer Reihe von wichtigen Fällen entschied sich die Regierung für die Einsetzung außerparlamentarischer Strategien, um ihren Willen durchzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür war die Durchfuhrung eines Referendums mit dem Ziel, Druck auf die justizialistischen Senatoren auszuüben, die sich weigerten, einen mit Chile unterzeichneten Vertrag zur Beilegung des Beagle-Konfliktes zu ratifizieren. Obwohl die Regierungsinitiative im Referendum mit großer Mehrheit angenommen wurde, wurde sie im Senat mit der knappen Mehrheit von lediglich einer Stimme verabschiedet 32 . Ein anderes von der Regierung eingesetztes Mittel, um Blockadesituationen auszuweichen, war der Rückgriff auf die Not- und Dringlichkeitsdekrete. Alfonsin erließ zehn derartige Dekrete 33 und begründete dies in allen Fällen mit der schwierigen finanziellen und ökonomischen Situation des Landes. Zu den wichtigsten gehörten das Dekret 1.096/85, mit dem der Plan Austrat und die Währungsreform in Kraft gesetzt wurden, das Dekret 2.192/86, mit dem die Entlohnungsrichtlinien für die öffentliche Verwaltung des Bundes aufgehoben wurden, das Dekret 2.196/86, mit dem der Notstand für das Rentensystem er-
50
Zitiert nach de Riz (1989: 17).
51
Vgl. de Riz (1989: 15ff.).
32
Vgl. D.S.C.S. (1984: IV 3531) [Die endgültige Abstimmung erfolgte in einer außerordentlichen Sitzung am 13./14. März 1985.].
33
Diese Zahl ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß alle verfassungsmäßigen Regierungen zwischen 1853 und 1983 zusammen nur insgesamt 20 Dringlichkeitsdekrete erließen. Im Vergleich zu den 336 Dekreten, die die Regierung Menem erließ, ist die Zahl allerdings bescheiden (vgl. Ferreira Rubio/Goretti (1994:4).
34
Mehr dazu in Abschnitt 7.1.3 dieser Arbeit.
178
klärt und alle diesbezüglichen Gerichtsverfahren eingestellt wurden, und das Dekret 632/87, mit dem der Notstand für die Landwirtschaft verkündet wurde 35 . Aber nicht alle Fragen konnten auf außerparlamentarischem Weg gelöst werden, weshalb sich die Regierung auch zu Verhandlungen gezwungen sah. Zunächst schien die in den Reihen des Justizialismus herrschende Unordnung für die Exekutive günstig zu sein, da diese nicht mit einer organisierten Opposition konfrontiert war. Gleichzeitig fehlte ihr dadurch aber auch die Möglichkeit zu Verhandlungen mit einem kalkulierbaren, eindeutige Positionen vertretenden Gesprächspartner. Bereits kurz nachdem der Kongreß Anfang 1984 seine Arbeit aufgenommen hatte, klagten die UCR-Abgeordneten über solche Schwierigkeiten und protestierten, weil sie "mit zwanzig Sektoren und Subsektoren [sprechen mußten], um das gleiche Ergebnis zu erzielen: keines" 36 . Anders als man denken könnte, waren die erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen nur selten substantiellen Charakters. Eher handelte es sich um eine Art Feilschen zwischen Regierung und justizialistischen Senatoren, wobei Stimmen gegen Vergünstigungen getauscht wurden. Konkret brachte dies der Opposition die Berufung vieler ihrer Mitglieder in wichtige Ämter und die Durchfuhrung von verschiedenen (Bau)Projekten auf Kosten der Zentralregierung in den von peronistischen Gouverneuren regierten Provinzen. Da die Zustimmung des Senats unabdingbar für die Ernennung von Richtern und Botschaftern ist, konnte die peronistische Opposition auch in diesem Bereich ihr Gewicht zur Geltung bringen. Entscheidend war dabei das Verhandlungsgeschick des justizialistischen Senators Vicente Saadi, der in seinem Feilschen mit der Regierung erreichte, daß in den von seiner Partei regierten Provinzen nur Peronisten als Bundesrichter ernannt wurden, daß die Bundesgerichte jeweils zur Hälfte aus Radikalen und Peronisten bestanden und daß der Justizialismus ein Drittel aller Richter der Bundeshauptstadt stellen konnte 37 . Welche schwerwiegenden Konsequenzen die durch die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern verursachte Blockadesituation heraufbeschwören konnte, wurde angesichts der verspäteten Verabschiedung eines für die Handhabung damals grundlegender politischer Probleme unbedingt notwendigen Rechtsinstruments deutlich, des Verteidigungsgesetzes 38 . Die Gesetzesvorlage der Regierung wurde dem Abgeordnetenhaus - bereits recht spät im Jahr 1985 unterbreitet und dort ohne Unterstützung der Peronisten verabschiedet. Im Senat präsentierte der PJ drei voneinander abweichende eigene Vorlagen, aus denen als Kompromißlösung eine neue Vorlage hervorging, die die Zustimmung des Senats fand. Diese wurde wiederum dem Abgeordnetenhaus zugeleitet, wo sie auf Ablehnung stieß. Erst Ende 1987, nach den militärischen Unruhen der Osterwochen und kurz vor der zweiten militärischen Revolte von Oberstleutnant Rico, legten die UCR und der inzwischen von den ErneueVgl. Ferreira Rubio/Goretti (1994: 4). El Bimestre 13 (1984: 58). Vgl. Morales Solä(1992: 81 f.). Mehr dazu in Abschnitt 7.2 dieser Arbeit.
179
rem geführte PJ eine gemeinsame Gesetzesinitiative vor. Diese Vorlage wurde im April 1988 schließlich auch vom Senat gebilligt 39 . Die Regierung Alfonsin mußte also fast während ihrer gesamten Amtszeit ohne einen gesetzlichen Rahmen auskommen, durch den die Kompetenzen der Streitkräfte und deren Beziehungen zu den zivilen Machthabern geregelt wurden. Obwohl sie im Abgeordnetenhaus nicht über die Mehrheit der Stimmen verfügten, konnten die Peronisten auch dort Regierungsinitiativen blockieren, indem sie deren Behandlung verzögerten oder die Abhaltung von Sitzungen verhinderten. In den Jahren 1983 bis 1989 konnten etwa 40% der vorgesehenen Sitzungen entweder überhaupt nicht stattfinden oder mußten vertagt werden, weil kein ausreichendes Quorum vorhanden war 40 . In dieser Rechnung sind nicht einmal jene Fälle berücksichtigt, in denen auf eine Einberufung ganz verzichtet wurde, weil von vornherein absehbar war, daß das erforderliche Quorum nicht zustande kommen würde. Für das fehlende Quorum war jedoch nicht immer die Opposition verantwortlich, hingegen konnten in mehr als einem Fall Sitzungen überhaupt nur deshalb stattfinden, weil diese durch ihre Anwesenheit erst die Voraussetzungen dafür schuf. Bei zahlreichen Gelegenheiten wurden jedoch Drohungen von Seiten des Justizialismus laut, der Kammer das notwendige Quorum zu verweigern, um die Verabschiedung von Gesetzesinitiativen zu verhindern, die auf eine einfache Mehrheit zählen konnten. Die dramatischsten derartigen Vorfalle ereigneten sich ab 1987, nachdem die Regierungspartei nicht mehr über eine absolute Mehrheit verfügte. Im Jahr 1989 ordnete der Präsident des Abgeordnetenhauses wiederholt an, die Saaltüren zu schließen, um die Abgeordneten am Verlassen des Parlaments zu hindern. Dies war beispielsweise in jener Sitzung der Fall, in der Artikel für Artikel über das Gesetz gegen den Drogenhandel abgestimmt wurde 41 . Das Herummanövrieren mit dem Quorum diente der Opposition auch dazu, bei der Verabschiedung von Regierungsinitiativen mitzuwirken, ohne dafür selbst Mitverantwortung zu übernehmen. Ein gutes Beispiel für diese Strategie liefert das Schlußpunktgesetz, mit dem eine Frist für die Anklageerhebung wegen Menschenrechtsverletzungen während der letzten Militärdiktatur gesetzt wurde. Im Senat trugen die Justizialisten zum Zustandekommen des Quorums bei, und einige peronistische Senatoren stimmten sogar für die entsprechende Vorlage. Im Abgeordnetenhaus blieben die peronistischen Erneuerer, die noch wenige Tage zuvor an der Spitze einer öffentlichen Kundgebung gegen das Projekt gestanden hatten, der Debatte fern, wodurch sie eine rasche Verabschiedung der Gesetzesvorlage ermöglichten, denn infolge ihrer Abwesenheit verfügte die Regierung über die für eine Behandlung der Initiative im Eilverfahren {tratamiento sobre tablas42) notwendige Zweidrittelmehrheit der anwesenden 39
Vgl. López (1994: 85ff ).
40
Unveröffentlichte Untersuchung von Guillermo Schinelli, zitiert nach Molinelli (1991: 60).
41
Vgl. Molinelli (1991: 61) u.Pellet Lastra (1992: 183).
42
Der tratamiento sobre tablas sieht eine unmittelbare Behandlung der betreffenden Initiative vor, egal ob sich der zuständige Ausschuß bereits zuvor mit dem Entwurf beschäftigt und diesen positiv beschieden hat oder nicht.
180
Abgeordneten. Auf diese Art und Weise trug die peronistische Opposition zum Zustandekommen eines umstrittenen Gesetzes bei, ohne dafür die gebührende Mitverantwortung zu übernehmen 43 . In Übereinstimmung mit ihrer Rolle als Opposition forderten die justizialistischen Abgeordneten eine Protagonistenrolle des Parlaments und warfen der Regierung vor, sie wolle die Legislative auf die Rolle eines Legitimationsorgans für die Politik von Präsident Alfonsin reduzieren. Ihrer Ansicht nach mußte das Parlament als "Verhandlungsarena" funktionieren, in der politische Lösungen in Form von Kompromissen zwischen den beiden großen Parteien zustande kommen. Die Opposition forderte eine Beteiligung an den Entscheidungen und beklagte, das Parlament würde in Initiativlosigkeit verfallen und auf die Politik der Exekutive nicht angemessen reagieren 44 . Die Kritik des Justizialismus machte die Regierung für die Schwäche des Parlaments verantwortlich. Das Verhalten der Peronisten selbst trug jedoch sehr wenig zu einer Veränderung dieser Situation bei. José Luis Manzano, der Vorsitzende jener justizialistischen Parlamentsfraktion, die sich später mit der Erneuerungsbewegung identifizieren sollte, gestand ein: "[...] einige unserer Gesinnungsgenossen denken, daß der Kongreß nicht dazu geeignet ist, die Politik der Exekutive zu korrigieren. Dies fuhrt zu einer Geringschätzung der parlamentarischen Arbeit seitens der Opposition. Nicht nur von Seiten des Peronismus, sondern auch in den Haltungen des Partido Intransigente ist zu spüren, daß man den Kongreß nicht für ein gutes Betätigungsfeld hält [...] [Die Unmöglichkeit], ein zahlreiches Erscheinen in den Ausschüssen zu erreichen u.ä. zeigt, daß kein Interesse besteht, denn sie kommen nicht"45.
Tatsächlich belegt eine von Goretti/Panosyan durchgeführte empirische Untersuchung, daß der Anwesenheitsindex 46 der justizialistischen Abgeordneten in den ständigen Ausschüssen während der regulären Sitzungen des Jahres 1984 kaum 0,481 betrug, während die Radikalen auf 0,627 kamen. Im Falle der Peronisten schwanken die Zahlen je nach Ausschuß sehr stark. Der niedrigste Index war in den Ausschüssen für Kommunale Angelegenheiten und Nationale Territorien (0,195), für Verteidigung (0,270), Wohnungsbau (0,299), Verfassungsangelegenheiten (0,324) sowie für Wissenschaft und Technologie (0,325) zu verzeichnen. Im Verkehrsausschuß erreichte die Anwesenheit justizialistischer Abgeordneter mit einem Index von 0,934 dagegen den höchsten Stand 47 . Nach Ansicht der Verfasser der Studie sind diese Unterschiede ein Zeichen dafür, daß diesbezüglich keine allgemeine den gesamten Oppositionsblock be43
Vgl. El Bimestre 30 (1986: 44); de Riz/Smulovitz (1990: 28); Morales Solä (1992: 154).
44
Vgl. die in Mustapic (1986: 18ff.) zitierten Erklärungen.
45
Zitiert nach Goretti/Panosyan (1986b: 54).
46
Dieser Index setzt sich zusammen aus dem Verhältnis zwischen der Anzahl von Abgeordneten, die einem Ausschuß angehören, und der Anzahl der in den tatsächlich abgehaltenen Sitzungen anwesenden Mandatsträger (vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 49).
47
Vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 50).
181
treffende Anweisung existierte - was der internen Situation der Partei durchaus entspricht - , wodurch die Entscheidung zur Teilnahme oder Nichtteilnahme den Vorsitzenden der einzelnen Ausschüsse oder sogar jedem einzelnen Abgeordneten selbst überlassen blieb. Während außerdem die große Mehrheit der UCRAbgeordneten in mehr als 50% der Sitzungen anwesend war und damit für das notwendige Quorum sorgte, nahmen die meisten Peronisten an nicht mehr als einem Drittel der Sitzungen teil. Angesichts dieses Verhaltens konnte es der Opposition kaum jemals gelingen, in irgendeinem Ausschuß die Mehrheit der Radikalen zu brechen. Die Bedeutung, die der Justizialismus im allgemeinen sozialen Themen einräumt, könnte dagegen erklären, warum die Präsenz der peronistischen Abgeordneten in den Ausschüssen für Arbeitsgesetzgebung sowie für Sozialfürsorge und Öffentliches Gesundheitswesen stärker war 48 . Die zur Verfügung stehenden Daten zeigen, daß es sich mit der angeblich fehlenden Gesetzgebungsinitiative des Parlaments, die die oppositionellen Abgeordneten beklagten, in Wirklichkeit anders verhielt. Während der Regierungszeit von Präsident Alfonsin gingen dem Parlament 8.117 Gesetzesinitiativen aus den Reihen des Parlaments zu, gegenüber 550 Vorlagen der Exekutive. Das Verhältnis zwischen Gesetzesvorlagen und tatsächlich verabschiedeten Gesetzen zeigt, daß die Schwäche des Parlaments nicht mit fehlender Initiative zusammenhing, sondern mit den geringen Fähigkeiten der Kongreßmitglieder, den von ihnen präsentierten Vorlagen zum Erfolg zu verhelfen. Schaubild 9: Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments (10.12.1983-08.07.1989) 49 Initiative
Eingebrachte Vorlagen
Verabschiedete Vorlagen
Verabschiedete Vorlagen in %
Exekutive
550
339
61,63
Parlament
8.117
258
3,18
Total
8.667
597
6,89
Quelle: de Riz/Smulovitz (1990: 63).
Eine derartige Diskrepanz ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. Erstens verschwand die große Mehrheit der Gesetzesvorlagen im "schwarzen Loch" der Ausschüsse. Beispielsweise wurden von allen 1984 eingereichten Vorlagen nur 15% von den Ausschüssen ans Plenum weitergeleitet 50 . Zweitens müssen Gesetzesinitiativen, bevor sie im Plenum behandelt werden, zunächst 48
Vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 52ff.).
49
Die Zahlen differieren von den weiter oben zitierten, denn im vorangehenden Fall wurden alle von den Kammern angenommenen Initiativen gezählt, während hier nur diejenigen Vorlagen berücksichtigt werden, die in dem angegebenen Zeitraum von der Exekutive verkündet wurden und somit tatsächlich Gesetzeskraft erlangten.
50
Vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 56).
182
auf die Tagesordnung genommen werden. Diese wird vom Ausschuß für Parlamentsarbeit erstellt, dem die Fraktionsvorsitzenden angehören. Hier finden die Verhandlungen zwischen den Blöcken statt, und hier versanden diejenigen Vorlagen, deren Initiatoren es nicht gelingt, die notwendige Unterstützung fiir eine Weiterverfolgung des jeweiligen Anliegens zu mobilisieren 51 . Aus diesem Grund kann diese Instanz entscheidend für den Erfolg oder Mißerfolg eines Projektes sein. Im parlamentarischen Jahr 1985 beispielsweise wurden 137 Gesetze verabschiedet, während weitere 146 Projekte (Gesetzesinitiativen, Informationsgesuche und Resolutionen), die bereits von den zuständigen Ausschüssen bearbeitet worden waren, nicht rechtzeitig auf die Tagesordnung des Abgeordnetenhauses gelangten und damit hinfallig wurden 52 . 1987 war das Mißverhältnis sogar noch größer: 47 verabschiedeten Gesetzen standen 200 "verjährte" Projekte gegenüber 53 . Die internen Konflikte des Justizialismus wirkten sich insofern negativ auf die Gesetzgebungsarbeit der Partei aus, als die peronistischen Parlamentarier nicht einmal dazu in der Lage waren, sich untereinander zu einigen. Dies führte wiederholt zur Präsentation von mehreren, oft widersprüchlichen Gesetzesvorlagen zu ein und demselben Thema. Als die Exekutive beispielsweise eine Gesetzesinitiative über die Besteuerung brachliegender Ländereien einreichte, antwortete der Justizialismus mit der Formulierung mehrerer Projekte, die von einer plumpen Enteignung bis zu einer Besteuerung dieser Ländereien oder der aus ihrer Nutzung zu erwirtschaftenden Rente reichten 54 . Ein anderes Thema, das die Aufmerksamkeit der gesamten Spannbreite peronistischer Parlamentarier auf sich zog, war die Scheidungsgesetzgebung. So befanden sich Ende 1985 mehrere diesbezügliche Vorlagen aus justizialistischer Feder im Umlauf. Eine von dem Senator Jorge Castro eingebrachte Initiative sah vor, eine erneute Eheschließung erst zehn Jahre nach einer durch einen zuständigen Richter ausgesprochenen Scheidung zu erlauben 55 . Eine Vorlage des Abgeordneten Brito Lima wollte die Rechtsprechungskompetenz der Tribunale der Katholischen Kirche auf das Zivilrecht ausdehnen 56 . Ein von Néstor Perl, Oscar Fappiano, César McKarthy und Adam Pedrini eingereichtes Projekt erlaubte die Scheidung mit anschließender erneuter Heirat lediglich einmal 57 . Florencio Carranza und Julio Corzo dagegen beschränkten sich darauf, eine Rückkehr zum entsprechenden Paragraphen des von der peronistischen Regierung im Jahr 1954 verabschiedeten Gesetzes 14.394 vorzuschlagen 58 .
51
Vgl. Pasara (1993: 612f.).
52
Vgl. D.S.C.D.(1985: XII, Zweiter Teil, 9500ff.).
53
Vgl. D.S.C.D. (1987: IX, Zweiter Teil, passim).
54
Vgl. d e R i z ( 1 9 8 9 : 3 6 f f . ) .
55
Vgl. D.S.C.S.(1984: II 1324f.).
"
Vgl. D.S.C.D. (1985: X 7449ff.).
57
Vgl. D.S.C.D. (1985: XI 8 4 6 0 f f ) .
"
Vgl. D.S.C.D. (1984: VI 3523).
183
Zuletzt bleibt hinzuzufügen, daß die justizialistische Mehrheit im Senat der Opposition eine wesentlich aktivere Rolle im Bereich der Gesetzgebung ermöglicht hätte, als sie diese in der Realität übernommen hat. Das geringe gesetzgeberische Interesse der justizialistischen Senatoren drückte sich insbesondere darin aus, wie wenig sie sich um die Frage des Finanzausgleichs zwischen dem Nationalstaat und den Provinzen kümmerten. Gerade angesichts der Tatsache, daß die Senatoren als Repräsentanten der Provinzen fungierten, hätte man von ihnen erwarten können, daß sie sich um eine eindeutige Lösung dieser Frage bemühen, die von grundlegender Bedeutung für das Funktionieren des föderativen Systems war. Dies war jedoch nicht der Fall. Ende 1984 lief die bis dahin gültige Regelung der föderativen Finanzbeziehungen aus, und es entstand ein bedeutendes rechtliches Vakuum, das nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfuhr, obwohl eine entsprechende Gesetzesinitiative der Exekutive vorlag. Die Verabschiedung eines neuen Ausgleichsgesetzes ließ bis 1988 auf sich warten, denn erst in diesem Jahr konnten die justizialistischen Gouverneure ihre Parteigenossen im Senat von der Dringlichkeit der Angelegenheit überzeugen. 59 6.1.3.2 Die Öffentlichkeitsfunktion Die peronistischen Abgeordneten beklagten, daß die Exekutive sich die entscheidenden Themen der politischen Agenda aneigne, und forderten eine breite Debatte über den allgemeinen politischen Kurs, die ihrer Ansicht nach im Parlament stattfinden müsse 60 . Die Wirtschaftskrise und die externe Verschuldung boten der Opposition geradezu ideale Möglichkeiten, sich gegenüber der Regierung zu profilieren. Die Haushaltsdiskussion und die Befragungen des amtierenden Wirtschaftsministers leisteten dafür hervorragende Dienste, denn die Opposition konnte sich dabei auf die Rolle des Anklägers beschränken, ohne selbst irgendeinen konkreten Vorschlag ausarbeiten zu müssen. Haushaltsstreitigkeiten waren immer und überall ein beliebtes Thema parlamentarischer Debatten. Die Behandlung des Haushaltsgesetzes durch das Parlament ist kaum mehr als eine Formalität, denn die Legislative verfügt nicht über die notwendige technische Infrastruktur, um sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen, so daß ihre Kontrollkapazität äußerst gering ist. Trotzdem ist die Haushaltsdebatte regelmäßig ein politisches Ereignis ersten Ranges, und die Opposition fühlt sich dazu verpflichtet, sich gegen die Regierungsvorlagen auszusprechen. So ist es nicht verwunderlich, daß bei 80% der diesbezüglichen Ausschußentscheidungen keine Einstimmigkeit erlangt wurde und daß bei den übrigen 20% sogar kein mehrheitliches Ausschußvotum zustande kam. Die Verabschiedung der Haushaltsgesetze wurde zwar nicht verhindert, aber alle diese Streitigkeiten sorgten für nicht unwichtige Verzögerungen 61 . 59
Diese Frage wird weiter unten ausführlicher behandelt.
60
Vgl. Bàrbaro (1986b) und die Deklarationen von J.L. Manzano, zitiert nach Mustapic (1986: 18f.).
61
Vgl. Molinelli (1991: 123ff.; 173); Mustapic/Goretti (1992: 263f.).
184
Die Befragung von Ministern war nur möglich, wenn sich sowohl Radikale wie Peronisten dafür aussprachen, denn die Vorladung von Kabinettsmitgliedern erfordert eine Zweidrittelmehrheit. Die beiden Fraktionen verfolgten dabei allerdings unterschiedliche Zielsetzungen. Während die Radikalen den Ministern ein öffentliches Forum bieten wollten, um ihre Politik gegenüber der Bevölkerung zu verteidigen, nutzten die Peronisten solche Veranstaltungen, um ihre Divergenzen vorzutragen. Die Befragung von Ministern diente infolgedessen weniger als Kontrollmechanismus, sondern eher zur Inszenierung politischer Debatten, wobei das Parlament zum Resonanzkörper für Diskussionen wurde, die sich mehr durch ihre Intensität als durch ihre Inhalte auszeichneten. Am 9. Mai 1985 informierte Wirtschaftsminister Sourrouille die Mitglieder des Abgeordnetenhauses 62 . Die Fraktion der UCR war mit der Regierungspolitik einverstanden und verzichtete auf eine Befragung Sourrouilles, der statt dessen ausführlich seine eigenen Argumente vortragen konnte. Die Abgeordneten der Opposition begannen anschließend mit der Diskussion, die auf der Grundlage eines im Ausschuß für Parlamentsarbeit vereinbarten Plans ablief. Die gravierendsten Vorwürfe wurden von dem peronistischen Abgeordneten Guelar vorgetragen. Er hielt dem Minister vor, daß er seine Politik mit niemandem abgestimmt habe, daß man nach zweijährigen Untersuchungen immer noch nicht zu einer Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Schulden gekommen war, daß die Regierung direkt mit den privaten Gläubigern anstatt mit dem Internationalen Währungsfonds verhandeln müsse und daß die Exekutive die Kompetenzen des Parlaments bei diesen Verhandlungen mißachte. Der größte Teil seiner Ausfuhrungen konzentrierte sich darauf, den mangelnden Willen der Regierung zur Konzertierung ihrer Politik mit den verschiedenen Sektoren der argentinischen Gesellschaft herauszustellen und gleichzeitig auf die große Bereitschaft der Exekutive zu Verhandlungen mit auswärtigen Mächten hinzuweisen. Die Befragung entwickelte sich so zu einem heftigen Streit: "Auslöser der 'Kriegswirtschaft' sind die rezessiven, orthodox-monetaristischen Anpassungsprogramme des IWF, die die Regierung bedauerlicherweise zu ihrem Programm gemacht hat. Dies ist ein Krieg gegen die Volkssektoren, gegen die Arbeiter, gegen die nationale Unternehmerschaft, gegen die Provinzen. [...] Wir Peronisten sind bereit zu Opfern, die notwendig sind, um die Inflation zu besiegen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, um der Nation zu neuer Größe zu verhelfen, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die politische Souveränität zu stärken und vor allem, um die Demokratie zu verteidigen"63.
Die übrigen justizialistischen Redner betonten nochmals das Argument, die Regierung bevorzuge Verhandlungen mit den ausländischen Gläubigern, statt sich mit den einheimischen Arbeitern und Unternehmern an einen Tisch zu setzen. Zur Überraschung des Ministers und zahlreicher seiner Parteikollegen 62
Vgl. D.S.C.D. (1985: I418ff.).
63
D.S.C.D. (1985: I 4 4 2 Í ) .
185
stellte jedoch der justizialistische Abgeordnete Brito Lima demgegenüber die Frage, ob die Regierung "der internationalen Arbeitsteilung zustimmt" (sie) 64 . Wenn man nach den Dutzenden von Seiten urteilt, die die Wiedergabe der Debatte in den Sitzungsprotokollen des Abgeordnetenhauses einnimmt, so muß sich die Diskussion über mehrere Stunden hingezogen haben. Nachdem alle Redner, die auf der vor der Sitzung abgesprochenen Liste standen, das Wort ergriffen hatten, widmete sich das Parlament übergangslos anderen Themen, ohne daß die Diskussion irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Fast ein Jahr später, im März 1986, brachten die justizialistischen Abgeordneten das gleiche Thema erneut auf die Tagesordnung. Diesmal nahm eine große Zahl von Mandatsträgern nicht einmal teil an der "bedeutendsten Debatte unserer Zeit", und viele kamen lediglich, um ihre Anwesenheit zu bestätigen 65 . Auch wenn die Positionen der PJ-Vertreter alles andere als homogen waren, so forderten die lautesten Stimmen anläßlich dieser Diskussion ein Moratorium hinsichtlich des Schuldendienstes gegenüber ausländischen Gläubigern und erinnerten die Regierung an ihr Versprechen, zwischen legitimen und illegitimen Schulden zu unterscheiden. Antonio Cafiero, damals Abgeordneter des Bundesparlaments, gehörte dabei zu den führenden Rednern seiner Fraktion. In einer mit Bibel- und Literaturzitaten ausgeschmückten Rede verglich er die Situation des Landes mit derjenigen Erendiras, der berühmten Romanfigur von Garcia Márquez 66 . Ferner bestritt der Anführer der Erneuerer die Legitimität der Schulden, bezeichnete sie als unmoralisch, zog die Möglichkeit einer Zahlungsverweigerung in Erwägung und trat für ein Moratorium ein, das er mit folgenden Argumenten rechtfertigte: "Wir wollen das morare, das Verweilen; wir wollen nachdenken, denn wir ersehnen eine Lösung für das Problem der Auslandsschuld in Sinne der nationalen Einheit. Denn wir wollen zuerst versuchen, zu einem politischen Waffenstillstand zwischen Radikalen und Peronisten zu gelangen, wenn es uns gelingt, eine angemessene Diagnose und Behandlung der Auslandsverschuldung zu bieten. Nach Möglichkeit streben wir einen Sozialpakt an, der dem Arbeiter seine Rechte zurückgibt, durch den aber gleichzeitig die obersten Ziele der Republik verwirklicht werden. Wir wollen auch eine ökonomische Konzertierung auf den Weg bringen"67.
Der ehemalige Minister hielt es nicht für notwendig, seinen Zuhörern auch zu erklären, wie die Verwirklichung solcher Vorstellungen aussehen sollte. Die parlamentarische Debatte über die Auslandsschuld nahm eine ganze Reihe von Sitzungen des Abgeordnetenhauses in Anspruch, um sich dann ebenso rasch wieder in Luft aufzulösen, wie sie begonnen hatte. Als ein justizialistischer Abgeordneter mit Verweis auf die Geschäftsordnung darauf beharrte, sei64
D.S.C.D. (1985: 1 500).
45
Vgl. El Periodista N° 83 (11. - 17. April 1986: 12).
66
Die Idee zu diesem Vergleich stammte nicht von Cafiero selbst, sondern aus einem damals vielbeachteten Buch von Alfredo Calcagno (1985).
67
D.S.C.D. (1985: X 7885).
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ne Intervention fortzusetzen, beschloß die Fraktion der Radikalen, den Saal zu verlassen, so daß die Sitzung wegen fehlenden Quorums beendet werden mußte 68 . Eine weitere Parlamentsdebatte, die auf erhebliche öffentliche Resonanz stieß, fand im Juli 1985 auf Initiative des PJ statt. Massenentlassungen beim Autohersteiler Ford hatten damals zu einer angespannten sozialen Situation geführt. Alle justizialistischen Blöcke traten aus diesem Anlaß für die Eilbehandlung eines Projektes ein, durch das die gegen streikende Arbeiter eingeleiteten Gerichtsverfahren eingestellt werden sollten. Außerdem befürworteten sie die Einrichtung einer parlamentarischen Vermittlungskommission im Zusammenhang mit dem Konflikt. Die UCR-Fraktion widersetzte sich einer Eilbehandlung des Projektes und schlug statt dessen ein einfaches Informationsgesuch an den Arbeitsminister vor, wodurch die Initiative an einen Ausschuß weiter verwiesen worden und damit zunächst einmal vertagt gewesen wäre. In dieser Situation kam es zu einer angeheizten Diskussion, in deren Verlauf die Abgeordneten der Radikalen schließlich doch einem Eilverfahren zustimmten. Dies wiederum führte zu einer reichlich grotesken Situation, denn jetzt waren die Peronisten aus mehreren Gründen verwirrt. Erstens lagen von peronistischer Seite mehrere Gesetzentwürfe vor. Zweitens war der Urheber einer der Initiativen nicht anwesend, und diejenigen, die sie statt dessen vor dem Plenum erläuterten, kannten sie nicht besonders gut und verwechselten sie mit einer anderen Vorlage. Drittens schließlich widersprachen sich die Repräsentanten der verschiedenen peronistischen Strömungen andauernd und nutzten die Gelegenheit, um sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Wenn irgend jemand politischen Nutzen aus dieser Sitzung zog, so war es der Abgeordnete Manzano, der die Wirtschaftspolitik der Regierung in seinen Redebeiträgen heftig kritisierte und gleichzeitig die autoritärste Linie seiner eigenen Partei, die damals durch den Abgeordneten Imbelloni vertreten wurde, angriff. Die gesamte Diskussion führte zu so gut wie keinen konkreten Ergebnissen, denn am Ende verwies doch die Fraktion der Radikalen das Projekt mit ihrer Mehrheit an die Kommission 69 . Am 13. August 1986 begann im Abgeordnetenhaus die Debatte über den Entwurf für das Scheidungsgesetz 70 . Da die Sitzung vom Fernsehen übertragen wurde, fühlte sich der Präsident der Kammer, Juan Carlos Pugliese, dazu verpflichtet, die Abgeordneten mittels einer Handreichung voll väterlicher Ratschläge daran zu erinnern, daß sie sich "von den Fernsehkameras weder in unpassenden Haltungen noch bei der Zeitungslektüre überraschen lassen" sollten 71 , da dies für einen schlechten Eindruck vor der Öffentlichkeit sorgen würde. Die Diskussion zog sich bis zum 19. August hin und nahm 30 Stunden reine Debattenzeit in Anspruch, wobei sich 78 Redner beteiligten, und dies, obwohl von vornherein klar war, daß der Gesetzentwurf, der als Kompromißvorschlag "
Vgl. D.S.C.D. (1985: X 7849ff.; XI 7989ff.).
"
Vgl. D.S.C.D. (1985: IV 2!59ff.).
70
Vgl. D.S.C.D. (1986: V 3471 ff.).
"
El Periodista N° 101 ( 1 5 . - 2 1 . August 1986: 4).
187
aus 27 (!) von den verschiedenen politischen Parteien vorgelegten Projekten entstanden war, mit einer sicheren Mehrheit rechnen konnte. Auch wenn die Front zwischen Scheidungsbefürwortern und Scheidungsgegnern sich durch alle Parteien zog, so traten die größten Gegensätze doch erneut innerhalb der peronisrischen Fraktion zutage. Während die justizialistische Orthodoxie eindeutig zu den Gegnern gehörte, waren die Positionen der Erneuerer weniger klar, als man aufgrund des neuen, modernistischen Profils der Gruppe hätte erwarten können. Am Ende stimmten 176 Abgeordnete für das Gesetz, darunter 52 Peronisten. Von den 36 Gegenstimmen entfielen 26 auf den PJ, darunter auch einige Erneuerer 72 . 6.1.3.3 Die parlamentarische Arbeit als Transmissionsriemen In Schaubild 9 wurde daraufhingewiesen, daß nur 258 der 8.117 von einer der beiden Parlamentskammern in den Gesetzgebungsprozeß eingebrachten Initiativen tatsächlich als Gesetze verabschiedet wurden. Von allen im Parlament vertretenen Parteien spielte der Justizialismus hinsichtlich der Initiativen die aktivste Rolle. Unter den 35 Abgeordneten, die zwischen dem 15. Dezember 1983 und dem 29. Juni 1984 jeweils 35 oder mehr Projekte aller Art präsentierten, befanden sich 33 Peronisten 73 . Läßt man die gemeinsamen Initiativen außer Betracht, so entfielen auf den PJ 4.539 Gesetzesvorlagen (64,32%), auf die UCR 2.518 (35,68%). Umgekehrt proportional verhielt es sich mit dem Erfolg der Gesetzgebungsverfahren: Während 4,32% der von den Radikalen eingebrachten Vorlagen als Gesetze verabschiedet wurden, traf dies nur auf 1,38% der justizialistischen Projekte zu 74 . Die Tatsache, daß sich die Abgeordneten von diesen mageren Ergebnissen ihres gesetzgeberischen Eifers nicht entmutigen ließen, ist nur unter Berücksichtigung anderer Faktoren zu erklären. Zunächst einmal fühlte sich der Justizialismus aufgrund der im Parlament herrschenden Mehrheitsverhältnisse nicht für den Erfolg oder das Scheitern seiner Vorlagen verantwortlich, sondern glaubte sich bereits mit der bloßen Initiative zufriedengeben zu können. Diese Einstellung fand ihren Ausdruck in einer am 8. Oktober 1985 in den Tageszeitungen von Buenos Aires erschienenen Anzeige, in der die Opposition vorgab, der Bevölkerung Rechenschaft über ihre Arbeit abzulegen, und voller Stolz mit ihren "Erfolgen" prahlte: "Damit Demokratie mehr bedeutet als bloße Worte: 3.647 Projekte in 21 Monaten" 75 . Des weiteren ist zu erwähnen, daß in der Gesamtzahl der Gesetzesinitiativen eine große Zahl von sehr ähnlichen Projekten enthalten ist, denn das parteiinterne Organisationschaos und das Fehlen von Planung und Koordination führten Vgl. El Bimestre 28 (1986: 44); El Periodista N°102 (22. - 28. August 1986: 2). Die endgültige Abstimmung war namentlich und ist reproduziert in D.S.C.D. (1986: V 3 7 8 4 Í ) . Vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 62). Vgl. De Riz/Smulovitz (1990: 64). Zitiert nach Goretti/Panosyan (1986b: 68).
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immer wieder zur Präsentation ähnlicher Vorlagen durch Abgeordnete ein und derselben Partei. Mehr noch, unter den wichtigsten Schlußfolgerungen der oben zitierten empirischen Studie heißt es: " [...] Ein Teil der Projekte, die in den Ausschüssen 'sterben' und ins Archiv wandern, ähnelt anderen bereits präsentierten (Vorlagen), die von einem Ausschuß behandelt und weitergeleitet und manchmal sogar von der Kammer verabschiedet worden waren"76.
Folgt man der Argumentation der Autoren, so ist diese Situation durch die Existenz von zwei Typen von Volksvertretern zu erklären, die sie "legislador" (Gesetzgeber) und "diputado" (Abgeordneter) nennen. Der erstgenannte Typ sei dafür verantwortlich, die präsentierten Vorlagen durch das Gesetzgebungsverfahren zu schleusen und die in diesem Zusammenhang notwendigen Verhandlungen zu führen. Der zweite Typ wolle dagegen nichts von der gesetzgeberischen Arbeit wissen und verstehe sich ausschließlich als Transmissionsriemen zwischen den Forderungen der Bevölkerung und den "legisladores"11. Die "diputados" wären dementsprechend die Unterzeichner der enormen Anzahl von Projekten, die nicht weiterverfolgt werden und von denen niemand jemals ernsthaft geglaubt hätte, daß aus ihnen tatsächlich ein Gesetz wird. In Wirklichkeit geht es bei derartigen Vorlagen eher darum, eine publizitätsträchtige Wirkung zu erzielen, nicht hinter den Aktivitäten der anderen Parteien zurückzubleiben oder sich ganz einfach "jemanden vom Leibe zu schaffen", d.h. eine allzusehr insistierende Klientel zufriedenzustellen, indem man wenigstens so tut, als setze man sich für ihre Belange ein. Die Abgeordneten selbst gestehen das Vorhandensein derartiger Unterschiede zwischen Projekten, die wirklich mit der ernsthaften Absicht eingereicht werden, ihnen eine Mehrheit zu verschaffen, und anderen, denen eine sorgfaltige Grundlage fehlt, ein78. Einige konkrete Beispiele mögen dies veranschaulichen. In der letzten außerordentlichen Sitzung des Parlamentsjahrs 1984, die am 20. März 1985 stattfand, wurden im Abgeordnetenhaus 224(!) Gesetzesvorlagen präsentiert, von denen 185 aus peronistischer Feder stammten. 140 von ihnen bezogen sich auf Pensionen, Subventionen, förderungswürdige Projekte und Übertragungen bundesstaatlicher Güter mit einem relativ kleinen Wert. Am aktivsten war zweifellos der Abgeordnete Domingo Purita, denn er zeichnete für nicht weniger als 58 Vorlagen verantwortlich; ihm folgten Manuel Rodríguez mit 25 und Cayetano De Nichilo mit 13. Die 58 Vorlagen des Erstgenannten bezogen sich auf a) 51 Gunsterweisungen in Form von Pensionen an bedürftige Einzelpersonen, deren Begründung sich lediglich darauf beschränkte, auf die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes hinzuweisen; b) 4 Unterstützungszahlungen an soziale und an im Sportbereich tätige Institutionen; c) 3 Übertragungen bundesstaatli-
Goretti/Panosyan (1986b: 61). Vgl. Goretti/Panosyan (1986b: 60). Vgl. Pasara (1993: 610).
189
eher Ländereien an die Gemeinde Lanüs (Provinz Buenos Aires). Bei den 25 Vorlagen des Abgeordneten Manuel Rodriguez ging es um die Gewährung von Unterstützungszahlungen für verschiedene Dienstleistungsorganisationen, die alle der Gewerkschaft der Telekommunikationsarbeiter angehörten 79 . Die Merkmale dieser Vorlagen zwingen zu der Schlußfolgerung, daß diese in Wirklichkeit nicht einmal diejenige Funktion erfüllen können, die sie sich selbst zuschreiben. Tatsächlich sind der sie auszeichnende extreme Partikularismus und der Fragmentierungsgrad unvereinbar mit einer wirklichen Transmission gesellschaftlicher Forderungen. Hingegen geht es lediglich um die Aufrechterhaltung atomisierter klientelistischer Beziehungsmuster. Die geringen Erfolgsaussichten solcher Initiativen verhindern nicht, daß der entsprechende Abgeordnete zum Zeitpunkt der nächsten internen Wahlen Stimmen für sich beansprucht, indem er seine Projekte vor den Augen der vermeintlichen Nutznießer zur Schau stellt. Schließlich war es nicht seine Schuld, wenn die Vorlage keinen Erfolg hatte, denn er war in der Minderheit. Andererseits existiert eine wesentlich kleinere Anzahl von Projekten, die mit sektorialen Interessen größerer Reichweite in Verbindung stehen. Im Falle des Justizialismus konzentrierten diese sich auf die Arbeitsgesetzgebung und vor allem auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Gewerkschaften. Später wird zu zeigen sein, daß die Erfolge in diesem Bereich mehr mit der außerparlamentarischen Opposition durch die peronistischen Gewerkschaften zu tun hatten als mit den Gesetzesinitiativen der justizialistischen Abgeordneten. 6.1.3.4
Das Parlament als strategische Ressource im Rahmen innerparteilicher Auseinandersetzungen
Das Parlament war einer der Schauplätze, auf denen die internen Streitigkeiten des Justizialismus ausgetragen wurden. Da es dabei nicht nur um die Macht innerhalb der Partei, sondern vor allem um die Kriterien, die diesen Disput entscheiden würden, ging, stellte sich die parlamentarische Aktivität als eine strategische Ressource ersten Ranges dar. Erneuerer, Orthodoxe und Unabhängige tendierten dazu, das Parlament zu instrumentalisieren, um die Position ihrer Strömung oder lediglich ihre eigene Situation zu verbessern. Im Zusammenhang mit der Darstellung der internen Konflikte des Justizialismus wurde auf den politischen Protagonismus von Persönlichkeiten wie Oraldo Britos und Vicente Saadi hingewiesen. Als Senatoren und daher als Gesprächspartner der Regierung bei Verhandlungen erwarben sie eine Schlüsselrolle, die sie zu zentralen Akteuren während der ersten Auseinandersetzungen im Rahmen der internen Reorganisation bestimmte. Im allgemeinen waren es die Erneuerer, die ihre Rolle im Parlament am besten auszunutzen wußten. Inmitten des anfanglichen Chaos verstanden die
Vgl. D.S.C.D. (1984: XI 6686ff.).
190
jüngsten und daher bei den Wählern praktisch unbekannten Abgeordneten sehr schnell, welche Vorteile sie durch die Konstruktion eines öffentlichen Images erzielen konnten, das sich auf die unbestreitbare Legitimität stützte, die ihnen ihre Eigenschaft als Repräsentanten des Volkes verlieh. Daher war es kein Zufall, daß genau diese Abgeordneten am stärksten die Bedeutung des Parlaments als Resonanzboden betonten. José Luis Manzano aus Mendoza kann als das typischste Beispiel für diese Strategie betrachtet werden. Im Alter von 28 Jahren zum Abgeordneten gewählt, bekannte er freimütig: "Der Eintritt vieler von uns in die nationale politische Szene hängt damit zusammen, daß die parlamentarische Ebene extrem oft als strategische Ressource benutzt wird"80. In seiner Eigenschaft als Vizepräsident des ursprünglichen Justizialistischen Blocks - ein Amt, das er erhielt, weil er vom damaligen Präsidenten dieses Blocks, dem Gewerkschaftler Diego Ibänez, protegiert wurde - gelang es Manzano, die Abgeordneten aus dem Landesinneren hinter sich zu bringen, als der Konflikt mit der Gruppe um Herminio Iglesias und den 62 Organisationen begann. Als Cafiero bei den Wahlen von 1985 zum Abgeordneten gewählt wurde, unterstützte er einen Verbleib Manzanos an der Spitze des Blocks, wofür dieser im Gegenzug Cafieros Kandidatur für die Vizepräsidentschaft der Kammer vorantrieb. Von diesem Zeitpunkt an richtete sich die Gruppe der Erneuerer nicht mehr nach den Vorstellungen der Abgeordneten aus dem Landesinneren, aus deren Kreis sie hervorgegangen war, sondern scharte sich um Cafiero, Manzano, Grosso und de la Sota. Die drei Letztgenannten sollten als die "Hardliner" der Erneuererfraktion bekannt werden, denn damals traten sie für einen vollständigen Bruch mit der orthodoxen Führung ein. Etwas später, bei der Vorbereitung der parteiinternen Wahlen des Jahres 1988, verwandelten sie sich in eine Art Generalstab des Cafierismus. Manzano wurde 1987 erneut zum Abgeordneten gewählt, und nach der Niederlage der Erneuerer gehörte er zu den ersten, die dem siegreichen Menem ihre Dienste anboten81. Einige traditionelle Führungspersönlichkeiten des Justizialismus sahen sich ihrerseits ebenfalls dazu gezwungen, auf das Parlament als Hilfsmittel zurückzugreifen, denn die Niederlage des Jahres 1983 und die willkürliche Handhabung des Parteiapparates durch die Orthodoxie versperrte ihnen alle anderen Möglichkeiten. So kam es, daß ein Politiker vom Format Cafieros, der zuvor auf eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen und den Gouverneurswahlen der Provinz Buenos Aires spekuliert hatte, sich dazu entschied, 1985 als einfacher Kandidat für das Abgeordnetenhaus anzutreten, um die Hegemonie der Orthodoxen zu brechen. Sein wirkliches Ziel bestand darin, die Partei unter seiner Führung wieder zu einen, um sich auf dieser Grundlage als Anwärter auf das Amt des Gouverneurs der größten Provinz Argentiniens und eventuell als Präsidentschaftskandidat ins Gespräch zu bringen. 80
Zitiert nach de Riz (1989: 35).
81
Zur politischen Karriere Manzanos siehe Nogués (1989: 152); El Periodista N ° 83 (11. - 1 7 . April 1986: 7); N° 191 (6. - 1 2 . Mai 1988: 6); Cerruti (1993: passim).
191
Innerhalb des Parlaments sind nicht alle Abgeordneten gleich. Die Besetzung von Führungsposten in der Kammer oder in den Ausschüssen hängt unter anderem mit der Position zusammen, die der jeweilige Abgeordnete innerhalb der Parteistruktur einnimmt. Die Vergabe dieser Posten geschieht also nach außerparlamentarischen Kriterien und nicht mit dem Ziel, eine größtmögliche Effizienz bei der Erfüllung der jeweiligen Aufgabe zu gewährleisten. All dies führt zu einer geringen thematischen Spezialisierung der Abgeordneten, die sich zudem nur wenig dafür interessieren, ob die Partei mit ihren Vorschlägen einverstanden ist oder nicht. Da die Parteien, worauf bereits hingewiesen wurde, gesellschaftliche Forderungen nicht auf organische Art und Weise in das Parlament einbringen, genießen ihre Repräsentanten einen hohen Grad an Autonomie gegenüber ihrer Wählerschaft. Je bedeutender die einzelnen Führungspersönlichkeiten sind, desto weniger konsultieren sie die Partei 82 . Die Entscheidungen des Fraktionsführers über die Ämterverteilung sind von großer Bedeutung, um die Parteidisziplin aufrechtzuerhalten und um sich die Loyalität der begünstigten Abgeordneten zu sichern. Wenn ein Abgeordneter ein wichtiges Führungsamt in einem als relevant eingestuften Ausschuß innehat, verfugt er über gute Aufstiegschancen innerhalb der Partei und infolgedessen auch über entsprechende Möglichkeiten, sich bei der nächsten Parlamentswahl einen der vorderen Listenplätze zu sichern. Das Führungsamt in einem wichtigen Ausschuß ist von größerer Bedeutung als die Tatsache, kohärente Projekte als einfaches Mitglied einer als weniger bedeutend eingestuften Kommission vorangetrieben zu haben. Für die Justizialisten waren diejenigen Ausschüsse am wichtigsten, die sich mit sozialen Belangen beschäftigten. Dabei hing die Benennung der Ausschußmitglieder nicht nur mit der Position der Abgeordneten innerhalb der Partei zusammen, sondern auch damit, ob sie aus den Gewerkschaften stammten und welche Karriere sie in diesem Bereich hinter sich hatten. Zudem fallt auf, daß während des ersten Parlamentsjahres 32,05% der führenden Ausschußposten des Abgeordnetenhauses von Repräsentanten aus Buenos Aires besetzt wurden, obwohl es dem Justizialismus bei den Wahlen des Jahres 1983 nicht gelungen war, sich dort durchzusetzen. Aber trotz dieser Überrepräsentation von Abgeordneten aus der Stadt und der Provinz Buenos Aires griff der PJ stärker als die UCR auf Repräsentanten aus denjenigen Distrikten zurück, in denen die Partei die Gouverneurswahlen gewonnen hatte. Dies hing sicherlich auch mit der Bedeutung zusammen, die Politiker aus diesen Provinzen infolge der klaren Wahlniederlage und der damit einhergehenden Imageeinbußen vieler bekannter peronistischer Politiker erlangen konnten 83 . Die Parteikarriere spielte also eine Rolle bei der Besetzung von Führungsposten in den Ausschüssen und umgekehrt. Auch wenn es nicht einfach ist zu entscheiden, welche der beiden Variablen die bestimmende war, so kann man auf jeden Fall sagen, daß sich beide gegenseitig verstärkten. So gelang es einer beträchtlichen Zahl von Abgeordneten, die in den Ausschüssen führende Posten 82
Vgl. Pasara (1993: 619).
83
Vgl. Goretti/Panosyan (1986a: 38ff.); Goretti/Panosyan (1986b: 59ff.).
192
innehatten - in diesem Zusammenhang zu nennen wären beispielsweise Oscar Fappiano, Adolfo Torresagasti, Cayetano de Nichilo, Jorge Matzquin, Luis Martinez, Olga Riutort, Osvaldo Borda, Irma Roy und Alberto Pierri - , sich Listenplätze zu sichern, die ihnen die Wiederwahl mehr oder weniger garantierten. Andere, wie Eduardo Vaca und Luis Rubeo, wurden später zu Senatoren ernannt. Wieder andere, wie Domingo Cavallo, Jorge Triaca, Guido di Telia und Roberto Digön, übernahmen führende Posten in der neuen peronistisehen Regierung 84 . Als Ergebnis der Analyse des Verhaltens der peronistischen Parlamentarier bleibt die Feststellung, daß die im Parlament existierenden Kräfteverhältnisse eine Obstruktionspolitik gegenüber den Vorhaben der Regierung ermöglichten, ohne daß die Opposition ihrerseits in der Lage gewesen wäre, eigene Initiativen durchzusetzen. Sie benutzte die parlamentarische Arena dann vorzugsweise zur Lösung ihrer internen Konflikte und zur Verbesserung ihres öffentlichen Images. Wie noch zu sehen sein wird, brachte es ihr mehr Vorteile ein, die Exekutive zur Untätigkeit zu verdammen, als sich selbst um die Mitgestaltung solcher konkreter Vorhaben zu bemühen, bei denen ihre Ansichten nicht einmal konsultiert wurden. Bei Schlüsselfragen reduzierten sich die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition daher auf "do ut ßfes"-Spiele, die für gewöhnlich die Form eines Austausches von Stimmen gegen Gefälligkeiten annahmen - wobei letztere meist in keinerlei Zusammenhang mit dem diskutierten Thema standen - , oder sie fanden außerhalb der parlamentarischen Arena statt.
6.2 Die peronistischen Provinzregierungen als Opposition gegenüber der Zentralregierung Die schwierigen Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Provinzen gehören zu den dunkelsten Kapiteln der argentinischen Geschichte. In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit führten sie zu langjährigen Bürgerkriegen. Später erging es dem in Artikel 1 der Verfassung von 1853 festgelegten föderativen Regierungsprinzip ähnlich wie den Zuständigkeiten des Parlaments: Es litt nicht nur darunter, daß andere Verfassungsbestimmungen ihm zuwiderliefen (insbesondere die in Artikel 6 niedergelegte Möglichkeit der Bundesregierung zur Intervention in den Provinzen), sondern auch an den ständigen Einschränkungen durch Bundesgesetze und an den Übergriffen der Militärregierungen. Dazu kamen noch die Wirkungen einer völlig unausgewogenen sozioökonomischen Entwicklung der Regionen. Ebenso wie die Beziehungen zwischen Parlament und Exekutive hing auch die Autonomie der Provinzen hochgradig von der politischen Praxis und ganz besonders von der jeweiligen Machtkonstellation ab85. 14
Vgl. de Riz/Feldman (1990: 29-56; 78ff. u. Anhang).
85
Vgl. Quadri Castillo (1986), Sabsay (1991a: 119f.).
193
Auch wenn der Radikalismus bei den Wahlen von 1983 im nationalen Durchschnitt die absolute Mehrheit der Stimmen errungen hatte, so besaß er deswegen noch lange keine Kontrolle über die Situation im Landesinneren, gewann die Regierungspartei doch nur in sieben (Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Río Negro, Misiones, Entre Ríos und Chubut) von den insgesamt 22 Provinzen. Drei Gouverneursposten gingen an Provinzparteien (San Juan, Corrientes und Neuquén), die restlichen zwölf (Santa Fe, Chaco, Tucumán, San Luis, Santiago del Estero, Jujuy, Salta, La Pampa, Formosa, Catamarca, La Rioja und Santa Cruz) wurden von einem justizialistischen Gouverneur geführt. Besonders auffallig war dabei, daß sich der Peronismus insbesondere im Nordwesten hatte durchsetzen können, in einer Region, die sich durch ihr niedriges sozioökonomisches Entwicklungsniveau auszeichnete. Vier Jahre später, bei den Wahlen von 1987, verlor die UCR auf ganzer Linie: Buenos Aires, Misiones, Entre Ríos, Mendoza und Chubut wurden von jetzt an peronistisch regiert. Nur Córdoba und Río Negro verblieben in der Hand der Regierungspartei. Der Radikalismus verfugte über eine weit zurückliegende, aber lebhafte Erinnerung an jene Probleme, die sich aus einer derartigen Machtkonstellation ergeben konnten. In den Jahren zwischen 1916 und 1930 war es unter den Regierungen Yrigoyen und Alvear zu starken Spannungen zwischen den von der UCR gestellten Präsidenten und den konservativen Provinzregierungen gekommen. Die Versuche der nationalen Exekutive, sich solcher Probleme durch Interventionen in den Provinzen zu entledigen, hatten den Widerstand zusätzlich geschürt 86 . Die Peronisten dagegen waren niemals Teil einer solchen Machtkonstellation gewesen und verfügten nicht über einschlägige Erfahrungen auf diesem Gebiet. Im folgenden geht es um die Analyse eines Konfliktes, der die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Provinzregierungen in den Jahren 1983 bis 1989 beherrschte: die umstrittene Aufteilung des Steueraufkommens auf den Bund und die Provinzen. Im Anschluß daran werden die Strategien der Gouverneure von Buenos Aires und La Rioja, Antonio Cafiero und Carlos Menem, dargestellt, denn deren jeweilige Beziehungen zu Präsident Alfonsin wiesen einen geradezu paradigmatischen Charakter auf.
6.2.1 Der Konflikt um die Aufteilung des Steueraufkommens Bei dem zwischen der Bundesregierung und den Provinzen ausgetragenen Disput um die Kontrolle des Steueraufkommens handelte es sich um einen alten Konflikt 87 . Seine Zuspitzung in den Jahren 1983-1989 stellte ein schwerwiegendes Problem für die radikale Regierung dar. Der Konflikt verschärfte sich noch zusätzlich im Zusammenhang mit einer Wirtschafts- und Finanzkrise, von der Ende 1987 und Anfang 1988 mehrere Provinzen und darunter insbesondere
86
Vgl. Potter (1981: 101 ff.).
17
Vgl. von Haldenwang (1994: 38ff.).
194
die von justizialistischen Gouverneuren regierten betroffen waren. Diese Entwicklungen führten zu einer harten Auseinandersetzung zwischen den Parteien, in deren Verlauf sich beide gegenseitig die Verantwortung für die Krise vorwarfen. Im Jahr 1973 war ein Gesetz über den Finanzausgleich zwischen dem Zentralstaat und den Provinzen (ley de coparticipación) verabschiedet worden, das vorsah, daß die Provinzen die Verantwortlichkeit für die Erhebung der wichtigsten Steuern an die Zentralregierung abtraten. Danach entfielen je 48,5% des Gesamtsteueraufkommens auf den Bund und auf die Provinzen, die restlichen 3% auf einen Regionalen Entwicklungsfonds88. Im Jahr 1977 übertrug die Militärregierung den Provinzen die Verantwortung für zahlreiche Dienstleistungen im Gesundheits- und Erziehungsbereich und erhöhte dafür deren Anteil am Gesamtsteueraufkommen auf 56,65%. Gleichzeitig wurde jedoch die bis dahin in den Finanzausgleich einbezogene Kraftstoffsteuer ausschließlich dem Bund zugesprochen, weshalb sich in der Praxis die finanzielle Situation der Provinzen nicht etwa verbesserte, sondern eindeutig verschlechterte. Im Jahr 1980 wurde ein "Vorabfinanzausgleich" (régimen de "precoparticipación") eingeführt, der zuungunsten der Provinzen ausfiel89. Mit der Amtsübernahme der UCR-Regierung Ende 1983 kehrte man zur Regelung von 1973 zurück. Deren Gültigkeit wäre laut Gesetz in diesem Jahr ausgelaufen, wurde jedoch bis Ende 1984 verlängert, damit der Kongreß genügend Zeit hätte, um sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die justizialistischen Gouverneure ihrerseits beklagten sich sofort über die kritische finanzielle Situation ihrer Provinzen, forderten mehr Ressourcen und warfen der Regierung vor, den von UCR-Gouverneuren geführten Provinzen eine Vorzugsbehandlung zu gewähren90. Am 17. Februar 1984 kam es zu einem Treffen der justizialistischen Gouverneure der nordwestlichen Provinzen, an dem Ramón Saadi (Catamarca), Carlos Snopek (Jujuy), Carlos Menem (La Rioja), R. Romero (Salta) und Carlos Juárez (Santiago del Estero) teilnahmen. Hauptthema der Gespräche war die Ausarbeitung eines neuen Gesetzentwurfes über die Finanzbeziehungen zwischen Zentralstaat und Provinzen, der dem Parlament vorgelegt werden sollte. Außerdem sprachen die Gouverneure über Schuldenentlastungen für wirtschaftsschwache Gebiete, über die Forderung nach mittelund langfristigen Krediten und nach einer Übernahme der unter den vorhergehenden Administrationen angehäuften Schulden der Provinzen durch den Zentralstaat sowie über eine Reihe von Anträgen, die sich auf das öffentliche Auftragswesen bezogen91. Die Gültigkeit der Regelung bezüglich des Finanzausgleichs lief erneut aus, ohne daß es zu einer Übereinkunft gekommen wäre. Die Nationalregierung war dazu entschlossen, den Provinzen nicht mehr als 52,5% des Finanzaufkommens 88
V g l . i e y 20.221.
89
Vgl. El Periodista N° 173 (23. - 29. Oktober 1987: 12); Peflalva/Pírez/Rofman (1989: 178f.).
90
Vgl. El Bimestre 13 (1984: 18; 84).
"
Vgl. El Bimestre 13(1984: 100).
195
zuzugestehen, während diese 56,6% verlangten. Außerdem forderten die peronistischen Gouverneure, daß die Gelder direkt an die Provinzregierungen überwiesen werden und daß diese die alleinige Zuständigkeit für die Verteilung der Mittel bekommen sollten. Die Nationalregierung dürfe nicht mehr nach Gutdünken einen Teil der Gelder an die Gemeinden weiterleiten und dabei die Gebietskörperschaften mit UCR-Bürgermeistern bevorzugen. Weder die föderalistische Rhetorik der peronistischen Gouverneure, die zum Teil auch von ihren der UCR angehörenden Pendants gepflegt wurde, noch der von der Zentralregierung ins Spiel gebrachte Hinweis auf höhere Gewalt konnten die Tatsache verbergen, daß sich der Streit um die Finanzbeziehungen ausgerechnet kurz vor den Wahlen von 1985 zuspitzte. Auch dieses Jahr ging zu Ende, ohne daß es möglich gewesen wäre, eine Lösung zu finden 92 . Nach endlosen Gesprächen und Verhandlungen konnte schließlich am 13. März 1986 durch die Unterzeichnung eines "Vorübergehenden Finanzabkommens über die Verteilung der Bundesressourcen auf die Provinzen" eine vorläufige Übereinkunft zwischen Präsident Alfonsin und den Gouverneuren erzielt werden 93 . In diesem Abkommen wurde den Provinzen ein Anteil von 56,6% - d.h. 2,64 Milliarden Austral - zugesprochen, dessen Höhe an die Inflationsrate angepaßt werden sollte. Von jetzt an drehten sich die Auseinandersetzungen um die Frage, auf welche Art und Weise und zu welchem Zeitpunkt eine solche Anpassung zu erfolgen habe. Nach den Wahlen von 1987 wurde die Verhandlungsposition der peronisrisch regierten Provinzen wesentlich besser als zuvor. In dieser Situation wurde 1988 das Finanzausgleichsgesetz verabschiedet. Es war jedoch nicht die neue, für den Justizialismus günstige politische Konstellation, die den entscheidenden Impuls für die Übereinkunft gab, sondern die dringende Notwendigkeit, eine Lösung für die sozialen Konflikte zu finden, die durch die Zahlungsunfähigkeit einiger Provinzen ausgelöst wurden, deren Regierungen über Jahre hinweg eine Vogel-Strauß-Politik praktiziert hatten und deren Ausgaben ihre Einnahmen bei weitem überstiegen. Das neue Gesetz entsprach weitgehend den Forderungen der Gouverneure. Es sah vor, daß grundsätzlich alle Steuern und Abgaben beim Finanzausgleich zu berücksichtigen seien. Ausnahmen mußten anders als bisher begründet werden, zudem wurde derjenige Teil der Kraftstoffsteuer, der den Beitrag zum Kraftstoffonds überstieg, ausdrücklich in die Gesamtrechnung einbezogen. Auf die Provinzen sollten 56,66% der Mittel entfallen (54,66% für alle Provinzen und 2% als Ausgleichszahlungen für jene vier Provinzen, die am geschicktesten zu verhandeln verstanden), 1% war für einen Beitragsfonds des Bundesschatzamts für die Provinzen bestimmt, der Bund erhielt lediglich 42,34%, wobei aus diesem Anteil zudem die Leistungen für die Stadtverwaltung von Buenos Aires und für das Nationale Territorium Feuerland zu erbringen waren. Die MittelVgl. El Periodista N° 18(11.- 18. Januar 1985: 11); Peflalva/Pirez/Rofinan (1989: 180). Der vollständige Text des Convenio Financiero Transitorio de Distribución de Recursos Federales a las Provincias ist abgedruckt in D.S.C.S. (1986: II 1186ff).
196
transfers sollten automatisch und täglich erfolgen, um Verzögerungen und Auseinandersetzungen über die Anpassung zu vermeiden. Dieser neue Finanzausgleich war wesentlich günstiger für die Provinzen als alle früheren Regelungen. Der Anteil des Bundes war viel geringer als zuvor. Außerdem verlor die Nationalregierung jetzt die Möglichkeit, zusätzliche Vergünstigungen durch Spekulationsgeschäfte mit den Geldern der Provinzen zu erzielen 9 . Diese Lösung eines seit langem andauernden Konfliktes bedeutete für die radikale Regierung in mehrfacher Hinsicht eine Niederlage. Zunächst einmal konnten sich die Provinzgouverneure mit ihren Vorstellungen über den Finanzausgleich klar durchsetzen. Sie akzeptierten keinerlei Kompromiß, der das Verfahren hätte beschleunigen können, weder am Anfang, als die Situation prekär war, noch später, als sie längst ein kritisches Stadium erreicht hatte. Aus ihrer Perspektive sollte dieser Sieg ihnen einen größeren Handlungsspielraum verschaffen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Regierungsaufgabe als auch im Hinblick auf ihre Beziehungen zu der Zentralregierung. Dieses Maximalziel dessen Kehrseite das ständige Feilschen der einzelnen Gouverneure war, die alle durch wirkliche oder durch symbolische Zugeständnisse gegenüber der Regierung versuchten, ihre individuelle Situation zu verbessern - schien ihnen attraktiv genug, um jene Krise zu riskieren, zu der solche Verzögerungen notwendigerweise fuhren mußten. Wie später zu zeigen sein wird, kam der von den justizialistischen Provinzen des Nordwestens verfolgte Wirtschaftskurs tatsächlich einer Sabotage an der Wirtschaftspolitik der Regierung Alfonsin gleich. Dies soll nicht heißen, daß die peronistischen Gouverneure von Anfang an die Absicht gehabt hätten, sich auf diese Art und Weise den Plänen des Wirtschaftsministeriums zu widersetzen. Ebensowenig kann davon ausgegangen werden, daß sie ein gemeinsames Vorgehen zur Erreichung der genannten Ziele untereinander absprachen. Sie zogen es ganz einfach vor, ihrer Verantwortung für die ihnen zur Verfugung stehenden - sicherlich ziemlich knappen - Mittel auszuweichen, indem sie die politischen Kosten ihrer Entscheidungen in die Zukunft und letztendlich auf die radikale Regierung übertrugen.
6.2.2 Cafiero und Menem: zwei paradigmatische Strategien Unter allen peronistischen Gouverneuren, die zwischen 1983 und 1989 amtierten, gab es zwei, deren Handeln eine besondere Analyse verdient, denn ihr Verhalten und die von ihnen jeweils entwickelten Strategien waren von entscheidender Bedeutung für das Schicksal der radikalen Regierung, für ihren eigenen politischen Werdegang, für den Justizialismus insgesamt und letztendlich auch für die Zukunft des Landes. Es handelt sich um Antonio Cafiero, den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, und um Carlos Menem, den Gouverneur von La Rioja.
94
Vgl. Ley 23.548.
197
Cafiero gelangte im Jahr 1987 an die Spitze der Provinzregierung nach einer langen Auseinandersetzung, in deren Verlauf, wie bereits gezeigt wurde, nicht die UCR-Regierung, sondern die orthodoxen Sektoren der eigenen Partei seine wichtigsten Gegner gewesen waren. Sein Wahlerfolg versetzte ihn auch in die Lage, die fuhrende Rolle in der peronistischen Erneuererbewegung zu übernehmen und einer modernen und demokratischen Opposition vorzustehen, die sich bereit zeigte, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Der frisch gekürte Gouverneur hatte ein erstaunlich homogenes Team um sich geschart, und auch wenn es einige Unterschiede unter den Mitgliedern seiner Regierungsmannschaft gab, so verfügten doch alle über politische Erfahrung und galten als anerkannte Experten für ihr jeweiliges Arbeitsgebiet 95 . Das Regierungsprogramm der peronistischen Erneuerer, an dessen Ausarbeitung auch Fachleute anderer Parteien aus dem Wahlbündnis (DC, PCP und PIN) beteiligt gewesen waren, umfaßte eine Reihe von Themen, deren Relevanz über tagespolitische Fragen hinausging: die Reform der staatlichen Strukturen in der Provinz auf institutioneller, administrativer und steuerlicher Ebene sowie eine umfassende Reform der Provinzverfassung im Sinne von größerer Autonomie für die Gemeinden, einer Demokratisierung der Justiz, einer verfassungsmäßigen Anerkennung der politischen Parteien, die Einfuhrung von Formen der direkten Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und die Einrichtung eines Ombudsmannes. Verweise auf die soziale Funktion des Eigentums und die Betonung sozialer Konzertierung verliehen dem Programm einen Grundtenor, der als Variante eines modernisierten und demokratischen Justizialismus betrachtet werden konnte. Abgesehen von einigen Widersprüchen und von der Vagheit einer Reihe von Formulierungen stand das Programm für ein sozialchristliches Denken, das sich zudem hervorragend mit dem Werdegang Cafieros und mit der politischen Identität der anderen Koalitionsmitglieder vertrug 96 . Unmittelbar nach den Wahlen von 1987 entwickelte sich Cafiero zum bevorzugten Gesprächspartner der radikalen Regierung. Aus seiner doppelten Position als Gouverneur der wichtigsten Provinz Argentiniens und neuer Führer des PJ heraus war er dazu entschlossen, mit der Regierung über das zu sprechen, was man damals gerne als "neuen föderalen Pakt" bezeichnete: einen umfassenden Rahmen, der die Beziehungen zwischen den Provinzen und dem Nationalstaat regeln sollte, selbstverständlich unter Einbeziehung der finanziellen Fragen 97 . Wie aus seinen diesbezüglichen Deklarationen hervorgeht, interpretierte der neue Gouverneur seine Rolle gegenüber der radikalen Regierung im Sinne einer Erfüllung der Doppelfunktion, "weiterhin bei der Konsolidierung des Systems zusammenzuarbeiten, um zu verhindern, daß die ungelösten Probleme die institutionellen Möglichkeiten 95
Vgl. El Periodista N° 166 (13. - 19. November 1987: 6).
96
Vgl. Frente Justicialista Renovador (1987: passim).
"
Vgl. El Periodista N° 162 (16. - 22. November 1987:40).
198
übersteigen, und gleichzeitig zu zeigen, daß die Krise mit anderen Mitteln gelöst werden kann" 98 .
Auf diese Art und Weise war es möglich, zu jener Übereinkunft zu gelangen, die schließlich die Verabschiedung des Finanzausgleichsgesetzes erlaubte. Die Idee eines "neuen föderalen Paktes" zwang zu Verhandlungen in einem breiteren Rahmen, d.h. die Diskussion über die Verfassungsreform, die sich damals zu einem der prioritären Ziele der Regierung entwickelt hatte. Cafiero zeigte auch bezüglich dieses Projektes seinen guten Willen, und er tat dies vermutlich aus zwei Beweggründen: Zum einen war er davon überzeugt, daß in der Tat eine Reform zur Modernisierung des Regierungssystems notwendig sei; zum anderen kalkulierte er, daß sowohl die Verhandlungen über eine Reform als auch die Reform selbst zur Entstehung eines zukünftigen Szenarios beitragen könnten, das seinen politischen Interessen entgegenkäme. Überzeugt davon, daß seine Führungsrolle innerhalb des Justizialismus unumstritten sei, bemühte sich der Gouverneur von Buenos Aires darum, auch die Gunst der nicht-peronistischen Wählerschaft zu erlangen und gleichzeitig die Regierbarkeit eines Systems zu gewährleisten, das Anfang 1988 bereits an mehreren Fronten Zerfallserscheinungen zeigte". Mit dieser Strategie erwarb sich Cafiero das Image eines Verbündeten der radikalen Regierung, ausgerechnet in dem Moment, als deren Abstieg begann. Obwohl die im Mai vereinbarte Steuererhöhung, durch die die Krise der nordwestlichen Provinzen bekämpft werden sollte, Buenos Aires keinerlei Vorteile brachte, erschien Cafiero in den Augen der Öffentlichkeit als wichtigster Verantwortlicher für diese Maßnahme. Zwar erkannten seine Berater das mit dieser Strategie verbundene Risiko, aber da war es schon zu spät, um einen anderen Weg einzuschlagen. Im Juli gewann Menem die internen Wahlen des Justizialismus und beendete damit die kurze Idylle, die den Staatspräsidenten und den Gouverneur der Provinz Buenos Aires vereint hatte. Die Verdrängung Cafieros in die zweite Reihe der politischen Szene bedeutete auch das Ende jeglicher Möglichkeit, zu einer Übereinkunft zwischen Regierung und Opposition zu gelangen, um der Krise, die sich jetzt auf das gesamte System ausdehnte, auf konzertierte Art und Weise zu begegnen. Die Situation und die Strategie Carlos Menems waren völlig anders 100 . Der amtierende argentinische Präsident wurde im Jahr 1930 als Sohn syrischer Einwanderer in La Rioja geboren. Sein frühzeitiges Engagement innerhalb des Peronismus brachte ihn 1973 an die Spitze der Provinzregierung, aus der er durch den Militärputsch verdrängt wurde. 1983 wurde Menem zum zweiten Mal zum Gouverneur von La Rioja gewählt, und inmitten des damaligen Wahldebakels des Justizialismus erhob er als einer der ersten seine Stimme gegen die orthodoxe Parteiführung. Von allen justizialistischen Gouverneuren suchte er die 98
Zitiert nach El Periodista N°172 (25. Dezember 1987 bis 1. Januar 1988: 3).
99
Vgl. El PeriodistaN° 175 (15. - 2 1 . Januar 1988: 2ff.); Morales Solá(1992: 83ff.).
100
Die Biographie Carlos Menems und die Entwicklung seiner politischen Karriere sind detailliert herausgearbeitet in Leuco/Dlaz (1988), Menem (1989) u. Cerruti (1993).
199
größte Nähe zu Präsident Alfonsin, als sich dieser im Zenit seiner Karriere befand. Später verwandelte er sich in den Rivalen, der ihn von der Macht verdrängen sollte. Carlos Menem regierte La Rioja entsprechend einem Modell, das für die politische Tradition dieser Provinz schon immer typisch gewesen war: eine Kombination aus konservativem Patrimonialismus und Massenklientelismus, zwei Prinzipien, die sich ganz und gar nicht widersprachen, sondern geradezu perfekt ergänzten 101 . Zahlreiche Beispiele belegten die Tendenz des Gouverneurs, den Staatsapparat der Provinz mit einem Familienbesitz zu verwechseln. Seine Ehefrau Zulema Yoma übernahm das Sekretariat für soziale Fragen. Sein Bruder Eduardo Menem, der sich immer geweigert hatte, dem Justizialismus beizutreten, weil er den Konservativen nahestand, wurde zum Bundessenator ernannt. Als Dank für die finanzielle Unterstützung seines Wahlkampfes durch die Familie Yoma ernannte Gouverneur Menem den Buchhalter des Familienunternehmens, Antonio Erman González, zum Direktor der Bank von La Rioja und später zum Wirtschaftsminister. Als später das Familienunternehmen in finanzielle Schwierigkeiten geriet, konnte es sich durch Kredite der Provinzbank über Wasser halten. Das "Haus von La Rioja", eine Art Vertretung der Provinz in den anderen Distrikten des Landes, diente als operative Ausgangsbasis des Gouverneurs. Die Gelder der im ganzen Land ausgespielten Lotterie von La Rioja wurden zweckentfremdet, um Reisekosten und Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit abzudecken sowie zur Förderung der persönlichen Unternehmen von Menems engsten Mitarbeitern. Während seiner gesamten Regierungszeit kam es immer wieder zu Korruptionsvorwürfen. Eine Kontrolle des Umgangs mit öffentlichen Geldern war aus dem einfachen Grund unmöglich, daß keine dafür zuständige Instanz existierte. Der Gouverneur machte keinen Gebrauch von seinem Recht, die Mitglieder des Rechnungshofes zu ernennen, weshalb dieser sich nicht konstituieren konnte. Mit zweifelhaften Methoden gelang ihm eine Reform jener Artikel der Provinzverfassung, die bislang eine Wiederwahl des Gouverneurs untersagt hatten. Außerdem verstand er es, sich die Justiz gefugig zu machen 102 . Nachdem das Ergebnis der Wahlen vom 30. Oktober 1983 bekannt war, reagierte Menem in Windeseile, um sich an die neuen Machtverhältnisse anzupassen. Noch in der Wahlnacht verkündete er: "Alfonsin hat die peronistischen Fahnen besser vertreten als viele, die sich Peronisten nennen. Es bleibt also nichts zu sagen. Der beste hat gesiegt" 103 . Gegenüber dem Radikalismus gelang es Menem, sich Vorteile zu verschaffen, ohne dafür allzu viele Gegenleistungen zu erbringen. Anfangs trafen sich seine eigenen Ambitionen innerhalb des Justizialismus mit dem Interesse der Radikalen, die Opposition zu schwächen. Außerdem wurde ihm schnell klar, daß die Aussagen seiner peronistischen Parteifreunde nicht auf ein günstiges 101
Vgl. Borón (1991: 62ff.).
102
Vgl. Cerruti (1993: passim).
103
Zitiert nach Leuco/Dlaz (1988:27).
200
Echo von Seiten der Bevölkerung stießen. Anders als man aufgrund der traditionellen national-populistischen Rhetorik Menems hätte erwarten können, entschied er sich daher als einziger justizialistischer Gouverneur dazu, öffentlich die Position der Regierung hinsichtlich des Grenzkonflikts mit Chile um den Beagle-Kanal zu unterstützen. Aber wenn Menem auch durch diese Geste Punkte vor der Öffentlichkeit sammeln konnte, so nutzte dies der Regierung sehr wenig: Bei der entscheidenden parlamentarischen Abstimmung über die Ratifizierung des Abkommens sprachen sich die beiden Senatoren der Provinz La Rioja dagegen aus 104 . Zu jener Zeit, als Alfonsin versuchte, sich als Bannerträger eines demokratischen Pakts zu präsentieren, und von der Idee träumte, eine "Dritte historische Bewegung" anzuführen, bemühte sich Menem um ein Bild der Übereinstimmung mit dem triumphierenden Führer. Im Gegenzug erhielt er Kredite für seine Provinz, Rediskonte für die Bank von La Rioja und eine Sonderbehandlung von Seiten der nationalen Exekutive hinsichtlich der Verteilung der Fonds für Wohnungsbau, Gesundheit und Sozialfürsorge. Menem wußte auch mit Eduardo Angeloz, dem UCR-Gouverneur von Cordoba, zu verhandeln. Als Belohnung für die Zustimmung eines menemistischen Abgeordneten im Parlament von Cordoba zur Reform der Provinzverfassung, durch die eine Wiederwahl von Angeloz ermöglicht wurde, sicherte sich Menem finanziellen Beistand in Form von Krediten, die die Bank von Cordoba der Bank von La Rioja gewährte105. Menem betrachtete das Gouverneursamt lediglich als Startrampe und Ressource für seine Ambitionen auf die Präsidentschaft. In einer biographischen Dokumentation, die als Auftragsarbeit geschrieben wurde und somit frei von jeder kritischen Absicht sein dürfte, findet man eine Art Zugeständnis, dessen Offenheit von einem ungetrübten Gewissen zeugt: "Ab 1983 wurde das gesamte Handeln Carlos Menems als Gouverneur von der Tatsache geprägt, daß er sich bereits als einen geeigneten Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten betrachtete, ein Bestreben, das aufgrund der ständigen Besuche führender Politiker aus anderen Provinzen bei der Regierung von La Rioja evident wurde. [...] Carlos Menem begann auch damit, die verschiedenen Landesteile ständig zu bereisen. Dazu pflegte der aus La Rioja stammende Humorist René Cárdenas zu sagen, Menem könne sich nicht um eine dritte Amtszeit [als Gouverneur] bewerben, denn es werde ihm nicht gelingen, die gesetzlich vorgeschriebene Mindestaufenthaltszeit von zwei Jahren vorzuweisen"' 06 .
Zunächst stand Menems Werdegang als Provinzpolitiker seinen weitergehenden Ambitionen im Weg. Seine Herkunft aus einer Provinz mit einer Wahlbevölkerung von nicht einmal 120.000 Personen sorgte nicht gerade für Aufmerksam104
Bei diesem Anlaß fand eine namentliche Abstimmung statt (vgl. D.S.C.S. (1984: IV 3531); El Periodista N ° 11 (24. - 30. November 1984: 2); Cerniti (1993: 202).
105
Vgl. Cerniti (1993: 178ff.; 2 2 0 Í ) .
106
Menem (1989: 243f.).
201
keit unter den großen Politikern des Landes. Wenn Menem anfangs überhaupt wahrgenommen wurde, dann in erster Linie wegen seines pittoresken Auftretens. Mit Hilfe von drei Strategieelementen gelang es ihm jedoch relativ schnell, seinen Bekanntheitsgrad zu steigern. Dazu gehörte erstens die bereits erwähnte Annäherung an Präsident Alfonsin, zweitens die massenmediale Vermarktung seines Privatlebens als das eines weiteren Mitglieds des argentinischen jet-sets und drittens eine unermüdliche Reiseaktivität, die ihn kreuz und quer durch das Land führte: "Menem verbrachte zwei Tage in La Rioja, zwei in Buenos Aires und drei auf Reisen durch das Landesinnere. 'Er wurde anläßlich eines Boxfestivals in Tucumán enthusiastisch begrüßt', verkündete [die Zeitung] La Gaceta dieser Provinz. Einen Tag später war er in Concordia wegen einer Versammlung der justizialistischen Bürgermeister aus Entre Ríos. Am folgenden Tag in Merlo, San Luis, auf einem Kongreß der Gewerkschaft der Post- und Telefonangestellten, um anschließend eine Karawane in Moreno, in der Provinz Buenos Aires, anzuführen. In dem Hauptstadtdistrikt traf er sich mit Wirtschaftsminister Bernardo Grinspun, mit dem Geschäftsführer der Hypothekenbank und mit dem Staatssekretär für Sport. Er erschien in zwei Fernsehkanälen und zwei Boulevardzeitschriften. Er arbeitete weiter am Aufbau einer eigenen Struktur, indem er geduldig das Land bereiste und sich darum bemühte, von der Presse beachtet zu werden. Er erschien auf jedem Fest, in jedem Dorf. An einem Tag war er auf dem Kälberfest in Ayacucho, am folgenden Tag auf dem Blumenfest in Escobar. Morgens auf der Konferenz eines Revisionistenvereins in der Stadt Buenos Aires und nachmittags in Gualeguaychú, Entre Ríos. Er war überall, außer in La Rioja"107.
Ab 1986 bemühte sich Menem um mehr Distanz gegenüber der Regierung und auch gegenüber den Erneuerern in seiner eigenen Partei. Angesichts der fortschreitenden Schwächung des Radikalismus und der Erholung des Justizialismus konnte ihm eine öffentliche Verbrüderung mit dem Präsidenten jetzt nur noch wenig nutzen. Der Gouverneur von La Rioja verhärtete daher seine Position gegenüber der Regierung und stützte sich in seinen Reden auf eine betont oppositionelle, mit populistischen Tönen beladene Rhetorik. Dazu griff er auch wieder stärker auf sein Image als Caudillo aus dem Landesinneren zurück, mit dem er sich von den modernen Funktionären des Radikalismus und der peronistischen Erneuerer abgrenzte. Auch die neue Strategie sollte Erfolg haben. Seine stark ausgeprägte Intuition hatte Menem wieder einmal erkennen lassen, woher diesmal der Wind wehte. Die Möglichkeit, daß die Republik Argentinien gemäß der politischen Traditionen der Provinz La Rioja regiert werden könnte, war inzwischen nicht mehr ins Reich des Absurden verwiesen. Die Untersuchung der Beziehung zwischen den peronistischen Gouverneuren und der radikalen Zentralregierung hat gezeigt, daß die langanhaltenden Konflikte nicht mehr als eine Variation über ein einziges Thema waren: das Geld. Dabei sollte sich herausstellen, daß die von Carlos Menem eingeschlage-
107
202
Cerniti (1993: 178).
ne Strategie eines individuellen Feilschens wesentlich einträglicher war als der Versuch Antonio Cafieros, sich an der Ausarbeitung weitergehender Übereinkünfte zu beteiligen und dabei die Doppelrolle einer Alternative zur Regierung und eines Garanten für die Stabilität des Systems zu spielen.
6.3 Das oppositionelle Handeln der Gewerkschaften Das Verhältnis gegenüber der Arbeiterbewegung war eine der schwächsten Flanken der Regierung Alfonsin. Es kam in diesen Jahren zu 2.861 registrierten Arbeitskonflikten 108 . Eine solche Zahl gibt bereits Auskunft über das Ausmaß der Spannungen zwischen Regierung und Gewerkschaften, das die gesamte Periode überschattete. Auch die häufigen Wechsel an der Spitze des Arbeitsministeriums verdeutlichen die Schwierigkeiten der UCR-Regierung, ihre diesbezüglichen politischen Ziele durchzusetzen. Antonio Mucci, der erste von Alfonsin ernannte Arbeitsminister, mußte bereits nach vier Monaten zurücktreten. Ihm folgten Juan Manuel Casella (25.4.84-29.10.84), Hugo Barrionuevo (30.10.84-24.3.87), Carlos Alderete (31.3.87-15.9.87) und Ideler Tonelli (21.9.87-08.7.89). Das oppositionelle Handeln der peronistischen Gewerkschaften umfaßte verschiedene Bereiche und Modalitäten. An erster Stelle ist der Konflikt um die Definition des rechtlichen Rahmens für gewerkschaftliches Handeln zu nennen. Dabei ging es um die Bedingungen und die Möglichkeitsstrukturen für die Tätigkeit der Arbeiterbewegung. An zweiter Stelle gilt es, die vom Gewerkschaftsdachverband CGT angeführten Generalstreiks und auch die wichtigsten Konflikte in einzelnen Sektoren, insbesondere im Bereich der öffentlichen Verwaltung, zu analysieren. Ein ganz besonderes Kapitel der Beziehungen zwischen der radikalen Regierung und den peronistischen Gewerkschaften war die Ernennung eines peronistischen Gewerkschaftsführers, Carlos Alderete, zum Arbeitsminister. Zu untersuchen ist schließlich auch die von den peronistischen Gewerkschaften im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Regierung Alfonsin betriebene Allianzpolitik.
6.3.1 Der Kampf um die Ressourcen Um die oppositionelle Strategie der peronistischen Gewerkschaften einordnen zu können, ist es notwendig, sich zunächst deren Konzeption hinsichtlich ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft und im Rahmen des neuen politischen Regimes vor Augen zu fuhren. Dabei sind tiefgreifende Divergenzen zu jener Rolle zu konstatieren, die ihnen die Regierung zuschreiben wollte.
Information aus dem Boletín Mensual de Documentación
(1994: 65).
e Información Laboral, zitiert nach Palacios
203
Unmittelbar nach dem Wahlsieg der UCR und noch vor Amtsantritt der neuen Administration kündigte Saúl Ubaldini, der damals der CGT-Brasil vorstand, an: "[...] wenn Alfonsin dem Volk nicht gibt, was diesem legitimerweise zusteht, werden wir Arbeiter auf die Straße gehen und das Land so oft paralysieren, wie es notwendig ist"109. Die Führung der CGT-Azopardo erklärte ihrerseits ihre "uneingeschränkte Unterstützung" für die neue Regierung und rief gleichzeitig dazu auf, die Bemühungen um eine Wiedervereinigung des Gewerkschaftsdachverbandes zu intensivieren, "um eine einzige CGT zu bilden, die als Machtfaktor eine angemessene Gesprächspartnerschaft mit der Regierung erreicht" 110 . Auf diese Art und Weise blieben die beiden Gewerkschaftsführungen trotz aller vorhandenen Divergenzen ihren überkommenen Konzeptionen treu: Dem Volk zu geben, was dem Volk zustand, war Aufgabe der Regierung; die Arbeiter würden ihre Ziele erreichen, indem sie das Land paralysierten, und nicht durch Verhandlungen mit den Unternehmern; die Einheit der CGT war unabdingbar, damit diese erneut als Machtfaktor agieren konnte. Die erste Auseinandersetzung um die Definition des rechtlichen Rahmens für gewerkschaftliches Handeln endete mit einem deutlichen Sieg der oppositionellen Gewerkschaften und mit dem Scheitern des von Arbeitsminister Mucci vorgelegten Konzepts zu deren Neuordnung. Diese Initiative der Exekutive, die dem Parlament nur wenige Tage nach dem Amtsantritt der UCR-Regierung vorgelegt wurde, enthielt zahlreiche neue Bestimmungen. Das Arbeitsministerium sollte zunächst Wahlen zu den internen Kommissionen und den Gremien der Basisdelegierten ausschreiben; der Wahlprozeß sollte von unten nach oben erfolgen; Minderheiten mit einem Anteil von mindestens 25% der abgegebenen Stimmen müßten auf allen Ebenen in den Führungsgremien vertreten sein; für die Überwachung des Wahlprozesses wären die Wahlrichter und nicht die Arbeitsrichter zuständig. 111 Die Gewerkschaften betrachteten das Vorhaben der Regierung als Versuch, die peronistische Identität der Arbeiterbewegung zu zerstören. Aus dieser Perspektive kritisierten sie es als staatliche Einmischung in innergewerkschaftliche Angelegenheiten, deren tatsächliche Absicht es sei, Mitglieder oder Verbündete der radikalen Partei in den Führungsgremien unterzubringen. Der IBFG und sogar die ILO kritisierten die Position der Regierung mit denselben Argumenten. Der Streit wurde von öffentlichen Mobilisierungen für und gegen die Annahme des Gesetzes begleitet 112 . Die Ablehnung der Vorlage durch den Senat führte zum Rücktritt von Arbeitsminister Mucci. Sein Nachfolger Juan Manuel Casella kündigte an, seine Amtszeit werde sich auf sechs Monate beschränken und sich darauf konzentrie-
,w
El Bimestre 12 (1983:36).
1,0
El Bimestre 12 (1983:36).
111
Vgl. "Proyecto de reordenamiento sindical: su régimen electoral".
1,2
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 41ff.); Belardinelli (1994: 105ff.); Godio (1989: 56).
204
ren, die Normalisierung 113 der Gewerkschaften in Gang zu setzen. Parallel dazu ernannte Präsident Alfonsin den nicht peronistischen Gewerkschaftsführer Hugo Barrionuevo zu seinem persönlichen Beauftragten, um die Verhandlungen mit der Arbeiterbewegung zu erleichtern. Dank der von diesem unternommenen Schritte gelangte man zu einer Übereinkunft über die Normalisierung der Gewerkschaften, die dann auch vom Parlament angenommenen wurde 114 . Aus diesen Vorgängen gingen die peronistischen Gewerkschaften geeint und gestärkt hervor, denn sie hatten ihre Normalisierungskonzeption durchsetzen können. Juan Manuel Casella erkannte dies einige Jahre später: "Es scheint mir, daß die Fehler, die wir bei der Einschätzung der noch verbliebenen Handlungskapazität der Gewerkschaften machten, indirekt zu einer Stärkung der Gewerkschaften führten, denn sie konnten dann einen verbindenden Faktor finden, einen Feind definieren und ein genaues Ziel vor Augen haben" 115 .
Casella trat zurück, nachdem die Modalitäten des Normalisierungsprozesses festgelegt wurden. Aber bevor dies in die Praxis umgesetzt werden konnte, kam es zu langwierigen Verhandlungen über das Eigentum der CGT, denn die Gewerkschaftsführer wollten zwar auf jeden Fall die Güter ihrer Organisation zurückerhalten, sie weigerten sich jedoch, die Verantwortung für die während der Militärdiktatur angehäuften Schulden des Dachverbandes in Höhe von 300 Millionen Dollar zu übernehmen. Schließlich übernahm der Staat die entsprechenden Zahlungsverpflichtungen, und die Gewerkschaftsführer konnten erneut über ihre früheren Güter und Besitztümer verfügen" 6 . Hugo Barrionuevo trat die Nachfolge von Casella als Arbeitsminister an. Zum neuen Staatssekretär wurde Armando Caro Figueroa ernannt. Er zeichnete für die Ausarbeitung einer Reihe von Gesetzesvorlagen verantwortlich, durch die die rechtlichen Grundlagen der Beziehungen zwischen Staat, Gewerkschaften und Unternehmern grundlegend modifiziert werden sollten. Das paquete laboral vereinte positive Neuerungen für die Lohnabhängigen mit anderen eher restriktiven Bestimmungen. Zu ersteren gehörte das Recht auf Mitbestimmung in der Führung staatlicher Unternehmen sowie staatlicher und halbstaatlicher Handelsgesellschaften durch die Entsendung eines Repräsentanten in die entsprechenden Führungsgremien. Hinzu sollten die Arbeiter in staatlichen, halbstaatlichen und privaten Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten das Recht bekommen, vom Arbeitgeber Informationen über die Bilanz und die Investitionstätigkeit des Betriebs zu erhalten und von der Geschäftsführung konsultiert zu werden. Zu den restriktiven Maßnahmen gehörten die von der Regierung
Darunter wird insbesondere die Aufhebung der kommissarischen Aufsicht durch den Staat, die Rückgabe des Gewerkschaftsvermögens und die Durchführung interner Wahlen verstanden. Vgl. Ley 23.071. Deklarationen Juan Manuel Casellas in einem 1992 durchgeführten Interview, zitiert nach Senen Gonzälez/Bosoer (1993: 40). Vgl. Senön Gonzälez/Bosoer (1993: 63); Grewe (1994: 65).
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festzulegende Lohnbandbreite, die als Obergrenze für Kollektivverhandlungen fungieren sollte, sowie die Möglichkeit der Regierung, ohne Konsultation mit anderen Akteuren eine "Notstandssituation" auszurufen, um Verhandlungen zu suspendieren oder die Realisierung von Kampfmaßnahmen zu verhindern. Die neuen Bestimmungen für die Kollektivverhandlungen sahen auch Vereinbarungen auf Unternehmensebene innerhalb sogenannter Rahmenabkommen vor, wodurch die Verhandlungsführung dezentralisiert, der Handlungsspielraum der Betriebskommissionen ausgeweitet und in gewisser Hinsicht der Vertikalismus der gewerkschaftlichen Entscheidungsstrukturen neutralisiert werden sollte. Die Vorlagen wurden von der CGT und den Unternehmerverbänden gleichermaßen abgelehnt. Auch der von dem justizialistischen Senator Oraldo Britos vorgelegte Entwurf für ein Gewerkschaftsgesetz fand keine Mehrheit" 7 . Während der Amtszeit Barrionuevos führte die CGT sieben Generalstreiks durch, unter deren Forderungen sich kein einziges Mal die Verabschiedung der Arbeitsgesetzgebung befand, egal ob mit oder ohne Modifikationen. Der Gewerkschaftsdachverband schien sich in seiner Rolle als Frontalopposition wohler zu fühlen und zog es offenbar vor, weiterhin innerhalb des von der Diktatur gesetzten Rechtsrahmens, der nach wie vor gültig war, zu agieren, statt konkret über die Reformvorhaben zu diskutieren118. Die Anfang 1988 verabschiedeten Arbeitsgesetze konnten dann allerdings doch mit dem Wohlwollen der Gewerkschaften rechnen, zumal die Initiative dazu von der Gruppe der 15 ausgegangen war. Der neue rechtliche Rahmen ließ einen großen Teil der von Barrionuevo angestrebten Neuerungen unberücksichtigt und kam, abgesehen von leichten Modifikationen, einer Rückkehr zum Gesetz 14.250 gleich, das bereits während der Präsidentschaft Peróns im Jahr 1953 verabschiedet worden war. Die neue/alte Gesetzgebung schrieb vor, daß Kollektiwereinbarungen zwischen den Arbeitgebern und "einem Berufsverband der Arbeiter mit Vertretungskompetenz [personería gremial]" abgeschlossen würden. Die Bestimmungen sahen zwar kein Verbot von Übereinkünften auf verschiedenen Ebenen vor, sie enthielten jedoch auch keinerlei Klausel, die derartige Verhandlungen gefordert hätte, ebensowenig wie Mechanismen zur Koordination der unterschiedlichen Verhandlungsebenen in Betracht gezogen wurden. Anders als in dem unter der Ägide Barrionuevos ausgearbeiteten Entwurf wurden die Arbeitsbedingungen in den verabschiedeten Gesetzen nicht als Verhandlungsgegenstand betrachtet. Das Recht der Arbeiter auf Information über die Situation der Unternehmen war verschwunden, und eine Kombination widersprüchlicher Dispositionen befreite den Staat von der Verpflichtung, mit seinen Angestellten zu verhandeln, wenn nicht bereits eine Übereinkunft existierte" 9 .
117
Der Text dieser Vorlage ist abgedruckt in D.S.C.S. (1984: V 3763ff.).
"'
Vgl. El Periodista N° 100 (8. - 14. August 1986: 4); El Periodista N° 109 (10. - 16. November 1986: 10); Gaudio/Thompson(1990: 157f.); Godio(1989: 59); Moreno(1991: 131). Vgl. die Gesetze 23.544, 23.545 u. 23.546, das Dekret 183 und die Ausftlhrungsdekrete 199/88 u. 200/88 der Exekutive, reproduziert in Godio/Slodky (1988), sowie die dort auftauchenden Kommentare.
206
Die Inhalte der aus den Reihen der Gewerkschaften hervorgegangenen und mit deren Wohlwollen verwirklichten Arbeitsgesetzgebung verdeutlichten, daß die peronistischen Gewerkschaften nach wie vor die Lohndiskussion für wichtiger hielten als alle anderen Themen. Nach ihrem erfolgreichen Widerstand gegen die Notstandsklausel interessierten sie sich nicht mehr für andere, das Arbeitsleben betreffende Fragen und für die Veränderungen, die dieser Bereich in den zurückliegenden Jahren durchgemacht hatte. Die Kollektiwerhandlungen waren in Argentinien traditionell geprägt durch Branchenabkommen, in denen die ehemalige Stärke der großen Industriegewerkschaften zum Ausdruck kam. In einem veränderten sozio-ökonomischen Kontext aber konnte die Möglichkeit zur Dezentralisierung von Verhandlungen ohne die Existenz von Manteltarifen zu einem fortschreitenden Abschluß atomisierter und widersprüchlicher Vereinbarungen führen. Ein anderes Schlüsselelement der gewerkschaftlichen Oppositionsstrategie war die Wiedererlangung der Kontrolle über die Sozialwerke (Obras Sociales). Die Realisierung dieses Ziels würde der Arbeiterbewegung erneut Zugang zu einer wichtigen Einnahmequelle verschaffen und sich zudem als Werbeinstrument einsetzen lassen. Dies ist nur aus der historischen Entwicklung erklärlich. Bereits während der ersten Regierung Perön hatten die Gewerkschaften damit begonnen, Gesundheitsdienste, Kliniken sowie Ferien- und Erholungszentren aufzubauen. Sie setzten diese Arbeit während des Verbots des Peronismus fort und konnten auf diese Art und Weise beträchtliche wirtschaftliche und soziale Stärke erlangen. Ein von der Regierung Ongania erlassenes Gesetz erkannte offiziell die Eigentumsrechte der Gewerkschaften über die Sozialwerke an. Diese sollten außerdem unter der Koordination eines Nationalen Instituts für Sozialwerke (Institute Nacional de Obras Sociales - INOS) stehen und zu ihrer Finanzierung Pflichtbeiträge aller Arbeiter der jeweiligen Branchen bekommen, egal ob diese der entsprechenden Gewerkschaft angehörten oder nicht. Dadurch erlangten die Gewerkschaften die Kontrolle über beträchtliche finanzielle Mittel und über ein umfassendes Versicherungsnetz. Dies führte zu einem weiteren Machtzuwachs der Spitzenfunktionäre, denen nun große Möglichkeiten zur Instrumentalisierung der Sozialfonds für politische Zwecke sowie für klientelistische Manipulationen zur Verfügung standen. Während der letzten Militärregierung wurden die Gewerkschaften von der Geschäftsführung der Sozialwerke ausgeschlossen und an ihrer Stelle Militärs als kommissarische Verwalter eingesetzt 120 . Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich also ein Gesundheitssystem mit ausgesprochen eigenartigen Merkmalen. Die Beiträge der Arbeiter und Unternehmer wurden mit einem einheitlichen Prozentsatz für alle Branchen und Lohnniveaus festgelegt, aber die Qualität und die Art der Versorgung hing von der wirtschaftlichen Macht der jeweiligen Gewerkschaft ab. Es bestanden große Unterschiede zwischen reichen und armen Sozialwerken und eine stark diver-
120
Vgl.Ley 18.610 und Femändez (1988: II 135f.).
207
gierende regionale Dichte des Gesundheitsnetzes. Im Jahr 1986 waren 80% der Bevölkerung der Provinz Buenos Aires in das System der Sozialwerke integriert, in Formosa dagegen galt dies nur für 19%. Gleichzeitig mußten die staatlichen Gesundheitsdienste, deren Qualität ständig zurückging, die gesundheitliche Versorgung der ärmsten Bevölkerungsschichten übernehmen, denn wer vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen war, für den blieben auch die gewerkschaftlichen Dienstleistungen unzugänglich. Hingegen verwalteten die Sozialwerke zu Beginn der Regierung Alfonsin Gelder in Höhe von ungefähr einer Milliarde Dollar, weshalb sie ein von mehreren Streitparteien begehrtes Objekt waren 121 . Auch in diesem Fall ging die neue Regierung in die Offensive. Am 11. September 1985 präsentierte die Exekutive dem Abgeordnetenhaus einen von Gesundheits- und Sozialminister Aldo Neri ausgearbeiteten Entwurf für ein Gesetz über die Einführung eines nationalen Krankenversicherungssystems. Er sah eine Abtrennung der Sozialwerke von den Gewerkschaften vor, um sie zusammen mit den Krankenhäusern und den übrigen staatlichen Gesundheitsleistungen in ein ausschließlich durch Arbeitgeberbeiträge finanziertes nationales Gesundheitssystem zu integrieren, das sowohl den Arbeitern als auch den Rentnern und, unter bestimmten Voraussetzungen, auch den Selbständigen und den sozial Schwachen zur Verfügung stehen sollte. Die Kontrolle über dieses System würde in Händen der Nationalen Verwaltung der Krankenversicherung {Administración Nacional del Seguro de Salud - ANSSAL) liegen, deren Direktorium sich aus sechs staatlichen Vertretern und jeweils drei Repräsentanten der Arbeiter und der Rentner zusammensetzen sollte122. Die CGT lehnte die Vorlage rundum mit dem Argument ab, die Gewerkschaften seien die authentischen Eigentümer der Sozialwerke, deren Gelder ein unveräußerliches Vermögen der von den Gewerkschaften vertretenen Arbeiter darstellten. Notwendig sei eine eindeutige Trennung zwischen den Sozialwerken und dem staatlichen Gesundheitssektor, und der mit der Koordination und Kontrolle des Systems beauftragte Organismus müsse mehrheitlich aus Vertretern der CGT bestehen. Die peronistischen Gewerkschaften kritisierten sogar die vorgesehene Abschaffung der Arbeitnehmerbeiträge mit den Hinweis, die Arbeiter würden sich dann nicht mehr für den Zustand der Sozialwerke interessieren, und die höheren Arbeitgeberkosten würden auf die Preise abgewälzt. Die Position der CGT schlug sich in einem von dem justizialistischen Senator Oraldo Britos vorgelegten Gesetzentwurf über ein Nationales System der Sozialwerke und Sozialen Dienstleistungen nieder 123 .
121
Vgl. El Periodista N° 82 (4. - 10. April 1986: 8f.). Eine andere Quelle geht davon aus, daß die Sozialwerke damals über 2,5 Milliarden Dollar verfügten (vgl. Beliz 1988: 174). Auf jeden Fall war die Summe beträchtlich und ftlr die Gewerkschaften von großer Bedeutung. Sonst wären sie auf die freiwilligen Beiträge ihrer Mitglieder angewiesen gewesen, was in einem Kontext der Deindustrialisierung und der allgemeinen finanziellen Not wohl zu größeren Schwierigkeiten geführt hätte.
122
Vgl. El Periodista N ° 82 (4. - 10. April 1986: 9).
123
Vgl. D.S.C.S. (1985: II 1083ff.); Beliz (1988: 174).
208
Im März 1986 opferte die Regierung das Neri-Projekt und den Minister selbst, um die allgemeine Offensive der CGT gegen ihre Wirtschaftspolitik einzudämmen 124 . Im Verlauf des folgenden Jahres wurde eine neue Vorlage ausgearbeitet, die den Vorstellungen der Gewerkschaftler der Gruppe der 15 entsprach und die unter anderem vorsah, den Sozialwerken, die bis zum 31. März 1987 Subventionen des INOS erhalten hatten, ihre Schulden zu erlassen 125 . Diese Bestimmungen blieben in dem unter enormem Zeitdruck am 29. Dezember 1988 verabschiedeten Gesetz erhalten, das außerdem die Verwaltung der durch das System der Sozialwerke eingenommenen Gelder an die Gewerkschaftsführer zurückgab. Allerdings wurde die Verantwortung für die Überwachung und Leitung der Gesundheitsdienstleistungen der ANSSAL übertragen, deren Führung sich mehrheitlich aus Vertretern des Staates zusammensetzte 126 .
6.3.2 Die Streiks des Gewerkschaftsdachverbands CGT Die CGT führte während der Präsidentschaft von Raul Alfonsin dreizehn Generalstreiks durch. Alle richteten sich gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, gegenüber der der Gewerkschaftsdachverband ein alternatives Programm durchsetzen wollte, das nach einigen Modifikationen die Form eines als "die 26 Punkte" bekannten Forderungskatalogs annahm 127 .Mehrere dieser Streiks waren von Massenkundgebungen begleitet, bei denen stets der Generalsekretär der CGT, Saül Ubaldini, auftrat, der auf diese Art und Weise zum führenden Vertreter der Opposition avancierte 128 . Der erste Generalstreik fand am 3. September 1984 statt und richtete sich nicht nur gegen die Lohnpolitik der Regierung, sondern war auch auf andere Ursachen zurückzuführen. Damals standen Gewerkschaftswahlen an, und die verschiedenen Gruppierungen waren daran interessiert, sich so empfanglich wie möglich für die Forderungen der Basis zu zeigen. Gleichzeitig versuchte die CGT, die Aktionen der Einzelgewerkschaften zu vereinheitlichen, um ihre Position als Gesprächspartner der Regierung und der Unternehmer im Rahmen des Konzertierungsprozesses zu verbessern. Die Protestmaßnahme wurde nicht von allen Gewerkschaften unterstützt, was sich in einer recht unterschiedlichen Streikintensität niederschlug: Einer hohen Beteiligungsrate in der Industrie stand eine niedrige Quote im Dienstleistungssektor gegenüber 129 . Im März 1985 brach die Allianz zwischen der Nationalen Kommission der 25 und Gestiön y Trabajo, die zusammen bis dahin eine Verhandlungsstrategie befürwortet hatten. Dann beschloß die CGT-Führung, zu Kampf- und Mobilisierungsmaßnahmen im ganzen Land aufzurufen. In mehreren dieser Kundge124
Vgl. El Periodista N° 84 (12. - 24. April 1986: 6).
125
Vgl. El Periodista N° 1 7 9 ( 1 2 . - 18. Februar 1988: 8).
126
Vgl. Senén González/Bosoer(1993: 8f.).
127
Vgl. Confederación General del Trabajo (1986).
128
Vgl. G r e w e ( 1994: 69f.).
129
Vgl. El Bimestre 17 (1984: 22); Epstein (1992b: 132f.); Belardinelli (1994: 112).
209
bungen äußerte Ubaldini die Drohung, die Regierung "ändert entweder ihre Politik oder tritt ab". Diese reagierte mit dem Vorwurf, der Gewerkschaftsdachverband wolle das demokratische System destabilisieren. Die Kampfmaßnahmen erlangten ihren Höhepunkt am 23. Mai in einem zweiten Generalstreik. An diesem Tag traf an der Plaza de Mayo gegenüber dem Regierungsgebäude eine große Menschenmenge aus Arbeitern, Delegationen verschiedener politischer Parteien und Menschenrechtsorganisationen zusammen. Sie bejubelten den hitzigen Diskurs des CGT-Chefs, der scharfe Angriffe gegen die Politik der Regierung und die Haltung des Präsidenten richtete 130 . Zum dritten Generalstreik rief die CGT für den 29. August 1985 auf. Infolge der ersten Erfolge des Plan Austrat war die allgemeine Stimmung damals nicht sonderlich günstig für einen solchen Protest, weshalb sich die großen Gewerkschaften nicht daran beteiligten. Zwei Monate vor den Parlamentswahlen war die Kundgebung, die diesen Streik begleitete, eine Art Wahlkampfauftakt des Justizialismus. Inmitten des Chaos, in dem sich der politische Peronismus damals befand, verliehen die CGT und insbesondere Ubaldini der Opposition einen gewissen Zusammenhalt. Ubaldini gelang es erneut, daraus einen Vorteil zu ziehen: Einen Monat später war der Ubaldinismus in der Lage, die vierköpfige Führungsspitze der CGT zu demontieren und ihn als alleinigen Generalsekretär durchzusetzen 131 . Die folgenden Generalstreiks - einige von Kundgebungen und Mobilisierungsmaßnahmen begleitet, andere nicht - gehorchten dem gleichen Schema. Mit äußerst harten Worten, aber völlig vagen Inhalten forderte die CGT einen grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel der Regierung und die Erfüllung der "26 Punkte". In allen Fällen sorgte die Beteiligung der Arbeiter an den Maßnahmen für eine Bestätigung der Führungsrolle Ubaldinis. Beispielsweise diente der siebte Generalstreik am 9. Oktober 1986 dazu, die Position des Generalsekretärs anläßlich des im darauffolgenden Monat bevorstehenden Normalisierungskongresses zu stärken 132 . Um das Verhalten der Gewerkschaften zu verstehen, muß berücksichtigt werden, daß die Spitzenfunktionäre logischerweise an einer Stärkung der eigenen Machtposition interessiert waren. Die Realisierungschancen dieses Vorhabens hingen wesentlich von der Position ab, die sie als Vermittlungsinstanz zwischen der jeweiligen Basis und dem Staatsapparat einnahmen, und - konkreter - von ihrer Fähigkeit, ihre Basis zu mobilisieren und/oder zur Zurückhaltung zu bewegen. So bedeutete beispielsweise der nicht befolgte Aufruf zu einem Streik eine beträchtliche Schwächung der Handlungskapazität der verantwortlichen Vertreter gegenüber der Regierung. Die Ausweitung von Konflikten über das von den Gewerkschaftsführern gewünschte Maß hinaus zeigte dagegen, daß
130
Vgl. El Bimestre 21 (1985: 19; 50f.); El Periodista N° 33 (26. April bis 2. Mai 1985: 4); El Periodista N° 36 (17. - 23. Mai 1985: 4); Belardinelli (1994: 114í).
131
Vgl. El Bimestre 22 (1985: 14); El Periodista N° 51 (30. August - 5. September 1985: 2f.); Gaudio/ Thompson (1990: 130f.).
132
Vgl. Belardinelli (1994: 125).
210
diese nicht in der Lage waren, ihre Basis zu kontrollieren, wodurch sie als Gesprächspartner für die mit der Definition der Arbeitspolitik befaßten Regierungsfunktionäre ebenfalls an Wert verloren. Wenn es darum ging, über Kampfmaßnahmen zu entscheiden, mußte die Gewerkschaftsspitze daher sowohl die Haltung der Regierung als auch die ihrer Basis in Erwägung ziehen 133 . Vor diesem Hintergrund griff die CGT auf ihre überkommene Strategie zurück, und die peronistischen Gewerkschaftler entschieden sich, das zu tun, was sie immer getan hatten: "schlagen und verhandeln". Diese Strategie, die ihnen seit Jahrzehnten vertraut war, basierte auf der Mobilisierungsfahigkeit der Gewerkschaftsapparate. Das politische Druckpotential des Gewerkschaftsdachverbandes hing deshalb weniger von der Wirtschaftskonjunktur ab, als vielmehr von den internen Übereinkünften zwischen den Führern der wichtigsten Gruppierungen. Diese wiederum fanden, wie bereits ausgeführt wurde, im Rahmen von äußerst instabilen Allianzen statt134. Die Gewerkschaftsführer richteten ihre gesamten Forderungen an den Staat. Sie wußten genau, daß es ihnen niemals gelingen würde, einen grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel durchzusetzen oder der Regierung ihr Alternativprogramm aufzuzwingen. Der tatsächliche Nutzen, den sie aus einzelnen Aktionen zogen, bemaß sich jedoch in völlig anderen Kategorien als die öffentlich gestellten Forderungen. Beispielsweise wurde die angekündigte zweite Phase des Kampfplans von 1985 nicht etwa revidiert, weil die Gewerkschaften ihr deklariertes Ziel, einen Richtungswechsel der Wirtschaftspolitik herbeizuführen, erreicht gehabt hätten, sondern weil Präsident Alfonsin sich bereit erklärt hatte, die Normalisierung der CGT gemäß den Vorstellungen der Spitzenfunktionäre durchzuführen und diesen den noch unter staatskommissarischer Aufsicht stehenden Immobilienbesitz zurückzuerstatten 135 . Die Gewerkschaftsbosse versuchten bewußt, sich bei ihrer Konfrontation mit der Regierung als Führer der Opposition darzustellen, und sie rechtfertigten ihre Haltung mit dem Argument, die Unordnung und Schwäche des PJ zwinge sie zu einem solchen Handeln. So betonte José Pedraza im März 1987: "Auf der politischen Ebene existiert keine Opposition. [...] Wir Gewerkschaftsführer haben alle absolutes Vertrauen in die Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber dem Peronismus. Ohne diese Arbeiterklasse könnte der Peronismus weder heute noch in der Zukunft existieren. Daher begehen einige politische Führer des Peronismus einen tragischen Fehler, wenn sie versuchen, der Arbeiterklasse eine sekundäre Rolle zuzuweisen. Die CGT steht praktisch allein. Diese Einsamkeit ist von uns weder gesucht noch gewünscht; sie ist das Ergebnis einer schwierigen Phase für den Volkssektor. Die peronistische politische Klasse ist nicht auf der Höhe der Zeit"136.
133
Vgl. Epstein (1992b: 125).
134
Vgl. Palomino ( 1989: 67); Gaudio/Thompson ( 1990: 119).
135
Vgl. Belardinelli ( 1994: 115).
136
Zitiert nach Beliz (1988: 107).
211
Für die Profilierung eines allgemein anerkannten Oppositionsführers war jedoch mehr als die Unterstützung der Arbeiterbewegung notwendig. Daher präsentierte sich Ubaldini gerne als Stimme aller, die unter der Anpassungspolitik zu leiden hatten: die Armen, die Arbeitslosen, die marginalen Gruppen, die Rentner und die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Durch ihn übernahmen erneut die peronistischen Gewerkschaften die Führung des sozialen Widerstands, genau so wie sie es auch früher getan hatten. Ansprechpartner und Gegner Ubaldinis waren nicht die Unternehmer, sondern die Regierung und insbesondere Präsident Alfonsin 137 . Die Niederlage der UCR bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen von 1987 wurde von der CGT-Führung als Erfolg ihrer Oppositionsstrategie interpretiert. Daher fühlte sich Ubaldini auf einer Kundgebung anläßlich des neunten Generalstreiks am 4. November dazu berechtigt, den Rücktritt des Wirtschaftsministers zu fordern. Von diesem Zeitpunkt an gelang es den politischen Sektoren des Justizialismus jedoch, die Initiative innerhalb der Opposition zurückzuerobern, während die CGT an Bedeutung verlor. Die peronistischen Gewerkschaftler mußten sich jetzt darum bemühen, ihre Position in der internen Auseinandersetzung zwischen Cafiero und Menem zu bestimmen, was einen großen Teil ihrer Energie beanspruchte. Letztendlich führte der Aufstieg Menems an die Spitze der Bewegung und des Staates zu einer definitiven Verdrängung der "columna vertebral" und ihres Führers aus dem Zentrum der politischen Szene138.
6.3.3 Die sektorialen Konflikte Das Konfliktpotential der Gewerkschaften beschränkte sich nicht auf die Generalstreiks. Auch auf niedrigeren Ebenen kam es zu äußerst intensiven Auseinandersetzungen, die verschiedenen Gründen gehorchten. Anders als man hätte erwarten können, war dabei nicht die Ideologie der jeweiligen gewerkschaftlichen Strömungen, denen die Streikenden angehörten, der entscheidende Faktor. In der ersten Phase beispielsweise scheinen die bevorstehenden Wahlen zur Normalisierung der Gewerkschaften wesentlich mehr Einfluß auf die Kampfbereitschaft der Spitzenfunktionäre ausgeübt zu haben als deren ideologische Präferenzen: Zwischen 1983 und 1985 griffen die von den 62 Organisationen vertretenen Gewerkschaften im Durchschnitt öfter zu Kampfmaßnahmen als diejenigen Gremien, die den "25" angehörten. Noch auffalliger ist die Tatsache, daß die Arbeitskämpfe der Gewerkschaften im Jahr der Vorstandswahlen signifikant zunahmen. Sie verdoppelten sich im Fall der "62" und verfünffachten sich im Fall der "25 " l39 . Da die Regierung der direkte Verantwortliche für die Verwaltung des öffentlichen Sektors war, wurden auch die in diesem Bereich entstandenen Kon137
Vgl. Portantiero (1987b: 165); Godio (1989: 59f.); Senén Gonzàlez/Bosoer (1993: 85).
138
Vgl. Senén Gonzàlez/Bosoer (1993: 86); Gaudio/Thompson (1990: 191ff.).
139
Vgl. Belardinelli (1994: 109Ì).
212
flikte zu einem untrennbaren Bestandteil des oppositionellen Handelns der Gewerkschaften. In den ersten Jahren der Regierung Alfonsin war das Konfliktniveau im öffentlichen Sektor verhältnismäßig niedrig im Vergleich zu dem des Privatsektors, auf den in dieser Phase zwischen 60% und 70% der Konflikte entfielen. Im zweiten Halbjahr 1986 erreichten die Konflikte im öffentlichen Sektor dann jedoch einen Anteil von 64%, und bis zum Ende der UCRRegierung fiel dieser Anteil nie mehr unter 50%. Dieser Anstieg war eine Folge der massiven Verschlechterung des Lohnniveaus der staatlichen Arbeiter und Angestellten sowie der frontalen Opposition, mit der die betroffenen Gewerkschaften auf die Pläne der Regierung für eine Staatsreform reagierten. Zu den bevorzugten Kampfmaßnahmen gehörten Streiks, Dienst nach Vorschrift und in wachsendem Maße die Mobilisierung der Mitglieder 140 . Die Gewerkschaften der Staatsangestellten verfugten über ausreichende Stärke, um die Forderungen zu bündeln und den Kampf durchzuhalten. In der ersten Phase veranlaßten die verspäteten Gehaltszahlungen und die niedrigen Löhne die Arbeiter dazu, sich an gewerkschaftlichen Protestaktionen zu beteiligen. Die damals noch gegebene Beschäftigungssicherheit der öffentlichen Bediensteten stimulierte deren Protest, denn anders als die Beschäftigten in der Privatwirtschaft mußten sie nicht fürchten, daß ihre Arbeitsplätze dadurch gefährdet werden könnten 141 . Diese Situation veränderte sich ab 1988, als die Regierung versuchte, eine Reihe von Privatisierungsinitiativen in Gang zu setzen. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Radikalisierung und Politisierung der gewerkschaftlichen Aktionen. Die Unzufriedenheit äußerte sich in einer pauschalen Ablehnung der Pläne für eine Privatisierung staatlicher Unternehmen und eine Reform der öffentlichen Verwaltung. Nachdem die entsprechenden Pläne der Regierung im Parlament gescheitert waren, konzentrierten sich die Konflikte ab Anfang 1989 wieder auf Lohnforderungen. Damals glaubte irrtümlicherweise ein großer Teil der Gewerkschaftsführung, der auf den Sieg des justizialistischen Präsidentschaftskandidaten vertraute, das Thema Privatisierungen könne endgültig zu den Akten gelegt werden 142 . Von den zahlreichen Arbeitskonflikten im öffentlichen Sektor verdienen die Lehrerstreiks des Jahres 1988 besondere Aufmerksamkeit. Sie fielen mit der schlimmsten Phase der Krise in den Provinzen zusammen. Im Februar dieses Jahres erklärte eine Versammlung der Generalsekretäre der Lehrergewerkschaft CTERA, das Land befinde sich im "Erziehungsnotstand". Verantwortlich dafür seien die niedrigen Gehälter des Lehrpersonals und die äußerst geringen Haushaltsmittel, die der Bund und die Provinzen für die Erziehung aufwendeten. Am 15. März, dem ersten Tag des neuen Schuljahrs, begann im ganzen Land ein Streik, um die Forderung nach einem Grundlohn von 770 Austral für die Grundschullehrer und vor allem nach einem einheitlichen Gehaltsniveau im ganzen Land durchzusetzen. Damit geriet nicht nur die Nationalregierung in 140
Vgl. Bonanotte (1994: 78f.); Bonanotte/Zeller (1994b: 101f.).
141
Vgl. G r e w e ( 1 9 9 4 : 7 4 ) .
142
Bonanotte/Zeller (1994a: 88ff.).
213
Bedrängnis, sondern auch die verschiedenen Provinzregierungen. Der Konflikt weitete sich aus, nachdem die Hochschuldozenten und die Sekundarschullehrer sich ebenfalls daran beteiligten, so daß das gesamte Erziehungssystem gelähmt wurde. Am 26. März fand eine "weiße Demonstration" (in Anspielung auf die Farbe der an den öffentlichen Schulen getragenen Uniformen) statt, an der sich Saúl Ubaldini beteiligte und die von der CGT unterstützt wurde. Marcos Garcetti, einer der führenden Köpfe des Protestes, begrüßte in seiner Rede das Ende der "unheilbringenden Epoche des profesionalismo docente143" und bezeichnete die Lehrer voller Stolz als "Erziehungsarbeiter". So präsentierten die Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen die Regierung als ideologischen Fortschritt eine Einstellungsänderung dieser Sektoren, die in Wirklichkeit auf eine andere Ursache zurückzufuhren war, nämlich auf die brutale Verarmung, unter der viele Argentinier litten, die früher den Mittelschichten angehörten 14 . Die Regierung machte ein Lohnangebot von 500 Austral, während einige Provinzen höhere Summen in Aussicht stellten. Die Führung der CTERA lehnte Teillösungen ab und erbat von der CGT die Durchführung von Kampfmaßnahmen zur Unterstützung der Forderungen der Lehrerschaft. Am 15. April verfugte der Arbeitsminister eine Zwangsschlichtung bis zum 18. Mai. Außer in den Provinzen Chaco und La Rioja wurden alle gewerkschaftlichen Aktionen eingestellt. Im Verlauf der nun folgenden Gespräche brachten die Gewerkschaften eine neue Forderung vor. Alle bereits vorgenommenen Sanktionen und Lohnabzüge im Zusammenhang mit den bisherigen Streiktagen sollten rückgängig gemacht werden. Die Gewerkschaftsvertreter brachen die Verhandlungen ab, als Corrientes, Tierra del Fuego, Río Negro, Córdoba und der Hauptstadtdistrikt sich weigerten, die Lohnabzüge zurückzunehmen. Die Regierung legte ein neues Verhandlungsangebot in Höhe von 750 Austral vor, aber die CTERA kündigte eine unbefristete Wiederaufnahme des Streiks an, da die Exekutive keine ausreichenden Sicherheiten für die Finanzierung und die Gewährleistung ihres Angebots biete. Daraufhin beschloß der Minister für Kultur und Erziehung, Jorge Sábato, Lohnabzüge für alle Lehrer, die sich an der Wiederaufnahme des Streiks beteiligten. Obwohl für den 23. Mai zu einer erneuten Protestkundgebung aufgerufen wurde, stieß die Fortsetzung des Konfliktes nur noch auf geringen Rückhalt. Am darauffolgenden Tag wurde der Streik beendet 145 .
6.3.4 Die Opposition als Regierungsbeteiligte Die durch die Konflikte mit der Arbeiterbewegung in die Enge getriebene Regierung Alfonsin bemühte sich um die Wiederherstellung des sozialen Friedens, indem sie die Ernennung eines peronistischen Gewerkschaftlers zum Arbeitsminister anbot. Ursprünglich bestand die Idee darin, durch die Berufung von 143
Gemeint ist damit die Lehrerschaft als Berufsstand der Mittelschicht ebenso wie dessen fachliche und damit unpolitische Ausrichtung.
144
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 214f.); Senén Gonzälez/Bossoer (1993: 97); Grewe (1994: 75).
145
Vgl. Gaudio/Thompson ( 1 9 9 0 : 2 1 5 f f ) ; Senén Gonzälez/Bossoer (1993: 97ff.).
214
José Rodríguez ins Kabinett die Kommission der 25 für eine Zusammenarbeit mit der Regierung zu gewinnen. Rodríguez war Generalsekretär der SMATA und gehörte dem peronistischen Erneuererflügel an. Die Regierung spekulierte Anfang 1987 darauf, daß die Gruppe der Erneuerer, die sich damals vor den Wählern als glaubwürdige Alternative zu profilieren versuchte, durch einen Seitenwechsel ihres Gewerkschaftsflügels in Schwierigkeiten geraten könnte. Nach einer persönlichen Intervention Cañeros lehnte Rodríguez das Angebot ab. Auch die CGT-Führung hatte entsprechenden Druck ausgeübt, denn sie sah in dem Vorschlag einen Versuch der Regierung, die Opposition zu spalten. Angesichts dieser Umstände ließ sich die Exekutive dann auf die Zusammenarbeit ein, die ihr die Gruppe der 15 in der Person Carlos Alderetes, des Chefs der Federación de Trabajadores de Luz y Fuerza, anbot. Nach Verhandlungen, die hinter dem Rücken sowohl der CGT als auch des damaligen Ministers Barrionuevo gefuhrt wurden, erklärte die Gruppe der 15 ihre Bereitschaft zur Annäherung an die Regierung. Damit blieb Ubaldini keine andere Möglichkeit, als die Entscheidung öffentlich zu unterstützen und zu versuchen, sie als einen Erfolg der Arbeiterbewegung darzustellen. Der gesamte Consejo Directivo der CGT war bei der offiziellen Amtseinführung des neuen Arbeitsministers Ende März 1987 anwesend146. Der Rollenwechsel bedeutete nicht, daß der peronistische Gewerkschaftler sich mit der Politik der Regierung identifizieren würde, deren Teil er jetzt war. Vielmehr sah er seine Funktion aus einer ganz anderen Perspektive: "[...] indem ich die Festigkeit meiner justizialistischen Identität herausstelle, trete ich als Bevollmächtigter der Arbeiterbewegung auf und versuche dann, durch einen sozialen Pakt eine Brücke für eine Eingliederung der Arbeiterbewegung in die Regierungsfunktion zu bilden" 147 .
Obwohl sie als "Sozialpakt" dargestellt wurde, war die Übereinkunft lediglich partieller Natur und weit davon entfernt, die gesamte peronistische Opposition einzuschließen. Während die Regierung durch diese Maßnahme Frieden mit den Gewerkschaften stiften wollte, zielten die Mitglieder der Gruppe der 15 darauf, eine fuhrende Rolle gegenüber den anderen Flügeln der Arbeiterbewegung zu übernehmen und Machtposten zu besetzen, die ihnen Einfluß auf die neue Arbeitsgesetzgebung verschaffen würden. Alderete war auf ein Entgegenkommen der Regierung angewiesen, um seine Beteiligung am Kabinett zu rechtfertigen, denn die anderen Sektoren der Gewerkschaftsbewegung und insbesondere die CGT-Führung unterstützten ihn nur unter der Bedingung, dadurch Zugeständnisse zu erhalten, die die Regierung bislang abgelehnt hatte. Daher kam es während der gesamten Amtszeit Alderetes zu Konflikten mit dem Wirtschaftsminister. Während der Gewerkschafter nicht müde wurde, sich für Lohnerhöhungen einzusetzen, lehnte das Wirtschaftsministerium dies rundweg ab. Während der
146
Vgl. Senén Gonzälez/Bosoer (1993: 77); Gaudio/Thompson ( 1990: 171).
I4
Deklarationen Carlos Alderetes im Jahr 1992, zitiert nach Senén Gonzàlez/Bosoer (1993: 90).
'
215
Arbeitsminister Tarifabschlüsse zwischen Arbeitern und Unternehmern unterstützte, die eine Übertragung der durch die Lohnerhöhungen neu entstandenen Kosten auf die Preise ermöglichten, weigerte sich das Wirtschaftsministerium, diese zu genehmigen. Aus dem Arbeitsministerium heraus machten es sich die Mitglieder der "15" zur Aufgabe, alle von Barrionuevo ins Auge gefaßten Projekte zur Reform der Arbeitsgesetzgebung zu verändern. Wenn während der Amtszeit Alderetes die Arbeitskonflikte deutlich zurückgingen und die CGT keinen einzigen Generalstreik organisierte, so bedeutete dies jedoch nicht, daß die Regierung ihr Ziel erreicht hätte, die Gewerkschaftsfront zu befrieden. Die Konflikte wurden jetzt zwar nicht mehr von außen an die Regierung herangetragen, aber sie waren nicht verschwunden. Vielmehr hatte sich die Opposition im Regierungskabinett installiert 148 . Das Herannahen der Wahlen vom 6. September erhöhte die Spannungen. Die Arbeitskonflikte nahmen wieder an Schärfe zu, und die Gewerkschaften gaben sich kämpferischer. In der Endphase des Wahlkampfs erklärte Alderete das Wirtschaftsministerium als "strukturellen Feind" des Arbeitsministeriums, versicherte, daß es keine Unterschiede zwischen dem Denken der CGT und der Position seines Ministeriums gebe, und drückte seinen Wunsch nach einem Wahlsieg des Peronismus aus. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse feierte der Minister gemeinsam mit den Spitzenfunktionären der CGT öffentlich den Sieg des Justizialismus. Alderete trat am 15. September 1987 zurück, nachdem seine Mission erfüllt war, nämlich die Reform der Arbeitsgesetzgebung vorbereitet zu haben, die im darauffolgenden Jahr verabschiedet werden sollte149.
6.3.5 Die Verbündeten der peronistischen Gewerkschaften In ihrer Auseinandersetzung mit der Regierung agierten die peronistischen Gewerkschaften nicht immer alleine. Sie bemühten sich um die Bildung von Allianzen mit anderen gesellschaftlichen und politischen Kräften, unter denen insbesondere die Untemehmerverbände und die Kirche hervorzuheben sind, in geringerem Ausmaß auch einige politische Parteien. Ab 1984 konstituierte sich eine gemeinsame Front von Gewerkschaften und Unternehmern, an der die CGT sowie die wichtigsten Untemehmerverbände des Landes, einschließlich der Unión Industrial (UIA) und der Sociedad Rural (SRA), beteiligt waren. Die Kontakte gediehen bis zur mehr oder weniger formalen Gründung der Gruppe der 11, die der Regierung am 8. Februar 1985 zwei Dokumente vorlegte, deren Forderungskatalog genauso heterogen und widersprüchlich war wie die von den beteiligten Verbänden repräsentierten Interessen. Die gewerkschaftliche Zustimmung zu einem derartigen Programm wird nur vor dem Hintergrund ver-
141
Vgl. El Periodista N° 138 (1. - 7. Mai 1987); El Periodista N° 143 (5. - 11. Juni 1987: 14); Morales Solá (1992: 107); Gaudio/Thompson (1990: 172ff.); Belardinelli (1994: 129ff.).
149
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 188); Senén González/Bosoer (1993: 83); Bonanotte/Zeller (1994b: 96); Belardinelli (1994: 132).
216
ständlich, daß die Unternehmer sich dazu bereit erklärten, die Forderung der CGT nach einer erneuten Kontrolle über die Sozialwerke zu unterstützen150. Zu einer übereinstimmenden Haltung von Gewerkschaften und Unternehmern gegen die Regierungspolitik kam es erneut, als SRA, UIA und die Cámara de la Construcción sich dem Generalstreik vom 23. Mai 1985 anschlössen, der auch auf die Rückendeckung der Menschenrechtsbewegung und mehrerer linker politischer Parteien zählen konnte. Die CGT ihrerseits war dazu entschlossen, "Streiks" der landwirtschaftlichen Unternehmerverbände gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung zu unterstützen. Schließlich kamen SRA, UIA und die Cámara de Comercio (CAC) am 8. März 1989, wenige Tage vor den für Menem siegreich verlaufenen Wahlen, überein, gemeinsam mit den Vertretern der Gruppe der 15 die Notwendigkeit einer sozio-ökonomischen Konzertierung mit dem Justizialismus zu betonen, was genausoviel bedeutete wie eine öffentliche Unterstützung des peronistischen Präsidentschaftskandidaten151. Die Beziehungen zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der Kirche konnten auf eine längere Vorgeschichte blicken, die bis in die Gründungsjahre des Peronismus zurückreichte. Während des letzten autoritären Regimes war es zu einer Annäherung zwischen Gewerkschaften und Kirche gekommen, als die Bischöfe 1979 ein Dokument veröffentlichten, in dem das Recht der Arbeiter auf gewerkschaftliche Organisation verteidigt wurde. Zwei Jahre später verwandelten sich die Feierlichkeiten aus Anlaß des Tags des Heiligen Cayetano in einen Arbeiterprotest. Die CGT-Brasil hatte die Arbeiter mit der Unterschrift Ubaldinis dazu aufgerufen, sich vor der dem Heiligen geweihten Pfarrkirche zu versammeln, um "Frieden, Brot und Arbeit" zu erbitten, all dies in einem Moment, als diese Losungen einer eindeutigen Kritik am Regime gleichkamen152. Im allgemeinen reagierte die katholische Hierarchie nicht mit allzu großer Freude auf den Wahlsieg des Radikalismus, denn diese Partei vertrat traditionell eine laizistischere Position als der Justizialismus, der hingegen seine Identifikation mit der sozialchristlichen Doktrin zu betonen pflegte. Da, entgegen den anderslautenden Bekundungen beider Organisationen, weder die Gewerkschaften noch die Kirche monolithische Akteure waren, stellten sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen Sektoren ganz unterschiedlich dar. Grundsätzlich pflegten alle Gewerkschaftsgruppierungen Kontakte mit allen innerkirchlichen Tendenzen, ohne daß dies die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie bedeutet hätte. Der Ubaldinismus verstand sich am besten mit den konservativkatholischen Sektoren des Consejo Episcopal Latinoamericano (CELAM), die im Generalsekretär der CGT einen "lateinamerikanischen Walesa" sahen153. Die führenden Köpfe der kooperationsbereiten Strömung (Triaca, Cavalieri, Aldere-
150
Vgl. Grupo de los 11 ( 1985a; 1985b).
151
Vgl. Portantiero (1987b: 162f.); Godio (1989: 61); Gaudio/Thompson (1990: l l l f f . ) ; Senén González/ Bosoer (1993: 50ff.; 114; Grewe (1994: 70f.).
152
Vgl. Beliz (1988: 146); Fernández ( 1990: 48).
155
Mit diesem Titel wurde er in einer italienischen Publikation vorgestellt, die in Verbindung mit diesen Kirchensektoren stand. Vgl. Béliz (1988: 159).
217
te etc.) unterhielten regelmäßige Beziehungen mit der Fundación Laborem Exercens. Diese Stiftung, die unter der Leitung von Kardinal Primatesta, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, stand, war der einzige institutionalisierte Organismus für Kontakte zwischen Kirche und Arbeiterbewegung. Schließlich ist zu erwähnen, daß kirchliche Würdenträger in mehreren Fällen als Vermittler bei Konflikten zwischen Regierung und Gewerkschaften auftraten. Einige Male verteidigten sie direkt die Position des Gewerkschaftsdach Verbandes154.
6.4 Zwischenbilanz V Aufgrund der institutionellen Merkmale des politischen Systems Argentiniens hatte der Peronismus die Möglichkeit, seine Oppositionsrolle auf zwei Ebenen wahrzunehmen: der des Bundesparlaments und der der Provinzregierungen. Zudem ermöglichte der Rückhalt, über den der Peronismus traditionell bei verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren verfügte, eine beträchtliche Diversifizierung der Ebenen der Konfliktaustragung: Die Auseinandersetzungen zwischen der UCR-Regierung und den peronistischen Gewerkschaften waren der bedeutendste politische Konflikt im hier untersuchten Zeitraum, während die langjährigen Beziehungen des Justizialismus zu Teilen der Unternehmerschaft, der Streitkräfte und der Kirche ihm eine privilegierte Position zur Etablierung von Allianzen mit Akteuren außerhalb der Parteienlandschaft verschafften, die aus unterschiedlichen Motiven gegen die Regierungspolitik opponierten. Die Untersuchung der peronistischen Strategien gegenüber der Regierung Alfonsin zeigt, daß es sinnvoll ist, zwei Phasen zu unterscheiden. Die erste dauerte von 1983 bis 1987 und zeichnete sich durch den Protagonismus der CGT und insbesondere ihres Generalsekretärs, Saül Ubaldini, aus. In diese Phase fielen die beiden eindeutigen Wahlniederlagen des PJ, der zudem eine tiefgreifende Organisations- und Identitätskrise durchlief. Vor diesem Hintergrund bemühten sich die peronistischen Gewerkschaftsführer darum, sich als Hauptvertreter der Opposition zu behaupten und ihren Kampf mittels Streikaktionen und Massenmobilisierungen durchzuführen. Die CGT galt dabei quasi als "Parteiersatz". Die zweite Phase begann mit dem peronistischen Sieg bei den Wahlen 1987 und wurde vom politischen Sektor des Justizialismus angeführt. In ihr war eine deutliche Stärkung des Peronismus auf parlamentarischer Ebene und in den Provinzregierungen zu beobachten. Wie es im nächsten Kapitel noch zu zeigen sein wird, stiegen die Verbesserung der Wahlaussichten des Justizialismus in einem Moment, als langsam spürbar wurde, daß sich die Erfolgsaussichten gewerkschaftlicher Aktionen infolge der demobilisierenden Auswirkungen der Anpassungspolitik reduzierten. Der Peronismus verstand es somit, die Konfliktaustragung von einer Ebene auf eine andere zu verlagern, auf der er
154
218
Vgl. Beliz (1988: 157ff.); Fernández (1990: 87«".); Senén González/Bosoer (1993: 58; 115).
seine Einflußmöglichkeiten als größer einschätzte. These 5 kann daher als bestätigt betrachtet werden. Was vor dem Hintergrund der vorhergehenden Ausfuhrungen am stärksten ins Auge fallt, ist die Vielzahl oppositioneller Strategien, derer sich der Peronismus im Verlauf der untersuchten Periode bediente. Die Arbeiterbewegung war vom ersten Moment an darauf vorbereitet, gegenüber der radikalen Regierung gemäß der von Augusto Vandor in den 60er Jahren eingesetzten Strategie "schlagen und verhandeln" zu agieren. Diesmal wurde allerdings hauptsächlich die "arbeitsteilige" Variante angewandt: Die von Ubaldini geführte CGT war für das "Schlagen" zuständig, während einige der internen Gruppierungen, vor allen die "15", lieber verhandelten. Hingegen war die Wahrnehmung der Oppositionsrolle gegen die Exekutive im Parlament und gegen die Zentralregierung aus den Provinzregierungen für die Justizialisten eine völlig neue Erfahrung. Dort mußten sie sich erst behaupten. Im Parlament ermöglichten die existierenden Kräfteverhältnisse eine Obstruktionspolitik gegenüber den Vorhaben der Regierung, ohne daß die Opposition ihrerseits in der Lage gewesen wäre, eigene Initiativen durchzusetzen. Sie benutzte die parlamentarische Arena vielmehr vorzugsweise zur Lösung ihrer internen Konflikte und zur Verbesserung ihres öffentlichen Images. Letzteres trifft auch für die Gouverneure zu. Dies schließt jedoch nicht aus, daß auch einige punktuelle Übereinkünfte getroffen werden konnten, vor allem in Form eines do ut t/es-Spiels. Die generelle Strategie der peronistischen Opposition kann also zusammenfassend als eine Mischung aus Obstruktion und Feilschen bezeichnet werden. Die Tatsache, daß die Gewerkschaften auf die altbewährten Strategien zurückgriffen, aber auch, daß die neuen Chancen des demokratischen Spiels ausgenutzt wurden, deutet darauf hin, daß These 6 für den hier untersuchten Fall zutrifft. Darüber hinaus muß betont werden, daß sich hinter der auf den ersten Blick widersprüchlichen Logik der peronistischen Oppositionsstrategien ein beständiges Element verbirgt: die allgegenwärtige Präsenz interner Konflikte, die sowohl in ihrer gewerkschaftlichen als auch in ihrer parteipolitischen Variante ein zentrales Motiv für die strategischen Entscheidungen der Akteure darstellten. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität des politischen Prozesses erschließt sich nur dann, wenn bis in solche Einzelheiten vorgedrungen wird, die auf den ersten Blick überflüssig erscheinen könnten. Nur diese Betrachtungsweise ermöglicht es festzustellen, daß jede einzelne Entscheidung der justizialistischen Sektoren zum einen auf die Regierung Alfonsin gerichtet war, und zum anderen auf die eigenen Gesinnungsgenossen. Am wichtigsten jedoch war, daß auf alle Strategien gleichzeitig zurückgegriffen werden konnte, da sich die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Justizialismus auf unterschiedlichen Ebenen abspielten und von divergierenden Repräsentanten ausgefochten wurden. Wenn die Frage bezüglich des "Erfolgs" der Oppositionsstrategien (These 7) hier noch nicht endgültig geklärt wurde, sollte zumindest klar geworden sein, daß die Zersplitterung der peronistischen Opposition für die Regierung nicht unbedingt von Vorteil war.
219
7. Standpunkte und Zielsetzungen der peronistischen Opposition In diesem Kapitel werden die von seiten des Justizialismus eingenommenen Standpunkte gegenüber den wichtigsten politischen Fragen der Jahre 1983 bis 1989 und die damit verbundenen Zielsetzungen analysiert. Dabei müssen sowohl die Inhalte und Ziele der Regierungspolitik als auch die konjunkturellen Entwicklungen berücksichtigt werden, denn dies waren die beiden wichtigsten Referenzpunkte, gegenüber denen der Justizialismus seine Positionen definierte. Die Analyse verfolgt drei verschiedene Zwecke. Erstens soll geklärt werden, ob die verschiedenen peronistischen Sektoren divergierende Interessen bezüglich der untersuchten Themengebiete vertraten und, wenn ja, ob dies Übereinkünfte zwischen Opposition und Regierung verhindert hat (These 8). Zweitens soll bei der Behandlung der verschiedenen Sektorialpolitiken ermittelt werden, ob die peronistische Opposition sich gegenüber der Regierung Alfonsin erfolgreich behaupten konnte, d.h. ob sie Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung ausüben konnte, so daß diese den Präferenzen der Opposition in zufriedenstellendem Maße entsprachen, und schließlich ob es ihr gelang, einen Rollenwechsel herbeizufuhren (These 7). Drittens soll überprüft werden, ob das Verhalten der politischen Akteure während der Post-Transitionsphase eine mit der Demokratie kompatible Anerkennungsregel widerspiegelt (These 1). Aus der Gesamtheit der Herausforderungen, denen sich das neue Regime gegenüber sah, wurden drei ausgewählt: die Wirtschaftspolitik, die Frage des Umgangs mit den Streitkräften und die Verfassungsreform. Die Wirtschaftspolitik eignet sich hervorragend, um die Effizienz und Effektivität des neuen Regimes in einer äußerst ernsten und dringenden Situation zu überprüfen. Die Frage des Umgangs mit den Streitkräften, wozu sowohl die Beziehungen zwischen den Streitkräften und den zivilen Machthabern als auch die Auseinandersetzung mit den massiven Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur gehörten, stellt ein über konjunkturelle Aspekte hinausgehendes Thema dar, mit dem zwei wichtige Aspekte eines demokratischen Regimes angesprochen sind: die Legitimität der Institutionen und ihre Fähigkeit zur Kontrolle von autoritären Enklaven. Die dritte Frage, die Verfassungsreform, steht in Verbindung mit den Überlebensaussichten des demokratischen Regimes auf längere Sicht, denn wie 221
gezeigt wurde, hing die politische Instabilität des Landes in früheren Jahren teilweise mit der Existenz institutioneller Fallstricke zusammen. Die Reihenfolge der folgenden Ausfuhrungen sowie die unterschiedliche Breite, mit der die drei Fragen jeweils behandelt werden, hängt weder mit persönlichen Interessen der Verfasserin noch mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Daten zusammen. Sie ist vielmehr ein Spiegelbild der ungleichen Aufmerksamkeit, die diesen Themen jeweils von Seiten des Peronismus zuteil wurde. Dies geht auch aus einer zwischen Dezember 1987 und Mai 1988 durchgeführten Befragung der Abgeordneten verschiedener politischer Parteien hervor. Auf die Frage, welche drei Themen die meiste Aufmerksamkeit der Politiker verdienten, nannten 69% der Peronisten das Wirtschaftswachstum, 16% die zivil-militärischen Beziehungen und nur 2% die Verfassungsordnung 1 . Im folgenden wird zunächst die Entwicklung in den drei genannten Themenfeldern bis zum Ende des Jahres 1988 getrennt analysiert. Im Anschluß daran werden die Endphase der Regierung Alfonsin sowie die Gründe für den vorgezogenen Machtwechsel im Juli 1989 untersucht. Diese Unterteilung wurde gewählt, weil die vom Peronismus während der letzten Monate der UCRRegierung eingenommenen Standpunkte und Haltungen gegenüber der Wirtschaftspolitik und der Frage des Umgangs mit den Streitkräften in einem direkten Zusammenhang mit der Strategie standen, die die Opposition einschlug, um die Macht zu erlangen.
7.1 Die Wirtschaftspolitik 1983 war für die argentinische Wirtschaft das achte Jahr mit einer dreistelligen, zwischen 100% und 800% schwankenden jährlichen Inflationsrate. Das bedeutete damals Weltrekord, denn keine andere Volkswirtschaft der modernen Geschichte hatte zuvor über einen derart langen Zeitraum solch hohe Inflationsraten verzeichnet. Der Inflationsprozeß hatte permanente Veränderungen der Preisrelationen und der Realeinkommen der verschiedenen Bevölkerungssektoren mit sich gebracht. Zwischen 1950 und 1975, als jährliche Inflationsraten von durchschnittlich 25% registriert wurden, war es möglich, durch gewisse konjunkturelle Strategien eine Verbesserung der Reallöhne herbeizuführen. Die Inflation ersetzte damals die Politik als Mechanismus zur Erzielung intersektorialer Kompromisse. Aber diese Methode wies eine Reihe von Nachteilen auf: Die auf diesem Weg erzielten "Übereinkünfte" waren völlig unsicher, u.a. weil kein Sektor dafür die Verantwortung übernahm. Diese wurde von allen Seiten dem Staat zugewiesen, der immer im Zentrum des Geschehens stand, denn er fungierte als Garant von den zwischen privaten Akteuren abgeschlossenen Verträgen sowie als Zuständiger für die Festlegung der Löhne im öffentlichen Sektor, der Dienstleistungsgebühren und des Wechselkurses. Die Inflation wur-
1
222
Vgl. Smulovitz( 1989: 227).
de zu einer self-fulfilling prophecy, denn die einzige Möglichkeit der Unternehmer zur Aufrechterhaltung ihrer Realeinkommen bestand darin, bei der Bestimmung der Preise nicht nur die Erhöhung der in der Vergangenheit entstandenen Kosten zu kompensieren, sondern auch die vorhersehbare zukünftige Inflation zu berücksichtigen. Die unvermeidliche Konsequenz dieser Logik war eine ständig sinkende Regulationskapazität des Staates2. Neben dieser Inflation erbte die neue demokratische Regierung von dem autoritären Regime eine Auslandsschuld in Höhe von 45 Milliarden US-Dollar, ein Haushaltsdefizit von 15,6%, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf dem Stand des Jahres 1975 und Realeinkommen, die die von 1974 nicht überstiegen. Das wichtigste jedoch waren die strukturellen Veränderungen der argentinischen Volkswirtschaft: ein Deindustrialisierungsprozeß, dessen wichtigste Opfer die kleinen und mittleren Unternehmen waren und der die Expansion von nationalen Wirtschaftsgruppen sowie von diversifizierten internationalen Unternehmen begünstigte; die Dollarisierung der Wirtschaft; der Vorrang des Finanzsektors innerhalb der Wirtschaft; die Herausbildung eines internationalisierten und durch hohe Liquidität charakterisierten Kapitalmarktes, der sich der Kontrolle seitens der Regierung entzogen hatte. All dies verdeutlicht die tiefgreifende Krise, der sich die neue Regierung und mit ihr auch das neue Regime - gegenüber sah, und den Druck, der es von Seiten der verschiedenen Sektoren ausgesetzt sein würde. Um dieser Situation zu begegnen, testete die Regierung Alfonsin verschiedene Handlungsstrategien, auf die die Opposition unterschiedlich reagierte. Im folgenden werden die von der Regierung ausgearbeiteten Pläne und die diesbezüglichen Standpunkte der peronistisehen Opposition analysiert.
7.1.1 Die Vorstellungen vor den Wahlen Etwa ab Juni 1983 wurden die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der politischen Parteien und ihrer Kandidaten vor der Öffentlichkeit verbreitet. Generell stimmten die Peronisten - die sich im übrigen damals noch sicher waren, die Wahlen zu gewinnen - darin überein, daß das neue Wirtschaftsprogramm auf der Grundlage eines Konzertierungsprozesses implementiert werden müßte. Um eine Wiederbelebung der Wirtschaft zu erreichen, sollte die Binnennachfrage stimuliert werden, und zwar in erster Linie durch Lohnerhöhungen, Unternehmenskredite sowie eine Senkung der Steuern und Zinsen. Durch die Arbeitslosen, die brachliegenden Industriekapazitäten und die ungenutzte landwirtschaftliche Produktionskapazität stünden genügend Ressourcen zur Verfugung, so daß man nicht unbedingt auf unmittelbar neue Investitionen angewiesen sein würde. Man vertraute auf die Fähigkeit des Staates zur Implementierung des Programms und ging davon aus, daß die zukünftige Regierung dazu in der Lage sein würde, neue Bedingungen für die Rückzahlung der Auslandsschulden aus-
Vgl. El Bimestre 9 (1984: 6); Cavarozzi (1988: 5f ); Ehrke (1988: 114).
223
zuhandeln, so daß sie die Durchführung des Programms nicht grundlegend in Mitleidenschaft ziehen würde 3 . Jenseits dieser Vorstellungen existierten jedoch nicht wenige Divergenzen und Unklarheiten. Die Mehrheit des Justizialismus war von der Notwendigkeit überzeugt, Einkommen aus dem Finanz- in den Produktionssektor zu transferieren, aber niemand äußerte sich zu der Frage, wie dies geschehen sollte. Dem Inflationsproblem wurde nur wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht, denn nach der herrschenden Meinung würden eine Niedrigzinspolitik, eine Verringerung der Steuerlast und eine Erhöhung des Kreditvolumens automatisch die geplante Steigerung der Lohnkosten bei den Unternehmen ausgleichen. In bezug auf die Industriepolitik gab es keine Übereinstimmung. Während Luder vorschlug, diejenigen Industrien zu fördern, die komparative Kostenvorteile ausnutzten, hielt es der Ökonom Lavagna, damals einer der Berater Cañeros, für notwendig, diejenigen Sektoren zu privilegieren, die auf regionaler Ebene über Wettbewerbsfähigkeit verfügten, wobei er unter anderem an Bereiche wie die Elektronik, die Petrochemie, die Biogenetik und die Atomenergie dachte 4 . Die am stärksten von dem Grundstandpunkt des Justizialismus abweichende Meinung vertrat Robledo. Er forderte von allen, einschließlich den Lohnabhängigen, die Bereitschaft zum Abschluß eines Sozialpakts ohne Lohnverhandlungen und ohne Beteiligung des Staates. Er fürchtete, daß sonst die verschiedenen Sektoren weitergehende Forderungen stellen würden, als die Wirtschaft zu verkraften in der Lage wäre. Anders als seine Gesinnungsgenossen war der von Gestión y Trabajo unterstützte Kandidat auch nicht der Ansicht, daß der Finanzsektor tatsächlich in den vorhergehenden Jahren allzu große Gewinne verzeichnet hätte. Er lehnte die Verstaatlichung der Bankeinlagen ab und bezeichnete das fehlende Wachstum als wichtigste Ursache der Inflation. Seine Standpunkte stimmten größtenteils mit denen des liberalen Establishments überein 5 . Die auf dem Bundesparteitag des Justizialismus im September 1983 verabschiedete "Plataforma de gobierno" war eher eine Ansammlung von Prinzipien als ein Programm mit klar definierten Zielen und Mitteln. Dort wurden die Grundwerte der in der Verfassung von 1949 niedergelegten Justizialistischen Doktrin ratifiziert. Der Justizialismus sprach sich für die staatliche Planung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die soziale Funktion des Eigentums sowie für eine fuhrende und vermittelnde Rolle des Staates bei sozialen Konzertierungsmaßnahmen aus. Etwas konkreter waren die Versprechen, sich im Falle eines Wahlsieges besonders um die Bedürfhisse der ärmsten Bevölkerungssektoren zu kümmern, die Realeinkommen durch regelmäßige Lohnerhöhungen zu verbessern, das Finanzsystem zu nationalisieren, die "genuine" Außenschuld neu
3
Vgl. El Bimestre 9 (1983: 12ff.).
4
Vgl. El Bimestre 9 (1983: 14).
5
Vgl. El Bimestre 9 (1983: 12ff.).
224
zu verhandeln, brachliegendes Land zu besteuern und arbeitsplatzschaffende öffentliche Aufträge zu vergeben6.
7.1.2 Die neokeynesianische Strategie Zum Wirtschaftsminister ernannte Präsident Alfonsin Bernardo Grinspun, einen Mann mit einer langen Vorgeschichte in der UCR. Während der IlliaAdministration (1963-1966) hatte er verschiedene Ämter übernommen. Er war nacheinander Zentralbankpräsident, Exekutivsekretär des Nationalen Entwicklungsrates und Staatssekretär für Handelsfragen7. Die neue Regierung entschied sich fiir eine keynesianische Strategie und kündigte die Verabschiedung eines Mindestlohngesetzes (Ley de Salario Mínimo Vital y Móvil), günstige Kredite, einen einheitlichen und kontrollierten Wechselkurs sowie eine Refinanzierung der Außenschulden mit bestmöglichen Bedingungen an. Dies zeigt, daß die Perzeption der Radikalen in bezug auf die ökonomische Situation des Landes und den wirtschaftspolitischen Weg, den es einzuschlagen gelte, sich nicht grundsätzlich vom mainstream der justizialistischen Vorschläge unterschied, weshalb sie im allgemeinen mit der Zustimmung zahlreicher peronistischer Ökonomen rechnen konnten. Im Hinblick auf die konkreten Maßnahmen ergab sich jedoch bald eine erste Auseinandersetzung um die Höhe der Lohnsteigerungen. Die beiden CGTs hatten vereinbart, einen Anstieg um 2.700 Pesos zu fordern, während Grinspun lediglich 1.000 Pesos ankündigte8. Es sollte sich schnell zeigen, daß die traditionellen Rezepte nicht mehr dazu geeignet waren, den gravierenden Ungleichgewichten, unter denen die argentinische Wirtschaft litt, angemessen zu begegnen. Die ergriffenen Maßnahmen führten lediglich zu einer Inflationssteigerung, während der Schwarzmarkt für Devisen sich zum bevorzugten Investitionsobjekt der Finanzoperateure entwikkelte. Im Januar verbreitete die CGT-Brasil ein kritisches Dokument, in dem sie die Einberufung von paritätischen Lohnverhandlungen verlangte und der Regierung vorwarf, ihre Politik sei "die gleiche wie die der Militärdiktatur, d.h. sie gewährt Lohnerhöhungen immer nur unterhalb der Preissteigerungen, und sie grenzt die Arbeiter von einer Mitbestimmung bei der Festlegung ihrer Löhne aus"9. Kurze Zeit später gab die Regierung die "Leitsätze eines Programms zur unmittelbaren Reaktivierung der Wirtschaft, Verbesserung der Beschäftigungssituation und der Realeinkommen und zum Angriff auf das Inflationsproblem" bekannt, das im allgemeinen keine neuen Zielsetzungen enthielt, aber dem Problem der Inflation und dem Gewicht der externen Verpflichtungen mehr Beachtung schenkte, weshalb es auch versprach, das Haushaltsdefizit zu verringern. Die justizialistischen Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Wäh6
Vgl. Partido Justicialista (1983b: 83ff.).
'
Vgl. Quirós (1986:45f.).
8
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 4 1 , 4 5 u. 59).
9
Zitiert nach El Bimestre 13 (1984: 28).
225
rend Lavagna den Zielsetzungen zustimmte, aber die Unterordnung der Lohnerhöhungen und der Reaktivierung der Wirtschaft unter die Inflationsbekämpfung kritisierte, bezeichnete der Abgeordnete Guelar den Plan als hochgradig rezessiv und monetaristisch. Er antizipiere die Auflagen des Internationalen Währungsfonds und werde durch die Antikörper der Demokratie zum Scheitern gebracht werden. Einige Abgeordnete schlugen dagegen vor, das Kreditwesen staatlicher Lenkung zu unterstellen, die Bankeinlagen zu nationalisieren, die Unternehmensschulden zu refinanzieren und Zinsen drastisch zu senken 10 . Aber die größten Schwierigkeiten, denen sich die Wirtschaftspolitik ausgesetzt sah, hatten ihre Ursache außerhalb des Landes. Ursprünglich richteten sich die Anstrengungen der radikalen Administration darauf, eine Refinanzierung der Schulden durch direkte Verhandlungen mit den betroffenen Regierungen und den Gläubigerbanken zu erreichen. Diese weigerten sich jedoch, Argentinien gegenüber irgendwelche Konzessionen zu machen, solange das Land keine Übereinkunft mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erzielt habe". Im Juni 1984 blieb der argentinischen Regierung keine andere Wahl mehr, als dem IWF einen letter of intent vorzulegen. Darin nannte sie als ihr wichtigstes Ziel eine endgültige Verbannung des Autoritarismus und betonte, diesem Motiv hätten sich alle Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft unterzuordnen. Die Regierung sei daher nicht in der Lage, das Haushaltsdefizit weiter zu reduzieren, denn sie könne weder eine Senkung der Reallöhne im öffentlichen Dienst noch einen wirtschaftspolitischen Kurs verantworten, der zu Rezession und infolgedessen zu einer politischen Destabilisierung fuhren würde 12 . Alfonsin wurde sich langsam der Schwierigkeiten bewußt, denen es zu begegnen galt. Daher bemühte er sich um breite Unterstützung und rief zu einem Dialog aller politischen Kräfte auf. Die Beteiligung des Peronismus kam aufgrund einer Übereinkunft Alfonsins mit der Witwe Peróns zustande, die sich zu einer Zusammenarbeit mit der Regierung entschlossen hatte. Trotz der Hoffnungen, auf diese Art und Weise eine argentinische Version des Paktes von Moncloa zu erreichen, fiel die am 8. Juni von 16 Parteien (darunter einige mit Vorbehalten) unterzeichnete "Acta de Coincidencias" (Übereinstimmungsabkommen) jedoch weitaus vager aus als ihr spanisches Vorbild. Konkrete Absprachen jeglicher Art wurden tunlichst vermieden. In bezug auf wirtschaftliche Fragen beschränkte sich das Dokument darauf, die Ziele der Regierungspolitik zu wiederholen und deren Willen zu betonen, das Unvereinbare vereinbar zu machen: die Wiederherstellung der Kaufkraft der Löhne mit der Steigerung der Akkumulationsfähigkeit, die Modernisierung des Produktionsapparates mit der Erlangung von Vollbeschäftigung und die Neuverhandlung der Schulden mit einer Wiederbelebung der Wirtschaft 13 . 10
Vgl. El Bimestre 13 (1984: 56ff.).
11
Zu den Konsequenzen der Auslandsverschuldung und den von der Regierung Alfonsin eingeleiteten Verhandlungen siehe u.a. Schvarzer (1984), Calcagno (1985), Frenkel/Fanelli/Sommer (1988), Bodemer (1988).
12
Vgl. "Carta de intención".
13
Vgl. "Acta de Coincidencias".
226
Kaum sechs Tage nach Unterzeichnung der "Acta de Coincidencias" kündigte der Generalsekretär der bereits wiedervereinigten CGT einen Kampfplan an, um "eine Kehrtwende" der Regierungspolitik zu erreichen14. Um dies zu vermeiden, traf sich Alfonsin mit den vier Generalsekretären der CGT und zeigte sich entschlossen, Konzertierungsmechanismen einzuleiten. Bei dieser Gelegenheit überreichten die Gewerkschafter dem Staatspräsidenten ein AchtPunkte-Dokument mit einigen überraschenden Vorschlägen. Neben Konzertierungsmaßnahmen und Lohnerhöhungen sprach sich die CGT für die Öffnung der Volkswirtschaft gegenüber ausländischen Investitionen, einen relativ hohen Wechselkurs, strikte Sparmaßnahmen bei der öffentlichen Haushaltsführung und die Verlagerung von Ressourcen von weniger produktiven Wirtschaftsaktivitäten in produktivere Bereiche aus. An der Ausarbeitung des Dokuments waren die peronistischen Ökonomen Alfredo Gómez Morales und Antonio Cañero beteiligt gewesen, sowie ein Mann, der bislang nichts mit der CGT oder dem Justizialismus zu tun gehabt hatte: der ehemalige Zentralbankpräsident Domingo Cavallo15. Kurz darauf berief die Regierung tatsächlich die Mesa de Concertación ein, für deren Organisation das Innenministerium verantwortlich war. Gedacht war an ein institutionalisiertes Dialogforum, eine Art symbolischer Raum der gegenseitigen Anerkennung der beteiligten Akteure. Was die Regierung ablehnte, war ein Konzertierungsmechanismus mit tatsächlichen Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich einkommenspolitischer oder allgemein-ökonomischer Fragen, denn nach Ansicht von Wirtschaftsminister Grinspun war die UCR gewählt worden, um zu regieren, und nicht, um zu konzertieren16. Im August zog sich die CGT von der Mesa de Concertación zurück. Eine Versammlung der Generalsekretäre und Regionaldelegationen rief zum ersten Generalstreik auf. Diese Entscheidung wurde in einem Moment getroffen, als die Gewerkschaftsführer unter einem wachsenden Legitimationszwang standen, denn damals begann die Durchführung der innergewerkschaftlichen Wahlen. Ausgangspunkt des Konflikts war, daß die Regierung sich zwar dazu bereit zeigte, auf die Forderung der CGT nach einer 18%igen Lohnerhöhung einzugehen, sie aber gleichzeitig bei der Berechnung der vertraglichen Mindestlöhne die Zuschläge für Anwesenheit, Prämien, Produktivität und Dienstalter einbeziehen wollte. Dies lehnte die CGT vehement ab.17 Bei dieser Gelegenheit veröffentlichte der Gewerkschaftsdachverband ein Dokument mit dem Titel "Aufruf zur nationalen Größe: Ja zur Mobilisierung der Produktion, Nein zur Finanzspekulation". Darin fand sich eine Aufzählung der "grundlegenden Prämissen", denen die Wirtschaftspolitik nach Ansicht der CGT zu folgen habe:
Vgl. El Bimestre 15 (1984: I06f.). Vgl. El Bimestre 15 (1984: 117ff.); El Periodista N° 12(1.-7. Dezember 1984: 11). Vgl. de Riz/Cavarozzi/Feldman (1987: 40f.); Thompson (1988: 17f.); Portantiero (1987c: 289). Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 96f.).
227
"1) die Patria Financiera18 besiegen; 2) die Anerkennung, daß der Lohn ein persönliches Gut des Arbeiters ist [sie]; 3) dem Kreditsystem seinen Charakter einer öffentlichen Dienstleistung sowie eines Förderers der Produktion zurückzugeben; 4) die Produktion stimulieren und nicht die Nachfrage dämpfen; 5) eine kontrollierte und lautere Handhabung des Außenhandels gewährleisten; 6) jegliche finanzielle Überlegung der Reaktivierung des einheimischen Produktionsapparates unterordnen; 7) eine realistische Steuerpolitik formulieren; 8) mit der Praxis drastischer Gebührenerhöhungen aufhören, bei denen es sich um eine verdeckte, zusätzliche steuerliche Belastung handelt; 9) eine Vollbeschäftigungspolitik angehen; 10) die Entwicklung eigener Technologien fördern"1 .
Wie zu sehen ist, ging der Aufruf weit über den Lohnstreit hinaus, der als eigentliches Motiv des Streiks bezeichnet wurde. Zudem zielte er in eine völlig andere Richtung als das nicht einmal zwei Monate zuvor präsentierte AchtPunkte-Dokument. In der Industriearbeiterschaft stieß der Streikaufruf für den 3. September auf große Resonanz. Eine sehr geringe Beteiligung war dagegen von seiten der der Mittelklasse angehörenden Lohnabhängigen und des Einzelhandels zu verzeichnen. Erleichtert durch diese Umstände, lud die Regierung erneut zu Konzertierungsgesprächen ein, und die CGT, die ihr Mobilisierungspotential für eine frontale Oppositionspolitik ganz offensichtlich überschätzt hatte, akzeptierte den Vorschlag. Dies bedeutete allerdings nicht, daß es zu einer Annäherung der Standpunkte gekommen wäre. Die CGT forderte nach wie vor eine automatische Anpassung der Nominallöhne an die Preisentwicklung und interessierte sich nicht für die inflationsfördernden Konsequenzen eines solchen Mechanis20
mus . An der ersten Sitzung der Kommission für Einkommenspolitik im Rahmen der Konzertierung nahm die CGT nicht teil. Statt dessen veröffentlichte sie ein Dokument, in dem sie eine sofortige Änderung der Sozial- und Wirtschaftspolitik verlangte. Der Gewerkschaftsdachverband beschloß in diesen Tagen außerdem, die Protestmaßnahmen einiger Einzelgewerkschaften zu unterstützen. Er warnte öffentlich vor der Möglichkeit sozialer Unruhen und beklagte, daß bei den Treffen der Verhandlungskommissionen schon beschlossene und ohne Einbeziehung der Gesprächspartner angefertigte Regierungsvorhaben vorgelegt würden21. In den folgenden Monaten nahmen Inflation, Arbeitslosigkeit und Finanzspekulation weiter zu, während die Aufmerksamkeit des Wirtschaftskabinetts stark durch die Verhandlungen mit den ausländischen Gläubigern in Anspruch genommen war. Im Dezember konnte eine Übereinkunft mit dem IWF erzielt werden, der Argentinien einen stand-by-Ksedi\ gewährte. Kaum einen Monat später war dieses Abkommen aber schon wieder hinfallig, da die steigende In"
Damit waren das aufgeblähte Finanzsystem und seine Nutznießer gemeint.
"
El Bimestre 16(1984: 115).
20
Vgl. Portantiero (1987b: 159); Gaudio/Thompson (1990: 108); Epstein (1992b: 13lff.).
21
Vgl. Acufla( 1995: 115).
228
flation eine Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen unmöglich machte22. Inmitten dieser Entwicklung kam es über die gemeinsame Beteiligung der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände an der Mesa de Concertaciön zur Bildung der sogenannten "Produktionsfront", deren Mitglieder einzig in ihrer Opposition zur Regierung übereinstimmten, an die sie alle ihre Forderungen richteten23. Am 7. Januar 1985, als die CGT ihre Position erneut verhärtete, legte Präsident Alfonsin einen förmlichen "Konzertierungskompromiß" vor. Es ging ihm um die Rückendeckung der Gewerkschaften und Unternehmer für einen vom damaligen Planungssekretär Juan Sourrouille ausgearbeiteten Wirtschaftsplan. Die Regierung versprach, die CGT ab Februar an der Lohnpolitik und an der Ausarbeitung der zukünftigen Gesetzgebung hinsichtlich der Sozialwerke und der Finanzkörperschaften zu beteiligen. Um die Konzertierung stärker zu formalisieren, sollten eine Kommission zur Beratung des Präsidenten und 22 Arbeitsgruppen gebildet werden24. Die 62 Organisationen weigerten sich, einer Beteiligung an der Konzertierung zuzustimmen, die sie lediglich als eine Finte der Regierung betrachteten. Diese Position erlitt jedoch durch die damals existierende Allianz zwischen der Kommission der 25 und Gestiön y Trabajo eine Niederlage, so daß die CGT zunächst ihre Unterstützung für die Initiative zusicherte und sogar eine "Waffenruhe" von 120 Tagen vorschlug, während der weder Entlassungen noch Streiks erfolgen sollten. Die Unternehmerverbände waren ihrerseits jedoch nicht dazu bereit, einem solchen Abkommen für mehr als 30 Tage zuzustimmen25. Kurze Zeit später legte die jetzt als Gruppe der 11 auftretende Front aus Gewerkschaften und Unternehmerverbänden der Regierung zwei Dokumente vor, in der ihre Standpunkte zusammengefaßt waren: "Vorschlag für einen Sozialpakt" (Propuesta de Acuerdo Social) und "Vorschlag für Wachstum in Freiheit und mit sozialer Gerechtigkeit" (Propuesta de Crecimiento en Libertad y con Justicia Social). Bei dem ersten Dokument handelte es sich um eine ausfuhrliche Analyse, in der die Krise des Landes als Folge von zwei das Wirtschaftswachstum hemmenden Faktoren interpretiert wurde: die starke Verschuldung gegenüber ausländischen Gläubigem und das hohe Niveau der Staatsausgaben im Verhältnis zum BIP. Als Konsequenz wurde als einzige mögliche Lösung die Erwirtschaftung von Devisen durch Handelsströme und durch die Schaffung günstiger Bedingungen für ausländische Direktinvestitionen sowie für die Repatriierung von Fluchtgeldern vorgeschlagen. Dazu sei es notwendig, Ressourcen in die produktivsten Sektoren umzuleiten, die Staatsausgaben zu kürzen und staatliche Unternehmen zu privatisieren. Gleichzeitig wurde die Konzertierung als ein nützliches Werkzeug für die Umsetzung dieser Politiken bezeichnet. Ferner wurde die Notwendigkeit betont, diese Maßnahmen durch eine SozialVgl. Frenkel/Fanelli/Sommer (1988: 23). Vgl. El PeriodistaN° 10 (17. - 23. November 1984: 11); N° 12 (1. - 7. Dezember 1984: 12). Vgl. El Bimestre 19 (1985: 31); Portantiero ( 1987b: 161f.) Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 109ff.); Blake (1992: 170ff.).
229
politik zu begleiten, die die unmittelbar entstehenden Kosten gleichmäßig verteilt und die Rückgabe der Sozialwerke an die Gewerkschaften verlangt . Das zweite Dokument faßte den Inhalt des ersten in einem 20-Punkte-Katalog zusammen27. Der Vorschlag der Gruppe der 11 fiel genauso widersprüchlich aus wie die Interessen, die darin unter einen Hut gebracht werden sollten. Die Abwertung des Peso, die Senkung der öffentlichen Ausgaben und die Umlenkung von Ressourcen in die produktivsten Sektoren bedeuteten de facto einen Rückgang der Reallöhne, während die Privatisierungspolitik und die Öffnung für ausländische Investitionen Prinzipien darstellten, die völlig unvereinbar mit den traditionellen Positionen der CGT waren. Das Dokument betonte die Verpflichtungen, die die Regierung einzugehen habe, ohne im Gegenzug irgendeine Modifikation des Verhaltens von Unternehmern und Gewerkschaften anzubieten. Die Gruppe der 11 wies einen erneuten Kompromißvorschlag der Regierung zurück, und die Konzertierung scheiterte ein weiteres Mal. Angesichts dieser Umstände trat Wirtschaftsminister Grinspun am 19. Februar zurück. Seine Nachfolge übernahm der bisherige Planungsstaatssekretär Juan Sourrouille. Der neue Minister, ein nicht der UCR angehörender Fachmann, kündigte als sein wichtigstes Ziel eine Kontrolle der Inflation an28. Die CGT war weit von einer einheitlichen Position entfernt. Die Übereinkunft mit den Unternehmerverbänden war von der Gruppierung um Jorge Triaca forciert worden, einer der damals vier Generalsekretäre. Ubaldini und die Kommission der 25 hatten dies zähneknirschend akzeptiert, aber nur, weil sie damit Verbündete im Streit mit der Regierung um die Sozialwerke erhielten29. Aber schon im März 1985 traten die Meinungsunterschiede zwischen den verschiedenen Gruppierungen offen zutage. So kam es zur Vorlage mehrerer widersprüchlicher Projekte, als die CGT in ihrem Bestreben, eine gemeinsame Front mit den politischen Parteien, den Unternehmern und der Kirche zu bilden, mit der Ausarbeitung eines neuen alternativen Wirtschaftsplans begann. Auf der einen Seite bestand das Projekt der Ökonomen Alfredo Gómez Morales, Horacio Pericoli und Eduardo Curia, die der Gruppe Gestión y Trabajo nahestanden und sich erneut für eine Verringerung des Haushaltsdefizits, die Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung, einen für die Exportwirtschaft günstigen Wechselkurs und eine Steuerreform stark machten. Auf der anderen Seite gab es den Vorschlag von Héctor Gambarotta und Rafael Iniesta, die den "25" nahestanden und betonten, die CGT müsse sich mehr an die Federación Agraria Argentina und den Consejo Argentino de la Industria, und nicht an die Sociedad Rural und die Unión Industrial annähern30. Roberto Lavagna und Alberto Vat26 2
'
28
Vgl. Grupo de los 11 (1985a). Vgl. Grupo de los 11 (1985b). Vgl. El Bimestre 19 (1985: 68f.); El Bimestre 20 (1985: 17f.); Portantiero (1987b: 162ff.); Blake (1992: 172).
29
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 1Uff.); Epstein (1992b: 133f.).
30
Während die Sociedad Rural und die Unión Industrial jeweils die Interessen der Großgrundbesitzer und der Großindustriellen repräsentierten, verstanden sich die beiden anderen Verbände als Vertretung der
230
ter schließlich, auch sie charakterisiert durch ihre Nähe zu den "25", legten einen Text vor, der einen mittleren Standpunkt einnahm31. Der von dem Team um Gömez Morales erarbeitete Vorschlag wurde von Seiten zahlreicher Führer der "25" und insbesondere von Vertretern der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, unabhängig von deren Zugehörigkeit zu einer der internen gewerkschaftlichen Strömungen, scharf kritisiert. Die Gegner des Plans betonten, es handle sich dabei um "einen wirklichen Rückschritt gegenüber den historischen Errungenschaften des Peronismus", er sei vielmehr "eine Wiederauflage der Politik von Martinez de Hoz". Nach langwierigen Diskussionen im Plenum des Consejo Directivo der CGT wurde das Dokument schließlich mit leichten Modifikationen angenommen und der Öffentlichkeit am 29. März 1985 vorgestellt32. Der neue "Vorschlag fiir eine Wirtschafts- und Sozialpolitik" (Propuesta Econömico Social) der CGT bekannte sich zunächst zu dem Grundsatz der Enzyklika Laborem Exercens, "der Arbeit gegenüber dem Kapital Vorrang" einzuräumen. Gefordert wurde das Wiederinkraftsetzen der vor der Militärdiktatur gültigen Arbeitsgesetzgebung. Davon ausgehend, daß die Inflation im wesentlichen auf "ein unzureichendes Angebot" zurückzufuhren sei, waren die Forderungen nach sechs grundsätzlichen Themen geordnet: 1) Produktionspolitik (Ressourcenzuweisung zugunsten produktiver Tätigkeiten, Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität, günstige Bedingungen für ausländische Investitionen und die Eindämmung der Kapitalflucht); 2) Einkommenspolitik (Eindämmung der Inflation, Lohnerhöhungen, paritätische Verhandlungen, Rückgabe der Sozial werke und "Schema zur Freigabe der Preise mit nachträglicher Kontrolle"); 3) Geld- und Kreditpolitik (an die Durchschnittsrentabilität der Wirtschaft angepaßte Zinssätze, selektive Vergabe von Krediten entsprechend regionalen und sektorialen Prioritäten und Reform des Finanzsystems); 4) Wechselkurs- und Außenhandelspolitik (Untersuchung der Legitimität der Auslandsverschuldung und Festlegung gemäßigt hoher und stabiler Wechselkurse); 5) Fiskalpolitik (Senkung des Haushaltsdefizits, Reaktivierung staatlicher Unternehmen, Beschäftigungssicherheit für die öffentlichen Bediensteten und Gleichgewicht zwischen direkten und indirekten Steuern) und 6) Regionalwirtschaftspolitik (Kombination von direkter Förderung, Rekonversion und Suche nach externen Märkten)33. Währenddessen sanken die Reallöhne, die Arbeitslosigkeit nahm zu und die Inflation wurde immer größer (im Monat März war sie auf 26,5% gestiegen). Vor diesem Hintergrund orientierten sich die Lohndekrete der Regierung immer mehr an dem Versuch, die Preissteigerung zu bremsen und immer weniger an
Kleinuntemehmen der jeweiligen Wirtschaftssektorproduzenten, weshalb sie als geeignetere Verbündeten filr den Peronismus galten. Zum argentinischen Verbandsspektrum siehe Birle (1995: 199ff.). Vgl. El Periodista N° 29 (29. März - 4. April 1985: 11). Vgl. El Bimestre 20 (1985: 58); El Periodista N° 37 (24. - 30. Mai 1985: 14); Gaudio/Thompson (1990: 112f.). Vgl. C G T (1985).
231
dem ursprünglichen Ziel, das Einkommensniveau der Lohnabhängigen zu steigern. Inmitten dieser rapide fortschreitenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation konnte der schwache Kompromiß, den die CGT bei den Formulierungen ihres letzten Dokuments erzielt hatte, nicht lange aufrechterhalten werden. Die konzeptionellen Unterschiede zwischen den "25" und Gestiön y Trabajo waren am Ende größer als ihr gemeinsames Interesse, den Einfluß der 62 Organisationen in Grenzen zu halten. Als die Regierung ankündigte, die nächsten Lohnerhöhungen würden einem 90%igen Inflationsausgleich gegenüber dem Vormonat entsprechen, war das neue Kräfteverhältnis innerhalb der CGT bereits genügend gefestigt, damit es zur Entscheidung für die Durchfuhrung eines Kampfplans kam. Der zweite Generalstreik am 23. Mai 1985 wurde von mehreren oppositionellen politischen Parteien, von den Menschenrechtsorganisationen und von einigen Unternehmerverbänden unterstützt. Angesichts einer so gut wie nicht vorhandenen öffentlichen Präsenz des PJ übernahm die CGT die fuhrende Rolle innerhalb der Opposition gegenüber der Wirtschaftspolitik der Regierung 34 .
7.1.3 Der Plan Austrat Die Situation veränderte sich grundlegend von heute auf morgen, als die Regierung am 14. Juni 1985 einen neuen Wirtschaftsplan bekanntgab. Der Plan Austral, dessen Hauptziel die Inflationsbekämpfung war, bestand aus einer Kombination von orthodoxen und heterodoxen Maßnahmen: einerseits dem Versprechen der Regierung, die Geldemission zu stoppen und das Defizit des öffentlichen Sektors, das im ersten Halbjahr 12% des BIP betragen hatte, auf 2,5% zu verringern; andererseits einen Lohn- und Preisstopp (mit Ausnahme derjenigen Preise, die Saisonschwankungen unterlagen, d.h. die sogenannten precios flex), der Einführung einer neuen Währung und der Festlegung ihres Kurses (1 US$ = 0,85 A). Diesen Maßnahmen war eine deutliche Erhöhung der Gebühren für öffentliche Dienstleistungen, insbesondere für Transport, Energie und Kommunikation, sowie eine Flexibilisierung der Preiskontrollen im Industriesektor vorausgegangen. Dies hatte vor Beginn des Preisstopps zu einem starken Anstieg dieser Preise und somit zu einer bedeutenden Veränderung der relativen Preise geführt. Eine Woche vor Verkündung der Schockpolitik war ein Abkommen mit dem IWF über die Gewährung eines neuen stand-by-Kiedits erzielt worden. Außerdem begannen neue Verhandlungen mit den ausländischen Gläubigern auf der Grundlage der Bestimmungen des Plan Austral, die im August zu einer Übereinkunft führten 35 . Als Schockstrategie konzipiert, wurde der Plan Austral einseitig von der Regierung ohne Beteiligung des Parlaments und der Konzertierungspartner beVgl. El Periodista N ° 36 (17. - 23. Mai 1985: 4); N ° 37 (24. - 30. Mai 1985: 2ff.); de Riz/Cavarozzi/ Feldman (1987: 48ff.). Vgl. Ehrke (1988: 114ff.); Frenkel/Damill (1988: (1991: 232fr.); Schröder (1990: 76ff.).
232
22ff.);
Frenkel/Fanelli/Sommer (1988: 25ff.); Bodemer
schlössen. Die erste Reaktion der CGT bestand darin, den Plan als eine "Aggression gegen die Arbeiter" zu bezeichnen, ihn auf den Druck des IWF zurückzuführen, sein Scheitern in weniger als 60 Tagen vorherzusagen und sich dem von seiten des justizialistischen Senators Saadi geäußerten Vorwurf anzuschließen, die Reformen würden gegen die Verfassung verstoßen 36 . Andererseits übte die Ankündigung der neuen Wirtschaftsmaßnahmen eine starke Wirkung auf das labile Gleichgewicht innerhalb des Gewerkschaftsdachverbandes aus. Auch wenn alle Strömungen übereinstimmend anerkannten, daß sie durch die Entscheidung der Regierung die Initiative und den politischen Protagonismus eingebüßt hatten, den sie sich zuvor durch den Kampfplan erarbeitet hatten, bestanden gravierende Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, wie diese Situation am besten verändert werden könnte. Die Repräsentanten von Gestion y Trabajo waren zum Dialog mit der Regierung bereit, während die Kommission der 25 zwischen einer frontalen Kampfansage an die Exekutive und einer eher abwartenden Haltung schwankte. Die 62 Organisationen ihrerseits versuchten, sich mit Hilfe der Justizialistischen Partei an die Spitze der Opposition zu setzen. Im Juli kam es zu einer starken Zunahme der Konflikte an der Gewerkschaftsbasis. Sie wurden dadurch ausgelöst, daß viele Unternehmen unter dem Vorwand, daß sie nicht mehr frei über Preiserhöhungen entscheiden konnten, damit begannen, Freistellungen und Massenentlassungen zur Reduzierung von Kosten durchzufuhren. Der Druck aus der Basis führte dazu, daß die verschiedenen gewerkschaftlichen Strömungen sich darauf einigten, einen dritten Generalstreik für den 29. August zu verkünden. An der aus diesem Anlaß organisierten Protestkundgebung nahmen die wichtigsten Vertreter des orthodoxen Peronismus teil, wodurch die Veranstaltung für den Wahlkampfauftakt dieses Sektors für die im November bevorstehenden Parlamentswahlen vereinnahmt wurde 37 . Im allgemeinen reagierte die Bevölkerung dagegen positiv auf den Plan Austral. Insbesondere der Preisstopp sorgte für begeisterte Zustimmung und einen Vertrauensvorschuß für die Regierung. Der Anstieg der Großhandelspreise lag nun unter 1% monatlich und der der Verbraucherpreise blieb unter 3%. Der Generalstreik am 29. August konnte deshalb zwar die gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter mobilisieren, aber andere gesellschaftliche Sektoren beteiligten sich nicht an den Protesten. Die positive Haltung der Wählerschaft schlug sich auch im Sieg des Radikalismus bei den Parlamentswahlen am 3. November 1985 nieder. In dieser Konstellation übernahmen jetzt zwei peronistische Ökonomen, die bereits als Einzelpersonen an der technischen Ausarbeitung des Plan Austral beteiligt gewesen waren, Verantwortung für dessen Implementierung. Roberto Lavagna wurde zum Staatssekretär für Industrie und
Vgl. L A W R ( 1 9 8 5 - 2 5 : 10f.); El Periodista N° 41 ( 2 1 . - 2 7 . Juni 1985: 4). Vgl. El Periodista N ° 42 (28. Juni bis 4. Juli 1985: 5); N° 47 (2. - 8. August 1985: 16); N ° 48 (9. - 15. August 1985:4); N ° 4 9 (16. - 22. August 1985: 4); N° 52 (6. - 12. September 1985: 3).
233
Außenhandel ernannt, Roberto Frenkel avancierte zum Chefberater des Wirtschaftsministers 38 . Vor dem Hintergrund der durch den Plan Austral grundlegend veränderten Rahmenbedingungen berief die Regierung eine Wirtschafts- und Sozialkonferenz (Conferencia Económico-Social - CES) ein. Es ging darum, die Interessengruppen auf eine Lohnpolitik zu verpflichten, die mit einer Fortsetzung der Inflationsbekämpfung vereinbar wäre. Gegen Ende des Jahres 1985 war es jedoch bereits zu deutlichen Abweichungen von dem verordneten Preisstopp gekommen, insbesondere infolge der ständigen Zunahme der precios flex. Da die Lebensmitttel einen bedeutenden Teil des Konsums der Sektoren mit geringeren Einkommen ausmachten, ging die Kaufkraft der Löhne und Renten dieser Gruppen deutlich zurück, obwohl die Tarife für staatliche Dienstleistungen und die Industriepreise eingefroren waren 39 . Angesichts dieser realen Lohnverluste kündigte die Regierung an, daß sie ab Januar 1986 eine Erhöhung genehmigen werde. Sie lehnte jedoch die Forderung nach einer allgemeinen Lohnerhöhung ebenso ab wie die Einberufung von freien Kollektivverhandlungen. Sie zeigte sich allerdings bereit, Übereinkünfte zwischen Gewerkschaften und Unternehmern über Lohnerhöhungen anzuerkennen, sofern diese nicht auf die Preise übertragen würden. Die CGT verlangte ihrerseits eine allgemeine Lohnerhöhung von 28%, denn nur dadurch sei es möglich, die Verluste des Vorjahres zu kompensieren. Die Unternehmer argumentierten, sie könnten einer solchen Forderung nicht nachkommen, ohne Preiserhöhungen vorzunehmen. Am Ende verfugte die Regierung einseitig eine Steigerung der Mindestlöhne und eine 5%ige Erhöhung der Bezüge der privaten und öffentlichen Arbeiter und Angestellten, und sie erlaubte den Privatunternehmen, weitere Steigerungen von bis zu 5% zu gewähren, wenn die Produktivitätsentwicklung dies zulasse. Die Unternehmer begrüßten diese Maßnahme und verpflichteten sich dazu, das Preisniveau nicht zu verändern. Die CGT jedoch war absolut dagegen und zog sich aus der CES zurück. Die gemeinsame Front von Arbeitern und Unternehmern war zerbrochen 40 . Ab diesem Zeitpunkt schlug die CGT, die inzwischen von Saúl Ubaldini als alleinigem Generalsekretär geführt wurde, aber noch nicht wieder normalisiert war, einen offenen Konfrontationskurs ein. Der Gewerkschaftsdachverband verweigerte die Unterstützung des Anti-Inflationsplans und forderte vielmehr einen Ausgleich für die Einkommenseinbußen durch eine allgemeine Lohnerhöhung, die unweigerlich auf die Preise abgewälzt werden mußte. Ins Zentrum seiner Forderungen stellte er die Zurückweisung der Zahlungsverpflichtungen gegenüber den ausländischen Gläubigern. Das diesbezügliche Motto hieß: "die Alternative lautet, entweder im Ausland bezahlen oder im Inland" 41 .
38
Vgl. LAWR (1985-25: 10f.); (1986-01: 6); (1986-02: 8); Frenkel/Damill (1988: 25ff.); Schröder (1990:
M
Vgl. Schvarzer (1990: 4 2 Í ) .
85f.); Schvarzer (1990: 33f.). 40
Vgl. Gaudio/Thompson ( 1990: 143ff.).
41
El PeriodistaN° 57 (11. - 17. Oktober 1985: 8).
234
In diesem Klima wurde der sogenannte Alternativplan der CGT, die berühmten "26 Punkte", ausgearbeitet. Unter Berufung auf ihn sollte der Gewerkschaftsdachverband zu den nächsten acht Generalstreiks aufrufen. Dieser neue "Nationale Vorschlag" wurde im Februar 1986 bekannt gegeben und als "dringend durchzuführendes Notprogramm" dargestellt, um eine "vollständige Kehrtwende" der Wirtschaftspolitik der Regierung zu erreichen. Trotz aller gegenteiligen Behauptungen waren aber auch die "26 Punkte" nie ein Programm, sondern schlicht ein neuer Forderungskatalog, dessen Grundorientierung allerdings wesentlich von früheren Dokumenten der CGT und insbesondere von denen der Gruppe der 11 abwich. Die zentrale Forderung des Gewerkschaftsdachverbandes bestand jetzt in einem Schuldenmoratorium. Hinzu kam unter anderem eine Nationalisierung der Bankeinlagen, eine Steuerreform zur Ankurbelung der Produktion sowie zur Eindämmung der Spekulation, die Mobilisierung brachliegender Produktionskapazitäten, eine Stimulierung des Importsubstitutionsprozesses, die Ausweitung der öffentlichen Investitionen, die Stärkung der staatlichen Unternehmen, die Erhöhung von Löhnen und Renten, die Durchfuhrung von Kollektivverhandlungen und die Aufstockung des Budgets für den Erziehungssektor42. In ihrer Ablehnung der Zahlung der Auslandsschuld stand die CGT nicht allein, sondern konnte auf die Unterstützung der Linksparteien und eines großen Teils des PJ zählen. Wie bereits im letzten Kapitel erwähnt wurde, kam es im März/April zu einer hochgradig symbolisch aufgeladenen Parlamentsdebatte, bei der die prominentesten peronistischen Redner ein Moratorium als Grundlage eines sozialen Konzertierungsprozesses und einer Erholung der nationalen Volkswirtschaft forderten. Schließlich bemühte sich die CGT auch um internationale Unterstützung in dieser Frage, wozu sie sich der internationalen Konferenz des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) und seiner Regionalorganisation in Lateinamerika (ORIT) über "Auslandsverschuldung und Entwicklung" im Jahr 1986 als Forum bediente43. Im März 1986 begann die Regierung mit einer Lockerung der Preispolitik, was zu grundlegenden Modifikationen des Wirtschaftsplans führte. Es wurden dann Korrekturen des Wechselkurses und der öffentlichen Gebühren sowie die Einfuhrung eines Mechanismus "verwalteter Preiserhöhungen" anstelle des Preisstopps angekündigt. Demnach sollten die Preise entsprechend der für das laufende Jahr erwarteten Inflation, die als "Restinflation" bezeichnet und mit 28% kalkuliert wurde, erhöht werden dürfen. Hinsichtlich der Löhne versprach die Regierung eine "aufrichtigere Offenlegung" (sinceramiento) der realen Niveaus, denn es war allgemein bekannt, daß viele Privatunternehmen ihren Beschäftigten bereits mehr bezahlten als offiziell zulässig. Zudem sollten sektorale Lohnverhandlungen unter Berücksichtigung der Produktivitätsentwicklung und innerhalb gewisser Bandbreiten erlaubt werden44. 42
Vgl. C G T (19X6).
43
Vgl. Ubaldini (1986).
44
Vgl. Ehrke (1988: 117); Schröder (1990: 86, 139).
235
Kompromißlos an den "26 Punkten" und an ihrer Konfrontationsstrategie festhaltend, rief die CGT für den 25. März 1986 zum fünften Generalstreik auf. Parallel dazu begannen die Verhandlungen auf Sektorebene, die vielfach von Streiks und kurzfristigen Arbeitsniederlegungen begleitet waren. Der Verteilungskampf setzte erneut mit ganzer Kraft ein. In vielen Fällen endeten die Verhandlungen mit Ergebnissen, die die von der Regierung gesetzten Spannbreiten bei weitem überschritten. Das wichtigste diesbezügliche Beispiel lieferten die im Juli 1986 von der UOM ausgehandelten Verträge, durch die den Metallarbeitern Lohnerhöhungen zugebilligt wurden, die 18 Prozentpunkte über dem zugelassenen Wert lagen 45 . Im zweiten Halbjahr 1986 brachen zudem die Konflikte im öffentlichen Sektor und insbesondere in der Bundesverwaltung aus, die am stärksten von den beabsichtigten Ausgabenkürzungen der Regierung betroffen war. Auf der Ebene der Provinzen und in den staatlichen Unternehmen zeichnete sich eine andere Entwicklung ab, denn diese Bereiche entzogen sich der Kontrolle des Staatssekretariats für Finanzen. Angesichts des Drucks der Gewerkschaften und mit Blick auf bevorstehende Wahlen zogen es sowohl das Management der Staatsunternehmen als auch die Provinzgouverneure, vor allem einige justizialistische, vor, Lohnerhöhungen zu gewähren, beabsichtigte Bauvorhaben weiterzuführen und andere zu beginnen, statt die verordneten Haushaltsrestriktionen zu berücksichtigen. Dadurch entstanden neue Defizite, die nach Meinung der Verantwortlichen wie immer durch Gebührenerhöhungen oder durch zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen werden sollten 46 . Der Erneuererflügel des Peronismus hatte im März 1986 mit der Ausarbeitung seines Wirtschafts- und Sozialprogramms begonnen. Es entstand ein Dokument, in dem der Regierung vorgeworfen wurde, "Resignation" sei nun offizielle Ideologie, denn sie habe bei den Verhandlungen mit dem IWF Bedingungen akzeptiert, die deutlich von den im letter of intent angekündigten Absichten abwichen. Die Erneuerer kritisierten den Plan Austral als bloßen antiinflationären Schock, der früher oder später an Wirkung verlieren müsse, da kein wirklicher Entwicklungsplan existiere. Demgegenüber schlugen sie ein 180tägiges Moratorium hinsichtlich der Auslandsschulden vor. Danach sollte nur so viel bezahlt werden, daß dadurch die einheimische Produktion und der Arbeitsmarkt nicht beeinträchtigt würden. Die Erneuerer sprachen sich für die Ausarbeitung eines Wachstumsplans in Kooperation mit den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden sowie für schärfere Kontrollen im Finanz- und Außenhandelssektor aus. Betont wurde auch die Notwendigkeit einer Staatsreform, einer mittel- und langfristigen Planung der Aktivitäten des öffentlichen Sektors unter Beteiligung der Gesellschaft, eine Modernisierung der Verwaltungsmethoden und -prozeduren, eine regelmäßige Evaluierung der Inhaber mittlerer und höherer Verwaltungsposten sowie partielle Privatisierungsmaßnahmen, allerdings nicht in der Petrochemie und der Eisenhüttenindustrie. 45
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 154); Senén González/Bosoer (1993: 61 u. 76).
46
Vgl. Schröder (1990: 140); Schvarzer (1990: 38ff.).
236
Die Vorstellungen der Erneuerer liefen außerdem darauf hinaus, eine Finanzreform durchzufuhren, einen langfristig orientierten Kapitalmarkt zu etablieren und die Kredit- und Zinspolitik an der durchschnittlichen Rentabilität der Volkswirtschaft auszurichten. Generell müsse die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik im Rahmen eines Konzertierungsprozesses abgestimmt werden, um eine Beteiligung der Beschäftigten an den Entscheidungen über Löhne, Personal- und Preispolitik sowie an der Führung der staatlichen Unternehmen zu gewährleisten. Als wichtigstes Ziel der Industriepolitik galt die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen. Zudem müsse die Produktion von Gütern und Dienstleistungen für einen größtmöglichen Nutzerkreis gefördert werden, statt den Luxuskonsum zu bevorzugen. Für den Agrarsektor sahen die Pläne eine konzertierte Preispolitik und die Förderung der Produktion durch zusätzliche Abgaben auf brachliegende Kapazitäten vor, um eine Reaktivierung der Landwirtschaft im Bereich der Pampa zu erreichen. Parallel dazu sollte in den übrigen Regionen für eine Diversifikation der Produktion und eine Modifikation der Eigentumsstrukturen gesorgt werden 47 . Angesichts von erneut bevorstehenden Wahlen unterlag die Regierung permanent dem Druck der Wirtschaftskonjunktur und hatte immer größere Schwierigkeiten, einen kohärenten Kurs aufrechtzuerhalten. Im Januar 1987 führte die inzwischen normalisierte CGT ihren achten Generalstreik durch. Der monatliche Anstieg der Verbraucherpreise belief sich damals auf 7,6%48. In dieser Situation versuchte die Regierung, den Erfolg des ersten Schocks bei der Inflationsbekämpfung zu wiederholen. Im Rahmen des sogenannten Australito verordnete sie einen erneuten Preisstopp sowie eine Abwertung und anschließende Fixierung der Landeswährung. Sourrouille war sich darüber im klaren, daß eine bloße Wiederholung der bereits einmal durchgeführten Maßnahmen nicht ausreichen würde, um die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen. Daher kündigte er einen Strategiewechsel in Richtung einer Restrukturierung des staatlichen Sektors und einer stärkeren Integration in den Weltmarkt an49. Inmitten eines angespannten politischen Klimas, in dem der Druck von Seiten der Streitkräfte, aber auch der Kirche, des PJ und der linken Gruppierungen ständig zunahm, hielten es einige Sektoren der Regierung für notwendig, sich durch eine Verbesserung der Beziehungen zu den Gewerkschaften etwas Luft zu verschaffen. Ohne das Arbeitsministerium davon zu informieren, nahmen sie Kontakt mit der kurze Zeit vorher gegründeten Gruppe der 15 auf, die am ehesten zu Verhandlungen bereit war 50 . Wie bereits aufgezeigt wurde, bedeutete die Ernennung Alderetes zum Arbeitsminister de facto das Einschmuggeln eines Trojanischen Pferdes in die radikale Regierung, auch wenn der Vorgang als Sozialpakt angekündigt wurde. Der peronistische Arbeitsminister sabotierte permanent die Entscheidungen des Wirtschaftsministers und tat öffentlich kund, 4
Vgl. Peronismo Renovador o.J.
"
Vgl. Frenkel/Damill (1988: 27).
49
Vgl. Schröder (1990: 87); Bodemer (1991: 233).
50
Vgl. El Periodista N° 127 (13. - 19. Februar 1987: 4); Senén González/Bosoer (1993: 72ff.).
237
daß er auf einen Sieg der Opposition bei den nächsten Wahlen hoffe. Trotz dieser Haltung konnte der neue Minister auch nicht auf die Zusammenarbeit des gesamten Peronismus zählen. Die Erneuerer warfen ihm vor, ein Peronist zu sein, "der zu mieten sei", und kritisierten seinen politischen Opportunismus. Sie vermieden es allerdings, auf die wirtschaftlichen Begleitumstände der Übereinkunft oder die Beziehungen der Gruppe der 15 mit der Unternehmergruppe der Capitanes de la industria Bezug zu nehmen 51 . Fast hätten die Verhandlungen des Ministers Alderete mit der UIA zu einem erneuten Bündnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden geführt. Ein im April 1987 gemeinsam erarbeiteter "Projektentwurf für einen Sozialpakt" betonte erneut die Notwendigkeit, Ressourcen bevorzugt in die produktivsten Bereiche umzulenken, die Preiskontrollen zu beseitigen, den öffentlichen Sektor zu verkleinern, die Privatisierung staatlicher Unternehmen einzuleiten, das Wirtschaftswachstum auf der Grundlage einer fuhrenden Rolle des Privatsektors und mit Hilfe ausländischer Investitionen zu stimulieren, die Arbeitsgesetzgebung zu flexibilisieren, Löhne und Renten zu erhöhen, ohne dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Privatsektors zu beeinträchtigen und die Sozialwerke an die Gewerkschaften zurückzugeben 52 . Die Allianz kam jedoch nicht zustande, denn die Meinungsunterschiede zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden hinsichtlich der von Alderete beabsichtigten Arbeitsgesetze konnten nicht überwunden werden. Einen Tag nach Bekanntgabe des "Entwurfs" veröffentlichte die Nationalkommission der 25 ihre eigene Version eines Wirtschafts- und Sozialabkommens. Zu diesem Konzept gehörten die Wiedererlangung der traditionellen Anteile der Löhne am BIP, die Steigerung der Exporte bei gleichzeitiger Stärkung des Binnenmarktes, die gezielte Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen, die Neudefinition der Rolle des Staates, die aktive Förderung neuer wirtschaftlicher Aktivitäten, die Beteiligung der Arbeiter an der Planung, Implementierung und Kontrolle der Politik und die Verwaltung der Sozialwerke durch die Gewerkschaften 53 . Mitte 1987 verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation massiv. Der größte Teil der Einkünfte des Bundeshaushalts stammten aus den Exportsteuern. Damals sanken jedoch die Weltmarktpreise für Getreide und Ölsaaten drastisch, so daß die argentinische Landwirtschaft zunehmend ihre komparativen Kostenvorteile einbüßte. Die Produzenten reagierten darauf mit einer deutlichen Verringerung der Saatfläche. Der Exportrückgang implizierte notwendigerweise eine deutliche Senkung der Deviseneinkünfte. Hinzu kam noch, daß das Wirtschaftsministerium, wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, nicht zu einer Kontrolle von Entscheidungen der Provinzverwaltungen und der Staatsun-
Vgl. Armada/Wainfeld (1988: 5f.). Vgl. Grupo de los 15 (1987). Vgl. Movimiento Sindical Peronista Renovador (1987a).
238
ternehmen in der Lage war, weshalb die beabsichtigte Konsolidierung des Staatshaushalts durch Ausgabenkürzungen nicht ohne weiteres möglich war 54 . Im Juli kündigte Sourrouille ein Maßnahmenpaket an, das eine Reduzierung der Exportabgaben und eine Reihe von strukturellen Reformen des öffentlichen Sektors umfaßte. Die Defizite der staatlichen Unternehmen sollten jetzt durch Rationalisierungsmaßnahmen und nicht durch Tariferhöhungen verringert werden. Der Bundeshaushalt würde die ausstehenden Schuldenzahlungen dieser Unternehmen übernehmen, die allerdings keine Subventionen mehr erhalten würden. Schließlich kündigte die Regierung an, dem Parlament eine Reihe von Gesetzentwürfen vorzulegen, wozu unter anderem Privatisierungsmaßnahmen im Transport- und Kommunikationssektor sowie eine Umstrukturierung und Teilprivatisierung des staatlichen Erdölkonsortiums YPF gehörte 55 . Angesichts der bevorstehenden Wahlen wurde die Justizialistische Partei wieder aktiver und organisierte eine Reihe von Zusammenkünften der Kandidaten und Distriktvorsitzenden. Das dritte dieser Treffen fand aus symbolischen Gründen am 9. Juli in der Stadt Tucumän statt, um an die Unabhängigkeitserklärung von 1816 und mehr noch an die in derselben Stadt 40 Jahre zuvor von Perön verkündete "Deklaration der Wirtschaftlichen Unabhängigkeit" zu erinnern. Aus dieser Veranstaltung gingen zwei Dokumente mit wirtschaftspolitischen Stellungnahmen hervor. Das erste bot in zehn Punkten eine aktualisierte Kurzfassung der klassischen justizialistischen Losung der "Wirtschaftlichen Unabhängigkeit": 1) Wiederherstellung einer Produktions- und Arbeitskultur und Abkehr von der unmoralischen Spekulationsmentalität; 2) Demokratisierung der wirtschaftlichen Macht; 3) Konzertierung zwischen Staat, Arbeitern und Unternehmern; 4) Neudefinition der Rolle des Staates im Sinne seiner Aufwertung, Dezentralisierung, Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung, Einführung eines Systems von Gemeinschaftseigentum; 5) Schuldenmoratorium; 6) mit einer Reaktivierung des Produktionsapparates zu vereinbarende Zinssätze; 7) Bekämpfung der strukturellen Ursachen der Inflation durch eine Steigerung des Angebots an Gütern und Dienstleistungen; 8) Reindustrialisierung und Förderung von Investitionen in Sektoren mit guten Kapazitäten zur Devisenerwirtschaftung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen; 9) Diversifizierung und Technifizierung der landwirtschaftlichen Produktion; 10) Förderung von Wissenschaft und Technologie 56 . Das zweite in Tucumän verabschiedete Dokument sollte Maßstäbe für ein "alternatives Wirtschaftsprogramm" setzen und ging ausführlicher auf die zehn Punkte der "Erklärung" ein. Der Grundtenor des Textes zeichnete sich durch die Absicht aus, Härten zu vermeiden und Vorschläge zu bündeln, die für die verschiedenen Interessen akzeptabel wären. Genauso wie vierzig Jahre zuvor hieß es - seien Konzertierung, Wirtschaftsplanung und ein vom Staat überwachtes Finanzsystem die besten Grundlagen für die Kompatibilisierung und gleich54
Vgl. Schröder (1990: 90ff.); Schvarzer (1990:40ff.).
55
Vgl. El Bimestre 32 (1987: 34); Bodemer (1991: 234).
56
Vgl. "Declaraciön de Tucumän" (1987: 19f.).
239
zeitige Erreichung verschiedener Ziele, nämlich Industrialisierung, Erholung des Agrarsektors, Kapitalakkumulation und -redistribution sowie eine Stimulierung der dynamischsten Sektoren und ein Aufholen der Nachzügler. Die Privatisierung staatlicher Unternehmen wurde nicht ausgeschlossen, aber die Möglichkeit dazu würde von der Existenz einheimischen Kapitals abhängen, das zur Übernahme von unternehmerischen Risiken bereit wäre. Das Dokument endete mit einem Aufruf zur Rückkehr zur "glorreichen Vergangenheit" 57 . An dem Treffen von Tucumán nahmen nicht nur Politiker teil, sondern auch die den Erneuerern nahestehenden Gewerkschafter. Die Nationale Kommission der 25 nutzte die Gelegenheit, um ihre eigenen Wirtschaftsvorstellungen zu präsentieren. Auch wenn diese nicht unbedingt im Widerspruch zu dem "politischen" Dokument standen, so waren sie doch geprägt von einem wesentlich kämpferischeren Ton, zu dem auch deutliche Angriffe gegen die neoliberale Modernisierung, gegen die "extranjerización", d.h. den als zu groß erachteten Einfluß des Auslands, sowie gegen die internationale "Erpressung" gehörten. Zudem betonten die Gewerkschafter stärker als die (Wirtschafts-)Politiker die Interessen der Arbeiter (Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzstabilität sowie Senkung des Rentenalters und der täglichen Arbeitszeit als Mechanismen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes) und den Protagonismus des Staates 58 . Erstmals seit Beginn des Plan Austral war die Inflation im Monat Juli wieder zweistellig. Als der Wahlkampf im August in seine heiße Phase trat, stieg sie weiter. Damals kandidierte Domingo Cavallo für ein Abgeordnetenmandat auf der Liste des Frente Justicialista de la Renovación. Möglich war dies aufgrund einer ad hoc beschlossenen Satzungsreform des PJ von Córdoba, wodurch zum ersten Mal erlaubt wurde, daß ein Nichtparteimitglied als Kandidat postuliert werden konnte. Bei seinen Fernsehauftritten bezog sich Cavallo ausschließlich auf wirtschaftliche Themen, wobei er sich jeden Tag einem bestimmten Punkt einer langen Themenliste widmete, zu der die Exportsituation, die Landwirtschaft, die Fleischproduktion, die Informatik, die Schwierigkeiten der Industrie, die Gaspipelines, die Telefone, die Wohnsituation, die Zinssätze, die Inflation, die Industrieförderung, die föderativen Finanzbeziehungen etc. gehörten. Indem er jeden Punkt einzeln behandelte, vermied Cavallo eine Auseinandersetzung mit den wechselseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Themen. Zudem umging er alle "politischen" Fragen und präsentierte sich so als ein effizienter Ökonom, der für alle Bereiche eine Lösung parat hatte 59 .
7.1.4 Der Plan Bienal Die Niederlage des Radikalismus bei den Wahlen vom 6. September 1987 machte deutlich, daß der Justizialismus nicht mehr allein stand mit seiner Ablehnung der Regierungspolitik, sondern daß die Mehrheit der Bevölkerung inVgl. "Pautas del Justicialismo
... "(1987).
Vgl. Movimiento Sindical Peronista Renovador (1987b). Vgl. Frente Justicialista de la Renovación (1987: passim).
240
zwischen diese Ansicht teilte. Die Tatsache, daß die UCR nicht mehr über die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus - und somit auch nicht über ein eigenes Quorum - verfugte, sowie daß der größte Teil der bislang von ihr regierten Provinzen nun von peronistischen Gouverneuren geleitet wurde, führte zu einer deutlichen Verringerung des Handlungsspielraums der radikalen Nationalregierung. Das Kabinett trat geschlossen zurück, aber Alfonsin hielt an Wirtschaftsminister Sourrouille fest, obwohl selbst aus der UCR inzwischen Stimmen laut wurden, die dessen Ablösung forderten. Um den wirtschaftspolitischen Kurs für die zwei verbleibenden Amtsjahre festzulegen, kündigte die Regierung im Oktober ein neues Maßnahmenpaket an, den sogenannten Plan Bienal. Er umfaßte die Freigabe der Preise für einige Waren wie Tageszeitungen, Zeitschriften und Zigaretten und einen Preisstopp für alle übrigen Produkte. Hinzu kam eine 15%ige Erhöhung der öffentlichen Gebühren, die Festsetzung der Zinssätze auf 6% und eine Aufspaltung des Wechselkurses in einen Handels- und einen Finanzkurs. Kernelement des neuen Projekts war eine Steuerreform, zu der ein System des Zwangssparens für Unternehmer, eine zusätzliche Belastung von Immobilieneigentum sowie eine Erhöhung der Steuern auf Gewinne und Bankenverkehr gehörten. Durch diese Maßnahmen sollte das Haushaltsdefizit durch Einnahmenerhöhungen reduziert werden, und nicht durch Ausgabensenkung. Diese Entscheidung der Regierung war darauf zurückzufuhren, daß Lohnkürzungen und eine starke Reduzierung der öffentlichen Bediensteten vermieden werden sollten, denn dies hätte sofort zu einer Verschärfung der Konfrontation mit den Gewerkschaften und zu deutlicher Kritik von seiten des immer stärkeren politischen Flügels des Peronismus gefuhrt 60 . Trotz dieser Vorsicht stießen die Ankündigungen erneut auf den Zorn des CGT-Generalsekretärs, der mit einem "neuen 17. Oktober" - dem Datum der legendären Volksmobilisierung, die den Peronismus erstmals an die Macht gebracht hatte - drohte, falls die Regierung ihre Wirtschaftspolitik nicht ändere. Der Drohung folgten allerdings keine Taten, denn Präsident Alfonsin unterzeichnete schnellstens das Gesetz, mittels dessen die Vermögensschulden der CGT vom Staat übernommen wurden, woraufhin Ubaldini dazu bereit war, die dekretierten Lohnerhöhungen zu akzeptieren 61 . Zur Verabschiedung der Pläne für eine Steuerreform im Parlament war die Regierung auf die Unterstützung der Opposition angewiesen. Die Funktionäre begannen also schwierige Verhandlungen mit den verschiedenen peronistischen Blöcken und insbesondere mit dem Gouverneur von Buenos Aires, der damals als Oppositionsführer galt. Die erste Lesung der Gesetzesvorlage war für den 29. Oktober geplant, aber die Sitzung fand nicht statt, weil das Quorum nicht zustande kam. Verantwortlich dafür war nicht nur die Abwesenheit der peronistischen Abgeordneten, sondern auch eines beträchtlichen Teils der UCRMandatsträger, die sich weigerten, Sourrouille weiterhin zu unterstützen. Die 60
Vgl. B o d e m e r ( 1991:236); Gaudio/Thompson ( 1990: 194f.).
"
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 195); Belardinelli (1994: 134).
241
Führung der Erneuerer machte ihre Bereitschaft zu Verhandlungen mit der Regierung von einem grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel abhängig, ohne allerdings genau zu sagen, was sie damit meinte. Alles schien auf eine Ablösung des Wirtschaftsministers hinauszulaufen, aber Alfonsin lehnte dies weiterhin ab62. Zu dieser Zeit galt die Hauptaufmerksamkeit des Justizialismus einmal mehr seiner internen Situation. Infolge der Ergebnisse der letzten Wahlen hatten die Erneuerer jetzt eine fuhrende Rolle übernommen und waren darum bemüht, der orthodoxen Führung einen letzten Stoß zu verpassen, um den Peronismus unter ihrer Ägide umorganisieren zu können. Im gewerkschaftlichen Bereich waren jedoch nicht alle Gruppierungen dazu bereit, sich zu unterwerfen. Die neue Allianz aus den 62 Organisationen und dem Ubaldinismus setzte entschlossen auf die Weiterverfolgung der Konfrontationsstrategie und rief erneut zu zwei Generalstreiks auf, die im November und Dezember stattfanden. Die den Erneuerern nahestehenden Gewerkschafter der Kommission der 25 zeigten sich dagegen eher kompromißbereit und überließen die Festlegung der Strategie dem PJ 3. José Luis Manzano, Fraktionsflihrer der Peronisten im Abgeordnetenhaus, zeigte sich schließlich dazu bereit, über das Steuerpaket zu verhandeln. Dieser Sinneswandel hing unter anderem mit dem Druck der Provinzgouverneure zusammen, die in immer größere finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Die justizialistischen Abgeordneten billigten die Steuerreform im Gegenzug für die Verabschiedung eines Finanzausgleichsgesetzes, das den Forderungen der Provinzen entsprach. Zusätzlich hatte der Justizialismus auch eine Verabschiedung der von Alderete vorgelegten Arbeitsgesetze, die unter anderem die Durchführung freier Lohnverhandlungen vorsahen, zur Voraussetzung für seine Unterstützung gemacht. Die Verhandlungen konnten erfolgreich abgeschlossen werden, und die drei Projekte wurden vom Parlament gleichzeitig angenommen. Damit verlor die Regierung endgültig die Möglichkeit, die Lohnentwicklung durch Dekrete zu beeinflussen. Vier Jahre lang hatte sie versucht, durch diesen Mechanismus einen Sozialpakt zu forcieren bzw. - in Ermangelung seiner - die Wirtschaftsentwicklung zu steuern 64 . Das Jahr 1988 begann mit dem Ausbruch der bereits seit geraumer Zeit schwelenden Krise in den Provinzen. Die Gesamtausgaben der Provinzen waren zwischen 1983 und 1986 um 28% gestiegen, während die Einnahmen nur um 15% zugenommen hatten. Am gravierendsten war die Situation in den von justizialistischen Gouverneuren regierten nordwestlichen Provinzen. In La Rioja erreichte der Anstieg der öffentlichen Ausgaben 81%, in Salta 74%, und in beiden Provinzen betrug das Haushaltsdefizit jeweils 25%. La Rioja, das damals sogar von einem Industrieförderungsprogramm profitierte, konnte nicht einmal 7% seiner Ausgaben durch eigene Ressourcen abdecken. Dieser Anteil betrug
62
Vgl. Gaudio/Thompson ( 1990; 196ff.).
63
Vgl. Kap. 5.2.
64
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 204); Blake (1992: 180).
242
auch bei den anderen Provinzen mit Ausnahme von Buenos Aires, Córdoba, Santa Fe, Entre Ríos und Mendoza mehr als 25%65. Die Haushaltskrise war auf drei unmittelbare Ursachen zurückzuführen: den starken, nicht zuletzt durch klientelistische Exzesse verursachten Anstieg der Beschäftigtenzahlen in den Provinzverwaltungen (im Durchschnitt aller Provinzen um 20%, in La Rioja, Corrientes, Santa Fe und Santa Cruz sogar um mehr als 40%), die geringe Fähigkeit der Provinzen, eigene Mittel zu erwirtschaften ein Problem, das die Provinzen des Pampa-Gürtels weitaus weniger betraf als die Regionen mit einem geringeren Entwicklungsniveau - und gewisse politische Entscheidungen, die entgegen ihrer erklärten Absicht, die finanziellen Schwierigkeiten ernsthaft anzugehen, lediglich zu einer Vertagung und Verschärfung der Probleme führten. Beispiel dafür war das Bonsystem (Sistema de Bonos de Cancelación de Deudas), das in Salta, Tucumán und La Rioja eingeführt wurde. In der Praxis bedeutete die Zirkulation solcher Bons die Emission von Zahlungsmitteln mit einer auf das Territorium der jeweiligen Provinz beschränkten Gültigkeit und verstieß gegen die Verfassung, die diese Kompetenz der Bundesregierung vorbehielt. Die Bons wurden von den Provinzregierungen zur Bezahlung ihrer Bediensteten und Lieferanten in Umlauf gesetzt und wurden dann auf dem Finanzmarkt gehandelt. Theoretisch war die Konvertierbarkeit der Bons von den Provinzbanken garantiert, aber als die finanziellen Schwierigkeiten der Provinzen ein immer größeres Ausmaß annahmen, verlor das System an Glaubwürdigkeit, die Konvertierbarkeit wurde zunächst eingeschränkt und dann ganz beseitigt; die Öffentlichkeit weigerte sich, die Bons weiterhin als Zahlungsmittel zu akzeptieren. Im Januar 1988 mußte die Bank von Salta, der ersten Provinz, die das System angewandt hatte, geschlossen werden. Ähnliche Entwicklungen waren auch in den übrigen Provinzen zu befurchten66. Angesichts dieser Situation kam das im gleichen Monat verabschiedete Finanzausgleichsgesetz zu spät, um eine Krise zu beenden, die inzwischen dringende Lösungen erforderte. Die Gouverneure der nordwestlichen Provinzen erbaten die Unterstützung der Bundesregierung, um weiterhin ihre Bediensteten und Lieferanten bezahlen zu können. Im Februar 1988 stiegen die sozialen Spannungen, und eine Reihe von Provinzen wurde zum Schauplatz von wachsenden Konflikten und gewalttätigen Protesten der öffentlichen Bediensteten, einschließlich der Polizei. Die Möglichkeit einer Regierbarkeitskrise rückte näher67. Um die Lage zu entschärfen, beschloß die Regierung, den Beitragsfonds des Bundesschatzamts für die Provinzen zu benutzen, der durch das neue Finanzausgleichsgesetz geschaffen worden war. In einer Rettungsaktion erhielten Tucumán, Salta und La Rioja jeweils Gelder in Höhe eines Betrages, der ihrem monatlichen Anteil am Finanzausgleich entsprach. Damit war der Fonds jedoch erschöpft, weshalb die Entscheidung den Protest vieler anderer Provinzen her65
Vgl. Marqués/Ro&nan (1988: 8fF.); El Periodista N° 179 (12. - 1 8 . Februar 1988: 12f.).
46
Vgl. Marqués/Rofinan (1988: I lff.); Gaudio/Thompson (1990: 213).
67
Vgl. Gaudio/Thompson ( 1990:213f.).
243
vorrief, die nicht nur keinerlei Mittel erhalten hatten, sondern jetzt auch ohne die geringste Aussicht auf ähnliche Hilfe für die Zukunft waren. Gleichzeitig forderten die Gouverneure der am stärksten von der Krise betroffenen Provinzen die Übernahme der Schulden durch den Bund. Diese beliefen sich insgesamt auf 8 Milliarden Austral (annähernd 1,25 Milliarden US-Dollar) 68 . Mitte März gesellten sich zur ohnehin bereits gravierenden Situation der Provinzen die Auswirkungen des Streiks im Erziehungssektor. Inmitten eines Strukturanpassungsprogramms, wie es die radikale Regierung durchsetzen wollte, bestand die einzige Form zur Erwirtschaftung der für eine Erfüllung der Forderungen notwendigen Ressourcen darin, erneut die Steuern zu erhöhen oder neue Abgaben einzuführen. Für eine solche Entscheidung wollte keine der beiden großen Parteien die Verantwortung übernehmen. Innerhalb des Justizialismus bestanden hinsichtlich dieses Themas sehr unterschiedliche Standpunkte. Die aus weniger betroffenen Provinzen stammenden Politiker suchten nach Argumenten, um ihre allgemeine Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung zu begründen, aber sie verspürten keinen dringenden Handlungsbedarf. Dagegen benötigten die Gouverneure der nordwestlichen Provinzen eine schnelle Lösung, bevor die Krise unkontrollierbar wurde. Hinzu kam die Tatsache, daß sich der interne Konflikt inzwischen in seiner letzten Phase befand und auf das Duell zwischen Cafiero und Menem zugespitzt hatte, weshalb sich die verschiedenen Akteure dazu veranlaßt sahen, eine Reihe von Aspekten zu berücksichtigen, die weit über rein wirtschaftliche Erwägungen hinausgingen. Entsprechend seiner Strategie, eigene Profilierung mit einem Beitrag zur Regierbarkeit in Einklang zu bringen, erklärte sich Cafiero Mitte April zur Unterstützung für die Schaffung neuer Abgaben bereit. Der Plan, die Rendite von Festgeldanlagen, die Bons des Bundesschatzamtes und die Erträge von Wertpapieren der Telephongesellschaft zu belasten, wurde sogar als ein eigener Vorschlag des Peronismus dargestellt. Anders als die ursprüngliche Idee der Regierung, die Zigaretten zu belasten, war er "volksnah", denn er würde nicht große Teile der Bevölkerung, sondern lediglich die Finanz- und Spekulationsgeschäfte betreffen. Die weitere Zuspitzung der sozialen Konflikte und das sinkende Ansehen der Regierung veranlaßten die Erneuerer dann aber dazu, ihre versöhnliche Haltung zu ändern und zu versuchen, sich öffentlich vom Radikalismus zu distanzieren. Deshalb erklärte die peronistische Parlamentsfraktion im Mai, sie werde keiner Vorlage zustimmen, die in irgendeiner Form den Konsum oder die Produktion belaste. Daraufhin schlug die Regierungsfraktion eine "vorübergehende" Erhöhung der Steuer auf die Übertragung von Staatstiteln, der Abgaben auf Festgeldanlagen und der Tabaksteuer vor. Eine Versammlung der peronistischen Erneuerer beschloß, diesem neuen Vorschlag nur unter der Voraussetzung zuzustimmen, daß Menem sich ausdrücklich dafür aussprechen sollte. Die Fraktion um Cafiero befürchtete nämlich, daß der Gouverneur von La Rioja -
"
244
Vgl. Marqués/Rofinan (1988: 20f.).
dessen Provinz im übrigen zu denjenigen gehörte, die von den zusätzlichen Geldern am stärksten profitieren sollte - ansonsten versuchen würde, aus der öffentlichen Unterstützung der Erneuerer für unpopuläre Abgaben einen Vorteil für sich zu ziehen. Diese Befürchtungen führten zu längerer Unentschlossenheit und zum Scheitern mehrerer Parlamentssitzungen aufgrund eines fehlenden Quorums, bis schließlich Ende Mai das Gesetz verabschiedet wurde 69 . Es sah vor, die zusätzlichen Mittel auf einen Fonds zur Finanzierung von Haushaltsdefiziten der Provinzen zu übertragen. 27,71% der Gelder erhielt Tucumán, 26,83% Salta, 10,97% Jujuy, 8,23% La Rioja, 6,85% Chaco, 6,25% San Juan, und die übrigen 13% entfielen auf neun weitere Provinzen. Buenos Aires, Córdoba, Entre Ríos, La Pampa, Mendoza und Río Negro gingen leer aus 70 . Der Justizialismus in allen seinen Varianten ließ keine Gelegenheit aus, um die Regierung zu kritisieren. Dies bedeutete jedoch nicht, daß in den eigenen Reihen Übereinstimmung geherrscht hätte. Selbst innerhalb der Erneuerer gab es zwei ziemlich entgegengesetzte Positionen. Zum einen eine linksprogressive und modernisierungsfreundliche Linie, deren Publikationsorgan die Zeitschrift "Unidos" war. Die Mitglieder dieser Strömung hielten das Wirtschaftsmodell des klassischen Peronismus für die Lösung der gegenwärtigen Probleme nicht mehr geeignet. Ihrer Meinung nach lag der Ausweg aus der Krise in der Suche nach Strategien, die sich deutlich von dem von der Regierung vorangetriebenen neoliberalen Anpassungsprozeß distanzieren. Andererseits sprachen sich Ökonomen wie di Telia und Cavallo für Lösungen aus, die gerade in die zuletzt genannte Richtung deuteten. Sie warfen der Regierung vor, ihre Politik verfolge diesen Kurs nicht konsequent genug 71 . Die Menem-Strömung ihrerseits wies den "technokratischen Effizientismus" des Wirtschafitsteams um Cafiero zurück und gab vor, die Lösungen in "der Stimme des Volkes" zu suchen und aus der peronistischen Tradition aller Epochen abzuleiten 72 . Der Sieg Menems bei den parteiinternen Wahlen am 9. Juli 1988 schien den Disput zugunsten der populistischsten Tendenzen zu beenden.
7.1.5 Der Plan Primavera Inzwischen hatte sich die allgemeine wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert. Im April 1988 verhängte die Regierung, die für die Zahlung der Auslandsschulden nicht mehr aufkommen konnte, ein stillschweigendes Moratorium, das sich sogar auf die Verpflichtungen gegenüber den multilateralen Finanzorganisationen bezog. Kurze Zeit später kam es zu einer abrupten Veränderung der Weltmarktpreise für Getreide infolge einer Dürre in den Vereinigten Staaten und des dadurch verursachten Angebotsrückgangs. Diese an sich positi" 70 71
72
Vgl. Marqués/Rofman (1988: 21f.); Gaudio/Thompson (1990: 215ff.). Vgl. Ley 22.562. Zu diesen internen Diskrepanzen der peronistischen Erneuerer siehe Unidos 18 (1988); Chumbita (1989b: 132ff.). Vgl. Menem (1988: passim).
245
ve Entwicklung hatte auch eine negative Seite: Da die Exportabgaben im Jahr zuvor abgeschafft worden waren, führte der Anstieg der Weltmarktpreise unmittelbar zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise auf dem Binnenmarkt, was die Inflation unweigerlich weiter anheizte, so daß diese im Juli 25,6% erreichte73. Angesichts dieser Umstände beschloß die Regierung einen neuen wirtschaftspolitischen Kurswechsel und brachte im August den Plan Primavera auf den Weg. Einmal mehr folgte auf eine Verteuerung der Preise, öffentlichen Gebühren und Brennstoffe ein Preisstopp. Die wichtigste Neuheit des Plans bestand in der Einführung eines Systems differenzierter Wechselkurse. Der Handelskurs (anzuwenden auf die traditionellen Exporte - d.h. auf die landwirtschaftlichen Produkte - und einige Importe) wurde auf 12 Austral pro USDollar festgelegt, der Finanzkurs (anzuwenden auf die übrigen Importe und die Industrieexporte) betrug 14,40 und der gemischte Kurs 13,20. In der Praxis bedeutete dies eine Wiedereinführung der Exportabgaben, denn die Regierung würde die Devisen von den Agrarexporteuren zu einem niedrigeren Wechselkurs kaufen und sie den Importeuren zum höchsten Kurs verkaufen. Mit der Differenz sollte das Haushaltsdefizit etwas verringert werden74. In den folgenden Monaten ging die Inflation beträchtlich zurück und die Regierung begann mit einer langsamen Abwertung. Trotzdem blieb der Kurs der Landeswährung nach wie vor deutlich überhöht, was wachsende Proteste der Agrarexporteure auf den Plan rief. Parallel dazu versuchte die Administration, mit der Weltbank neue Kredite auszuhandeln. Deren Verhandlungsführer machten dies jedoch von eindeutigen Fortschritten bei der Öffnung der argentinischen Volkswirtschaft gegenüber dem Weltmarkt abhängig. Einem Eingehen auf diese Forderung stand der geschlossene Widerstand der Industriellen entgegen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch darauf eingelassen hatten, die Preise konstant zu halten75. Mit den Wahlen vor Augen verhärtete die Opposition ihre Haltung. Der August verging, ohne daß das Haushaltsgesetz verabschiedet worden wäre. Wichtigster Verhandlungspunkt waren einmal mehr die Forderungen der Provinzen. Der Peronismus verlangte jetzt, daß der Bund sämtliche Ressourcen des Regionalen Entwicklungsfonds an die Provinzen übertrug, obwohl der Gouverneur von Buenos Aires und der von La Rioja sich nicht darüber einigen konnten, nach welchem Verteilungsschlüssel dies geschehen sollte76. Am 9. September fand der zwölfte Generalstreik der CGT statt. Die aus diesem Anlaß veranstaltete Kundgebung stieß nicht auf allzuviel Resonanz. Sie wurde allerdings zum Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen von Demonstranten und von Geschäftsplünderungen. Auf den massiven Einsatz von Polizei reagierte Ubaldini mit dem Aufruf zu einem erneuten Generalstreik. Für diesen Protest erhielt er jedoch weder die UnVgl. Schvarzer(1990: 45); Peralta Ramos (1992: 105). Vgl. GarfUnkel (1990: 28ff. u. 42); Bodemer (1991: 237f.). Vgl. Birle (1995: 261ff.). Vgl. Clarfa (23.08.88).
246
terstützung der anderen Gewerkschaftsführer noch die der Spitzenpolitiker des PJ, die inzwischen der Ansicht waren, daß die Entscheidungen des Justizialismus vom Präsidentschaftskandidaten der Partei getroffen werden müßten 77 . Anfang Oktober zirkulierte ein von Domingo Cavallo angefertigtes Dokument mit Strategievorschlägen für den peronistischen Präsidentschaftskandidaten, um die Wirtschaftspolitik der Regierung zu behindern. Die grundlegende Idee bestand darin, dafür zu sorgen, daß die Regierung ihren Wirtschaftsplan nicht mehr finanzieren könnte und sich dazu gezwungen sähe, ihn noch vor den Wahlen aufzugeben. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Cavallo vor, in aller Öffentlichkeit den überhöhten Kurs der Landeswährung anzugreifen, ihn mit der "tablita" unter Martínez de Hoz zu vergleichen und zu behaupten, damit sei eine Bombe gelegt, die unmittelbar nach den Wahlen platzen werde. Des weiteren solle man den internationalen Finanzorganisationen Verantwortungslosigkeit vorwerfen, weil sie sich dafür hergäben, die "verschwenderischen Ausgaben des Landes" zu finanzieren und somit die zukünftige Erholung der Wirtschaft sowie die Erfüllung eingegangener Verpflichtungen mit dem Ausland zu erschweren 78 . Anfang 1989 wurden die Hoffnungen auf eine ausgezeichnete Ernte durch eine schwere Dürre zunichte gemacht, die das Erntevolumen beträchtlich verringerte und die Unzufriedenheit der Produzenten weiter wachsen ließ. Eine andere Konsequenz der Dürre waren Strom- und Wasserabschaltungen in verschiedenen Regionen des Landes als Folge eines "Energienotstandes" und entsprechende Schwierigkeiten für die darauf angewiesene wirtschaftliche Produktion. Schließlich war auch der Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten ungünstig für Argentinien, denn die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Bush-Administration brachte eine Reihe von Umbesetzungen in Schlüsselposten mit sich, wodurch sich der Zugang zu einigen entscheidenden Instanzen für die argentinischen Verhandlungsleiter plötzlich wesentlich erschwerte 79 . In dieser Situation hing die Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftspolitik ausschließlich von den Deviseneinkünften ab. Aber genau an dieser Stelle konnte die peronistische Opposition ihre Blockadekapazität zur Geltung bringen. Je negativer die wirtschaftliche Situation wurde, desto weniger war die Opposition dazu bereit, der Regierung bei einer Durchführung ihrer Pläne behilflich zu sein. Das Parlament verabschiedete keinen einzigen der nach dem Juli 1988 eingereichten Wirtschaftsreformvorschläge. Im Dezember brachte der Senat die bereits von der Regierung unterzeichneten Verträge mit dem Unternehmen SAS und mit der spanischen Telefongesellschaft über einen Teilverkauf der staatlichen Fluglinie Aerolíneas Argentinas und der Telekommunikationsgesellschaft ENTEL zu Fall80. Gleichzeitig nutzte Domingo Cavallo 77
Vgl. Gaudio/Thompson (1990: 233f.).
78
Vgl. GarfUnkel (1990: 64); Morales Solà (1992: 51).
79
Vgl. Clarin (08.01.89), Schvarzer ( 1990: 47f.).
80
Vgl. E1 Bimestre 42 (1988: 38); de Riz/Smulovitz (1990: 30).
247
seine Kontakte zu nordamerikanischen Banken, um die Gläubiger davon zu überzeugen, daß der Wirtschaftsplan der Regierung rein wahltaktische Ziele verfolge, daß der Justizialismus jegliche finanzielle Hilfe für die radikale Administration als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes betrachte und daß die zukünftige peronistische Regierung daher nicht dazu bereit sein werde, die Verantwortung für die Rückzahlung solcher Kredite zu übernehmen 81 . Bald wurde klar, daß die versprochenen Kredite niemals kommen würden. Die Politik der Regierung, den Wechselkurs mittels eines ausreichenden Devisenangebots zu stützen, führte zu einem ständigen Aderlaß. Zwischen dem 30. Januar und dem 3. Februar verringerten sich die Reservebestände der Zentralbank um 435 Millionen auf nur noch 2,4 Milliarden US-Dollar. Am 6. Februar beschloß die Regierung, den freien Devisenverkauf einzustellen und ein neues Wechselkursschema anzukündigen, das aus einem auf die Agrarexporte anzuwendenden Handelskurs, einem Spezialkurs für die Importe und einem freien Kurs bestand. Nach und nach sollten die beiden ersten Kurse in den dritten übergeleitet werden, von dem die Regierung annahm, daß er etwa 20% über dem Spezialkurs liegen werde. Diese Ankündigung war der Anfang vom Ende. Am folgenden Tag kam es zu einem raschen Anstieg des Dollarkurses, der Millionenverluste für die Wirtschaftsgruppen bedeutete, die sich auf das Versprechen der Regierung verlassen und kurz zuvor ihre Devisen umgetauscht hatten bzw. ihre Aktiva in australes behielten. Dieser Vorfall machte auch noch das letzte Vertrauen in das Wirtschaftskabinett zunichte. Von jetzt an stieg der Dollarkurs unkontrollierbar weiter. Das Land versank in eine Hyperinflationskrise, aus der es sich erst nach dem Regierungswechsel erholen sollte82.
7.2 Die Frage des Umgangs mit den Streitkräften "[...] während man in anderen Herrschaften nur gegen den Ehrgeiz der Großen und die Unbotmäßigkeiten des Volkes zu kämpfen hatte, bestand für die römischen Kaiser noch eine dritte Schwierigkeit, nämlich die Grausamkeit und Habgier der Soldaten ertragen zu müssen. Diese Aufgabe war so schwierig, daß sie für viele zur Ursache ihres Sturzes wurde; denn es war nur schwer möglich, Soldaten und Volk in gleicher Weise zufriedenzustellen." (Machiavelli. "II Principe")
Die Beziehungen zwischen den Streitkräften und den zivilen Machthabern können als eine institutionelle Frage betrachtet werden, und in stabilen Demokratien ist dies tatsächlich der Fall. Der Stellenwert, der diesem Thema in PostVgl. Majul (1990: 26); Martinez (1991: 24); Senin Gonzälez/Bosoer (1993: 112). Vgl. Garfimkel (1990: 83); Majul (1990: )7ff. u. 29ff ); Bodemer (1991: 238ff ); Martinez (1991: 24).
248
Transitionskontexten zukommt, ist jedoch wesentlich höher, denn in solchen Situationen beschränken sich die Militärs nicht auf eine Erfüllung ihrer institutionellen Funktionen. Vielmehr sind sie in der Regel ein politischer Akteur mit einer beträchtlichen Vetomacht. In diesem Sinne ist der "institutionelle Charakter" der Streitkräfte alles andere als selbstverständlich. Im folgenden werden vor allem zwei Aspekte betrachtet, die mit einer Neudefinition der zivil-militärischen Beziehungen in der Post-Transitionsphase zusammenhingen: der Umgang mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen während der letzten Diktatur und die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um eine Unterordnung der Streitkräfte unter die zivilen Autoritäten zu gewährleisten. Obwohl es sich aus einer analytischen Perspektive um zwei klar zu unterscheidende Fragen handelt, zwingt die Art und Weise, in der beide Themen miteinander verwoben waren und sich wechselseitig beeinflußten, sie gemeinsam zu betrachten. Der Untersuchungszeitraum wurde in fünf Phasen unterteilt, um eine geordnete Darstellung der beiden Aspekte sowie der unterschiedlichen diesbezüglichen Positionen des Justizialismus liefern zu können. Schließlich erfolgen einige Beobachtungen über die Aufmerksamkeit, die der Peronismus der Frage der Menschenrechte geschenkt hat.
7.2.1 Die Vorstellungen vor den Wahlen Bereits bevor die Militärs die Macht übergaben, waren sich die argentinischen Politiker schon bewußt, daß die nächste verfassungsmäßige Regierung eine grundlegende Umstrukturierung der Streitkräfte in Angriff nehmen müßte. Luder beispielsweise trug seine diesbezüglichen Vorstellungen in einer Rede im Dezember 1982 vor 83 . Seiner Ansicht nach mußte die Militärpolitik der zukünftigen Regierung - von der er annahm, daß sie justizialistisch sein werde - auf eine Unterordnung der Streitkräfte unter die zivile Macht abzielen und sie gleichzeitig in einen "Unterstützungsfaktor" für die neuen Institutionen umwandeln, ohne große Konflikte oder traumatische Situationen auszulösen. Als sein wichtigstes Ziel bezeichnete er, die traditionellen Verbindungen zwischen den Militärs und dem Wirtschaftsliberalismus zu zerbrechen. Luder betonte, daß eine deutlich gegen die Streitkräfte gerichtete Politik diese Verbindungen nicht etwa zerbrechen, sondern sogar noch stärken würde, weshalb er der Ansicht war, daß "die Reduzierung des Militärapparates für die nächste konstitutionelle Regierung politisch und wirtschaftlich notwendig sein wird. Mit dem Ziel, eine größere professionelle Effektivität der Streitkräfte zu erlangen, sollen dabei ihre Feuerkraft und ihre Einsatzfahigkeit nicht verringert, die bürokratischen Strukturen und die Unterstützungseinheiten jedoch verkleinert werden"84.
83
Vgl. Luder(1982a).
84
Luder (1982a: 112).
249
Konkret schlug er vor, den obligatorischen Militärdienst schrittweise abzuschaffen und durch ein professionelles Heer zu ersetzen, die Doktrin der Nationalen Sicherheit durch eine Nationale Verteidigungsdoktrin zu ersetzen und eine gemeinsame Planung der drei Teilstreitkräfte zu gewährleisten, um die Wiederholung eines Scheiterns wie im Malwinenkrieg, als es keinen gemeinsamen Führungsstab gab, zu vermeiden. Gemäß der justizialistischen Konzeption sei die Verteidigung der Nation nicht als ausschließliche Angelegenheit der Streitkräfte zu betrachten, sondern sie betreffe alle "Stände" des Landes und müsse bei der Formulierung der Außen-, Wirtschafts-, Erziehungs- und Kulturpolitik mitberücksichtigt werden 85 . Die Vorstellungen Luders waren denen Antonio Cafieros sehr ähnlich, der betonte, daß die justizialistische Konzeption sich von der der anderen Parteien klar darin unterscheide, daß sie den Streitkräften Aufgaben zuweise, die sich nicht ausschließlich auf die Verteidigung beschränkten. Sie sollten auch wichtige Funktionen im Hinblick auf die Entwicklung des Landes und die Sicherheit der Nation erfüllen. Damit seien die Postulate der Doktrin der Nationalen Sicherheit jedoch nicht gemeint 86 . Die endgültige Version des peronistischen Regierungsprogramms unterschied sich kaum von den von beiden Führungspolitikern geäußerten Vorstellungen 87 . Das Wahlprogramm des Justizialismus war ausgesprochen wortkarg hinsichtlich der Frage, wie mit den durch die Militärs begangenen Menschenrechtsverletzungen zu verfahren wäre. Dazu hieß es lediglich, die Justiz habe "das Recht", die Anzeigen von Verschwundenen und die von Funktionären der Militärregierung begangenen Verbrechen "zur Kenntnis zu nehmen". Es sollten verschiedene Grade der Verantwortlichkeit bei der Ausführung des Staatsterrorismus definiert werden. Welche das sein würden, wurde allerdings nicht weiter spezifiziert 88 . Die Rückkehr in die Kasernen bedeutete nicht, daß die Streitkräfte dazu bereit waren, auf ihre bisherige Autonomie und Privilegien zu verzichten. Eines der ersten Signale in diese Richtung gab die letzte Militärregierung mit dem Erlaß eines Selbstamnestiegesetzes, das am 23. September 1983 bekanntgegeben wurde, als der Wahlkampf bereits in Gang war 89 . Die großen politischen Parteien sprachen sich öffentlich gegen diese Maßnahme aus, aber sie taten dies mit unterschiedlichen Argumentationen. Während der radikale Kandidat betonte, das Gesetz sei "null und nichtig", beschränkte sich Italo Luder auf die Prognose, der zukünftige Kongreß werde die Maßnahme aufheben. Der Unterschied war nicht lediglich rhetorisch: Da das argentinische Strafrecht vorschreibt, daß im Falle einer Gesetzesänderung zwischen dem Begehen einer Straftat und dem Antritt der Strafe die mildere Norm anzuwenden ist, würde "
Vgl. Luder (1982a: 11 lff.).
"
Vgl. Cafiero (1983: 170f.).
87
Vgl. Partido Justicialista (1983b: 51 ff.).
"
Vgl. Partido Justicialista (1983b: 26f.).
"
Vgl. Ley 22.924.
250
eine bloße Aufhebung des Amnestiegesetzes nicht verhindern, daß dieses auf die Beurteilung der vor seiner Sanktion begangenen Delikte angewendet würde und daß infolgedessen die Verantwortlichen straffrei ausgehen würden90.
7.2.2 Die ursprüngliche Strategie der UCR-Regierung Am 10. Dezember 1983, dem Welttag der Menschenrechte, kündigte Alfonsin in seiner Antrittsrede an, die Regierung würde sich dafür einsetzen, daß das Amnestiegesetz als nichtig deklariert wird. Ferner versprach er, die Situation der Verschwundenen zu klären. Der frischgekürte Präsident griff erneut die Ideen auf, die er bereits im Wahlkampf angekündigt hatte. Er betonte, die Justiz habe die Aufgabe zu verhindern, daß die Schuldigen straffrei ausgingen. Dabei sollten drei Grade der Verantwortlichkeit unterschieden werden: diejenigen, die die Entscheidungen trafen, diejenigen, die lediglich Befehle ausführten und diejenigen, die bei der Ausfuhrung von Befehlen an Exzessen beteiligt waren91. Unmittelbar nach Übernahme der Regierungsgeschäfte ordnete die Exekutive eine Reihe von Maßnahmen an, die die institutionelle Unterordnung der Streitkräfte unter die zivilen Institutionen sicherstellen sollten. Am 23. Dezember verfügte sie per Dekret die Übertragung des Aktienpaketes der von den Streitkräften kontrollierten Unternehmen (der größten Industriegruppe des Landes) auf das Verteidigungsministerium. Auch die bislang vom Heer abhängige "Dirección General de Fabricaciones Militares" wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Im Februar übertrug ein weiteres Dekret die Entscheidungskompetenz für Ernennungen, Versetzungen, Entlassungen und Versetzungen in den Ruhestand von höheren Offizieren auf das Ministerium, während die Generalstäbe92 über solche Fragen nur noch im Falle der unteren Offiziersränge entscheiden konnten. Die Gendarmería Nacional und die Prefectura Naval, die der Kontrolle des Heeres bzw. der Marine unterstanden hatten, unterlagen jetzt ebenfalls der Jurisdiktion des Ministeriums. Das Staatssekretariat für Geheimdienst, das niemals aus dem Verantwortungsbereich des Staatspräsidenten ausgegliedert, aber de facto militarisiert worden war, wurde im Zuge der Versetzung von 200 bislang dort tätigen Militärs erneut ziviler Kontrolle unterstellt. Alle diese Maßnahmen wurden direkt durch Beschlüsse der Exekutive verfügt. Die Opposition übte darauf keinerlei Einfluß aus93.
90
" 92
93
Vgl. El Bimestre 11 (1983:45); Nino (1988: 207). Vgl. El Bimestre 12 (1983: 93). Wenige Tage vor dem Amtsantritt Alfonsins hatte die scheidende Regierung den Posten des Oberbefehlshabers der einzelnen Teilstreitkräfte abgeschafft und verfügt, daß alle bislang von diesen abhängigen Organismen der Jurisdiktion des Verteidigungsministeriums übertragen würden. Von diesem Zeitpunkt an war der höchste Rang in jeder Teilstreitkraft der des Chefs des Generalstabs (Jefe de Estado Mayor General). Die Abschaffung der drei Kommandanturen implizierte das Verschwinden der Figur der Militärjunta, womit der gemeinsame Generalstab, der bislang der Autorität der Junta untergeordnet gewesen war, nun direkt von der Exekutive abhängig war. Somit stellte er die ideale Instanz zur Durchführung der Militäireform dar (vgl. Ley 23.023; López 1994: 73ff). Vgl. Fontana (1990: 22f.); López (1994: 74).
251
Der erste konkrete Schritt hinsichtlich der Frage der Menschenrechtsverletzungen war die Annullierung des Amnestiegesetzes. Dies war die erste Maßnahme des neuen Parlaments überhaupt, und sie wurde von den Abgeordneten der Radikalen, der Peronisten und fast aller übrigen im Parlament vertretenen politischen Kräfte unterstützt 94 . Hinsichtlich der Untersuchung der begangenen Verbrechen versuchte die Regierung, eine der drängendsten Forderungen der Menschenrechtsorganisationen zu umgehen. Statt der Bildung einer aus Vertretern beider Parlamentskammern zusammengesetzten Kommission bevorzugte sie eine Verlagerung der Ermittlungen auf eine andere Ebene, denn sie fürchtete, das existierende Kräfteverhältnis im Kongreß könne die Angelegenheit in eine unvorhersehbare Richtung treiben. Daher wurde am 14. Dezember mit dem Dekret 187/83 die Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas - CONADEP) ins Leben gerufen. Dieser Organismus war als eine Notablenkommission aus angesehenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens konzipiert, unter denen sich der Schriftsteller Ernesto Sábato, der Philosoph Gregorio Klimovsky, der Bischof Jaime de Nevares und die Publizistin Magdalena Ruiz Guiñazú befanden, zu denen sich Vertreter beider Häuser des Parlaments gesellen sollten. Die CONADEP verfugte nicht über Entscheidungskompetenzen, aber über weitreichende Möglichkeiten zur Entgegennahme von Anzeigen, Durchführung diesbezüglicher Nachforschungen, Weitergabe ihrer Untersuchungsergebnisse an die Justiz und Ausarbeitung eines Abschlußdokuments. Das Dekret schrieb vor, daß die Streitkräfte und alle staatlichen Funktionäre dazu verpflichtet waren, der Kommission die gewünschten Informationen, Dokumente und Daten zur Verfügung zu stellen und deren Mitgliedern den Zugang zu Orten, die diese zu besichtigen wünschten, zu gestatten 95 . Diese Entscheidung der Regierung führte zu verschiedenen Reaktionen von Seiten der Menschenrechtsorganisationen und zahlreichen Konflikten, aber letztendlich waren viele von ihnen dazu bereit, mit der CONADEP zusammenzuarbeiten 96 . Der Peronismus seinerseits forderte zunächst die Bildung einer Parlamentskommission, dann stimmte er dafür, daß einige Abgeordnete im Rahmen des bereits existierenden Organismus mitarbeiten konnten, und schließlich weigerte er sich, seine eigenen Repräsentanten zu ernennen 97 . Fast gleichzeitig wurden zwei weitere Dekrete der Exekutive bekanntgegeben. Das erste ordnete die Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen gegen sieben bekannte Guerillaführer "wegen Tötungsdelikten, unerlaubter Vereinigung, öffentlicher Anstiftung zu Verbrechen, Verherrlichung von Straftaten und anderen Angriffen gegen die öffentliche Ordnung" an98. Das zweite schrieb vor, 94
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 107).
95
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 109f.).
96
Vgl. González Bombal/Sondereguer (1987: 90f.).
97
Vgl. El Bimestre 12 (1983: 110); 13 (1984: 27).
98
Dekret 157/83, Art. 1.
252
daß der Oberste Militärrat (Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas) ein summarisches Verfahren gegen die Mitglieder der drei ersten Militärjuntas wegen ihrer Verantwortlichkeiten für "Tötungsdelikte, illegitime Freiheitsberaubung und Anwendung von Foltermethoden gegen Gefangene" einleiten müs99
se . Indem sie eine derartige Vorgehensweise verfugte, verzichtete die Regierung darauf, die Verantwortlichen des Staatsstreichs von 1976 wegen Rebellion vor Gericht zu stellen, sie akzeptierte die "Theorie der zwei Dämonen", wies den Oberbefehlshabern die Verantwortung für Delikte zu, die von anderen Händen ausgeführt worden waren, und erkannte die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit an 100 . Die Exekutive glaubte nicht nur an den Willen der Streitkräfte zur Selbstreinigung, sie vertraute auch darauf, daß der Oberste Militärrat eine Art Musterurteil sprechen würde, durch das die schwierige Frage gelöst würde, genau zu bestimmen, bis zu welchem Punkt die Verantwortlichkeit für Entscheidungen reichte und ab wann man von "Exzessen" sprechen müsse 101 . Die Dekrete wurden durch eine Reform der Militärrechtsordnung ergänzt. Die Existenz einer Gerichtsbarkeit dieser Natur widersprach mehreren Bestimmungen der Verfassung von 1853, weshalb es gute juristische Gründe dafür gab, ihre Abschaffung zu rechtfertigen 102 . Trotzdem beschränkte sich die von der Exekutive an das Parlament weitergeleitete Vorlage darauf, die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit einzuschränken, und zwar auf Disziplinarvergehen und ausschließlich innermilitärische Delikte, d.h. auf nicht von der Strafprozeßordnung erfaßte Vergehen. Außerdem wurde mit dem Bundesgericht eine zivile Berufungsinstanz für solche Verfahren bestimmt. Andererseits enthielt die Vorlage eine Ausweitung des in Art. 514 der Militärrechtsordnung vorgesehenen Konzepts des Befehlsnotstandes. Wenn ein Soldat in Ausführung von Befehlen an Operationen teilgenommen habe, die der Terrorismusbekämpfung dienen sollten, so sei davon auszugehen, daß der Befehlsempfanger "aus einem unvermeidlichen Irrtum hinsichtlich der Legitimität des empfangenen Befehls heraus" gehandelt habe 103 . Die parlamentarische Diskussion über die Vorlage der Exekutive war geprägt durch die Spannungen, zu denen es zwischen der Regierungspartei und der wichtigsten Oppositionspartei infolge der Auseinandersetzungen um die Gewerkschaftsreform gekommen war. Der Verteidigungsausschuß des Abgeordnetenhauses fertigte zwei Stellungnahmen an. Der von den Abgeordneten der radikalen Partei unterzeichnete Mehrheitsbeschluß stimmte dem Projekt zu, aber mit bedeutenden Modifikationen. Erstens wurde die Formulierung "ist davon auszugehen" (daß es sich um einen unvermeidlichen Irrtum handelte) durch "
Dekret 158/83, Art. 2.
100
Zu der fragwürdigen juristischen Rechtfertigung dieser Entscheidungen vgl. Sancinetti (1986: 1 0 f f ) .
101
Vgl. Camarasa/Felice/Gonzilez (1985: 25ff.); Verbitsky (1987: 51ff.).
102
Vgl. Sancinetti (1986: l l f f . ) . Die Militärgerichtsbarkeit war aufgrund der Bestimmungen der Verfassung von 1949 ins Leben gerufen worden. Obwohl diese Reform 1957 annulliert wurde, blieb der daraus abgeleitete Kodex weiterhin gültig (vgl. dazu Barcessat 1984: 50).
103
Vgl. D.S.C.D. (1983: I 127ff.).
253
"kann davon ausgegangen werden" ersetzt, womit der zuständige Richter einen größeren Entscheidungsspielraum erhielt. Zweitens wurde klargestellt, daß diese Vermutung nicht für grausame und aberrante Delikte gelte, und daß die Zivilgerichtsbarkeit nicht nur als Berufungstribunal nach Ergehen eines Urteils zu fungieren habe. Vielmehr könne das Bundesgericht für den Fall, daß das Militärgericht aus Gründen der Fahrlässigkeit nicht innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen zu einer Beschlußfassung gelange, eine Überstellung der Angelegenheit verlangen und sich dann selbst damit befassen104. Die peronistische Minderheit lehnte in ihrer Stellungnahme eine allgemeine Interpretation der Frage des Befehlsnotstands ab. Dies müsse entsprechend den Umständen jedes einzelnen Falls geschehen. Außerdem müßten die von Soldaten verübten gewöhnlichen Verbrechen der Zivilgerichtsbarkeit unterliegen. Die Zuständigkeit der Militärgerichte sei auf strikt militärische Fragen zu beschränken. Die Stellungnahme beinhaltete auch den Vorschlag, alle militärischen Richter abzulösen und durch Zivilrichter zu ersetzen, und fügte hinzu, daß gegen deren Entscheidungen vor der Corte Suprema de Justicia105 Berufung eingelegt werden könne106. Begründet wurden diese Vorschläge damit, daß die Mitglieder der Militärgerichte Waffenbrüder der Angeklagten seien. Infolgedessen wäre ihre Unparteilichkeit nicht gewährleistet. Andererseits schränke ein Rückgriff auf das Bundesgericht die Kompetenzen des Staatspräsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ein, was eine Schwächung der Demokratie bedeute107. Die Regierungspartei setzte die von der Exekutive präsentierte Vorlage im Abgeordnetenhaus durch, ergänzt durch die Möglichkeit des Bundesgerichts, sich nach Ablauf von sechs Monaten der Verfahren anzunehmen. Im Senat wurde das Projekt erneut modifiziert. Zunächst kam es zu zahlreichen Verzögerungen, weil die Justizialisten sich untereinander nicht einig waren, weshalb konkrete Verhandlungen nicht stattfinden konnten. Die Absicht der Radikalen, eine Behandlung im Eilverfahren durchzusetzen, scheiterte am fehlenden Quorum. Als die Sitzung endlich stattfinden konnte, stellte Senator Saadi eine Stellungnahme seines Blockes vor, die sich für eine ausschließliche Zuständigkeit der Zivilgerichte aussprach und das Konzept des Befehlsnotstands völlig ablehnte108. Die fehlende Übereinkunft zwischen den beiden großen Parteien verschaffte den Provinzparteien eine Protagonistenrolle. Der Movimiento Popular Neuquino machte seine Unterstützung für die Regierungsvorlage davon abhängig, daß in der endgültigen Fassung des Gesetzes ausdrücklich grausame und aberrante Delikte von der Annahme des unvermeidlichen Irrtums ausgeschlossen 104
Vgl. D.S.C.D. (1983:1 419ff.).
105
Die Corte Suprema de Justicia fungiert gleichzeitig als Oberster Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht.
106
Vgl. D.S.C.D. (1983:1421ff.).
107
Diese Argumente präsentierte der Abgeordnete Fappiano (vgl. D.S.C.D. 1983:1437ff.). Vgl. D.S.C.S (1984:1 314ff.); El Bimestre 13 (1984; 36).
254
blieben. Mit diesen Modifikationen wurde das Gesetz schließlich am 10. Februar 1984 verabschiedet109. Wenig später erklärte der peronistische Abgeordnete Julio Bärbaro, ihm gehe es beim Thema Menschenrechtsverletzungen in erster Linie um "die politische Gerechtigkeit", und, mehr interessiert am pädagogisch-sozialen Aspekt der Strafe als am ethisch-juristischen, erklärte er seine Position folgendermaßen: "[...] ich möchte, daß sich alle politischen Kräfte darüber einig sind, daß die Hauptschuldigen ins Gefängnis gehören. Wenn ich sage die Hauptschuldigen, meine ich die Juntas plus etwa zehn Zivilisten, ich möchte, daß es 20, 25 Individuen gibt, eine eindeutige, präzise Anzahl jener, die für das Massaker historisch verantwortlich sind. Das ist das Wichtigste, denn ich weiß, daß wir uns darüber verständigen können. Ich furchte, wenn wir in die juristischen Spitzfindigkeiten verfallen, werden wir nach dem Ganzen suchen, nach der absoluten Gerechtigkeit, womit uns die mögliche Gerechtigkeit aus den Händen gleitet; sie wäre für mich die unverzichtbare historische Lehre, die aus der Strafe hervorgeht"110.
Die CGT ihrerseits nahm keinerlei Stellung zu den Forderungen der Menschenrechtsorganisationen und der durch das neue Gesetz ausgelösten Diskussion. Zur gleichen Zeit fand die Debatte über die Neuordnung des Gewerkschaftswesens statt, die sämtliche Energien des Gewerkschaftsdachverbandes in Anspruch nahm. Die Enthüllungen der im Rahmen des sogenannten "schmutzigen Krieges" begangenen Verbrechen nahmen während eines großen Teils des Jahres 1984 breiten Raum in den Massenmedien ein. Ganz besonders stach dabei ein eigenes Programm der CONADEP hervor, das auf erhebliche Resonanz in der Öffentlichkeit stieß. Diese Aktivitäten kulminierten in der Präsentation des Schlußberichts der Kommission111. Um bei der Übergabe dieses Dokuments dabeizusein, versammelten sich am 21. September 1984 mehr als 70.000 Menschen auf der Plaza de Mayo. Dazu aufgerufen hatten die politischen Kräfte und die Menschenrechtsorganisationen. Die CGT hatte vorher ihre Unterstützung angekündigt, entschied sich dann aber dazu, sich nicht zu beteiligen. Damit blieb die Präsenz der Arbeiterbewegung auf einige Einzelgewerkschaften beschränkt112. Das Gewicht der von der Kommission zusammengetragenen Beweise hinsichtlich der Schwere und des Ausmaßes der repressiven Methoden entzog der Annahme, es habe sich um individuelle Exzesse gehandelt, endgültig jegliche Grundlage. Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser Tatsache, weigerte sich der Oberste Militärrat, der sich auf Anweisung der Exekutive mit den Verfahren gegen die Mitglieder der drei ersten Juntas beschäftigte, ein Urteil gegen die Angeklagten zu fallen. Dies zu tun hätte impliziert, die institutionelle Verant109
Vgl. Ley 23.049; Verbitsky (1987: 81); López(1988: 53f.).
'"
Vgl. C O N A D E P (1985). Eine erste, gekürzte Version des Berichts wurde 1984 von Editorial
Bárbaro (1984: 30). Universitaria
de Buenos Aires unter dem Titel "Nunca Más" veröffentlicht. 1,2
Vgl. El Bimestre 16 (1984: 28ff.); El Bimestre 17 (1984: 44f.); López (1994: 114).
255
wortung der Streitkräfte für die begangenen Straftaten anzuerkennen. Nach Ablauf des ihm zugebilligten Zeitraums übersandte das Militärtribunal an das Bundesgericht ein Dokument, in dem die von den Angeklagten erlassenen Dekrete, Befehle und operativen Direktiven als "nicht zu beanstanden" bezeichnet wurden. Vor diesem Hintergrund verlangte das Bundesgericht am 25. September die Übertragung der Angelegenheit und entschied, sich ihrer anzunehmen 113 .
7.2.3 Der Rekurs auf das Gesetz und die Justiz Im Dezember 1984 übersandte die Regierung an den zuständigen Ausschuß des Abgeordnetenhauses den Entwurf für ein neues Verteidigungsgesetz, der dort aber erst im April 1985 behandelt wurde. Diese Verzögerung stand in bemerkenswertem Gegensatz zu der Schnelligkeit, mit der andere Fragen, beispielsweise die Gewerkschaftsreform oder die Modifikationen des Militärrechts, behandelt worden waren. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Verzug auf die Haltung der Opposition, auf die Zweifel der Regierung hinsichtlich der zu erwartenden Reaktionen oder schlicht auf ein allgemeines Desinteresse zurückzuführen war. Nicht auszuschließen ist aber auch die Möglichkeit, daß die Verzögerung mit dem Interesse von Politikern und Militärs zusammenhing, erst die Frage der Strafprozesse zu klären, bevor die Behandlung einer weiteren schwierigen Angelegenheit ins Auge gefaßt würde. Sowohl die den Entwurf begleitende präsidentielle Botschaft als auch der Text der Initiative selbst ließen keinen Zweifel an der Absicht der Regierung, der Geltung der Doktrin der Nationalen Sicherheit ein Ende zu bereiten. In Artikel 2 der Initiative hieß es: "Die nationale Verteidigung ist die Gesamtheit von Plänen und Handlungen, die notwendig sind, um durch externe Aggression verursachten Konflikten jeglicher Art vorzubeugen oder sie zu überwinden, sowohl in Friedens- wie in Kriegszeiten, um die Souveränität und Unabhängigkeit der argentinischen Nation, ihre territoriale Integrität und Selbstbestimmung dauerhaft zu gewährleisten sowie um das Leben und die Freiheit ihrer Bevölkerung, die nationalen Interessen und die vollständige Geltung des demokratischen und verfassungsmäßigen Systems zu schützen"" 4 .
Der Entwurf sah vor, die Verteidigungsaktivitäten eindeutig der Exekutive und insbesondere dem Staatspräsidenten unterzuordnen. Dieser sollte von einem aus dem Vizepräsident und den Ministern für Verteidigung, Inneres, Äußeres sowie Wirtschaft bestehenden Nationalen Verteidigungskabinett unterstützt werden. Geplant war auch ein Militärkomitee, dem der Verteidigungsminister, der Chef des Gemeinsamen Generalstabs und die drei Vorsitzenden der Generalstäbe der Teilstreitkräfte angehören sollten. Die Initiative der Regierung zielte einerseits darauf ab, die Funktionen des Gemeinsamen Generalstabs zu betonen, indem 1,3
Vgl. Fontana (1987: 389ff.).
114
D.S.C.D. (1984: XIII 8273).
256
ihm die Verantwortung für die militär-strategische Planung zugewiesen wurde, und diesen andererseits der Exekutive unterzuordnen, denn diese sollte über die Zusammensetzung und die Struktur des Gemeinsamen Generalstabs entscheiden können 115 . Der Verteidigungsausschuß des Abgeordnetenhauses fertigte auch in diesem Fall zwei Stellungnahmen an. Die Mehrheit empfahl eine Annahme des Projekts mit einigen kleineren Modifikationen. Dagegen legte der Vizepräsident des Ausschusses, der justizialistische Abgeordnete Sobrino Aranda, eine "vollständig [von der Mehrheitsmeinung] abweichende" Stellungnahme vor. Seine Evaluierung der Regierungsinitiative gelangte zu dem Ergebnis, dabei handele es sich um eine "offensichtliche antimilitärische Parteinahme", und die Vorlage sei "geprägt von einem unverhüllten Mißtrauen gegenüber den Streitkräften", weshalb er betonte, daß "es gefährlich [und] widersprüchlich ist, die Nationale Verteidigung auf externe Bedrohungen oder Aggressionen zu reduzieren. [Dies] schafft eine ungerechtfertigte Beschränkung, die zu einer Art Einladung an die terroristische Guerilla werden kann, die Waffen wieder in die Hand zu nehmen, sobald ihr der Moment dazu strategisch geeignet erscheint"116.
Wenig später erklärte der Abgeordnete Manzano vor der Presse, wobei er die oben zitierte eindeutige Äußerung geflissentlich ignorierte, seine Partei sei der Ansicht, die Streitkräfte dürften ausschließlich gegenüber externen Gefahren agieren, und wenn der Peronismus mit dem Projekt der Regierung nicht einverstanden sei, dann aus anderen Gründen. Die Opposition trete lediglich dafür ein, daß die Kompetenz zur Feststellung eines Konfliktes und zur Kontrolle der Geheimdienste nicht ausschließlich dem Staatspräsidenten unterliege, sondern dem Parlament, und daß die für Erziehung und Soziale Sicherheit zuständigen Minister ebenfalls im Verteidigungskabinett vertreten seien" 7 . Obwohl der Block der justizialistischen Erneuerer die Behandlung eines Alternativprojektes im Eil verfahren beantragte, verabschiedete die UCR-Mehrheit im Abgeordnetenhaus die Regierungsvorlage für das neue Verteidigungsgesetz. Im Anschluß daran wurde die Initiative an den Senat weitergeleitet 118 . Inzwischen hatte die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen die Mitglieder der ersten drei Juntas vorbereitet, und zwar auf der Grundlage von 670 Fällen119, die aus der großen Anzahl des von der CONADEP vorgelegten Beweismaterials ausgewählt worden waren. Am 22. April 1985 begann die öffentliche mündliche Verhandlung. Vor Gericht traten zahlreiche Zeugen auf, unter anderen eine Reihe prominenter Peronisten 120 . 115
Vgl. D.S.C.D. (1984: XIII 8273ff.). Siehe insbesondere die Artikel 3, 5, 10 u. 11.
'"
D.S.C.D. (1985: V 3439).
117
Vgl. El Periodista N° 49 (16. - 22. August 1985: 5).
118
Vgl. López (1994: 85f.).
1
"
120
711 nach Sancinetti (1986:15). Vgl. Camarasa/Felice/González (1985: 54ff.).
257
Bereits in der ersten Sitzung des Verfahrens traten mehrere Mitglieder der letzten justizialistischen Regierung als Zeugen auf. Von ihnen wurde eine Aufklärung über die genaueren Umstände des während dieser Administration erlassenen Dekrets 2.772 erwartet, das den Streitkräften den Auftrag gegeben hatte, die Subversion zu "vernichten". Obwohl sie von der Verteidigung als Zeugen bestellt worden waren, erklärten Luder, Cafiero und Ruckauf, deren Unterschrift sich unter dem Dekret befand, schon aus eigenem Interesse, daß diese Formulierung keine Überschreitung existierender Gesetze und erst recht nicht die physische Vernichtung der betroffenen Personen impliziert habe121. Kurze Zeit später traten zwei der CGT-Generalsekretäre auf, und zwar ebenfalls als Zeugen der Verteidigung. Baldassini versicherte, ihm sei nichts über die physische Ausmerzung von Gewerkschaftsführern oder -aktivisten bekannt. Triaca gab zu Protokoll, er habe während seiner Inhaftierung eine "vorbildliche Behandlung" erfahren. Beide Zeugen sorgten für eine Welle der Entrüstung in den Reihen der Gewerkschaften, insbesondere von Seiten der "25". Damit wurde das zerbrechliche interne Gleichgewicht der soeben wiedervereinigten CGT auf die Probe gestellt122. Der Fortgang des Prozesses gegen die Mitglieder der Juntas und die zahlreichen weiteren Verfahren, die im ganzen Land vor Zivilgerichten eröffnet worden waren, sorgten für wachsende Unruhe in den Reihen der Streitkräfte. Es kam zu starken Protesten gegen General Ríos Ereñú, den Generalstabschef des Heeres, der die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen akzeptierte in der Hoffnung, daß die Angelegenheit damit beendet sei. Aber der Konflikt innerhalb der Streitkräfte beschränkte sich nicht auf die Kasernen, sondern betraf das gesamte politische System. In diesen Monaten zirkulierten Nachrichten über eine Verschwörung gegen die Regierung, an der Offiziere unterschiedlicher Dienstgrade beteiligt seien, die eine Absetzung der Regierung planten. Als sich der Prozeß gegen die Juntas dem Ende zuneigte und die Verteidiger sich in ihren Plädoyers weniger darum bemühten, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen, als vielmehr voll Stolz deren Delikte aufzuzeigen, erhielten zahlreiche der am Prozeß beteiligten Personen anonyme Drohungen. Es kam zu Bombendrohungen und anderen Zeichen wachsender Spannung. Zehn Tage vor den Parlamentswahlen beschloß die Exekutive die Verhängung des Ausnahmezustandes und begann darüber nachzudenken, ob es nicht angemessen sei, den Prozessen ein Ende zu setzen. Zunächst vertraute die Exekutive jedoch darauf, daß die Entscheidung des Bundesgerichts ihr dieses Problem abnehmen würde123. Am 9. Dezember, kurz nachdem der Ausnahmezustand wieder aufgehoben worden war, wurden die Urteile verkündet. Videla und Massera erhielten le,!1
Vgl. Camarasa/Felice/González (1985: 106ff.).
122
Vgl. El Bimestre 20 (1985: 96f.); Camarasa/Felice/González (1985: 114f.).
123
Vgl. El Periodista N° 57 (11. - 17. Oktober 1985: 2ff.); 59 (25. - 31. Oktober 1985: 2ff ); 60 (1. - 7. November 1985: 2ff.); 62 (15. - 21. November 1985: 2ff.); Camarasa/Felice/González (1985: 198ff.); Fontana (1987: 395ff.).
258
benslängliche Gefängnisstrafen, Agosti, Viola und Lambruschini mehrere Jahre Haft, und Galtieri, Anaya und Lami Dozo wurden freigesprochen. Die Freisprüche und die Milde einiger der verhängten Strafen führten zu heißen Debatten124. Das Urteil beinhaltete allerdings auch die Feststellung, daß das Repressionssystem den unteren Rängen große Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Umgangs mit den Verhafteten gewährt habe, und daß diese somit über Leben und Tod der Festgenommenen entscheiden konnten. Infolgedessen - so lautete das Urteil weiter - müsse die Verantwortlichkeit der höheren Offiziere untersucht werden, die die Anordnungen der Juntas ausführten. Unter Punkt 30 wurde zudem verfugt, daß der Oberste Militärrat Gerichtsverfahren gegen alle höheren Offiziere einzuleiten habe, die die Kommandogewalt über eine Zone oder eine Unterzone innehatten, sowie gegen all jene, die für die Durchführung von Aktionen verantwortlich gewesen waren. Ganz anders als Regierung und Streitkräfte es erwartet hatten, würden die Gerichtsverfahren damit nicht zu Ende gehen, sondern es würde im Gegenteil zu einer Vielzahl neuer Prozesse kom-
7.2.4 Der Druck von Seiten des Militärs Die Diskussion des Verteidigungsgesetzes wurde im Senat fortgesetzt. Dort weigerte sich der Justizialismus nicht nur, der Regierungsvorlage zuzustimmen, sondern er legte seinerseits drei verschiedene Projekte vor. Der Entwurf des Erneuerers Bravo Herrera beinhaltete die Wiedereinführung zahlreicher Bestimmungen, die im Zuge der Reform des Gesetzbuchs der Militärjustiz abgeschafft worden waren. Diese bezogen sich auf die Einrichtung von Gebieten in Ausnahmezustand unter der Autorität der Streitkräfte und auf die Gültigkeit der Bestimmungen des von der Regierung Ongania erlassenen Gesetzesdekrets 16.970, das den Streitkräften die Möglichkeit verlieh, in interne Konflikte einzugreifen und Zivilisten vor Militärtribunale zu stellen. Auch das von den Orthodoxen Gurdulich de Correa und Saadi gemeinsam vorgelegte Projekt sah ein Eingreifen der Streitkräfte in Fällen "innerer Unruhen mit internationaler Unterstützung" vor sowie die Errichtung eines Verteidigungsrates, an dem die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände beteiligt sein sollten. Das dritte justizialistische Projekt stammte aus der Feder des Senators Amoedo und sprach sich ebenfalls für ein Eingreifen der Streitkräfte im Fall innerer Unruhen aus. Nach Verhandlungen, die sich über ein Jahr hinzogen, verabschiedete der Senat am 23. Oktober 1986 als Kompromiß aus den verschiedenen Initiativen einen neuen Entwurf für ein Verteidigungsgesetz. Damit ging die Angelegenheit zurück an das Abgeordnetenhaus126.
124
Zu einer kritischen Diskussion der Urteilsbegründung s. Sancinetti (1986: 22ff.).
125
Vgl. Camarasa/Felice/González (1985: 1 l f f ) ; Verbitsky (1987: 147ff.); Fontana (1987: 399).
126
Vgl. D.S.C.S. (1985: II 1454ff.); (1986: V 3484ff.); El Periodista N° 107 (26. September - 2. Oktober 1985: 5); N° 109 ( 1 0 . - 1 6 . Oktober 1986: 5); Druetta (1990: 215); López (1994: 85).
259
Ganz offensichtlich waren die Meinungsunterschiede zwischen Regierung und Opposition beträchtlich. Es ging nicht nur um die Diskussion eines Themas, das angesichts der Auswirkungen früherer Eingriffe der Streitkräfte "im Dienste" der inneren Sicherheit hochgradig emotional aufgeladen war, sondern auch um eine eminent praktische Frage: Ohne Übereinstimmung hinsichtlich der zukünftigen Aufgaben des Militärs konnte eine Reform der Organisationsstruktur der Streitkräfte nicht in Angriff genommen werden. Währenddessen wuchs der Widerstand der Militärs, sich den Gerichtsverfahren zu unterziehen, im gleichen Ausmaß, wie die Prozesse fortschritten. Um den Zorn der Uniformierten zu dämpfen, ohne sich von ihrem Image als Verteidiger der Menschenrechte zu verabschieden, erließ die Regierung im April 1986 die "Anweisungen an den Generalstaatsanwalt der Streitkräfte". Darin ordnete sie eine Beschleunigung der Prozesse an, weitete aber - unter Mißachtung der entsprechenden Verfugungen im Urteilsspruch des Bundesgerichts - gleichzeitig die Annahme des Befehlsnotstandes aus 127 . Diesmal reagierten die peronistischen Erneuerer sofort. Der Abgeordnete Manzano trug öffentlich seine Kritik an der Haltung der Regierung vor und schlug die Durchfuhrung einer Protestdemonstration vor. Diese fand letztendlich ohne Präsenz des Justizialismus, aber unter Beteiligung führender Politiker der UCR statt. Am 3. Juli führte der Senat eine Befragung des Verteidigungsministers durch. Die Regierung stellte aus diesem Anlaß einige Punkte klar und bemühte sich darum, ihre Absicht zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren zu unterstreichen und die übrigen Einzelheiten so weit wie möglich unter den Tisch zu kehren. Sie versuchte jedoch nicht, sich davon zu distanzieren, und die Opposition verlangte dies auch gar nicht 128 . Die "Anweisungen" ermöglichten es dem Obersten Militärrat, eine ganze Reihe von Freisprüchen zu fallen. Allerdings berief sich keiner der angeklagten Militärs auf einen Befehlsnotstand oder einen unvermeidlichen Irrtum, denn dies hätte bedeutet, das Vorliegen einer Straftat einzugestehen. Das Militärtribunal folgte daher weiter seiner Taktik, die Angelegenheit auf die lange Bank zu schieben, und trieb die Prozesse nicht voran, mit denen es durch Punkt 30 des Urteilsspruchs im Prozeß gegen die Juntas beauftragt worden war. Angesichts der Verzögerungen begannen die jeweils zuständigen Bundesgerichte damit, eine Übertragung der Verfahren zu verlangen 129 . Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, daß weit mehr als Tausend Offiziere mit einem Gerichtsverfahren rechnen mußten 130 . Im zweiten Halbjahr 1986 verschärften sich erneut die Proteste, und es kam wiederholt zur Gehorsamsverweigerung in den Reihen des Militärs. Die Idee eines "Schlußpunkts" gewann immer mehr Befürworter, auch wenn niemand die politischen Kosten 127 ,2
'
Vgl. Verbitsky (1987: 163ff.); Fontana (1990: 7). Vgl. D.S.C.S. (1986: II 916 ff.); El Periodista N ° 93 (20. - 26. Juni 1986: 2f.).
129
Vgl. López (1994: 100).
130
Der Bericht der C O N A D E P hatte eine Liste von 1.300 Offizieren beinhaltet, die an Folterungen und Ermordungen beteiligt waren. López (1994) spricht von 1.500.
260
tragen wollte, die eine solche Entscheidung unweigerlich nach sich ziehen würde. Der Oberste Gerichtshof, vor dem das Berufungsverfahren im Falle des Prozesses gegen die Juntas anhängig war, zog die Angelegenheit in die Länge, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Regierung war sich darüber im klaren, daß eine Beendigung der Gerichtsverfahren starken Widerstand in ihren eigenen Reihen hervorrufen würde, und bemühte sich um die Unterstützung des orthodoxen Justizialismus. Senator Saadi zeigte jedoch wenig Bereitschaft dazu, die Pläne der Regierung zu unterstützen, und bevorzugte anscheinend eine umfassende Amnestie, von der auch der Führer der Montoneros, Mario Firmenich, profitieren würde131. Am 5. Dezember legte die Regierung dem Senat ihren Entwurf für ein "Schlußpunktgesetz" vor. Die UCR-Fraktion bemühte sich darum, eine Behandlung im Eilverfahren durchzusetzen, aber die peronistische Opposition und einige UCR-Senatoren erzwangen eine Weiterleitung an den Verteidigungsausschuß. Als die Öffentlichkeit von der Angelegenheit erfuhr, sprach sich der CGT-Generalsekretär gegen die Pläne der Regierung aus. Die führenden Erneuerer kündigten ihren Widerstand an und beteiligten sich an Protestaktionen. Aber trotz dieses öffentlich zur Schau gestellten Widerstandes tat der Justizialismus wenig, um eine Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern. Zwar stimmten die meisten peronistischen Senatoren gegen die Vorlage, aber die Opposition trug durch ihre Anwesenheit zur Gewährleistung des Quorums bei und lieferte einige Stimmen, so daß der Entwurf eine Mehrheit fand. Im Abgeordnetenhaus ermöglichte die Abwesenheit der Erneuerer, die sich weigerten, das Projekt überhaupt zu diskutieren, um nicht in die Angelegenheit verwickelt zu werden, eine Behandlung im Eilverfahren und die sofortige Verabschiedung des Gesetzes. Kaum ein anderer parlamentarischer Vorgang wurde derart rasch zu Ende gefuhrt. Der Senat stimmte dem Entwurf am 22. Dezember zu, das Abgeordnetenhaus am folgenden Tag. Am 24. Dezember unterzeichnete der Staatspräsident die Veröffentlichung132. Das neue Gesetz gewährte den Bundesgerichten einen Zeitraum von 60 Tagen, um die angeklagten Militärs gerichtlich vorzuladen. Nach Ablauf dieser Frist konnten keine weiteren Verfahren mehr eröffnet werden. Von der vorgesehenen Beendigung der Gerichtsverfahren blieben nur die Fälle der Verschleppung und Entführung von Minderjährigen ausgenommen133. Da im Januar wie jedes Jahr Gerichtsferien anstanden und da die argentinische Justiz sich traditionell nicht durch allzu große Schnelligkeit ausgezeichnet hatte, war nicht damit zu rechnen, daß in dem kurzen Zeitraum eine große Zahl von Vorladungen ergehen würde. Aber einmal mehr machte das Verhalten der Justiz der Regierung einen Strich durch ihre Rechnung. Die Kammern hoben die Gerichtsferien auf und machten sich mit aller Kraft an die Arbeit. Bis Ende Februar erging 131
Vgl. Verbitsky (1987: 254ff.); Fontana (1987: 404).
132
Vgl. El Bimestre 30 (1986: 44); Verbitsky (1987: 287ff.); de Riz/Smulovitz (1990: 28); Morales Solá (1992: 154).
133
Vgl. Ley 23.492.
261
gegen fast 400 Offiziere - darunter viele, die sich noch im aktiven Dienst befanden - eine Anklage134. Obwohl die Oberkommandierenden des Heeres und der Marine ihre Untergebenen wissen ließen, daß sie sich den Entscheidungen der Zivilgerichte zu unterwerfen hätten, waren die mittleren Offiziersränge dazu nicht bereit. Sie weigerten sich nicht nur, den Vorladungen Folge zu leisten, sondern begannen damit, öffentlich die Autorität ihrer Vorgesetzten in Frage zu stellen. Die Rebellion brach in der Osterwoche aus, als Major Barreiro, der vom Bundesgericht in Córdoba vorgeladen worden war, sich weigerte, der Aufforderung zu folgen, und sich mit Unterstützung seiner Kameraden in der Kaserne verbarrikadierte, um sich einer Verhaftung zu widersetzen. Zwei Tage später verschanzte sich eine weitere Gruppe von Offizieren unter Führung von Oberstleutnant Rico in der Infanterieschule des Campo de Mayo, die nur wenige Kilometer von der Bundeshauptstadt entfernt lag. Die Rebellion dehnte sich auf eine Reihe von Einheiten im Landesinneren aus. Die "carapintadas" - wie die Aufständischen aufgrund ihrer Gefechtstarnung genannt wurden, mit der sie Regierung und Öffentlichkeit plastisch vor Augen führten, bis zu welchem Punkt sie zu gehen bereit waren - forderten eine Amnestie, die Ablösung von Ríos Ereñú, die Umstrukturierung der Heeresspitze und ein Ende der "Schmutzkampagne" gegen die Streitkräfte. Die Aufständischen tauften ihre Aktion "Operation Würde". Die von General Alais kommandierten Truppen, an die der Befehl erging, die Rebellion zu unterdrücken, bewegten sich im Schneckentempo vorwärts und weigerten sich schließlich zu handeln. Die Befehlsstruktur war zerbrochen135. Um die Reichweite des Vorfalls zu verstehen, ist es notwendig, die Zerwürfhisse zu berücksichtigen, die sich damals durch die Streitkräfte zogen. Dabei spielten drei Konfliktlinien eine besondere Rolle: a) ein berufsbezogener cleavage (das "kämpfende Heer" versus das "bürokratische Heer"), b) ein ideologischer cleavage ("Nationalisten" versus "Liberale") und c) ein Hierarchiekonflikt (mittlere und untere Ränge versus Generäle). Die "carapintadas", deren konstitutive Merkmale jeweils der ersten Alternative der drei beschriebenen Konfliktlinien entsprachen, widersetzten sich also der Heeresfuhrung, die für die zweite stand. Daneben existierte eine dritte Fraktion der sogenannten "profesionalistas", die eine Umstrukturierung des Heeres für notwendig hielten, um dessen Effektivität und Professionalität zu verbessern. Sie verhielten sich in ideologischer Hinsicht neutral und standen der Führung kritisch gegenüber, waren aber weder dazu bereit, die Befehlskette zu brechen, noch auf ihre aufständischen Kameraden, mit deren Forderungen sie teilweise übereinstimmten, zu schießen. So bestand nach Ausbruch der Krise in den Reihen der Offiziere mehrheitlich die Haltung, sich der von Rico angeführten Erhebung nicht aktiv anzuschließen, sich aber gleichzeitig zu weigern, sie zu bekämpfen1 6.
134
Vgl. Werz (1987: 14f.); López (1994: 102).
155
Vgl. Cernadas Lamadrid/Halac (1987: 86); Werz (1987: 21ff.); López (1988: 71ff.); Fontana (1990: 30ff ).
136
Vgl. Pion-Berlin/López (1992: 73ff.); López (1994: 64ff.).
262
Der Militärvikar Miguel Medina und der Generalstabschef der Luftwaffe, Brigadier Emesto Crespo, bemühten sich um eine Vermittlung in dem Konflikt. Auch ein orthodoxer justizialistischer Abgeordneter des Blocks "Einheit" erschien und erklärte gegenüber der Presse, als "Freund" des Verteidigungsministers und einiger der Aufständischen zu handeln. Letzteren gehe es nicht um einen Angriff auf die demokratische Ordnung, sie seien lediglich verärgert wegen einiger innermilitärischer Fragen137. Trotz solcher Behauptungen war klar, daß sowohl die Form zur Kanalisierung der Forderungen als auch deren Inhalt de facto eine Mißachtung von Justiz und Regierung sowie eine Erpressung des Parlaments implizierten. Diese Wahrnehmung der Situation veranlaßte die argentinische Bevölkerung dazu, auf die Straße zu gehen, um ihre Unterstützung für die verfassungsmäßige Ordnung in einer Deutlichkeit zu demonstrieren, wie sie dies nie zuvor getan hatte. Noch am gleichen Tag wurde mit der ausdrücklichen Unterstützung der meisten politischen Parteien und der CGT eine Kundgebung vor dem Parlament organisiert, an der mehr als 400.000 Personen teilnahmen. Der Peronismus beteiligte sich mit all seinen unterschiedlichen Organisationsformen an der Aktion. Die führenden Erneuerer standen in vorderster Reihe gemeinsam mit Präsident Alfonsin, als dieser in seiner Rede erklärte, daß "das Recht nicht verhandelbar ist"138. In den folgenden Tagen kam es im ganzen Land zu zivilgesellschaftlichen Kundgebungen. Die CGT kündigte für den Montag den Beginn eines Generalstreiks an, der so lange dauern sollte, bis sich die Aufständischen ergäben. Am Sonntag, dem 19. April, unterzeichneten die politischen und gesellschaftlichen Kräfte ein Dokument, in dem sie sich dazu verpflichteten, die uneingeschränkte Geltung der Verfassung und die Demokratie zu verteidigen139. An diesem Tag legten der Erneuerer Cafiero und der Orthodoxe Saadi gemeinsam mit Vertretern der anderen Parteien und dem Obersten Kommando von Marine und Luftwaffe vor einer halben Million auf der Plaza de Mayo versammelten Menschen ein Bekenntnis zur Demokratie ab140. Aber trotz dieser zivilgesellschaftlichen Reaktion waren die Aufständischen nicht zur Aufgabe bereit. Alfonsin persönlich begab sich dann zum Campo de Mayo, und andere fuhrende Politiker folgten ihm. Die für die Kontrolle des Eingangs zuständigen Wachposten ließen den Präsidenten passieren, verweigerten jedoch den übrigen Radikalen in dessen Gefolge den Zutritt. Allerdings wurden der Erneuerer Cafiero und der Gewerkschafter Cavalieri durchgelassen, denn als "Peronisten und nicht linke Typen" genossen sie eine gewisse Vorzugsbehandlung von Seiten der Aufständischen. Die Justizialisten erklärten
Vgl. Cemadas Lamadrid/Halac (1987:89). 131
Vgl. Cernadas Lamadrid/Halac (1987: 70ff.); Verbitsky (1987: 360ff.); Werz (1987: 22ff).
140
Vgl. Werz (1987: 25); Armada/Wainfeld (1988: 8f.).
Vgl. "Acta de Compromiso
Democrático".
263
später gegenüber der Presse, ihre Partei werde eine Amnestie nicht unterstützen 141 . Wenige Stunden später gab Alfonsin bekannt, die Aufständischen hätten sich ergeben, während diese gegenüber der Presse erklärten, ihre Ziele erreicht zu haben. Letzteres kam der Realität näher als die Worte des Präsidenten. In den folgenden Tagen wurde Rios Erenü seines Postens als Oberkommandierender des Heeres enthoben, und nachdem einige der fuhrenden peronistischen Erneuerer ihre Bereitschaft erklärt hatten, einen Gesetzentwurf zu unterstützen, der verschiedene Grade von Verantwortlichkeit spezifiziere, legte die Exekutive dem Parlament die Initiative für ein "Befehlsnotstandsgesetz" vor. Darin war vorgesehen, die befehlshabenden und die subalternen Offiziere, die Unteroffiziere sowie das Truppenpersonal jeder strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entheben, womit alle in Straftaten verwickelte Militärs mit dem Dienstgrad eines Oberstleutnants oder eines niedrigeren Ranges von der Strafverfolgung ausgeschlossen würden. Davon ausgenommen blieben Vergewaltigungen, die Verschleppung von Minderjährigen und die erpresserische Aneignung von Immobilien, nicht aber Mord und Folter 142 . Am 15. und 16. Mai behandelte das Abgeordnetenhaus die Regierungsinitiative im Rahmen einer stürmischen Sitzung. Als Hauptredner der peronistischen Fraktion traten die Erneuerer auf. Cafiero war der erste Redner, der in aller Offenheit bekundete, die Beratung finde nicht unter normalen Umständen statt, sondern unter starkem Druck. De la Sota rief die Zivilgesellschaft zur Geschlossenheit auf, um ihre Beziehungen zu den Streitkräften neu zu ordnen. Der Abgeordnete stellte mehrere Möglichkeiten zur Disposition, die von einem Amnestiegesetz bis zu einem präsidentiellen Gnadenerlaß reichten. Er wollte diese Maßnahmen allerdings in diesem Moment nicht diskutieren, denn zunächst müßten die Gerichtsverfahren weitergehen und man müsse sich die Zeit nehmen, um eine Übereinkunft zwischen Regierung und Opposition zu erzielen. Manzano zeigte sich zunächst davon überzeugt, daß keine Voraussetzungen für einen Staatsstreich existierten, um dann unmittelbar darauf festzustellen, die Gewalt sei dabei, sich in der Gesellschaft einzunisten. In seinem Plädoyer betonte er, er werde dem Gesetz "weder unter Todesdrohungen noch mit einer Pistole im Nacken" zustimmen, denn man könne einem Offizier nicht einfach deshalb die Schuld erlassen, weil er sich weigere, vor Gericht zu erscheinen. Er kündigte jedoch seine Bereitschaft an, mit den Radikalen bei der Ausarbeitung eines Amnestiegesetzes zusammenzuarbeiten. Mit einer Argumentation, die dem geschicktesten Sophisten würdig gewesen wäre, lehnte die Opposition das "Befehlsnotstandsgesetz" mit dem Hinweis ab, es sei nur aufgrund des Drucks der Aufständischen zustandegekommen, und schlug dagegen vor, das Problem mit Hilfe einer Amnestie zu lösen, was den Forderungen der Aufständischen
141
Vgl. Cemadas Lamadrid/Halac (1987: 101f.); Verbitsky (1987: 366).
142
Vgl. D.S.C.D. (1987:1 522ff.); Werz (1987: 26ff.); López (1988: 94f.).
264
völlig entsprach und wovon sie noch weitaus mehr als von den Plänen der Regierung profitieren würden 143 . Die UCR-Mehrheit konnte den ursprünglichen Entwurf mit 119 gegen 59 Stimmen durchsetzen. Aber dieser Text, der nach Maß der "carapintadas" zugeschnitten war, stellte nicht die Anforderungen der ranghöchsten Militärs zufrieden. Dies ließ der neue Generalstabschef des Heeres, General Caridi, öffentlich verlauten, woraufhin die Regierung im Senat eine Modifikation der Vorlage auf den Weg brachte, um in den Kreis der Nutznießer auch diejenigen höheren Offiziere aufzunehmen, deren Entscheidungskompetenz nicht innerhalb von 30 Tagen gerichtlich bestimmt werden könne. Ausgeschlossen von der Annahme des Befehlsnotstandes blieben damit nur diejenigen, die als Oberkommandeur, Zonen- oder Gebietskommandeur sowie als Kommandeur der Polizei-, Sicherheits- oder Gefangnisaufsichtskräfite fungiert hatten. Das Oberhaus stimmte der veränderten Vorlage mit 23 gegen 4 Stimmen zu. Von den 21 justizialistischen Senatoren stimmte einer zu, drei votierten dagegen, und die übrigen 17 nahmen nicht an der Sitzung teil. Wenig später ratifizierte das Abgeordnetenhaus die im Senat vorgenommenen Änderungen. Auch hier stimmten einige Vertreter des PJ für die Vorlage, die Mehrheit votierte allerdings dagegen
144
.
7.2.5 Das Verteidigungsgesetz und die Restrukturierung der Streitkräfte Wenn die Osterrebellion und die nachfolgenden Forderungen der Streitkräfte etwas Gutes an sich hatten, dann, daß sie Regierung und Opposition erneut ins Gedächtnis riefen, daß das Land immer noch nicht über ein Verteidigungsgesetz als Rechtsrahmen für die Aktivitäten des Militärs verfügte. Die Frage blieb auch solange weiterhin offen, bis die Erneuerer aus den Septemberwahlen gestärkt hervorgingen. Wenig später, auf der Versammlung der Erneuerer im November 1987, wurde ein Dokument vorgelegt, das sich ausschließlich dem Thema Militär und Verteidigung widmete und an dessen Ausarbeitung die auf diese Fragen spezialisierten Berater der peronistischen Parlamentsabgeordneten beteiligt gewesen waren. Der Vorschlag unterschied zwischen einer politisch-institutionellen Ebene, einer militärischen Ebene und einer Reihe von unmittelbaren Aktivitäten. Hinsichtlich der ersten Ebene wurde ein nationales Verteidigungssystem beschrieben, als dessen Bestandteile eine Vielzahl von Institutionen erwähnt wurden: der Präsident, das Kabinett, der Verteidigungsrat, der sich aus Vizepräsidenten, Kabinett, Parlament und insbesondere den Verteidigungsausschüssen beider Kammern konstituieren sollte, die Justiz, insofern sie Gesetze anwende, die sich auf den Verteidigungsbereich beziehen, das Verteidigungsministerium, die Streitkräfte, die Kräfte zur Sicherung der Grenzen und zur 143
Die wichtigsten Passagen der Reden sind abgedruckt in El Periodista N° 141 (22. - 28. Mai 1987: 2ff ). Für genauere Einzelheiten siehe D.S.C.D. (1987:1 617ff. u. vor allem 671ff.).
144
Vgl. W e r z ( 1 9 8 7 : 31 ff.); López(1988: 96f.); Mustapic/Goretti (1992: 266).
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Aufrechterhaltung der Inneren Sicherheit und zu guter Letzt das Volk der Nation 145 . Ganz offensichtlich würden nicht alle die gleichen Funktionen ausüben. Der Präsident würde die Entscheidungen treffen, und der Verteidigungsrat stünde ihm dabei zur Seite. Das Dokument führte eine lange Liste von zwischen Präsident, Verteidigungsrat und Verteidigungsministerium aufgeteilten Kompetenzen auf. Die Betonung, die dabei auf eine minutiöse Aufzählung der Aufgaben der Exekutive gelegt wurde, deutet darauf hin, daß es den Autoren des Dokuments weniger um eine Auflistung von Kompetenzen ging als um die Zuweisung von Pflichten. Diese Interpretation wird auch durch die Kritik gestützt, die auf den ersten Seiten des Textes an der Politik der Radikalen geübt wird, denen fehlende Impulse, Unentschlossenheit und ein "naiver Pazifismus" vorgeworfen wurde. Auf diese Art und Weise kann der Vorschlag der Erneuerer auch als eine Aufforderung an die Regierung betrachtet werden, endlich potentielle Konflikte zu identifizieren, Kriegspläne zu formulieren sowie die militärische Kampfkraft des Landes aufrechtzuerhalten 146 . In dem 25 Seiten starken Papier gibt es nur einen einzigen Abschnitt, der sich mit den Aufgaben der Streitkräfte beschäftigt und der etwas in bezug auf deren Organisationsform durchscheinen läßt: "Der gemeinsame Generalstab wird die Entscheidungen treffen hinsichtlich der Ausarbeitung der gemeinsamen Militärplanung, der Formulierung der gemeinsamen Militärdoktrin und der Ausarbeitung der Planung für die militärische Mobilisierung"147.
Die Führung der Erneuerer und die Regierung konnten sich schließlich auf ein neues Verteidigungsgesetz einigen, das diesmal gemeinsam ausgearbeitet und vom Abgeordnetenhaus am 30. Dezember verabschiedet wurde. Aber die Aktivität der Abgeordneten kam zu spät, als daß man von ihr noch irgendeine Wirkung hätte erwarten dürfen. Seit Monaten bereits hatten die Entwicklungen innerhalb der Streitkräfte dazu geführt, daß die Frage sich auf andere Art und Weise stellte als zuvor. Die Versetzung von Ríos Ereñú in den Ruhestand war eine der Forderungen der Aufständischen der Osterwoche gewesen, aber die Ernennung von Caridi als dessen Nachfolger war nicht in ihrer Absicht. Der neue Heereschef, der derselben Fraktion angehörte wie sein Vorgänger, leitete eine Restrukturierung ein, die unter anderem dazu dienen sollte, die wichtigsten "carapintadas" aus den Schlüsselpositionen für die Lenkung der Truppen zu vertreiben. Dieses Vorhaben stieß auf Widerstand, der im Januar 1988 im Ausbruch einer zweiten Rebellion unter Führung von Oberstleutnant Rico kulminierte, dem sich mehrere Infanterieregimenter und einige Gruppen der Luftwaffe anschlössen. Nicht ohne Schwierigkeiten gelang es diesmal Caridi, eine den
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Vgl. Alterach et al. (1987: 14).
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