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German Pages 138 Year 1998
Die Rolle des Bundesrates und der Länder im Prozeß der deutschen Einheit
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 66
Die Rolle des Bundesrates und der Länder im Prozeß der deutschen Einheit
Herausgegeben von Eckart Klein
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Die Rolle des Bundesrates und der Länder im Prozeß der deutschen Einheit I hrsg. von Eckart Klein. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 66) ISBN 3-428-09429-8
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09429-8
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
INHALT Eckart Klein
Einführung ... ................................. ......................... ................. ....... ......... ............. 7
Waller Rudolf
Funktion und Stellung des Bundesrates .................... ..... .......... ............ ............. II
Christion Dästner
Die Mitwirkung der Länder bei den Entscheidungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands .......................................... ......................................... 33
Hubert Wicker
Der Anteil der alten Länder beim Aufbau von Verwaltung und Justiz in den neuen Ländern ............................ ....................................................................... 61
Wolfgang Renzsch
Die finanzielle Unterstützung der neuen Länder durch die alten Länder.......... 73
Günther Ermisch
Die Integrationsleitung des Bundesrates beim Vollzug der deutschen Einheit. ............................. ............. .............................. ...................................... 87
Podiumsdiskussion Vollzug und Stand der inneren Einheit ............................................... ........... I 03 Verfasser und Podiumsteilnehmer ................................................................. 137
Eckart Klein
EINFÜHRUNG Zu unserer Fachtagung darf ich Sie sehr herzlich willkommen heißen. Mein Gruß gilt insbesondere den Referenten und den Teilnehmern an der Podiumsdiskussion, aber auch allen anderen Anwesenden. Unsere Tagung ist durch drei Besonderheiten ausgezeichnet. Zum einen durch die Hochrangigkeit und nicht zu übertreffende fachliche Kompetenz der Referenten. Es ist schwerlich im Rahmen bisheriger Veranstaltungen der Fachgruppe Rechtswissenschaft möglich gewesen, thematisch so unmittelbar durch ihre praktische Tätigkeit und eigene Erfahrung ausgewiesene Referenten zu gewinnen. Ich bin Ihnen, meine Herren, daher sehr zu Dank verpflichtet, daß Sie diese Aufgabe übernommen haben. Ich bin mir bewußt, daß Ihre Gewinnung schwerlich gelungen wäre, hätte sich nicht der Bundesrat sehr entgegenkommend dazu bereiterklärt, daß wir diese Tagung in Abstimmung mit ihm durchfuhren können. Ich habe dem stellvertretenden Direktor des Bundesrates, Herrn Dr. Dästner, der zugleich einer unserer Referenten ist, und Herrn Dr. Risse flir ihre diesbezügliche Unterstützung sehr zu danken. Schließlich, und das ist die dritte Besonderheit der Tagung, haben wir es mit einem Thema zu tun, das bisher wenig, sogar unter manchen der hier zu diskutierenden Aspekten noch überhaupt nicht behandelt wurde. Wir fragen ja nach der "Rolle des Bundesrates und Länder im Prozeß der deutschen Einheit". Zum allgemeinen Verständnis des Themas zwei Anmerkungen vorweg, bevor ich etwas näher auf die Themenstellung im einzelnen eingehe. Zunächst wird unsere Betrachtung nicht zeitlich auf ein bestimmtes Datum fixiert. Demgemäß wird vom "Prozeß der deutschen Einheit" gesprochen. Erfaßt ist damit zum einen die Zeitspanne vom Mauerfall bis zum 3. Oktober 1990, also die dramatische Zeit der Herstellung der sogenannten "äußeren Einheit" mit den wegbestimmenden innerdeutschen Verträgen und dem Zwei-PlusVier-Vertrag, zum andern aber auch die Zeit danach, die bis heute reicht, nämlich die Zeit des Vollzugs der Einheit, die Herstellung der "inneren Einheit". Es ist offenkundig, daß sich beides prozeßhaft vollzogen hat und noch vollzieht, immer wieder angestoßen von Grundsatz- und Einzelentscheidungen und abhängig vom Verlauf der großen und kleinen Politik.
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Eckart Klein
In diesem Prozeß der Einheitsgewinnung gab es und gibt es stets viele, wichtige und weniger wichtige, Akteure. Vieles ist gesagt und geschrieben worden über die Rolle einzelner, des Bundeskanzlers etwa, des damaligen Bundesministers des Innem, des damaligen Kanzlerkandidaten der Opposition und anderer. Wir wollen dagegen fragen, in welcher Weise die Länder oder der Bundesrat diesen Einigungsprozeß - im äußeren und inneren Sinn - bestimmt oder jedenfalls beeintlußt haben und noch beeinflussen. Diese Frage ist in einem Bundesstaat, in dem die Länder die Glieder des Ganzen sind, legitim. Zu Beginn soll eine Vergewisserung über die "Funktion und Stellung des Bundesrates stehen". Herr Professor Rudolf, Staats- und Völkerrechtler und ehemaliger Staatssekretär im Ministerium der Justiz des Landes RheinlandPfalz, hat in vielen Amtsjahren intensive einschlägige Erfahrung gewonnen. Das Thema "Bundesrat" allgemein hat angesichts der aktuellen Steuerreformkrise eine vom Veranstalter weder geplante noch in dieser Form gewollte Aktualität gewonnen. Zwar ist das Thema "Parteipolitik im Bundesrat" nicht neu 1• Heute werden aber schwere Angriffe gegen den Bundesrat und die grundgesetzliche Ausprägung des Föderalismus insgesamt geführt. Der Bundesrat wird als eindeutige Fehlkonstruktion apostrophiert. So wandelt sich das Einführungsthema unversehens zu einem Grundsatzthema. Herr Dr. Dästner wird aus intimer Kenntnis der Vorgänge über die "Mitwirkung der Länder bei den Entscheidungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands" sprechen. In diesem Referat werden wir in die Jahre 1989/90 zurückgeführt, in denen die Einheit, die äußere Einheit, zu schmieden war. Welchen Anteil haben die Länder oder jedenfalls einzelne Länder oder Landespolitiker an der endlich möglich gewordenen Lösung der nationalen Frage gehabt? Zweifellos dominierte der Bund. Aber gingen die Entscheidungen an der Länderebene vorbei, gab es vielleicht von dort sogar Hemmnisse? Mit dem Thema "Der Anteil der alten Länder beim Aufbau von Verwaltung und Justiz in den neuen Ländern" geraten wir in den Zeitraum nach dem 3. Oktober 1990. Herr Regierungspräsident Wicker, als ehemaliger Staatssekretär in Sachsen unmittelbar an diesen Aufbaumaßnahmen beteiligt, wird hierüber näher informieren. Die gewaltige Anstrengung, die bei der Einrichtung der administrativen und justitiellen Infrastruktur der neuen Länder nötig war, wird meist nur als allgemeine Größe wahrgenommen. Es ist aus Kompetenzgründen klar, daß in diesem Bereich primär die Länder, die alten Länder, wenn auch keineswegs exklusiv, tätig werden mußten. Haben hier alle Länder, natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, gleichmäßig Hilfe geleistet? Gab es politisch motivierte Verweigerungshaltung - ungeachtet etwa der einigungsvertragliehen 1
Vgl. etwa Hans H. Klein, Parteipolitik im Bundesrat?, Die öffentliche Verwaltung (DÖV)
1971, s. 325 ff.
Einflihrung
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Verpflichtungen (Art. 15 Abs. 2), wonach die anderen Länder und der Bund beim Aufbau der Landesverwaltung Verwaltungshilfe leisten? Stärker als andere Aspekte ist "Die finanzielle Unterstützung der neuen Länder durch die alten Länder" auch schon in der Vergangenheit behandelt worden, meist mit einem sehr kritischen Unterton. Häufig ist den alten Ländern eine sehr zurückhaltende, um nicht zu sagen: schäbige Politik attestiert und der Vorwurf erhoben worden, sich der gesamtstaatlichen Aufgabe finanziell zu versagen. Herr Professor Renzsch, der im Finanzministerium Brandenburg eigene Erfahrungen gemacht hat, wird uns dankenswerter Weise näher unterrichten. Am Samstag morgen wird Herr Dr. Ermisch, auch er ehemaliger Staatssekretär, und zwar im Sächsischen Justizministerium, über ein Thema sprechen, das bislang überhaupt keine Darstellung gefunden hat. Es geht um "Die Integrationsleistung des Bundesrates beim Vollzug der Einheit". Wie hat der Bundesrat den Einigungsprozeß mitbestimmt, welche Konzeption hat er entwickelt oder durchgesetzt, um die Einigung zu erleichtern? Hat er als Begegnungsstätte von Politikern in den alten und neuen Ländern - was nicht notwendig gleichbedeutend mit westdeutschen und ostdeutschen Politikern ist - eine wesentliche integrative Rolle gespielt? Abgeschlossen wird die Veranstaltung mit einer Podiumsdiskussion zu "Vollzug und Stand der inneren Einheit", an der Frau Staatsminister a. D. Birthler, Herr Ministerpräsident a. D. und Mitglied des Europäischen Parlaments Prof. Gomolka und das Mitglied des Deutschen Bundestages Herr Thierse teilnehmen werden. Die Moderation hat Herr Dr. Fromme übernommen, der wie kaum ein anderer den Einheitsprozeß publizistisch begleitet hat. Allen Genannten danke ich sehr fllr ihre Bereitschaft, dieses wichtige Thema mit uns zu behandeln; die Diskussion wird nach einiger Zeit auch auf das Plenum ausgeweitet, so daß alle zu Wort kommen können. "Vom Mythos der inneren Einheit" war kürzlich die Rede2 -jagen wir ihr, die es also in Realität nicht gibt, umsonst nach, träumen wir einen Traum wie der schlafende Kaiser im Kyffhäuser oder erkennen wir sie als realitätsfernen Traum und tun sie als solche zu Recht ab? Ein Problem so oder so ist die "innere Einheit" nach sieben Jahren allemal - oder ist gar längst alles normal, so wie es normal nur sein kann? Verlangen wir mehr als sinnvoll oder notwendig ist? Ich bin sicher, daß wir ein wenig Gewißheit oder vielleicht etwas weniger Ongewißheit am Ende der Tagung haben werden - jedenfalls werden wir viel gelernt haben.
2 Thomas Rietzschel, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.09.1997, Nr. 213, Beilage "Bilder und Zeiten".
Walter Rudolf
FUNKTION UND STELLUNG DES BUNDESRATES I. Einzigartigkeit des Bundesrats- Historische Vorbilder Über den Bundesrat zu sprechen, über seine Funktion und Stellung zu räsonnieren, ist derzeit "in". Die mit der Wiedervereinigung 1990 neu ausgelöste Föderalismusdebatte kreiste zunächst um die Frage der Zahl der Länder: Sind 16 Länder - nach Größe und wirtschaftlicher Leistungskraft so unterschiedlich nicht zuviele? Nach dem Scheitern der Wieder-Vereinigung von Berlin und Brandenburg und mit der Diskussion um die inzwischen gescheiterte Steuerreform hat sich die Debatte verlagert. Jetzt geht es um die Rolle des Bundesrats in der föderalen Struktur Deutschlands: Ist an einer Institution des Föderalismus festzuhalten, die in den klassischen Angelegenheiten der Bundesregierung mitwirkt - sogar in der Außen- und Europapolitik - und die vom Parlament beschlossenen Reformen blockiert? Sollte man nicht auch den Bundesrat zum Gegenstand der Reform machen, so wie die Briten ihr altehrwürdiges Oberhaus, wenn es Reformen blockierte, in seinen Kompetenzen beschnitten haben? Vergleicht man die Verfassungen der etwa 20 Bundesstaaten, die es gibt - das ist etwas mehr als ein Zehntel aller souveräner Staaten - dann fällt auf, daß bei der Gesetzgebung des Zentralstaates das Volk der Gliedstaaten durch eine von ihm direkt oder indirekt bestellte Institution beteiligt wird 1."In den USA etwa ist die Gesetzgebung dem Kongreß anvertraut, der aus zwei Kammern besteht, dem Senat als föderativem Organ und dem Repräsentantenhaus als unitarischem2 • Die Schweiz hat die Bundesversammlung, die aus Nationalrat und Ständerat bestehe. In USA und in der Schweiz haben wir es mit einem echten Zweikammersystem zu tun. Anders in Österreich, wo die Bundesgesetzgebung von Nationalrat und Bundesrat ausgeübt wird, die als mit sehr begrenzten Kompetenzen versehene Bundesversammlung gemeinsam zusammenwirken, ohne daß es sich bei ihnen um Kammern, also Teile eines Parlaments handelt. Ähnliches gilt fiir Deutschland. Der Bundesrat ist ebenso wenig wie der Bundestag Teil
Vgl. den Überblick bei K. Stern, Staatsrecht II, Monehen 1980, § 27 II (S. 112) m.w.N. W. Brugger, Einfilhrung in das öffentliche Recht der USA, München 1993, S. 29 ff. 3 Verfassungsvergleichender Überblick bei J. Polaschek, Föderalismus als Strukturprinzip, in: J. Aulehner u.a. (Hrsg.), Föderalismus - Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, Stuttgart u.a. 1997, S. 9 (19 ff.) m.w.N. 1
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eines Gesetzgebungsorgans, sondern steht als selbständiges Bundesorgan neben dem Parlament4 • Es gibt weitere Unterschiede zu den föderativen Organen anderer Bundesstaaten. In den USA wird der Senat seit Anfang dieses Jahrhunderts vom Volk unmittelbar gewählt, ebenso in der Schweiz der Ständerat, während in Österreich der Bundesrat von den Landtagen, also indirekt bestellt wird. Demgegenüber besteht der Deutsche Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder. Ist er deshalb, wie polemisch formuliert wurde, ein Relikt des monarchischen Obrigkeitsstaates5? In der Tat folgen Funktion und Stellung historischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts, ja seine Struktur läßt sich sogar auf den Reichstag des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nach dem Westfälischen Frieden von 1648 zurückführen, der als Immerwährender Reichstag seit 1663 in Regensburg tagte und wie ein Staatenkongreß oder heute die Generalversammlung einer Internationalen Organisation aus Gesandten der Mitglieder bestand6 . Der Bundesrat ist somit ein Unikat, mit keinem fOderalistischen Organ anderer Bundesstaaten vergleichbar. Vorläufer des Bundesrats war der Reichsrat der Weimarer Verfassung 1919, der Bundesrat der Verfassung des Kaiserreichs 1871 und des Norddeutschen Bundes 1867 und die Bundesversammlung des Deutschen Bundes nach der Bundesakte von 18157 . Letztere sah vor, daß Angelegenheiten des Bundes durch eine Bundesversammlung besorgt werden, in welcher alle Glieder desselben durch ihre Bevollmächtigten vertreten waren. Aus dem Text der Deutschen Bundesakte folgt, daß Mitglieder des Bundes die einzelnen Staaten waren und die Bundesversammlung das Organ war, in dem die Staaten vertreten waren 8 . Da der Deutsche Bund selbst kein Staat, sondern ein Staatenbund war, war es klar, daß nur die Staaten in seinem Bundesorgan vertreten sein konnten, vertreten durch die von ihren Monarchen oder von den Exekutivorganen der vier republikanischen Mitglieder bestellten Bevollmächtigten. Bismarck war von 1851 bis 1859 preußischer Gesandter bei der Bundesversammlung, die damals meist als Bundestag bezeichnet wurde. Es handelte sich mithin um eine völkerrechtliche, nicht um eine staatsrechtliche Einrichtung9 . • BVerfGE 8, 104 (120) 5 W. Hennis, FAZ Nr. 225 vom 27.9.1997, S. 36, 2. Spalte; filr eine Senatslösung ders., FAZ Nr. 189 vom 14.8.1997, S. 31 6 K. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Heidelberg 1991, Teil II, Rn. 3; skeptisch zum Reichstag als Vorläufer des Bundesrates D. Posser, Der Bundesrat und seine Bedeutung, in: E. Benda!W. Maihofer/H.-J. Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., Berlin!New York 1994, § 24, Rn. 3 7 J. Jekewitz, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Band 2, Art. 21-146, Neuwied/ Dannstadt 1984, vor Art. 50, Rn. I ff. 8 Art. I und IV der Bundesakte, G. DUrig!W. Rudolf, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., MUnchen 1996, S. 12. 9
Vgl. H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2, MUnchen 1990, S. 133.
Funktion und Stellung des Bundesrates
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Die Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 und die des Deutschen Reiches 1871 übernahmen die Institution der Bundesversammlung - nun Bundesrat genannt - unverändert, obwohl es sich beim Norddeutschen Bund wie beim Deutschen Reich um Bundesstaaten handelte, fUr die die für den Staatenbund geschaffene Struktur dieses Organs ungewöhnlich war10• Gerade für das Deutsche Reich blieb auch mit Rücksicht auf die süddeutschen Staaten nichts anderes übrig. Dies wird deutlich in einem Brief Bismarcks an König Ludwig II. von Bayern vom Heiligen Abend 1870: ,.Allerdurch/auchtigster König, allergnädigster Herr. Eure Majestät setzen mit Recht voraus, daß auch ich von der Centra/isation kein Heil erwarte, sondern gerade in der Erhaltung der Rechte, welche die Bundesversammlung den einzelnen Gliedern des Bundes sichert, die dem deutschen Geiste entsprechende Form der Entwicklung und zugleich die sicherste Bürgschaft gegen die Gefahren erblicke, welchen Recht und Ordnung in der freien Bewegung des heutigen politischen Lebens ausgesetzt sein können " 11 • Die Frankfurter Bundesversammlung war über 50 Jahre etabliert, und deshalb bestand auch der Bundesrat des nachfolgenden Staates aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes. Den Vorsitz führte Preußen. Da der Reichskanzler meist zugleich preußischer Ministerpräsident war, waren Kanzler und Vorsitzender des Bundesrats personenidentisch 12 • Der Bundesrat war in der Verfassung als erstes Bundesorgan genannt, vor dem Präsidium, d.h. dem Kaiser, und vor dem Reichstag. Er war zunächst das oberste Organ der zuvor souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands und galt vielen weithin als Träger der Souveränität des Reiches als einer Fürstenaristokratie, was von der späteren Staatsrechtslehre aber als "konstruktiv unhaltbar und politisch irrefUhrend'" 3 abgelehnt wurde. Im Laufe der Zeit verschob sich das Gewicht zugunsten des Reichstages 14 . Auch die Weimarer Reichsverfassung kannte einen Reichsrat, der seiner Struktur nach ein Gesandtenkongreß blieb 15, allerdings mit erheblich
10 H.H. Klein, Der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland - die ,,Zweite Kammer", AöR I 08 (1983), S. 330 (333). 11 Zitiert nach M. Schulze-Vorberg "Von der Centralisation kein Heil", in: Rolf Hrbek (Hrsg.), Miterlebt- mitgestaltet, Der Bundesrat im Rückblick, Stuttgart 1989, S. 65, 71 f. 12 D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., München 1992, § 34112 (S. 261); zu einer Trennung der Ämter kam es dreimal: Von Januar bis November 1873 gab Bismarck das Amt des preußischen MinisterpräSidenten an Roon ab, von 1892 bis 1894 mußte Caprivi die preußische MinisterpräSidentschaft Botho Eulenburg überlassen, und im Oktober und November 1918 blieb zur Zeit der Reichskanzlerschaft Max von Badens das Amt des preußischen MinisterpräSidenden unbesetzt, näher E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, Stuttgart u.a. 1963, S. 826. 13 R. Thoma, Das Staatsrecht des Reiches, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, Tübingen 1930, § 7, S. 72. 1 ~ H. Bo1dt (Fn. 9), S. 193; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, München 1997, Rn. 392. •s G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Nachdruck der 14. Auflage 1933, Bad Hornburg v.d.H./Ber1in/Zürich 1968, Vorbemerkung zum 4. Abschnitt, S. 336.
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weniger Kompetenzen als der alte Bundesrat und auch der jetzige Bundesrat 16• Das kam schon in der Verfassung selbst zum Ausdruck, die von den Reichsorganen zunächst den Reichstag, dann den Reichspräsidenten und die Reichsregierung und erst an letzter Stelle den Reichsrat nannte. Auch mußten die Vertreter der Länder nicht der Spitze der Landesexekutive angehören. Man sprach vom Reichsrat als einem Gremium der Oberregierungsräte 17 • Obwohl bei den Beratungen des Grundgesetzes der Parlamentarische Rat auch andere Modelle erörtert hat, hat er sich schließlich fur das alte Bundesratsmodell entschieden. Auch 1949 mußte man Rücksicht auf Bayern nehmen, das durch seinen Ministerpräsidenten Dr. Ehard den Bundesrat durchsetzte, was Max Schulze-Vorberg plastisch geschildert hat 18 • Adenauer, Schumacher und Heuß hätten die Senatslösung bevorzugt19 • Die Kompetenzen des Bundesrats wurden gegenüber denen des Reichsrats erheblich gestärkt. Auch schrieb das Grundgesetz fest, daß nur Regierungsmitglieder in den Bundesrat entsandt werden dürfen. Der Bundesrat ist wieder hochrangig besetzt. In der Systematik des Grundgesetzes rangiert er nach dem Bundestag und vor dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung an zweiter Stelle20 . Sein Präsident ist Vertreter des Bundespräsidenten21 • /I. Mitgliedschaft und Stimmverteilung
1. Die Frankfurter Bundesversammlung war das Organ des Deutschen Bundes, in dem die Mitgliedstaaten vertreten waren. An dieser Konstruktion hat sich im Bundesstaat von 1867 und 1871 nichts geändert. Obwohl das Grundgesetz in Art. 51 von den Vertretern im Bundesrat als Mitgliedern des Bundesrats spricht, sind nicht diese, sondern die Länder selbst Mitglieder, was aus der systematischen Auslegung des Grundgesetzes folgt. Auch nach dem Grundgesetz ist davon auszugehen, daß die Länder Mitglieder des Bundesrates sind22 . Die For16
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H.H. Klein (Fn. 10), S. 337; H. Boldt (Fn. 9), S. 233 f.; W. Frotscher/B. Pieroth (Fn. 14), Rn.
Siehe K. Stern (Fn. I), § 27 II 3 (S. 129). A.a.O. (Fn. II), S. 70 ff. 19 Vgl. Th. Maunz/R. Scholz, in: Th. Maunz/G. DUrig/R. Herzog/R. Scholz, Grundgesetz, Stand: Oktober 1996, Art. 51 , Rn. 2; K. Stern (Fn. I), § 27 I 2 (S. 119); H.H. Klein (Fn. I 0), S. 342. 2° K. Stern (Fn. 1), § 27 II 2 (S. 125); D. Blumenwitz, in: R. Dolzer/K. Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: März 1997, Art. 50 Rn. 2; G. Robbers, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, MUnchen 1996, Art. 50, Rn. 10. 21 Art. 57 GG; vgl. R. Herzog, MDHS (Fn. 19), Art. 57, Rn. 5 ff. 22 H. Maurer, Der Bundesrat im Verfassungsgefilge der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift filr GUnther Winkler, Wien 1997, S. 615 (617); H. v. Mangoldt/F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auf!., Berlin, Frankfurt a.M. 1966, Art. 50, Anm. III I; K. Reuter (Fn. 6), Art. 51 , Rn. 21 ; a.A. W. Krebs, in: I. v. MUnch!Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 3. Aufl., MUnchen 1995, Art. 51, Rn. 2; R. Herzog, Zusammensetzung und Verfahren des Bundesrates, in: J. Isensee/P. Kirchhof(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts II, § 46, Rn. I, Heidelberg 1987. 17
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Funktion und Stellung des Bundesrates
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mulierung von Art. 50 "Durch den Bundesrat wirken die Länder... mit." ist eindeutig. Art. 51 Abs. I GG, der die Zusammensetzung des Bundesrates regelt, bestimmt, daß der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder besteht, die sie bestellen und abberufen. Die in den Bundesrat entsandten Regierungsvertreter sind also Vertreter der Länder, und diese Mitglieder des Bundesrats. Dafür spricht auch Art. 51 Abs. I Satz 2 GG, daß andere Mitglieder der Landesregierungen Vertreter sein können, sowie Art. 52 Abs. 2 Satz 2 GG, der bestimmt, daß die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können. Da nur Regierungsmitglieder die Länder im Bundesrat vertreten, bedeutet das, daß auch nur amtierende Regierungsmitglieder den Vorsitz im Bundesrat innehaben können; denn auch der Vorsitz ist an das Land, nicht an die Person geknüpft. Tritt ein Regierungschef eines Landes zurück, der Präsident des Bundesrates war, dann wird der Nachfolger als Regierungschef auch Nachfolger als Präsident des Bundesrats. Das eine Jahr dauernde Amt des Präsidenten ist an das Land, nicht an eine Person gebunden23 • Das Präsidentenamt wird im übrigen in der Reihe nach der Bevölkerungsstärke der Länder besetzt, so daß jedes Land alle 16 Jahre für ein Jahr den Präsidenten stellt. 24 2. Die Regel, daß nur Regierungsmitglieder die Länder im Bundesrat vertreten, wird in der Praxis derart gehandhabt, daß jede Landesregierung entsprechend der Zahl der dem Land zustehenden Stimmen Personen benennt25 . Alle übrigen Regierungsmitglieder werden zu Stellvertretern bestellt. Es reicht aus, daß ein Vertreter anwesend ist, der bei Abstimmungen die dem Land zukommenden Stimmen abgibt26 • Während im Völkerrecht wegen der souveränen Gleichheit der Staaten der Satz gilt "one state, one vote", gibt es bei internationalen Organisationen davon Ausnahmen, so daß eine Stimmenwägung möglich ist. Im Deutschen Bund war die Stimmverteilung so geregelt, daß II Staaten jeweils eine Stimme hatten und auf die restlichen 31 Staaten 6 Stimmen entfielen, so daß die Gesamtstimmenzahl 17 betrug. Bei bestimmten wichtigen Entscheidungen gab es ein anderes Stimmenverteilungssystem: Das Kaiserreich Österreich und die fünf Königreiche erhielten je 4 Stimmen, 5 Staaten je 3, 3 Staaten je 2, 24 jeweils eine Stimme und die 3 Staaten der jüngeren Linie des Hauses Reuss gemeinsam eine Stimme. Zusammen waren es 69 Stimmen27 . An diesem letzteren System orientierte sich Bismarck für den Bundesrat des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches, wobei Preußen 17 Stimmen erhielt, nämlich neben seinen 4 Stimmen in der Bundesversammlung des DeutJ. Jekewitz, in: AK-GG (Fn. 7), Art. 52, Rn. 2. Auf der Grundlage des Königssteiner Abkommens der Ministerpräsidenten vom 30.8.1950, Inhalt und Schilderung der Handhabung bei K. Reuter (Fn. 6), § 5 GO BRat, Rn. 7 ff. 25 Th. Maunz/R. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 51 , Rn. 10. 26 K. Stern (Fn. 1), § 27 II1 2 a (S. 137). 27 Art. IV bzw. VI der Bundesakte. 23
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sehen Bundes noch die 4 Stimmen von Hannover, die je 3 von Kurhessen und Holstein, die beiden von Nassau und die Stimme Frankfurts, was so ausdrücklich in die Verfassung hineingeschrieben wurde. Bayerns Stimmenanteil wurde von 4 auf 6 erhöhr8 • Zusammen waren es 58 Stimmen, nach der Anerkennung von Elsaß-Lothringen als Bundesland im Jahre 1911 61 Stimmen29 . Demgegenüber gibt es eine Stimmenwägung im amerikanischen Senat und im schweizerischen Ständerat nicht. Im Senat ist jeder Gliedstaat unabhängig von seiner Größe mit zwei Senatoren vertreten, im Ständerat verfügt jeder Kanton über 2, jeder Halbkanton über eine Stimme. Das föderalistische Prinzip der Gleichheit der Staaten wird in den USA und der Schweiz bei der föderalistischen Kammer konsequent beachtet. Die Stimmenwägung des fiüheren Bundesrats ist auch für den jetzigen Bundesrat übernommen worden. Jedes Land hat mindestens 3 Stimmen, Länder mit mehr als 2 Millionen Einwohnern haben 4, Länder mit mehr als 6 Millionen Einwohnern 5 Stimmen. Mit dem Einigungsvertrag hat sich dann eine Änderung ergeben: Länder mit mehr als 7 Millionen Einwohnern haben nunmehr 6 Stimmen. Daß es filr Länder zwischen 2 und 6 Millionen Einwohnern nur eine Stimme, über 6 Millionen Einwohner 2 Stimmen, aber schon über 7 Millionen 3 Stimmen mehr gibt, ist logisch nicht nachvollziehbar, sondern erklärt sich daraus, daß man den bevölkerungsstarken westdeutschen Ländern Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen die 6. Stimme gab, um die Zweidrittel-Mehrheit der westdeutschen Länder zu sichern30 • Von den 69 Stimmen entfallen derzeit jeweils 3 auf 4 Länder, 4 auf 7 Länder, 5 auf das Land Hesen und 6 auf die genannten 4 großen Länder. Die im Grundgesetz fixierte Regel über die Stimmverteilung gilt aber nur fiir das Plenum und die Europakammer des Bundesrats, die seit 1987 besteht und durch die Verfassungsänderung vom Dezember 1992 in Art. 52 Abs. 3a GG verankert wurde. In den Ausschüssen und Unterausschüssen gilt die Stimmenwägung nicht, sondern das Prinzip des "one state, one vote"31 • III. Aufgaben und Kompetenzen
Dem Bundesrat sind zusammenhängend im IV. Abschnitt des Grundgesetzes ganze vier Artikel gewidmet. Seine Funktion wird in Art. 50 kurz und bündig beschrieben: Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Art. 6, Urtext und Änderungen abgedruckt bei G. Dürig!W. Rudolf(Fn. 8), S. 157. G. Dürig!E.R. Huber, (Fn. 12), S. 855. 30 W. Rudolf(Fn. 8), S. 157 f.; I. v. Münch, Deutschland: gestern- heute- morgen, NJW 1991, S. 865 (870); H.-J. Blanke, Der Bundesrat im Verfassungsgeftlge des Grundgesetzes, Jura 1995, S. 57 (59). 31 § 42 Abs. 2 GO BRat. 28
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Funktion und Stellung des Bundesrates
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Die seit 1987 existierende Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften ist erst vor filnf Jahren durch die Verfassungsänderung vom 21. Dezember 1992 im Grundgesetz verankert worden32 • Ob Art. 50 GG nur eine zusammenfassende Beschreibung der Aufgaben des Bundesrats enthält, oder aber Kompetenzen zuweist, kann auch seit der Verfassungsänderung vom Dezember 1992 nicht dahinstehen, als die Kompetenzen des Bundesrats in europäischen Angelegenheiten in das Grundgesetz eingestellt wurden. Es gibt neben den im Grundgesetz ausdrücklich normierten noch weitere Kompetenzen des Bundesrats aufgrund von (einfachen) Bundesgesetzen33 • Vor der Verfassungsänderung von 1992 hat man auch die Beteiligung des Bundesrats bei der Normsetzung der Europäischen Gemeinschaften auf Art. 50 GG gestützt, da es Art. 23 GG neuer Fassung noch nicht gab. Art. 50 GG ist auch Kompetenznorm34. I. Die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes ist in Wirklichkeit eine Mitbestimmung, wie sich aus den zahlreichen den Bundesrat betreffenden Einzelbestimmungen des Grundgesetzes ergibt. Dem Bundesrat steht bei der Gesetzgebung ein Initiativrecht zu, d.h. er kann Gesetze einbringen. Die Zahl der vom Bundesrat eingebrachten Gesetzesvorschläge ist freilich nicht groß, hat aber im Laufe der Zeit zugenommen und liegt jetzt etwa - grob geschätzt - bei einem Fünftel der von der Bundesregierung und bei einem Drittel der vom Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe35 . Die vom Bundesrat beschlossenen Entwürfe werden dem Bundestag über die Bundesregierung zugeleitet. Umgekehrt laufen Gesetzentwürfe der Bundesregierung über den Bundesrat an den Bundestag, d.h. dem Bundesrat wird in einem ersten Durchgang die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben, bevor der Entwurf den Bundestag erreicht. Die Stellungnahme des Bundesrats ist dem Bundestag mit dem Regierungsentwurf zuzuleiten36. Dadurch kann der Bundestag die künftige Haltung des Bundesrats im weiteren Gesetzgebungsverfahren bereits abschätzen37. Im Gesetzgebungsverfahren ist bekanntlich zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen zu unterscheiden. Bei sog. Einspruchsgesetzen kann der Bundesrat dem Gesetzesbeschluß des Bundestages widersprechen. Das vom Bundestag eingelegte Veto ist aber nur suspensiv; denn der Bundestag kann es mit der Mehrheit seiner Stimmen ausräumen, was die Regel ist. Kommt eine absolute Mehrheit im Bundestag nicht zustande, ist das Gesetz am fehlenden Einspruch des Bundesrats gescheitert. B. Pieroth, in: H. D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl., München 1997, Art. 50, Rn. 5. BVerfGE I, 299 (311). 34 Vgl. D. Blumenwitz, in: BoKo (Fn. 20), Art. SO, Rn. 17; anders Th. MaunlfR. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 50, Rn. 12. 35 Statistische Angaben bei W. Krebs, in: v. Münch!Kunig (Fn. 22), nach Art. SO 2.1. (S. 881). 36 NäherE. Schmidt-Jortzig/M. Schünnann, in: BoKo (Fn. 20), Art. 76, Rn. 260 f. 37 K. Reuter (Fn. 6), Art. SO GG, Rn. 148. 32 33
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In den im Grundgesetz einzeln aufgefiihrten Fällen der Zustimmung zu einem Gesetz ist die fehlende Zustimmung nicht zu heilen. Das Gesetz kommt nicht zustande. Der Bundesrat hat insoweit die Stellung wie eine echte "zweite Kammer"38. Der Katalog der Zustimmungsgesetze ist lang: Insgesamt nennt das Grundgesetz 42 Fälle, in denen eine Zustimmung des Bundesrats zu einem Gesetz notwendig ist, darunter die verfassungsändernden Gesetze. In der Verfassungswirklichkeit war zunächst die Mehrzahl der Gesetze zustimmungsbedürftig, weil sich die Zustimmung nicht nur auf solche Teile des Gesetzes bezog, die nach der Verfassung zustimmungsbedürftig sind, sondern sich auf das gesamte Gesetz erstreckte, also auch auf dessen nicht zustimmungsbedürftige Teile39. Der Bundesrat, so wurde argumentiert, habe für das Gesetz als Ganzes die Verantwortung übernommen, so daß auch jede kleine an sich nicht zustimmungsbedürftige Änderung seiner Zustimmung bedarf. Einfallstor für die Zustimmungsbedürftigkeit war vor allem Art. 84 Abs. 1 GG, wonach Bundesgesetze, die die Errichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, zustimmungsbedürftig sind mit der Folge, daß jede kleine Änderung eines solchen Gesetzes, auch wenn sie die Errichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren gar nicht betraf, als zustimmungsbedürftig angesehen wurde40 • Diese Praxis mußte nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgegeben werden41 . Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen wiederholt befaßt hat, ist auch jetzt eine Zustimmung zum Änderungsgesetz nicht nur dann zwingend, wenn solche Teile eines Gesetzes geändert werden, die die Zustimmungspflicht ausgelöst hatten, sondern auch bei Regelungen, die nicht ausdrücklich zustimmungsbedürftig sind, aber in ihrer Bedeutung und Tragweite solche an sich nicht zustimmungsbedürftigen Bestimmungen wesentlich betreffen42. Diese Rechtsprechung hat bewirkt, daß inzwischen die Zahl der Zustimmungsgesetze wiederum größer ist als die der Einspruchsgesetze43 . Besonders in einer politischen Situation wie der gegenwärtigen, in der die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und im Bundesrat unterschiedlich sind, ist das Recht des Bundesrats auf Einberufung des Vermittlungsausschusses - einer dem amerikanischen Verfassungsrecht nachgebildeten Einrichtung des Grundgesetzes- von erheblicher Bedeutung44 • Im Vermittlungsausschuß sind Bundesrat und Bundestag mit derselben Anzahl von Mitgliedern, also paritätisch ver38
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J. Lücke, in: Sachs (Fn. 20), Art. 77, Rn.2. BVerfGE 8, 274 (294 f.).
40 So die Auffassung des Bundesrates im Verfahren BVerfGE 24, 184 (189), in dem das Bundesverfassungsgericht die Frage offen ließ (ebd. S. 198); vgl. B.-0. Bryde, in: I. v. MOnch/Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 3. Autl., MOnehen 1996, Art. 77, Rn. 21 f. m.w.N. •• BVerfGE 37, 363 (381 f.). • 2 BVerfGE 37, 363 (381 f.); 39, I (33); 48, 127 (178); auch BVerfGE 28, 36 (43 f.). • 3 J. Lücke, in: Sachs (Fn. 20), Art. 77, Rn. 15 . .. H.H. Klein (Fn. 10), S. 363 ff.; D. Posser (Fn. 6), § 24, Rn. 101.
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treten, der Bundesrat durch je einen Vertreter jedes Landes. Gerade in Zeiten unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse gewinnt der Vermittlungsausschuß an Bedeutung und politischem Gewicht; denn er formuliert die Kompromisse, die Gesetz werden sollen45 . Die im Vermittlungsverfahren nicht weisungsgebundenen Bundesratsvertreter nehmen gerade in den politisch umstrittenen Fällen der Gesetzgebung einen dem Bundestag gleichberechtigten Einfluß auf den Inhalt der Gesetze. Das politische Gewicht des Bundesrates wird durch die Möglichkeit des Vermittlungsverfahrens erhöht46. Im Falle des Gesetzgebungsnotstands wird der Bundesrat zum Ersatzgesetzgeber47. 2. Im Bereich der Verwaltung des Bundes und bei der Regelung des Vollzugs von Bundesgesetzen durch die Länder ist die Bundesregierung weitgehend auf die Zustimmung des Bundesrats angewiesen. Der Bundesrat wirkt vor allem mit beim Erlaß von Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften. Auf der Tagesordnung des Bundesrats sind diese Mitwirkungsrechte im Verwaltungshereich dem Umfang nach jeweils umfangreicher als die bei der Gesetzgebung. Dazu kommen u.a. Kompetenzen in Notstandsflillen und die Notwendigkeit der Zustimmung zu Maßnahmen des Bundeszwangs. Die zahlreichen Bestimmungen des Grundgesetzes über Mitwirkungsrechte des Bundesrats lassen erkennen, daß die Bundesregierung des Bundesrats als Partner bedarf, um im Exekutivbereich funktionsflihig zu sein. Das wird besonders deutlich im Falle des Bundeszwangs und bei überregionalen Katastrophen48 • Dem entspricht, daß der Bundesrat gegenüber der Bundesregierung ein Zitierungsrecht und ein Informationsrecht zur Führung der Regierun~sgeschäfte und zu laufenden Angelegenheiten der Europäischen Union besitzt4 • Entsprechend hat die Bundesregierung das Recht, an Sitzungen des Bundesrats nicht nur im Plenum, sondern auch in den Ausschüssen und Unterausschüssen anwesend zu sein5°. Die eigentliche Arbeit im Verwaltungsbereich vollzieht sich wie im Gesetzgebungsbereich in den Ausschüssen und ggf. Unterausschüssen. Hier, wie auch schon bei der Vorbereitung von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften dominiert das Element der Ministerialbürokratie. Hier werden
s K. Stern (Fn. 1), § 26 IV 2 k (S. 100). Vgl. F.K. Fromme, Die Macht des Bundesrates, in: Die Politische Meinung 335 (Oktober 1997), s. 5 (10 f.). 47 R. Herzog, in: MDHS (Fn. 19), Art. 81, Rn. 64 ff. 4
46
R. Herzog, Aufgaben des Bundesrates, in: Isensee/Kirchhof (Fn.22), § 45, Rn. 22 ff. K. Stern (Fn. 1), § 27 IV 6 b (S. 154); vgl. schon A. SchUle, Die Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat, in: Festschrift fur Carl Bilfinger, Köln, Berlin 1954, S. 441 (453 f.). 50 J. Jekewitz, in: AK-GG (Fn. 7), Art. 53, Rn. 2. 48
49
2•
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Sachverstand und Erfahrungen der Verwaltung, der Länder und des Bundes eingebracht, während das politische Element eher zurücktritt51 • 3. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 wirkt der Bundesrat auch bei Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften mit, soweit er an entsprechenden innerstaatlichen Maßnahmen mitzuwirken hätte, soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären und soweit in einem Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebung Interessen der Länder berührt sind52 . Die Einbindung des Bundesrats in die Nonnsetzung der Europäischen Gemeinschaften war zunächst höchst umstritten5 3 . Durch die Verfassungsänderung vom Dezember 1992 ist diese Kompetenz des Bundesrats nunmehr im Grundgesetz festgeschrieben 54 • Im Gegensatz zum Bund, der stets davon ausging, daß die auf die EG übertragenen Länderkompetenzen innerstaatlich restlos verloren sind und damit die Länder über keine Mitwirkungsrechte mehr verfugen, vertraten die Länder die Auffassung, daß die innerstaatliche Kompetenzverteilung in bezug auf die den Europäischen Gemeinschaften übertragenen Hoheitsrechte keinesfalls obsolet geworden sind. Ein 1957 im Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen festgelegtes Infonnationsrecht zugunsten des Bundesrates genügte ihnen nicht. Sie wollten ein Mitspracherecht ähnlich dem bei völkerrechtlichen Verträgen des Bundes über Gegenstände der Landesgesetzgebung. Erreicht wurde eine mit ihnen abgestimmte einseitige Erklärung des Bundeskanzlers 1979 über die Beteiligung bei Vorhaben der EG. Dazu vereinbarten die Länder untereinander ein dreiphasiges Infonnations- und Beteiligungsverfahren, in das auch der Bund einbezogen wurde55 . Das damals vereinbarte Verfahren hat sich als zu schwerfällig erwiesen und insgesamt überhaupt nicht bewährt56• Deshalb gaben die Länder ihre ursprüngliche Haltung auf und einigten sich mit dem Bund anläßtich des Zustimmungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 auf ein Mitwirkungsverfahren durch den Bundesrat, also durch ein Bundesorgan57• Die Zustimmung zu diesem Verfahren implis• R. Herzog, Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesstaat, in· lsensee/Kirchhof (Fn. 22), § 44, Rn. 43 ff. sz Vgl. nunmehr Art. 23 Abs. 2, 4 bis 6 GG; siehe auch BVerfGE 92, 203 (232 ff.). sJ W. Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: J. lsensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts IV, Heidelberg 1990, § 105, Rn. 66 ff. ,.. Dazu W. Rudolf, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 199511, München 1995, S. 115 (120); ders., Die Mitwirkung der Ulnder bei der Willensbildung in Europa, in: D. Dörr/M. Dreher, Europa als Rechtsgemeinschaft, Baden-Baden 1997, S. 33 (40). ss Näher W. Rudolf, Mitwirkung der Landtage bei völkerrechtlichen Verträgen und bei der EGRechtsetzung, in: Festschrift ftlr Karl Carstens, Köln u.a. 1984, S. 757 (769 f.); W. Rudolf, Die deutschen Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in: Festschrift ftlr Karl JosefPartsch, Berlin 1989, S. 357 (359 ff.). S6 W. Rudolf, Festschrift Partsch (Fn. 55), S. 360. " Vereinbarung vom 17. Dezember 1987 zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Ulnder Ober die Unterrichtung und Beteiligung des Bundesrates und der Ulnder bei Vorhaben
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zierte, daß die Länder die von ihnen bis dahin bestrittene umfassende "Integrationskompetenz" des Bundes anerkannten. Eine Angelegenheit, welche die Länder bisher im Wege des kooperativen Föderalismus im Wege der Einstimmigkeit nicht in den Griff bekommen konnten, wurde nun als Bundesangelegenheit akzeptiert mit der Folge, daß der Bundesrat die Länderinteressen gegenüber der Bundesregierung und teilweise auch schon in Brüssel artikulierte. Nach der Stimmverteilung im Bundesrat können allerdings 9 Länder überstimmt werden. Trotzdem hat sich das Verfahren als effizient erwiesen und brachte den Landesregierungen tatsächlich einen Zuwachs an politischem Einfluß. Auch die Europakammer des Bundesrats war bereits 1987 errichtet worden; sie nimmt praktisch Aufgaben des Plenums wah~8 . Diese Kammer war notwendig wegen der Eilbedürftigkeit vieler EG-Sachen, die bei der etwa einmal monatlich stattfindenden Routinesitzung des Plenums nicht rechtzeitig erledigt werden konnten59. Daneben blieben Elemente des kooperativen Föderalismus bestehen60. Aufgrund des Zustimmungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte wurde im Dezember 1987 noch eine Bund-Länder-Vereinbarung getroffen. Art. 23 Abs. 7 GG hat nunmehr das Nähere einem Bundesgesetz überlassen, das der Zustimmung des Bundesrats bedarf, nämlich dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in den Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993, dem EUZBLG61 • Eine neue Bund-Länder-Vereinbarung ist anstelle der von 1987 getreten62 , so daß es insoweit bei dem Gemenge von Bundeskompetenz, wahrgenommen durch den Bundesrat, und kooperativem Föderalismus bleibt. Dieses 1987 eingefiihrte und 1993 verfassungsrechtlich sanktionierte Verfahren hat sich schon kurz nach seiner Etablierung nach Meinung des damaligen Bundesratspräsidenten bewährt63 • Bereits 1986 war gesetzlich geregelt worden, daß die Länder in Gremien der EGalsTeil der deutschen Verhandlungsdelegation mitwirken könnten. Danach hatten die Länder unbeschadet bereits bestehender Regelungen die Möglichkeit, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften in Ausfilhrung von Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Dezember 1986 zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1986, Text bei S. SchmidtMeinecke, Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, 2. Aufl., Speyer 1988, S. 98 ff.; zu Art. 2 EEAG BVc:rfGE 92, 203 (233 f.). ss Vgl. B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Fn. 32), Art. 52, Rn. 3a; H.-J. Blanke (Fn. 30), Jura 1995, S. 64.
s9 W. Krebs, in: v. MUnch!Kunig (Fn. 22), Art. 52, Rn. 10. Zum kooperativen Föderalismus W. Rudolf(Fn. 53), § 105, Rn. 17 und passim; vgl. auch Ch. Calliess, Die Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund von kooperativem und kompetitiven Föderalismus, in: J. Aulehner u.a. (Hrsg.), Förderatismus-Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, Stuttgart u.a. 1997, S. 293 (294 ff.). 61 BGB1.1313. 62 Vereinbarung zwischen Bund und Ländern über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 29.10.1993, BAnz 1993, Nr. 226, S. 10425. 63 W. Rudolf(Fn. 55), S. 369. 60
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über den Bundesrat Vertreter zu den Verhandlungen der Beratungsgremien der Kommission und des Rates zu benennen. Im einzelnen ist das Verfahren der Hinzuziehung von Ländervertretern in der bereits genannten Bund-Länder-Vereinbarung vom Dezember 1987 geregelt worden64 • Bei ausschließlichen Landesgesetzgebungsmaterien sollten zwei Ländervertreter bei Ratstagungen hinzugezogen werden, soweit die Bundesregierung dies in Brüssel durchsetzen konnte. Jeweils ein Vertreter eines SPD-geflihrten und eines CDU/CSU-gefiihrten Landes sollte am Verhandlungstisch der EG Platz nehmen können. § 4 Abs. 1 EUZBLG sieht nun vor, daß soweit der Bundesrat an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte, oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären, die Bundesregierung vom Bundesrat benannte Vertreter der Länder an Beratungen zur Festlegung der Verhandlungsposition zu dem Vorhaben beteiligt. Bei einem Vorhaben, das im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betrifft, soll die Bundesregierung die Verhandlungsfiihrung in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates und bei Ratssitzungen in der Zusammensetzung der Minister auf einen Vertreter der Länder übertragen. Für diese Ratssitzungen kann der Bundesrat nur ein Mitglied einer Landesregierung im Ministerrang benennen. Art. 146 Abs. 1 EGV ist dementsprechend geändert worden, so daß auch nach EG-Recht Landesminister fiir die Mitgliedstaaten vertretungsbefugt sind65 • 4. Im Bereich der Rechtspflege hat der Bundesrat nach dem Grundgesetz Antragsbefugnisse im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - nicht nur bei Bundesorganstreitigkeiten, sondern auch bei der Präsidentenanklage und nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz auch bei der Verfassungswidrigkeit von Parteien. Dazu kommen Beteiligungsrechte in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nach dem Bundesverfassungsgerichtsgeseti6 • Zu den weiteren Kompetenzen insoweit gehört auch die, die Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts zu wählen. Ebenso ist einfachgesetzlich die Zustimmung des Bundesrats zur Ernennung des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte geregelt67• 5. Betrachtet man Aufgaben und Kompetenzen des Bundesrats insgesamt, dann ist festzustellen, daß sie im Gesamtkomplex bundesstaatlicher Zuständigkeiten beachtlich sind. Die Länder - das sind die im Bundesrat vertretenen Landesregierungen - wirken nicht nur in Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in europäischen Angelegenheiten mit, sondern sind in der Gesetzgebung, aber auch weitgehend in der Verwaltung des Bundes mitbestimmend. Siehe Fn. 57. Zu Art. 23 Abs. 6 GG R. Streinz, in: Sachs (Fn. 20), Art. 23, Rn. 113 ff.; 0 . Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Fn. 22), Art. 23, Rn. 73 ff. m.w.N.; Bedenken gegen Art. 23 GG bei R. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 (428) m.w.N. 66 E. Benda/E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Heidelberg 1991, Rn. 932, 998 ff. 67 § 149 GVG; K. Reuter (Fn. 6), Art. 50 GG, Rn. 245 ff. 64 65
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Gegen die Mehrheit des Bundesrats ist Bundesgesetzgebung und -Verwaltung nur begrenzt möglich. I V. Verfahren
Der Bundesrat ist nach dem Grundgesetz in das Gesetzgebungsverfahren durch Initiativrecht, ersten Durchgang und Einspruch bzw. Zustimmung und eventuell durch den Verrnittlungsausschuß, in das Verfahren bei Verwaltungsund bei europäischen Angelegenheiten wegen des Zustimmungserfordernisses eingebunden. Das eigentliche Beschlußverfahren im Plenum ist zügig. Der Bundesrat tagt etwa zehn bis zwölf Mal jährlich jeweils an einem Freitagvorrnittag. In der verhältnismäßig kurz bemessenen Sitzung wird ein beachtliches Pensum bewältigt, so daß ein Teil der Zeit auf Abstimmungen entfällt, die in zum Teil rasender Geschwindigkeit durchgefuhrt werden. Da die Masse der Vorlagen einstimmig beschlossen wird68 , konzentriert sich eine Diskussion meist nur auf kontroverse Fragen. Auch insoweit können sich manchmal nicht alle Länder artikulieren, weil die Tagesordnung sonst zeitlich nicht zu bewältigen wäre: nicht gehaltene Reden können im Anhang zum Sitzungsprotokoll nachgelesen werden. Die Vorbereitung der Sitzungen des Plenums liegt nur zu einem geringen Teil beim Präsidium und der Bundesratsverwaltung. Sie geschieht hauptsächlich durch die Ministerialbürokratien der Länder, die sich in Ausschüssen und ggf. Unterausschüssen des Bundesrats und im Wege des kooperativen Föderalismus durch horizontale und im Verhältnis Land-Bund auch vertikale Fachbruderschaften verständigt und darauf einigt, was einvernehmlich erledigt wird und was kontrovers im Ausschuß und dann im Plenum zu behandeln ist69 • In den Unterausschüssen treten politische Vorgaben zurück; hier ist der Sachverstand der Experten der Länder und des Bundes gefragt. Aus eigener Anschauung kann ich berichten, daß im Justizbereich schon bei der Vorbereitung von Bundesgesetzen die Auffassung eines Landes zu einer Angelegenheit differenziert präsentiert wird: Als Diskussionsmaterial fur den Unterausschuß, meist sogar schon vorher fur das federfUhrende Bundesministerium, werden nicht nur zustimmende, sondern auch ablehnende und kontroverse Meinungen der Praxis der Gerichte und Staatsanwaltschaften vorgelegt. In einem Unterausschuß wurde der Vertreter eines Landes von dem eines anderen darauf hingewiesen, 68 In seiner Antrittsrede als Präsident des Bundesrates am 7.ll.l997 erläuterte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder, daß seit 1990 von mehr als 800 Gesetzen nur etwa ftlnf Prozent an der fehlenden Zustimmung des Bundesrates gescheitert seien; F.K. Fromme (Fn. 46), S. II gibt an, daß von 1990 bis Juli 1996 der Bundesrat 27mal die Zustimmung nicht erteilt hat. 69 Zu den Ausschüssen W. Krebs, in: v. MUnch!K.unig (Fn. 22), Art. 52, Rn. 14 ff.; R. Herzog (Fn. 22), § 46, Rn. 15 ff.; D. Posser (Fn. 6), § 24, Rn. 79 f.
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daß er eine Auffassung vertrete, die im Widerspruch zu dem stehe, was sein Land seit Jahrzehnten vertrete, worauf die Antwort war: "Ich spreche hier als Fachmann."- So kann der geballte Sachverstand der von der Verwaltung an der Front informierten Beamten der Länder fiir die Entscheidung genutzt werden. Bei ideologisch fixierten und politisch kontroversen Fragen wird schon im Ausschuß, meist sogar schon im Unterausschuß entsprechend den erteilten Weisungen der "Häuser" der Beamten diskutiert und abgestimmt. Die meisten Tagesordnungspunkte werden einvernehmlich erledigt. Für die entscheidende Abstimmung im Plenum werden die Vertreter der Länder durch ihre Landesregierungen vorbereitet und angewiesen. Die Abstimmung der beim Bundesrat vertretenen Mitglieder der Landesregierungen kann zwar im Landesparlament zum Gegenstand der Kritik gemacht werden, doch sind Weisungen des Landesparlaments hinsichtlich der Abstimmung unzulässig, was allein schon deshalb notwendig ist, damit die Vertreter der Landesregierung Spielraum haben, um Kompromisse eingehen zu können 70• Das schließt nicht aus, daß politische Folgen an eine aus der Sicht des Landesparlaments falsche Abstimmung geknüpft werden können. Loyalitätsprobleme können vor allem bei Koalitionsregierungen der Länder entstehen. Zum Stil der Verhandlungen ist zu bemerken, daß in den Ausschüssen und Unterausschüssen das sachliche Klima von Ressortbesprechungen herrscht und auch im Plenum keine Parlamentsatmosphäre entsteht: Politische Konflikte werden mit den diversen Mitteln der Rhetorik ohne Polemik ausgetragen. Das Klima ist gekennzeichnet durch sachbezogene Debatten. Laute Töne sind verpöne 1•
V. Verhältnis zu anderen obersten Bundesorganen Die Stellung des Bundesrats im Gesamtgefiige der politischen obersten Bundesorgane ist dadurch gekennzeichnet, daß er sowohl im Gesetzgebungs- als auch im Verwaltungsbereich Kompetenzen besitzt, die er wahrnimmt, ja in der Regel voll ausschöpft. 1. Im Verhältnis zum Bundestag ist er eine Art "zweite Kammer" mit meist überwindbarem Vetorecht bei Einspruchsgesetzen und nur durch ein Vermittlungsverfahren zu vermeidendem absolutem Vetorecht bei Zustimmungsgesetzen72. Durch den ersten Durchgang wird der Bundestag auf die mögliche Abstimmungssituation im Bundesrat vorbereitet. Das eigentliche Einspruchsbzw. Zustimmungsverfahren kann filr die Bundestagsmehrheit enttäuschend sein. Gleichwohl muß, wenn auch das Vermittlungsverfahren scheitert, der 70 71
72
Tb. Maunz/R. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 51, Rn. 18. D. Posser (Fn. 6), § 24, Rn. 85; R. Herzog (Fn. 22), § 44, Rn. 48. J. Kokott, in: BoKo (Fn.20), Art. 77, Rn. 2.
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Bundestag die Entscheidung des Bundesrats hinnehmen. Da die meisten Vorlagen aus der Bundesregierung kommen, ist im Falle der Ablehnung durch den Bundesrat sie die Hauptbetroffene. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundesrats gegenüber dem Bundestag sind gering73 • Er kann Beschlüsse des Bundestages akzeptieren oder verwerfen; er kann sie aber nur durch Artikulation im Plenum und den Ausschüssen des Bundestages und im Falle eines Vermittlungsverfahrens inhaltlich mitgestalten. Die Repräsentanten im Bundesrat haben ebenso wie die Mitglieder der Bundesregierung zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen dort jederzeit gehört werden74 • Nicht nur die Bundesexekutive, sondern auch die Länderexekutiven sollen die Möglichkeit haben, sich im Plenum und den Ausschüssen des Bundestages artikulieren zu können75 • Umgekehrt fehlt ein solches Recht fiir den Bundestag im Bundesrat. Abgeordnete sind dort auf die Zuschauertribüne verwiesen. 2. Das Verhältnis zum Bundespräsidenten ist unproblematisch, da Konflikte allenfalls dann auftreten können, wenn der Bundespräsident ein Gesetz ausfertigt und verkündet, das er in Übereinstimmung mit dem Bundestag als EiDspruchsgesetz qualifiziert, während der Bundesrat es fiir zustimmungsbedürftig hält. Der Bundesratspräsident ist Vertreter des Bundespräsidenten und kann im Vertretungsfall die Funktion des Bundespräsidenten vorübergehend wahrnehmen, also auch Gesetze ausfertigen und verkünden 76• 3. Besonders eng ist das Verhältnis zur Bundesregierung. Seide Organe sind aufeinander angewiesen, was im Grundgesetz besonders in Extremsituationen zum Ausdruck gebracht ist (Bundeszwang, überregionale Katastrophen, Gesetzgebungsnotstand), aber auch fiir Normalflille gilt. Die Zusammenarbeit zwischen dem Verwaltungsapparat der Bundesregierung und dem der Landesregierungen im Bundesrat und im System des kooperativen Föderalismus ist fiir das Funktionieren unseres Staates unerläßlich77• 4. Im Gegensatz zu den auf eine bestimmte Zeit gewählten anderen Trägem der politischen Willensbildung des Bundes ist der Bundesrat eine ständige Institution. Seine Mitglieder sind konstane8 • Änderungen gab es nur durch die Neugliederung im Südwesten 1951, als drei Länder erloschen und stattdessen Baden-Württemberg neues Mitglied wurde. 1957 trat das Saarland hinzu, 1990 die fiinf "neuen" Länder und Berlin als Vollmitglied. Die Vertreter der 73
K. Reuter (Fn. 6), Art. 50 GG, Rn. 144.
74
Art. 43 Abs. 2 GG; L.-A. Versteyl, in: v. Münch!Kunig (Fn. 22), Art. 43, Rn. 28. H.-P. Schneider, in: AK-GG (Fn. 7), Art. 43, Rn. 8.
7s
M. Nierhaus, in: Sachs (Fn. 20), Art. 57, Rn. 4. Vgl. K. Reuter (Fn. 6), Art. 50 GG, Rn. 185; W. Rudolf(Fn. 53),§ 105, Rn. 31, 37. 78 H. Maurer (Fn. 22), S. 619; G. Robbers, in: Sachs (Fn. 20), Art. 50, Rn. 14; Th. Maunz/R. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 51, Rn. 13. 76 77
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Mitglieder wechseln, die Mitglieder selbst aber bleiben. Es gibt keine Diskontinuität bei Vorlagen wie im Bundestag. Der Bundesrat ist insoweit wie weiland der immerwährende Reichstag in Regensburg eine ständige Einrichtung. Diese Konstanz, die weder Bundestag noch Bundespräsident noch die Bundesregierung trotz ihres unerläßlichen und recht festgefUgten Verwaltungsapparats aufzuweisen haben, ist es, die den Bundesrat so stabil erscheinen läßt. Weil der Bundesrat das einzige perennierende oberste Bundesorgan ist - mit einer kleinen effizienten Verwaltung -, ist er bei politischen Wechseln gleichsam der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Im Vergleich zur Bundesregierung und zum Bundestag sind seine Aktionsmöglichkeiten gering, seine Reaktionsmöglichkeiten aber erheblich. Deshalb ist auch das Interesse der Öffentlichkeit am Geschehen des Bundesrats normalerweise ungleich geringer als an Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident. Das ist auch deshalb verständlich, da die Vertreter der Landesregierungen im Bundesrat die leisen Töne lieben. Er rückt meist erst dann in das Blickfeld der Öffentlichkeit, wenn er Gesetze zu Fall bringt und ihm der Vorwurf der Blockadepolitik gemacht wird. VI. Einfluß aufdie Bundespolitik
1. Über den Bundesrat erlangen die Landesregierungen Einfluß auf die Bundespolitik. Da der Bundesrat aber keine aktiven Gestaltungsmöglichkeiten besitzt - von den geringen Möglichkeiten der Präsenz im Bundestagsplenum und seinen Ausschüssen und vom Falle des Vermittlungsausschusses abgesehen -, sondern meist reaktiv tätig wird, scheint dieser Einfluß nach der Verfassung eher marginal zu sein. Er ist es aber niche9 . Die eigentlichen Einflußnahmen fmden im Vorfeld der Plenarsitzungen statt, in Ausschüssen und Unterausschüssen und meist noch früher80 . Bei der Gesetzgebung sind die Einfluß- und Gestaltungsmöglichkeiten dann am größten, wenn der Bundesrat von seinem Initiativrecht Gebrauch macht, am geringsten bei Vorlagen aus dem Bundestag. Bei Gesetzentwürfen der Bundesregierung kann er im ersten Durchgang Stellung und insofern inhaltlich Einfluß auf die Beratungen im Bundestag nehmen. In allen Fällen ist die Bürokratie der Länder eingeschaltet, die ihren Regierungen die Gesetzesentwürfe und die Stellungnahmen zu Entwürfen der Bundesregierung fertigt. Bei politisch kontroversen Gegenständen unterliegen die beteiligten Beamten Weisungen der parlamentarisch verantwortlichen Minister, sonst sind sie weitgehend frei und können Sachverstand und Erfahrung der administrativen Front einbringen. Sie können sich dabei auch des Sachverstandes gesellschaftlicher Gruppen und Kräfte bedienen und tun das zunehmend häufiger. 79 80
H. v. Mangoldt/F. Klein (Fn. 22), Art. 50, Anm. II 3 a; K. Stern (Fn. I),§ 27 II 3 (S. 127). J. Jekewitz, in: AK-GG (Fn. 7), vor Art. 53, Rn. 6.
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In der Praxis sind bis zur Vorlage eines Regierungsentwurfs bzw. eines Entwurfs des Bundesrats die beteiligten Ressorts im Bund und in den Ländern mit der Angelegenheit eingehend befaßt, wobei sich die Meinungsbildung nicht allein in den Unterausschüssen und Ausschüssen des Bundesrats vollzieht, sondern auch schon vorher durch intensive Kooperation nach den mannigfaltigen Möglichkeiten des kooperativen Föderalismus. Die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern funktioniert deshalb, weil alle Beteiligten untereinander kooperieren und kooperieren müssen81 • Das Abstimmungsergebnis im Bundesrat - von den wenigen hochpolitischen Entscheidungen, die in den Zentralen der politischen Parteien vorweg getroffen werden - hängt weitgehend ab vom Resultat der Kooperation der mit der Angelegenheit befaßten sachverständigen Mitarbeiter in den Ministerien und der Frontverwaltung der Länder untereinander und mit ihren Counterparts in der Ministerialbürokratie des Bundes. Als gouvernemental besetztes Organ verfügt der Bundesrat nicht nur über den notwendigen Sachverstand in den Bürokratien der Länder, sondern ist auch auf ihn angewiesen. Für den Bundesstaat ist das insgesamt von Vorteil, da die Gesetzgebung auf Sachzwänge, Erfahrungen, aber auch auf regionale Besonderheiten Rücksicht nehmen kann und häufig muß. Dies sind Vorteile, die der amerikanische Senat wie alle gewählten zweiten Kammern nicht besitzen. Im Verwaltungsbereich ist der Einfluß der Bürokratien der Länder auf Entscheidungen des Bundesrates eher noch größer. Da die Länder die Masse der Bundesgesetze vollziehen, ist diese Einflußnahme im Ergebnis hilfreich und für den Ablauf einer funktionierenden Verwaltung nützlich und notwendig. Damit hier nicht der Eindruck entsteht, der Bundesrat sei letztlich ein Instrument gouvernemental-bürokratischer Cliquen in den Ländern im Zusammenwirken mit den Bürokraten des Bundes, ist darauf hinzuweisen, daß es sich bei aller Kooperation nur um die Vorbereitung der politischen Entscheidungsträger handelt. Eine Kamerilla gibt es nicht; denn es handelt sich um Personen des öffentlichen Dienstes, die rechtsstaatliehen Bindungen des Verfassungs- und Beamtenrechts unterworfen sind. Die Verantwortung für die Abstimmung im Bundesrat liegt bei den Landesregierungen und den von ihnen in den Bundesrat entsandten Ministern. Eine Alternative für die Vorbereitung der Entscheidungen im Bundesrat ist schwer vorstellbar, wenn man sie nicht den politischen Parteien überlassen will, die im Gegensatz zu den Angehörigen des öffentlichen Dienstes in keinem besonderen Treueverhältnis zum Staat stehen und nicht wie diese auf das Gemeinwohl fixiert sein sollen - und letztlich auch sind -, sondern Praktikularinteressen vertreten können. 2. Bei politisch kontroversen Fragen tritt der Einfluß der Bürokraten hinter dem der politischen Parteien ohnehin zurück. Hier fragt sich, ob und wie weit
81
K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 27.
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eine parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrats zulässig ist82 • Wenn Art. 50 GG den Bundesrat, also ein Bundesorgan, in dem die Länder - und zwar die Landesregierungen - an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken, beschreibt, dann ist klar zum Ausdruck gebracht, daß die Landesregierungen je nach ihrer parteipolitischen Couleur Landesinteressen auch unter parteipolitischen Aspekten zur Geltung bringen können und dürfen83 • Die Grenze zwischen parteipolitisch defmierten Landesinteressen und landesirrelevanten parteipolitischen Zielen im Bund als Ganzem ist theoretisch nur schwer eindeutig festzulegen und in der Praxis schon gar nicht klar zu ziehen. Es haben sich einige Usancen herausgebildet, an die man sich meist hält, daß z.B. dem Bundeshaushalt auch dann von Ländern mit von der Bundestagsopposition dominierten Landesregierungen zugestimmt wird, wenn die Bundestagsopposition ihn abgelehnt hat. Das Gleiche gilt in der Regel für völkerrechtliche Verträge. Wichtige Gesetze für die Regierungen und die sie tragenden Parteien im Bundestag sind aber im Bundesrat zu jeder Zeit abgelehnt worden, wobei offenkundig war, daß Motiv für die Ablehnung nicht landespolitische Interessen, sondern parteipolitische Loyalität im Bunde war84 . Daß der in einem solchen Falle erhobene Vorwurf der "Biockadepolitik" berechtigt ist, läßt sich nicht leugnen, ist aber verfassungsrechtlich gedeckt. Die Institution des Bundesrats deshalb insgesamt in Frage zu stellen, ist wenig hilfreich; denn ein (partei-) politisch zusammengesetzter Senat würde eher mehr als weniger "Blockadepolitik" betreiben. Auf ein föderalistisches Gesetzgebungsgremium ganz zu verzichten, verbietet Art. 79 Abs. 3 GG. Der Bundesrat ist auch als Organ, in dem die Länder durch ihre Regierungen mitwirken, kein föderatives Interessengremium, sondern nach der Verfassung eine gleichberechtigte politische lnstitution85 . Wenn man von föderativer Gewaltenteilung spricht, dann muß man dem Bundesrat auch das notwendige Maß an "Gewalt", also einen weiten politischen Spielraum zubilligen und belassen. Selbst wenn man die verfassungsrechtlichen Grenzen für eine gebotene Zurückhaltung des Bundesrats genau ziehen könnte und würde, wäre im Einzelfall doch schwer nachzuweisen, daß diese Grenzen überschritten sind. - Der Motivirrtum ist deshalb unbeachtlich, weil Motive meist nicht genau und restlos zu erforschen und zu beweisen sind. - Ein berechtigter oder unberechtigter Vorwurf der Blockadepolitik ist verfassungsrechtlich kaum 82 Dazu H. Maurer (Fn. 22), S. 634 f.; kritisch Th. MaunzJR. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 50, Rn.25. 83 H.H. Klein (Fn. 10), S. 358; K. Reuter (Fn. 6), Art. 50 GG, Rn. 86; 1. Jekewitz, in: AK-GG (Fn. 7), vor Art. 50, Rn. 10; vgl. D. Posser (Fn. 6), § 24, Rn. 108 ff. 84 K. Reuter (Fn. 6), Art. 50 GG, Rn. 88. 8s Vgl. R. Scholz, Landesparlamente und Bundesrat, in: Festschrift ftlr Karl Carstens, Köln u.a. 1984, S. 831 (8433); D. Blumenwitz, in: BoKo (Fn. 20), Ar. 50, Rn. 3.
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greifbar86 . Der von Wilhelm Hennis geschilderte Fall, daß der Abgeordnete Claus Arndt eine Rede des damaligen Ministerpräsidenten Helmut Kohl im Bundestag, in dem dieser sich selbst als Vertreter der CDU/CSU präsentierte, wegen Verfassungswidrigkeit aus dem Protokoll streichen lassen wollte, weil ein Ministerpräsident als Mitglied des Bundesrats nur für diesen und sein Land, nicht aber für eine Partei sprechen dürfe, ist nicht weiter verfolgt worden 87 • Daß die Zugehörigkeit zum Bundesrat Parteivorsitzenden das Entree zu Auftritten im Bundestag verschafft, ist hinzunehmen, da die Verfassung die Teilnahme des Bundesrats an Sitzungen des Bundestages - aus gutem Grund, wie ich meine ausdrücklich vorsieht. VII. Bewertung
Ist nach alledem, so muß man fragen, der Bundesrat im Gesamtgefüge der obersten Verfassungsorgane und im System unserer bundesstaatliehen Ordnung zu stark? Sollte man sein politisches Gewicht verringern, seine Kompetenzen beschneiden, seine Zusammensetzung ändern? Letzteres wäre sicher kontraproduktiv; denn ein Gremium gewählter Vertreter wäre mit Sicherheit stärker parteipolitisch orientiert als der aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehende Bundesrat. Die Fragen dürften zudem insgesamt keine praktische Relevanz haben, weil eine Kompetenzverschiebung zu Lasten des Bundesrates nur durch Verfassungsänderung möglich wäre, für die die Zweidrittel-Mehrheit im Bundesrat niemals zu erreichen sein wird. Ganz im Gegenteil: Die Kompetenzen des Bundesrates und der in ihm vertretenen Landesregierungen sind im letzten Jahrzehnt eher gestärkt worden. Um die Zustimmung zur Einheitlichen Europäischen Akte und zum Maastrichter Vertrag zu erhalten, mußten Bundesregierung und Bundestag Konzessionen an die Länder machen, die wegen der erforderlichen Zustimmung des Bundesrats am längeren Hebel saßen. Das Ergebnis war der umstrittene Art. 23 GG und schon 1986/87 entsprechende Regelungen minderen Ranges88 • Im Zusammenhang mit Art. 23 GG wird der Vorwurf erhoben, die Bundesrepublik sei außen- und europapolitisch durch die Mitwirkung des Bundesrats gegenüber den internationalen und den europäischen Partnern nicht mehr voll handlungsflihig89• Ich halte diesen Vorwurf filr unbegründet90• Im außenpolitischen Bereich ist die Bundesrepublik von Anfang an zur Zusammenarbeit mit 86
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ff.).
H.H. Klein (Fn. 10), S. 361 ff. W. Hennis, FAZ Nr. 225 vom 27.9.1997, S. 36, 2. Spalte. Zu Art. 23 GG R. Scholz, Grundgesetz und europäische Einigung, NJW 1992, S. 2593 (2598
19 R. Breuer (Fn. 65), NVwZ 1994, S. 428; M. Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgeftlges aufdem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, S. 589 (594). 90 0 . Rojahn, in: v. MUnch!Kunig (Fn. 22), Art. 50, Rn. 76; R. Streinz, in: Sachs (Fn. 20), Art. 23, Rn. 118.
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den Ländern gezwungen gewesen, soweit Gegenstände der Landesgesetzgebung betroffen waren. Diese Zusammenarbeit geschieht auf dem Wege des kooperativen Föderalismus; sie ist manchmal mühsam, weil das Plazet von 16 Ländern nicht immer schnell zu erreichen ist; sie hat sich aber eingespielt und läßt sich vor dem Hintergrund der durch das Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffenen Verfassungsrechtssituation auch nicht ändern91 • Eine Verfassungsänderung zugunsten des Bundes ist offensichtlich politisch nicht gewollt und praktisch auch nicht zu erreichen. In Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften ist die Mitwirkung der Länder über den Bundesrat aus ihrer ursprünglichen Sicht zwar systemwidrig, aber letztlich effizient und verfassungsrechtlich zu legitimieren mit der umfassenden "Integrationskompetenz" des Bundes und der Tatsache, daß der Bundesrat ein Bundesorgan ist und damit an der Ausübung dieser Kompetenz beteiligt werden darf. Daß die Länder auf Gebieten ihrer ausschließlichen Zuständigkeit ihre Auffassung durch den Bundesrat gegenüber der Bundesregierung artikulieren können und die Regierung diese Auffassungen in bestimmten Fällen zu berücksichtigen, in einigen sogar maßgeblich zu berücksichtigen hat, halte ich für legitim, zumal dem Bund die Kompetenz der Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung bleibt, so daß er im Konfliktsfalle letztlich die Kompetenzkompetenz besitzt. Auch daß vom Bundesrat benannte Personen in Gremien der Europäischen Gemeinschaften die Bundesrepublik vertreten, ist nicht zu beanstanden. Ein Rückfall in vorabsolutistische Zeiten liegt nicht vor, als neben dem Herzog von Württemberg auch die württembergischen Stände durch einen eigenen Gesandten am französischen Hof in Versailles vertreten waren. Die Zahl von EG-Gremien, in denen Deutschland durch Vertreter der Länder repräsentiert ist, hatte zwar schon die Grenze von 400 überschritten, sie ist aber inzwischen stark rückläufig. Die Länder übertreiben ihre Möglichkeiten nicht. Im übrigen ist es durchaus sinnvoll, sich in den Gremien der EG durch diejenigen vertreten zu lassen, die über den nötigen Sachverstand verfügen - und das ist in der Regel der Fall, wenn Ländervertreter in Brüssel auftreten in Angelegenheiten, die innerstaatlich die Länder betreffen. Am Rande sei vermerkt, daß es für eine hochausgebildete Verwaltungskultur spricht, daß das in Art. 23 GG geregelte Verfahren funktioniert. Der Bundesrat ist sicher ein Instrument eines gouvernementalen Föderalismus und in seiner Zusammensetzung eher dem Zentralorgan einer internationalen Organisation vergleichbar als einer zweiten Kammer eines Parlaments. Dadurch, daß dem Bund im Laufe von fast fünf Jahrzehnten zahlreiche neue Kompetenzen zu Lasten der Länder zugewachsen sind, ist auch der Einfluß des Bundesrats und damit der Länder auf die Bundespolitik quantitativ größer als am Anfang des Grundgesetzes. Der Kompensationsgedanke, der im unitarischen 91
BVerfGE 6, 309 (361 ff.).
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Bundesstaat und jetzt wieder bei der Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften bemüht wird, trägt m.E. die Kompetenzverlagerung nicht92 . Die eigentlichen Opfer des unitarischen Bundesstaates sind die Landesparlamente93. Demokratische Potenz und letztlich auch Staatsqualität der Länder ist verloren gegangen. Das ist zu bedauern, aber ohne Rückverlagerung von Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder nicht zu ändern. Hier stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation des Bundesrats. Diese Legitimation ist unzweifelhaft geringer als die der anderen obersten Bundesorgane; denn sie ist abgeleitet über mehrere Stufen94 . Ob man eine gleichwertige Legitimation dadurch begründen kann, daß der Bundesrat nach dem Wortlaut des Grundgesetzes im Falle des Gesetzgebungsnotstandes als Legitimationsreserve zur VerfUgung steht95, kann dahingestellt bleiben. Seine Legitimation erhält der Bundesrat auch nicht in erster Linie aus dem Demokratieprinzip, sondern aus dem Bundesstaatsgrundsatz als Ausdruck vertikaler Gewaltenteilung96• Angesichts der meist reaktiven Kompetenzen des Bundesrates reicht das aus; denn die demokratische Legitimation kann bei einem föderativen Bundesorgan schwächer ausgeprägt sein. Es genügt, wenn sie mittelbar vorhanden ist, und das ist beim Bundesrat der Fall.
92 Ebenso M. Schröder, Bundesstaatliche Erosionen im Prozeß der europäischen Integration, JöR 35 (1986), S. 83 (100 f.); H.-P. Donoth, Die Bundesländer in der Europäischen Union, Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 317 ff. ; W. Krebs, in:v. Münch/Kunig (Fn. 22), Art. 50, Rn. 17. 93 Näher W. Rudolf(Fn. 53),§ 105, Rn. 81; R. Scholz (Fn. 85), S. 832 ff.; s. schon W. Rudolf (Fn. 55), S. 771. 94 J. Jekewitz, in: AK-GG (Fn. 7), vor Art. 50, Rn. II; H. Maurer (Fn. 22), S. 636. •s R. Herzog, in: MDHS (Fn. 19), Art. 81, Rn. 64; ebenso D. Posser (Fn. 6), § 24, Rn. 46. 96 Th. MaumJR. Scholz, MDHS (Fn. 19), Art. 50, Rn. 8; G. Robbers, in: Sachs (Fn. 20), Art. 50, Rn. 15.
Christian Dästner DIE MITWIRKUNG DER LÄNDER BEI DEN ENTSCHEIDUNGEN ZUR WIEDERHERSTELLUNG DER EINHEIT DEUTSCHLANDS Vorbemerkung
Wenn ich mich zu dem Beitrag der Länder zur Wiederherstellung der deutschen Einheit äußere, so geschieht das auf Grund meiner beobachtenden Teilnahme an den Verhandlungen Uber den Einigungsvertrag vom 31. August 1990. Ich war im Jahre 1990 in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen als Leiter der Referatsgruppe "Recht und Verfassung" tätig. Da Nordrhein-Westfalen zu dieser Zeit den Vorsitz in der Ministerpräsidentenkonferenz innehatte und die Einbeziehung der Länder in die Verhandlungen mit der DDR auf der Ebene der Staats- und Senatskanzleien erfolgte, kam dem Land die Aufgabe der Länderkoordinierung zu. Die Federfilhrung hierfilr lag - mit Ausnahme der Frage der Finanzbeziehungen zwischen dem Bund, den Ländern und der DDR (diese wurden von den Finanzministerien betreut) - bei der von mir geleiteten Referatsgruppe. Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, in Begleitung des damaligen Chefs der nordrhein-westflilischen Staatskanzlei, Minister Wolfgang Clement, an den entscheidenden Verhandlungsrunden der beiden Vertragsdelegationen vom 3. bis 6. August 1990 in Ost-Berlin und vom 20. bis 24. August 1990 in Bonn und ferner an einer großen Zahl von Besprechungen auf Fachebene teilzunehmen. Daß sich aus meiner nicht distanzierten, sondern aktiv involvierten Beobachtung auch eine gewisse Subjektivität meiner Darstellung ergibt, wird Sie nicht überraschen. Um die Dynamik der Verhandlungen und den Anteil der Länder daran einzufangen, verzichte ich auf einen analytischen Ansatz und orientiere mich an dem, was ich aus dem tatsächlichen Ablauf wahrgenommen habe. Die verstrichene Zeit seit Herstellung der deutschen Einheit hat natUrlieh manche Erinnerungsspuren verwischt. Um so dankbarer bin ich dem Chef der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, Staatssekretär Rüdiger Frohn, und meinen ehemaligen Kollegen in DUsseldorf, daß sie mir die dort gefilhrten Akten zur Auffrischung meines Gedächtnisses wiedereröffnet haben. An einigen Stellen
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kann ich deshalb etwas genauer berichten, als ich es aus der bloßen Erinnerung könnte. I. Der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion
Die Beteiligung der Länder an den Verhandlungen über den Einigungsvertrag hatte eine Vorgeschichte, die in den Ländern das Mißtrauen hervorgerufen hatte, die Bundesregierung wolle den Einigungsprozeß ohne eine ernsthafte Einbeziehung der Länder vorantreiben. Die Ministerpräsidentenkonferenz hatte bereits bei ihrer Zusammenkunft am 21. Dezember 1989 in Bonn verlangt, daß die Länder "ihren verfassungsmäßigen Rechten entsprechend umfassend zu beteiligen" seien, - zwei Tage nach dem Zusammentreffen von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow in Dresden, bei dem Übereinstimmung über die Bildung einer Vertragsgemeinschaft zwischen den beiden deutschen Staaten erzielt worden war. Die Bundesregierung hatte am 7. Februar 1990 einen Kabinettsausschuß "Deutsche Einheit" gebildet und sechs Arbeitsgruppen eingerichtet. Dem Bundesfinanzminister war die Federfilhrung flir die Schaffung einer Währungsunion übertragen worden, die der DDR angeboten werden sollte. An dieser Entscheidung waren die Länder - verständlicherweise - nicht beteiligt gewesen. Aber auch die anschließenden Gespräche mit der DDR-Regierung fanden ohne Beteiligung oder auch nur Unterrichtung der Länder statt. Diese standen andererseits wegen des anhaltenden Übersiedlerstroms unter erheblichem Druck. Der Streit über die Beibehaltung des Aufnahmeverfahrens reichte bis weit in die CDU, zumal der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht auf Landtagswahlen zuging. In der Besprechung am 15. Februar 1990 mit den Regierungschefs der Länder erklärte Bundeskanzler Kohl die Absicht der Bundesregierung, die Länder über den Fortgang der Zusammenarbeit mit der DDR fortlaufend zu informieren und sie an den Verhandlungen "umfassend" zu beteiligen. Der erklärten Absicht folgten keine Taten. Zwei Tage nach der Volkskammerwahl vom 18. März hatte das Bundeskabinett den 1. Juli als Termin zur Einfilhrung der Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen, und noch immer verfUgten die Länder Gedenfalls die nicht von der Union regierten) über keine Informationen über den Verhandlungsstand, geschweige denn, daß sie an ihnen beteiligt wurden. Der Chef der Hamburger Senatskanzlei ließ auf diesem Hintergrund am 26. April 1990 anlaßlieh der Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramts mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder eine Notiz protokollieren, in der Harnburg das Verhalten der Bundesregierung als einen Verstoß gegen die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten bewertete.
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In der Tat war die Empörung in den Ländern darüber, daß sie den Entwurf ftir den Staatsvertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion schließlich erst einen Tag vor Aufnahme der förmlichen Vertragsverhandlungen erhalten hatten, immens. ln der von mir geftihrten Referatsgruppe in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen hatten wir deshalb bereits eine Expertise über die Aussichten eines Antrages an das Bundesverfassungsgericht zum Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen die Bundesregierung erstellt, mit dem diese zu einer Unterrichtung und Beteiligung der Länder gezwungen werden sollte. 1 Denn eines war doch klar: Es ging schon bei dem 1. Staatsvertrag längst nicht mehr allein um die Frage der Währungsunion, sondern um eine weitgehende Rechtsangleichung in den beiden deutschen Staaten und um substantielle Veränderungen im Staatsgeftige insgesamt, auch wenn die Frage der staatlichen Einheit selbst noch nicht auf der Tagesordnung stand. Vorrangig waren die Länder natürlich an einer politischen Lösung der Beteiligungsfrage im Einvernehmen mit dem Bund interessiert, und so hatte zur Vorbereitung der Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramts mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien am 26. April 1990 ein Dreier-Gespräch der Kanzlei-Chefs des Bundes und der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen stattgefunden. ln diesem Gespräch war den Ländern die Beteiligung von zwei Ländervertretern zugestanden worden, dies allerdings erst, "sobald die Gespräche auf politischer Ebene geftihrt würden". Diese Vereinbarung bestätigte der Chef des Bundeskanzleramts in einem Schreiben vom 8. Mai 1990, während andererseits die Länder, weil die Gespräche weiterhin intensiv auf der Fachebene ohne Länderbeteiligung geftihrt wurden, den Wunsch auf Zulassung von zumindest Länderbeobachtern zu diesen Gesprächen an den Bundesfinanzminister herangetragen hatten. Im Endeffekt kam eine echte Länderbeteiligung an der Ausgestaltung des ersten Staatsvertrages zu keinem Zeitpunkt zustande. Denn bereits am 16. Mai 1990 fand das - was die Finanzierungsfragen anging - entscheidende Gespräch des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder statt, in dem die Bildung des 115-Milliarden-Fonds "Deutsche Einheit" beschlossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt lag der vollständig ausgehandelte Vertragstext bereits vor2. Harnburg prüfte die Frage einer Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Ratifikationsgesetz und die Anwendbarkeit des Lindauer Abkommens (Einstimmigkeitsprinzip) auf den anstehenden Staatsvertrag. Der Entwurfstext wurde mir am 14. Mai 1990 um 19.00 Uhr bekannt. Er wies gegenüber den den Ländern vorliegenden früheren Fassungen, insbesondere gegenüber einer Entwurfsfassung vom 24. April, so zahlreiche Änderungen auf, daß eine zuverlässige Einschätzung seines Gehalts eine Einbeziehung der Fachressorts der Länder erfordert hätte; diese aber war, da bereits am 16. Mai das entscheidende Gespräch der Regierungschefs der Länder mit dem Bundeskanzler stattfinden sollte, völlig außerhalb jeder Vorstellung. Daß die Ländermitwirkung über den
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Ministerpräsident Rau und Erster Bürgermeister Voscherau rügten auch in diesem Gespräch ausdrücklich die mangelhafte Beteiligung der Länder an den Vertragsverhandlungen. Der Bundesrat faßte in seiner Sitzung am 22. Juni 1990 einen die fehlende Einbindung der Länder kritisierenden Beschluß, in dem er darüber hinaus eine angemessene Beteiligung der Länder an der weiteren Einigung einforderte. Ich schildere diese Vorgeschichte deshalb in dieser Breite, weil es entgegen der verklärenden Rückschau mancher Zeitgenossen - auch die Darstellung von Wolfgang Schäuble3 macht da keine Ausnahme- durchaus nicht so war, daß der Bund den Einigungsprozeß von Beginn unter Einbeziehung der Länder vorangetrieben hätte. Im Gegenteil: Der Bund mußte, was die Länderbeteiligung anging, wiederholt und mit Nachdruck zur Sicherstellung einer angemessenen Länderbeteiligung aufgefordert werden. Und wenn den alten Ländern im Zusammenhang gerade mit dem Fonds "Deutsche Einheit" vorgeworfen worden ist, sie hätten nur das Ziel verfolgt, ihr finanzielles Engagement - in der großen Stunde der Nation nur dem Krämergeist verhaftet - zu "deckeln", so kann ich aus der Erinnerung an die damalige Situation nur sagen: Wenn es so gewesen wäre, so hätten die Länder allen Anlaß zu Mißtrauen gehabt. Der Bund verhandelte hinter ihrem Rücken, und seine Einschätzung der finanziellen Kosten der Einheit war offensichtlich ergebnisorientiert. Daß die Erwartungen der Bundesregierung zur Kostenseite nicht realitätsnah waren, entsprach durchaus nicht allein der skeptischen Einschätzung des Kanzlerkandidaten der SPD, Ministerpräsident Oskar Lafontaine, sondern auch derjenigen des DDR-Finanzministers Walter Romberg, der der SPD angehörte, aber seinem Wesen nach ein der Parteipolitik eher fernstehender engagierter Wissenschaftler war. Daß Wa/ter Romberg sehr genau wußte, wovon er bei den Kosten der Einheit sprach, konnte einem damals kaum verborgen bleiben.4 Und Bundesrat durch den von der Regierungskoalition verfolgten Zeitplan eine Verkürzung der Mitwirkungsrechte des Bundesrates beinhaltete - das Ratifikationsgesetz wurde im Bundestag von den Regierungskoalitionen parallel zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung im Bundesrat eingebracht -, sei nur noch zur Abrundung des Bildes erwähnt; seit dem Auseinanderfallen der politischen Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern ist dieses Verfahren fast schon zur Gewohnheit geworden. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, 1991; vgl. etwa Seite 114: "Der Kanzler hatte schon(!) in der Ministerpräsidentenkonferenz am 16. Mai, als Einvernehmen über den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und zugleich über den 115-Milliarden-Fonds "Deutsche Einheit" erzielt wurde, eine volle Beteiligung der Länder bei etwaigen Verhandlungen über einen Staatsvertrag zur Vorbereitung des Beitritts der DDR zugesagt." Es ehrt Wolfgang Schäuble, daß er bei allen Zweifeln zu der Einschätzung gelangt, "daß Romberg eher ein politisch nicht so erfahrener, aber eigentlich ganz sympatischer Mensch ist" (S. I 00). Ich habe ihn als absolut nicht kämpferisch, sondern streng an der Suche nach der Wirklichkeit orientiert erlebt. Seine Sorge war ganz eindeutig, daß die Bundesregierung die
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da den Ländern bewußt war, daß die Kosten selbst bei einer zunächst erreichten Deckelung des Länderanteils letztlich doch (jedenfalls teilweise) bei ihnen landen würden - schließlich deckelte ja auch der Bund seine Kosten durch Schaffung des Fonds -, war die Verbitterung über die unzulängliche Länderbeteiligung groß, und sie beschränkte sich durchaus nicht auf die SPD-geflihrten Länder.
II. Vorbereitung der Verhandlungen über den Einigungsvertrag Auf dem geschilderten Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß die Länder ihre Beteiligung an den Vertragsverhandlungen mit allem Nachdruck einforderten, als klar wurde, daß der Beitritt bevorstand und im Wege eines Staatsvertrages inhaltlich ausgestaltet werden sollte. In dem Gespräch mit den Regierungschefs der Länder am 16. Mai 1990 sicherte der Bundeskanzler eine solche Beteiligung zu. In der Tat hatte es bereits zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Einbindung der Länder in die vorbereitenden Überlegungen gegeben. Im Gespräch des Chefs des Bundeskanzleramts mit seinen Kollegen aus den Ländern am 2. März 1990 hatte Bundesminister Seilers zugesagt, eine beschränkte Anzahl von Ländervertretern (vereinbart wurde im Juni 1990 die Zulassung von jeweils ftinf Ländervertretern) zu den Arbeitsgruppen "Rechtsfragen, insbesondere Rechts- angleichung" und "Staatsstrukturen und öffentliche Ordnung" hinzuzuziehen. Diese Zusage wurde eingehalten, wobei diese Arbeitsgruppen jeweils unter Beteiligung von Vertretern der Regierung der DDR berieten; jedoch waren die Ergebnisse dieser Vorüberlegungen flir den Einigungsvertrag letztlich von geringer Relevanz, nachdem die Verhandlungen ab dem 3. August 1990 auf der Grundlage eines Entwurfs der DDR-Regierung geflihrt wurden, der sich von den Ergebnissen dieser Arbeitsgruppen weitgehend freimachte. Die Bereitschaft der Bundesregierung, die Länder an den Verhandlungen zum Einigungsvertrag - anders als an denen zum Währungsvertrag - zu beteiligen, erklärt sich unter zwei Aspekten: Die Regierung der DDR strebte, nachdem sie sich flir einen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 GG entschieden hatte, eine Ausgestaltung der Beitrittsbedingungen in Form eines Staatsvertrages an. Wolfgang Schäuble berichtet5 : "Auch Lothar de Maiziere war gegen eine bloße Rahmenregelung. Als Ministerpräsident eines Staates, der
notwendigen Transferleistungen aus ihrer kurzfristigen Interessenlage heraus herunterrechne und daß die neu entstehenden Länder nach der Herstellung der Einheit alle Mühe haben würden, das verlorene Terrain gutzumachen. Wolfgang Schäuble, aaO., S. 14
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mit dem Beitritt seine Existenz beendete, wollte er Rechte und Ansprüche seiner DDR-Bürger im vereinten Deutschland durch verbindliche Festschreibungen sichern". Wenn die Rahmenbedingungen der Einigung in einem Staatsvertrag niedergelegt werden sollte, so bedurfte es zwar keiner unmittelbaren Einbeziehung der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag, weil die Kompetenz zur Aushandlung von Staatsverträgen bei der Bundesregierung liegt. Andererseits konnte die Ratifizierung eines Einigungsvertrages nur gelingen, wenn ihr der Bundesrat zustimmte. Dies konnte, da die Mehrheit im Bundesrat nur mit Unterstützung der SPD-gefiihrten Länder zu erlangen war, in der Weise sichergestellt werden, daß die Länder insgesamt frühzeitig in den politischen Prozeß einbezogen wurden. Hinzu kam, daß sich recht frühzeitig ergab, daß die Herbeiführung der deutschen Einheit auch eine Anpassung des Grundgesetzes erforderlich machen würde, und hierfUr bedurfte es einer Einbindung der Sozialdemokraten auch im Deutschen Bundestag. So mußte durch eine Anpassung der Präambel und des Artikels 23 GG klargestellt werden, daß die Ostgrenzen Deutschlands durch den Einigungsprozeß nicht in Frage gestellt würden. Im Zusammenhang mit der Regelung der offenen Vermögensfragen gab es einen Regelungsbedarf zu Artikel 14 GG; auch die vorläufige Weitergeltung von DDR-Recht über die Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen verlangte Regelungen mit Verfassungsrang. Erwies sich deshalb auch eine frühzeitige politische Einbindung der parlamentarischen Opposition in den Einigungsprozeß als unumgänglich und war der Charakter des Einigungswerks als Staatsvertrag andererseits ausreichender Anlaß dafUr, daß der Bundestag nicht unmittelbar und förmlich in die Vertragsverhandlungen einbezogen wurde, so stellte es fUr die Bundesregierung geradezu einen Glücksfall dar, daß der Vorsitz in der Ministerpräsidentenkonferenz mit Nordrhein-Westfalen bei einem SPD-gefUhrten Land lag, von dem man erwarten konnte, daß es fUr eine politische Einbindung der parlamentarischen Opposition sorgen würde, ohne daß man diese selbst unmittelbar hätte beteiligen müssen. Meine These ist also: Die Länder haben sehr von dieser politischen Konstellation profitiert, denn sie wurden umfassend an den Verhandlungen über den Einigungsvertrag beteiligt, u. a. auch weil sie - über das federfUhrende Land - die Einbindung der parlamentarischen Opposition in einem Verfahrensstadium sicherstellten, in dem der Deutsche Bundestag an dem politischen Prozeß selbst nicht beteiligt war. Man stelle sich die umgekehrte Konstellation paralleler politischer Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern vor: Diese hätte die Bundesregierung einerseits zu einer unmittelbaren Einbeziehung der SPD-Fraktion in den Ver-
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handlungsprozeß gezwungen, um die verfassungsändernde Mehrheit abzusichern- und dies in der Vorwahlkampfphase. Andererseits: wo wären die Länderinteressen angesichts einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag - falls sie denn gelungen wäre - geblieben ? Im Ergebnis ist jedenfalls der Ländereinfluß auf den Einigungsprozeß dadurch erhöht worden, daß die Länderseite zugleich die Brückenbildung zwischen Regierungskoalition und Opposition übernahm. Diese Brückenbildungsfunktion war nach meiner Einschätzung zu einem erheblichen Anteil Motiv ftir die weitgehende Beteiligung der Länder am Einigungsprozeß.
II!. Die Verhandlungspositionen der Länder Die Länder haben außerhalb der Verhandlung mit der DDR einige grundlegende gemeinsame Positionen formuliert, die sie in den Eingungsprozeß eingebracht haben. Auf Initiative Hamburgs erarbeitete eine Arbeitsgruppe der Staats- und Senatskanzleien "Eckpunkte ftir die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland", die die Ministerpräsidenten der elf Länder der alten Bundesrepublik am 5. Juli einstimmig verabschiedeten. Über Artikel 5 des Einigungsvertrages wurde dieses Papier der nach der Herstellung der staatlichen Einheit gebildeten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zur Befassung überwiesen. 6 Die "Eckpunkte" der Ministerpräsidenten stellen fest, daß die Länder "im Prozeß der deutschen Einigung neben dem Bund eine ihrer Stellung in der Verfassung gemäße, gleichgewichtige Verantwortung" tragen. Hieraus leiten die Länder in dem Dokument die Verpflichtung (und den Anspruch) ab, "die Grundstrukturen der staatlichen Ordnung eines vereinten Deutschland und die zu ihr führende zweite Stufe des Einigungsprozesses maßgeblich mitzugestalten und mitzubestimmen". Sie sprechen sich dafür aus, daß ein einheitliches Deutschland schon von seiner Größe und seinem Gewicht her in noch viel stärkerem Maße ein entschieden föderativ geprägter Bundesstaat sein müsse. Im übrigen markieren sie wichtige Punkte einer Überprüfung des Grundgesetzes zur Stärkung des föderalen Elements (z.B. Verbesserung der Bedürfnis-
Ich erinnere mich lebhaft an die anfllnglichen Bedenken von Beamten der Bundesregierung, ein Papier der Ministerpräsidentenkonferenz in einem Staatsvertrag in Bezug zu nehmen - ; gelten Dokumente der im Grundgesetz nicht vorgesehenen Ministerpräsidentenkonferenz doch traditionellen Juristen als Prototypen von "Non-Papers", mögen sie auch den einstimmigen Willen der Regierungschefs aller Länder zum Ausdruck bringen. In der Geschichte der Institution "MPK" kann Artikel 5 des Einigungsvertages daher mit Fug als Markstein angesehen werden: Die Bestimmung beweist in einem ratifizierten Vertragstext, daß es die MPK in der politischen Wirklichkeit gibt.
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prüfungsklausei in Artikel 72 GG), die später im Rahmen der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission aufgegriffen worden sind. In den oben erwähnten Arbeitsgruppen waren darüber hinaus von einzelnen SPD-regierten Ländern weitere Punkte genannt worden, über die im Rahmen der Herstellung der Einheit gesprochen werden müsse. Dazu gehörten Regelungen über die Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen, die Einfugung von Staatszielen in das Grundgesetz und die Bildung einer Kommission zur Vorbereitung einer endgültigen deutschen Verfassung im Sinne von Artikel 146, die dem deutschen Volk zur Abstimmung gestellt werden solle. Am 26. Juni 1990 kam es zu einem Gespräch zwischen den Bundesministern Rudolf Seilers (Chef des Kanzleramts) und Dr. Wolfgang Schäuble und den Chefs der Staats- und Senatskanzleien von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Berlin, Wolfgang Clement, Rauscher (Amtschet) und Dieter Schröder. In diesem Gespräch wurde eine Anzahl von Themen angesprochen, die im weiteren Verlauf eine erhebliche Bedeutung erlangten. Ihm lag ein "Diskussionspapier" des Bundesinnenministeriums zugrunde. Die Vertreter der Bundesregierung erläuterten, mit dem Gespräch solle dem Länderwunsch auf frühzeitige Unterrichtung über den Fortgang des Einigungsprozesses entsprochen werden. Es sei damit zu rechnen, daß die DDR-Regierung am 27. Juni 1990 eine Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Bundesregierung über einen zweiten Staatsvertrag fassen werde. Für diesen Fall sei mit dem Beginn der Verhandlungen "spätestens nach Beendigung der Fußball-WM", voraussichtlich aber schon am 5. Juli zu rechnen. Es sei beabsichtigt, die Länder von Beginn an zu beteiligen. Für Ende August/Anfang September werde die Unterzeichnung des Staatsvertrages und anschließend im September die Einleitung des Ratifizierungsverfahrens angestrebt. Nach Auffassung der Bundesregierung sollten in den Staatsvertrag nur solche Verfassungsänderungen aufgenommen werden, die unmittelbar mit der rechtstechnischen Anpassung des Grundgesetzes im Hinblick auf die Herbeifilhrung der staatlichen Einheit im Zusammenhang stünden. Hierzu gehörten nur die Änderung der Präambel und des Artikels 2 3, ausdrücklich aber nicht Artikel 146 GG (hier gehe es um eine nicht vordringliche redaktionelle Anpassung). Ggf. müßten die Bestimmungen über die Wehrverfassung und die Finanzverfassung zeitweise ausgesetzt werden. Materielle Änderungen des Grundgesetzes seien grundsätzlich nicht beabsichtigt und würden allenfalls dann in Betracht gezogen, wenn die DDR einen konkreten Wunsch in diese Richtung vorbringe und wenn dieser Wunsch im Zusammenhang mit der Verfassungswirklichkeit in der DDR stehe. Andererseits äußerte die Bundesregierung ihr Interesse an der Länderhaltung zur Frage einer Länderneugliederung durch Anpassung der Artikel 29 oder 118 GG, um eine indirekte Festschreibung der heutigen innerstaatlichen
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Grenzen zu vermeiden, die spätere Umgliederungen der Länder behindern könne. Bereits in diesem Gespräch wurde - von Bayern - die Frage einer Anpassung des Stimmgewichts im Bundesrat durch Änderung von Artikel 51 Abs. 2 GG angesprochen. Die Regelung stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Bayern drängte - wie Nordrhein-Westfalen - auf eine Verstärkung des Einflusses der bevölkerungs- starken Länder und kündigte an, daß es einen eigenen Vorschlag einbringen werde. Zu dieser Frage gingen die Vorstellungen von Nordrhein-Westfalen anfänglich dahin, daß die beiden bevölkerungsreichsten Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern zwei zusätzliche Stimmen und die Länder Baden-Württemberg und Niedersachsen, ggf. auch Hessen, je eine zusätzliche Stimme erhalten sollten. Gegenstand des Gesprächs war auch die Frage, ob vorläufig im Zweifel DDRRecht weitergelten und das bundesdeutsche Recht nur punktuell in Kraft gesetzt werden sollte, oder ob der umgekehrte Weg gegangen werden solle. Zu dieser Frage gab es unterschiedliche Meinungen zwischen dem Bundesinnen- und dem Bundesjustizministerium. Letzteres setzte sich später mit seiner Auffassung zugunsten der grundsätzlichen Inkraftsetzung von Bundesrecht durch. Für diese sprach sich am 26. Juni auch Bayern aus, jedoch hat es zu diesem Thema keine ausgesprochene Präferenz der Gesamtheit der Länder für eine der beiden Lösungen gegeben. Bundesinnenminister Schäuble strebte insgesamt einen möglichst "schlanken" Vertragstext an, schon um die Rechte des Parlaments so wenig wie möglich einzuschränken, wie dies mit dem Weg über einen Staatsvertrag notwendigerweise verbunden sei. Was die Zahl der Teilnehmer an den Verhandlung der Bundesregierung anging, wurde nach längerer Diskussion vereinbart, daß die Länderseite durch fünf Länder in der bundesdeutschen Delegation vertreten sein solle. Die Chefs der Staats- und Senatskanzleien verständigten sich dahin, daß es sich bei den Teilnahmeländern um Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg handeln solle. Berlin hatte als besonders betroffenes Land ohnehin Teilnahmerecht Die selbst nicht unmittelbar teilnehmenden Länder sollten durch einen Beamten Beobachterstatus haben. IV. Der Beginn der Verhandlungen Am 6. Juli fand in Ost-Berlin die erste Verhandlungsrunde zwischen den beiden deutschen Regierungen statt. Für die DDR-Regierung eröffnete sie Mini-
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sterpräsident de Maiziere mit einer Erklärung. 7 Er bekräftigte den Wunsch nach einer vertraglichen Lösung, der den Namen "Einigungsvertrag" tragen solle. Gegenstand der Verhandlungen waren im wesentlichen die außenpolitischen Rahmenbedingungen der Einigung, die Frage der Abhaltung einer gemeinsamen oder getrennter Wahlen und die Verabredung eines straffen Zeitplans, innerhalb dessen die Fachressorts unter Beteiligung der Länder das gesamte Bundesrecht auf die Notwendigkeit von Übergangsregelungen und Ausnahmen ftir die Weitergeltung von DDR-Recht durchgehen sollten. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung fanden im Juli und August im Bundesinnenministerium zahlreiche Sitzungen auf Beamtenebene zur Durchprüfung des gesamten Rechtsbestandes statt, an denen die Länder beteiligt waren. Daneben entwickelte das Bundesinnenministerium erste "Überlegungen zur Struktur des Einigungsvertrages", die es am 16. Juli 1990 auch den Ländern zugänglich machte. Am 23. Juli hatten die Arbeiten der Arbeitsgruppen unter Federführung des Bundesinnenministeriums einen Stand erreicht, daß sie den Chefs der Staats- und Senatskanzleien zur Vorbereitung der zweiten Verhandlungsrunde versandt werden konnten. Diese zweite Verhandlungsrunde fand vom 3. bis 6. August im Staatsratsgebäude der DDR statt. Am Vorabend trafen sich Vertreter der SPO-regierten Länder und der SPD-Bundestagsfraktion zu einem Abstimmungsgespräch. In der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen war eine (interne) Themenliste erstellt worden, die am 30. Juli 25 Punkte von unterschiedlichem Gewicht enthielt. Die Zusammenstellung dieser Themen stand im Zusammenhang mit dem vom Bundesinnenministerium am 23. Juli versandten Ergebnis der Fachgespräche und reflektierte die Punkte, zu denen weiterer Gesprächsbedarf gesehen wurde. Besonders genannt seien die folgenden Punkte: -Zur Ausgestaltung der ersten gesamtdeutschen Wahl ging es NRW um ein einheitliches Wahlgebiet mit einheitlichem Wahlrecht und einer auf das gesamte Wahlgebiet bezogenen SperrklauseL - Zu den Verfassungsänderungen unterstützte NRW einen Vorschlag des Saarlandes zur Änderung von Artikel 146 GG, der die Bildung eines Verfassungsrats und eine anschließende Volksabstimmung vorsah. Im übrigen wurden Übergangsregelungen - u.a. zur Ermöglichung einer befristeten Weitergeltung von DDR-Recht (Schwangerschaftsabbruch) - ft1r notwendig angesehen. - Entschiedenen Widerstand fand bei allen Ländern der zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung entstandene Gedanke eines Aufbauministeriums oder Ministeriums für Strukturanpassung. Die Länder sahen darin
S. hierzu im einzelnen Wolfgang Schäuble, aaO., S. 123 ff.
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einen Ansatz, dem Bund - auf das Gebiet der (ehemaligen) DDR bezogen vorübergehend Kompetenzen zu übertragen, die nach dem Grundgesetz den Ländern zustehen. Derartige Abweichungen im Kompetenzbereich würden, so war die Überzeugung der Länder, Teile der zentralen DDR-Strukturen aufrechterhalten und in das bundesdeutsche Verfassungssystem überfUhren. Das wurde selbst fiir den Fall als unannehmbar angesehen, daß der Bund insoweit "im Auftrag der Ministerpräsidenten der fiinf Länder" handeln würde. Statt dessen überlegten die Länder damals die Einrichtung eines Generalsekretariats der Ministerpräsidentenkonferenz etwa mit Sitz in Potsdam, das die Aufbauhilfe ftlr die neuen Länder koordinieren könnte. Dazu ist es, wie Sie wissen, nicht gekommen. Die Aufbauhilfe fiir die Landesverwaltungen der neuen Länder ist bilateral zwischen den beteiligten Ländern organisiert worden, wobei der Bund anilinglich mit dem Instrument einer Clearingstelle behilflich war, die im Protokoll zum Einigungsvertrag (zu Artikel 15) vereinbart worden war. - Weitere Gegenstände aus der Themenliste vom 30. Juli betrafen u.a. den Zugang zum Bundesverfassungsgericht (es bestand die Sorge vor einer Überschwemmung des Gerichts, der der Bundesjustizminister durch Anpassungen in der DDR-Gerichtsverfassung begegnen wollte), den "Braunkohlepfennig", den die DDR-Regierung wünschte und den die Bundesregierung (wie die Länder) ablehnte, die als notwendig angesehene Verschiebung der Strukturhilferegelungen in den Artikeln 104a Abs. 4 und Art. 9la GG, die Unterstützung der DDRVerhandlungsposition zu den Rahmenbedingungen fiir die Vereinbarkeif von Beruf und Familie, die Frage der Dynamisierung des "Sozialzuschlages" (Mindestsicherung in der Renten- und Arbeitslosenversicherung in der DDR), die Vorruhestandsregelung in der DDR (NRW unterstützte die DDR-Position aus arbeitsmarktpolitischen Gründen), die Krankenhausfinanzierung (die Bundesregierung wollte sie als Gemeinschaftsaufgabe außerhalb des Fonds Deutsche Einheit installieren, was die Länder ablehnten), die regionale Schienenstreckennetze (aus denen der Bund sich zurückziehen wollte) und beamtenrechtliche Sonderregelungen. Als besonderer Punkt ist in der Liste auch das Thema "Vermögensfragen, Eigentum an Grund und Boden, Entschädigung" vermerkt. Die Position Nordrhein-Westfalens war hier eindeutig: Die auf besatzungsrechtlicher oder -hoheitlicher Grundlage erfolgten Enteignungen sollten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dahinter stand neben den außenpolitischen Erwägungen die Überzeugung, daß baldige Investitionen in den neuen Ländern nur sichergestellt werden könnten, wenn die Eigentumsfragen kurzfristig gelöst würden. Zudem erschien es aus der Sicht der SPD-geftlhrten Landesregierungen dem inneren Frieden wenig zuträglich, wenn der Versuch gemacht werden sollte, die Ergebnisse von mehr als 40 Jahren getrennter Entwicklung auf diesem Gebiet vollständig rückgängig zu machen. In der Amnestiefrage wurde eine zurückhal-
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tende, nach Tätergruppen und Delikten differenzierende Regelung für denkbar gehalten. Der Beginn der Verhandlungen am 3. August brachte dann allerdings zwei Überraschungen: Die erste bestand darin, daß der Verhandlungsführer der DDR, Minister Krause, einen eigenen Vertragsentwurf (eine "Rohskizze") präsentierte, der den Vertretern der Länder genau eine Stunde vor Beginn der Verhandlungen zugänglich gemacht wurde. Dieser Entwurf hatte mit den Ergebnissen der Vorgespräche in den Beamtengruppen, die der Bundesinnenminister den Ländern am 23. Juli übersandt hatte, nur äußerst wenig gemein. Die zweite, noch größere Überraschung war, daß der Verhandlungsführer der Bundesregierung, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, diesen Entwurf vorbehaltslos als Verhandlungsgrundlage akzeptierte. Aus der Sicht zumindest der SPD-gefiihrten Länder lag es daher nahe, an ein abgekartetes Spiel zwischen Bundesregierung und DDR-Regierung zu glauben, zumalsich auf der DDR-Seite zahlreiche Berater aus Bundesministerien befanden, die an die DDR-Regierung abgeordnet waren. Die Beteiligung der Länder an den Vorgesprächen schien weitgehend leerzulaufen, denn Verhandlungsgrundlage wurde ein grundlegend anders strukturierter Entwurfstext Aus der Sicht Nordrhein-Westfalens spitzte sich dieser Eindruck noch dadurch zu, daß der DDR-Entwurf unter dem Datum des 31. Juli 1990 in Artikel 2 Abs. 3 Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz festschrieb; dies, obwohl in den Vorgesprächen mit der Bundesregierung deutlich gemacht worden war, daß die Hauptstadtfrage aus Sicht Nordrhein-Westfalens außerhalb des Einigungsvertrages geregelt werden müsse, wenn die notwendige Zweidrittelmehrheit fiir den Vertrag sichergestellt werden solle. Immerhin wurde die Teilnahme von Landesbeamten an der Verhandlungsrunde zur Unterstützung der Ländervertreter in einem über die ursprüngliche Verabredung hinausgehenden Umfang zugelassen. Auf Wunsch der Bundesregierung flog die Länderseite sogar noch weitere Landesexperten ein (so z.B. aus dem bayerischen Finanzministerium). Die Verhandlungsatmosphäre gestaltete sich anfangs durchaus positiv. Auf der Länderseite spielten dabei neben den Vertretern Nordrhein-Westfalens (als MPK-Vorsitzland) und Berlins auch der Chef der Staatskanzlei des Saarlandes, Reinhold Kopp, eine besondere Rolle, dem es zukam, den Ministerpräsidenten seines Landes und Kanzlerkandidaten der SPD für die anstehenden Bundestagswahlen, Oskar Lafontaine, unmittelbar zu informieren und die SPD-Positionen in die Verhandlungen einzuspeisen, soweit dies nicht bereits durch den Länder-Verhandlungsfiihrer Wolfgang C/ement geschah. Meiner Zusammenarbeit mit Reinhold Kopp kam dabei zugute, daß ich ihn aus meiner zweijährigen Tätigkeit im saarländischen Justizministerium und als ehemaliger Grundstücksnachbar persönlich recht gut kannte. In der DDR-Delegation befanden sich Vertreter der noch nicht gegründeten neuen Länder, unter ihnen auch
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Sozialdemokraten, denen Minister Krause freilich in rüder Art die Möglichkeit verwehrte, in die Verhandlungen einzugreifen. Ihre Vorstellungen konnten in der Folge nur über die SPD-gefilhrten Länder eingebracht werden auf Grund von Kontakten, die bereits entstanden waren und am Rande der Ost-Berliner Verhandlungsrunde vertieft wurden. Inhaltlich begegnete die DDR-Rohskizze zahlreichen Vorbehalten der Länder-Mehrheit. In Artikel 5 sah sie nur eine Anderung der Präambel des Grundgesetzes und die Aufhebung des Artikel 23 GG vor. Dieses Minimalprogramm entsprach exakt den Vorstellungen von Wolfgang Schäuble und nicht denen etwa des "Runden Tisches" und begründete aus Sicht der SPD-Länder den Verdacht eines "Spiels über die Bande": Die von den alten Ländern bereits angemeldeten Wünsche zur Anpassung des Artikels 51 Abs. 2 GG (Stimmgewicht im Bundesrat- kein "AlB-Thema"), von Artikel 146 GG (Weg zu einer endgültigen deutschen Verfassung) und fllr Übergangsregelungen zur befristeten Aufrechterhaltung von DDR-Recht hatten keine Berücksichtigung gefunden. Artikel 7 des Entwurfs sah die Weitergeltung von DDR-Recht vor, soweit nicht Bundesrecht in Kraft gesetzt werde. Die Bundesregierung sollte ermächtigt werden, Bundesrecht durch Rechtsverordnung in einem oder mehreren der neuen Länder im Benehmen mit der jeweils betroffenen Regierung in Kraft zu setzen. Auch dies war aus der Ländersicht unannehmbar, da es die föderale Verfassungsstruktur zu weitgehend außer Kraft gesetzt hätte. Gleiches galt filr das in Artikel 13 des Entwurfs "filr eine Übergangszeit" vorgesehene Aufbauministerium, das mit dem Ziel eingerichtet werden sollte, "die rasche Angleichung an das Niveau der bestehenden Bundesländer auf wirtschaftlichem, finanziellem, sozialem und kulturellem Gebiet zu sichern". Aus heutiger Sicht kann man feststellen: Dieses Bundesministerium würde noch heute bestehen und würde bewirkt haben, daß die föderale Verfassungsstruktur Deutschlands in wesentlichen Teilen außer Kraft gesetzt worden wäre. Im übrigen enthielt die Rohskizze zahlreiche organisatorische Regelungen. Materiellrechtliche Regelungen, etwa zur Annäherung des Umweltstandards an das Niveau der Bundesrepublik, fehlten demgegenüber. Gleiches galt für den Bereich des Sozialrechts, der Krankenversicherung und zahlreiche andere Politikbereiche, zu denen es in den Gesprächen auf Beamtenebene bereits konkrete Überlegungen gegeben hatte. Ein dramatischer Bruch in der Verhandlungsatmosphäre ergab sich, als Ministerpräsident de Maiziere am 3. August, nachdem er am Wolfgangsee ein Gespräch mit Bundeskanzler Kohl gefilhrt hatte, verkündete, die Bundestagswahl solle auf den 14. Oktober vorgezogen werden und gemeinsam mit den Landtagswahlen in den neuen Ländern stattfinden; das sei mit dem Bundeskanzler abgestimmt. Der Verhandlungstllhrer der SPD-getllhrten Länder, Wolfgang Clement, sah darin eine gravierende Täuschung der sozialdemokratischen Seite,
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die sich auf Grund der Erklärungen der Bundesregierung auf gesamtdeutsche Wahlen am 2. Dezember eingerichtet hatte; eine Täuschung um so mehr, als er trotzsehr intensiver Verhandlungen und auch persönlicher Gespräche mit Wolfgang Schäuble von diesem keinerlei Andeutung in dieser Richtung erhalten hatte (auch Schäuble war - so seine DarstellungS - von der Ankündigung de Maizieres überrascht worden). Nach einer Unterbrechung der Sitzung und Telefonaten erklärte Clement, daß die Geschäftsgrundlage für die Verhandlungen in Frage gestellt sei und die weitere Mitarbeit aufgekündigt würde. Da die Verhandlungen ohnehin an diesem Tage unterbrochen werden sollten, blieb der Vorgang zunächst folgenlos. Erinnern kann ich mich aber noch deutlich an die geradezu schikanöse Art, in der die DDR-Regierung es Wolfgang Clement erschwerte, im Anschluß an die gemeinsame Pressekonferenz von Wolfgang Schäuble und Günther Krause, die ein euphorisches Bild von dem Verhandlungsstand zeichneten, seinerseits zusammen mit Kollegen anderer Länder ein Pressegespräch zu führen. Trotz dieser Krise war das Ergebnis der zweiten Ost-Berliner Verhandlungsrunde beachtlich. Denn im Verlauf der Verhandlungsrunde wurden dann doch auch die Ergebnisse der Ressortgespräche durchgearbeitet, an denen die Länder in der Zeit vom 6. bis 20. Juli beteiligt gewesen waren und die das Bundesinnenministerium am 23. Juli zusammengefaßt hatte. Strittige Regelungen wurden in Klammem gesetzt, aber ein erheblicher Teil des Materials bereits abschließend geklärt. Zur Hauptstadtfrage hatte die Bundesregierung eine Aufteilung der Funktionen von Hauptstadt und Regierungssitz zur Diskussion gestellt. Hierzu gaben die Landesregierungen von NRW, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen eine Protokollerklärung ab, in der sie eine solche Aufteilung für eine mögliche Lösung erklärten, gleichwohl aber daran festhielten, eine solche Regelung nicht im Rahmen des Einigungsvertrages zu treffen. Zur Frage der Verfassungsänderungen war die in Artikel 5 enthaltene Verabredung eines Verfahrens zur Überprüfung des Grundgesetzes nach Herstellung der deutschen Einheit durch die gesetzgebenden Organe getroffen worden. Das entsprach zwar nicht den Vorstellungen der SPD-Bundestagsfraktion; mehr erschien aber nicht durchsetzbar. Die Regelung der künftigen Finanzverfassung war strittig geblieben, aber das überraschte niemanden. Angesichts der ungeklärten wirtschaftlichen Lage der DDR erschien es durchaus denkbar, die finanzverfassungsrechtlichen Regelungen auszuklammern und es zunächst bei dem Fonds "Deutsche Einheit" zu belassen. Über Übergangsregelungen zur befristeten Aufrechterhaltung von DDR-Recht (z.B. zu Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen) war noch nicht verhandelt worden. Ebenfalls ausgeklammert worden war noch die Regelung der Rechtsverhältnisse im AaO., S. I 58 ff.
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öffentlichen Dienst. Das Aufbauministerium war als Verhandlungsgegenstand aufgegeben worden: Der Länderwiderstand war erfolgreich gewesen. V. Dritte Verhandlungsrunde in Bonn
Als die dritte Verhandlungsrunde vom 20. bis 24. August in Bonn stattfand, hatten sich die politischen Rahmenbedingungen erheblich verändert. Am 15. August hatte Lothar de Maiziere Finanzminister Romberg (SPD) und den parteilosen Landwirtschaftsminister Pollack aus der DDR-Regierung entlassen. Zwei weitere DDR-Minister waren am gleichen Tage zurückgetreten. Am 19. August hatte die SPD die Regierung der DDR verlassen und alle ihre Minister und Staatssekretäre zurückgezogen. Die Zeit der Runden Tische war beendet: Parteipolitische Zuspitzung und Wahlkampfatmosphäre traten in den Vordergrund. Damit war grundsätzlich in Frage gestellt, ob sich die Länder, soweit sie von der SPD gefiihrt wurden und die Brückenbildung zur parlamentarischen Opposition übernommen hatten, auch weiter in der bisherigen Form an den Verhandlungen beteiligen würden. War der Weg über einen Vertrag wirklich noch sachgerecht, wenn sich auf beiden Seiten politisch gleichgerichtete Partner gegenüberstanden, die nicht wirklich noch verhandelten, sondern sich die Bälle in einer Scheinverhandlung zuschoben? Ließ es sich noch verantworten, das Parlament und insbesondere die parlamentarische Opposition aus dem Gestaltungsprozeß in einem so weitgehenden Maße herauszuhalten, wie es bei der Vertragslösung unvermeidbar war? Hierüber verhandelten die Ministerpräsidenten der SPD-geftlhrten Länder am 19. August in Bonn. Die politischen Argumente gegen die Vertragslösung waren aus Sicht der SPD - und das war fiir die Position der A-Länder von erheblicher Bedeutung nur zu greifbar: Der schnelle Übergang zur Marktwirtschaft hatte in der DDR zu einem wirtschaftlichen und sozialen Chaos gefiihrt. Die Situation schien kaum noch beherrschbar. Auf Seiten der DDR fehlte es an einem wirklich handlungsfähigen Verhandlungspartner. An die Stelle des im nationalen Interesse gebotenen Zusammenwirkens der politischen Kräfte traten - so schien es Schein-Verhandlungen mit einer politisch gleichgeschalteten DDR-Regierung, die die wirklichen Interessen der Menschen in der DDR nicht mehr wirksam wahrnahm. Die Kritik an der Verhandlungsfilhrung auf Seiten der DDR konnte durchaus konkrete Punkte benennen. So wurde bei den SPD-geftlhrten Ländern die Regelung in Artikel 18 des Einigungsvertrags-Entwurfs über die Verteilung des Finanzvermögens als eine Vernachlässigung von DDR-Interessen angesehen, da sie den neuen Ländern und den Gemeinden dringend benötigtes Startkapital
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entziehe. Es sei - so ihre Argumentation - nicht hinnehmbar, daß der Treuhand unbefristet weitere Vermögensteile zugefUhrt werden sollten, die allein dem Bund zuflössen. Auch die Aufteilung des Finanzvermögens je zur Hälfte auf Bund und Länder sei nicht zu rechtfertigen. Die SPD-gefiihrten Länder unternahmen es in der Folge, noch stärker auf die Wahrung der Interessen der künftigen neuen Länder zu achten und sie anstelle der DDR-Regierung zu thematisieren. Vorbehalte gab es etwa gegen Artikel17, mit dem der Bund sich einen Anteil des Stasi-Vermögens sichern wollte. Das sei unvertretbar, denn bei dem Stasi-Vermögen handele es sich um Vermögensteile, die dem Volksvermögen der DDR zweckwidrig entzogen worden seien. Sie müßten deshalb den Menschen in der DDR als Basis des demokratischen Selbstaufbaus zurückgegeben werden. Dies entschlossen zu vertreten, sei die DDR-Regierung nicht in der Lage. Die DDR-Regierung kümmere sich- so der polemisch zugespitzte Vorwurfmehr um die Privilegien für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes als um die steigende Arbeitslosigkeit. Ansatzpunkt fiir diese Kritik war die sog. "Sozialvereinbarung", die DDR-Innenminister Diestel mit den Gewerkschaften zugunsten der Angehörigen der Volkspolizei, der Feuerwehr und des Strafvollzuges getroffen hatte. Die gleiche DDR-Regierung, die diese Privilegien vereinbare und sich um den Erhalt der Sonderversorgungssysteme fiir die Angehörigen der NV A und anderer staatlicher Dienststellen bemühe, sei nicht in der Lage, gegenüber der Bundesregierung in Artikel 25 des Einigungsvertrages die vorläufige Fortgeltung der Vorruhestandsregelung der DDR durchzusetzen, die allen Arbeitnehmern zugute kommen würde. Der Einigungsvertrag enthalte auch kein Instrumentarium, mit dem das öffentliche Vermögen in der Land- und Forstwirtschaft vorrangig ftlr spezifische Maßnahmen zur Sanierung und Strukturanpassung und zur Entwicklung der ländlichen Räume genutzt werden könne. Weitere Kritikpunkte waren der mangelhafte Mieterschutz, nachdem der Einigungsvertrag die Übertragung des bundesdeutschen Wohnraummietrechts vorsah, und die nach wie vor nicht befriedigende Behandlung der offenen Vermögens/ragen. Die in Artikel 32 EV vorgesehene Regelung biete keine ausreichende Rechtssicherheit und behindere die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft. Die DDR-Regierung nehme auch die Interessen der Frauen nicht wirksam wahr, was insbesondere ftlr die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelte. Schließlich taucht in der Aufstellung über die Punkte grundsätzlicher Kritik an der DDR-Regierung die Feststellung auf, daß sie auch nicht in der Lage sei, ftlr eine Rehabilitation der zu Unrecht verfolgten Menschen in der DDR zu sorgen und den Weg zu einer versöhnenden Amnestie-Regelung zu ebnen.
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Die Ministerpräsidenten der SPD-geführten Länder verständigten sich bei ihrem Treffen am 19. August, dem Vorabend der dritten Verhandlungsrunde, auf ein Papier, das ihre grundsätzliche Kritik zusammenfaßte. Konkret beanstandeten sie den Verhandlungsstand zu den folgenden acht Punkten, die für die weiteren Verhandlungen von besonderer Bedeutung wurden: (1) Der Entwurf beseitige nicht die mangelnde Rechtssicherheit für Investitionen. Die Regelung der offenen Vermögensfragen sei unzureichend. Entschädigung müsse Vorrang haben vor Rückübereignung.
(2) Der Entwurf versäume es, Länder und Gemeinden in der DDR finanziell handlungsflihig zu machen. Nach dem ersten Staatsvertrag trage der Bund die Verantwortung dafür, daß die Länder und Gemeinden der ehemaligen DDR eine angemessene Finanzausstattung erhielten. (3) Der Entwurf verzichte auf eine klare Festlegung hinsichtlich des Vermögens der SEDIPDS, der Blockparteien und der sog. Massenorganisationen, das fiir die wirtschaftliche Umstrukturierung in der DDR verwandt werden müsse. (4) Die vorgesehenen zentralstaatlichen Regelungen für Verwaltungs-, Finanz- und Treuhandvermögen könnten nicht akzeptiert werden. (5) Die Zukunft des öffentlichen Dienstes in der DDR mit fast zwei Millionen Menschen (ohne Bahn, Post und NVA) bleibe ungewiß oder solle den künftigen Ländern aufgelastet werden. "Bereits jetzt" -so heißt es in dem Papier vom 19. August 1990 - "findet in der DDR eine sachlich nicht gerechtfertigte Verschiebung von Personal in Verwaltungsbereiche statt, die später auf die Länder übergehen". (6) Soziale Schutzfunktionen für die Menschen in der DDR seien im Entwurf an zahlreichen Stellen mangelhaft geblieben. Das betreffe das Kündigungsrecht fiir Wohnraum, die Vorruhestandsregelung, die Krankenhausfmanzierung und die Vorkehrungen vor Anpassung der DDR-Landwirtschaft an die EG.
(7) Keine Bewegung zeige die Bundesregierung in wichtigen Fragen, die die Einheitlichkeit der Rechtsverhältnisse im künftigen Deutschland beträfen. Besonders genannt werden in diesem Zusammenhang die Regelung der Folgen eines Schwangerschaftabbruchs, das Wahlrecht zwischen Wehrdienst und Zivildienst und eine Amnestieregelung unter Einbeziehung von Friedensdemonstranten. (8) Das bloße maussichtstellen einer Diskussion über Verfassungsänderungen sei absolut unzureichend. Neben den Verfassungsänderungen zur Fortentwicklung des Föderalismus im Sinne des Beschlusses der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990 bedürfe es einer Aufnahme von Staatszielbestimmungen in den Vertrag, insbesondere zum Umweltschutz und zur Konkretisierung des 4 Klein
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Sozialstaatsgebots. Über die neue, auf dem Grundgesetz aufbauende Verfassung solle das Deutsche Volk entscheiden. Alle diese Argumente hätten begründen können, daß die SPD-geflihrten Länder sich aus dem Verhandlungsprozeß zurückzogen und stattdessen eine gesetzliche Regelung der Rahmenbedingungen des Beitritts der DDR anstrebten. Die acht Punkte vom 19. August stellten in der Tat den Testkatalog dar, anband dessen die Annahmefähigkeit der Vertragslösung abgeprüft wurde. Die Stimmung war so, daß auf Seiten der SPD-Fraktion und der SPD-geflihrten Länder ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, auf eine gesetzliche Regelung der Beitrittsbedingungen überzugehen, da auf eine faire Berücksichtigung der parlamentarischen Opposition, aber auch der wirklichen Interessen der künftigen Länder als Partner eines vereinten föderalen Deutschland nicht mehr vertraut werden könne. Vorläufig allerdings blieben die SPD-gefilhrten Länder in der Verhandlungsdelegation. Detaillierter als in dem 8-Punkte-Katalog vom 19. August waren zur Vorbereitung der dritten Verhandlungsrunde in der Staatskanzlei NRW die "Bund/ Länder-Divergenzen und offene(n) Punkte zum Einigungsvertrag" aufgelistet worden-, eine Fortschreibung der "Themenliste zum Einigungsvertrag", die vor Beginn der zweiten Runde in Ost-Berlin zusammengestellt worden war. Das neue Papier war in drei Teile geteilt: Liste A enthielt (Stand: 17. August 1990) 22 Einzelpunkte zum Vertragstext, Liste B faßte daneben 10 spezifische Anliegen zur Rechtsangleichung zusammen, und Liste C bestand aus einer Zusammenstellung von 19 "Anliegen der DDR-SPD". Die Zusammenstellung der Themen umfaßte sowohl streitige Gegenstände als auch solche, über die noch weiter zu sprechen war. In der Liste A (Vertragstext) ging es zunächst weiterhin um den Umfang der einigungsbedingten Verfassungsänderungen Zumindest filr den Umweltschutz wünschte die A-Seite eine grundgesetzliche Verankerung eines Staatsziels. Im übrigen trat sie filr eine großzügiger bemessene Übergangsfrist ein, während derer Abweichungen vom Grundgesetz toleriert werden sollten (Schwangerschaftsabbruch, aber auch richterrechtliche Regelungen wegen des FehJens von ausgebildeten Juristen in der DDR).
Besondere Probleme bestanden hinsichtlich der Regelung über den Übergang von Einrichtungen auf den Bund oder die Länder in Artikel 13. Berlin wünschte hier eine Sonderregelung ftlr den Übergang solcher Einrichtungen, die in der DDR bisher zentral strukturiert waren und in der Bundesrepublik entweder so überhaupt nicht existierten oder aber dezentral organisiert wären (Beispiel: Zentrales Krankenhaus filr die Volkspolizei der DDR in Berlin). Berlin wünschte hierftlr die Einrichtung einer gemeinsamen Bund/Länder-Stelle, die
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sich der zu lösenden Probleme annehmen solle (u.a. Personalabbau). Ähnliche Zentralisierungstendenzen enthielt ein Vorschlag des Bundesfinanzministeriums zu Artikel 13, der vorsah, daß dem Bund ein Selbsteintrittsrecht zustehen sollte, falls die Länder oder Gemeinden im Beitrittsgebiet bestimmte ihnen obliegende Verwaltungsaufgaben nicht wahrnähmen. Zum Verwaltungsvermögen enthielt Artikel 17 inzwischen eine Regelung, nach der es automatisch auf den Bund, die Länder und Gemeinden zufallen sollte, und zwar entsprechend der Zweckbestimmung am I. Oktober 1989. In der ursprünglichen Fassung war vorgesehen, daß die Verteilungskompetenz dem Bund zufallen sollte, eine Lösung, die fiir die Länder inakzeptabel war. Unklarheiten bestanden aber weiterhin bezüglich des Stasi-Vermögens, das nach Auffassung der Länder vollständig den neuen Ländern und auch nicht nur anteilig dem Bund zufallen sollte. Hinsichtlich des Finanzvermögens hielten die Länder einen Anteil von 50 % flir die neuen Länder flir zu gering. Gegen die Position der Bundesregierung stützten sie die Forderung des Deutschen Städtetages danach, dasjenige Finanzvermögen auf die Kommunen zu übertragen, das ihnen nach dem Kommunaivermögensgesetz der DDR zustehen würde. Zum Treuhandvermögen (damals noch Artikel 20) wehrten die Länder sich dagegen, daß die Privatisierung und Strukturanpassung der volkseigenen Betriebe als "auch künftig zentralstaatliche Aufgabe" angesprochen werden sollten. Wenn schon auf eine Regionalisierung des Treuhandvermögens verzichtet werde, dürfe nicht auch noch eine ausdrückliche Bundeskompetenz festgeschrieben werden. Hierzu legten Bayern und Nordrhein-Westfalen eine gemeinsame Alternativformulierung vor. Im Bereich des Gesundheitswesens bemühte sich der Bundesarbeitsminister um die vertragliche Begründung eines besonderen "Gemeinschaftsprogramms von Bund und Ländern" (damaliger Standort: Artikel 27}, das auf einen Zeitraum von zehn Jahren angelegt werden sollte. Das war fiir die Länder nicht akzeptabel, da es einen weiteren Fördertatbestand neben dem Fonds "Deutsche Einheit" begründet hätte. Aus der Liste B (Rechtsangleichung) hervorzuheben sind vor allem das Eintreten der (SPD-geflihrten) Länder ftlr die Aufrechterhaltung des DDR- Wahlrechts zwischen Wehr- und Zivildienst, ftlr das Tatortprinzip beim Schwangerschaftsabbruch und die Forderung, entgegen den Vorstellungen der Bundesregierung auch das Klageerzwingungsverfahren auf die ehemalige DDR auszudehnen, um die aus der Vergangenheit belasteten DDR-Staatsanwaltschaften mit den Wirkungen des Legalitätsprinzips zu konfrontieren. Weitere Fragen aus diesem Katalog betrafen die Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr und den Kündigungsschutz im Wohnraummietrecht 4*
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Die Liste C (Anliegen der DDR-SPD) enthielt schließlich eine Reihe von Fragen, die von der SPD angehörigen ehemaligen Mitgliedern der DDR- Regierung vorgebracht worden waren. Zu den-angesprochenen Fragen gehörten u.a.: Das Kommunale Vermögensgesetz der DDR müsse weitergelten (eine Forderung, die vom Deutschen Städtetag unterstützt wurde). Im Beamtenrecht wurde die vorgesehene dreijährige Probezeit als Diskriminierung von DDR-Bürgern betrachtet. Es müsse abgewendet werden, daß sämtliche Leitungsfunktionen mit West-Bürgern besetzt würden, eine Position, die von allen DDR-Parteien geteilt werde. Das Staatsziel Umweltrecht müsse im Grundgesetz verankert werden. Weitere Anliegen betrafen den Wunsch nach einer Regionalisierung des Treuhandvermögens und die Schaffung eines Sondervermögens Land- und Forstwirtschaft. In einer sehr dichten Tagungsfolge, während derer auch zahlreiche Arbeitsgruppen parallel zur Plenarverhandlung tagten, wurde der Textentwurf zwischen den Delegationen weiterverhandelt Zur Lösung der Probleme wurden die Länder in zunehmender Intensität einbezogen. Minister Clement hatte dem Verhandlungsfilhrer der Bundesregierung, Bundesinnenminister Schäuble, vor Beginn der dritten Verhandlungsrunde im Kanzleramt die Position der SPD (und der von der SPD gefllhrten Landesregierungen) und ihre Disposition, notfalls aus der Vertragslösung auszusteigen, anband des 8-Punkte-Papiers vom 19. August in aller Klarheit erläutert. Die weitere Teilnahme der A-Länder an den Verhandlungen stand unter dem Vorbehalt greifbarer Fortschritte in den dort genannten Bereichen. Das war die Grundlage filr die Einsetzung besonderer Arbeitsgruppen, die sich - teilweise parallel zu den Verhandlungen in der offiziellen Delegationen- mit den in dem Katalog aufgefilhrten Fragen befaßten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt fand neben der offiziellen Staatsvertragsverhandlung zwischen den beiden deutschen Regierungen eine Parallelverhandlung zwischen Bundesregierung und SPDOpposition statt, wobei die letztgenannte Beratungsrunde politisch zunehmend bedeutsam wurde. FederfUhrend war filr die SPD mit dem Chef der nordrheinwestflllischen Staatskanzlei weiterhin die Länderseite; aber das politische Gewicht der SPD-Fraktion und des Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine war deutlich spürbarer geworden. Zu den acht in dem Papier vom 19. August 1990 enthaltenen Kritikpunkten (und einigen weiteren politisch besonders bedeutsamen Gegenständen) gab es in den folgenden Tagen intensive Verhandlungen, die in einigen Bereichen zu Bewegungen der Bundesregierung in Richtung auf die SPD-Position filhrten. Als Ministerpräsident Oskar Lafontaine sich am 23. August zur Vorbereitung seiner Rede im Deutschen Bundestag zum Einigungsprozeß über den aktuellen Beratungsstand informieren ließ, war festzustellen:
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(1) Zum Komplex der offenen Vermögensfragen hatte der Bundesjustizminister die Vorlage einer Kompromißformel angekündigt; eine Arbeitsgruppe sollte sich nachmittags treffen. Den Gemeinden sollten Investitionen durch Übergang auf die Entschädigungsregelung (statt Rückgabe) erleichtert werden, falls die Investitionsentscheidung sonst gefahrdet wäre. Die verfassungsrechtliche Absicherung der Regelung im Einigungsvertrag sollte durch ausdrückliche Nennung des Artikels 14 GG in der Übergangsvorschrift sichergestellt werden. In der Arbeitsgruppensitzung im Bundesjustizministerium war die Position des die Beratung leitenden Staatssekretärs Dr. Kin/ce/ allerdings äußerst defensiv. Die Vertreter der DDR-Regierung verhielten sich völlig passiv. Das bestätigte in der Delegation der A-Länder den Eindruck, daß die DDR-Regierung die Interessen der eigenen Bevölkerung - möglicherweise auch mangels der notwendigen Fachleute - nicht wirksam wahrnahm, während auf Seiten der Bundesregierung die Wahrnehmung der Interessen der Alteigentümer im Vordergrund stand. Immerhin wurde im Ergebnis die Restitution von Eigentumsrechten an Grundstücken und Gebäuden ausgeschlossen, wenn das betreffende Grundstück oder Gebäude auf einer gesicherten wirtschaftlichen Planungsgrundlage für förderungswürdige Investitionszwecke benötigt würde.
(2) Zur Finanzausstattung von Ländern und Gemeinden der ehemaligen DDR war ein Verhandlungsstand erreicht, wonach die DDR-Länder (entgegen dem Zwischenstand) nicht mehr an den Schulden (Zinsleistungen des Sondervermögens) beteiligt werden sollten. Eine Arbeitsgruppe hatte Einvernehmen darüber erzielt, daß das Kommunalvermögensgesetz der DDR aufrechterhalten bleiben sollte. Für die allmähliche Steigerung des "Ostanteils" an der Umsatzsteuer war ein Stufenplan verabredet worden, nach dem sich dieser Anteil von 1991 bis 1994 in 5-Prozent-Stufen von 55 auf70 Prozent erhöhen sollte, wobei dieser Anteil auf den durchschnittlichen Umsatzsteueranteil pro Einwohner in den alten Ländern bezogen war. Gleichzeitig wurde der Länderanteil am Fonds "Deutsche Einheit" von 80 auf 85 Prozent erhöht. Übergangsweise wurde dem Bund in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Forschung sowie Sport eine Mitfinanzierungskompetenz im Beitrittsgebiet eingeräumt. (3) Das Stasi-Vermögen sollte - allerdings nicht über die Länder und Gemeinden, sondern über die Treuhand - zur Umstrukturierung der Wirtschaft verwandt werden, soweit es nicht bereits neuen sozialen Zwecken zugefUhrt sei. (4) In Bezug auf die Tätigkeit der Treuhand sollten die Privatisierung und wettbewerbliehe Strukturierung nicht mehr als zentralstaatliche Aufgabe festgeschrieben werden. (5) Zum notwendigen Personalabbau im öffentlichen Dienst gab es ein Zwischenergebnis, das auf eine Verbesserung der Vorruhestandsregelung und eine aktive Umschulungs- und Fortbildungspolitik abzielte. Harnburg war im Ver-
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lauf der Verhandlungen für die Einrichtung einer "Gemeinsamen Personalfuhrungsstelle" eingetreten, die der Bund als "Bündelung sozialer Brennpunkte" in einer zentralen Institution ablehnte. An dieser Position hielt der Bundesinnenminister später auch fest, als es im Anschluß an das Spitzengespräch vom 26. August zu überparteilichen Verhandlungsrunden zu einzelnen Fragenkreisen kam. (6) Besonders schwierig gestaltete sich die Aufrechterhaltung des Kündigungsschutzrechts der DDR zugunsten von Wohnraummietern. Die Bundesregierung trat für kurze Übergangsfristen ein. Staatssekretär Dr. Kinkel erklärte, hierbei befinde er sich mit der DDR "im Konsens" . Fortschritte waren kaum zu verzeichnen. (7) Auch zum Komplex Einheitlichkeit der Rechtsverhältnisse im künftigen Deutschland, unter dem die SPD-Seite konkret die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, des Wahlrechts zwischen Wehr- und Zivildienst und die Amnestieregelung angesprochen hatte, gab es wenig Fortschritte. Seitens der Bundesregierung gab es im wesentlichen Erklärungen zur Bereitschaft, im Gespräch zu bleiben. (8) Gleiches galt für die von der SPD gewünschten Verfassungsänderungen. Lediglich zum Staatsziel Umweltschutz gab es eine "Gesprächsgrundlage", nach der ein neuer Artikel 20a auf der "anthropozentrischen" Grundlage ohne Gesetzesvorbehalt in Erwägung gezogen werden könne. Darüber hinaus war durch textliche Änderungen in der Präambel und in Artikel 146 klargestellt worden, daß das Grundgesetz noch nicht als die endgültige Verfassung Gesamtdeutschlands gelten sollte. Von Bedeutung war ferner, daß mit der Einfügung des Artikels 17 eine Rehabilitierungsregelung geschaffen und in Artikel 18 die Möglichkeit der Kassation von strafgerichtliehen Verurteilungen in der ehemaligen DDR eröffnet worden war.
VI. Spitzengespräch am 26. August 1990 und anschließende Arbeitsgruppen Insgesamt erschien der SPD-Spitze die Bereitschaft der Regierungskoalition, auf Verhandlungspositionen der SPD einzugehen, nach Beendigung der dritten Verhandlungsrunde zu gering. Der wesentliche Teil der Arbeit zwischen den beiden Regierungsdelegationen war zwar getan, aber politisch ausgewogen erschien der SPD das Ergebnis nicht. Sie bestand deshalb auf einem Gespräch des SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel mit Bundeskanzler Helmut Kohl, das schließlich - nach einigem Zögern des Kanzlers - als Gespräch aller Parteivorsitzenden (mit Delegationen) am Sonntag, dem 26. August 1990, zustandekam.
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Die Entschlossenheit der Opposition, trotzdes durch die Verhandlungsregie der Bundesregierung entstandenen öffentlichen Drucks, der auf einen raschen Abschluß des Vereinigungsvertrages gerichtet war, auf der Durchsetzung der wichtigsten als streitig markierten Positionen zu bestehen, war ausgeprägt. In der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen war schon seit längerem an einer alternativen Regelung der Beitrittsbedingungen durch Gesetz gearbeitet worden, denn daß der Weg über einen Vertrag politisch gangbar bleiben würde, daran bestanden ausreichend begründete Zweifel. Nachdem das Gespräch mit dem Bundeskanzler fllr den 26. August vereinbart worden war, sollte der SPD-Gesprächsflihrer Hans-Jochen Vogel in den Stand gesetzt werden, die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Opposition zu demonstrieren: Bei einem Scheitern des Gesprächs sollte der Entwurf von zwei die Beitrittsbedingungen regelnden Gesetzentwürfen präsentiert werden können, die die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsposition der SPD dokumentierten. Das Beharren auf bestimmten Mindestforderungen, so die Überlegung, durfte nicht als Ausdruck einer gegen die Wiedervereinigung als solcher gerichteten Blockadehaltung diffamiert werden können; deshalb kam es auf eine rasch realisierbare Alternativlösung an. Über den Tisch ziehen lassen wollte man sich aber nicht. Der in DUsseldorf entworfene Text zweier Überleitungsgesetze bedurfte der Ergänzung und Abstimmung mit anderen Ländern und der SPD-Bundestagsfraktion. So traf sich am 26. August 1990 eine Gruppe von Experten im Justizministerium in Hannover, um letzte Hand an die Gesetzentwürfe zu legen. Als die SPD-Delegation am Abend im Bundeskanzleramt zu dem vereinbarten Gespräch erschien, befanden sich bei ihren Unterlagen zwei {per Fax aus Hannover übermittelte) Gesetzentwürfe, die die Einigungsbedingungen weitgehend parallel zum Entwurf des Einigungsvertrages regelten; allerdings nur weitgehend, denn in den streitigen Fragen war natürlich die von der SPD bevorzugte Alternative eingearbeitet worden. Das Gespräch im Bundeskanzleramt endete mit der Verabredung von parteiübergreifenden Arbeitsgruppen zu den wichtigsten verbliebenen Streitpunkten. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen spiegelte die Verschiebung der Verhandlungsfronten wieder, die nun eindeutig zwischen der Koalition und der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag verliefen. Die Koordinierung der "A-Seite" lag zwar weiterhin bei dem Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, Minister Wolfgang Clement, aber nun war die SPD-Fraktion in den Arbeitsgruppen unmittelbar vertreten. In diesen Arbeitsgruppen wurden in teilweise zähen Verhandlungen letzte Veränderungen am bisherigen Verhandlungsergebnis erarbeitet. Der von der SPD, die hier als Sachwalter der ehemaligen DDR auftrat, als am wichtigsten empfundene Fortschritt lag in der Einfilhrung des Tatortprinzips hinsichtlich der übergangsweise unterschiedlichen strafrechtlichen Behandlung von Schwanger-
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schaftsabbrüchen. Gegen diese Lösung hatte sich der Bundesjustizminister bis zuletzt gewandt, wobei ihm die SPD den Vorwurf einer bewußt verfälschenden Darstellung der im strafrechtlichen Kollisionsrecht geltenden Prinzipien machte. Zu den weiteren Themen, die im letzten Verhandlungsstadium von Bedeutung waren, gehörten die Verbesserung der Vorruhestandsregelung in Artikel 30 Abs. 2 und die Verbesserung des sozialen Mieterschutzes.
VII. Abschließende Bemerkungen Am 31. August wurde der Einigungsvertrag in Ost-Berlin unterzeichnet. Die Bundesregierung leitete dem Bundesrat noch am gleichen Tag den Entwurf des Zustimmungsgesetzes gemäß Artikel 76 Abs. 2 GG zu, der die Zustimmung des Bundesrates fand. Im Rückblick auf die Vertragsgeschichte möchte ich als filr die Rolle der Länder im Einigungsprozeß wesentlich die folgenden Erkenntnisse hervorheben: 1. Die Beteiligung der Länder an der Vorbereitung des 1. Staatsvertrages, des Vertrages über die Wirtschafts- und Währungsunion, wurde von den Ländern als unzureichend empfunden. Da schon dieser Vertrag eine weitgehende Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten bewirkte, forderten die alten Länder - parteiübergreifend - gegenüber der Bundesregierung mit Nachdruck eine bessere Einbindung in den Einigungsprozeß ein. 2. Aus der Sicht der Länder begründete der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion die Befürchtung, daß der Bund in Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlichen Kompetenzen politische Grundsatzentscheidungen treffen werde, deren Kosten letztlich die Länder zu tragen haben würden. Aus diesem Grunde drängten sie im Zusammenhang mit dem 1. Staatsvertrag auf eine "Deckelung" ihres Beitrags zum Fonds "Deutsche Einheit". 3. Für die Bundesregierung stellte sich in der Verhandlungsphase zum Einigungsvertrag das Problem, auf welchem Wege sichergestellt werden konnte, daß das Verhandlungsergebnis von Bundestag und Bundesrat - mit verfassungsändernder Mehrheit - ratifiziert werden würde. Die Beteiligung der Länder über die Ministerpräsidentenkonferenz in der Verhandlungsphase diente der politischen Einbindung sowohl des Bundesrates als auch - dies vor allem wegen des Vorsitzes von Nordrhein-Westfalen in der Ministerpräsidentenkonferenz der Bundestags-Opposition in die Verhandlungen. 4. Die alten Länder befürchteten eine Geflihrdung der föderalen Staatsstruktur im Zuge des Einigungsprozesses. Dies war der Hintergrund fllr die von ihnen formulierten "Eckpunkte für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten
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Deutschland", die die Ministerpräsidenten am 5. Juli 1990 verabschiedeten und die in Artikel 5 des Einigungsvertages als Material fiir die anschließende Verfassungsdiskussion aufgefiihrt wurden. 5. Der Wunsch der SPD-Fraktion und der Mehrheit der alten Länder nach einer breiten Verfassungsdiskussion im Zuge des Einigungsprozesses fand im Verhandlungsprozeß keine Resonanz, da die DDR-Regierung ihn nicht aufgriff. Andererseits wurde die Frage der Länderneugliederung, die die Bundesregierung anzustoßen versuchte, von den (alten) Ländern nicht thematisiert. Bundesregierung und alte Länder fanden sich allerdings zu einer Änderung des Stimmgewichts der Länder im Bundesrat (Artikel 51 Abs. 2 GG) zusammen. 6. Die Länder waren sich parteiübergreifend darin einig, daß der Einigungsprozeß nicht Anlaß zur Entwicklung zentralistischer Verwaltungsstrukturen sein dürfe. Deshalb lehnten sie übereinstimmend den DDR-Wunsch nach einem Bundes-Aufbauministerium ab. An dessen Stelle traten Länder-Partnerschaften und die Einrichtung einer Clearing-Stelle. Der Versuch der Länder, die Abwicklung des übersetzten öffentlichen Dienstes der DDR auf der Bundesebene anzusiedeln, scheiterte am Widerstand der Bundesregierung. 7. In der Schlußphase der Verhandlungen- nach dem 19. August 1990 (Treffen der A-Ministerpräsidenten) und noch gesteigert nach dem 26. August 1990 (Gespräch im Bundeskanzleramt)- trat die Beteiligung der Länder hinter derjenigen der Bundestags-Opposition zurück. Diese behielt sich bis zuletzt die Option einer gesetzlichen Regelung der Beitrittsfolgen (an Stelle eines Staatsvertrages) vor, um einige ihrer zentralen politischen Anliegen durchzusetzen. 8. In den Verhandlungen über den Einigungsvertrag haben sich die Verwaltungsebenen von Bund und Ländern in besonderem Maße und mit Erfolg darum bemüht, alle regelungsbedürftigen Fragen aufzuzeigen und unter hohem Zeitdruck angemessen zu lösen. Ich halte den deutschen Einigungsprozeß fiir einen überzeugenden Beleg dafiir, daß die deutsche föderale Staatsstruktur effizientes politisches Handeln durchaus nicht verhindert, sondern je nach Sachlage sogar besonders wirkungsvolle Entscheidungsgänge eröffnet.
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ANHANG
Erklärung der Regierungschefs der SPD-geführten Länder vom 19. August 1990 zum Stand der Verhandlungen zum Einigungsvertrag Die politischen Ereignisse der letzten Wochen haben auch flir die Verhandlungen zum Einigungsstaatsvertrag eine völlig neue Lage geschaffen: - Ministerpräsident de Maiziere hat die DDR-Koalition leichtfertig und willkürlich gebrochen. Der Verhandlungspartner DDR hat damit keine handlungsfähige Regierung mehr; eine parlamentarische Mehrheit fUr den Einigungsstaatsvertrag ist offen. - Unter den von der Bundesregierung zu verantwortenden Bedingungen verschärft sich die wirtschaftliche und soziale Lage fUr die Menschen in der DDR von Stunde zu Stunde. Es besteht dringender Handlungsbedarf zum Ausbau der Infrastruktur, zur Stabilisierung der Unternehmen und zur Sicherheit der Beschäftigung. - Die Bundesregierung verschleiert nach wie vor die Finanzsituation in der DDR und täuscht die Menschen in der Bundesrepublik über die Notwendigkeit von Steuererhöhungen. Die Weigerung, unverzüglich einen Kassensturz vorzunehmen, endlich realistische Finanzdaten vorzulegen und die Verschiebung des Bundeshaushalts 1991 hinter die Wahl vom 2. Dezember lassen ihre Forderungen an die Länder der Bundesrepublik Deutschland nicht nachvollziehbar und unglaubwürdig werden. Die Regierungschefs der A-Länder stellen fest, daß der Entwurf zum Einigungsstaatsvertrag in folgenden zentralen Punkten geändert werden muß, um zur Gesundung der Wirtschaft der DDR beizutragen und den Menschen in der DDR zu helfen: - Der Entwurf beseitigt nicht die mangelnde Rechtssicherheit flir Investitionen. Die Regelungen der Offenen Vermögensfragen, insbesondere des Eigentums an Grund und Boden, ist unzureichend. Entschädigung muß Vorrang haben vor Rückübereignung. - Der Entwurf versäumt es, Länder und Gemeinden in der DDR finanziell handlungsfähig zu machen. So verhindert er den Aufbau einer wirtschaftsnahen Infrastruktur und verzichtet vor allem auf die Kommunen als Motor öffentlicher Investitionen mit wichtiger Anstoßfunktion fUr private Investitionen. Die Länder weisen darauf hin, daß der Bund nach den Vereinbarungen zum I. Staatsvertrag/Fonds "Deutsche Einheit" die politische und finanzielle Verantwortung dafiir trägt, daß die Länder und Gemeinden auf dem
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Gebiet der heutigen DDR über eine angemessene Finanzausstattung verfügen. - Der Entwurf verzichtet völlig auf eine klare Festlegung hinsichtlich des Vermögens der SED/PDS, der Blockparteien und der sogenannten Massenorganisationen, das für die wirtschaftliche Umstrukturierung in der DDR verwandt werden muß. - Die vorgesehenen zentralstaatlichen Regelungen für Verwaltungs-, Finanzund Treuhandvermögen werden von den Regierungen der A-Länder so nicht akzeptiert. - Die Zukunft des öffentlichen Dienstes in der DDR mit fast 2 Mio Menschen (ohne Bahn, Post, NVA) bleibt ungewiß oder soll den künftigen Ländern aufgelastet werden. Bereits jetzt findet in der DDR eine sachlich nicht gerechtfertigte Verschiebung von Personal in Verwaltungsbereiche statt, die später auf die Länder übergehen. - Soziale Schutzfunktionen für die Menschen in der DDR sind im Entwurf an zahlreichen Stellen mangelhaft geblieben. Eine schlichte Überragung des Kündigungsrechts für Wohnraum und der Voraussetzungen für Mieterhöhungen berücksichtigen nicht die angespannte Wohnraumversorgung und die Einkommenssituation in der DDR. Ungenügend sind weiter die Vorruhestandsregelung, die Krankenhausfinanzierung und die Vorkehrungen vor Anpassung der DDR-Landwirtschaft an die EG. - Keine Bewegung zeigt die Bundesregierung in wichtigen Fragen, die die Einheitlichkeit der Rechtsverhältnisse im künftigen Deutschland betreffen. Beratung und Hilfe statt Strafe beim Schwangerschaftsabbruch, Wahlrecht zwischen Wehrdienst und Zivildienst bei grundsätzlich gleicher Dauer und Schaffung von Rechtsfrieden (Amnestie) nicht nur für Stasi-Angehörige, sondern auch für Friedensdemonstranten sind für die Regierungen der ALänder unverzichtbare Forderungen. - Das bloße Inaussichtstellen einer Diskussion über künftige Verfassungsänderungen erscheint absolut unzureichend. Erforderlich ist eine klare Vereinbarung über - Verfassungsänderungen zur Fortentwicklung des Föderalismus im Sinne des gemeinsamen Beschlusses der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, - die Aufnahme von Staatszielbestimmungen, insbesondere zum Umweltschutz und zur Konkretisierung des Sozialstaatsangebots. Über die neue, auf dem Grundgesetz aufbauende Verfassung soll das Deutsche Volk entscheiden.
Hubert Wicker DER ANTEIL DERALTEN LÄNDER BEIM AUFBAU VON VERWALTUNG UND JUSTIZ IN DEN NEUEN LÄNDERN 1. Die Situation 1990/91 in den Verwaltungen der DDR bzw. der neuen Länder Zunächst einige Angaben zu meiner Person. Meine ersten dienstlichen Kontakte zur DDR-Verwaltung hatte ich im Januar 1970 als stellvertretender Leiter der Abteilung Straßenbau im Innenministerium Baden-Württemberg. Damals kamen zwei Mitarbeiter der Bezirksdirektion Straßenbau aus Dresden zu einer ersten Kontaktaufnahme. Überraschend für die Kollegen aus Dresden war, wie einfach es war, in das Stuttgarter Innenministerium zu kommen, denn es gab keine Kontrollen oder ähnliches. Während es zwischen den Diplomingenieuren der damals noch getrennten deutschen Staaten fast keine Verständigungsschwierigkeiten gab, waren die Unterschiede bei den rechtlichen und verwaltungsmäßigen Voraussetzungen für eine Straßenbaumaßnahme unübersehbar. Kurze Zeit darauf wurde eine sächsisch-baden-württembergische Verkehrskommission gebildet, deren Mitglied ich war. Schon damals fiel auf, daß bei den Kommissionssitzungen die Partner auf der Seite Sachsens immer wieder wechselten. Außerdem waren die Überraschungseffekte auf beiden Seiten groß, je näher man die jeweils andere Verwaltung kennenlemte. Für die Dresdner war es nicht vorstellbar, daß trotz eines ca. 15 mal höheren Fahrpreises bei den Stuttgarter Straßenbahnen ein Betriebsdefizit von rd. 50 % erwirtschaftet wurde. Die Fachleute aus der DDR wußten allerdings nicht, oder behaupteten dies zumindest, wie hoch ihr Defizit in Dresden war. Im August/September 1990 war ich zwei Monate, als einer der ersten Beamten Baden-Württembergs, noch in die ehemalige DDR (formal zum Ministerpräsidenten der DDR) nach Dresden abgeordnet, um den dortigen Aufbaustab für den Freistaat Sachsen bei der Neuorganisation der Landesverwaltung zu beraten. Von November 1991 bis Januar 1997 war ich dann Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium des lnnem in Dresden. Von Herrn Professor Klein war Staatssekretär Dr. Menz, der Chef der Staatskanzlei in Stuttgart, gebeten worden, diesen Vortrag zu halten. Herr Dr. Menz hat mich dann gebeten, aufgrund meiner noch frischen Erfahrungen, den Vor-
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trag zu übernehmen. Leider ist es uns, trotz vielfältiger Bemühungen, nicht gelungen, eine abschließende Aufstellung der einzelnen Hilfen zu erhalten, noch nicht einmal ftlr Baden-Württemberg im Verhältnis zu Sachsen, geschweige denn insgesamt. Ich will nun aus der Not keine Tugend machen, aber je länger ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto uninteressanter hielt ich es auch, alle möglichen personellen Hilfen, die es gab, aufzuzählen. Ich halte es fiir viel interessanter und auch ftlr notwendig, über die Erfahrungen bei der Hilfe der alten Länder in den neuen Ländern zu berichten. Selbstverständlich kann es sein, daß andere ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Auch will ich die Kommunalverwaltungen mit in meine Betrachtungen einbeziehen. M. E. ist ftlr ein Staatswesen eine funktionierende Kommunalverwaltung die wichtigste aller Verwaltungen, denn sie hat am häufigsten den direkten Kontakt zum Bürger. Auch sind im Zusammenhang mit der "Verschwendungsdiskussion" häufig Beispiele aus der Kommunalverwaltung herangezogen worden. Ab dem 3. Oktober 1990 galt plötzlich ein völlig neues Verwaltungs- und Rechtssystem fiir die öffentliche Verwaltung in den neuen Ländern. Im Gegensatz zu den anderen Ostblockländern, die auch neue Verwaltungs- und Rechtssysteme einfiihrten, gab es nun aber ftlr Gesamtdeutschland ein System, das bis dahin bereits 80 % der Bevölkerung beherrschte - bis hin zum Gesetz der Marktwirtschaft - und 20 %, die Mitbürgerinnen und Mitbürger aus den neuen Ländern, beherrschte es nicht. In den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks herrschte insoweit Chancengleichheit des Staatsvolkes - allerdings aufwesentlich niedrigerem Niveau; in Gesamtdeutschland haben und hatten die Westdeutschen Vorteile. Aus diesem Grund war es unumgänglich, und ich sehe auch aus heutiger Sicht keine Alternative, daß ab dem 3. Oktober 1990 bzw. schon vorher westdeutsche Verwaltungsexperten auf allen Ebenen der Verwaltungen in Ostdeutschland tätig waren und heute noch sind. Hierbei läßt sich feststellen, daß die Hilfe aus dem Westen auf höherer Ebene wesentlich intensiver war, vielleicht weil die Aufgaben attraktiver und karriereförderlicher waren. In vielen Kommunalverwaltungen, auch größerer Städte oder Landkreise gab es keinen einzigen ausgebildeten Verwaltungsbeamten bzw. Volljuristen, auf der Ebene der unteren Sonderbehörden auch ganz selten, bei den Regierungspräsidien vereinzelt (viele westdeutsche Berufsanflinger), während es in den Ministerien bis zu 40 und mehr Prozent westdeutsche Laufbahnbeamte gab, insbesondere am Anfang.
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Die DDR, Sie wissen es, war ein zentralistisch regierter Staat, es gab keine Länder, keine föderalen Strukturen, keine kommunale Selbstverwaltung. In den 15 Bezirkshauptstädten (Rat des Bezirks) wurden die Vorgaben aus Ostberlin vollzogen und durchgesetzt, ohne eigene Entscheidungskompetenzen. Das gleiche galt fiir die jeweiligen Räte auf kommunaler Ebene. Die Verwaltungen waren weit überbesetzt, sie beschäftigten sich mit Aufgaben, die trotz der starken Ausweitung der Aufgabenwahrnehmung der öffentlichen Hand im Westen (noch) unbekannt waren. Es ist wohl nachvollziehbar, daß der überwiegende Teil derer, die sich in den Verwaltungen der neuen Länder befanden, versucht haben, dort zu bleiben. Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden, denn es wäre auch gar nicht anders gegangen. Woher hätte man z. B. 14 000 Polizisten nehmen sollen, die auch noch ortskundig gewesen wären. In der Freude über den Fall der Mauer geriet fast in Vergessenheit, daß viele derjenigen, die jetzt eifrige Bereitschaft zum Aufbau eines Rechtsstaates bekundeten, bisher linientreue Verteidiger des SED-Regimes waren. Den allermeisten ist es bis zum heutigen Tag gelungen, in der Verwaltung zu bleiben, wobei sich viele bemühen und sich auch fortgebildet haben. Aber nicht alle, bei manchen hat man sogar den Eindruck, sie wollen keinen Erfolg des neuen Systems.
2. Anforderungen an die Verwaltung nach der EinigungErwartung, Anspruch, Wirklichkeit Mit dem 3. Oktober 1990 bestanden die neuen Länder und damit formal jeweils eine Landesverwaltung. Es gab in jedem Ministerium zwischen 20 und 50 Mitarbeiter einschließlich des Ministers und des Staatssekretärs. Aus diesem Kern entwickelten sich dann - angesichts der Umstände - im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeit funktionierende Ministerien. Ähnliches gilt fiir die Regierungspräsidien, soweit sie in den neuen Bundesländern eingerichtet wurden. Dies geschah in Sachsen und Sachsen-Anhalt; Thüringen bildete ein Landesverwaltungsamt, das in etwa die Aufgaben von Regierungspräsidien wahrnimmt, das aber filr das gesamte Land zuständig ist. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg verzichteten auf diese Verwaltungsebene. Insbesondere in den ehemaligen Bezirkshauptstädten rekrutierte sich das Personal der Regierungspräsidien aus den ehemaligen Räten der Bezirke, was bei der Bevölkerung, insbesondere am Anfang, auf Ablehnung stieß. Sie können sich vorstellen, unter welchen Bedingungen die Verwaltung zum damaligen Zeitpunkt noch arbeiten mußte. Ich werde später noch darauf eingehen. Auch nach dem 3. Oktober 1990
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war es noch schwierig, eine Telefonverbindung nach Westdeutschland zu bekommen, dies war sowohl ein privates, als auch ein dienstliches Problem Die verantwortlichen Personen kannten sich oft nicht. In den Ministerien wechselten häufig die Leihbeamten und die ostdeutschen Mitarbeiter mußten aufgrund der Abfrage bei Gauck häufig ausgewechselt werden. Dies galt ebenso für viele kommunale Mandatsträger, Landräte, Oberbürgermeister und Bürgermeister. In manchen Verwaltungen herrschte Konkurrenz unter verschiedenen westdeutschen Landsmannschaften, die dort tätig waren, daneben konnte es aber auch noch zwei Gruppen von Ostdeutschen geben, diejenigen, die neu in die Verwaltung gekommen und unbelastet waren und solche, die aus der ehemaligen DDR-Verwaltung stammten. Auch dies fiihrte z. T. zu nicht unerheblichen Spannungen undjeder kann sich vorstellen, daß es ein weiter Weg ist, bis in solchen Behörden ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht. Gleichzeitig lastete ein hoher Erwartungsdruck auf den Verwaltungen. Zum einen erwarteten Investoren aus Westdeutschland schnelle und stets positive Bescheide, während die Bevölkerung in Ostdeutschland eine hohe Erwartung an eine nunmehr rechtsstaatliche Verwaltung hatte, die zügig und effizient arbeiten sollte. Sie sah sich aber mit den gleichen Bediensteten konfrontiert, mit denen sie früher zu verhandeln hatte, die sich aber bei den neuen Gesetzen nicht auskannten, so daß vielerorts zunächst eine große Verunsicherung und zum Teil auch Stillstand eintrat. Klar ist, daß insbesondere auf der kommunalen Ebene viele, gerade in der ersten Zeit, Schwierigkeiten mit der neuen Freiheit hatten. Hier wäre eine stärkere personelle Hilfe notwendig gewesen. Selbstverständlich gab es viele verdienstvolle Partner- oder Patenschaften zwischen einzelnen Gemeinden, Städten und Kreisen, aber diese Partnerschaften beschränkten sich häufig auf mehr oder weniger kurzfristige Besuche. Notwendig wäre gewesen, daß in Verwaltungen je nach Größe ein oder mehrere Laufbahnbeamte ständig vor Ort gewesen wären. Leaming by doing hätte in viel breiterem Maße die Devise sein müssen, als es tatsächlich der Fall war. Auf der Ebene der Regierungspräsidien und der Ministerien gab es ganz ohne Zweifel, insbesondere am Anfang, eine verhältnismäßig großzügige Hilfe der einzelnen Länder, wobei die Begeisterung auch hier verhältnismäßig schnell nachgelassen hat. Auf die einzelnen Beamten bezogen war es ganz zwangsläufig so, auch bei mir persönlich, daß natürlich nur jemand in den Osten gegangen ist, wenn er einen entsprechenden Karrieresprung gemacht hat. Auch hier wäre es m. E. besser gewesen, mehr Beamte abzuordnen, die in ihrer alten Funktion arbeiteten und dann mit einer vorzeitigen Beförderung nach der Rückkehr belohnt worden wären. Bereits im August 1990 habe ich in einem Bericht an das Staatsministe-
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rium Stuttgart geschrieben, es würden weniger Ministerialräte und mehr Amtsräte benötigt. Aber auch die Amtsräte, die häufig sofort mit Aufgaben von Ministerialräten betraut wurden, waren, zumindest z. T, mit dieser neuen Aufgabe überfordert. Ich habe vorher schon darauf hingewiesen, daß es bezüglich der Technik des Straßenbaus zwischen den Diplomingenieuren fast keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Es kann festgestellt werden, daß die notwendige Verwaltungshilfe in den technischen Verwaltungen wesentlich geringer war, als z. B. in der Justiz oder aber auch in der Steuerverwaltung und insgesamt in der allgemeinen Verwaltung, in der außerordentlich komplexe Rechtssysteme übernommen werden mußten. 3. Anforderungen an ,.Helfer"- Erwartungen der ,.Helfer"
Mancher Helfer, der aus Westdeutschland kam, begann dort mit der Verwirklichung der Ideen, mit denen er in Westdeutschland gescheitert war (und zwar zu Recht). Dies war nun nicht unbedingt Sinn und Zweck der Übung. Selbstverständlich, insbesondere am Anfang, gab es ungeheuer kurze Wege in den neu gegründeten Ministerien. Es mußten ganz schnell Entscheidungen getroffen werden. Diese wurden häufig unter Mißachtung von Zuständigkeiten durch interministerielle Besprechungen am frühen Morgen oder am späten Abend oder auch am Wochenende getroffen. Viele der Helfer der ersten Stunde waren Menschen, die hoch flexibel waren, stark belastbar und die sich "dem Abenteuer" Aufbau Ost bewußt gestellt haben. Es gab aber auch bereits kurz nach der deutschen Einigung den sog. "Dimido", also den Beamten aus Westdeutschland, der dienstags kam und donnerstags wieder abflog, der Busch-Zulage und Trennungsgeld kassierte und der seinen Job in den neuen Ländern nur als Karrieresprungbrett betrachtete. Es gab also beide, in welchem zahlenmäßigen Verhältnis sie standen, wage ich nicht zu beurteilen, ich habe ungeheuer viele gute Erfahrungen gemacht, ich habe aber auch gerade mit den Westleibbeamten z. T. sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Bei dem einen oder anderen hatte man den Eindruck, er war zum absoluten Experten des Reisekostenrechts in Verbindung mit dem Trennungsgeldrecht geworden. Aber auch auf die Helfer warteten keine einfachen Zeiten. In einem abschließenden Rückblick des Justizministeriums Baden-Württemberg vom I. Juli 1995 wird m. E. sehr treffend die Situation zu Beginn des Einigungsprozesses beschrieben: "Was fanden die baden-württembergischen Beamten und Richter vor, die ab September 1990 in Sachsen eintrafen?
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Zunächst galt es, eine Unterkunft zu besorgen - ein äußerst schwieriges Unterfangen, da Hunderte von Unternehmen aus der Bundesrepublik und aus dem Ausland Wohnungen flir ihre Mitarbeiter suchten. Manch einer mußte wochenlang auf einem Feldbett im Keller seines Dienstgebäudes übernachten. Schließlich kamen die Aufbauhelfer in Pensionen, Hotels und ehemaligen Wohnheimen unter, die teilweise akzeptabel, teilweise jedoch unzulänglich ausgestattet waren. Die Umgebung war trostlos, das Land lag tagelang unter einer Dunstglocke. Der Verputz für Gebäude war schwarz verfärbt. Prächtige Stadthäuser aus der Zeit der Jahrhundertwende waren seit Jahren verwahrlost, dem Verfall preisgegeben; aus löcherigen Dächern wucherten Birken. Die Verbindung zur Heimat war gekappt. Telefonieren war nicht möglich. Briefe waren ein bis zwei Wochen lang unterwegs. Heimflüge waren wegen der langen Vorbuchungszeiten kaum zu bekommen. Heimfahrten mit einem Pkw dauerten auf miserablen Straßen manchmal 8, nach Wintereinbruch sogar bis zu 12 Stunden. Die ersten Aufbauhelfer wurden von der sächsischen Bevölkerung begeistert begrüßt. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, die mitreißend war. Die Menschen waren von ihrer gelungenen Revolution richtiggehend berauscht und empfmgen die aus dem Westen kommenden Leihbeamten als Vorboten des Wohlstands." Aus dem gleichen Bericht später: "Die Zusammenarbeit mit den sächsischen Bediensteten war nicht einfach. Die meisten Menschen in der DDR hatten sich mit dem menschenfeindlichen politischen System arrangiert und Nischen gefunden. Sie wollten nicht auffallen, und zwar auch nicht durch Leistung. Verantwortungsgeftlhl und Selbstän. digkeit waren einer gelassenen Lebenseinstellung gewichen, die Schwierigkeiten erwartete und sie ungerührt hinnahm. Der unvermittelte Einbruch der vor Energie, Tatendrang und Engagement geradezu berstenden Aufbauhelfer, die selbständiges Mitdenken, Hinzulemen, Arbeitseifer und den Willen zur Bewältigung der Schwierigkeiten forderten, verunsicherte die einheimischen Mitarbeiter zutiefst. Aus den Vorboten des Wohlstandes wurden in ihren Augen Besatzer, die das Heft an sich rissen und dem wohlbekannten, gewohnten und bequemen Arbeitsstil ein Ende bereiteten. Die instinktive Reaktion vieler war Abwehr." Soweit dieser Bericht, den ich ftlr sehr zutreffend halte.
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4. Die "Gewinnung" von Personal in den alten Ländern
In der Regel hatten die alten Länder zur Vorbereitung der Einigung Stabsstellen eingerichtet, die den Personaleinsatz koordinierten. Vor und nach dem 3. Oktober 1990 herrschte in den Verwaltungen und bei den Behördenleitern große Begeisterung. Die Hilfsbereitschaft war groß, man warb um Aufbauhelfer, die besten sollten gehen, es wurden Stellenpools gebildet, es bestand die Möglichkeit der Beförderung auf einer Poolstelle während der Abordnung. Im Laufe der Zeit bildeten sich dann Kontakte der jeweiligen Amtsleitungen zu den Partnerministerien in den alten Bundesländern heraus, um so direkt Personal zu erhalten. Während am Anfang eine große Bereitschaft bei den Länderverwaltungen vorhanden war, mit Personal zu helfen, konnte bereits ab dem Jahr 1992 eine gewisse Zurückhaltung beobachtet werden. Abordnungsbereiten Beamten wurden in der Regel zwar keine Steine in den Weg gelegt, es wurde aber auch nicht mehr aktiv llir eine Abordnung in den Osten geworben. Die eigenen Schwierigkeiten, Personalabbau in den alten Ländern, das beginnende Ende der Euphorie der deutschen Einigung, machten es immer schwieriger, noch entsprechend qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, die bereit gewesen wären, zumindestens ein oder zwei Jahre in den neuen Ländern zu bleiben. Erste Rückkehrer machten auch bereits bei ihrer Rückkehr schlechte Erfahrungen, denn sie wurden z. T. auf niederrangigeren Dienstposten eingesetzt, als sie innehatten, bevor sie im Osten eine wesentlich höherrangige Aufgabe tur ein oder zwei Jahre, z. T. sehr erfolgreich, wahrnahmen. 5. Problematik westdeutscher Berufsanfänger in den ostdeutschen Verwaltungen
Die logische Konsequenz der Tatsache, daß zu wenig westdeutsche Beamte endgültig oder vorübergehend llir eine Mitarbeit in den ostdeutschen Ländern gewonnen werden konnten, machte es notwendig, in starkem Umfang westdeutsche Laufbahnbeamte, die Berufsanfänger waren, sowohl im gehobenen Dienst, als auch insbesondere im höheren Dienst einzustellen. Von Ausnahmen abgesehen waren es solche Berufsanfänger, die zunächst vergeblich im Westen versucht hatten, in den öffentlichen Dienst zu kommen. Als dies aufgrund mangelnder Qualifikation nicht gelang, versuchten sie es in Ostdeutschland. Gerade in den Jahren 1991, 1992 und auch 1993 wurden dort sehr viele Juristen benötigt und eingestellt und sofort mit Aufgaben betraut, die im Westen ein 10 Jahre Älterer erledigte, der darüber hinaus, also neben einer längeren Lebens- und Berufserfahrung, in aller Regel auch noch die besseren Examensnoten hatte. Während kurz zuvor noch vor einer Juristenschwemme gewarnt worden war, war der Bedarf nun fast nicht zu decken.
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Dies war nicht einfach, auch die jungen Leute, die z. T. voller Idealismus waren, hatten einen wesentlich schwierigeren Berufsstart als ihre Kollegen in Westdeutschland. Die wenigen erfahrenen Beamten in den Verwaltungen waren so überlastet, daß sie diesen Berufsanfängern häufig nicht die notwendigen Hilfen beim Einstieg in das Berufsleben geben konnten. Mit der Zeit wuchs auch der Unmut in den Amtsstuben, da immer mehr der führenden Positionen bis hin zur Referentenebene auf Dauer mit Westdeutschen besetzt wurden. So sind bis zum heutigen Tage insbesondere in den Innen-, Justiz- und Finanzministerien noch sicherlich 80 %, wenn nicht mehr, der Abteilungsleiterposten und der Referatsleiterstellen mit Westdeutschen besetzt. Dies ist auch gar nicht anders möglich, da auf vielen Positionen eben juristischer Sachverstand benötigt wird und in den ersten Jahren ostdeutsche Volljuristen zwangsläufig gar nicht zur Verfügung stehen konnten. Im übrigen sind dann die ostdeutschen Volljuristen häufig, soweit ihre Examensnoten dies zuließen, in die freie Wirtschaft gegangen, und hatten kein Interesse an einer Verwendung im öffentlichen Dienst
6. Umfang der Hilfe Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, daß es unmöglich war umfassende Zahlen zu erhalten, in welchem Umfang geholfen wurde. Angesichts der riesigen Transferleistungen - die aber nicht nur notwendig, sondern auch berechtigt waren - ist es letztlich auch nicht von entscheidender Bedeutung, welche Summen aufgewandt wurden. Ab 1993 fand ohnehin eine Kostenerstattung zunächst teilweise (1993 40 %, 1994 70 %) und ab 1995 100 %, statt. In einem Vermerk vom 2. Oktober 1995 des Landes Baden-Württemberg wird festgehalten, daß 1992 827, 1993 800, 1994 743 und 1995 672 Beamte in den neuen Ländern eingesetzt waren. Davon 125 im Bereich des Innenministeriums, 206 bei der Justiz und 203 im Bereich des Finanzministeriums (0 1.0 1.1995), der Rest verteilte sich auf die anderen Ressorts. Bis zum 2. Oktober 1995 belief sich der Gesamtaufwand des Landes filr die Verwaltungshilfe aufrd. 350 Mio DM. Wie ich bereits ausfilhrte, wurde ein Teil davon aber wieder erstattet. Wenn wir unterstellen, daß Baden-Württemberg ca. ein l/5 bis ein l/6 der Verwaltungshilfe der alten Länder leistete, werden die Dimensionen in etwa deutlich. Ein interessantes Schlaglicht ist ein Zitat aus dem Abschlußbericht des baden-württembergischen Justizministeriums vom 01.06.1996. Dort wird ausgefUhrt: "Die 61 . Konferenz fiir Justizminister und Senatoren vom 28. bis 31. Mai 1990 bekundete ihre Bereitschaft, "die DDR im Zusammenhang mit der Bit-
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von Ländern beim Aufbau von Landesjustizverwaltungen und bei der Neuordnung und Verbesserung der Justiz zu unterstützen". Die Justizminister erklärten, "sich daflir einzusetzen, daß etwa 100 Richter flir die Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit... in die DDR entsandt werden, wobei regionale Gesichtspunke zu berücksichtigen sind". Auf die Justiz des Landes BadenWürttemberg wäre nach diesem Beschluß die Entsendung von 16 Richtern zugekommen. Seitdem sind 5 Jahre vergangen. Nicht 16, sondern 836 baden-württembergische Justizangehörige haben beim Aufbau einer rechtsstaatliehen Justiz in den neuen Bundesländern und vor allem im baden-württembergischen Partnerland Sachsen vor Ort maßgeblich mitgearbeitet. Dieser Einsatz war erforderlich, um eine der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben zu bewältigen, die die deutsche Einigung mit sich gebracht hat. Welche Anstrengungen der Aufbau einer rechtsstaatliehen Justiz im Osten erfordern und welche Zeit er in Anspruch nehmen würde, ahnte im Jahr 1990 noch niemand. Die damaligen Vorstellungen erscheinen im Rückblick ebenso naiv wie abenteuerlich." Soweit aus dem Abschlußbericht des baden-württembergischen Jusitzministeriums. Ich habe vorher schon einiges Kritisches zu den kommunalen Hilfen gesagt, die ich flir mindestens genauso wichtig gehalten hätte wie die Hilfen des Landes. Das Innenministerium Baden-Württemberg kommt am 01.12.1995 zu folgender Einschätzung: Trotz verschiedener gemeinsamer Bemühungen der kommunalen Landesverbände und des Innenministeriums war die Bereitschaft von baden-württembergischen Kommunalbediensteten, sich längerfristig nach Sachsen abordnen zu lassen, zunächst wesentlich geringer, als erwartet. Auch stellte sich heraus, daß die Landräte, Oberbürgermeister und Bürgermeister längerfristigen Abordnungen von einsatzbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trotz der aus dem Förderprogramm gewährten Personalkostenerstattungspauschalen nicht oder nur zögerlich zustimmten. Daran hat auch eine flexibler gestaltete Neufassung der dem Programm zugrunde liegenden Verwaltungsvorschrift nichts geändert. Die Zahl der längerfristigen Abordnungen hat sich bei 50 eingependelt. Hinzu kamen im Jahr ca. 100 Kurzzeiteinsätze von einer bis vier Wochen im Rahmen kommunaler Partnerschaften. Für den Expertenservice I wurden jährlich ca. 2 Mio DM - seit 1994 eher mit rückläufiger Tendenz - aufgewendet. Demgegenüber war das Programm flir den Seniorenexpertenservice sowohl hinsichtlich der Entsendungsbereitschaft als auch von der Akzeptanz der säch-
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sischen Kommunen von Anfang an ein voller Erfolg. Die Zahl der Berater lag in den ersten Jahren relativ konstant bei 200, von denen der Löwenanteil zur Wiederholungsentsendungen bereit war. Die durchschnittliche Entsendungsrlauer betrug ca. 2 Monate pro Jahr. Auch für den Seniorenexpertenservice lag der jährliche Aufwand bei 2 Mio DM- allerdings mit stets steigender Tendenz. Die Kommunalhilfeprogramme liefen zum 30. Juni 1995 endgültig aus. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß auch der Bund umfangreiche Hilfen im Rahmen des Verwaltungsautbaus zur Verfügung gestellt hat. Nach eigenen Angaben hat er allein für kommunale Verwaltungshilfe von 1991 bis 1996 fast 480 Mio DM aufgewendet, dies insbesondere für FOrtbildungslehrgänge an denen rd. 215 000 kommunale Beschäftigte teilgenommen haben. 7. Die Notwendigkeit der Hilfe
Ich glaube, zur Notwendigkeit der Hilfe ist nicht viel zu sagen. Die Kürze des Einigungsprozesses, die zwangsläufig war, und aufgrund der Tatsache, daß ab 3. Oktober 1990, von wenigen Ausnahmen abgesehen, westdeutsches Recht galt, ging es gar nicht anders, als Menschen, die sich damit auskannten, in den ostdeutschen Verwaltungen zu beschäftigen. Im übrigen war die Hilfe in unserem ureigenen Interesse - ich habe bereits darauf hingewiesen -; ansonsten wäre mit Sicherheit noch mehr Geld in den falschen Kanälen gelandet, als dies ohnehin der Fall war, wobei ich immer darauf hinweise, daß in aller Regel mindestens ein, wenn nicht mehrere Westdeutsche beteiligt waren, wenn Geld tatsächlich oder vermeintlich verschwendet wurde. Ich meine, die ostdeutschen Länder hatten auch einen Anspruch auf die Hilfe der alten Länder - sie übernahmen unser System, wir mußten uns also nicht umstellen. Nach einem gemeinsam verlorenen Krieg hatten die ostdeutschen Landsleute 40 Jahre Unfreiheit und geringeren Wohlstand. Wir lebten hingegen in Freiheit und Wohlstand. 8. Die Mitarbeiter in den Verwaltungen aus den neuen Ländern Der Anteil westdeutscher Mitarbeiter war ganz unterschiedlich, in einigen Ministerien lag er, rechnet man die westdeutschen Berufsanflinger hinzu, zeitweilig zwischen 30 und 40 %, im höheren Dienst noch höher. In anderen Ministerien war der Anteil wesentlich geringer, in den Regierungspräsidien vielleicht 15 %, in den Kommunalverwaltungen gab und gibt es viele Verwaltungen ohne überhaupt einen Westdeutschen. Schon vorher habe ich ausgefilhrt, daß insbesondere Führungspositionen von Westdeutschen wahrgenommen wurden. Selbstverständlich waren die Stellen im Bereich des einfachen und mittleren
Der Anteil der alten Länder beim Aufbau von Verwaltung und Justiz
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Dienstes, aber auch bei vielen Funktionen des gehobenen Dienstes ausschließlich mit Ostdeutschen besetzt. Hier konnte ich, was die Motivation angeht, keine grundsätzlichen Unterschiede zu Westdeutschland oder zu meiner jetzigen Behörde feststellen. Sicherlich fehlte im einen oder anderen Fall das know-how, was dazu ftihrte, daß für Arbeitsabläufe länger gebraucht wurde, als ich dies von Westdeutschland her kannte. Im Bereich des höheren Dienstes, insbesondere im Bereich der Führungsfunktionen, war es nicht einfach, entsprechende Ostdeutsche zu finden. Diejenigen, die früher geführt hatten, konnten zu Recht nicht mehr eingesetzt werden. Ein gutwilliger und auch intelligenter Mensch, der noch nie in seinem Leben andere angeleitet und geführt hatte, lernt dies häufig, wenn er einmal über 50 ist, nicht mehr. Dies hat ganz ohne Zweifel zu Problemen geführt, weil wir ab und zu solche ostdeutschen Führungskräfte dann ablösen mußten. 9. Fortbildung, Weiterbildung, Ausbildung in den neuen Ländern
Zum Teil schon vor der Wiedervereinigung liefen in vielfältigen Bereichen die Kurse nach dem Bopparder Modell in den verschiedensten Bildungseinrichtungen an, selbstverständlich, es ging ja gar nicht anders, mit ausschließlich westdeutschen Dozenten. Im Bereich der Polizei gab es für jedes Revier einen sog. Paten, der für mindestens vier Wochen in dem entsprechenden Polizeirevier mitarbeitete und die Kollegen auf Fehler im Organisationsablauf, aber auch in der Behandlung der Bürger, hinwies. Ebenso waren Beamte aus den neuen Bundesländern vorübergehend in Dienststellen in Westdeutschland abgeordnet. Im Bereich der Ausbildung wurden in allen neuen Bundesländern Fachhochschulen für die öffentliche Verwaltung gegründet, um schnellstmöglich auf eigene Leute, zumindest im Bereich des gehobenen Dienstes zurückgreifen zu können. Das gleiche gilt ftir die Ausbildung im mittleren Dienst. 10. Heutige Situation in den Verwaltungen der neuen Länder
Ich meine, und dies soll keine Kritik, sondern lediglich eine Feststellung sein, daß die Verwaltungen in den neuen Bundesländern, was die Berufserfahrung und den Ausbildungsstand betrifft, noch nicht vollständig mit den alten Bundesländern konkurrieren können. Von der Motivation und dem Arbeitseinsatz her aber auf jeden Fall. Der Verwaltungsaufbau ist ja im Prinzip abgeschlossen. Schon seit drei Jahren gibt es Gutachten zur Verschlankung der Verwaltung, zur Privatisierung, zur Eingliederung unterer Sonderbehörden, zur Einsparung bei den Regierungspräsidien usw. Insoweit ist die Einheit hergestellt. Das sind die Diskussionen, mit denen wir uns auch in den alten Bundesländern herumschlagen müssen.
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Klar ist, daß in den ostdeutschen Verwaltungen im Vergleich zu Westdeutschland noch zu viele Menschen beschäftigt sind, dies gilt von der Ministerialebene bis zu den Kommunalverwaltungen. Die höheren Mitarbeiterzahlen sind teilweise gerechtfertigt, da in den neuen Ländern z. T. noch mehr Aufgaben zu erledigen sind, z. B.: Ämter flir offene Vermögensfragen, rege Bautätigkeit, Stasi-Überprüfungen etc. Auch mußten, nicht nur am Anfang, viele Grundsatzentscheidungen und Weichenstellungen in und durch die Behörden in den neuen Ländern getroffen werden, die sehr personalintensiv waren. Die öffentlichen Haushalte werden aber eine höhere Personalausstattung nicht mehr zulassen, so daß im Osten ein überproportionaler Personalabbau stattfinden muß, da ja im Westen gleichzeitig ebenfalls Personal abgebaut wird. 11. Ausblick
Professor Georg Milbradt, der Sächsische Finanzminister, hat einmal gesagt, bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir keine Fehler. Sicherlich wurden im Rahmen der Wiedervereinigung Fehler gemacht und zwar auch bei der Autbauhilfe. Man hätte wesentlich gezielter vorgehen müssen und z. T. weniger Häuptlinge und mehr Indianer schicken sollen. Dieses Kapitel ist aber abgeschlossen, es wird in keinem nennenswerten Umfang mehr Leihbeamte oder aber auch Versetzungen geben. Insgesamt betrachtet haben die ostdeutschen Verwaltungen mittlerweile genügend fähige Mitarbeiter um freiwerdende Führungspositionen - von Ausnahmen abgesehen - selbst besetzen zu können, ganz abgesehen von der notwendigen Akzeptanz. Selbstverständlich ist es im Moment noch angenehmer, in Westdeutschland zu arbeiten, wir haben hier doch noch etwas weniger Probleme und etwas häufiger noch Erfolgserlebnisse. Ich bin aber guten Mutes, daß schon in Kürze die Verwaltungen aller deutschen Bundesländer, wobei wir insgesamt zu viele Bundesländer haben, gleichberechtigt nebeneinander arbeiten und es bei BundLänder-Arbeitskreisen keine Unterschiede mehr gibt. Die Verwaltungen im Osten werden ihren Aufgaben gerecht. Durch Landesverwaltungshandeln wurde nie eine Investitionsentscheidung gehemmt, dies geschah eher durch die Regelung "Rückgabe vor Entschädigung" und verworrene Eigentumsverhältnisse. An der Verwaltung, gerade auch an der ostdeutschen, wird es nicht liegen, die Voraussetzungen für flächendeckend blühende Landschaften zu schaffen. Für das endgültige Zusammenwachsen unserer Nation halte ich aber eine weitere Angleichung der Lebensverhältnisse - und zwar so schnell wie möglich - für notwendig. Die Verwaltungen in Ostdeutschland sind jederzeit, auch Dank der Hilfe der alten Länder, in der Lage, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen und die Entscheidungen zu treffen, die hierfür notwendig sind.
Wolfgang Renzsch DIE FINANZIELLE UNTERSTÜTZUNG DER NEUEN LÄNDER DURCH DIE ALTEN LÄNDER 1. Über die Schwierigkeiten des Themas: Methodische Vorüberlegungen
Das Beziffern der Kosten der deutschen Einheit und insbesondere deren Aufteilung auf die verschiedenen Financiers ist nicht nur ein äußerst schwieriges, sondern auch kontroverses Unterfangen. Ein Thema wie dieses ist im höchsten Maß mit Interessen und Legitimationsbedürfnissen besetzt: Einigungsbedingte Finanzprobleme sind offensichtlich politisch weniger brisant und leichter zu begründen als aus anderen Ursachen herrührende, sie sind leichter entschuldbar. Entsprechend versuchen sowohl der Bund als auch die Länder ihre fmanziellen Probleme mit den Folgen der Einheit zu begründen (BMF 1996; NRW 1996). In diesem Zusammenhang kommt der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister der Finanzen zu dem Ergebnis, daß die Leistungen der alten ftlr die neuen Länder im Jahr 1995 praktisch auf "Null" geschrumpft seien, während der Bund mit knapp 50 Mrd. DM jährlich belastet werde (Wissenschaftlicher Beirat 1995, S. 15). Nordrhein-Westfalen beurteilt dem gegenüber die Verteilung der Lasten der Einheit gänzlich anders: Die Last der (Netto-)Finanzierung der neuen Länder werde zu mehr als der Hälfte von den alten Ländern getragen, eine Schieflage zu Lasten des Bundes sei nicht zu erkennen (NRW 1996). Dieser Streit ist nicht bloß ein akademischer, denn die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Lastenverteilung im Bundesstaat waren einer von mehreren Gründen filr das Scheitern der Steuerreform im Spätsommer 1997. Aufgrund ihrer Sichtweise verlangte die Bundesregierung im Entwurf fiir das Steuerreformgesetz 1998 eine Erhöhung ihres Umsatzsteueranteils um 1,4 Prozentpunkten (BR-Drs. 479/97, Art. 7). Länder und Gemeinden sollten 30,6 Mrd. DM von der fiir 1999 geplanten steuerlichen Entlastung in Höhe von insgesamt 57,1 Mrd. DM tragen (BT-Drs. 1317480). 1 Jenseits aller parteipolitischen Differenzen war sich die überwiegende Mehrheit der Länder unabhängig von ihrer parteipolitischen Couleur - einig, daß eine solche Belastung haushaltsmäßig nicht zu verkraften sei. Seit 1970 sind Steuerrefonnen i.d.R. mit einer parallelen Kompensation der Steueraustlllle der Länder durch den Bund im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung (1989: Strukturhilfegesetz) verbunden gewesen (Färber 1997, S. 13). Das Steuerrefonnvorhaben 1998/99 wich von dieser Praxis ab und scheiterte nicht zuletzt daran.
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Die sich erheblich unterscheidenden Einschätzungen über die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern rühren - wie so oft - von den Berechnungsmethoden her. Berücksichtigt man lediglich die zwischen den Ebenen geleisteten ausgewiesenen expliziten Umschichtungen wie beispielsweise die im Rahmen der Verteilung der Umsatzsteuer oder der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, kommt man zu anderen Ergebnissen als wenn man auch die impliziten Umverteilungswirkungen anderer Maßnahmen wie die der vollen Einbeziehung der neuen Länder in die Umsatzsteuerverteilung nach Einwohnern ab 1.1.1991 oder des vorzeitigen Auslaufens des Strukturhilfegesetzes einkalkuliert. Schließlich stellt sich die Frage nach den Leistungen der Länder und des Bundes für Ostdeutschland, sondern auch nach der des Steuerbürgers und Abgabenzahlers. Die Ergebnisse eines Belastungsvergleichs hängen entscheidend davon ab, ob und wie die Refinanzierung beim Bürger berücksichtigt wird. Über Abgabenerhöhungen finanzierte Leistungen sind in öffentlichen Haushalten letztlich nur durchlaufende Posten, keine spürbaren Belastungen. So wurden die Annuitäten des Erblastentilgungsfonds, den der Bund stellvertretend flir sich und die Länder übernommen hat, seit 1995 aus den Erträgen des unbefristeten Solidaritätszuschlags und dem zwischen Bund und Länder streitigen Bundesbankgewinn (soweit er 7 Mrd. DM pro Jahr übersteigt) finanziert. Solange der Bund die Annuitäten flir den Erblastentilgungsfonds aus einer eigens daflir eingeflihrten Steuer finanziert, wird man in den Zahlungen an den Fonds keine besondere Belastung des Bundes erblicken können.2 Ich werde im folgenden daher eine Betrachtungsweise vorziehen, die erstens historisch vorgeht und versucht, die Elemente von Be- und Entlastung möglicht umfassend zu benennen und - wenn möglich - auch zu beziffern. Im Unterschied zu den gängigen Verfahren werde ich dabei die Refinanzierung von Lasten beim Bürger gesondert ausweisen. Effektiv belastet wurden die öffentlichen Haushalte durch Kosten, die nicht refinanziert werden konnten, die über die Erhöhung der Abgaben hinausgingen und die die Finanzminister von Bund und Ländern entweder zu Umfinanzierungen oder zu weiteren Kreditaufnahmen zwangen. Um diese Lasten geht es mir im folgenden. Wenn die Rede von den Folgekosten der Einheit Deutschlands die Rede ist, ist es angezeigt, sich über die finanziellen Dimensionen der sogen. Transfers, der Leistungen des Westens für den Osten, zu verständigen. Ohne tiefer in die Problematik einzusteigen (dazu Fuest/Kroker 1993, S. 10; Renzsch 1997, S. Slf.) sei nur auf die Abgrenzungsprobleme z.B. bei der Wahrnehmung von Bundesaufgaben in Ostdeutschland hingewiesen: Bundesautobahnen oder
Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (1995), S. 15, verfährt derart: Als Bundeslast werden für den Erblastentilgungsfonds 25,4 Mrd. DM ausgewiesen, der Solidaritätszuschlag hingegen nicht erwähnt. Die Gesamtbelastung des Bundes betrug 1995 nach dieser Darstellung 47,2 Mrd. DM.
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BaföG-Leistungen wird man schwerlich als "Transfer" bezeichnen können 3• jedoch bleibt, daß die Relation von Steueraufkommen und staatlicher Leistung deutlich ungünstiger ist als in den ärmeren alten Ländern. Es ist die finanzielle Dimension, die der Umverteilung zwischen West und Ost eine andere Qualität verleiht als der im alten Bundesgebiet. Die Höhe der Nettotransfers aus den öffentlichen Haushalten (einschließlich Sozialversicherungen) in die neuen Länder wird seitens der Bundesregierung mit4 bis 5 vH des westdeutschen BIP, summenmäßig mit 106 bis 140 Mrd. DM (BMF 1996, S. 6; BMI 1997, S. 78, 80) angegeben. Rechnet man die Zahlenangaben des Bundes nach (BMI 1997, S. 80; Datenreport 1997, S. 254), dann kommt man auf 4 bis 4!12 vH des BIP im früheren Bundesgebiet'. Hinter diesen recht groben Angaben verbirgt sich eine große Unsicherheit, wenn es darum geht, die finanzwirtschaftliche Entwicklung seit 1990 mit der einer fiktiv weiter bestehenden Zweistaatlichkeil zu vergleichen. Je weiter man sich vom Datum des 1. Juli 1990, dem Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, entfernt, desto schwieriger wird es, zu halbwegs verläßlichen Angaben zu kommen. Berücksichtigt man weitere Lasten, die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit entstanden, wie beispielsweise vom Bund übernommene Kosten fiir den Abzug der ehemaligen sowjetischen Truppen (BMI 1997, S. 14ff.), dann ist es wohl vertretbar, die Steigerung der "Staatsquote" von 45,8 vH (1989) auf 50,7 vH (1995) des BIP, um knapp 5 vH (150 Mrd. DM), im wesentlichen als einigungsbedingt anzusehen. Aufgebracht wurde diese Erhöhung der Staatsquote zu mehr als zwei Dritteln von den Steuerzahlern und den zahlenden Mitgliedern der Sozialversicherungen, deren Abgabenlast sich in demselben Zeitraum von 40,3 vH {1990) auf 43,7 vH (1996) (berechnet nach StBA, Fachserie 18, Reihe 3.1, 1995, S. 102f., 227), also um 3,4 Prozentpunkte (ca. 100 Mrd. DM) erhöhte.5Wenn nun die Lasten der Einheit in einem solch hohen Maß über zusätzliche Belastungen der Steuer- und Abgabenzahler refinanziert wurden, dann heißt das, daß - abgesehen von den übernommenen Altschulden - die öffentliche Ver-
Bedenken gegen diese Fonn der Berechnung öffentlichen Leistungen filr Ostdeutschland meldet die Bundesbank an, indem sie darauf hinweist, daß diese Umverteilungen nicht in eine gesamtdeutsche Transferbilanz eingebettet sei, denn interregionale Umverteilungen seien keine neue finanzpolitische Aktivität, sondern seit der Gründung der Bundesrepublik Bestandteil der fuderalen Staatsordnung (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1996, S. 27). Heilemann/Rappen 1997, S. 38, beziffern das Transfervolumen auf 6,6 vH des westdeutschen BIP pro Jahr. Sie geben als Quelle ,.Angaben der Bundesregierung" an. Für diese von anderen deutlich abweichende Berechnung werden darüber hinaus keine nachvollziehbaren Quellen angeben. s Darin enthalten ist die gesetzliche Pflegeversicherung, die sinnvollerweise nicht zu den Lasten der Einheit gerechnet werden kann. HinzugefUgt werden zur Abgabenquote mUßten zahlreiche, vor allem kommunale Gebührenerhöhungen. Über höhere Gebühren und Abgaben fllr die Inanspruchnahme kommunaler Dienste refinanzierten die Gemeinden ihren Anteil an den Folgelasten der Einheit (Mäding 1995, S. 107fT.).
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dung der Jahre 1990 und folgende nur zum kleineren Teil einigungsbedingt sind. Ist es bereits sehr schwierig, die gesamtstaatlichen Folgekosten der deutschen Einheit zu definieren, so wird es noch schwieriger, will man diese auf einzelne Träger aufschlüsseln. Zahlreiche in ihren Auswirkungen nicht kalkulierbare Faktoren (z.B. einigungsbedingte Auswirkungen auf den Konjunkturverlauf, einigungsbedingte steuerliche Mehreinnahmen in Westdeutschland, Verlagerungen von Produktionsstandorten in die neuen Länder) begrenzen unsere Analysefähigkeit Daher wird man sich auf Trendaussagen, auf Größenordnungen, die die angedeuteten und schwer zu fassenden Faktoren notwendigerweise vernachlässigen, beschränken müssen. Unter diesen Einschränken, soll im folgenden versucht werden, die Leistungen und Belastungen der alten Länder für die neuen zumindest größenordnungsmäßig zu erfassen. 2. Der Vereinigungsprozeß aus finanzpolitischer Sicht
Die erste Phase des Vereinigungsprozesses wurde gestalterisch vom Bund dominiert. Das kann nicht verwundern, schließlich handelte es sich anfangs um eine gesamtstaatliche Aufgabe, filr die eine ungeschriebene Bundeskompetenz vermutet werden konnte. Im Zuge der Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion (BGBI. II S. 537), die zum I. Juli 1990 in Kraft trat, galt es erst einmal, die absehbaren Defizite des Noch-DDR-Staatshaushaltes zu finanzieren. Der Bund verlangte zur Abdeckung dieser Lasten von den Ländern ein Aufstokken seines Umsatzsteueranteils um sechs Prozentpunkte auf 71 vH, summenmäßig ca. 10 Milliarden DM jährlich (Geske 1991, S. 35). Die Länder wiesen eine Umverteilung von Umsatzsteueranteilen zurück und drängten statt dessen auf eine Fondslösung, über die die Regierungschefs von Bund und alten Ländern sich am 16. Mai 1990 einigten (Schwinn 1997, S. 52f.). Dem Fonds "Deutsche Einheit" lag die Überlegung zugrunde, daß die bis 1994 zu erwartenden Defizite des DDR-Haushalts bzw. der auf dem Territorium der DDR zu bildenden Länder zu je einem Drittel von der DDR bzw. den neuen Länder, dem Bund und den westdeutschen Ländern zu tragen wären. Aufgrund von Schätzungen über die Entwicklung des DDR-Haushalts nach der Währungsumstellung wurde der westdeutsche Anteil - Bund und Länder für den Zeitraum bis 1994 auf 115 Milliarden DM beziffert. 20 Milliarden DM der genannten Summe wollte der Bund durch Einsparungen teilungsbedingter Kosten aufbringen, der Rest sollte jeweils hälftig auf den Bund und die westdeutschen Länder verteilt und auf dem Kreditwege finanziert werden. Mit dieser Verständigung wurde zugleich unter Suspendierung des Deckungsquotenverfahrens die geltende Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und alten Ländern bis Ende 1992 fortgeschrieben (Art. 31 §§ 2, 5f., Art. 32 Staatsvertragsgesetz vom 25.6.1990, BGBI. II S. 518).
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Obwohl der von den westdeutschen Ländern aufzubringende Anteil von insgesamt 47,5 Milliarden DM am Fonds "Deutsche Einheit" zweifellos eine erhebliche Belastung war, war dieser Beitrag weder der Sache noch der Höhe nach umstritten: Materiell entsprach er der vom Bund geforderten Umschichtung von sechs Prozentpunkten der Umsatzsteuer ftir viereinhalb Jahre. Anders gesagt, der Streit ging nicht primär um den materiellen Beitrag der westdeutschen Länder, sondern um das Verfahren, konkret um die Absicherung gegen unkalkulierbare Risiken: die Länder waren durchaus bereit, einen erheblichen finanziellen Beitrag zu leisten, jedoch wollte man keinen Blankoscheck filr einen unbefristeten Zeitraum ausstellen, denn erfahrungsgemäß ist es sehr schwer, einmal abgetretene Umsatzsteueranteile. Die Fondslösung schien eine Begrenzung der Lasten sowohl der Höhe als auch der Dauer nach zu garantieren, denn sowohl der Bundesrat wie auch die Bundesregierung gingen davon aus, mit ihr seien die Belastungen der Länder im Zuge der deutschen Vereinigung abschließend geregelt (BT-Drs. 11/7351, S. 5, 8, jeweils Nr. 13; Geske 1991, S. 36). Damit war Vereinbarung über den Fonds "Deutsche Einheit" nicht nur ein Instrument zur Finanzierung der erwarteten Defizite in Ostdeutschland nach dem 1. Juli 1990, sondern auch ein legitimes Konzept, die Lasten berechenbar zu gestalten und die zukünftigen finanziellen Risiken der westdeutschen Länder zu begrenzen. Nach den Vorschriften des Einigungsvertrages (BGBI. II S. 889) sollten die Annuitäten des Fonds "Deutsche Einheit" in Höhe von 9,5 Mrd. DM jährlich (1 0 vH des Kreditvolumens) je zur Hälfte vom Bund und den alten Länder getragen werden. Im Rahmen der Solidarpaktverhandlungen akzeptierten die Länder im Gesamtpaket eine Umschichtung von jährlich 2, l Mrd. DM vom Bund auf die alten Ländet. Ihnen obliegt damit bis zur endgültigen Tilgung eine jährliche Last in Höhe von 6,85 Mrd. DM, der Bund trägt 2,65 Mrd. DM (Finanzbericht 1996, S. 101). Die alten Länder tragen damit gut 72% der Zins- und Tilgungsleistungen des Fonds. Eine weniger beachtete, jedoch substantiell bedeutende Leistung der alten Länder folgte aus der - in Abänderung vom EV - Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer zwischen Ost- und Westdeutschland nach tatsächlichen Einwohnern rückwirkend ab 1.1.1991 (Haushaltsbegleitgesetz vom 24. Juni 1991, BGBI. I S. 1314, Art. 6 Nr. 2; Finanzbericht 1992, S. 39). Die Beteiligung der neuen Länder am Länderanteil nach Einwohner entsprach fraglos des Intentionen des Finanzverfassungsgebers von 1969 (Renzsch 1991, S. 229ff.), jede andere Regelung wäre verfassungsrechtlich fragwürdig gewesen (Seim er 1991, S. 204f.). Die volle Berücksichtigung der Bürger in den neuen Ländern bei der Umsatzsteuerverteilung "kostete" die alten Ländern von I 991 bis 1994 nahezu noch einmal den Betrag, den sie bereits filr den Fonds "Deutsche Einheit" zugesagt hatten, nämlich etwa 46,8 Mrd. DM (BT-Drs. 12/8552, Nr. 14). Da entsprechende Ausgabenkürzungen angesichts der Haushaltsstrukturen nicht möglich waren, erhöhten diese Mindereinnahmen die Defizite und Verschuldung der
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alten Länder. Gegengerechnet werden müßte hier allerdings das einigungsbedingte Mehraufkommen in Westdeutschland, das teilweise aus dem "Einheitsboom", teilweise durch Käufe Ostdeutscher in den alten Ländern herrührte, sowie die Zunahme der Bundesergänzungszuweisungen um insgesamt rund 7 Mrd. DM von 1991 bis 1994.6 Tatsächlich stieg die Neuverschuldung der westdeutschen Länder 1991 bis 1994 deutlich steiler als in den Finanzplanungsdaten vor der Einheit angenommen (Renzsch 1997, S. 98ff.). Mit dem Haushaltsbegleitgesetz, dem Solidaritätsgesetz (BGBI. I S. 1318) und Steueränderungsgesetz vom 24.6.1991 (BGBI. I S. 1322) begann der Bund die vom ihm übernommenen Lasten für die Einheit durch Steuer- und Abgabenerhöhungen zu refinanzieren. Durch das Haushaltsbegleitgesetz wurde die Ablieferung der Deutschen Bundespost an den Bundeshaushalt bis 1993 auf 10 vH der Betriebseinnahmen erhöht (Art. 3). Mit dem Solidaritätsgesetz wurde zum 1.7.1991 befristet auf ein Jahr eine Ergänzungsabgabe (Solidaritätszuschlag) zur Einkommen- und Körperschaftsteuer in Höhe von 7,5 vH der Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld eingeführt (Art. 1, Ertrag 26,3 Mrd. DM) und wurden zum 1.7.1991 die Versicherung-, die Mineralöl-, Erdgas- und Tabaksteuer, letztere zum 1.3.1992 erhöht (Art. 2 - 6; Finanzbericht 1991, S. 35, 109ff.). Durch diese steuerlichen Maßnahmen erhöhte der Bund 1991 und 1992 seine Einnahmen um rund 46 Milliarden DM (Handelsblatt, 27.2.1991: Bund kassiert 1991 und 1992 zusätzlich 46 Mrd. DM bei den Steuerzahlern; Finanzbericht 1992, S. 218ff.), die dauerhafte Einnahmeverbesserung des Bundes ist - ohne den befristeten Solidaritätszuschlag - mit ca. 20 Mrd. DM pro Jahr zu ver- anschlagen (berechnet nach Finanzbericht 1992, S. 218ff.). Diese Gesetze betrafen damit in erster Linie den Steuerzahler, hatten aber infolge des Abbaus Mischfinanzierungen nach Art. 91a und Art. 104a Abs. 4 GG zu Lasten der alten Länder (1991 - 1994: 2,3 Mrd. DMY sowie der Berlinhilfe, die von 12,8 Mrd. DM (1990) schrittweise abgebaut und 1995 gänzlich entfiel, aber auch mittelbar erhebliche Auswirkungen auf die Haushalte der alten Länder (Finanzbericht 1991, S. 33, 103ff.), die in ihrer vollen Auswirkung allerdings nur sehr schwer kalkulierbar sind. Mit dem Steueränderungsgesetz vom 25.2.1992 (BGBI. I S. 297) setzte der Bund seine Bemühungen zur Refinanzierung der Kosten der Einheit bei den Bürgern und den Ländern fort. Die Erhöhung des allgemeinen Umsatzsteuersatzes von 14 auf 15 vH zum 1.1.1993 diente der Aufstockung des Fonds "Deutsche Einheit", der um die erwarteten Mehreinnahmen- 1993: 10,5 Mrd. DM, 1994: 12,9 Mrd. DM- verbessert wurde. Zusätzlich zahlte der Bund 1993 und 1990 erhielten die Länder BEZ in Höhe von 2,998 Mrd. DM, 1991: 3,532 Mrd. DM; 1992: 3,945 Mrd. DM; 1993: 4,296 Mrd. DM; 1994: 7,247 Mrd. DM (Finanzbericht 1998, S. 144). Die Addition der über 3 Mrd. DM liegenden Summen ergibt 7 Mrd. DM. 7
Nach den Daten der Finanzplanung beliefen sich die Kürzung filr die Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur bis 1994 auf 200 Mio. DM, hinzukam filr verschiedene Investitionshilfen nach Art. l 04 a Abs. 4 GG Kürzungen im Umfang von gut 2,1 Mrd. DM. Quelle: ZDL.
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1994 jeweils eine weitere Milliarde DM aus Bundesmittel in den Fonds ein. Eine zweite Aufstockung um weitere 14,4 Mrd. DM auf 160,7 Mrd. DM sollte aus den Erträgen des Zinsabschlaggesetzes vom 9.11.1992 (BGBI. I S. 1853) finanziert werden. Deren Aufkommen (1993: 10,7 Mrd. DM; 1994: 13,7 Mrd. DM) blieb weit hinter den Erwartungen zurück, zumal der Zinsabschlag Mindereinnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer(- 11 Mrd. DM) mitverursachte, so daß die 2. Aufstockung des Fonds "Deutsche Einheit" zu einem erheblichen Teil aus laufenden Barmitteln finanziert werden mußte. Zudem wurden die alten Länder, die schwächeren unter ihnen in höheren Maß, durch die Aufhebung des Strukturhilfegesetzes zur Refinanzierung der Einheit herangezogen. Sie verloren 1992 Investitionshilfen des Bundes in Höhe von 950 Millionen und ab 1993 in Höhe von 2,45 Mrd. DM pro Jahr fiir die Dauer von sechs Jahren (Gesetz zur Aufhebung des Strukturhilfegesetzes und zur Aufstockung des Fonds "Deutsche Einheit" vom 16.3.1992, BGBI. I S. 674). Die Belastungen der Steuerzahler wurde durch eine Verbesserung des Familienlastenausgleichs, eine Reduzierung der Belastungen aus der Gewerbeertragsteuer und der Vermögensteuer ausgeglichen (Finanzbericht 1993, S. 105). Diese Entlastung des Steuerzahlers verminderte auch die Steuereinnahmen der Länder. Zur Kompensation dieser Belastungen trat der Bund fiir die Jahre 1993 und 1994 zwei Prozentpunkte seines Umsatzsteueraufkommens (ca. 2,2 Mrd. DM) an die Länder ab, wodurch die alten Länder um etwa 1,7 Mrd. DM entlastet wurden. 3. Zwischenbilanz der Übergangsfinanzierung 1990 bis 1994
Wenn man hier- vor den weiteren Weichenstellungen des Föderalen Konsolidierungsprogramms und unter Ausblendung der gesetzlichen Sozialversicherungen - eine erste Zwischenbilanz zieht, dann beläuft sich der quantifizierbare finanzielle Beitrag der westdeutschen Länder filr Ostdeutschland bis Ende 1994 auf die Übernahme von 47,5 Mrd. DM Schulden des Fonds "Deutsche Einheit", Umsatzsteuerverluste in Höhe von 10 bis 12 Mrd. DM jährlich, Bareinzahlungen in den Fonds "Deutsche Einheit", die nicht aus den Einnahmen des Zinsabschlags gedeckt wurden, den schrittweisen Abbau der Berlin-Hilfe8 um 12,8 Mrd. DM ( 1990), ca. 2 Mrd. DM aus den Mischfinanzierungen9• 950 Millionen Strukturhilfemittel im Jahr 1992 und ab 1993 filr sechs weitere Jahre (bis 1998) 2,45 Mrd. DM pro Jahr. Dem standen 7 Mrd. DM aus den BundesergänzungsDie Stellung Berlins in der bundesdeutschen Finanzordnung schaßt methodische Probleme: Die Berlin-Hilfe des Bundes ersetzte West-Berlin Leistungen aus dem bundesstaatliehen Finanzausgleich. In diesem Sinn war die Berlin-Hilfe eine Leistung des Bundes zugunsten der alten Länder, ihr Wegfall ein Verlust ftlr sie. 9 Hier geht es vor allem um Bundesleistungen nach Art 91 a und 91 b sowie Art. I04 a Abs. 3 und 4 GG. Zum Teil sind in den mir zur VerfUgung stehenden Quellen die Umschichtungen ausgewiesen, zum Teil nicht.
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zuweisungen und etwa 1,7 Mrd. DM für 1993 und 1994 aus der veränderten Umsatzsteuerverteilung gegenüber. 10 Insgesamt hatten die alten Länder von 1991 bis 1994 Lasten und Mindereinnahmen im Umfang von etwa 110 Mrd. DM zu tragen. Nur mit großen Schwierigkeiten bezifferbar ist eine Reihe von weiteren Lasten, die die alten Länder zu tragen hatten. Dazu zählen Verluste aufgrundder Änderungen steuerlicher Vorschriften und der fortlaufende Subventionsabbau im Westen (BMF Finanznachricht 24/97). Ebenfalls nicht quantifizierbar sind die indirekten Steuerverluste der alten Länder und ihrer Gemeinden infolge gesetzlicher Maßnahmen (z.B. Schaffung neuer Abschreibungstatbestände) oder aufgrund von Abwanderungen von steuerpflichtigen Bürgern oder Unternehmen in die neuen Länder entstanden. 11 Nicht bezifferbar sind ferner Lasten, die den westdeutschen Ländern und Gemeinden durch Kürzungen des Bundes bei bundesstaatliehen Sozialleistungen (z.B. Befristung der Arbeitslosenhilfe) infolge erhöhter Sozialliilfeansprüche (1995: 51 Mrd. DM) entstanden. In den rasant gestiegenen kommunalen Ausgaben (Renzsch 1997, S. 102ff.) schlugen sich auch die Folgen der Bundespolitik und der Grenzöffuungen von Osten her nieder. Schließlich wären bei den übernommenen Lasten auch die Verwaltungshilfen der westdeutschen Länder und Gemeinden zu nennen: Ausleihe und Finanzierung des Wechsels von Beamten in die neuen Länder (Gehälter, Reisekosten, Zulagen), Aus- und Fortbildungen von ostdeutschen öffentlich Bediensteten in westdeutschen Verwaltungen sowie sächliche Hilfen, die von Bürogeräten bis hin zu Polizeifahrzeugen reichten. Schätzungen, die diese Hilfen auf ca. eine Mrd. DM veranschlagen (NRW 1996)12• deuten auf die Unsicherheiten einer verläßlichen Bestimmung der Leistungen. 4. Die Dauerregelungen ab 1995
Das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramm vom 23.6.1993 (BGBI. I S. 944), dessen Kernpunkt die Neuregelung der Lastenteilung zwischen den staatlichen Ebenen ab 1995 war, bezog die neuen Länder gleichberechtigt in den Länderfmanzausgleich ein, schichtete im Rahmen des 10
Das Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen veranschlagt die Steuerverluste der alten Länder ftlr die Jahre 1991 bis 1994 aufca. 64 Mrd. DM "brutto", d.h. ohne BerUcksichtigung einigungsbedingter steuerlicher Mehreinnahmen. Das wUrde eine jährliche "Brutto"-Belastung von 16 Mrd. DM bedeuten. II
Das Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer ging von 41,5 Mrd. DM jeweils 1991 und 1992 auf 33,2 Mrd. DM 1993,25,5 Mrd. DM 1994 und schließlich 14,0 Mrd. DM 1995 zurtick (StBA l992ff.) 12
Nach HeilemanntReppen 1997, S. 39, beliefen sich die technischen und personellen Hilfen der westdeutschen Länder auf "weit mehr als 2 Mrd. DM pro Jahr."
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Deckungsquotenverfahrens nach Art. 106 Abs. 3 GG 7 Prozentpunkte des Umsatzsteueraufkommens des Bundes zu den Ländern 13 um und gewährte den neuen Länder Sonder-Bundesergänzungszuweisungen und Investitionshilfen in Höhe von 20,6 Mrd. DM jährlich für die Dauer von zehn Jahren. Daneben enthielt es auch eine Vielzahl steuerlicher Maßnahmen, die zu Einnahmeverbesserungen vor allem des Bundes filhrten. Die bedeutendste davon war die Wiedereinführung eines unbefristeten Solidaritätszuschlags in Höhe von 7,5 vH auf die Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld ab 1.1.1995. Zwischen Bund und Länder bestand bei Abschluß des Solidarpaktes die politische, nicht rechtlich verbindliche, Verabredung, daß die Erträge des Zuschlags (1995: 26,3 Mrd. DM, StBA I996, S. 514) dazu dienen sollten, die gesetzlich festgelegten Annuitäten des Erblastenfonds in Höhe 7,5 vH der Ausgangsschuld (ca. 334 Mrd. DM, BMF 1996, S. 28) zu finanzieren. Zusätzlich verpflichtete sich der Bund, den Bundesbankgewinn, soweit er 7 Mrd. DM jährlich übersteigt (1995: 10,2 Mrd. DM, Finanzbericht 1996, S. 38), zur Tilgung der "Erblasten" zu verwenden(§ 6 Abs. 1 Erblastentilgungsfonds-Gesetz vom 23.6.1993, BGBI. I, S. 944, 984). Des weiteren wurde die Versicherungsteuer schrittweise auf 15 vH (ab 1. I. I 995) angehoben, das Umsatzsteuergesetz dahingehend geändert, daß jugendgeflihrdende Schriften und Filme nicht mehr mit dem ermäßigten (7 vH), sondern dem allgemeinen Steuersatz (15 vH) belastet werden, wurden Ausschüttungen ausländischer Investitionsfonds in den Zinsabschlag einbezogen und Zinsvorteile aus der Streichung von "Schonfristen" für Scheck- und Barzahler von Steuerschulden realisiert (Finanzbericht 1994, S. 117ff.). Aufgrund dieser Maßnahmen wurden Mehreinnahmen in Höhe von 6 Mrd. DM jährlich erwartet. Durch Kürzungen staatlicher Leistungen sollten weitere 11 Mrd. DM erwirtschaftet werden (Renzsch 1997, S. 88.). Aufgrund der konjunkturellen Entwicklung blieben die Steuereinnahmen des Jahres 1995 deutlich hinten der Erwartungen der Steuerschätzungen vom Mai 1993 zurück. Aufgrund dessen stellen sich die Veränderungen infolge des Föderalen Konsolidierungsprogramms 1995 anders dar als ursprünglich angenommen, der Ausgleich verharrte auf einem deutlich niedrigeren Niveau als ursprünglich angenommen. Die Verlagerung von 7 Prozentpunkten des Umsatzsteueraufkommens vom Bund auf die Länder insgesamt wirkte sich 1995 mit knapp 16,5 Mrd. DM zu Gunsten der Länder aus. Von dem Länderanteil an der Umsatzsteuer in Höhe von 103,2 Mrd. DM flossen gut 14,5 Mrd. DM im Rahmen des Umsatzsteuerausgleichs (§ 2 Abs. 2 FAG) vorab in die neuen Länder, der übrige Teil wurde gleichmäßig nach Einwohnern verteilt. Die alten Länder verbesserten ihren Finanzstatus im Rahmen der Umsatzsteuerneuverteilung um
ll
Aufgrund der enormen Finanzschwäche der ostdeutschen Lander hatte sich die steuerliche Deckungsquote der LRnder insgesamt erbeblich verschlechtert. Die Umschichtung von Umsatzsteueranteilen diente dazu, den Anspruch von Bund und Landern auf Deckung ihrer Ausgaben gleichmäßig zu sichern. 6 Klein
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etwa 1,5 Mrd. DM. Dem standen Lasten in Höhe von knapp 9,8 Mrd. DM 14. die die westdeutschen Länder im Rahmen des Länderfinanzausgleich in die neuen einschließlich Berlin transferierten, und Verluste bei den Bundesergänzungszuweisungen (1995 gegenüber 1994) in Höhe von weiteren 500 Millionen DM gegenüber (Finanzbericht 1997, S. 144ff.; BMF, vorläufige Abrechung des Finanzausgleichs unter den Ländern I 995, eigene Berechnung). Mit dem Abbau der degressiv ausgestalteten Übergangs-BEZ flir die alten finanzschwachen Länder und dem Auslaufen der Sonder-BEZ für Bremen und Saarland15 stehen den Länder weitere Einnahmeausfälle ins Haus. Aus der Neuordnung des Finanzausgleichs im engeren Sinn, Verlusten bei den BEZ und durch die Übernahme eines zusätzlichen Anteils am Fonds "Deutsche Einheit" in Höhe von 2,1 Mrd. DM zu den bereits vereinbarten 4,75 Mrd. DM sind damit den alten Länder 1995 Belastungen in Höhe von rund 16 Mrd. DM erwachsen. Diese Summe würde sich um 2,1 Mrd. DM vermindern, wenn man die Hälfte der Leistungen im Finanzausgleich zugunsten Berlins als ftlr West-Berlin 16 unterstellt. Tendenziell ist diese Last ansteigend, denn -entgegen den Erwartungen - hat sich der West-Ost-Transfer im Länderfinanzausgleich 1996 intensiviert. 1996 übertraf er mit 10,6 Mrd. DM (BMF, Vorläufige Abrechnung 1996) den des Vorjahres um etwa 800 Millionen DM. Dem steht-trotzder Degression der Übergangs-BEZ ftlr die finanzschwachen alten Länder - eine Steigerung der BEZ zugunsten der westdeutschen Länder in Höhe von 186 Millionen DM gegenüber. 5. Zusammenfassung und Ergebnisse
Eingangs wurde darauf hingewiesen, daß eine quantifizierende Bestimmung der fmanziellen Leistungen der alten Länder ftlr die neuen abhängig ist vom methodischen Vorgehen. Folgt man dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen ( 1995, S. 15) und reduziert die Datenauswahl auf die Umschichtungen zwischen den Ebenen, ignoriert implizite Einnahmeverluste durch die Änderung von Steuergesetzen sowie Refinanzierungen zu Lasten 14
Die neuen Länder erhielten 5,6 Mrd. DM, Berlin 4,2 Mrd. DM. Eine Aufteilung in Berlin altes Land - und Berlin - neues Land - ist nicht möglich. Wenn - wie oben geschehen - die Bundeshilfe ftlr Berlin als Leistung zugunsten der alten Länder interpretiert wird, darf der Anteil im LFA, der theoretisch aufWest-Berlin entfiele, nicht als West-Ost-Transfer gerechnet werden. 15
Nach§ II Abs. 6 FAG erhalten die Länder Bremen und Saarland bis 1998 Sonder-Bundeserganzungszuweisungen zum Zwecke der Haushaltssanierung in Höhe von 3,4 Mrd. DM pro Jahr. Im Fall einer Verlängerung Ober das Jahr 1998 hinaus ist kaum damit zu rechnen, daß der Bund die Sanierungsbeiträge weiterhin allein erbringen wird. 16
Der Westteil der Stadt zählt zwar etwa doppelt soviel Einwohner wie der Ostteil, jedoch ist dieser deutlich fmanzschwächer. Angesichts mangelnder Daten wird hier fiktiv die Hälfte der Leistungen ftlr Berlin dem "alten", westlichen Teil zugerechnet.
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der Steuer- und Beitragszahler und vernachlässigt zudem die politischen Verabredungen, die einzelnen Regelungen zugrunde liegen, dann kann das Ergebnis tatsächlich lauten, die alten Länder hätten durch die Einheit finanziell gewonnen und der Bund sei der einzige Financier. Betrachtet man die Umschichtungen des Solidarpaktes fiir sich genommen, so tragen die westdeutschen Länder von dessen Volumen infolge des rückläufigen Steueraufkommens nicht das 1993 vereinbarte Drittel, sondern deutlich weniger (Renzsch 1997, S. 89.). Berücksichtigt man jedoch den gesamten Zeitraum von 1990 bis 1995 unter Berücksichtigung der veränderten Steuerverteilung zwischen den Ebenen (Färber 1993, S. 305ff.), stellt sich das Ergebnis völlig anders dar: Die kumulierten Steuermindereinnahmen17 der Länder, Mehrbelastungen aus Zinsen fiir die Finanzierung der Defizite aus Steuermindereinnahmen und Umschichtungen im bundesstaatliehen Finanzausgleich belaufen sich fiir die alten Länder ab 1995 größenordnungsmäßig auf gut 30 Mrd. DM pro Jahr. Die Summe setzt sich zusammen aus • • • • • •
2,45 Mrd. DM aufgrundder Aufhebung des Strukturhilfegesetzes, 6,85 Mrd. DM Annuitäten fiir den Fonds "Deutsche Einheit", 9 Mrd. DM Leistungen im Länderfmanzausgleich, 12,8 Mrd. der Berlin-Hilfe, 2 Mrd. DM aus dem Abbau der Mischfinanzierungen, eine grob geschätzte Mehrbelastung von etwa 3 Mrd. DM aus Annuitäten fiir Defizite aus Steuerausfällen sowie diverse weitere Mindereinnahmen durch die Schaffung neuer Abschreibungstatbestände und Subventionen sowie Lastenverschiebungen vor allem bei den Sozialausgaben zu Lasten der alten Länder. 18
•
Gegengerechnet werden müßten die Teile der Zuweisungen an Berlin, die fiktiv auf den Westteil entfallen. Unterstellt man die Hälfte, würden sich die Leistungen der alten Länder fiir die neuen um 2, I Mrd. DM reduzieren. Die Summe von größenordnungsmäßig 30 Mrd. DM entspricht in etwa einem Prozentpunkt des BIP des früheren Bundesgebietes. 17
Nach einer Berechnung der SPD-Bundestagsfraktion auf der Grundlage der Finanzberichte
1991 bis 1998 bewirkten die vollzogenen Steuerrechtsänderungen bis zum Jahressteuergesetz 1997 beim Bund Mehreinnahmen in Höhe von 69,2 Mrd. DM, bei Ländern und Gemeinden Mindereinnahmen von 13,6 Mrd. DM, SPD-Presseerldarung vom 22.9.1997. Diese steuerlichen Auswirkungen
sind hier nur teilweise berücksichtigt worden. II
Hatten die alten Länder in den Jahren 1991 bis 1994 noch jährlich ca. 10- 12 Mrd. DM im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung verloren, so wurden ab 1995 die rechnerischen Verluste durch die Umsatzsteuererhöhung von 1993, die bis Ende 1994 dem Fonds "Deutsche Einheit'' zugute kamen, und die Umschichtungen von 7 Prozentpunkten des Umsatzsteueraufkommens vom Bund an die Länder (16,4 Mrd. DM) zum größeren Teil kompensiert.
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Wolfgang Renzsch
Veranschlagt man- wie eingangs ausgeführt- die Netto-Lasten der Einheit insgesamt auf etwa 4 \ri bis 5 vH ( 120 - !50 Mrd. DM) des westdeutschen BIP, geht von einer Refinanzierung von 3,4 vH (100 Mrd. DM) des BIP durch den Steuer- und Beitragszahler aus, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß der verbleibenden Rest von I bis 1\ri Prozent des BIP (20- 50 Mrd. DM) zum deutlich größeren Teil von den westdeutschen Länder getragen wird 19 Die Klage des Bundes über eine angebliche Schieflage zu seinen Lasten kann hier nicht nachvollzogen werden. Wenn eine Schieflage besteht, dann zu Lasten des Steuer- und AbgabenzahIers20. Der Bundesgesetzgeber hat es im wesentlichen verstanden, die Lasten der Einheit zu gut zwei Dritteln durch Steuer- und Abgabenerhöhungen zu refinanzieren. Deshalb wäre die gängige Behauptung, die exorbitant gestiegene Staatsverschuldung und die aktuellen Budgetkalamitäten seien im wesentlichen eine Folge der Einheit, zumindest ernsthaft zu überprüfen.
Literatur
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19
Heilemann/Reppen 1997, S. 42, beziffern den Anteil des Bundes an den Transferlasten auf85 vH; 30 vH seiner Belastungen (147 Mrd. DM) habe er jedoch durch ·steuerrechtsänderungen refinanziert. Länder und Gemeinden hätten hingegen durch die Steuerrechtsänderungen 6 Mrd. DM Mindereinnahmen zu verzeichnen, sie würden jedoch zusammen nur 15 vH der Transferlasten tragen. Da diesen Behauptungen keinerlei Quellenangaben zugrunde liegen, sind sie ftlr mich nicht nachvollziehbar. 20
Nach finanzwissenschaftliehen Modellrechnungen werden die nach 1992 Geborenen in ihrer Gesamtlebenszeit wegen der Kreditfinanzierung der Einheit eine um ein gutes Viertel höhere Steuerbelastung hinnehmen müssen als ältere Generationen: die Finanzierung der Einheit weist eine deutlich Schieflage zu Lasten der jüngeren auf(Gokhale/Raffelhüschen/Wallisier 1995, S. 141ff.).
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Günther Ermisch
DIE INTEGRATIONSLEISTUNG DES BUNDESRATES BEIM VOLLZUG DER DEUTSCHEN EINHEIT I. Vorbemerkung Das Thema ist umfassend. Ich werde versuchen, die Integrationsleistung des Bundesrates beim Vollzug der Einheit Deutschlandes an Hand von vier Bereichen darzustellen, die als Beispiel dafür gelten können, welchen Einfluß der Bundesrat auf die Einheit Deutschlands ausüben konnte und in Folge des anhaltenden Prozesses der weiteren Entwicklung des föderalen Staatssytems künftig ausüben wird. Diese sind: • der Umbruch ab dem 9. I I. I 989 bis zur verfassungsrechtlichen Einheit am 3. 10.1990 • die verfassungsrechtliche Diskussion aufgrund von Art. 5 des Einigungsvertrages • der Bundesratsausschuß "Deutsche Einheit" die Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat. ln diesen vier Bereichen ist deutlich erkennbar, welchen wesentlichen und zugleich nachhaltigen Beitrag der Bundesrat im Prozeß des Werdens der Einheit Deutschlands gespielt hat. 2. 1989- 1990
Das Jahr I 989 war das Jahr, in dem Deutschland tatsächlich wieder zusammen gefunden hat. 40 Jahre war Deutschland geteilt. Es war eine rechtliche Teilung aber vor allem eine mentale Teilung, deren Folgen wir alle nicht abschätzen konnten. Die 40 Jahre waren gekennzeichnet von Blockgrenzen in Europa und der Welt. Nach dem Zusammenbruch 1945 waren rd. 18 Millionen Deutschen im Osten mit allen Konsequenzen von rd. 60 Millionen Menschen im Westen getrennt. Die Blöcke waren geprägt von einer freiheitlichen Demokratie und einem sozial marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem im Westen und von einer marxistischen von Moskau gelenkten Diktatur und mit einem planwirtschaftlich geprägten Wirtschaftssystem im Osten. Zwei Militärblöcke prallten aufeinander. Die Deutschen in ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit
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hatten sich auf beiden Seiten über lange Jahre und in weiten Teilen mit ihren jeweiligen Lebensumständen und politischen Systemen identifiziert, was andere Staaten in der Regel nur bedingt tun und auch taten. Ich nenne nur beispielhaft Ungarn, die Tschechische Republik, Polen aber auch Frankreich. Die Trennung war filr beide Teile Deutschlands auch eine Herausforderung. Mit weitgehender Identifikation versuchten die beiden Teile aus ihren ideologischen Zuordnungen das Beste zu machen. Man war im Wettbewerb. Man stellte sich der Herausforderung, man hatte Ideale, was im Westen zu einem ungeahnten Wohlstand und zu einer inneren Stärke filhrte. Durch die weitgehende Identifikation entwickelte sich das mentale Denken der Deutschen auseinander, weit tiefer als wir nach Vollzug der Einheit wahrhaben wollten. Dem Mensch mit seinen freiheitlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Westen stand der entmündigte im Osten gegenüber, dem es verboten war, eigenständig Initiativen zu entwickeln und sich nach den Vorgaben des "Überbaus" zu richten hatte. Dennoch war der Wille zur Einheit vorhanden. Über moderne Kommunikationsmittel wußte man voneinander. Die Menschen im Osten Deutschlands verglichen den Stellenwert in ihrem System mit den Möglichkeiten im Westen. Es kam zu den Erhebungen in Polen, Ungarn der Tschechischen Republik der Reaktion Moskaus über die Peristroika Gorbatschows. Der Druck der Menschen in der ehemaligen DDR wuchs. Wirtschaftliche Schwierigkeiten wurden immer sichtbarer und spürbarer. So kam nach den Oktoberdemonstrationen in Leipzig, Dresden, Plauen und dann in der ganzen DDR zum Fall der Mauer, dem Symbol der Teilung Deutschlands, am 9. ll.l989 und der Ablösung des SED-Systems durch eine freigewählte Regierung im Frühjahr 1990 und durch entschlossenes politisches Handeln zurrechtlichen Wiedervereinigung am 3.10.1990. Es galt einen neuen deutschen Staat zu formen. Der Weg wurde rechtlich durch einen Beitritt der ehemaligen DDR in die Bundesreplik Deutschland über den Art. 23 GG gewählt. Damit war zugleich festgelegt, daß die ehemalige DDR in ein föderal organisiertes Deutschland aufgenommen wurde, dessen wesentlicher Kern darin besteht, daß nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erftlllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung zuläßt. Es wurden die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern geschaffen. Ostberlin ging in Berlin auf. Die neuen Länder wirkten nach Art. 50 GG ab sofort bei der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes mit. Zugleich wurde mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland die Grenze zu Polen und zur Tschechischen Republik EU-Außengrenze. All dies geschah ohne eine langandauernde verfassungsrechtliche und auch verfassungspolitische Diskussion. Es wurden Fakten geschaffen. Jedem war von heute auf morgen bewußt geworden, daß das Neue neu gestaltet und zugleich neu überdacht werden mußte. Eine neue verfassungsrechtliche Dimension öffnete sich, der nicht ausgewichen werden konnte.
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3. Die verfassungsrechtliche Diskussion nach Art. 5 des Einigungsvertrages
Nach der verfassungsrechtlichen Integration der ehemaligen DDR war es erforderlich zu überprüfen, inwieweit unser Grundgesetz vom 23. Mai 1949 mit seinen 34 Änderungen der neuen Situation nach dem 3.10.1990 noch gerecht werden konnte. Im Art. 5 des Einigungsvertrages ist ausgeführt: Künftige Verfassungsänderungen
Die Regierungen der beiden Vertragspartner empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, •
in bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Art. 29 des Grundgesetzes durch Vereinbarung der beteiligten Länder,
•
mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie
•
mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung
3.1 In Vollzug dieses Auftrages hat der Bundesrat nach Vorerörtung in der Ministerpräsidentenkonferenz mit Beschluß vom 1. März 1991 (BR Drucks. 103/91) eine Verfassungskommission eingesetzt. Sie bestand aus 32 Mitgliedern. Jedes der 16 Länder stellte 2 Mitglieder , den Ministerpräsidenten und ein von den Ländern bestelltes Regierungsmitglied. Den Vorsitz führte der Bundesratspräsident Es war damals der erste Bürgermeister der Freien Hansestadt Hamburg, Herr Dr. Voscherau. Jedes Land hatte eine Stimme. Erstmals nahmen an dieser Verfassungsdiskussion auch die neuen Länder teil. Schwerpunkte waren, die mit den in Zusammenhang der deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu erörtern. Hier wiederum sollten die verfassungsrechtlichen Fragen einer Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa stehen. Die Finanzverfassung war ausgenommen. Diese Verfassungskommission des Bundesrates hatte am 14. Mai 1992 einen Bericht vorgelegt, der in die Erörterung einer später eingerichteten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag unter dem gemeinsamen Vorsitz von Prof. Dr. Scholz, MdB und dem Ersten Bürgermeister Dr. Voscherau einbezogen worden ist (BT Drucks. 12/ 1670). Unter dem Datum des 5.11.1993 legte die Gemeinsame Verfassungs-
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kommission dem Bundesrat das Ergebnis der Beratungen vor, das am 28.10.1993 mehrheitlich in großen Teilen aber einstimmig verabschiedet worden war. Die Ergebnisse enthalten die Mehrheitsmeinungen mit 2/3-Mehrheit und auch die Meinungen derer, die diese Mehrheit nicht erzielen konnte. Sie geben ein umfassendes Bild über die verfassungsrechtliche Diskussion zu damaliger Zeit wieder, die natUrlieh auch parteipolitisch geprägt war. Im Mittelpunkt standen die Ergebnisse zur Stärkung des Föderalismus. War es doch so, daß die Länder im Zuge der 40-jährigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ein gerüttelt Maß an Einfluß zugunsten des Bundes verloren hatten. Die ursprüngliche Idee, daß die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfiillung staatlicher Aufgaben vorbehaltlich anderweitiger Regelung im Grundgesetz Sachen der Länder sein sollte, war ausgehöhlt worden. Die Verfassungswirklichkeit und auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trugen dazu bei. Ich nenne die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern nach Art. 91 a GG, das Zusammenwirken von Bund und Ländern nach Art. 91 b GG in den Bereichen der Bildungsplanung und der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung sowie die Rechtsprechung zur Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz des Bundes aufgrund der Natur der Sache, gesamtstaatlicher Repräsentation und bei gesamtdeutscher und internationaler Bedeutung. Die Protokolle und auch das Schlußergebnis vom 14. Mai 1992 beweisen jedoch, mit welch hoher Kompetenz der Bundesrat in seiner Kommission sich bemüht hat, Vorschläge zu einem künftigen föderativ organisierten aber zugleich handlungsfähigen Gesamtstaat geleistet hat. 3.2 Zunächst einige Anmerkungen zum Inhalt der Tätigkeit der Verfassungskommission Bundesrates. Schwerpunkte waren: • Internationale Beziehungen • Gesetzgebungsverfahren • Gesetzgebungskompetenzen • Verwaltungsaufbau und Verwaltungskompetenzen • Neugliederung des Raumes Berlin Brandenburg • Zusammenlegung der Landtagswahltermine • Frauenfragen • Ehe und Familie, Art. 6 GG • Nationale und kulturelle Minderheiten • Staatsziele und soziale Grundrechte • Art. 116 GG - Begriff "Deutscher" Wiedereinbürgerung • Ausländerwahlrecht
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Datenschutz, Recht auf informationeile Selbstbestimmung, Akteneinsicht Volksbefragung, Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheid Friedensstaatlichkeit, Verteidigung.
All diese Themen waren nicht nur durch die Einigung Deutschlands bestimmt, sondern ergaben sich auch aus einem verfassungspolitischen Reformstau, der über lange Jahre nicht bewältigt werden konnte. Am deutlichsten prallten die Meinungen zum Schutz nationaler und kultureller Minderheiten aufeinander. War es doch der Minderheitenschutz durch die KSZE-Konferenz in Helsinki am 22.06.1970, der wesentlich zur Erosion des kommunistischen Machtblocks beitrug und uns letztlich die Einheit Deutschlands ermöglichte. Man einigte sich zunächst auf die Formel, in das Grundgesetz folgenden Text aufzunehmen : "Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten." Ich erwähne dies, weil im Zuge der späteren Verfassungsänderung leider kein Minderheitsartikel in das Grundgesetz aufgenommen werden konnte. Dies ist kein gutes Ergebnis einer mündigen und langfristig orientierten Demokratie. Dies um so mehr, weil die Grenzen in Europa und letztlich auch in der Welt immer mehr im Schwinden sind. Gerade dann brauchen Minderheiten einen Schutz und zugleich auch eine Förderung. Wie wichtig dies gerade jetzt im europäischen Erweiterungsprozeß ist zeigen die Forderungen der EU an die Beitrittskandidaten, vor den Beitritten, ihre Minderheitenprobleme lösen zu müssen.
4. Die Gemeinsame Verfassungskommission Deutscher Bundestag- Bundesrat Wie dargelegt, sind die Diskussionsfelder mit denen der Bundesratskommission nahezu identisch. Ich möchte auf zwei Bereiche näher eingehen. Zum einen der Minderheitenschutz: Man einigte sich auf die dargelegte Kompromißformel des Bundesrates und verweigerte die Ergänzung um einen Anspruch auf Schutz und Förderung der Minderheiten. Meine Wertung hierzu wiederhole ich. Die Gemeinsame Verfassungskommission hat eine große Chance vertan, hier eine zukunftsorientierte Absicherung ftir die Minderheiten zu schaffen. Der bloße Verweis auf die Schutz- und Förderungszuständigkeit der Länder für die Sorben, Friesen, Dänen aber auch filr die Sinti und Roma greift zu kurz. Der Minderheitenschutz ist eine Aufgabe, die in erster Linie der Gesamtstaat wahrzunehmen hat. Er muß dafilr garantieren, daß dieser Schutz innerstaatlich auch gesichert und gewährt bleibt. Das jeweilige Sitzland hat subsidiär diese Schutzfunktion mit wahrzu-
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nehmen. Der Gesamtstaat ist in der primären Verpflichtung, diese Schutzgarantie sicherzustellen. Im Ergebnis geschieht dies auch so. Der Bund stellt zum Schutz der Minderheiten erhebliche Förderbeträge zur Verfügung, ohne die die Minderheiten nicht existieren können. Weil es primär eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, hat der Bund nach Art. I 04a GG seinen finanziellen Beitrag zur Erftillung dieser Aufgabe zu leisten. Die Länder ihrerseits sind zur finanziellen Mitförderung verpflichtet, soweit es um den rein kulturellen Anteil der Gesamtaufgabe Schutz der Minderheit geht. Hierzu rechnet nicht der existentielle Bestandsschutz der Minderheit. Er ist Sache des Gesamtstaates. Zum anderen einige Anmerkungen zu den Staatszielbestimmungen. Zu Diskussion standen folgende Staatszielbestimmungen: Im sozialen Bereich: Arbeit, Wohnung Im Bereich soziale Sicherheit : Bildung und Kultur Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Tierschutz Zu den Staatszielen konnte keine Empfehlung ausgesprochen werden. Ich glaube, daß mit der festgestellten Meinung, keine Staatszielbestimmung aufzunehmen, der richtige Weg beschritten worden ist. Der Weg, der bei der Schaffung des Grundgesetzes beschritten worden ist, wurde weiterverfolgt Einige Staatszielorientierungen sind bereits im Grundgesetz mit Anspruchsinhalt enthalten, z.B. Art. 5 GG - Gleichstellung -, Art. 6 Abs. 4 GG - Mutterschaftsschutz-, Art. I4 Abs. 2 GG- Sozialverpflichtung des Eigentums-, Art. 20 Abs. I und Art. 28 GG mit dem Postulaten sozialer Rechtsstaat und sozialer Bundesstaat. Die Rechtsprechung hat diese Nonnen ausgefüllt. Weitere Staatszielbestimmungen festzustellen, stößt auf die Grenze, ob der Staat überhaupt in der Lage ist, solche Garantien anspruchsbegründend zu formulieren. Es muß m.E. der Verfassungsentwicklung anheim gestellt werden, wie über das im Grundgesetz postulierte ethische Minimum einer sozialen Gerechtigkeit hinaus befunden wird. Ein Mehr gegenüber dem jetzt Erreichten könnte zu unlösbaren Vollzugsproblemen und zur Unglaubwürdigkeit des Staates führen, weil er verfassungsrechtliche Versprechungen nicht einhalten könnte. Zu dem Bereich Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen hat die Gemeinsame Verfassungskommission mehrheitlich eine Empfehlung mit folgenden Wortlaut abgegeben: "Die natürlichen Grundlagen des Lebens stehen unter dem besonderen Schutz des Staates". Hiermit wurde in großer Verantwortung herausgearbeitet, welchen Stellenwert Deutschland dem Schutz der Umwelt zuordnet. Im Grundgesetz heißt es jetzt hierzu:
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Art.20 a GG: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Der Bundesrat hat mit den Arbeiten in seiner Verfassungskommission und auch seiner Mitwirkung in der Gemeinsamen Verfassungskommission mit dem Deutschen Bundestag einen wichtigen Beitrag zur Wegbereitung eines geeinten Deutschland flir die Zukunft geleistet. Vielleicht ist dies der wichtigste Beitrag des Bundesrates beim Vollzug der Einheit Deutschlands. 5. Der Ausschuß Deutsche Einheit des Bundesrates Die neuen Länder hatten den lntegrationsprozeß in das neue gemeinsame Deutschland zu gestalten und zu organisieren. Es war ein völlig neuer Beginn. Die Wirtschaft mußte in die soziale Marktwirtschaft gesteuert werden, was sich als viel schwerer erwies, als zuvor angenommen. Verwaltungen und Länderregierungen mußten völlig neu konzipiert und aufgebaut werden. Es war nahezu nichts zu übernehmen. Die Menschen mußten sich mental auf die Integration in eine freiheitlich orientierte Wertegemeinschaft einstellen, in der die Würde des Menschen und seine Entfaltungsmöglichkeit im Mittelpunkt standen. Die allumfassende Bestimmungs- und Orientierungsfunktion des Staates war beendet. Aus dieser Erkenntnis und in Wahrnehmung der föderalen Verpflichtung der Länder hat der Bundesrat den Ausschuß Deutsche Einheit geschaffen, der am 27.09.1991 unter dem Vorsitz des sächsischen Ministerpräsidenten Prof. Dr. Siedenkopf zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentraf. Der Ausschuß war kein Ausschuß mit gesetzgeberischen Aufgaben wie die übrigen Bundesratsausschüsse. Er verstand sich als ein Forum des Bundesrates, auf dem alle Politikfelder erörtert wurden, die die Einheit Deutschlands berührten. Die nachfolgende Aufzählung der Themen zeigt, mit welcher Breite sich der Ausschuß mit dem Neubeginn beschäftigte. Wichtig war zunächst die Bestandsaufnahme und die Präzisierung der schwierig zu lösenden Integrationsbereiche. Die Länder jeweils mit der Bundesregierung am Verhandlungstisch haben sich in 32 Sitzungen dieses Themenkreises angenommen. Wenn auch im Ausschuß keine Beschlüsse gefaßt worden sind, so war es doch ein wichtiges Forum, um staatliche Stellen, insbesondere die Bundesregierung unmittelbar über die Erfahrungen der neuen Länder im Prozeß der Einigung zu sensibilisieren.
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Folgende Themen wurden erörtert: • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Programme und Maßnahmen der Bundesregierung zur Sanierung und Aufbau der neuen Länder Situation und Perspektiven der Landwirtschaft Situation im Hochschulwesen Übertragung von Vermögenswerten in den neuen Ländern Arbeitsmarktprobleme Wohnungssituation Kulturelle Einrichtungen, Künstlersituation Umweltsituation Aufbau der Verwaltungen Krankenhausversorgung Jugendsituation Industrie- und Innovationspolitik Sport Situation der Frauen Verwertung landwirtschaftlicher Flächen, Situation der Forstwirtschaft Ausbildungssituation Integration in die Europäische Gemeinschaft Politische Bildung in den neuen Ländern Forschungssituation insbesondere Industrieforschung Fremdenverkehr Kulturförderung Kataster- und Vermessungswesen Verkehrsinfrastruktur, Telekommunikationsinfrastruktur Altenhilfe, Lage der Behinderten Konversion in den neuen Ländern Mittelstand Energieversorgung Strukturfonds der EU und Infrastrukturförderung Migrationsbewegungen an der Ostgrenze
Leider hat mit zunehmenden Zeitablauf der Ausschuß an politischem Einfluß eingebüßt. Dies lag vor allem daran, daß sich die herausragenden politischen Vertreter der Länder im Ausschuß vertreten ließen. Der eigentliche Sinn des Ausschusses, ein politisches Forum zu bilden, verlor sich schrittweise. Eine politische Chance ist ungenutzt geblieben, um es vorsichtig zu umschreiben. Dies lag auch daran, weil sich eine Reihe anderer Gremien mit dem Integrationsprozeß befaßt hatten und auch befassen mußten. Schließlich kommt aber damit auch zum Ausdruck, was bei allen anderen Ausschüssen des Bundesrates festzustellen ist, nämlich daß die politische Führung sich mehr und mehr durch die weisungsgebundene Administration vertreten läßt. Die eigentlich offene und streitige Diskussion verbunden mit dem Willen zum Kompromiß, ein wichtiges
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Instrument parlamentarischer Willensbildung, verkümmert mehr und mehr. Die Administration kann dies nicht leisten. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan. Er besteht aus den Vertretern der Länder. Aber ein Bundesorgan muß auch die Kraft entfalten, über Landesinteressen hinaus zu einer Willensbildung im gesamtstaatlichen Interesse zu finden. Dies ist ein Mangel des Bundesrates insgesamt und schadet ihm, wenn man an das Rollenspiel des Bundesrates bei der gesamtstaatlichen Willensbildung denkt. Langfristig könnte dies dem Bundesrat zum Verhängnis werden.
6. Die Föderalismuskommission Die Bundesbehörden waren bis zur Wiedervereinigung zwangsläufig auf das Gebiet der alten Bundesrepublik verteilt worden. Diese Dislozierung war logische Konsequenz unseres föderalen Staatsautbaus. Durch die Teilung Deutschlands entwickelte sich beispielsweise Karlsruhe zur Stadt des Rechts mit dem Bundesgerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht und dem Generalbundesanwalt In München wurden das Bundespatentamt und die Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsgerichts angesiedelt. Letztere konnten ihren Sitz in Berlin nicht wegen des Vier-Mächtestatus haben. Dieser ließ nicht zu, daß Behörden mit Bundeswehrberührung in Berlin sein durften . In Wiesbaden wurde das Statistische Bundesamt angesiedelt usw. Ich nenne diese wenigen Beispiele, um die dezentrale Behördenansiedlung deutlich zu machen. Die Bundeswehr war zwangsläufig nur auf das alte Bundesgebiet beschränkt. All diese Sitzentscheidungen von Behörden standen mit der Wiedervereinigung zwangsläufig zur Disposition. Es mußte neu verteilt werden. Diese Situation war zusätzlich überlagert vom Beschluß des Deutschen Bundestages, den Sitz von Bundestag und Bundesregierung nach Berlin zu verlegen. Der Bundesrat schloß sich dem an. Diese Überlegungen führten zur Errichtung der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat. Sie war zu gleichen Teilen von Bundestag und Bundesrat besetzt. Jede Seite hatte je 16 Sitze. Die Bundesregierung nahm teil. Die Föderalismuskommission wurde mit Entscheidungen des Bundestages vom 20. Juni 1991 und des Bundesrates vom 5. Juli 1991 eingesetzt, BT Drs. 12/ 815 und BR Drs. 422/91. Nach dem Einsetzungsbeschluß soll die Kommission Vorschläge zur Verteilung nationaler und internationaler Institutionen erarbeiten, die der Stärkung des Föderalismus in Deutschland auch dadurch dienen sollen, daß insbesondere die neuen Bundesländer Berücksichtigung finden mit dem Ziel, daß in jedem der neuen Bundesländer lnstitutionen des Bundes ihren Standort finden. Auch vorhandene Institutionen des Bundes in Berlin stehen dafür zur Disposition.
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Sie faßte am 27. Mai 1992 folgenden im Anhang beigefUgten Beschluß, der von Bundesrat und Bundestag vollinhaltlich übernommen wurde und sich jetzt in der Umsetzungsphase befindet. Die Willensbildung stand zum einen unter der Zielvorstellung, die neuen Länder angemessen an der Verteilung der Bundesbehörden zu beteiligen. Zum anderen wurden aber die alten Länder zwangsläufig wesentlich berührt, weil sie Behörden und Gerichte aufgeben sollten, die sie nur allein wegen der Teilung Deutschlands bei sich ansiedeln konnten, die aber voll in Städte und Regionen über 40 Jahre hinweg integriert worden waren und sie zum Teil auch prägten. Der Grundsatz, teilungsbedingte Behördenansiedlungen wieder dorthin zu verlagern, wo sie sich vor der Teilung befanden, wurde nur zum Teil realisiert, zum Teil aber auch konterkariert. Als Beispiel nenne ich den Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der die direkte Nachfolge des Reichsgerichts in Leipzig war und nach Karlsruhe nur wegen der Teilung Deutschlands gekommen war. Mehrheitlich und durch Ausübung massiven Drucks von außen konnte durchgesetzt werden, daß Karlsruhe Sitz des Bundesgerichtshofs blieb. Ausgenommen war nur der 5. Strafsenat des BGH mit Sitz in Berlin, der mit dem zugeordneten Anteil des Generalbundesanwaltes nach Leipzig verlegt worden ist und in jüngster Zeit seine Tätigkeit auch dort aufnehmen konnte. Es konnte durchgesetzt werden, daß jede Neuschaffung eines Senats des BGH zur Folge hat, in entsprechender Zahl weitere Strafsenate des BGH nach Leipzig zu verlegen. Gewiß, der Verlust des BGH filr Leipzig konnte durch die Verlagerung des hochangesehenen Bundesverwaltungsgerichts von Berlin nach Leipzig wertgleich ausgeglichen werden. Jedermann spürt aber, daß die Beseitigung einer teilungsbedingten Behördenansiedlung angesichts besonderer Interessenlagen nicht möglich war. Nur nach jahrelangem Ringen konnte erst in jüngster Zeit erreicht werden, daß die Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsgerichts in München letztlich doch nach Leipzig verlegt werden konnten und damit wieder mit dem Bundesverwaltungsgericht zusammengefilhrt werden. Die Auseinandersetzungen in der Föderalismuskommission waren zum Teil wenig schön. Der Geist der Einheit Deutschlands war kaum zu spüren. Das Ergebnis der Föderalismuskommission ist nicht zufriedenstellend. Die neuen Länder sind unzureichend und unverhältnismäßig gering bedacht worden. In einer Demokratie herrscht das Mehrheitsprinzip. Die Minderheit hat sich zu filgen. Dieses demokratische Prinzip der Willensbildung muß als ein Trostpflaster hingenommen werden, das tiefe Wunden heilen läßt. Die Narben sind aber noch vorhanden. Nach beseitigter Trennung ist notwendiges Teilen ein Prozeß, der hier zu einem unbefriedigendem Ergebnis gefilhrt hat. All diese Begleitumstände haben dazu geftlhrt, daß es der Bundestag abgelehnt hat, in der jetzigen Legislaturperiode die Beibehaltung der Föderalismuskommission zuzulassen. An seine Stelle ist eine Beamtenkommission auf der Ebene der Staatssekretäre getreten, die zwangsläufig nicht die vorherige politische Kommission ersetzen kann. Sie trat am 19. No-
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vember 1996 erstmals zusammen und fungiert unter dem Namen "Behördenumzug". Das Ergebnis war enttäuschend. Der Prozeß einer gleichgewichtigen Behördenverteilung wurde eingestellt, obwohl der Bundestag am 25. Juni I 992 festgestellt hatte, daß die Arbeit der Föderalismuskommission ihre Arbeit fortsetzen sollte, bis eine annähernd ausgewogene Verteilung von Bundeseinrichtungen und -institutionen über alle Länder erreicht ist. Dies ist nicht der Fall. Der anhaltende Prozeß der Einheit Deutschlands ist ein politischer und kann auch nur politisch entschieden werden. Ich meine, daß die Politik insoweit ihrer Pflicht nicht nachgekommen ist. 7. Schlußbemerkung
Die Integrationsleistung des Bundesrates beim Vollzug der Einheit Deutschlands war beachtlich. Alle Ziele konnten nicht erreicht werden. Dies ist in einer Demokratie die Regel und somit auchfonnal hinzunehmen. Wesentliche fMerale Forderungen konnten durchgesetzt werden. Aber die Chance, nach Überwindung der Teilung Deutschlands eine neues Deutschland inhaltlich zu formen, wurde nur zum Teil genutzt Der Bundesrat hat den von ihm eingeforderten Beitrag zur Einheit Deutschlands als ein eigenständiges Bundesorgan mit hoher Kompetenz erbracht. Mehr war nicht zu erreichen.
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ANHANG Die Unabhängige Föderalismuskommission vom Deutschen Bundestag und Bundesrat hat am 27. Mai 1992 folgende Vorschläge für eine ausgeglichene Verteilung von Bundesbehörden unter besonderer Berücksichtigung der neuen Länder mit der erforderliche Zweidrittelmehrheit beschlossen: I. Verlagerung von Bundesinstitutionen in die neuen Länder
Brandenburg - Bundesversicherungsanstalt (Bfa) (1500 der neuen Stellen) - Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (Außenstelle Berlin, 114 Stellen) - Bundesrechnungshof ( Außenstelle Berlin, ca. I 00 Stellen) Mecklenburg-Vorpommern - Bundesversicherungsanstalt (BfA) (20090 der neuen Stellen) -Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (Berlin, 326 Stellen) - Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (Hamburg, ca. 150 Stellen) + den Präsidenten Sachsen-Anhalt - Umweltbundesamt (Berlin, 837 Stellen) -Wasser- und Schiffahrtsdirektion Ost (Berlin, 243 Stellen) Sachsen - Bundesverwaltungsgericht; Oberbundesanwalt; 5. (Berliner) Strafsenat des BGH und neue BGH-Senate (Berlin, 250 Stellen), neue Zivilsenate gehen nach Karlsruhe und daftir kommt jeweils ein bestehender Strafsenat von Karlsruhe nach Leipzig - Zentrum fiir Telekommunikation (Berlin, ca. l 087 Stellen) -Eine noch zu benennende Berufsgenossenschaft (bis zu 500 Stellen) - Archiv fiir die Deutsche Einheit (Außenstelle des Bundesarchivs - noch zu gründen)
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Thüringen - Bundesarbeitsgericht (Kassel, 140 Stellen) - Bundesversicherungsanstalt (BfA), Abteilung Rehabilitation (Berlin, ca. 1000 Stellen) -Deutsches Patentamt (Außenstelle Berlin, 589 Stellen) - Bundesanstalt ftir Wasserbau (Berlin, 168 Stellen) Il. Verlagerung von Bundesinstitutionen
I. Neue Bundeseinrichtungen und -institutionen sind grundsätzlich in den neuen Ländern anzusiedeln. 2. Die Unabhängige Föderalismuskommision bekräftigt die Notwendigkeit des Ausgleichs durch die Verlagerung von Bundeseinrichtungen nach Bonn ftir den Verlust des Parlamentssitzes und von Regierungsfunktionen. 3. Die Unabhängige Föderalismuskommission unterstützt die Absicht der Bundesregierung, in Bonn geschlossene Politikbereiche zu bilden, die sich aus den jeweiligen Bundesministerien und entsprechenden Einrichtungen des Bundes zusammensetzen. 4. Die Unabhängige Föderalismuskommission unterstützt die Bemühungen der Bundesregierung um die Ansiedlung von Einrichtungen der Vereinten Nationen in Bonn. 5. Die Unabhängige Föderalismuskommission unterstützt nachdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung, die Europäische Zentralbank in Frankfurt anzusiedeln. 6. Die Unabhängige Föderalismuskommission nimmt die Erwägungen im Arbeitsstab Berlin/Bonn der Bundesregierung zustimmend zur Kenntnis, folgende Einrichtungen zum Ausgleich nach Bonn zu verlagern: - Bundeskartellamt - Bundesversicherungsamt - Bundesaufsicht ftir das Kreditwesen - Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen - Bundesinstitut für Berufsbildung - Bundesgesundheitsamt (Teile)
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- Bundesforschungsanstalt fllr Landeskunde und Raumordnung (Außenstelle Berlin) - Bundesbaudirektion (Teile aus Berlin) -Statistisches Bundesamt (im wesentlichen Außenstelle Berlin) -Bundesanstalt flir Geowissenschaften und Rohstoffe (Außenstelle Berlin) -Bundesamt fiir Strahlenschutz (Außenstelle Berlin) -Bundesamt fiir Ernährung und Forstwirtschaft - Bundesamt fiir landwirtschaftliche Marktordnung - Zentralstele fiir Arbeitsvennittlung - Zentralstelle Postbank - Bundesrechnungshof Der Arbeitsstab strebt ferner an, die Verlagerung folgender Einrichtungen nach Bonn herbeizufuhren und in Abstimmung mit den betroffenen Ländern durchzu:ftlhren: - Deutsche Stiftung ftlr internationale Entwicklung (außer dem Entwicklungsforum) - Deutscher Entwicklungsdienst - Deutsches Institut ftlr Entwicklungspolitik - Max-Planck-lnstitut ftlr Bildungsforschung - Deutsche Gesellschaft ftlr Ernährung - Pädagogische Arbeitsstelle des deutschen Volkshochschulverbandes Die Vertreter der Bundesregierung erklären, daß die Bundesregierung die Verlagerung von Einrichtungen nach Bonn in zeitlichem Zusammenhang mit der Verlegung des Parlaments und von Regierungsfunktionen nach Berlin vornehmen wird. Die Bundesregierung wird sicherstellen, daß diese Verlegungen ft1r die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialverträglich vorgenommen werden. 7. Die Unabhängige Föderalismuskommission stellt fest, daß der Ausgleichsoweit er Hessen betrifft - in dem vorgesehene Umfang nur vollzogen werden soll, wenn Frankfurt Sitz der Europäischen Zentralbank wird bzw. Bonn keine entsprechend bedeutende europäische Institution erhält. 8. Um die notwendige Umstrukturierung des Landes MecklenburgVorpommern zu unterstützen, sollen nach Möglichkeit bestehende institutionell
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geförderte Zuwendungsempranger des Bundes mit technologischer oder innovativer Aufgabenstellung vor allem aus Berlin in Abstimmung mit dem Sitzland nach Mecklenburg-Vorpommern verlagert werden. 9. Die Verlagerung der Institutionen von Berlin in die neuen Länder wird in gegenseitiger Abstimmung vollzogen. Dabei ist die natürliche Fluktuation und das Entstehen neuer Arbeitsplätze aus dem Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin zu beachten. I 0. Die Unabhängige Föderalismuskommission schlägt dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat vor, daß sie ihre Arbeit fortsetzt, bis eine annähernd ausgewogene Verteilung von Bundeseinrichtungen und -institutionen über alle Länder erreicht ist. Sie ist von der Bundesregierung rechtzeitig über Planungen der Ressorts für Standorte von Einrichtungen und Institutionen des Bundes zu informieren. Sie wird über die Ausführung der Beschlüsse wachen und bei entstehenden Schwierigkeiten Ersatzmaßnahmen unterbreiten. Quelle: BT-Drs. 12/2853 (neu), S. 3 f.
PODIUMSDISKUSSION "Vollzug und Stand der inneren Einheit" Fromme:
Eine Podiumsdiskussion ist der übliche Abschluß einer Veranstaltung. Wozu dienen Podiumsdiskussionen solcher Art? Man könnte denken: einer gewissen Erholung von der Anstrengung des fachlich betonten Zuhörens, man könnte denken, damit zusammenhängend, an Unterhaltung. Man könnte und sollte aber vor allen Dingen daran denken, daß es um eine Vertiefung des Themas geht, wobei ich nicht an weitere fachliche Tiefbohrungen denke, sondern daran, daß hier drei Personen zu Wort kommen, die mit dem Thema Bundesrat und Länder im Verhältnis zur deutschen Einheit, zur deutschen Einigung- das ist ein fortlaufender Prozeß - teilgenommen haben. Wegen terminologischer Schwierigkeiten möchte ich vorab um Nachsicht bitten, es kam im Laufe der Tagung gestern schon gelegentlich zur Sprache. Soll man Ostdeutschland oder Mitteldeutschland sagen, also Ostdeutscher und Westdeutscher? Gegen Ostdeutschland ist viel zu sagen, daß München, glaube ich, meridianmäßig östlicher liegt als z.B. Erfurt oder gar Eisenach. Mit der Bezeichnung Ostdeutschland als Ostdeutscher in Anspruch hat mich als gebürtigen Sachsen immer ein bißeben geschmerzt als Ostdeutscher in Anspruch genommen zu werden. Das Wortpaar Ostdeutscher oder Mitteldeutscher birgt Konflikte. Das habe ich bei der FAZ schmerzlich erlebt in meinen letzten Jahren dort, also in den Jahren seit 1990. Wenn wir die fiühere DDR Mitteldeutschland nannten, haben sich die Vertreter der Position der Endgültigkeit des Erreichten beschwert. Und wenn wir sagten Ostdeutschland, dann haben sich die Vertriebenen und die ihnen Nahestehenden oder die von ihnen mental Beeinflußten, man muß ja trennen nach der Funktionärsschicht und den Zugehörigen, beschwert. Sie sagten, Ostdeutschland ist ja etwas anderes, das sind wir und wir wollen hier gewiß fllr den Moment nichts, aber im Prinzip könnten wir doch eines Tages etwas wollen und das darf nicht terminologisch aufgehoben werden. "Beitrittsgebiet" ist zwar Einigungsvertragssprache. Ein Kollege von mir hat den Begriff neue Länder ironisiert. Daß Sachsen neu ist, ist ja nicht so ganz richtig. Dieser Kollege von mir, ein richtiger eingefleischter Westdeutscher, hat dann den höhnischen Vorschlag gemacht, ob wir es nicht FNL (fllnfneue Länder) nennen wollten, worauf ich dann erwidert habe, daß ich dann von EAL,
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Podiumsdiskussion
also von den elf alten Ländern statt von Bundesrepublik sprechen würde. Damit hatte sich diese Geschichte erledigt. Also kurzum: ich bitte um Nachsicht, wenn ich gelegentlich Ostdeutschland sage, DDR werde ich natürlich tunliehst vermeiden, ehemalige DDR ist auch ein bißchen komisch, weil es ja doch sehr lange zurückliegt. Ich bitte um Nachsicht, wenn gelegentlich mal "Westen" und "Osten" vorkommt. Es sind nun mal, und das ist ja auch das Thema hier gewesen und wird es jetzt auch sein, Unterschiede da, die zum Teil zu überwinden sind, zum Teil, wie ich denke, unüberwindlich sind oder sein sollten. Denn es werden immer Unterschiede wie z. B. zwischen Bayern und Schleswig-Holstein, wo es auch Unterschiede in der Lebensfilhrung, in den Lebensverhältnissen gegeben hat und gibt. Glücklicherund dankenswerterweise hat eine Änderung des Artikels 72 des Grundgesetzes den unseligen Begriff von der Gleichheit der Lebensverhältnisse durch "vergleichbare Lebensverhältnisse" ersetzt, was Differenzierungen umfaßt. Vergleichbar ist ja letzten Endes alles, gerade wenn es Unterschiede gibt. Ich werde dem alten Brauch bei Podiumsdiskussionen folgen und die Teilnehmer, obwohl sie alle hinlänglich bekannt sind, kurz vorstellen. Ich beginne, wie es sich gehört bei der Dame, Frau Birthler, von Beruf Außenhandelskauffrau, wie man im Westen jetzt sagt. Über die Friedensbewegung und die Bürgerbewegung, was eine interessante und häufig zu beobachten gewesene Entwicklung war, ist sie Mitglied der am 18. März 1990 gewählten Volkskammer geworden. Sie war dann im Landtag filr Brandenburg für das Bündnis 90, damals ohne den Namensbestandteil Grüne. Eigentlich ist die Verbindung zwischen Bündnis 90 und den Grünen eine heikle Sache. Einwurf von Frau Birthler: Soll ich dazu gleich etwas sagen? Fromme:
Sagen Sie es nachher, es interessiert mich sehr. Sie finden es offenbar doch eher richtig. Frau BiTthier war dann Ministerin filr Bildung, Jugend und Sport. Rücktritt im Oktober 1992 und Mandatsniederlegung. Waren Sie auch im Bundesrat? Birthler:
Ja, dort war ich stellvertretendes Mitglied. Aber ich war in der vorhin erwähnten Verfassungskommission.
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Fromme:
Dann gehe ich nach Rangordnung und nach Alphabet. Herr Ministerpräsident a. D. Gomolka, Schlesier, wie im übrigen Herr Thierse auch, beide sind in Breslau geboren. Geographiedozent, CDU seit 1974, wenn die Angabe stimmt. Gomolka:
Das ist etwas komplizierter. Fromme:
Ja, ich bin auch nicht ganz sicher. Gewählt in den ersten Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Ministerpräsident bis 1992 und jetzt Mitglied des Europäischen Parlaments. Und Herr Thierse, also wie gesagt, das Alphabet rechtfertigt den letzten Platz. Thierse:
Ich bin es gewohnt, von Schulzeiten an. Fromme:
Ich sagte schon, ebenfalls geboren in Breslau. Beruf: Kulturwissenschaftler mit historischem Einschlag, das ist nicht ganz leicht zu definieren. Beim Neuen Forum und dann Januar 1990 zur SPD. Vorsitzender der noch nach dem Gebiet der DDR gegliederten SPD und auch Fraktionsvorsitzender in der am 18. März 1990 gewählten Volkskammer. Seit dem 3. Oktober im Bundestag, nach der Auffüllung des Bundestages durch DDR-Abgeordnete. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl wurde er in den Bundestag gewählt, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD und stellvertretender Parteivorsitzender. Das wären also kurz die Personen, drei Miterlebende und Mitbetroffene. Das Thema der Podiumsdiskussion hat Herr Professor Klein gestern im Kontext formuliert, Vollzug und Stand der inneren Einheit. Und darum soll es auch gehen, schon weil die hier Anwesenden hierzu in besonderem Maße etwas beizutragen haben. Die Antworten, die zur Zeit in der Luft liegen, gehen dahin, daß es um den Vollzug und die Entwicklung der Einheit, ich will nicht sagen schlecht stehe, aber daß es doch Reibungen gibt, die man oder mancher zunächst nicht erwartet hatte. Ich möchte dabei gerne zunächst an das allgemeine Tagungsthema anknüpfen. Herr Dr. Dästner vom Bundesrat hat gestern sehr interessant referiert über die Rolle, die der Bundesrat, die einzelnen Länder der Bundesrepublik und über den Bundesrat auch die Opposition, also die SPD, bei der Erarbeitung des Einigungsvertrages, nicht beim ersten Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, gespielt haben. Wobei ich die Bemerkung dazu besonders interessant fand, daß es ftlr den Bundeskanzler, der die deutsche Vereinigung ftlr sich in Anspruch nahm, möglich war, auf diese Weise
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Podiumsdiskussion
die Opposition in irgendeiner Fo~ mit zu Gespräch hat ziehen und damit vielleicht sogar der Opposition gewisse Fesseln, ich übertreibe es ein bißchen, Herr Dästner, hat anlegen können. Also die Frage an die drei Disputanten: Haben Sie den Eindruck, daß im Bundesrat, dem Frau Birthler und Herr Gomolka zunächst angehört haben bis 1992, im Prozeß der deutschen Einheit vom Beitritt bis heute die ostdeutschen Interessen hinreichend zu Geltung gebracht werden? Ich denke an das, was ich auch dem Vortrag von Herrn Dästner gestern entnommen habe. Es ist eine Geschichte, über die ich mich immer gewundert, um nicht zu sagen geärgert habe, daß die vier großen westdeutschen Länder die Gelegenheit dieses Einigungsvertrages genutzt haben, ihre Stimmenzahl im Bundesrat aufzustocken, was ja wirklich mit der Sache eigentlich nichts zu tun hatte. Herr Dästner hat gestern gesagt, es sei darum gegangen, die Sperrminderheit bei Verfassungsänderungen fur die westdeutschen Länder zu sichern. Also nicht gerade eine freundliche, aber eine machtpolitisch leicht verständliche Einladung fur Gäste. Wer fiingt an? Gomo/ka:
Ich glaube, es gibt eine gewisse Analogie mit dem allgemeinen Gang der Ereignisse in Deutschland. Wir hatten in der Zeit der friedlichen Revolution und danach eine euphorische Grundstimmung, die auch noch teilweise die Volkskammerzeit mitgeprägt hat, und etwas flacher und zeitlich verschoben kann man das auch fur den Bundesrat konstatieren, der hat ja seine erste Tagung ganz bewußt hier in Berlin abgehalten. Die neuen Bundesländer sind dort recht selbstbewußt aufgetreten. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß auch ein Stück Spontaneität noch vorhanden war. Herr Siedenkopf forderte mich auf, die Rede zu halten im Namen der neuen Bundesländer, weil ich einen Tag vor ihm gewählt worden war, also als der Dienstälteste gewissermaßen dieser Runde. Ich machte mir während der Tagung Notizen, ging dann nach vorne und fand die dann später gedruckt, als Drucksache des Bundesrates wieder. Das sind Dinge, die eigentlich nur im Überschwang der Gefilhle möglich sind. Danach pendelte sich das sehr schnell ein nach meinen Beobachtungen. Es wurde sehr normal und es wurde alltäglich, und man sollte es, glaube ich, auch als einen alltäglichen Vorgang betrachten. Und wenn ich meine Eindrücke zusammenfasse, könnte ich sagen, daß es, wenn es um finanzielle Dinge ging, gelegentlich an der Grenze der Peinlichkeit war. Es handelte sich um die Verhandlungen, die gefuhrt wurden, insbesondere in der Runde der Ministerpräsidenten, Vorbereitungen der Bundesratssitzungen, und das sage ich jetzt einmal mit Blick auf beide Parteien. Das sind also Dinge, die filr mich schwer nachvollziehbar waren. Auf der anderen Seite gab es sehr viel Großzügigkeit, beispielsweise wenn es um Verwaltungshilfen ging. Es wurde spontan geholfen. Wir hatten z. B. die Grundbücher einzurichten, da kamen viele Leute auch am Wochenende, mach-
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ten gewissermaßen Sonderschichten, so könnte man das früher genannt haben. Wir haben umgekehrt Akten in die alten Bundesländer geliefert. Es wurde sehr unbürokratisch geholfen in dieser Phase. Was ich etwas bedauerte, waren die recht frühzeitig eingegangenen Länderpartnerschaften. Da gab es zwangsläufig Ungleichgewichte. Länder wie Schleswig-Holstein waren relativ weitaus stärker gefordert als die großen Länder, so daß hier gewisse interne Disproportionen auftraten, die man mit viel persönlichem Einsatz versuchte auszugleichen. Mit Blick auf das Thema möchte ich sagen: Wir sollten uns doch etwas normaler anstellen und sachlicher analysieren. Offen gestanden, wenn ich im Europäischen Parlament bin oder wenn ich in Osteuropa unterwegs bin, versteht niemand unsere angeblichen Sorgen. Niemand, niemand versteht die Stimmung, die hier im Lande herrscht. Jeder weiß im Grunde genommen besser mit welcher Intensität, mit welcher Geschwindigkeit, in welchem Umfang wir die Veränderungen bewältigt haben, wie stolz wir eigentlich sein könnten auf das, was wir geleistet haben. Und wir haben eine quälende, eine ätzende Diskussion, die fiir mich deprimierend ist, bis in meine Partei hinein, wenn ich beispielsweise an meine Landespartei denke, was da vor anderthalb Jahren passiert ist. Da kam ein Papier auf "ldentitätsgewinn im Aufbau Ost", der Titel widerspricht vollständig dem Inhalt. Das ist eine einzige Jammerarie, die da gesungen wird, die den realen Gegebenheiten überhaupt nicht gerecht wird. Wir sollten sachlicher umgehen, ehrlicher analysieren, auch differenzieren und weniger pauschalieren, dann tauchten diese Probleme, die Sie eingangs erwähnten, mit den Bezeichnungen Ost-West überhaupt nicht auf. Sprechen wir doch konsequent von Ländern, sprechen wir von Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, und wenn wir schon in Himmelsrichtungen teilen, dann teilen wir nicht in zwei sondern drei, sprechen wir von Nordostdeutschland, Südwestdeutschland, Nordwestdeutschland, und dann sind jeweils Teile von Ländern oder ganze Länder miteingeschlossen. Jedes grobe Raster ist hier untauglich, um die Befindlichkeiten, um die Situation wiederzugeben. Zu meiner persönlichen Darstellung möchte ich noch folgendes erwähnen, damit das mal klargestellt wird. Ich bin als ahnungsloser Achtzehnjähriger in die CDU geworben worden, 1960, von einem älteren Freund. Ich habe mich irgendwann mal überreden lassen, bewußt geworden ist mir das erst 1968, mit dem Einmarsch in die Tschechei. Da habe ich mein Parteibuch genommen, habe es in den Kreisvorstand getragen und gesagt: Ich trete aus. Und dann kam 1971, da sagte mein Institutsdirektor zu mir: Also er versteht ja das, was ich '68 getan habe, er hat das auch so stillschweigend gedeckt. Aber jetzt kommt doch die Entspannungspolitik und Helsinki wird vorbereitet und alles sieht etwas optimistischer aus. Da bin ich 1971 wieder eingetreten im Überschwang der Gefiihle, und habe mich auch im kommunalen Bereich sehr engagiert. Ich habe ein kurzes Gastspiel gegeben auch im Hauptvorstand der CDU, wo mir innerhalb eines knappen Vierteljahres die Augen über die Machtverhältnisse wirklich erst auf-
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Podiumsdiskussion
gegangen sind. Das war Anfang der achtziger Jahre, da habe ich erst klar gesehen, wie die Beziehungsgeflechte sind, wer das Sagen hat und habe mich dann in meinen akademischen Winkel zurückgezogen, bin aber in der Partei geblieben. Und meine Beziehung zum Bundesrat, wenn wir schon mit Titeln feilschen, ich war der erste Bundesratspräsident aus den beigetretenen Bundesländern. So der korrekte Ausdruck. Fromme:
Da war Mecklenburg-Vorpommern gerade dran. Gomolka:
Ja, wir waren gerade dran, nach Herrn Voscherau aus Harnburg und dann kam wohl Herr Sehröder aus Niedersachsen. Fromme:
Vielen Dank, Herr Professor Gomolka. Auf zwei Punkte wollte ich gesondert zu sprechen kommen. Einmal auf die Finanzhilfe, wozu Herr Prof. Renzsch Interessantes und Bemerkenswertes erwähnte. Er wäre auch bereit, hier noch etwas beizutragen. Dann auf die Personalhilfe oder Verwaltungshilfe. Sie hat beigetragen zu einer Art Neuauflage der alten Bundesrepublik, Übernahme der Rechtsordnung der jeweiligen Patenländer. Diskussionen um die Neugliederung waren eigentlich immer unfruchtbar, sie haben immer wieder Fachkommissionen in Lohn und Brot gesetzt, die dann fabelhafte Gutachten mit Bevölkerungsströmen, ökonomischen Verbindungen und landsmannschaftliehen Bezügen erstellt haben. Das waren so viele Parameter, daß man zu einer vernünftigen Resultante eigentlich nicht kommen konnte. Nachdem die Länderzahl von 10\4 (West-Berlin als halbes Westland) auf 16 gestiegen ist, ist der Disput um eine Neugliederung wieder aufgekommen. Die allgemeine Föderalismusmüdigkeit, die es, wie ich denke, gibt, war ein Anstoß, auch die Frage der Praktikabilität: wird der Bundesrat nicht zu groß? Auf der anderen Seite steht das Faktum, daß die Umwälzung in der DDR, jedenfalls fiir Sachsen kann ich es aus eigener Beobachtung sagen, sehr stark von dem trotz der Bezirkseinteilung von 1952 erhalten gebliebenen Landesbewußtsein getragen war. Ich erinnere mich an einen frühen CDU-Parteitag in Dresden im Anfang des Jahres 1990. Da stand das Land Sachsen noch in weiter Feme, aber es tagte bereits die sächsische CDU, hielt ihren Landesparteitag ab unter dieser Bezeichnung, und es wimmelte von weiß-grünen Fahnen, die man sich aus farbigen Stoffen zusammengenäht hatte. Ich habe auch ein Exemplar erworben, das habe ich aufgehoben in meiner Devotionaliensammlung. Kann man also auch die Frage einer Neugliederung mit einbeziehen?
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Frau Birthler:
Zu Ihrer Bezeichnung "widernatürliche Verbindung" sage ich jetzt nichts, sie wollten mich nur provozieren, das gehört in einen anderen Zusammenhang, und vielleicht kommen wir ja in der Diskussion darauf zurück. Stichwort Ostdeutschland: Ich glaube, das ist inzwischen ein akzeptierter Begriff. Ich selber habe ihn von da an akzeptiert, als ich die ersten Leute von Mitteldeutschland habe reden hören. Dem wollte ich etwas entgegensetzen, und Ostdeutschland markiert am ehesten, daß Deutschland an der Oder zu Ende ist. Der Begriff "Ostdeutschland" hat also auch einen politischen Hintergrund. Ich spüre da bei den Westdeutschen manchmal große Vorsicht, aber mit diesem Begriffhabe ich überhaupt kein Problem, eher schon und viel stärker mit solchen technokratischen Bezeichnungen wie "fünf neue Länder" usw., die ich ziemlich unangenehm fmde. Bei Ihrer Frage danach, welche Rolle der Bundesrat gespielt hat, kann ich nur etwas zurückhaltend sagen: Er war so gut oder so schlecht wie andere Bundesgremien in diesem Zusammenhang auch. Warum sollte es auch anders sein? Ich habe meine Erfahrungen mit der deutsch-deutschen Kommunikation und Kooperation auch im Bundesrat gemacht, in der Verfassungskomission, aber vor allen Dingen in der Kultusministerkonferenz, die ja aufgrund der Länderkompetenz für Bildungsfragen ein ziemlich wichtiges Gremium war. Ich habe dort sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Das bevorstehenden Jubiläum der Kultusministerkonferenz ist ja ein Anlaß, Bilanz zu ziehen. Es ist zweifellos so, daß dieses föderale Gremium in einer ganzen Reihe von Punkten hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist, also beispielsweise war es im Bereich der Schulen politisch nicht notwendig, bundeseinheitliche Regelungen herzustellen. Ich meine, daß durch den Einigungsvertrag, der beispielsweise die Beschlüsse des Hamburger Abkommens verbindlich für die Bundesebene erklärt hat, Entwicklungschancen vergeben wurden. Diese Beschlußlage der Kultusministerkonferenz, die zu einem allzu engen Korsett für die ostdeutschen Länder wurde, war ja Ergebnis langjähriger Diskussionen, von Konsensfmdung der alten Bundesländer. Alle wissen ja, wie schwerfällig dieses Gremium ist, aber die gute Seite daran war, daß da miteinander in zähem Ringen etwas gewachsen ist. An dieser Diskussion waren die ostdeutschen Länder nicht beteiligt, sie wurden mit dem Ergebnis eines vierzigjährigen Diskussionsprozesses konfrontiert, und obwohl sie völlig andere Bedingungen eingebracht haben, konnten sie nur Bestehendes akzeptieren. Ich glaube zwar nicht, daß dies das letzte Wort ist und sich noch Entwicklungen zeigen werden, aber das war erst mal die Situation, die wir vorgefunden haben. Für das Land Brandenburg, für das ich seinezeit in diesem Gremium war, war dadurch ein Loyalitätskonflikt entstanden. Einerseits waren wir das einzige A-Land aus Osten, also das einzige SPD-geführte Land, wodurch eine Loyalität oder Nähe zu den anderen A-
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Podiumsdiskussion
Ländern entstanden ist. Zum anderen gab es die Loyalität gegenüber den anderen Ost-Ländern, wiewohl CDU-gefiihrt, und gemeinsame Interessen. In den vergangeneo Tagen wurden, wie jedes Jahr um diese Zeit, viele deutsch-deutsche Debatten gefiihrt. Quasi mit dem Fieberthermometer in der Hand wird nach dem Stand der deutschen Einheit gefragt, und wir reden immerfort aneinander vorbei. Dabei wäre eine Frage sicherlich hilfreich, die ungefähr so lauten könnte: Was müßte eigentlich passiert sein, damit hinterher die meisten Leute in Deutschland sagen "Jetzt ist die Einheit erreicht."? Ich glaube, daß auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten gegeben werden, vor allem unterschiedlich in Ost und West. Jeder und jede von Ihnen kann das fiir sich durchspielen. Im Osten stehen nach meiner Erfahrung "gleiche Einkommensverhältnisse", "mehr Ostdeutsche in den Grundbüchern oder auch in leitenden Funktionen" eine bessere Infrastruktur usw. im Vordergrund, also Dinge, die sich mit der Gleichstellung von Lebensverhältnissen beschäftigen. Was antwortet der Mensch aus dem Westen? Ich unterstelle, und Sie mögen mir widersprechen, daß da eine Antwort kommen würde wie "Die Einheit ist erreicht, wenn ich in Greifswald nicht mehr merke, daß ich im Osten bin" oder wenn "diese Anspruchshaltung und das Jammern aufgehört haben" oder "wenn die endlich aufhören, die POS zu wählen". Ich meine also, es gibt einfach auch ganz unterschiedliche Ansprüche an das, was wir unter Einheit verstehen. Und wenn man dies nicht mal am Anfang einer Debatte klärt, kann man stundenlang aneinander vorbeireden. Meinen wir die mentale Einheit, die kulturelle Einheit? Heißt Einheit "Einheitlichkeit"? Ich meine nein. Wo ist von Einheit zwischen Schleswig-Holstein und Bayern die Rede? Föderalismus gründet ja gerade in der Verschiedenheit. Also warum soll es nicht auch Verschiedenheit zwischen Ost und West geben? Was ist dann aber Einheit? Wofiir brauchen wir diese Einheit überhaupt, von der wir gar nicht genau wissen, was wir darunter zu verstehen haben? Für mich gibt es, und damit will ich fiirs erste abschließen, eigentlich nur einen einzigen Grund von dauerhaftem Bestand, auf diese Einheit zu drängen, und der hängt aufs Engste zusammen mit der Demokratiefrage. Wir brauchen die Einheit, damit es ein "Wir" als politisches Subjekt gibt, und damit bin ich ganz dicht an der Verfassungsdebatte. Wenn die Verfassung die Grundlage unseres gesellschaftlichen Lebens ist, in dem die wichtigsten Regeln, Verfahren und Rechte festgelegt werden, dann setzen diese "Spielregeln" voraus, daß man sich auch einig darüber ist, wer eigentlich "die Spieler" sind, wer die Träger von Rechten und Pflichten sind, wer zu dieser Verfassungsgemeinschaft gehört. In diesem verfassungsmäßigen Sinne ein "Wir" herzustellen, davon sind wir, glaube ich, noch sehr weit entfernt. Sprache ist häufig verräterisch. Es war gerade im Bundestag die Rede davon, was das Wort "Transfer" beinhaltet. "Transfer" bedeutet ja etwas, was über eine imaginäre Grenze hinweggeht. Oder denken
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wir daran, was der Bundespräsident in seiner Antrittsrede gesagt hat "Deutschland ist 1990 größer und bevölkerungsreicher geworden"? Ich frage mich besorgt: Wo ist der Quadratmeter, um den Deutschland größer geworden ist? Woher komme ich denn? Wenn ich meinen westdeutschen Freunden diese Geschichte erzähle, dann gucken die mich immer etwas ratlos an und warten auf die Pointe. Ein anderes Beispiel: Erwin Teufel, sprach bei seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit davon, was "Wir" dem Osten zahlen. Wer ist sein "Wir"? Unsere Sprache bietet eine ganze Reihe von Indizien dafilr, daß es dieses "Wir" als politisches Subjekt im Verfassungssinne, also im Zusammenhang von Demokratie - vorsichtig gesagt - nur in Ansätzen gibt. Fromme:
Vielen Dank Frau Birthler, Sie haben ein bißeben schon vorgegriffen in den gedachten Abschluß. Dies ist natürlich die entscheidende Frage: Welches ist die Endstation, wie ist es mit der Ankunftszeit des Zuges der Einheit? Terminologische Fragen sind ein gewisses Indiz. Es ist noch nicht soweit, solange es diese terminologischen Schwierigkeiten gibt. Zu Herzogs Äußerung über das größer gewordene Deutschland: Mir war es offen gestanden nicht aufgefallen, es wäre natürlich prekär, wenn Herr Herzog solches gesagt hätte. Birth/er:
Er hat es gut gemeint, und das ist ja gerade das Fatale dabei. Ich vermute im übrigen, daß ihm das heute nicht mehr passieren würde: Der Bundespräsident hat inzwischen gelernt. Fromme:
Aber es widerspricht dem Deutschlandbegriff, der über die Jahrzehnte im Westen gewahrt worden ist, daß es Deutsche, die in der DDR leben, gibt und Deutsche, die in der Bundesrepublik leben. Insoweit kann Deutschland eigentlich nicht größer geworden sein, sondern es war immer so groß wie jetzt in der Theorie, der auch politisch gerechtfertigten Theorie. Ja, Herr Thierse bitte sehr. Thierse:
Also eine Bemerkung zur Bezeichnung "Ostdeutschland". Ich bin da derselben Meinung wie Marianne Birthler. In Breslau geboren halte ich es selbstverständlich filr richtiger, diese Gegend hier, die Ex-DDR, lieber Ostdeutschland zu nennen als Mitteldeutschland, weil das immer eine politische Nebenbedeutung unangenehmer Art hat. Ich halte es auch filr besser als dieses Gebiet hier Beitrittsgebiet zu nennen, oder "neue Länder" und noch schlimmer ,junge Länder". Da fallen mir immer nur junge Hunde ein. Weil Herr Waigel das immer so souverän begründet. Das Nüchternste ist Ostdeutschland und Ostdeutsche und Ossis, das sind alles ganz nüchterne Bezeichnungen. Das nur vorweg.
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Podiumsdiskussion
Drei kurze Bemerkungen zum Stichwort "Bundesrat". Ich gehöre ihm ja nicht an, ich habe nur Wahrnehmungen von außen. Aber die Erinnerung an 1990 an den Sommer ist ja relativ eindeutig. Die SPD ist aus der DDRRegierung der Großen Koalition ausgeschieden unter anderem deshalb, weil wir den zwingenden Eindruck hatten, daß wir überhaupt gar nicht mehr mitverhandeln könnten in dieser Regierung der Großen Koalition. Herr Krause hatte die Sache in die Hand genommen, Lothar de Maziere konnte nicht mehr, was die Geschäftsgrundlage dieser Großen Koalition war, mit uns zusammen gegenüber Bonn, dem ja immer Stärkeren, verhandeln. Das war ihm, um es ganz freundlich auszudrücken, irgendwie abhanden gekommen. Vielleicht schreibt er mal, was da am Wolfgangsee passiert ist. Jedenfalls wir konnten tatsächlich in diesen Verhandlungen keinen Einfluß mehr ausüben, und das war fiir mich dann der Grund auch zu sagen, dann ist es auch unsinnig, in dieser Regierung zu bleiben. Und dann war die einzige Möglichkeit, überhaupt noch auf die Verhandlungen zum Einigungsvertrag Einfluß zu nehmen, natürlich die westdeutsche SPD und de facto dann die Länder, die ja insofern eine Machtposition hatten. Das ist ein wichtiger Punkt, aber ich glaube, das ist hier auch besprochen worden. Zweite Bemerkung: Offensichtlich haben die westdeutschen Länder im Prozeß dieser Vereinigung und in den endlosen Verhandlungen immer stärker das Gefiihl bekommen, daß ihre Position geschwächt würde. Dieser Argwohn hat sie ja sehr stark beschäftigt. Das ist wohl der Hintergrund gewesen, warum in einem Handstreich plötzlich die Stimmenverhältnisse geändert worden sind. Das hat mich damals sehr erstaunt, irritiert, verärgert. Es kommt hinzu, daß natürlich Nordrhein-Westfalen vor allem in der Hauptstadt-Frage eine sehr entschiedene Position eingenommen hat, um mich diplomatisch auszudrücken. Das ist aber nun auch wieder insgesamt erklärbar, und das ist die dritte Bemerkung. Meine widersprüchliche Wahrnehmung von den Ländern erkläre ich mir immer mit einer Selbstverständlichkeit, daß die Länder, die Länderregierungen natürlich die Interessen der jeweils eigenen Länder mit Energie zu vertreten haben und daß daraus vielerlei Widersprüche und Ärgerlichkeiten entstehen, aber eben immer auch die Aufgabe in diesen ganzen Jahren, die westdeutschen Länder fiir die ostdeutschen Probleme sensibel zu machen und für die Verwirklichung ostdeutscher Interessen immer neu zu gewinnen. Das ist eine gelegentIich mühselige Aufgabe, aber ich sage das ohne jeden Vorwurf, weil die Konstruktion ja so ist, daß Länderregierungen Länderinteressen vertreten. Das gelingt aber erstaunlicherweise dann doch immer wieder ganz gut, daß ostdeutsche Interessen wahrgenommen und auch vertreten werden. Ich könnte da eine Menge Beispiele aufzählen. Die letzte Altschuldenregelung, Mietenüberleitungsgesetz und viele andere Dinge, wo Interessen durchgesetzt werden, die gar nicht westdeutsche Länderinteressen waren. Wo man Überzeugungsarbeit nicht auf der Vorderbühne, sondern gelegentlich auch hinter verschlossenen Türen geleistet hat, mit einigem Erfolg.
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Nun die Frage nach der Neugliederung. Da muß ich in einem sehr grundsätzlichen Sinn antworten. Die deutsche Einigung ist ja nicht wirklich, eigentlich überhaupt nicht als Chance zu Refonnen in ganz Deutschland begriffen worden. Also auch nicht zur Chance, Länder neu zu gliedern. Vielleicht war das eine Überforderung, ich will da gar nicht moralisch richten. Das ist nicht das Problem. Aber dieses ist ein Grundproblem der deutschen Einigung, daß sie nie begriffen worden ist als ein großes Refonnprojekt, das nicht nur den Osten ändert. Aus diesem Umstand erwächst eine Grundschwierigkeit des deutschen Einigungsprozesses, nämlich des Ungleichgewichts zwischen West und Ost. Ich sage ausdrücklich gegen diese ideologische Formel der Kolonisierung des Osten, die ich für ganz falsch halte, sage ich zunächst, daß die deutsche Einigung unter der Dominanz des Westens stattfinden mußte. Ist ja ganz klar; wenn ein erfolgreiches politisches und ökonomisches System und ein zusammengebrochenes, zusammenbrechendes politisches und ökonomisches System zusammenkommen, sind die Gewichte klar. Das muß man vorweg sagen. Aber daraus ergibt sich eben die Grundkonstellation, daß der eine der Lehrer ist und der andere der Lehrling. Das ist ein fundamentales Ungleichgewicht, das allerdings eben auch exekutiert worden ist in einer Weise, daß jede Facette des westdeutschen Systems hierher übertragen worden ist, auch die unsinnigste, und niemals zurückgefragt worden ist, ob in diesem Prozeß des Zusammenwachsens, meinetwegen auch der Übertragung, das eigene System kritisch überprüft wird. Ich erzähle in diesem Zusammenhang mal eine besonders absurde, weil ganz alltägliche Geschichte. Wie ich einmal nach Hause komme, Marianne Birthler wird das genau wissen, und meine Frau ist leicht gereizt und sagt: Also stell dir doch vor, unsere Nachbarin, eine ganz alte Frau, kam zu mir runter und wollte wissen, wie sie von uns, Prenzlauer Berg, nach Pankow kommt, mit welcher Straßenbahn. Und ich überlegte und ich konnte ihr nicht mehr sagen mit welcher Linie. Denn was war passiert? Die Straßenbahnlinien haben andere Nummern bekommen. Das muß man erklären, damit man es versteht. Es gibt in West-Berlin keine Straßenbahn, jetzt wird eine rUbergebaut, es gab keinerlei Grund, die Nummern zu ändern, weil es nur in Ostberlin Straßenbahnen gab. Aber die Nummer wurden geändert. Also meine Frau erzählt das empört und endet mit diesem klassischen ostdeutschen Satz: So eine Sauerei, die wollen uns unsere Heimat nehmen. Ganz typisch ostdeutscher Satz, weil da etwas passiert ist, die Übertragung des westdeutschen Systems aller Regelungen sozusagen im vollen Bewußtsein der eigenen Macht, und es wurden auch Dinge geändert, die überhaupt nicht geändert werden mußten. Das ist ein alltägliches Beispiel ftlr das, was ich meine, wie die unausweichliche westliche Dominanz exekutiert worden ist auf eine Weise, die geradezu totalitäre Züge hat, wenn Sie mir dieses etwas starke Wort verzeihen. Und das zweite ist, daß natürlich klar war, im Osten muß sich alles ändern, im Westen nichts. Im Osten muß alles reformiert werden, im Westen nichts. Dieses doppelte fundamentale Ungleichgewicht hat 8 Klein
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Podiumsdiskussion
die deutsche Einigung auch mental-kulturell-psychologisch so schwer belastet, daß wir heute noch an den Folgen laborieren, mehr als notwendig. Also ich sage nicht, daß im Osten nicht etwa viel mehr geändert werden mußte, das ist ja selbstverständlich, aber die Art und Weise, wie die Dominanz exekutiert worden ist, wie die Veränderung Ostdeutschlands, die Vereinigung nicht als Chance begriffen worden ist, selbstkritisch zurückzufragen auf das eigene System, hat diesen Einigungsprozeß so belastet, daß wir heute auch mit Schwierigkeiten zu tun haben, die unter anderen Voraussetzungen mit einer anderen Grundeinsteilung so nicht vorhanden gewesen wären. Andere Schwierigkeiten waren unausweichlich, will ich ganz nüchtern sagen. Birth/er:
Es gibt ftlr das, was Wolfgang Thierse eben gesagt hat, viele sehr eindrückliche Beispiele. Wir haben in der letzten Phase der Volkskammer täglich kiloweise Gesetze verabschiedet, ohne Chance, die auch nur zu lesen, geschweige denn zu verstehen, als Laien, die wir waren. Vermutlich wären auch Profis überfordert gewesen. Ich war dann irgendeinmal an der Reihe, einen Redebeitrag zum BGB zu halten. Wir waren eine kleine Fraktion, da kam man immerzu dran. Ich blätterte also im BGB und stieß durch einen Zufall auf§ 1300 BGB, das ist der Kranzgeldparagraph, der die Regreßansprüche sitzengelassener Verlobter regelt: geltendes Recht in der Bundesrepublik und zugegebenermaßen schon lange nicht mehr angewandt worden. Daß ein solcher Paragraph noch nicht abgeschafft wurde, mag ja noch angehen. Aber daß ein Parlament, das aus erwachsenen Leuten besteht, einen solchen Paragraphen in Kraft setzt, das ist schon bemerkenswert. Dies ist nur ein - allerdings besonders kurioses Beispiel - für manche anderen Beschlüsse. Wichtiger ist, daß wir unter der Folge dessen, was Wolfgang Thierse beschrieben hat, noch sehr lange zu leiden haben. Wenn die BundesdeutsehenWest erfahren hätten, daß die deutsche Einheit nicht nur Geld kostet, sondern daß sie auch zu einer Modemisierung oder zu einer Entrümpelung des bundesdeutschen Rechtssystems geftlhrt hätte, wäre das Geftlhl erzeugt worden, daß auch sie von der Einheit profitiert hätten. Das hätte sehr viel mehr Akzeptanz auch von unvermeidlichen Schwierigkeiten gebracht. Für die Ostdeutschen wäre es ein Gegengewicht gewesen zu dem weit verbreiteten Geftlhl, die Dazugekommenen zu sein, die Ausgehaltenen: einem Geftlhl das mit der Würde eines Erwachsenen schwer vereinbar ist. Ausgehalten zu werden, nach wie vor auf die Ost-West-Transfers angewiesen zu sein, ist ein dauerhaft demütigendes GefUhl, das eine anti-emanzipatorische Wirkung hat. Allerdings sind manche Entwicklungen nicht nur mit westdeutscher Dominanz zu erklären. Es gab in den ersten zwei, drei Jahren der deutschen Einheit auch einen sehr starken Druck im Osten, möglichst schnell alles genau so wie
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im Westen zu haben. Ich habe das im Bereich der Schulen in Brandenburg erlebt. Ich selbst und auch meine aus verschiedenen westlichen Bundesländern stammenden Kollegen haben darum gerungen, daß wir uns Zeit lassen mit der Schulreform, darum, daß erst einmal eine bildungspolitische Debatte stattfindet, daß wir uns auf die inneren Reformen beschränken und nicht gleich alle Strukturen umstellen. Dies rief massiven Widerstand der Eltern hervor, die sagten, wir wollen jetzt richtige Gymnasien, wir wollen jetzt richtige Realschulen. Das, was zwei Jahre zuvor noch gefordert worden war, die Schulen der DDR zu öffnen, war out. Jetzt ging es darum, die Schulen der DDR nicht zu öffnen, sondern zu schließen. Dieser Druck war kein Ergebnis westlicher Einflüsse, sondern ist im Osten entstanden. In fast allen Bereichen setzten sich westdeutsche Verfahren, westdeutsche Strukturen durch. Gegen vierzig Jahre geronnene Erfahrung hatten es neue, im Osten gewachsene Ideen und Visionen sehr schwer. Das war häufig gar nicht böser Wille, es war eben einfacher, angesichts von Zeitnot oder starkem Entscheidungsdruck, ungeprüft im Westen Bewährtes zu übernehmen. Dadurch ist dem Osten die Chance des eigenen Irrtums genommen worden, der zum politischen Erwachsenwerden gehört. Es ist also wichtig, beide Seiten zu sehen: Die großen Anpassungsbestrebungen aufgrund von Verunsicherung in der ostdeutschen Bevölkerung, die damit zu tun hatten, daß die ersten Erfahrungen vorlagen mit Verlust von Jobs, mit Verunsicherungen usw. und die Eltern den Wunsch hatten, daß ihre Kinder fit für diese Leistungsgesellschaft werden. Es entwickelte sich eine Scheu vor weiteren Experimente. Es haben sich also zwei Dinge miteinander multipliziert: die Dominanzbestrebungen aus dem Westen und die Selbstverständlichkeit, mit der man das westliche Regelungswerk für tauglich hielt, sowie die Anpassungsbereitschaft im Osten. Gomolka:
Was mich grundsätzlich stört an den Äußerungen von Frau Birthler und Herrn Thierse ist, daß im Grunde genommen der gleiche Fehler in ihrer Argumentation, ein scheinbar formaler Fehler, drinsteckt, in ihren berechtigten Vorwürfen gegen den Bundespräsidenten und anderen. Sie sprechen von "der Bevölkerung" von "dem Osten", ohne hinreichend zu differenzieren. Ich finde das anmaßend, die Bevölkerung ist gruppiert, läßt sich klassifizieren. Es gibt Mehrheiten und es gibt Minderheiten, und wenn ich einmal vom Lebensstandard ausgehe, da sind 75 % der Bevölkerung hier zufrieden mit dem Standard, den sie persönlich haben. Sie sagen ihre Situation sei gut oder ganz angenehm, jedenfalls beurteilen sie ihre persönliche Situation positiv. Wie kommen wir dazu, jetzt zu unterstellen, einer Mehrheit oder der gesamten Bevölkerung, daß sie irgendwie politisch gepolt sei.
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Podiumsdiskussion
Birthler:
Haben Sie mich so verstanden? Gomolka:
Die Äußerung, daß westliche Dominanz exekutiert wird. Dann wird sie doch überall exekutiert, dann ist doch jeder betroffen oder die Mehrheit zumindest. Wenn ich das so verwende, dann muß doch zumindest eine erkleckliche Gruppe von Menschen hinter einer solchen Feststellung stehen. Ich muß sie doch festmachen können, ich muß es doch belegen können, ich muß es doch soziologisch nachweisen können beispielsweise. Ein weiterer von der Pragmatik her geprägter Vorwurf, hinterher kann man alles sehr schön erklären, aber wenn wir uns in die Situation 1990 hineinversetzen, eine klare Mehrheit der Bevölkerung, eine sehr klare Mehrheit und eine klare Mehrheit in der Volkskammer wollte die rasche, die schnelle Vereinigung. Berechtigterweise, berechtigterweise, weil wir sonst unabsehbare Folgen gewärtigt hätten. Jeder Monat, den es länger gedauert hätte, hätte Bevölkerungsbewegungen in Gang gesetzt, die kaum noch zu beherrschen gewesen wären, im Osten wie im Westen. Es hätte hier zu Defiziten geführt, die auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr hätten ausgeglichen werden können. Es war eine klare politische Entscheidung, die von allen gewollt war, die maßgeblich an den Prozessen beteiligt war, von einer klaren Mehrheit. Und da kann ich es im Nachhinein einfach nicht akzeptieren, wenn gesagt wird, wir sollten uns doch noch Zeit nehmen, überlegen, was könnte man da noch überprüfen, damit eine völlig neue Situation entsteht. Das war ganz klar diktiert von harten Zeitplänen und von harten ökonomischen, sozialen Folgewirkungen ... Wir hätten von vomherein klarmachen müssen, auch durch die Beibehaltung des Solidarzuschlages, daß das ein langwieriges und kostspieliges Unternehmen sein wird, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herzustellen. Gleichwertigkeit, ich beschränke mich auf diesen Begriff wie er auch im Grundgesetz drinsteht Damit wäre ich im Grunde genommen auch wieder beim regionalen Ansatz: Gleichwertigkeit herzustellen. Ich behaupte, sie ist teilweise schon da. Wenn ich einmal in die Regionen reinschaue, wenn ich nach Eisenach komme, wo ich groß geworden bin, und sehe, wie sich dort die Wirtschaft entwickelt hat, dann ist das eine dynamischere Teilregion als beispielsweise das angrenzende westliche Hessen. Und wenn ich nach Bremerhaven komme, habe ich die gleichen Schwierigkeiten wie gegenwärtig in Rostock. Und wenn ich in Dörfer des Bayerischen Waldes gehe, dann sind, wenn sie peripher liegen, die Probleme denen der Uckermark sehr ähnlich. Wir sollten einfach den Mut haben, ein Stückehen schärfer zu differenzieren, räumlich und zeitlich die Probleme auszuloten, klar zu analysieren, dann kommen wir auf realistischere Schlußfolgerungen, die von solchen pauschalen Urteilen weit entfernt sind. Und was wir brauchen ist ein realistischer Ansatz.
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Fromme:
Vielen Dank. Ich möchte nur eine kleine Bemerkung machen. Erstens ist das von mir Erwartete, ich habe es ja gleich eingangs gesagt, eingetreten, daß meine kostbares Gliederungskonzept sozusagen wertlos geworden ist. Aber es ist nur auf altem Papier mit der Hand geschrieben, also ist nicht viel Schaden entstanden. Zum zweiten, wir sind eigentlich schon mittendrin oder auf dem Wege zu einem denkbaren Abschluß, den man auf einem allein seligmachenden rettenden dritten Weg nicht erreichen kann. Herr Thierse, Sie haben gesagt, daß die Chance vertan, vergeben, nicht genutzt worden sei, aus dem Umbruch von 1989/90 etwas Neues und zwar beide Seiten, auch den Westen, erfassendes Neues zu machen. Sie haben aber auf der anderen Seite eingeräumt und aus ihren Ausführungen, Frau Birthler, betreffend den Spezialteil Schule habe ich das eigentlich auch entnommen und aus dem was Herr Gomolka gesagt hat ebenfalls, daß eben doch 1989/90 auf einer wie breiten Informationsbasis auch immer, mit wieviel Illusionen meinetwegen auch immer doch der Wille in der DDRBevölkerung ziemlich ungeteilt war, ich sehe einmal von den unerbittlichen SED-Leuten ab, die ich nicht gleichsetzen möchte mit denen, die aus welchen Gründen auch immer POS wählen. Mitglieder sind ja im wesentlichen doch die alten SED-Leute von früher. Aber es war doch der Wille zur "westlich" geprägten Einheit da, die Veränderung im westlichen Sinne wurde als positiv und erwünscht gesehen, und natürlich kann man dann nachher, wie immer nach dem Eintreten jeder Neuerung sagen, das ist ja auch verständlich, so haben wir es uns eigentlich im ganzen nicht gedacht, und ich stimme Ihnen, Herr Thierse, durchaus zu, was die gnadenlosen Übertragungen des westlichen Rechtssystems angeht. Ich habe, solange ich noch im Dienst war, das Vergnügen gehabt, das Sächsische Gesetz- und Verordnungsblatt zu bekommen. Und die Nummern wurden immer dicker und da war eben tatsächlich gnadenlos in jeder Ausgabe des Gesetzblattes irgendeine Regelung aus dem bemutternden Lande BadenWürtemberg drin, die im wesentlichen so übernommen worden war, wie es in Baden-Würtemberg stand. Das hat natürlich einen Schub von Neuern für die Ostdeutschen gegeben. Die Leute waren nicht gefaßt auf eine Komplizierung der Lebensverhältnisse, an die man sich im Westen 45 Jahre zu gewöhnen Zeit hatte, die aber im Osten oder in der Mitte, wie immer Sie wollen, nun innerhalb einiger Monate oder auch Jahre zu bewältigen war. Ich sehe da einen gewissen Widerspruch. Wie hätten Sie, Herr Thierse, sich die Verbindung, das Nutzen der Chance zu Neuern in West und Ost, vorgestellt? Wobei, daraufhat Herr Gomolka hingewiesen, man neben dem damals vorhandenen Willen der Bevölkerung auch sehen muß, daß in einer so heiklen, schwierigen Übergangsphase wenigsten ein Pol fest bleiben muß. Wenn die Bundesrepublik sich ebenso aufgelöst hätte wie die DDR, dann hätten wir vor einem chaotischen Mischmasch gestanden. Herr Thierse.
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Podiumsdiskussion
Thierse:
Ja, man kann ohne Zweifel jedes kritische Argument dadurch erledigen, daß man es verzerrt oder ins Bodenlose steigert. Herr Gomolka, so einfach können Sie es sich nicht machen. Ich habe doch keine Kritik an der Einheit überhaupt formuliert, auch mich nicht darüber geäußert ... Gomolka:
Einwurf: "exekutieren" Thierse:
Nein, Moment einmal. Sie haben an dem Punkt gar nicht widersprechen können. Also ich dachte, das muß man nicht im Nachhinein bekennen. Aber wenn man einen Prozeß insgesamt bejaht, muß man sich doch trotzdem nicht apologetisch zu ihm verhalten, sondern kann sagen: in ihm gibt es Widersprüche, aus denen bestimmte Schwierigkeiten von heute resultieren. Und daß die Mehrheit der Ostdeutschen die Einheit wollte und die Mehrheit der Bundestagsparteien auch und daß wir uns gelegentlich gestritten haben in welchem Tempo, unter welchen konkreten Konstruktionen, das ist doch wohl in Erinnerung, also darüber müssen wir uns nicht streiten. Da haben Sie mich falsch verstanden. Zweite Bemerkung: Weil Sie sagen, das sei zu undifferenziert bezogen auf die DDR-Bevölkerung. Es gibt ja inzwischen eine Menge Meinungsumfragen. "Der Ossi, das unbekannte Wesen" ist zu einem bevorzugten Objekt soziologischer und sonstiger Untersuchungen geworden. Und darin gibt es ein paar erstaunliche Stabilitäten. Natürlich weiß ich, jetzt zum siebten Jahrestag der deutschen Einheit ist das ja wieder festgestellt worden, daß eine Mehrheit der Ostdeutschen sagt: Uns geht es besser. Das sagen die übrigens schon seit sechs Jahren, es ist immer die ungefähr gleiche Größe. Aber eine ebenso große Mehrheit sagt mehr oder minder deutlich: Uns geht es sozial schlechter. Teilweise dieselben sagen: Uns geht es materiell besser, uns geht es sozial schlechter. Zweite Bemerkung: Frau Noelle-Neumann ... Gomolka:
Wie lösen Sie diese Diskrepanz auf? Thierse:
Ich komme gleich darauf. Das ist ja relativ leicht erklärbar, hat ja mit dem Verhältnis zur DDR zu tun und hat mit den Dingen zu tun, die ich beschrieben habe. Ja, daß sie schon sehr bewußt sehen, materiell geht es uns besser, aber nicht, was unser Selbstwertgefühl ausmacht. Unser Geflihl, gleichberechtigt zu sein, wird ja nicht nur durch materielle Faktoren bestimmt, sondern auch durch die Verhältnisse, über die wir hier reden, die ich beschrieben habe als ein Verhältnis von Dominanz und Unterlegenheit. Ich habe ausdrücklich gesagt, das
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war unausweichlich in einem grundsätzlichen Sinne, aber im konkreten Sinne nicht von gleicher Unausweichlichkeit. Also Frau Noelle-Neumann hat sich neulich beklagt, sich auf Umfrageergebnisse beziehend, daß eine Mehrheit der Ostdeutschen soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit wichtiger fände als Freiheit. Und sie hat das ganz schlimm gefunden, und gesagt, wenn das wieder Schule macht, dann müssen wir noch einmal durch das ganze Jammertal. Dagegen sage ich, man muß doch verstehen, daß die Ostdeutschen da an eine elementare Tatsache erinnern. Nämlich, daß der rechte Gebrauch der Freiheit und die Wertschätzung der Freiheit von ökonomischen und sozialen Voraussetzungen abhängig ist, für die die Freiheit nicht schon selber sorgt, sondern für die die Politik freiheitliche, vernünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik immer wieder neu sorgen muß. Wir sind uns sicher ganz schnell einig, die Erfolgsgeschichte der Demokratie im Westen Deutschlands hat eben auch mit dem gleichzeitigen Wirtschaftswunder zu tun, mit der Erfahrung, daß dieses neue System, das die Alliierten gebracht haben, tatsächlich filr die Wohlfahrt, die Wohlstandsentwicklung und für positive Nutzung von Freiheit sorgt. Und an diese Erfahrung erinnert die Gefühlslage der Ostdeutschen auch wieder. Diese eigentümliche widersprüchliche Gefühlslage. Genau daran muß man erinnern, wenn Sie sagen "differenzieren". Dann ist zu bemerken, daß die Umfragen besagen, daß die Wertschätzung der Demokratie abgenommen hat. Das kann man doch nur erklären aus enttäuschten Erwartungen. Die Erwartungen waren zu hoch, die Versprechungen waren zu hoch. Die eigenen Erwartungen, die Versprechungen der anderen, die eigenen Erwartungen sind ja nicht sozusagen binnengezüchtet, sie sind auch von außen beeinflußt worden. Auch das gehört dazu. Ich will noch eine Bemerkung machen, weil ich an der Stelle sehr anderer Auffassung bin als Herr Gomolka. Wir lügen uns in die Tasche, wenn wir sagen, wir könnten in Deutschland schon so reden "Nordost, Südwest, Südost, Südwest". Nein! Es gibt noch sehr drastische Ost-West Unterschiede. Und es gibt ja auch Kriterien, an denen man sie messen kann. Kriterien filr die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse - Marianne Birthler hat vorhin ein paar genannt- Pro-Kopf Einkommen, Produktivität, Wert der Investitionen, Industriebesatz, öffentliche Infrastruktur, Erwerbsquote auf dem ersten Arbeitsmarkt. Eine Menge sehr nüchterner Daten, und da stellt man fest, wie riesig die Unterschiede sind. Ich habe gestern folgende Daten im Bundestag vorgetragen, es hat mir keiner widersprochen, auch Herr Rexrodt nicht. Ostdeutschland hat über 1/3 der Fläche, 1/5 der Bevölkerung, 1/6 der Selbständigen, knapp 1110 des Sozialprodukts in Deutschland, 1/10 der deutschen Exporte nach Mittel- und Osteuropa, nur 1/10 des Bestandes an den Beteiligungen der Beteiligungsgesellschaften, nur 1/14 des in Ostdeutschland vorhandenen Produktivvermögens, nur 1/20 der Industrieproduktion, nur 1/25 der Forschungs- und Entwicklungsausgaben, nur 1150 des Exports, aber über 113 der Pleiten und 1/3 der Arbeitslosen. Wenn ich
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Podiumsdiskussion
diese Zahlen nehme, ist es notwendig, immer noch über die Unterschiede von West und Ost zu reden. Ich sage das nicht triumphalistisch oder hämisch, sondern um die Aufgabe zu beschreiben. Und die Aufgabe verdeckt man, wenn man sagt, das sind so Unterschiede wie zwischen Schleswig-Holstein und Bayern. Wenn wir die hätten, bin ich sofort daflir, zu sagen, der Prozeß der Vereinigung, der ökonomischen, sozialen, kulturellen Vereinigung sei erfolgreich gewesen, aber wir sind noch nicht soweit. Und das darf man dann auch nicht zudecken. Wir müssen noch ganz hart arbeiten. Wir müssen es uns immer wieder in Erinnerung rufen, weil nur so eine Mehrheit in Deutschland immer wieder zu gewinnen sein wird, filr die auch finanziell schmerzliche Solidarität mit Ostdeutschland. Die unsäglichen Debatten über den Soli-Zuschlag sind dafilr symptomatisch. Natürlich weiß ich, jede Steuer und jede Abgabe ist lästig, ausgesprochen lästig, ich bin da auch nicht verliebt darin. Aber alle Gründe, den SoliZuschlag einzufilhren, sind immer noch da. Das bestreitet keiner, auch die FDP nicht, um derentwillen das alles passiert. Herr Rexrodt hat in einer Regierungserklärung zugestanden, daß die Lage noch sehr schwierig sei, aber der SoliZuschlag müsse weg. Es gibt keinen Grund dafiir, aber man bestätigt eine bestimmte Stimmung an Stammtischen, die man menschlich nachvollziehen kann, weil das lästig ist, wenn der Staat einem in die Tasche greift. Das tut immer weh. Und weil das wehtut, muß man Leuten immer wieder neu klarmachen, daß es noch eine riesige Aufgabe ist bis zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, also mit der Verwirklichung dieses Grundgesetzauftrages. Wir sind bestenfalls mittendrin. Aber immerhin wir sind mittendrin, aufhalbem Wege. Fromme:
Ich weiß nicht, ob man diese westdeutsche Geschichte hier an dieser Stelle nicht herauslassen sollte. Thierse:
Das ist ein aktueller Punkt, an dem man zeigen kann, wie bestimmte Sachen schieflaufen aus Gründen, die mit der Sache selber nichts zu tun haben. Die Überlegungen einer kleinen Partei, die sich sonst überflüssig macht, wenn sie dieses Thema nicht mehr hat. Fromme:
Die Geschichte mit den Stammtischen. Gibt es den Stammtisch-Ost nicht auch, der sagt "Die wollenjetzt den Solidaritätszuschlag senken.", von abschaffen ist im übrigen nicht die Rede. Und das bedeutet, wir kriegen weniger Hilfe in Zukunft, was überhaupt nicht miteinander in Verbindung steht. Die Haushaltsansätze werden unabhängig von einer Soli-Senkung beschlossen.
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Thierse:
Entschuldigen Sie, die Erfahrungen der letzten Jahre sind darin eindeutig, in seiner Finanznot hat Finanzminister Waigel immer beim Aufbau Ost gespart. Das kann man nachweisen, wo ein Großteil der Einsparleistungen in den letzten zwei Jahren erbracht worden ist. Und jedesmal wird mühselig sozusagen in einer Gemeinschaftsaktion der ostdeutschen Länder, der Opposition, Teilen der CDU dann daran gearbeitet, einen Kompromiß finden. Letztes Beispiel ist der Streit um die GA-Mittel, die gekürzt werden sollen, und es ist in einer gemeinschaftlichen Aktion gelungen, die Kürzungen zu reduzieren. Aber eine Kürzung war es trotzdem. Also da haben wir doch Erfahrungen damit. Ich höre zwar die Versprechung, es wird nichts gekürzt- warten Sie mal im November die nächste Steuerschätzung ab, was dann los ist. Fromme:
Darf ich erst einmal die Meldung von Herrn Professor Mampel und von Herrn Staatssekretär Ermisch aufrufen, und dann wäre noch die Frage, ob Herr Professor Renzsch zu der eben angeschnittenen Finanzfrage etwas sagen könnte, im Sinne einer Präzisierung. Mampel:
Ich möchte einige Anmerkungen zu dem machen, was Herr Thierse zu der unterschiedlichen Mentalität von Ost- und Westdeutschen gesagt hat. Man braucht kein Anhänger von Kar! Marx zu sein, um davon auszugehen, daß die soziale Lage das Bewußtsein bestimmt, wenn natürlich auch nicht ausschließlich. So wirken sich die von Herrn Thierse dargestellten, noch bestehenden großen Unterschiede in den Lebensverhältnissen von Ost gegenüber West auf das Denken und Fühlen und damit auch auf das Handeln der Menschen aus. Ferner will ich die Aufmerksamkeit auf etwas richten, was meiner Ansicht nach ebenfalls zu Unterschieden in der Mentalität fuhrt. Es ist der Mangel an Wahrnehmung. Gemeint ist damit das Fehlen von Kenntnissen über das jeweils andere Deutschland. Dieser Mangel bestand insbesondere während der Zeit der Spaltung, aber er besteht weiter fort. Die Ursachen liegen auf einem weiten Feld. Ideologische Indoktrination auf der einen, Gleichgültigkeit, auch Überheblichkeit auf der anderen Seite sind zu nennen. Vor allem aber waren Mauer und Stacheldraht gewaltige Hindernisse fiir die gegenseitige Wahrnehmung. Allerdings lagen in der alten Bundesrepublik genügend Analysen vor, die ein realistisches Bild von den politischen und auch wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in der ehemaligen DDR gaben. Sie nahmen aber nur wenige zur Kenntnis, weil sie dem zu Schönflirberei neigenden Zeitgeist widersprachen. So mußte nach der Wiedervereinigung oft gleichsam das Rad zum zweitenmal erfunden werden.
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Podiumsdiskussion
Der Mangel an Wahrnehmung besteht indessen auch zwischen den Generationen. Wer von den Bürgerrechtlern in der ehemaligen DDR Ende der achtziger Jahre weiß, daß dieses Gebilde gegen den Widerstand eines großen, wenn nicht des größten Teils der Bevölkerung dort geschaffen wurde, und daß viele dort Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft schon bei ihrem Entstehen und ihrer Festlegung geleistet hatten? Und wer von den Jüngeren in Westdeutschland war sich bewußt, was den Älteren ein geeintes Vaterland bedeutete? An den Ausführungen von Frau Birthler haben mir die Äußerungen über das noch mangelnde "Wir-Gefiihl" der Deutschen gefallen. Ich halten ihre Ansicht fiir richtig, daß die innere Einheit Deutschlands erst erreicht ist, wenn die Deutschen in Ost und West in gleicher Weise von ihm erfaßt sind. Damit ist nicht ein überhebliches Überlegenheitsgefühl gemeint, wie ich es in meiner Jugend noch erlebt habe, nach dem Motto "am deutschen Wesen soll die Welt genesen". Zu erstreben ist ein gemeinsames staatsbürgerliches Bewußtsein, ein "Wir", das ein solidarisches Handeln fördert. So habe ich Frau Birthler verstanden. In der alten Bundesrepublik wurde der Begriff "Verfassungspatriotismus" geprägt, um damit ein Festhalten an Gemeinsamkeiten in der Abkehr vom Nationalismus zu kennzeichnen. Mir scheint, daß man damit von einem Extrem ins andere gefallen war. Ich scheue mich nicht von einem Nationalgefühl zu sprechen, das fern von jedem Nationalismus ist, der die eigene Nation für wertvqller hält als andere. Es ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl gemeint, das auch Unterschiede, etwa wegen der Iandsmannschaftlichen Herkunft, verträgt, so etwa zwischen Sachsen und Rheinländern. Es wurzelt im Heimatgeflihl und drückt sich in der Eigenständigkeit der Länder aus, auf der unser föderalistisches System beruht. Auch die volle Herstellung der realen Einheit Deutschlands kann, darf und soll daran nichts ändern. Ebenso muß es natürlich auch im real geeinten, demokratischen Deutschland unterschiedliche parteipolitische Auffassungen geben. Es wird indessen oft vergessen, daß beim parlamentarischen Rollenspiel von Regierung und Opposition zum politischen Handeln einerseits und Kontrolle andererseits sowie im Gegeneinander von Machterhaltung und Machtstreben etwas gehört, was mir in der letzten Zeit verloren gegangen zu sein scheint, nämlich die Suche nach einem aus staatspolitischen Gründen zuweilen erforderlichen Konsens, der insbesondere dann nötig ist, wenn in einem Zweikammersystem die beiden Vertretungskörperschaften andere Mehrheiten aufweisen. Anders kann ein Stillstand der Politik nicht vermieden werden. Auch das hat etwas mit Einheit zu tun, obwohl dafilr nicht die Spaltung des Landes ursächlich ist.
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Damit sind wir wieder beim Generalthema dieser Tagung angelangt, bei der Rolle des Bundesrates. Es kann nicht seine Aufgabe sein, die Rolle der Opposition zu übernehmen und damit die Regierung am Handeln zu hindern, wenn in ihm eine andere Mehrheit besteht als im Bundestag. Auch an das sollte erinnert werden, wenn die Rolle des Bundesrates bei der Herstellung der Einheit Deutschlands untersucht wird. Der Geist, der ihn bei der Überwindung der Spaltungsfolgen trug, sollte auch in dieser Beziehung walten. Bücking:
Zwei Sachen. Das erste ist zur inneren Einheitsfrage. Was ist das? Es ist interessant, daß die Sozialwissenschaftler darüber auch schreiben. Thierse:
Da bin ich ja beruhigt, daß die Sozialwissenschaftler darüber auch schreiben. Birthler:
Sonst würden wir uns ja jetzt dumm vorkommen. Bücking:
Was ich dazu sagen wollte ist, daß die sich ja weitere Überlegungen gemacht haben und im übrigen nicht nur differenzieren nach Ost-West, sondern nach Ländern und dergleichen mehr. Der vernünftigste Ansatz, der dabei herausgekommen ist, scheint mir, daß man sagen kann, in dem Moment, in dem im Bewußtsein das Maß an Unterschiedlichem bei der gesamtdeutschen Befragung erreicht ist, das wir sonst zwischen Nord und Süd und den Altbundesländern untereinander vorfinden würden, würde es sich nicht mehr lohnen, Ost und West gegeneinander zu stellen. Man muß schon über diese Toleranzschwelle springen. Nur signifikant zeigt sich noch im Bewußtsein, und das ist wahrscheinlich auch eine Widerspiegelung der ökonomischen Bedingungen, noch ein deutlicher Unterschied. Und solange rechtfertigt es sich, auch zwischen diesen beiden Teilen Deutschlands zu unterteilen. Das ist einfach ein empirischer Befund. Zu Herrn Thierse wollte ich vielleicht noch sagen, also Ihre Kritik mit der mangelnden Selbstkritik ... daß man die Verhältnisse im Westen vielleicht auch hätte mal durchdenken sollen, und vielleicht an der einen oder anderen Stelle umstrukturieren sollen. Damit laufen Sie offene Türen ein, bei mir jedenfalls. Nur, Herr Thierse, da muß ich auch noch an das erinnern, was Frau Birthler ja auch schon gesagt hat. Mein Eindruck war, daß im Osten teilweise wie mit einem trockenen Schwamm alles versucht wurde aufzusaugen, was im Westen war. Und wenn ich in dem Bild bleibe, auch das Schmutzwasser. Da hätte man vielleicht auch aus östlicher Sicht ein bißeben mehr ...
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Podiumsdiskussion
Einwurf: Sehr theoretisch. Bücking:
Ja, gut einverstanden. Birthler:
Es geht ja nicht um Schuldzuweisungen. Bücking:
Also gut. Der Vortrag von Herrn Thierse war nur ein bißeben einseitig. Und zum andern, zum letzten, was Sie jetzt angesprochen haben, dem Soli. Da weiß ich jetzt nicht. Also, daß die Aufgaben weiter bestehen, daß das Geld benötigt wird, da will ich Ihnen Recht geben. Aber wenn man den Soli abschafft, dann würde ich mal sagen, das ist eigentlich der Schritt in Ihre Richtung. Möglich, daß man im Westen mal darüber nachdenkt, daß man viel zu viel Geld unnötig rauspulvert Dann streichen wir doch und gucken wir, wo wir noch weiter streichen können im Westen. Und das muß aber nicht bedeuten, daß die Mittel im Osten gespart werden müssen. Das wäre so in meinen Augen ein Anstoß zur Selbstkritik mal darüber nachzudenken ... Thierse:
Es muß nicht, aber es wird. Wollen wir wetten. Ich gehe ganz hohe Wetten ein. Ermisch:
Die Frage stellt sich, wann die Einheit erreicht ist. Ich versuche dies plakativ zu erläutern, sofern dies überhaupt möglich sein wird. Die äußere Einheit ist erreicht. Was innere Einheit ist, ist umstritten. Die Definition hat politische Dimension. Jedermann, der in der Politik etwas auf sich hält, reibt sich daran, aber keiner weiß so recht, was innere Einheit bedeutet. Ist es ein nachvollziehbarer Fakt oder ist es mehr eine Art von Gefühlen oder Empfindungen, die nur bedingt objektivierbar sind? Wir haben unser Staatsverständnis im Föderalismus verankert. Dies bedeutet auch regionale Identität. Wir sprachen darüber. Bei der Defmition der inneren Einheit sollten wir zunächst von der regionalen Identität ausgehen und uns darauf konzentrieren. Wir stellen dann fest, daß der Sachse Sachse sein will und der Bayer ein Bayer. Von einer überregionalen Identität ist dabei kaum die Rede. Sicher wolle wir alle Deutsche sein. Die Identität als Deutscher folgt aus der Identität zur jeweiligen Region Deutschlands. Entsprechend verläuft die Stufenfolge auch im Bekenntnis zu einer europäischen Identität. Als erster Schritt zur inneren Einheit Deutschlands ist somit die innere Einheit der Region gefordert. Diese Solidarität ist aber auch gegenüber allen anderen deutschen und europäischen Regionen einzufordern.
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Inhalt der Solidarität ist, daß alle Regionen die Chance eröffnet bekommen müssen, auf gleichwertige Lebensverhältnisse hinzuarbeiten. Dies bedeutet, daß die Stärkeren den Schwächeren Hilfe zur Selbsthilfe beisteuern müssen. Dies geschieht u. a. durch die Transferleistungen. Damit ist aber nicht automatisch verbunden, daß sich Gleichwertigkiel der Lebensverhältnisse in allen Regionen einstellt. Nur die Chance dazu wird vennittelt. Mehr kann die Solidarität nicht leisten. Demfolgend wird es in Deutschland und auch in Europa immer unterschiedliche Lebensverhältnisse geben, obwohl untereinander solidarisch verfahren wird. Nur wenn Solidarität verweigert wird, kann m. E. von einer Störung der inneren Einheit gesprochen werden. Dies ist aber nicht der Fall. So betrachtet, meine ich, haben wir im Kern in Deutschland die innere Einheit gut voran gebracht! Veranlaßt durch Frau Birthler möchte ich noch einige Anmerkungen zur Frage der Übernahme des rechtlichen "acquis communautaire" durch die ehemalige DDR machen. Es war davon gesprochen und in Zweifel gezogen worden, ob es richtig war, die westdeutschen Gesetze von heut auf morgen übernommen zu haben. Die Frage stellt sich, welche Alternative gab es. Ein wissenschaftlich fundiertes Management des Umbruchs oder gar der Revolution gibt es nicht. Es wäre ein Widerspruch in sich. Der Umbruch lebt von der Spontaneität und dem unmittelbaren Handeln. Für wissenschaftliche oder sogenannte politische Übergangskonzepte ist hier kein Raum. Auch der europäische Integrationsprozeß vollzieht sich- wenn auch abgefedert- in gleicher Weise. Die MOE-Länder, die vor der Tür der EU stehen, müssen ca. 80.000 Seiten an Gesetzestexten übernehmen, um den acquis communautaire mit der EU zu erreichen. Dies wird wohl in besonderen Ausschüssen der jeweiligen Beitrittsparlamente vorerörtert, aber dann paketweise in den Parlamenten verabschiedet. Eine andere Lösung gibt es nicht. Deshalb muß in einem Umbruch zunächst einmal alles übernommen werden, um die Verwaltungen in Gang zu bringen und menschliches Zusammenleben zu ennöglichen. Dem muß aber stets ein zweiter Schritt folgen, nämlich das spontan Übernommene auf Zweckmäßigkeit zu überdenken. Dieser Aufgabe müssen wir uns jetzt widmen und die übernommenen gesetzlichen Regelungen auf Vereinfachung überprüfen und auch ändern. Die politische Frage ist, ob wir die Kraft zu einem solchen zweiten Schritt haben. Frau Birthler, ich will damit sagen, daß das, was Sie in der ehemaligen DDR erlebt haben, sich in leicht abgewandelter Fonn zur Zeit in großen Teilen von Europa gleichennaßen vollzieht. Einen Beitritt der MOE-Staaten nach einem Umbruchsmanagement wird es nicht geben, weil es ein solches Management nicht gibt und geben wird. Ich meine, daß der Beitritt der MOE-Länder zur EU durchaus als Umbruch betrachtet werden kann.
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Podiumsdiskussion
Dästner:
Aus meiner Erinnerung ist ein ganz entscheidender Zeitpunkt der 15. August 1990 gewesen, als Finanzminister Romberg und Landwirtschaftsminister Pollack aus der DDR-Regierung ausgeschlossen wurden, entlassen wurden, und dann anschließend kurz danach alle SPD-Minister aus der DDR-Regierung austraten. Das war unmittelbar vor der dritten Verhandlungsrunde über den Einigungsvertrag. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hat sich die DDR-Seite wirklich nur noch über Günther Krause und die von ihm geftlhrte Delegation artikuliert. Es war zwar schon in der Ostberliner Runde so, daß die in Bildung begriffenen Länder auch in der Delegation vertreten waren durch Vertreter der politischen Parteien, die in diesen Ländern die Länderbildung vorbereiteten. Aber ich kann mich auch noch ganz genau erinnern, ich habe es gestern ja auch geschildert, daß sie praktisch nicht redeberechtigt waren. Krause hat Harald Ringstorff einmal in einer Art und Weise zur Räson gerufen, die ihn eigentlich hätte veranlassen müssen, sich aus den Verhandlungen zurückzuziehen. Die Atmosphäre ist dann verschärft gewesen nach dem besagten 15. August 1990. Ich wollte eigentlich nur ein Detail dazu sagen. Nordrhein-Westfalen war ja das Land, das die Länder koordinieren sollte und gleichzeitig die Brücke zur SPD darstellte, und ich hatte gesagt, daß wir ursprünglich in der ersten Runde eine Themenliste gemacht hatten. Das waren 25 Punkte gewesen, die aus der Sicht NRWs als besonders diskussionswürdig angesehen wurden. Am 17. August dann vor der letzten Verhandlungsrunde - das war eine Liste, die auch die A-Länder, also nicht nur NRW hatten- war das zu einer Liste geworden, die in die Teile A, B und C zerfiel. Die Liste A umfaßte 22 Einzelpunkte zum Vertragstext selbst, die Liste B waren I 0 spezifische Anliegen zum Anhang, also zur Rechtsangleichung des einfachen Rechts. Dann gab es eine Liste C, die bestand aus 19 Punkten "Anliegen der DDR-SPD". D. h. die in der Delegation der DDR nach dem 15. August nicht mehr vertretenen Parteien konnten sich unmittelbar selbst überhaupt nicht mehr artikulieren, ihre Anliegen konnten allenfalls noch indirekt über die Länder, die alten Länder, miteingebracht werden. Aber natürlich geschah das teilweise nicht mehr mit der Intensität, als wenn sich die ostdeutschen Politiker selbst hätten äußern können. Und dieser Vorgang hatte naturlieh zu tun mit der Vorwahlkampfphase und dem Einfluß des parteipolitischen Systems, wie es in der Bundesrepublik-West herrschte. Und das hat sich dann fortgesetzt auch in der Verfassungsdiskussion. Es ist ja so gewesen, daß der Einigungsvertrag nur einen Auftrag zur Überprüfung der Verfassung enthielt, dies aber immerhin. In der Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat hat es dann aber eine wirklich ernsthafte Debatte nicht gegeben. Und insoweit bedarf es wohl einer Ergänzung zu dem, was Herr Ermisch heute morgen vorgetragen hatte. Das ist zwar hochinteressant zu lesen alles, was in der Gemeinsamen Verfassungskommission behandelt worden ist.
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Aber es sind ja letztlich fast marginale Punkte gewesen, zu denen eine ernsthafte Debatte geführt wurde, und immer dann, wenn es ans Eingemachte ging, dann griffen die Strukturen ein. Sie erinnern sich daran, daß einer der Vorsitzenden der Kommission, Rupert Scholz, zurückgetreten war, nachdem ihn Rüttgers, damaliger Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Bundestag, öffentlich zurückgerufen hatte. Es hat diese offene Verfassungsdiskussion ja nie gegeben. Ganz am Anfang war die Erwartung und auch eine gewissen Hoffnung der SPD und auch der SPD-geführten Länder im Westen gewesen, es werde auch aus dem Kreise, aus der Mentalität des Runden Tisches in der DDR, es werde ein Teil des Stoffes der materiellen Verfassungsdiskussion in den Einigungsprozeß mit eingebracht werden können. Aber das ist, und das ist traurig, das ist dann eben den westdeutschen Parteistrukturen untergeordnet worden. Und ich sage das nur insofern auch, um anzudenken: das war nicht ein Bundesratsproblem allein, sondern es war schon ein Parteienproblem. Da spielte der Bundesrat eher eine Brückenrolle, als daß er das zugespitzt hätte. Fromme:
Vielen Dank, Herr Dästner. Ich gebe das Wort an Herrn Renzsch. Renzsch:
Wir haben bereits vor der Einheit Diskussionen über die Struktur des Föderalismus und insbesondere über den Abbau der Finanzierungen geführt. Ich erinnere mich an die Tagung "40 Jahre Bundesrat" in Tutzing, dort sind diese Fragen alle auf dem Tisch gewesen, dort haben sie Wissenschaft und Politik gemeinsam diskutiert. Das war 1989, als noch keiner daran dachte, daß die Deutsche Einheit bald käme. Unter der Herausforderung, die Einheit zu gestalten, bestand meines Erachtens keine Chance zu einer grundlegenden Bundesstaatsreform. In der Arbeitsgruppe "Finanzreform 1995" der Landesfinanzminister, der ich auf Arbeitsebene für das Land Brandenburg angehörte, hatten wir zwar den Anspruch, eine Finanzreform zu machen, aber wir waren dann sehr glücklich, als wir uns über ein Finanzierungskonzept für die neuen Länder überhaupt einigen konnten. Diese Einigung war nur möglich unter der Maßgabe der Beibehaltung des Status quo. Mir scheint, diese Erfahrung gilt auch filr andere Bereiche des Bundesstaates. Die Einheit war für sich genommen bereits eine enorme Herausforderung, eine zusätzliche Befrachtung mit den ungelösten Problemen des Deutschen Bundesstaates hätte die Problemlösungskapazität des politischen Systems überfordert. Deshalb blieb den politisch Verantwortlichen letztlich kaum etwas anderes übrig, als auf der Basis der bestehenden Regelungen Lösungen filr ein mittelfristigen Zeitraum zu vereinbaren. Mehr war in dieser Situtation kaum zu leisten. Oder anders formuliert: auf die Probleme der Einheit noch die seit Jahren ungelösten Probleme des Bundesrates draufzusatteln, konnte nicht gut gehen. Wenn man jedoch eine solche Meßlatte anlegt,
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Podiumsdiskussion
wenn man sich an einem Idealzustand orientiert, dann überschätzt man die realen Handlungsmöglichkeiten. Birthler:
Es passiert mir heute nicht zum ersten Mal und Wolfgang Thierse sicherlich auch nicht, daß Kritik an bestimmten Entwicklungen innerhalb des Einheitsprozesses damit abgewehrt wird, daß gesagt wird, die Ostdeutschen wollten das mehrheitlich so. Ich ftihle mich da jedesmal, vorsichtig gesagt, mißverstanden. Was das Tempo der Vereinigung betraf, gab es wirklich keine Alternative. In dieser Beziehung habe ich mich korrigiert. Ich gehörte ja zu denen, die sagten, langsam, langsam, langsam. Eine Verlangsamung des Prozesses wäre nur gegen den Widerstand ganz großer Mehrheiten in Ostdeutschland möglich und damit demokratisch nicht vertretbar gewesen. Aber hinsichtlich der Art und Weise der Vereinigung und einer großen Zahl von Einzelentscheidungen, gab es meiner Ansicht nach durchaus Alternativen, die allerdings politisch nicht gewollt waren. Das begann mit der Verfassungsfrage in der Volkskammer. Bekanntlich lehnte die Mehrheit ab, eine neue DDR-Verfassung in Kraft zu setzen oder auch nur zu diskutieren. Ich glaube noch heute, daß es wichtig gewesen wäre, wenn in der DDR- und sei es filr die letzten Monate ihrer Existenz - noch einmal eine eigene Verfassung in Kraft gesetzt worden wäre, damit die DDR-Bürger als politisches Subjekt in diese Einheit gehen. Aber das war politisch nicht gewollt. Wir haben jetzt keine Zeit, den Gründen daftir nachzugehen. Ähnlich war es in einer ganzen Reihe von Einzelentscheidungen im Zuge der deutschen Einheit. Die Menschen in Ostdeutschland waren daran interessiert, daß es schnell geht, daß die Währungsunion schnell kommt. Darüber hinaus, also in bezug auf eine Reihe politischer Einzelentscheidungen, gab es keinen eindeutig festgelegten Willen. Was in wenigen Fragen mit Übergangslösungen erreicht wurde, mit Blick auf Schwangerschaftskonflikte usw., das hätte man durchaus auch in vielen anderen Bereichen machen können, um nach Vollzug der Einheit dann nach ausreichender öffentlicher Debatte zu schauen, wie diese unterschiedlichen Wege denn anzugleichen sind. Diese Möglichkeit eines behutsameren Wegs in die deutsche Einheit bestand durchaus, war aber von der Bundesregierung politisch nicht gewollt. Zweiter Punkt: Neben den sehr aussagefähigen Zahlen, die Wolfgang Thierse genannt hat, steht ein nicht weniger wichtiges Thema, die mentale Seite der Ost-West-Beziehung. Mich erinnert dieses westdeutsche Staunen dartlber, wie unzufrieden die Ossis sind, an die wohlvertraute MachoHaltung mancher Männer. Liebling, Du hast doch alles, warum bist Du immer noch unzufrieden? Die Parallele drängt sich auf, weil der Westen gegenüber dem Osten in bester Macho-Weise eine ganz bestimmte Dimension nicht im Blick hat, die etwas mit Würde, mit Emanzipation, mit Selbstbestimmung zu tun hat.
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Ich werde häufig im Zusammenhang Ost-West-Beziehungs-Kiste an Empfindungen und an Wahrnehmungen erinnert, die ich ansonsten nur aus der Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage kenne. Um ein Beispiel zu nennen: Ich war fast zwei Jahre zusammen mit Ludger Vollmer, meinem männlichen west-grünen Kollegen, an der Parteispitze. Da habe ich sehr interessante Erfahrungen gemacht, die die Wahrnehmung der bundesdeutschen Öffentlichkeit betreffen. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie, Herr Gomolka, oder auch Wolfgang Thierse vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Ludger Vollmer und ich sitzen also in einer Journalistenrunde, und selbstverständlich kann Ludger Vollmer über Rostock erzählen, über Leipzig, ohne daß sich jemand wundert, schließlich ist er ja der Bundessprecher. Wenn ich mich dagegen in der gleichen Weise über Schleswig-Holstein oder über Saarbrücken äußere, dann gucken mich die Journalisten an, als würde ich einer fremden Wohnung die Schränke verschieben: Was versteht die denn vom Westen? Will sagen, Problemlösungskompetenz wird dem Westdeutschen flir das ganze Bundesgebiet zugestanden, die Ostdeutschen dagegen werden gefragt, wenn es um reine Ostthemen geht: um die POS, um die Stasi, um die Arbeitslosigkeit im Osten usw. Es ist unglaublich schwer, dem etwas entgegen zu setzen, inbesondere in der nach wie vor westdeutsch geprägten Bonner Szene. Als ich begonnen habe, mich für diese Phänomen zu interessieren, habe ich mich auch bei anderen Parteien umgeschaut. Dort werden vergleichbare Erfahrungen gemacht. Es gibt sehr wenig ostdeutsche Politiker, denen öffentlich auch eine bundesweite Problemlösungskompetenz zugestanden wird. Sie sollen sich gefälligst um den Osten kümmern. Dritter Punkt: Im Unterschied zu Wolfgang Thierse halte ich eine ganze Menge von einigen Ergebnissen der Umfragen von Frau Noelle-Neumann. Eine davon wies ganz deutlich nach, daß der Begriff Freiheit in Ostdeutschland wesentlich schwächer bewertet wird als im Westen. Die Ursachen dafiir sind vielfältig, manche offensichtlich z. B. sind die Berufsgruppen derer, die öffentliche Meinung machen, also die Berufsgruppen der Multiplikatoren, in den Schulen, in den Unis, in den Redaktionen, völlig andere als im Westen. Sie wurden im Westen stark geprägt von den gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Jahr 1968 zu tun hatten, während das Personal in Schulen, Unis und Redaktionen im Osten zu den besonders angepaßten Berufsgruppen gehörte. Das hat natürlich eine lange Nachwirkung. In gewisser Weise befinden wir uns in einer Situation, die dem Jahre 1952 vergleichbar ist, sieben Jahre nachdem alles anders wurde. Auf diesen Gedanken hat mich auch Frau Noelle-Neumann gebracht. Ich habe mir kürzlich die Umfrageergebnisse aus den Jahren 52/53 schicken lassen. Ohne einer Gleichsetzung der beiden deutschen Diktaturen das Wort reden zu wollen, lassen sich dennoch bestimmte Vergleiche mit Blick auf die Frage ziehen, wie in der Bevölkerung eine Diktatur verarbeitet wird. Es ist
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Podiumsdiskussion
schon sehr interessant, wie die Langzeituntersuchungen nachweisen, daß Strukturen sich sehr schnell verändern können, die Veränderung in den Haltungen, in den Werten usw. dagegen ein sehr langfristiger Prozeß sind. Wenn ich unsere heutige Situation mit dem vergleiche, was aus diesen Untersuchungen 52/53 hervorgeht, liegen wir ganz gut in der Zeit. Gomolka:
Da kann ich mich nur anschließen. Der nächste Punkt daraus ist der, daß Grundhaltungen eigentlich sehr stabil sind, sich sehr, sehr lange erhalten. Ich darf die dann natürlich auch nicht verwechseln, wie es häufig getan wird, indem ich sie zum Kriterium der inneren Einheit stilisiere. Hier ist eigentlich der Punkt, den wir leider zu früh verlassen haben. Ich hätte gerne mit Ihnen auch diskutiert, was ist denn eigentlich das Ziel der inneren Einheit, damit wir uns wenigstens darüber klar werden. Und wenn ich eine Zielvorgabe habe, dann kann ich mich analytisch nähern und kann sagen, also etwa dort sind wir, und das bleibt noch zu tun. Das ist das Defizit in sehr, sehr vielen Diskussionen, daß man sich zunächst einmal über die Zielfunktion nicht hinreichend klar wird. Das hätten wir tun sollen. Herr Thierse, ich akzeptiere voll die Latte der Vergleiche, ich könnte sie noch ergänzen. Das ist unstrittig, das sind Teile einer Analyse, aber jetzt kommt der Folgeschritt. Wie verändere ich das, mit welcher Geschwindigkeit, welche Motive muß ich dafür haben, welche Impulse kann ich als Politiker geben? Da gibt es für mich ganz klar ein Grundmuster, eine solche Analyse läuft immer Gefahr, daß sie demotivierend und entmutigend wirkt. Ich muß dagegensetzen, und das kann ich nur, indem ich auf die bisherigen Leistungen verweise. Die sind grandios. Was in sieben Jahren bereits passiert ist! Darauf darf man hinweisen. Daran darf man erinnern, damit es auch mit der Geschwindigkeit noch möglichst etwas schneller geht. Ich halte es für geradezu abwegig, wenn die materiellen Erfolge oder Mißerfolge, Lücken oder das, was erreicht wurde, herangezogen werden (auf geraden oder auf verschlungenen Wegen), um ein Urteil abzugeben über die innere Einheit. Man könnte es reduzieren, und das wäre dann Zielvorgabe: die Akzeptanz des Grundgesetzes. Wenn das Grundgesetz akzeptiert wird, dann ist das eine solide Basis für eine innere Einheit. Warum keine eigene Verfassung? Das ist eine Schlacht, die geschlagen ist, da sind mehrheitliche Entscheidungen gefallen. Man kann das bedauern, das tun Sie sicherlich berechtigterweise, weil sie ja sehr involviert waren, aber das wars. Was ich genauso bedauere, weil es wirklich der inneren Einheit abträglich ist, ist die eingetretene Entfremdung; gerade unter Jugendlichen hat sich das sehr sehr festgefahren. Ich erinnere mich, als frisch gekürter Bundesratspräsident, da kam gerade die Sheli-Studie heraus, über das Verhalten Jugendlicher, dieses hohe Maß an Ignoranz, das in den alten Bundesländern gegenüber dem
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Osten herrschte. Für mich ist es bedrückend, daß ich hier noch keinen grundsätzlichen Wandel sehe. Daß man sich nicht wahrnimmt, daß man sich nicht besucht. Wenn ich mal vergleiche, über 90 % der Jugendlichen aus den neuen Bundesländern waren in den alten Bundesländern und umgekehrt ist es ein Bruchteil. Es gibt sehr vielfältige Ursachen, sehr, sehr vielfältige. Aber ich spreche eine jetzt an, die normalerweise immer schamhaft verschwiegen wird oder gar verpönt ist. Ich nenne sie: Defizite an patriotischen Gefühlen. Das Wort Patriotismus, das ist irgendwie bei uns geächtet, das wird im Ausland überhaupt nicht verstanden. Wenn ich mir so eine Situation in Frankreich oder in Polen vorstelle, was da an Gefühlen, an Emotionen freigesetzt worden wäre, ohne daß sich das gegen irgendjemanden richtet - ein inneres Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir sollten den Mut haben, auch den Finger auf dieses Defizit zu legen, was sonst immer schamhaft verschwiegen wird, weil sofort irgendwie so ein Rechtsdrall untergeschoben wird. Ich halte das für völlig abwegig. Thierse:
Herr Gomolka, ich stimme Ihnen zu, man muß auch über Erfolge reden. Ich habe ja da diesen Vergleich zitiert, in meiner Rede vorgestern habe ich natürlich mit den Erfolgen angefangen. Ich habe erst über Erfolge gesprochen, aber zu einer Bilanz gehört auch, sehr genau zu beschreiben, wo die Probleme sind. Die muß man dann auch nennen. Zweite Bemerkung: Sie erwähnen die SheiiStudie. Da gibt es ein beunruhigendes Datum zur inneren Einheit. Die jungen Leute Ost wie West halten gemeinsam die Arbeitslosigkeit für ihr dramatischstes Problem. Das ist auch eine eigentümliche Form, eine beunruhigende Form des Zusammenwachsens. Eine dritte Bemerkung: Also es ist doch richtig, ich habe das schon gesagt, was ich die Dominanz nenne, ist unausweichlich gewesen. Es gibt Gründe dafilr, z. B. der Tempodruck, daß man nicht alles gleichzeitig zur Disposition stellt. Trotzdem muß man das als Problem beschreiben, weil daraus Folgen entstanden sind. Ich gehe aber einen Schritt weiter. Sie haben selber die Verfassung erwähnt, und Herr Dästner hat das noch einmal geschildert, und ich war ja in dieser Verfassungskomission. Dort gab es keinen Tempodruck. Die wenigen Änderungen mußten mühselig erkämpft werden. Die Regierungsparteien in Bonn wollten eigentlich überhaupt keine. Dann wurde sie doch eingerichtet und ich habe daran teilgenommen. Und im politischen Leben gibt es sehr viele Unerquicklichkeiten, aber die Verfassungskommission ist bisher meine größte politische Enttäuschung. Es war so, daß jeder Versuch, aus ostdeutschen Erfahrungen zu artikulieren, gewissermaßen einen Anspruch auf Veränderung oder einen neuen Vorschlag, ja abgeblockt worden ist. Und zwar, fUge ich sofort hinzu, nicht nur von Westdeutschen. Mich hat das besonders beschäftigt, wie können wir stärkere Momente von Bürgerbeteiligung in dieses Grundgesetz einbringen, ohne die Parteiendemokratie, die repräsentative Demokratie aufheben zu wollen. Selbstverständlich nicht! Aus dieser positiven 9*
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Podiumsdiskussion
Erfahrung, die vielleicht das Kostbarste ist, was die Ostdeutschen in diese Einheit mitgebracht haben, nämlich ihr Aufbruch, der von der Straße kam. Dem ist heftig widersprochen worden, das ginge alles nicht. Da habe ich auch Herrn Heitmann schätzen gelernt, der gesagt hat, das wollen die Ostdeutschen nicht. Sie wollten vielmehr das Grundgesetz, schon '90, so wie es jetzt ist. Diese Behauptung war eine der großen Enttäuschungen. Und die zweite Enttäuschung hat mit dem engeren Thema zu tun. Ich bin in dieser Verfassungskomission beinahe Zentralist geworden, weil die Länder natürlich damit befaßt waren - ich verstehe das ganz gut im Zusammenhang mit der europäischen Einigung-, ihre Rechte abzusichern. Da sind Artikel entstanden, die sind gigantisch. Ich sage es sehr emotional, daß ich dabei richtig zentralistische Gefühle bekommen habe. Obwohl ich das politisch gut verstanden habe. Ich will nur beschreiben, warum die Verfassungskomission, die nicht unter Zeitdruck stand, wo dieses Argument nicht mehr zählt, keine wirkliche Reform des Grundgesetzes erreicht hat, weil die vorhandene Mehrheit dies nicht wollte. Dabei hat sie eben en passant Ansprüche, die aus ostdeutschen Erfahrungen artikuliert wurden, auch abgewehrt. So wurde gewissermaßen eine zweite Chance zu Veränderungen wiederum abgeblockt. Fromme:
Vielen Dank, Herr Thierse. Ich halte mich möglichst kurz und knapp bei der Schlußbemerkung, eine wirkliche Zusammenfassung ist nicht möglich und enthielte gewisse Subjektivitäten, von denen ich auch nicht ganz frei bin und die dann zu neuen Widersprüchen führen würden. Herr Gomolka hat gesagt "Ziel der inneren Einheit", wobei ich mit diesem Begriff innere Einheit gewisse Schwierigkeiten habe. Wenn man vom Ziel spricht, ist es noch nicht erreicht. Der bisher zurückgelegte Weg wird recht unterschiedlich beurteilt, Herr Gomolka sieht es positiver als Herr Thierse, wobei Herr Thierse es auch nicht negativ sieht und ich glaube Frau Birthler insgesamt auch nicht, bei allen Wünschen, wie es hätte anders sein können. Ich kann da nur den sächsischen Finanzminister Milbradt zitieren: Wenn wir die nächste Vereinigung machen, machen wir das alles anders und besser. Aber historische Stunden gibt es nur einmal. Was die innere Einheit angeht, sehe ich sie, wie es verschiedentlich hier angedeutet wurde, auf dem Wege, nicht nur in der Erfilllung des unseligen alten Artikels 72 des Grundgesetzes von der Gleichheit der Lebensverhältnisse, daß also die Leberwurst in Flensburg ebenso viel in Wismar kostet, sondern darin, daß eben das Grundgesetz mit seinen wesentlichen Bestandteilen, in Ostdeutschland niemand, von alten POS-Kadern abgesehen, in Frage stellt - Parlamentarisches System, Parteienvielfalt, Opposition, Rechtsstaat, also der ganze Katalog, den das Verfassungsgericht in seinem SRP-Urteil von 1952 festgestellt hat, bis hin zur akzeptierten Föderalismuskonzeption, die, wie ich glaube, nicht so sonderlich beliebt ist. Zentralistische Gefühle gestehe ich im Jahre 1990 auch
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gelegentlich gehabt zu haben, obwohl es verboten ist. Deutschland ist ja nach dem Grundgesetz ein sozialer Bundesstaat, nichts also gegen den Föderalismus. Aber ich denke, alles dies müßte auch innerlich akzeptiert werden, und davon ist man glaube ich im Osten noch sehr weit entfernt. Auch daß der Interessenausgleich in pluralistischen Fonnen sich vollzieht und nicht nach einem Diktat der Mehrheit, die nach dem je subjektiv für richtig Gehaltenen handelt. Ich furchte, da ist eine gewisse ungute Gemeinsamkeit zwischen Ost und West da. Ich furchte nämlich, daß diese innere Akzeptanz der Prinzipien des Grundgesetzes und des pluralistischen Systems im Westen auch mehr aufgesetzt ist und daß es seine Bewährungsprobe erst dann zu bestehen hat, wenn die etwas flink beschriebene äußerlich kritische Lage anhält oder sich verschärft. Dann würde sich einiges ändern. Ich glaube, hier liegt wirklich ein gemeinsames Ziel von Ost und West, das weiterhin beharrlich angestrebt werden muß. Damit darf ich mich bei allen Teilnehmern hier bedanken. Wir hatten ein Gespräch in aller Offenheit. Nun darf ich Herrn Klein um sein Schlußwort bitten. Klein:
Meine Damen und Herren! Ich möchte nur einige Schlußbemerkungen machen, die angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht sehr ausgedehnt sein können. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse unseres Kolloquiums an dieser Stelle zu geben, wäre vermessen. Wir haben versucht, das Generalthema "Die Rolle des Bundesrates und der Länder im Prozeß der deutschen Einheit" unter sehr verschiedenen Aspekten zu beleuchten. Im Augenblick reizt es mich natürlich, einiges zu dem Thema zu sagen, das zuletzt debattiert worden ist. Offenbar weiß niemand so recht, was innere Einheit ist und was die Kriterien fur das Erreichen oder flir das Ziel dieser Einheit sind. Daß es ein Problem gibt, hat jedenfalls die kurze Zeit, die wir heute morgen zur Verfügung hatten, ergeben. Deshalb muß man darüber noch weiter und genauer nachdenken. Herr Thierse hat darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist, die neuen Länder nach wie vor insgesamt im Blick zu haben, weil es hier immer noch viele gemeinsame Probleme gibt. Auf der anderen Seite, glaube ich, ist auch viel Richtiges daran, was Herr Gomolka gesagt hat, daß man stärker differenzieren muß - innerhalb der neuen und innerhalb der alten Länder - und nicht immer die Entgegensetzung - alte und neue Länder - betonen soll. Seide Standpunkte sind meiner Ansicht nach je nach dem jeweiligen Zusammenhang berechtigt. Daß es sich z. 8. bei der Arbeitslosigkeit anbietet, getrennte Statistiken zu fuhren, leuchtet mir ein, obwohl es, wie ja richtig bemerkt wurde, auch in Bremen oder im Saarland strukturell benachteiligte Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit gibt. Aber wenn z. 8. Statistiken über die beliebtesten weiblichen und männlichen Vomamen geführt werden und dabei zwischen neuen und alten Ländern getrennt
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Podiumsdiskussion
wird, dann halte ich das einfach flir abwegig und sehe hierin eine absurde Tendenz zur Verewigung einer so gewiß nicht mehr vorhandenen Trennung. Ganz persönlich bin ich übrigens kein Freund der Begriffe "Wessi" und "Ossi", weil auch dies eine Spaltung, selbst wenn nur der Volksmund spricht, perpetuiert, die in dieser Form so gar nicht besteht. Aber darüber mag man natürlich lange streiten. Innere Einheit hat nach meiner Überzeugung gewiß auch etwas mit Solidarität zu tun. Hauptsächlich deshalb halte ich die Abschaffung oder die Reduzierung des Solidaritätszuschlags in diesem Augenblick flir ein völlig falsches Signal. Innere Einheit ist zwar heute keine Verfassungsfrage mehr, aber sie ist, wie jemand sagte, eine Zeitfrage. Ich glaube, dieser Erkenntnis müssen wir uns nach wie vor stellen. Kürzlich hatte ich ein Buch in der Hand mit dem Titel "Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung" 1• Ich meine, es ist auch dieser Rahmen, in den das Problem der innerdeutschen Integration, der inneren Einheit, gestellt werden sollte. Das konnte an diesem Vormittag natürlich näher nicht zur Sprache kommen, aber ich glaube, wenn man das uns heute beschäftigende Problem hin und wieder auch von außen sieht, aus der Perspektive dieses zusammenwachsenden Europa, dann gewinnt es seinen eigenen, möglicherweise geringeren Stellenwert. In meiner Einführung gestern morgen habe ich bereits auf einen Artikel von Thomas Rietzschel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hingewiesen: "Vom Mythos der inneren Einheit" 2 • Der Aufsatz ist insofern interessant, als dort der Gedanke expliziert wird, wir verlangten eigentlich zu viel. Wir könnten nicht eine innere Einheit verlangen, von der wir gar nicht wissen, was sie ist. Vielleicht ist sie auch schon viel stärker da, als wir meinen. Natürlich gibt es Gegensätze in vielem, aber im Grunde ist es eine ganz normale Sache, daß sich Gegensätze auftun, z. B. zwischen Gemeinden, die ihre je eigenen Interessen vertreten. Man sollte das wohl nicht überbewerten. Wenn z. B. die Stadt Karlsruhe, wir haben heute darüber gesprochen, den Standort des Bundesgerichtshofs verteidigt, dann ist das aus der Sicht von Karlsruhe durchaus verständlich. Nicht verständlich ist allerdings, wenn es eine generelle Front gibt zwischen neuen und alten Bundesländern bezüglich des Transfers oder Nichttransfers gesamtstaatlicher Einrichtungen. Also ich glaube, hier muß stärker differenziert werden. Auf alle Fälle hat dieses Gespräch flir mich gezeigt, daß wir uns mit dieser Problematik immer noch und nach wie vor intensiv auseinandersetzen müssen. 1 Martin Hecke! (Hrsg.), Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, Deutschlands Weg 50 Jahre nach dem Kriege. 2
FAZ v. 13. September 1997, Beilage Bilder und Zeiten.
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Ein Mythos ist die innere Einheit meines Erachtens nicht, aber solange wir darüber nachdenken müssen, ist sie noch nicht erreicht. Und dies fordert uns alle.
Verfasser und Podiumsteilnehmer Marianne Birth/er Staatsministerin a. D. in Brandenburg Dr. Christian Dästner stellvertretender Direktor des Bundesrates Dr. Günther Ermisch ehemaliger Staatssekretär im Justizministerium des Landes Sachsen Dr. Friedrich Kar/ Fromme ehemals verantwortlicher Redakteur Innenpolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Prof Dr. A/fred Gomolk.a Mitglied des Europäischen Parlaments, Ministerpräsident a. D. des Landes Mecklenburg-Vorpommern Prof Dr. Eckart Klein Staats- und Völkerrechtler und Direktor des Menschenrechtszentrums der Universität Potsdam Prof Dr. Wo/fgang Renzsch Politikwissenschaftler an der Universität Magdeburg, ehemalige Tätigkeit im Finanzministerium des Landes Brandenburg Prof Dr. Walter Rudo/f Staats- und Völkerrechtler an der Universität Mainz, ehemaliger Staatssekretär im Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz Wo/fgang Thierse Mitglied des Bundestages, stellvertretender Vorsitzender der SPD und der SPD-Fraktion im Bundestag Hubert Wieleer Regierungspräsident (Tübingen), ehemaliger Staatssekretär in Sachsen