128 83 33MB
German Pages [431] Year 2020
Der Preis der Deutschen Einheit Peter Brinkmann
Michail Gorbatschow und die NATO 1989/90
Peter Brinkmann
Der Preis der Deutschen Einheit Michail Gorbatschow und die NATO 1989/90
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Basis dieser Veröffentlichung ist die Dissertation mit dem Titel „NATO und die deutsche Einheit 1989–1990“. Sie wurde 2018 eingereicht bei der Humanistischen Fakultät, Institut für Geschichte, der Universität Zielona Góra.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Leszek Belzyt, Universität Zielona Gora (Polen) Korrektorat: Andreas Eschen, Berlin Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51895-0
Inhalt Zitate
.............................................
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Ziele der Untersuchung
12
................................
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
..................
19
...........................
28
...........................................
34
Einordnung der Fachliteratur Kapitel 1
Die Teilung Deutschlands und Europas – Ihre Ursachen und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pläne über Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“ . . . . . . . . . . Das Ende der Vier-Mächte-Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beginn der Entspannungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
34 38 39 43 58
...........................................
73
Die Überwindung der Teilung: Voraussetzungen – Alternativen 1989: US-Präsident in Polen und Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland . . Fall der Mauer am 9. November 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gorbatschows erste Rede nach dem Mauerfall: Nein zur Einheit Kapitel 3
. . . . .
.. ... ... ... ..
73 75 79 88 94
...........................................
99
Diplomatie und die Deutsche Frage Kapitel 4
. . . . .
.......................
99
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Beiträge zur Einheit Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohls Zehn-Punkte-Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genschers Kritik an Kohls Zehn-Punkte-Rede . . . . . . . . Internationale Reaktionen auf Kohls Rede . . . . . . . . . . . Harsche Ablehnung in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uneinigkeit unter den Westmächten über deutsche Einheit Analyse in Moskau über die DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen in Washington zu Deutschland . . . . . . . . Gorbatschow zunehmend in der Zwickmühle . . . . . . . . . Kohls Hilfszusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
109 110 112 116 120 131 134 137 141 143
6
Kapitel 5
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Politikwechsel im Kreml . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Umdenken bei Gorbatschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kapitel 6
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Zum Verhältnis USA – Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kapitel 7
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Wiedervereinigung als beherrschendes Thema . . . . . . Mauerfall-PK am 9. November 1989 durch ZK-Mitglied Günter Schabowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedenken unter den westlichen Partnern . . . . . . . . . . Genschers Reden in Stuttgart und Tutzing . . . . . . . . . Die Baker-Genscher-NATO-Formel . . . . . . . . . . . . . . SPD-Spitze contra NATO-Pläne . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsichtiges Umdenken an der Moskwa . . . . . . . . . . . Vier Tage der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherung Bonn – Ost-Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . Gorbatschows Bitte um Lebensmittelhilfen . . . . . . . . . Kooperationsvertrag als Lockmittel vom Rhein . . . . . . Warten auf Gorbatschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 8
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
179 183 186 191 195 199 205 207 219 223 227
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Das Kunststück einer neuen NATO-Formel . . Bakers Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Bedingungen aus Moskau . . . . . . . . . . . Gegenkräfte in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . Sowjetisches Militär gegen NATO-Ausdehnung Kohl nach Washington, Baker nach Moskau . . Kapitel 9
. . . . . . . . . 171
. . . .
. . . . . ..
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
238 239 249 270 273 279
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Der Weg zum Durchbruch im Kaukasus und die Zeit danach Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990 . . . Beste Vorbereitungen für den Gipfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis NATO zum Warschauer Pakt . . . . . . . . . . . . . . . Parteitag in Moskau – Gorbatschow unter Druck . . . . . . . . Die „Londoner Erklärung“ der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . Einigung im Kaukasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 + 4-Gespräche weiter schwierig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empörung in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende gut – alles gut! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
291 297 307 308 314 319 322 336 338 348
7
Inhalt
Kapitel 10
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Die Einheit und die Ausdehnung NATO gen Osten . . . . . . . . . . . . 351 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . 355 Lehrstück der Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Solidarno´sc´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszüge der Rede von Michail Gorbatschow am 7. 12. 1988 vor der UNO, New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rede zu „Europa“ von US-Präsident George Bush am 24. Mai 1989 vor der „Coast Guard Academy“ in New London Zur Entwicklung der Europäischen Union – EU . . . . . . . . . . . . Zur Entwicklung im Comecon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundestagsrede von Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem 10-Punkte-Plan, Bonn, 28. November 1989 . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl, Bonn, Bundestag, 28. November 1989 . . . . . . . Horst Teltschik legte Kanzler Helmut Kohl am 30. November 1989 die Reaktionen aus aller Welt zu seiner Zehn-Punkte-Rede vor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sowjetische Position zum sicherheitspolitischen Status eines vereinten Deutschland, insbesondere zur NATOMitgliedschaft“, Horst Teltschik, 23. März 1990. . . . . . . . . . . Vorabbericht von Kanzlerberater Horst Teltschik zum 28. Parteitag der KPdSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990 . Wortlaut des RBTH-Interviews vom 16. Oktober 2014 mit Michail Gorbatschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen
. 371 . . 372 . . 372 . . 373 . . 379
. . 381
. . 383 . . 385 . . 388 . . 399
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
Kurzbiografien ausgewählter handelnder Politiker Dank
. . 370
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Abkürzungsverzeichnis Bibliografie
. . 367
. . . . . . . . . . . . 424
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Zitate „Die deutsche Frage ist nur unter einem europäischen Dach zu lösen.“ Konrad Adenauer, Bundeskanzler, 11952 „Die Wiedervereinigung ist Sache der Deutschen und nur der Deutschen. Sie kann nicht schematisch vollzogen werden. Bei der Wiedervereinigung müssen die sozialen Errungenschaften der Werktätigen der DDR erhalten bleiben.“ Nikita Chruschtschow, sowjetischer Staatschef, 2 1955 3 „Die Deutschen haben ein Recht darauf, über ihr eigenes nationales Schicksal zu entscheiden.“ Michail Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU, 4 1989 5 „Europa muss vereint und frei sein.“
George H.W. Bush, US-Präsident, 1989 6
„Unsere Kollegen im Westen haben uns wiederholt angelogen, haben Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es bei der Ost-Erweiterung der NATO und dem Ausbau militärischer Einrichtungen an unseren Grenzen.“ Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin 7 vor der Duma, 2014
1 Bundeskanzler von 1949–1963. Bulletin der Bundesregierung 47/1952 vom 26. 4. 1952, S. 489. 2 Vorsitzender der KPdSU von 1953–1964. 3 Angebot der sowjetischen Regierung für gesamtdeutsche Wahlen vom 26. Juni 1955 in einer „Erklärung zur deutschen Frage“ vom 15. Januar 1955; Bundesarchiv N 1351/38 a, Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Die Bemühungen der Bundesrepublik um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durch gesamtdeutsche Wahlen. Dokumente und Akten. II. Teil: November 1953 bis Dezember 1955, Bonn 1958, S. 185–188, hier S. 188. 4 Gorbatschow war Generalsekretär der KPdSU von 1985–1991. Gorbatschow trat 1952 mit 21 Jahren in die KPdSU ein, studierte Rechtswissenschaften und Agrarwirtschaft und wurde 1970 1. Sekretär für Landwirtschaft in der KPdSU. 1971 Mitglied im ZK der KPdSU. 1978 ZK-Sekretär für Landwirtschaft. Seit 1980 Vollmitglied im Politbüro, 11. März 1985 Generalsekretär der KPdSU, bis 25. 12. 1991 Präsident der Sowjetunion. 1990 Friedensnobelpreis. 5 Gorbatschow, Michail: Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung, Berlin 1999, S. 84. 6 Rede von US-Präsident George Bush in Mainz, 31. Mai 1989. Internet: http://www. chronik-der-mauer.de/material/178891/rede-von-us-praesident-george-bush-inmainz-31-mai-1989 (letzter Zugriff: 12. 7. 2019). 7 Internet: www.bpb.de/apuz/59638/von-der-sowjetunion-in-die-unabhaengigkeit? p=all (letzter Zugriff: 28. 4. 2020). Wortlaut auf Russisch: Напротив, нас раз за разом обманывали, принимали решения за нашей спиной, ставили перед свершившимся фактом. Так было и с расширением НАТО на восток, с размещением военной инфраструктуры у наших границ. Die Rede hielt Putin am 18. März 2014. Im Internet: http://kremlin.ru/events/presi dent/news/20603
Einleitung
In dieser Arbeit geht es vorrangig um die Überwindung der als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs erfolgten Teilung Deutschlands, ihre Voraussetzungen und Folgen. Da die beiden Staaten in Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, in dem entsprechenden Zeitraum, den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, sich gegnerisch bis feindlich gegenüberstehenden Militärblöcken – NATO und Warschauer Vertrag – angehörten, ist es erforderlich, die Konsequenzen der deutschen Wiedervereinigung für diese Bündnisse zu beleuchten. In den Mittelpunkt gestellt wird dabei das Handeln der entscheidenden Staaten beider Bündnisse – der USA und der Sowjetunion – sowie der Objekte der Vereinigung, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) sowie – in geringerem Maß – der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die beiden anderen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, nämlich Großbritannien und Frankreich, gehören zwar der NATO an, standen der Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages – einschließlich der DDR –, deren Politik bis in die zweite Hälfte der Achtzigerjahre von der Sowjetunion vorgegeben wurde. Wenn also in dieser Arbeit „Die NATO und die deutsche Einheit“ im Fokus stehen, dann kann und muss dies vor allem durch die Darstellung der Politik der USA und der Sowjetunion geschehen. Die anfangs eher ablehnende Haltung gegenüber einer Vereinigung der deutschen Staaten durch Großbritannien und Frankreich änderte sich im Laufe der Verhandlungen. Hauptakteure blieben aber die Sowjetunion und die USA. 8
8 Die anderen Bündnispartner der Bundesrepublik Deutschland aus EG und NATO waren in ihren Stellungnahmen nach dem Mauerfall 1989 eher zurückhaltend. Vgl. ausführlich die Dokumentation des Europäischen Parlamentes Registratur im Dokumentationszentrum des EU – Parlaments Cardoc Nr. 5 vom November 2009 unter dem Titel: „Das Europäische Parlament und die deutsche Einheit“. So hat sich erst der EU-Gipfel vom 8. und 9. Dezember 1989 in Straßburg mit der Option „Deutsche Einheit“ beschäftigt. Schon damals zeigten sich die Spannungen und divergierenden Ansichten zwischen Bonn (Kanzler Kohl) und Paris (Staatspräsident Mitterrand) über die Zukunft Deutschlands in einem erweiterten Europa. Die Europäische Kommission äußert sich erst am 17. Januar 1990 ausdrücklich zur deutschen Frage. Vgl. auch: Cuccia, Deborah: Italien und die deutsche Einigung 1989/1990; in Internet: www. berlinerkolleg.com/de/blog/italien-und-die-deutsche-einigung-1989/1990 (letzter Zugriff: 28. 4. 2020).
Ziele der Untersuchung Der deutschen Wiedervereinigung und ihren Konsequenzen für die beiden Militärblöcke NATO und Warschauer Vertrag kommt eine historische weltpolitische Bedeutung zu. Niemals in der Geschichte zuvor sind zwei Staaten mit konträren gesellschaftlichen Systemen friedlich vereinigt worden. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten „Bundesrepublik Deutschland“ und „Deutsche Demokratische Republik“ am 3. Oktober 1990 – richtiger: dem Beitritt der DDR zur BRD – endeten die 2 + 4-Verhandlungen der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über die zukünftige Gestaltung Deutschlands und dessen Einbindung in eines der bestehenden Bündnissysteme NATO bzw. Warschauer Pakt. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 war die Vereinigung der deutschen Länder, die seit den Konferenzen von Jalta und Potsdam 9 in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden waren, im Grundgesetz verankerte oberste Aufgabe und Ziel für Bundestag und Bundesregierung. 10 Die Bezeichnung „Grundgesetz“ für die bundesrepublikanische Verfassung sollte signalisieren, dass sich dieser Teilstaat lediglich als ein Provisorium verstand. Bonn wurde daher stets Bundeshauptstadt und nicht deutsche Hauptstadt genannt. In der DDR war die Wiedervereinigung seit Staatsgründung am 7. Oktober 1949 ebenfalls und für viele Jahre vorrangiges politisches Ziel, zumindest verbal. 11 Selbst noch in der 1968 veränderten DDR-Verfassung wurde die „Vereinigung beider deutscher Staaten“ als langfristiges Ziel pro-
9 Jede der vier Mächte (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich) sollte jeweils politische Handlungsfreiheit in ihrer Zone bzw. ihrem Sektor erhalten. So griffen die Westmächte beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und beim Mauerbau am 13. August 1961 nicht ein, da Moskau strikt darauf achtete, dass das Geschehen auf „seinen“ Sektor beschränkt bliebe. In Verbindung mit dem Prinzip der Einstimmigkeit der Entscheidungen im Alliierten Kontrollrat bedeutete diese Formulierung, dass die einzelnen Besatzungsmächte in ihren jeweiligen Zonen in der Lage waren, eine völlig eigenständige Politik zu betreiben, ohne dass der Kontrollrat sie daran hindern konnte. 10 Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung 20. Oktober 1953. Pulte, Peter: Aktuelle Dokumente. Regierungserklärungen 1949–1973. Walter de Gruyter, 1973. Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949. Vgl. Deutscher Bundestag, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, www.bundestag.de/gg. 11 Ostermann, Christian F.: The United States and German Unification. In: Gehler, Michael und Graf, Maximilian (Hg.): Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 93–117.
Ziele der Untersuchung
13
pagiert. 12 Erst mit der 1974 revidierten Verfassung wurde das politische Ziel der „Vereinigung beider deutschen Staaten“ aufgegeben. 13 Doch mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 in Berlin setzte der tatsächliche Prozess zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein, ohne dass die Verantwortlichen in Ost wie West darauf vorbereitet gewesen wären. Im Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“ der DDR-Volkskammer mit Oppositionellen vom April 1990 war in Artikel 44 Abs. 2 die Mitgliedschaft in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem vorgesehen. 14 Dazu sollte es aber nicht kommen. Die Umsetzung der Verfassungs-Diskussionen in die politische Realität blieb aus. Das Grundgesetz der BRD, man hielt an diesem Begriff fest, galt ab dem 3. Oktober 1990 auch für das Territorium der aufgelösten DDR. Es war die größte Herausforderung der Diplomatie, 1989/1990 divergierende Interessen zu identifizieren und miteinander in Einklang zu bringen, um das Ziel „Deutsche Einheit“ unter Einbindung in ein für alle Seiten akzeptables Bündnissystem zu erreichen. Dabei galt es, bisher starre Positionen in Fragen der „Bündniszugehörigkeit“ – entweder zur NATO oder zum Warschauer Vertrag / Pakt – unter Einbeziehung der KSZE zu lösen. Gleichzeitig wurde der bereits 1967 entstandene „Harmel-Bericht 15 der NATO diskutiert, der von ihr als höchstes politisches Ziel eine gerechte 12 Die Verfassung von 1968 strebte mit Artikel 8 Abs. 2 die „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten“ an. Der Versuch, eine gesamtdeutsche Verfassung zu etablieren, wurde durch die Festschreibung der Zweistaatlichkeit somit fallengelassen. Sie postulierte aber im folgenden Satz weiter das Ziel einer „Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung“. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 9. April 1968; in Internet: www.verfassungen.de/ddr/verf68-i.htm (letzter Zugriff: 11. 5. 2020). 13 Artikel 6 Abs. 2 wurde insoweit abgeändert, als nun die Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion deutlich hervorgehoben wurde: „(2) Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens. Die Deutsche Demokratische Republik ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Sie trägt getreu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus zu ihrer Stärkung bei, pflegt und entwickelt die Freundschaft, die allseitige Zusammenarbeit und den gegenseitigen Beistand mit allen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft“. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 9. April 1968; in Internet: www.verfassungen.de/ddr/verf68-i.htm (letzter Zugriff: 11. 5. 2020). 14 Entwurf „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“, Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches, Berlin April 1990; in Internet: www.docu mentarchiv.de/ddr.html (letzter Zugriff: 11. 5. 2020). 15 Harmel-Bericht; in Internet: www . 1000dokumente . de / index . html?c=glossar _ de&ge=Harmel-Bericht&sg=1&l=de (letzter Zugriff: 28. 4. 2020)
14
Ziele der Untersuchung
und dauerhafte Friedensordnung für ganz Europa“ forderte. 16 Der vom belgischen Außenminister Pierre Harmel für die NATO erstellte „Bericht über die zukünftigen Aufgaben der Allianz“ war die Grundlage für die bis 1991 gültige NATO-Doppelstrategie. Er beinhaltete zwei Komponenten: Verteidigung (Aufrechterhaltung ausreichender militärischer Stärke) und Entspannung. Als oberstes Ziel der NATO-Sicherheitspolitik wurde die Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens in Europa, begleitet von angemessenen Sicherheitsgarantien, gesehen. 17 Die „DeutschlandFrage“ wurde im Harmel-Bericht als „Kern der Spannungen in Europa“ bezeichnet. Daher musste die Bundesregierung zunächst im Rahmen ihrer seit 1969 verfolgten Entspannungspolitik Verträge mit östlichen Partnern und den Siegermächten schließen. 18 Mit dem „Brief zur deutschen Einheit“ 19 im Zusammenhang mit dem „Moskauer Vertrag“ wurde bereits im August 1970 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die „Bundesregierung darauf hinwirke, dass das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit erlange“. Damit war der Weg frei für die KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975, die auch die USA und Kanada unterzeichneten. Erstmals verständigten sich West und Ost auf gemeinsame Werte ihrer Politik. Ganz wichtig dabei waren die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung eines jeden europäischen Volkes, die Achtung der Menschenrechte und das Recht auf freie Bündniswahl. Vor allem aber einigten sich die europäischen Staaten, die USA und Kanada mit der Sowjetunion auf die Formel, dass die Grenzen in Europa „friedlich“ verändert werden könnten. Dies sollte 1990 große Bedeutung erlangen. Denn nur durch diesen Passus war es überhaupt möglich, die Grenze der DDR zur BRD, die nach Bonner Auffassung keine völkerrechtlich gültige war, „friedlich“ durch Vereinbarung aufzuheben. 20 Auf der Grundlage dieser Verträge, Zu-
16 Rede von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher bei der Festveranstaltung anlässlich 25 Jahre Schlussakte von Helsinki am 19. Juli 2000 in Wien ; in Internet: www.genscher.de/html/rede_9.pdf (letzter Zugriff: 28. 4. 2020). 17 Harmel-Bericht, in Internet: www . 1000dokumente . de / index . html?c=glossar _ de&ge=Harmel-Bericht&sg=1&l=de (letzter Zugriff: 28. 4. 2020) 18 Dies geschah mit der Sowjetunion, Polen, der CSSR und der DDR. 19 Der „Brief zur deutschen Einheit“ wurde am 12. August 1970 in Moskau übergeben; in Internet: www.1000dokumente.de/index.html?c=glossar_de&ge=HarmelBericht&sg=1&l=de sowie www.chronik-der-mauer.de/material/180318/brief-zurdeutschen-einheit-12-august–1970 (letzter Zugriff: 16. 6. 2020). 20 Genscher nannte dies in seiner Rede vom 19. Juli 2000 den „Ausgangspunkt für einen dynamischen Prozess, der in die Überwindung der Spaltung des Kontinents mündete“. Vgl. Rede bei der Festveranstaltung anlässlich 25 Jahre KSZE Schlussakte von Helsinki am 19. Juli 2000 in Wien; http://www.genscher.de/html/rede_9.pdf.
Ziele der Untersuchung
15
sicherungen und Absprachen musste die Diplomatie die Aufgaben lösen, die durch den Mauerfall in Europa plötzlich entstanden waren. 21 Ziel dieser Arbeit ist es daher, erstmals und vertieft – darzulegen, wie der Prozess der Vereinigung seitens der Diplomatie in den beteiligten Staaten verlief und welche Pro- und Contra-Positionen zu verbinden bzw. aufzulösen waren, – zu prüfen, ob und ggf. wie die Frage der NATO-Ausdehnung ostwärts und die der KSZE-Einbindung damit verbunden war, – zu klären, ob es 1989/1990 von westlicher Seite oder durch die NATO gegenüber der Sowjetunion Versprechen, Zusagen, Garantien oder Ähnliches gab, die NATO quasi als „Gegenleistung“ zur Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung generell NICHT gen Osten auszudehnen, 22 – zu eruieren, ob von westlicher Seite gegen den „Geist der Gespräche“ 23 verstoßen wurde, – die Äußerungen westlicher Politiker im Laufe der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands auf ihre Rechtswirksamkeit zu prüfen. Es ist zu klären, ob die Äußerungen der westlichen Seite in diesem Zusammenhang nur unverbindliche Gedanken darstellten, über die noch verhandelt werden musste, oder ob sich die sowjetische Verhandlungsseite darauf verlassen konnte, dass das Gesagte verbindlichen Charakter hatte. Haben eventuell falsche Übersetzungen zu falschen Schlüssen geführt? Oder wurde das Ja des Kremls zur deutschen Wiedervereinigung und vor allem zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands durch materielle Hilfsleistungen an die Sowjetunion „erleichtert“ oder gar „erkauft“? 24
21 Umfassend Spohr, Kristina: Precluded or Precedent Setting? The ‚NATO Enlargement Question‘ in the Triangular Bonn – Washington – Moscow Diplomacy of 1990–1991; in: Journal of Cold War Studies 14, no. 4 (Herbst 2012), S. 33–35. 22 Vgl. „Abmachung 1990: Keine Osterweiterung der NATO“; in Internet: http://www. youtube.com/watch?v=JXcWVTpQF3k (zuletzt gesehen 3. 6. 2020), ARD-Weltspiegel, 2. Oktober 2014; Hans-Dietrich Genscher am 2. Februar 1990 in Moskau gegenüber Michail Gorbatschow. Stimme Russlands, 2. Oktober 2014. 23 Stent, Angela: Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Russland im neuen Europa, Berlin 2000, S. 378. Kritiker der NATO-Osterweiterung berufen sich auf Artikel 5 des „Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. Danach dürfen ausländische Streitkräfte und Atomwaffen nicht im östlichen Teil Deutschlands stationiert werden. 24 Vgl. Stent, S. 178, 208, 213, 230, 247–249; Thatcher, Margaret: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 1096: „Es sollte sich herausstellen, dass die Sowjets bereit waren, den Deutschen die Wiedervereinigung zum Preis einer bescheidenen Finanzspritze für ihre marode Wirtschaft zu verkaufen.“
16
Ziele der Untersuchung
Bereits dieser Fragenkatalog lässt eine Reihe von Schlüssen zu: 1. 2. 3. 4.
5.
Erste Reaktionen nach dem Mauerfall waren Gedanken an „konföderative Strukturen“ (Kohl, Genscher, Modrow). Die NATO spielte zunächst keine Rolle. Die USA erkannten sehr schnell, dass es ein vereintes Deutschland ohne die NATO nicht geben könnte und nicht geben würde. Die Sowjetunion realisierte frühzeitig, dass der Staat DDR nicht zu halten sein würde und die Einheit Deutschlands in den Bereich des Denkbaren rückte. Die Bedeutung der NATO erkannte Moskau allerdings erst (zu) spät. Die Aussicht auf beträchtliche Hilfe in Form von Geld und Sachleistungen als Preis für die Einheit und die Verwirklichung einer neuen Sicherheitsstruktur für ganz Europa bestimmte im Laufe der Verhandlungen immer stärker Gorbatschows Verhalten. Der Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands nahm ab.
Der Fall der Mauer war eine logische Konsequenz der Perestroika 25, die Michail Gorbatschow ab 1985 betrieb. Sie beruhte auf zwei Annahmen und Grundvoraussetzungen: 1.
2.
Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft von den Partei-gelenkten Indoktrinationen zur freien Gesellschaft nach westlichem Muster. 26 Die Kernsätze von Gorbatschow lauteten: „Es gibt keine Rückkehr zum administrativen Kommandosystem. Das wäre ein Unglück, eine Sackgasse“. 27 Und: „Das stalinistische Modell des Sozialismus wird durch eine Gesellschaft von freien Bürgern abgelöst“. 28 Annäherung an den Westen, um zu lernen, zu profitieren und mit dessen materieller Hilfe auch umzugestalten. 29
25 Russisch: Umbau. Erstmals von Michail Gorbatschow am 8. April 1986 in einer Rede in Togliatti verwendet. 26 Vgl. Gorbatschow, Michail: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 507 ff. 27 Ebda. S. 525. 28 Ebda. S. 525. 29 Vgl. ebda. S. 527.
Ziele der Untersuchung
17
Diese Politik zwang auch die USA und den übrigen Westen, die seit US-Präsident Truman 30 eingeführte „Eindämmungspolitik“ 31 gegenüber der Sowjetunion zu überdenken und zu korrigieren. Diese „Korrektur“ begann unter US-Präsident Reagan und setzte sich mit seinem Nachfolger Bush ab Januar 1989 konsequent fort. 32 Mit dem Fall der Mauer und damit der Grenzen zwischen den bis dahin „verfeindeten“ Blöcken NATO und „Warschauer Vertrag / Pakt“ war es ebenso logisch, dass es zu einer schneller als geplanten Annäherung der bisher in den Blöcken verhafteten Staaten kommen musste. Denn nun verloren die Blöcke ihre Bedeutung und Existenzberechtigung und damit auch der Moskauer „Satellitenstaat“ DDR. 33 Im Ergebnis kam es zur Vereinigung von BRD und DDR, wenngleich es sich völkerrechtlich gesehen um einen „Beitritt“ der inzwischen auf dem Gebiet der DDR gebildeten Länder handelte. Diese Arbeit will nicht nur die Entwicklung deutsch-deutscher Beziehungen im internationalen Kontext, sondern auch die Geschichte beider Staaten und deren Einbettung in (West- wie Ost-) Europa nachzeichnen. Geklärt werden soll, was nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 zwischen den 2 + 4-Staaten besprochen, verhandelt, abgeschlossen und / oder verschwiegen wurde. Aus dem Blickwinkel des Gesamtthemas dieser Abhandlung werden folgende Hauptthesen formuliert. Weitere Thesen zu Detailfragen finden sich zu den jeweiligen Einzelthemen.
30 Truman Doctrine; in Internet: https://en.wikisource.org/wiki/Truman_Doctrine (letzter Zugriff: 28. 4. 2020). Am 12. März 1947 verkündete der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman vor dem US-Kongress die sogenannte Truman-Doktrin. Nach dieser Doktrin sollte es zum außenpolitischen Grundsatz der USA werden, „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“. Die Truman-Doktrin bedeutete das Ende der amerikanischen Kriegskoalition mit der Sowjetunion und markiert den Beginn des Kalten Krieges. 31 Die Truman-Doktrin erhob einen universellen Anspruch. Sie stand damit am Anfang einer amerikanischen „Eindämmungspolitik“ (containment policy) gegenüber der UdSSR. Der Begriff der „Eindämmung“ wurde 1946 vom US-Diplomaten George F. Kennan geprägt. Er empfahl Truman, die Sowjetunion mit allen Mitteln „einzudämmen“, bis sie am Ende zusammenbricht. Zusammen mit Exportbeschränkungen für westliche Waren, insbesondere Hightech und Elektronik, führte die „Eindämmungspolitik“ zu einer starken Isolation der Sowjetunion vom Weltmarkt und der modernen Wirtschaft. Vgl. A Short History of the Department of State, George Kennan and Containment; in Internet: https://history.state.gov/departmenthistory/short-history/ kennan. 32 Vgl. Görtemaker, Manfred u. a: Das Ende des Ost-West-Konflikts? Berlin 1990 (Landeszentrale für politische Bildungsarbeit). 33 Vgl. Stent, S. 129 ff.
18
Ziele der Untersuchung
These 1: Die sogenannte Ostausdehnung der NATO basiert – entgegen der Darstellung russischer Politiker – nicht auf einem Vertrauens- und Vertragsbruch des Westens. These 2: Die grundlegenden Missverständnisse zwischen den Vertragsparteien haben den Ursprung darin, dass mündliche Verhandlungsergebnisse und protokollierte Absichtserklärungen nicht als „verbindliche Zusagen“ oder gar als „Verträge“ unterschrieben wurden. These 3: Angesichts der bis dahin nicht gekannten Komplexität und Interdependenz von politischen, juristischen, regionalen und wirtschaftlichen Aspekten waren einige Verhandlungspartner überfordert. Erst im Nachhinein wurde von ihnen erkannt, dass die mündlichen Verhandlungsergebnisse in Teilbereichen nicht mit dem politischen Hauptziel übereinstimmten. These 4: Die Verhandlungsstrategien aller Vertragspartner waren nicht von interessengesteuertem Vorsatz geleitet und können daher nicht als Ursache für die gegenwärtige Konfrontation zwischen dem Osten und dem Westen bezeichnet werden. These 5: Alle formulierten Aussagen sind durch eine langjährige und akribische Dokumentation von teilweise unveröffentlichten Originalpapieren belegt.
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung Primäre und sekundäre Quellen werden in dieser Arbeit kritisch und vergleichend analysiert. Es wird aufgezeigt, wie die Diplomatie es vermochte, die anfänglich gegensätzlichen Positionen innerhalb der NATO-Staaten, insbesondere zwischen Frankreich und Großbritannien auf der einen und den USA und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite, in Einklang zu bringen und dann der Sowjetunion geschlossen gegenüber aufzutreten. Dabei zeigt sich, wie sehr sich die Positionen der drei Westmächte zu Beginn der Diskussionen um eine mögliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten unterschieden. Die USA waren bereits in ihren Überlegungen und Studien lange vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989 zu dem Ergebnis gekommen: Der Vorschlag von Gorbatschow, der seit 1985 als KPdSU-Generalsekretär ein „Gemeinsames Haus Europa“ als neue Sicherheitsstruktur für Europa vorgeschlagen hatte, ließ sich nur bei Wegfall von Mauer und Gegnerschaft umsetzen, also durch die Vereinigung der beiden „Kunststaaten“ Bundesrepublik und DDR sowie die Unabhängigkeit all der Staaten, die im Verbund des „Warschauer Paktes“ organisiert und unter Kontrolle Moskaus standen. 34 Deutlicher als es die Öffentlichkeit bisher wahrgenommen hat, wird klar, dass sich gegen die deutsche Vereinigung nicht nur die britische und die französische Regierung gewandt hatten, sondern auch Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti. 35 Insbesondere die britische Premierministerin Margaret Thatcher lehnte 1989 die Vereinigung der deutschen Staaten strikt ab. 36 „Wir sollten den Sowjets nicht das Sauerstoffzelt liefern, das wesentlichen Strukturen des alten Systems das Überleben sichert“, sagte sie. 37 Ihrer abwehrenden Politik gegenüber dem deutschen Wunsch
34 Vgl. Zelikow, Philip und Rice, Condoleezza: Sternstunde der Diplomatie: Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1999, S. 28 ff. und S. 145 ff. 35 Vgl. Aus Angst vor der Einheit, Spiegel, Nr. 51/1989 vom 18. 12. 1989, S. 17 ff., ohne Autorenangabe; vgl. auch Gehler, Michael und Graf, Maximilian (Hg.): Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 677–701. 36 Vgl. Thatcher, S. 1096 ff. 37 Thatcher, S. 1055. Gegenüber Außenminister Genscher hatte die britische Premierministerin bereits bei ihrem Treffen am 29. November 1989 gesagt, „Gorbatschow will nur den Sozialismus funktionsfähig machen“; zit. n. Hilger, Andreas: Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowje-
20
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
nach Wiedervereinigung 38 schloss sich anfangs auch Frankreichs Staatschef François Mitterrand an. 39 Mitterrand hatte bereits in einem Interview in „Le Monde“ vom 1. Juni 1989 erklärt: „Die Wiedervereinigung Deutschlands ist aus Gründen des europäischen Gleichgewichts, der französischen Sicherheit und des Friedens weder wünschenswert noch möglich, ja sie könne zu einem Einsatz um Krieg und Frieden werden“. 40 Der Historiker Ulrich Lappenküper kommt zu dem Ergebnis: „Hätte Gorbatschow sich der deutschen Einheit entgegengestellt, wäre Mitterrand kaum für die Freiheit in die Bresche gesprungen“. 41 Ziel dieser Arbeit ist es daher auch, das Verhalten einiger der sogenannten Schutzmächte bzw. NATOPartner gegenüber der Bundesrepublik nachzuzeichnen und zu belegen, dass sich Deutschland in dieser Phase der Geschichte politisch nur auf die USA verlassen konnte, weniger auf die übrigen NATO-Partner. Für die Vereinigung und für die eindeutige NATO-Mitgliedschaft Deutschlands traten also zunächst nur die USA unter Präsident George Bush und die Bundesrepublik Deutschland unter Kanzler Helmut Kohl ein. 42 Für Gorbatschow bedeutete das eine schwierige Gratwanderung. Er wollte die „Quadratur des Kreises“: Zum einen wollte er das „Gemeinsame Haus Europa“ bauen, das trennende Grenzen ausschloss. Zum anderen wollte er am Status quo mit der Teilung Deutschlands und Europas festhalten. Beides ging nicht, wie Präsident Bush und sein Außenminister James Baker ihm mehrfach deutlich machten. 43 Gegenüber der Sowjetunion galt es, Positionen aufzuweichen, dann zu verändern und schließlich konsensual zu lösen, ohne dass sich eine Seite bei Vertragsabschluss 1990
38
39
40 41 42
43
tischen Beziehungen 1989/90, München 2011, S. 49; Dok Nr. 10. Signatur PA AA ZA 178.931 E. Hans Dieter Heumann widerspricht in seiner Genscher-Biographie allerdings dieser These. Er ist der Ansicht, dass es Widerstand im Foreign Office gegen diese Haltung gegeben habe; vgl. Heumann, Hans-Dieter: Hans-Dietrich Genscher: Die Biographie, Paderborn 2012, S. 226. Vgl. ebda., S. 225; vgl. auch Lappenküper, Ulrich: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 278 f.; Bericht des Botschafters Hans Pfeffer in Paris an Genscher / Auswärtiges Amt über Frankreichs Stellung zur deutschen Frage vom 18. 12. 1989, in: Möller, Horst u. a.: Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Dok Nr. 33 vom 18. 12. 1989, Göttingen 2015, S. 178. Le Monde 1. 6. 1979; zit. n. Lappenküper, S. 134. Lappenküper, S. 301 f. Vgl. Zelikow / Rice, S. 158 ff.; Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 988; Bush, George und Scowcroft, Brent: A World Transformed. The Collapse of the Soviet Empire. The Unification of Germany. Tiananmen Square. The Gulf War, New York 1998, S. 195 ff. Baker, James: Drei Jahre, die die Welt veränderten: Erinnerungen, Berlin 1996, S. 182 ff.
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
21
übervorteilt und / oder „hereingelegt“ 44 fühlte. Dieses Gefühl, hereingelegt worden zu sein, setzte erst sehr viel später ab 1995, konkret ab 1999 45 ein. 46 Für die Zeit 1989/90 war es allein bedeutsam, politische Überzeugungen und Positionen, die seit 1945 (Potsdamer Konferenz) und 1949 (Gründung der NATO) als unverrückbar galten, von Grund auf infrage zu stellen und erforderlichenfalls zu revidieren. Die Bundesrepublik Deutschland war seit jeher – also bis zu einem Friedensvertrag mit den Siegermächten bzw. bis zur deutschen Wiedervereinigung – als „Provisorium“ gedacht. Tatsächlich aber gab es keine „Wiedervereinigung“, denn DDR und BRD waren „Nachkriegs-Republiken“, waren Geschöpfe der Siegermächte. Diese beiden Staaten wurden vereinigt – nicht mehr und nicht weniger. Der Begriff „Wiedervereinigung“ muss auch deshalb mit Vorsicht benutzt werden, weil die ehemals deutschen Ostgebiete, die nunmehr staatsrechtlich zu Polen und der Sowjetunion gehören, nicht mit den beiden Teilen Deutschlands BRD und DDR vereinigt wurden. Dennoch soll in dieser Arbeit der Begriff der „Wiedervereinigung“ beibehalten werden, weil er sich in dieser Form eingebürgert hat und geläufig ist. Angesichts der Tatsache, dass das Geschehen mit zunehmender zeitlicher Distanz von den Beteiligten unterschiedlich gesehen oder interpretiert wird, ist bei der Auswertung der primären Quellen besondere Sorgfalt erforderlich. Nahezu alle Dokumente, Protokolle von Sitzungen, Mitschriften bzw. Abschriften von Telefonaten, Diskussionen, Memoiren, Erinnerungen und Biographien, Tagebuchaufzeichnungen und persönliche Gespräche (west)-deutscher Politiker aus den Jahren 1985 bis 1990 wurden bis heute in Deutsch und Englisch veröffentlicht und sind Grundlage der Untersuchung. 47 Sowohl Helmut Kohl 48, Hans-Dietrich Genscher 49, Theo
44 Krim-Anschluss an Russland: Rede von Wladimir Putin am 18. März 2014 in der Duma. Internet: http://en.kremlin.ru/events/president/news/20603 (letzter Zugriff: 4. 6. 2020) 45 Das bestätigte Modrow im Gespräch mit dem Autor am 22. Februar 2017. Notiz vom Gespräch im Besitz des Autors. 46 Diese politische Position entwickelte sich in Russland 1999 mit Beginn der KosovoKrise. Als die NATO erstmals seit ihrem Bestehen in Europa militärisch eingriff, um den serbisch-kosovarischen Konflikt mit militärischen Mitteln zu lösen, begann die Kritik aus Moskau an der NATO. Danach und insbesondere nach Ausbruch der Krise um Georgien nach 2008 entwickelte Russland unter den Präsidenten Medwedew und Putin bis Dezember 2014 eine eigene Militärdoktrin, die die NATO wieder als „Gegner“ bezeichnet. 47 Küsters, Hanns Jürgen und Hoffmann, Daniel (Bearbeiter): Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 1998. 48 Kohl: Erinnerungen 1982–1990 und ders.: Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996. 49 Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995.
22
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
Waigel 50, Hans Klein 51 wie auch Horst Teltschik 52, Egon Krenz 53, Hans Modrow 54 und de Lothar de Maizière 55 haben „Erinnerungen“ veröffentlicht. Diese sind naturgemäß subjektiv. So klammert Kohl in seinen „Erinnerungen“ 56 die Vorarbeiten an dem diplomatischen Prozess der Einigung Deutschlands durch Außenminister Genscher weitgehend aus. Dabei zeigt sich, dass Genscher weniger auf das atlantische Bündnis mit den USA setzte, sondern vor allem auf eine Verständigung mit Moskau über einen Gesamtfrieden in Europa mit einer neuen Bündnisstruktur. 57 Allerdings erkannte der Außenminister frühzeitig die Dimension der NATO-Frage für den Gesamt-Friedensprozess in Europa. Für ihn galt die Kurzformel: Ja zu einem „europäischen Deutschland“, Nein zu einem deutschen Europa. In Kohls „Erinnerungen“ wird dies unzureichend dargestellt. Andererseits überbewertet Genscher seine Rolle in dem Einigungsprozess. Dies muss bei der Beurteilung der primären und sekundären Quellen beachtet werden. Kohl wie Genscher wollten dasselbe Ergebnis: die Einheit Deutschlands. 58 Doch bis zum Februar 1990 glaubte Genscher, er könne dies besser unter stärkerer Einbeziehung Moskaus 59 als durch die USA und die NATO erreichen. So erklärt sich auch eine briefliche „Rüge“ von Kanzler Kohl an Genscher, auf die noch einzugehen sein wird. 60 Im Übrigen waren sich Margaret Thatcher, der britische Außenminister Douglas Hurd, und Hans-Dietrich Genscher in der NATO-Frage zunächst einig. 61 Dies wird auch detailliert in den Niederschriften von Bush, 62 Baker 63 und 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
60 61 62 63
Waigel, Theo: Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, München 1994. Klein, Hans: Es begann im Kaukasus, Berlin 1991. Teltschik, Horst: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991. Krenz, Egon: Wenn Mauern fallen, Wien 1990. Modrow, Hans: Aufbruch und Ende, Hamburg 1991. de Maizière, Lothar: Anwalt der Einheit, Berlin 1996. Vgl. Kohl: Erinnerungen 1982–1990. Vgl. Genscher: Erinnerungen, S. 709 ff. Genscher: Erinnerungen, S. 697. Diese Politik wurde als „Genscherismus“ bezeichnet; vgl. Naß, Matthias: Genscherismus ist ein Zukunftsmodell, in: Die Zeit, April 2016; in Internet: http://www.zeit. de/politik/deutschland/2016-04/hans-dietrich-genscher-ehemaliger-aussenministerdeutschland-erinnerungen (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). Siehe auch Rede Bundeskanzler Gerhard Schröder zum 75. Geburtstag von HansDietrich Genscher am 21. 3. 2002. Untertitel: „Als Außenminister haben Sie es zu ungeahnter Wertschätzung und Popularität gebracht. Ihre Politik, der ‚Genscherismus‘, wurde zu einem Markenzeichen.“; in Internet: http://adrien.barbaresi.eu/corpora/ speeches/BR/t/383.html (letzter Zugriff: 4. 6. 2020) Der Brief ist abgedruckt bei Karner, Stefan u. a.: Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen. Dokumente, Berlin 1990, S. 231. Vgl. Thatcher: Erinnerungen. Vgl. Bush / Scowcroft: A World Transformed. Vgl. Baker.
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
23
deren Berater Philip Zelikow und Condoleezza Rice 64 mit ihren sachgerechten Darstellungen deutlich. Die Idee von Genscher, dem Gebiet der Ex-DDR einen „besonderen Status“ zu verleihen, schien das Problem der NATO-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands lösen zu können. So spielte dieser Genscher-Vorschlag im Februar in den politischen Gesprächen zunächst eine wichtige Rolle. Diese Entwicklung wird im Einzelnen nachgezeichnet. 65 Unverzichtbar hierbei war der Quellenband „Deutsche Einheit“ mit den wichtigsten Dokumenten, Protokollen und Notizen aus dem Kanzleramt. Unabdingbar für diese Arbeit war ferner die Einsichtnahme in die Bestände des Auswärtigen Amtes, 66 des Bundesarchivs 67 sowie der Archive der deutschen Parteien 68 einschließlich des Parteiarchivs der SED. 69 Hier finden sich die Dokumente, die Auskunft über das Denken und das Handeln des deutschen Bundeskanzlers als treibende Kraft im Vereinigungsprozess sowie des deutschen Außenministers bzw. der Opposition geben. Dabei stellen sich zum Teil erhebliche Unterschiede beim Vergleich der Primärquellen aus den Archiven der USA, in Moskau und vor allem im Bundesarchiv heraus. Hinzu kommt, dass einige Protokolle, die in den Archiven vollständig im Wortlaut zu finden sind, für die Dokumenten-Ausgabe teilweise zusammengefasst wurden. Es ist zu berücksichtigen, dass dies Einfluss auf die Authentizität haben kann. Ebenso sind Sätze, die in den Buch-Ausgaben in den jeweiligen Dokumenten als „gestrichen“ angemerkt wurden, in den Original-Protokollen weiter vorhanden. Der Autor weist im Text auf diese Passagen hin. Das Internet erschließt zudem weitere Dokumentenquellen aus Moskau, 70 London, 71 Paris 72 und Washington. 73 So sind auf den aufgeführten Web-Seiten von Präsident Bush alle Reden und Erklärungen aus seiner Amtszeit zu finden. 64 Vgl. Zelikow / Rice. 65 In Internet: https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB422/. 66 In Internet: http://www.ifz-muenchen.de/ in der Edition „Einheit“ 2015; In Internet: http://www.archiv.diplo.de/. 67 In Internet: www.bundesarchiv.de. 68 In Internet: www.cdu.de; http://www.spd.de/; www.fdp.de; www.die-linke.de. 69 Zugang über das Bundesarchiv = www.bundesarchiv.de. 70 Gorbatschow-Stiftung = In Internet: www.rodon.org/other/mgigv/index.htm (letzter Zugriff: 29. 4. 2020). 71 In Internet: https://www.diplomatie.gouv.fr/de/ 72 In Internet: http://www.diplomatie.gouv.fr/de. 73 In Internet: https://georgewbush - whitehouse . archives . gov / ; https://www . archi ves.gov/federal-register/executive-orders/bush.html; https://www.archives.gov/fe deral-register/publications/presidential-papers.html; http://nssarchive.us/; https:// bush41library.tamu.edu/.
24
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
Es zeigt sich, wie wichtig eine grundlegende Archiv-Studie ist. Dies gilt auch im Vergleich der Schilderungen der Teilnehmer der Gespräche bzw. der Beobachter. Viele der Quellen sind zeitversetzt verfasst worden und spiegeln nur ungenau tatsächliche Sachverhalte wider, sondern sind eher subjektive Einschätzungen. Diese Quellen waren besonders sorgfältig zu prüfen. Hinzu kommt: Zahlreiche Dokumente in den Archiven des ehemaligen ZK und des Politbüros der KPdSU in Moskau sind bis heute für den westlichen Nutzer verschlossen. Dagegen gibt es – wie erwähnt – eine Fülle von nicht sachgerechten Publikationen, die sich weitgehend auf Vermutungen, nicht aber auf reale Geschehnisse stützen. Nur ein Teil von ihnen ist im (via Internet) zugänglichen „Archiv der Gorbatschow-Stiftung“ abgelegt und in Russisch verfügbar. 74 Seit 1994 sind, wie der ehemalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow im Gespräch am 23. Januar 2017 in Berlin gegenüber dem Autor bestätigte, keine grundlegenden wissenschaftlichen Untersuchungen über die Verhandlungen zur deutschen Einheit erschienen. Dies hatte Rafael Biermann 75 bereits 1997 in seiner Arbeit festgestellt. Seither hat sich daran nichts geändert. Im Archiv seiner Stiftung hat Michail Gorbatschow Protokolle von Politbürositzungen, Gesprächsabschriften und Tagebuchaufzeichnungen aus seiner Amtszeit gesammelt. Ein Teil davon wurde vor einigen Jahren auch in deutscher Sprache veröffentlicht. 76 Sie wurden von Gorbatschow persönlich ausgewählt. Aber in den Dokumenten wurde offenbar erheblich gekürzt – um belanglose Wörter ebenso wie um ganze Seiten oder komplette Gesprächswiedergaben. Die Kürzungen scheinen vor allem einem Zweck zu dienen: den damals handelnden Personen, allen voran Gorbatschow selbst, mehr Glanz zu verleihen, als sie verdient hatten. Ein Grundproblem bei den in Russisch vorliegenden Protokollen, Mitschriften bzw. eigenen Notizen liegt darin, dass die russische Variante das wiedergibt, was der Gesprächspartner durch den Dolmetscher übermittelt bekommen und darunter verstanden hat. Demgegenüber sind die westlichen Protokolle in der Regel exakte Wortprotokolle des Gesprächsverlaufs. Das ist oft nicht identisch. Darauf verweist die auf deutsche Zeitgeschichte spezialisierte Politikwissenschaftlerin Kristina Spohr. 77
74 Quelle http://www.rodon.org/other/mgigv/index.htm (letzter Zugriff: 16. 6. 2020). 75 Biermann, Rafael: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn 1997, S. 21 ff. Rafael Biermann ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 76 Galkin, Aleksandr und Tschernjajew, Anatolij: Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München 2011. 77 Vgl. Spohr, S. 28 und S. 9.
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
25
Die Bestandsübersicht über die Akten und Unterlagen der Sitzungen des Politbüros und des ZK der SED zum Reisegesetz besitzt einen vorläufigen Charakter, da die Erschließung der Akten noch nicht beendet ist. Das liegt zum Teil an der chaotischen Überlieferungslage: So sind die Teilbestände unübersichtlich groß, in der Regel fehlt ein Aktenplan und die Registratur-Ordnungen des MfS sind kaum nutzbar. Auch wurden die Bestände der Diensteinheiten durch die Aktenvernichtungen unbekannten Ausmaßes 1989/90 in Mitleidenschaft gezogen. Zu einigen Diensteinheiten sind zurzeit keine Unterlagen nachweisbar. Die MfS-Archivbestände selbst konnten jedoch nahezu komplett übernommen werden. Die Akten und Unterlagen der Sitzungen des Politbüros und des ZK der SED zum Reisegesetz (kurz „Mauerfall“ genannt) befinden sich z. T. mit den handschriftlichen Änderungen von Egon Krenz im Bundesarchiv. Die ausführliche Quellenangabe der vom Verfasser per Internet genutzten Archivalien befindet sich im Anhang. 78 Die Überlieferung aus dem Büro „Krenz“ gelangte nach der Niederlegung seiner Ämter im November 1989 in die Altregistratur des Zentralen Parteiarchivs der SED. Vertrauliches Büroschriftgut leitete der damalige Büroleiter des Politbüros an das ihm unterstellte interne Parteiarchiv weiter. 1992 wurde das Schriftgut aus den dienstlichen Räumen von Egon Krenz im Zentralen Parteiarchiv im Verbund Archiv / Bibliothek / technische Werkstätten beim Parteivorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus erschlossen. Gemäß dem Vertrag vom 29. Dezember 1992 zwischen der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der Bundesrepublik Deutschland wurde der Teilbestand mit der Provenienzbezeichnung „Büro Egon Krenz“ zusammen mit dem Gesamtbestand „Zentralkomitee der SED“ in die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv eingebracht. 1996 erhielt der Teilbestand eine Ergänzung durch die vertraulichen Arbeitsunterlagen aus dem internen Parteiarchiv. Im September 1999 übergab die Staatsanwaltschaft II in Moabit SED-Materialien aus dem Büro Krenz zur Archivierung, die am 1. Februar 1990 durch die Generalstaatsanwaltschaft der DDR für Ermittlungsarbeiten in den Arbeitsräumen von Egon Krenz und Erich Honecker im Haus des Zentralkomitees der SED beschlagnahmt wurden. Im Zuge der endgültigen Erschließung wurde der Teilbestand entsprechend den Funktions- und Arbeitsbereichen von Egon Krenz gegliedert und sachthematisch geordnet. Neben Archivgut, das seine Tätigkeit in den verschiedenen Verantwortungsbereichen widerspiegelt, existieren in den 78 In Internet: www . bundesarchiv . de / DE / Content / Artikel / Finden/ digitalisierte - be staende.html.
26
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
Aktengruppen auch Informationen zur Wirtschafts-, Medien- und Kulturpolitik, zu internationalen Kontakten der SED und der DDR, vereinzelt zu Kirchenfragen, die ihm als engem Vertrauten Erich Honeckers und Mitglied des Politbüros zur Kenntnis gegeben worden sind. Besonders hinzuweisen ist auf die persönlichen Aufzeichnungen zu Sitzungsprotokollen des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees (Oktober 1984 bis September 1989). Die von Wolfgang Herger angefertigten Informationen über Diskussionen in den Politbüro- und Sekretariatssitzungen sowie von Günter Böhme in den Ministerratssitzungen vermitteln dem Leser einen Komplex von Problemen, vor denen die DDR bei der Umsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik stand. Die Besucher- und Reiseproblematik und das Sicherheitsdenken werden in den Dokumenten sichtbar. Viele Dokumente, die er als Politbüromitglied und Sekretär für Sicherheitsfragen gelesen und mit denen er gearbeitet hat, tragen seine Anmerkungen, Einfügungen, Streichungen im Text und Zuschreibungen. Die Studien zur politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung, eine Vielzahl von Eingaben zu verschiedensten Problemen aus allen Bevölkerungsschichten (auch zu Wahlen in der DDR) sowie Einschätzungen und Analysen aus den Ministerien der DDR geben Auskunft über den Niedergang der DDR und zum Ende der SED im Herbst 1989. Die abschließende Bearbeitung erfolgte 1992, Ergänzungen 1996 und 2000. Allen primären Quellen ist ihre Unvollständigkeit gemeinsam. Fast alle Abschriften von aufgezeichneten Telefonaten und die Telex-Kabel, die in den US-Archiven zu finden sind, sind in einigen Passagen geschwärzt, so fast zu 70 Prozent das Kabel, das James Baker am 4. Mai an Bush von Bonn aus über sein Gespräch mit Eduard Schewardnadse 79 sandte. 80 In den „Baker Erinnerungen 81“ ist der Informationsgehalt dann wesentlich größer. Zudem muss festgestellt werden: Die Bundesregierung hat bei vielen Verhandlungsrunden darauf verzichtet, Protokolle anzulegen. Man wollte, so Biermann 82, „leaks“ vermeiden, dass also Details aus den internen Gesprächen an die Öffentlichkeit geraten. Gorbatschow selbst hat in der NATOFrage Kohl mehrfach darum gebeten, keine Notizen anzufertigen. Von den Politbürositzungen der KPdSU gibt es ebenfalls keine Protokolle. Die Zusammenfassung dieser Sitzungen wurde später angefertigt. Gorbatschow wollte zudem seine Entscheidungsfindung nicht mit seinen Gremien ab79 Sowjetischer und georgischer Politiker, von 1985 bis 1990 sowie Ende 1991 Außenminister der Sowjetunion. 80 In Internet: https://assets.documentcloud.org/documents/4325694/Document-17James-A-Baker-III-Memorandum-for-the.pdf. 81 Baker, James A.: Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen. 1996, Siedler Verlag Berlin 82 Vgl. Biermann, S. 27.
Methode, Quellenlage und ihre Bewertung
27
stimmen. Sie waren ihm „zu schwerfällig und entscheidungshemmend“. Fast alle Schilderungen stammen daher aus späterer Zeit. Gorbatschow selbst hat in seinen „Erinnerungen“ 83 und in seinen anderen Büchern mit Bezug auf 1990 die Ereignisse weitgehend umfassend beschrieben. Fast jeder aus dem Beraterkreis 84 um Gorbatschow hat nach 1990 eine Darstellung der Diskussionen gegeben – vor allem Anatolij Tschernjajew 85, neben Schewardnadse einer der engsten Berater des Kreml-Führers. Er starb 2017. Sein komplettes Tagebuch ist in Englisch im Archiv des „Nationalen Sicherheitsrates“ der USA zugänglich, 86 gefolgt von Schachnasarow 87, Schewardnadse 88, Kwizinski 89, Falin 90, Kotschemassow 91. Jeder schilderte seine Beobachtungen und Einschätzungen. Keiner hat aber eine wissenschaftliche Zusammenfassung der sowjetischen Politik 1989/90 vorgelegt. Außer bei Falin, seit 1985 Berater von KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow, dann entschiedener Gegner von dessen Vorgehen, werden die Ereignisse relativ emotionslos geschildert. Falins Erinnerungen und Schilderungen sind weitgehend emotionsgeladen und nicht immer sachgerecht. Bei allen Niederschriften, Memoranden und Notizen zeigt sich, dass Aufzeichnungen aus dem Umfeld von Gorbatschow und von seinen Beratern über die (wahrscheinlichen) Diskussionen darüber, wie denn die Krise im „sozialistischen Lager“ seit 1987 und insbesondere im Jahr 1989 zu lösen sei, fehlen. Darauf weist vor allem der US-Wissenschaftler Vladislav Zubok hin. 92
83 Gorbatschow: Erinnerungen. 84 Valentin Falin, Anatolij Tschernjajew, Georgi Schachnasarow, Eduard Schewardnadse. 85 Tschernjajew, Anatolij: Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993. 86 Quelle in Internet: https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/201705-25/anatoly-s-chernyaev-diary-1977 (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 87 Schachnasarow, Georgi: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, Bonn 1996. 88 Schewardnadse, Eduard: Die Zukunft gehört der Freiheit, Reinbek 1993. 89 Kwizinski, Julij: Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993. 90 Falin, Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993 und ders.: Konflikte im Kreml. Der Untergang der Sowjetunion, Berlin 2015. 91 Kotschemassow, Wjatscheslaw: Meine letzte Mission. Fakten, Erinnerungen, Überlegungen, Berlin 1994. 92 Zubok, Vladislav: With his back against the Wall: Gorbachev, Soviet demise, and German reunification. In: Cold War History, Volume 14, 2014, S. 619–645; in Internet: https://doi.org/10.1080/14682745.2014.950251 (letzter Zugriff: 29. 4. 2020).
Einordnung der Fachliteratur Die „Deutsche Einheit“ und der Weg dorthin sind in vielerlei Publikationen ausgiebig behandelt worden. Über nahezu jede Sitzung der Beteiligten gibt es Ausführungen, Erklärungen, Interpretationen. Einigkeit besteht in der Fachliteratur über den Modus, der zur Einheit führte. Differenzen bestehen dagegen immer noch über die Frage, ob der Sowjetunion etwas „versprochen“ wurde, was der Westen nicht gehalten hat. Seit der militärischen NATO-Intervention im Kosovo 93 und dann durch die Gespräche über einen möglichen NATO-Beitritt Georgiens (einer Republik der ehemaligen Sowjetunion) ab 2004 wurde die Diskussion vor allem durch russische Politiker erneut entfacht. Russlands Präsident Putin spitzte die Kritik in seiner Rede in der Duma vom 18. März 2014 zu, als er sagte: „Unsere Kollegen im Westen haben uns wiederholt angelogen, haben Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es bei der Ost-Erweiterung der NATO und dem Ausbau militärischer Einrichtungen an unseren Grenzen.“ 94 Putin wiederholte diese unscharfe Aussage, ohne sie zu präzisieren. So in seiner Rede am 10. Februar 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz. 95 Der Kreml-Chef erinnerte an die angebliche Zusicherung der NATO, keine Truppen in Ostdeutschland zu stationieren. Das habe immer als Garantie für die Sicherheit Russlands gegolten. In Anspielung auf die NATO-
93 Der Kosovokrieg war ein bewaffneter Konflikt um die Kontrolle des Kosovo vom 28. Februar 1998, dem Angriff serbischer Kräfte, bis zum 10. Juni 1999, dem Beginn des serbischen Rückzugs. Der Einsatz der NATO dauerte vom 24. März 1999 als Tag des ersten Luftangriffs bis zum 9. Juni 1999, dem Tag der Einigung bei den Militärverhandlungen. Anlass war die Nichtunterzeichnung des Vertrags von Rambouillet durch Slobodan Miloševi´c. Offizielles Hauptziel der NATO war, die serbische Regierung zum Rückzug der Armee aus dem Kosovo zu zwingen und so weitere serbische Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Offizielles Ziel Jugoslawiens war der Schutz der serbischen Minderheit im Kosovo und die Abwehr der aus seiner Sicht erfolgten Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Konfliktparteien waren die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), die jugoslawische Armee und serbische Ordnungskräfte sowie NATO-Streitkräfte unter Führung der USA. Die Flucht und Vertreibung hunderttausender Kosovo-Albaner im Kriegsverlauf markierte zeitgleich den größten Exodus einer Volksgruppe seit Ende des Zweiten Weltkriegs. 94 Rede von Putin vor der Duma im März 2014; in Internet: en.kremlin.ru / events / president / news/20603 (letzter Zugriff: 5. 12. 2016). 95 Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner „Sicherheitskonferenz“; in Internet: www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html (letzter Zugriff: 1. 6. 2020).
Einordnung der Fachliteratur
29
Mitgliedschaft von Staaten des aufgelösten Warschauer Paktes wandte er sich direkt an die Konferenzteilnehmer und fragte sie: „Und wo ist diese Garantie jetzt?“ Der Präsident warnte ausdrücklich, dass ein weiteres Festhalten an einer NATO-Osterweiterung „provozierend“ auf Russland wirke und das gegenseitige Vertrauen gefährde. „Man will uns neue Trennlinien und Mauern aufzwingen, die abermals den Kontinent zerschneiden.“ 96 Putin ließ aber die wesentlichen Fragen nach etwaigen Zusicherungen offen. Michail Gorbatschow hat immer wieder Darstellungen widersprochen, ihm sei in Gesprächen über die deutsche Vereinigung ein Verzicht auf eine NATO-Ost-Erweiterung zugesagt worden. Bei den Verhandlungen 1990 sei dies kein Thema gewesen, sagte er am 9. November 2014 dem „heutejournal“ im ZDF 97 und fügte hinzu: „Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht.“ Im 2 + 4-Vertrag von 1990 sei es um das Territorium der DDR gegangen, erklärte Gorbatschow. Auf die Frage, ob es also ein Mythos sei, dass er vom Westen betrogen worden sei, antwortete er: „Ja, das ist tatsächlich ein Mythos. Da hat die Presse ihre Hand im Spiel gehabt.“ 98 In einem Interview mit der „Bild“-Zeitung vom 15. April 2017 klang das wieder anders, aber nicht aufklärend. Dort sagte der frühere Staatschef der Sowjetunion: „Den Zerfall der Sowjetunion können wir niemanden zum Vorwurf machen. Doch viele im Westen haben sich damals heimlich die Hände gerieben und waren wie im Siegesrausch. Auch diejenigen, die uns versprochen hatten: Wir rücken keinen Zentimeter weiter nach Osten.“ 99 Damit unterstellte er aber, dass es – entgegen seinen früheren klaren Aussagen – doch ein Versprechen gegeben hat. Er verband jedoch diese Aussage mit dem Zeitraum NACH Herstellung der deutschen Einheit. Entsprechend meinte selbst Gorbatschow: Die Zustimmung zur deutschen Einheit 1990 war in keiner Weise verbunden mit einem Versprechen, die NATO nicht auszuweiten. Unter Historikern national wie international ist die Frage deswegen auch noch nicht abschließend geklärt. Die US-Historikerin Mary Sarotte hat den Vorwurf eines Vertrauensbruches ausführlich untersucht. 100 Sie kam zu dem Schluss, dass es 1990 durch Genscher und seinen US-Kol-
96 In Internet: https://www.zeit.de/online/2007/07/Putin-Sicherheitskonferenz (letzter Zugriff: 5. 6. 2020). 97 Gorbatschow ZDF NATO und ZDF History – Geheimakte Deutsche Einheit, 3.10.2016. 98 Die Zeit vom 9. November 2014 https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-11/natoosterweiterung-gorbatschow und In Internet: http://www.youtube.com/watch?v= vzkszMavbiE 99 Diekmann, Kai: Interview mit Michail Gorbatschow, BILD vom 15. April 2017, S. 2/3. 100 Sarotte, Mary: 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009.
30
Einordnung der Fachliteratur
legen Baker Versprechen gegeben habe. Aber sie seien nicht schriftlich fixiert und auch nicht weiterverhandelt worden. Folgerichtig war es daher rechtlich unbedeutend. Dieser Ansicht schlossen sich nahezu alle westlichen Historiker wie z. B. Gerhard Wettig 101, Klaus Dieter Naumann 102, Mark Kramer 103, Fred Oldenburg 104, Sarah B. Snyder 105, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson 106, Hannes Adomeit 107, Andreas Rödder 108 und auch die deutsch-finnische Historikerin Kristina Spohr 109 an. Alle zeichnen sich durch detailgerechte, jedes Wort in seiner Bedeutung untersuchende Darstellung aus. Was dem / der einen Autor / Autorin zu kurz in der Untersuchung kommt, gleicht ein anderer wieder aus. Das Gesamtbild ergibt sich erst in der Untersuchung aller vorliegenden und bekannten Arbeiten. Demgegenüber kamen fast alle sowjetischen Kommentatoren zu einem anderen Schluss: Das Versprechen vom Februar 1990, die NATO „nicht einen Inch“ gen Osten auszudehnen, durch den deutschen Außenminister Genscher, seinen US-Kollegen Baker und Kanzler Kohl gegeben, war bindend, ist ihre Überzeugung. 110 Das ergebe sich schon daraus, dass Baker im Februar 1990 gegenüber Gorbatschow das Wort „verbindliche Zusage“ benutzte. 111 Für den Generalsekretär der KPdSU waren derartige Aussagen dann bindend, wenn sie akzeptiert wurden. Dazu reichte eine erkennbare Handlung. Es bedurfte nicht der schriftlichen Fixierung. Dies ähnelt dem bis heute geltenden deutschen Rechtsverständnis, nach dem ein Handschlag zum Abschluss einer Vereinbarung rechtsgültig ist. 112 Um ein bindendes Versprechen hätte es sich nach diesem Verständnis dann gehandelt, wenn alle Seiten eine solche Wirkung gewollt und akzeptiert hätten. Das 101 Wettig, Gerhard: The Soviet Union and the German Unification, Berlin 1990. 102 Naumann, Klaus-Dieter: Hat der Westen alles falsch gemacht? In: Partnerschaft für Frieden, St. Augustin, 1994. 103 Kramer, Marc: Cold War Studies Project Harvard USA; hier: The Washington Quarterly, April 2009. 104 Oldenburg, Fred: Deutsche Einheit und Öffnung der Nato, Köln 1996. 105 Snyder, Sarah B. : Cold War History, Vol. 13, Cambridge 2013. 106 Shifrinson, Joshua R: Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion, in: International Security, Vol. 40, Harvard 2016, S. 7–44. 107 Adomeit, Hannes: Gorbachev and the German Unification, Baden-Baden 1990. 108 Rödder, Andreas: Deutschland Einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2011. 109 Spohr: Precluded or Precedent-Setting?, S. 4–54. 110 Auf allen russischen Webseiten und in allen Erklärungen werden diese Positionen ständig wiederholt. Aber es fehlt immer ein Gegenbeweis. 111 Zelikow / Rice, S. 261. Baker machte allerdings einen Vorschlag, den Gorbatschow „überdenken“ werde. 112 „Theoretisch kann fast jeder Vertrag per Handschlag geschlossen werden“, sagt Dr. Jörn Zons, Rechtsanwalt für Vertragsrecht und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Internationales Wirtschaftsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV). Gesetzliche Ausnahmen von dieser Regelung gebe es nur wenige.
Einordnung der Fachliteratur
31
aber war augenscheinlich nicht der Fall, wie die genaue Untersuchung der Abläufe zeigt. Es fehlte der Beweis der „konkludenten Annahme“ 113 durch die sowjetische Administration. 114 Viele der Beobachter um Gorbatschow haben dessen Worte in einer nicht belegbaren Weise interpretiert. Die Ausführungen der ehemaligen sowjetischen Autoren über die Handlungsprämissen von Gorbatschow und Schewardnadse leiden weitgehend unter fehlenden Wort-Protokollen. Zum Teil führen auch Übersetzungen zu Unstimmigkeiten. Es entsteht häufig der Eindruck, die sowjetische Seite habe nur das wahrgenommen, was sie habe hören wollen, ein Eindruck den auch Robert Gates nach seinem Treffen mit dem KGB-Chef Krutschkow im Februar 1990 bestätigte. 115 Auch ist zu berücksichtigen, dass die sowjetische Haltung, insbesondere bei den einzig führenden Köpfen in Moskau, Gorbatschow und Schewardnadse, während des gesamten Vereinigungsprozesses stets unklar blieb. Dies macht eine Beurteilung der Motive im Nachhinein schwierig. Gorbatschow war „Gefangener seiner eigenen Rhetorik geworden“. 116 Verbal rühmte der Kreml die „Stärke des sozialistischen Lagers“, doch wussten an der Moskwa alle, dass eben dieses Lager zerbröselte. So war jeglicher Widerstand gegen die Einheitsbestrebungen in den beiden deutschen Staaten vergeblich, weil die Entwicklung in Deutschland stärker war als jede KraftRhetorik. Die „Macht der Straße“ brach jede Rhetorik aus dem Kreml. Als Gorbatschow dies erkannte, war es zu spät für eigenes Handeln. 117 Markantestes Datum im Zuge der Wiedervereinigung ist zweifellos der 9. November 1989, an dem die Menschen trennende Berliner Mauer zwar noch nicht vollends fiel, dennoch aber geöffnet wurde. Ab diesem Datum versuchten die Akteure gemeinsam, aber auch zum Teil gegeneinander, ihr jeweiliges Ziel umzusetzen. Dies führte zu einer neuen vertraglichen Fixierung des West-Ost-Verhältnisses und zur Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland in einer neu strukturierten europäischen Welt. Dargestellt wird das durch das von der Diplomatie erzielte Ergebnis im sogenannten 2 + 4-Vertrag. Die westlichen Akteure, primär die USA als nationaler wie auch als Hauptakteur der NATO, waren bestrebt, eben diese Wandlung zu unter-
113 Im Zivilrecht spricht man von einer konkludenten Willenserklärung, wenn sie ohne ausdrückliche Erklärung durch schlüssiges Verhalten abgegeben wird. D. h. die Willenserklärung wird aus den Handlungen des Erklärenden deutlich – bei einer Auktion beispielsweise durch das Erheben der rechten Hand. 114 Am weitesten hier Stent in ihrer Untersuchung „Rivalen des Jahrhunderts“. S. 188 ff 115 Stent, S. 207 f. Wladimir Krutschkow war von 1988–1991 KGB-Chef. Robert Gates war Vizedirektor „Nationaler Sicherheitsrat“ NSC, 1991–1993 Direktor CIA. 116 Stent, S. 129. 117 Ebda. S. 129 und S. 188.
32
Einordnung der Fachliteratur
stützen. Ihnen ging es vor allem um die Schwächung der Sowjetunion und ihren vollständigen Truppenabzug aus Europa. Demgegenüber machten die USA deutlich, dass sie die in Europa maßgeblich gestaltende Macht bleiben und dies mit ihren Truppenpräsenzen unterstreichen wollte. Der weitere West-Akteur war der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Sein primäres Ziel war die deutsche Einheit strikt und kompromisslos unter dem Schirm der NATO. Dies gelang im Zusammenspiel mit allen Partnern sowohl im Westen wie auch mit der Sowjetunion, deren Widerstand gegen eine Lösung „Einheit plus NATO“ mühsam durch die Diplomatie im Sinne westlicher Zielsetzung verändert werden konnte. Diese Untersuchung zeigt summa summarum auf: Der Osten konnte den Westen argumentativ nicht überzeugen. Gorbatschow konnte am Ende keine seiner Vorstellungen (Nein zur NATO, Verlangsamung des Einheitsprozesses, Modernisierung der Sowjetunion, „Gemeinsames Haus Europa“) durchsetzen. 118 Ganz anders im Westen: Die Einheit Deutschlands wurde erreicht, die NATO dehnte sich aus, die Sowjetunion wurde gleichzeitig geschwächt und schließlich wie das gesamte Bündnissystem des „Warschauer Vertrages“ aufgelöst. 119 Angesichts der Komplexität des Themas und der Übersichtlichkeit für den Rezipienten ist die Arbeit in zehn Kapitel gegliedert. Natürlich stehen diese Kapitel nicht isoliert voneinander, sondern nehmen in vielfältiger Weise jeweils Bezug zueinander. Dem Autor stellte sich die Frage, ob er eine rein chronologische Darstellung des Themas wählen sollte, ob diese überhaupt realisierbar wäre. Er kam zu der Überzeugung, dass diese Form sich allein für die Darstellung der Historie, also für die Vorgänge, die zur Teilung Deutschlands und Europas führten, sinnvoll sei. So wichtig und historisch bedeutsam die Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland für die Deutschen selbst war, stellt sie doch nur einen, wenn auch wichtigen Aspekt im Umbruch und in der Neugestaltung der Weltordnung im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert dar. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Auflösung des von ihr dominierten Militärbündnisses Warschauer Pakt, die Neuorientierung des westlichen Bündnisses NATO und ihre Ausdehnung in Richtung Osten haben die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs weitgehend hinfällig werden lassen und die politische Landkarte in einem zuvor unvorstellbaren Maß verändert. Es ist daher Aufgabe dieser Arbeit, die Rolle der NATO und besonders der in ihr die Richtung vorgebenden USA zu beleuchten. Zu beantwor-
118 Horst Teltschik im Gespräch mit dem Autor am 17. Juni 2015. Notiz im Besitz des Autors. 119 Die Sowjetunion löste sich am 21. Dezember 1991, der Warschauer Pakt bereits am 1. Juli 1991 auf.
Einordnung der Fachliteratur
33
ten waren die Fragen, welche Faktoren die deutsche Wiedervereinigung überhaupt erst möglich gemacht hatten. War sie denkbar nur angesichts der sich abzeichnenden Schwäche der einst übermächtigen UdSSR? War Voraussetzung ein KPdSU-Generalsekretär wie Michail Gorbatschow, der Reformen im eigenen Land für wichtiger hielt als die – auch gewaltsame – Ausbreitung des Kommunismus? Welche Prioritäten gab es in den westlichen Hauptstädten, und welche Rolle spielten Paris und London? Ging es eher um die deutsche Wiedervereinigung oder doch mehr um die Schwächung der Sowjetunion und die Erweiterung der NATO?
Kapitel 1 Die Teilung Deutschlands und Europas – Ihre Ursachen und Folgen Unter dem Namen „Deutsches Reich“ 120 in der Mitte Europas existiert Deutschland erst seit 1871. Hervorgegangen war es aus dem „Deutschen Bund“, der weder ein Staatsoberhaupt noch eine Regierung oder eine Volksvertretung besaß. Einziges Bundesorgan war die aus Gesandten der Mitgliedsstaaten bestehende Bundesversammlung in Frankfurt / Main unter dem Vorsitz Österreichs. Das Deutsche Reich war – nach dem Sieg über Napoleon 121 1815 auf dem Wiener Kongress 122 (18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815) ins Leben gerufen worden und bestand zunächst aus 35 souveränen Fürstentümern und vier Freien Städten. Österreich und Preußen gehörten ihm nur mit denjenigen Staatsgebieten an, die auch schon Bestandteil des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 123 gewesen waren. Spannungen zwischen Österreich und Preußen führten zu mehreren Kriegen zwischen den beiden Ländern. Nach dem Sieg Preußens im „Deutschen Krieg“ 1866 musste das unterlegene Österreich die Auflösung des „Deutschen Bundes“ durch die Neuordnung der staatlichen Verhältnisse hinnehmen. Nach Gründung des Norddeutschen Bundes, der 1866 vorwiegend als Militärbündnis verstanden wurde, aber auch wirtschaftliche
120 Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871; in Internet: https://www. dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/das-reich/reichsverfassung-1871.html (4. 6. 2020) 121 Völkerschlacht bei Leipzig 16.–19. Oktober 1813 und Schlacht von Waterloo, 18. Juni 1815; siehe auch: Thamer, Hans-Ulrich: Die Völkerschlacht bei Leipzig: Europas Kampf gegen Napoleon, München 2013, S. 45 ff. sowie Cornwell, Bernard: Waterloo – Eine Schlacht verändert Europa, Hamburg 2015, S. 220 f. 122 In Internet: www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/wiener-kongress. html, (letzter Zugriff: 11. 5. 2020). In Wien versammelten sich im September 1814 Vertreter fast sämtlicher Staaten Europas, um nach dem Sturz Napoleons über die Neuordnung des europäischen Kontinents zu beraten. Von besonderer Bedeutung waren dabei die zukünftige politisch-territoriale Gestaltung des deutschsprachigen Raumes und die deutsche Verfassungsfrage. Als Ergebnis diskussionsreicher Verhandlungen erfolgte am 10. Juni 1815 die formelle Unterzeichnung der auf den 8. Juni datierten Deutschen Bundesakte. Sie wurde Bestandteil der Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815 und damit international sanktioniert. An die Stelle des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation trat der Deutsche Bund. 123 Seit 1512 war Sacrum Romanum Imperium Nationis Germanicae (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) die offizielle Bezeichnung des Reiches. Nachdem Napoleon I. 1804 zum erblichen Kaiser der Franzosen gekürt wurde, ernannte sich der letzte römische Kaiser Franz II. zu Franz I. Kaiser von Österreich. 1815 organisierten sich unter dem Namen Deutscher Bund die deutschen Fürsten zu einer de facto Nachfolgeorganisation.
Die Teilung Deutschlands und Europas – Ihre Ursachen und Folgen
35
Interessen förderte, und an dessen Spitze Kanzler Otto von Bismarck stand, fanden am 12. Februar 1867 in den 22 Mitgliedstaaten gleiche, allgemeine und direkte Wahlen für den „Norddeutschen Konstituierenden Reichstag“ statt. Die am 16. April 1867 beschlossene Verfassung des „Norddeutschen Bundes“ sah einen kleindeutschen und föderalistischen Bundesstaat unter preußischer Führung vor. Er war als Provisorium gedacht, da die abwartende Haltung der süddeutschen Staaten, aber auch der Widerstand Frankreichs zunächst noch den Weg zu der Gründung eines deutschen Nationalstaates versperrten. Die Gründung des Bundesstaates hatte in Mitteleuropa eine Machtverschiebung zur Folge, der Frankreich nur widerwillig zustimmte. Während die politische Einigung Deutschlands zunächst nicht vollständig durchsetzbar war, führte die Neuorganisation des „Deutschen Zollvereins“ 1867 zum wirtschaftlichen Anschluss der süddeutschen Staaten an den „Norddeutschen Bund“. Die zunehmende militärische und wirtschaftliche Anbindung der deutschen Südstaaten an den Bund ermöglichte die Reichseinigung zum „Deutschen Reich“ am 18. Januar 1871 noch während des Krieges gegen Frankreich. 124 Leidtragender des zuvor erwähnten Wiener Kongresses war Polen, denn es erfolgte die vierte Teilung Polens, nachdem die Nachbarstaaten Preußen, Russland und Österreich bereits drei Mal (1772, 1793 und 1795) das Territorium unter sich aufgeteilt hatten. De facto existierte 130 Jahre lang, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918, kein eigenständiger polnischer Staat. Diese Vorgeschichte erklärt, weshalb der am 7. Oktober 1918 mit Hilfe der Westmächte (Entente: USA, Großbritannien, Frankreich und Italien) konstituierte polnische Staat sogleich Grenzkorrekturen bei seinen Nachbarn militärisch erzwingen wollte. Mit Preußen / Deutschland wurde in Großpolen und um Schlesien gekämpft. Teile Preußens, Westpreußen und Posen wurden aus der sogenannten Weimarer Republik 125 herausgelöst und Polen zugeschlagen. Die Hafenstadt Danzig wurde zur „Freien Stadt“ 126 erklärt und durfte von Polen mitgenutzt werden. Im Osten führte
124 Vgl. Schmidt, Jan Hendrik: Der unterschätzte Krieg: Europa und der deutsch-französische Krieg von 1870/1871, Hamburg 2014, S. 94 ff. 125 Als „Weimarer Republik“ wird der Abschnitt der deutschen Geschichte zwischen 1918 und 1933 bezeichnet. Weimar, eine Stadt in Thüringen, war der erste Tagungsort der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung nach dem Ende des Kaiserreiches und des Ersten Weltkrieges. Die „Weimarer Reichsverfassung“ trat am 14. August 1919 in Kraft. Der Name „Deutsches Reich“ blieb erhalten. Vgl. auch: Die Weimarer Verfassung; in Internet: http://www.bpb.de/geschichte/ deutsche-geschichte/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39193/weimarer-verfassung (11. 5. 2020). 126 Von 1454–1793 war Danzig eine nahezu selbstständige Republik in der polnischlitauischen Rzeczpospolita. Im Friedensvertrag von Versailles (28. Juni 1919) wurde der Bestand von Danzig als „neutrales, freies und geschütztes Mitglied der Staa-
36
Kapitel 1
Polen Krieg mit der Ukraine und schließlich mit Sowjetrussland, der mit dem Friedensvertrag von Riga 1921 endete. Die Ostgrenze Polens verlief nunmehr 200 km weiter östlich im Vergleich zur Grenze von 1918/19. Die nach dem britischen Außenminister George Curzon benannte polnischrussische Demarkationslinie war weitgehend identisch mit der heutigen, seit 1945 existierenden Ostgrenze Polens. 127 Die Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges war in Deutschland von chaotischen Verhältnissen geprägt. Das Kaiserreich zerbrach, in Kiel meuterten Matrosen und in München wurde eine Räterepublik ausgerufen. Am Morgen des 9. November 1918 erreichte die revolutionäre, antimonarchistische Stimmung Berlin. Aufgerufen von Revolutionären Obleuten, zumeist dem linken Flügel der USPD 128 nahestehende Vertrauensleute in den Betrieben, traten die Arbeiter in den Ausstand. Zu Hunderttausenden formierten sie sich zu Demonstrationszügen durch das Zentrum der Reichshauptstadt. 129 Reichskanzler Max von Baden erklärte zur Beruhigung der revoltierenden Massen den Thronverzicht des Kaisers und übergab – verfassungswidrig – dem Parteivorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert, das Amt des Reichskanzlers. Eberts Parteifreund Philipp Scheidemann rief von einem Fenster des Reichstages die Republik aus. Nach dem Ende der Monarchie und den Wirren der Revolution kam es zu einer ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden, der „Weimarer Republik“, benannt nach dem Tagungsort der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Die Weimarer Reichsverfassung trat am 14. August 1919 in Kraft, doch stand diese Republik unter keinem guten Stern. Die Jahre der „Weimarer Republik“ waren gekennzeichnet von einer Parteienlandschaft, die ein Regieren nahezu unmöglich machten. Hinzu kamen katastrophale wirtschaftliche Verhältnisse und eine hohe Arbeitslosenzahl. Das Diktat des Versailler Vertrages, hohe Reparationsleistungen sowie Gebietsverluste hatten in der Bevölkerung den Boden für das Aufkommen rechtsradikaler, ultranationalistischer Parteien bereitet. Ebenso
tengemeinschaft“ zugesichert. So wurde Danzig nach dem Ersten Weltkrieg wieder unabhängig und erklärte sich am 15. November 1920 zur „Freien Stadt Danzig“. Diese Erklärung wurde zur gleichen Zeit vor dem Völkerbund in Genf verlesen und bekräftigt. Durch den Versailler Vertrag wurde allerdings der Schutz der Danziger im Ausland Polen überlassen. 127 Benannt nach dem britischen Außenminister Lord George Curzon. Die CurzonLinie wurde im Dezember 1919 während des polnisch-sowjetischen Krieges von den Alliierten als provisorische minimale Ostgrenze Polens gezogen. 1939 wurde sie zur Demarkationslinie, 1945 zur Ostgrenze Polens. 128 USPD: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Am 7. April 1917 in Gotha gegründet. Abspaltung durch die „Linken“ in der SPD. 129 Weimarer Republik: Die Revolution von 1918/19; in Internet: www.dhm.de/lemo/ kapitel/weimarer-republik/revolution (letzter Zugriff: 11. 5. 2020).
Die Teilung Deutschlands und Europas – Ihre Ursachen und Folgen
37
bekannten sich viele Parteien ausdrücklich als antisemitisch. Dies war die Gemengelage, die den Aufstieg der NSDAP mit Hitler ermöglichte. Die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen fand neue Nahrung, als am 11. Januar 1923 französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschierten und es besetzten. Immer häufiger kam es zu Straßenschlachten zwischen Anhängern Hitlers und Kommunisten. Bürgerinnen und Bürger wurden zunehmend eingeschüchtert. Der Weg für Hitler war endgültig frei, als Reichspräsident von Hindenburg ihn am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Innerhalb kürzester Zeit verwandelten die Nationalsozialisten Deutschland in eine Diktatur, richteten Konzentrationslager für politisch Missliebige ein, missachteten die Bestimmungen der Versailler Friedensverträge und bauten die Reichswehr zu einer schlagkräftigen Wehrmacht um. Auf Widerstand der übrigen europäischen Nationen stießen sie kaum. Hitler ließ die Reichswehr ins von den Franzosen besetzte Rheinland einmarschieren und okkupierte im März 1939 große Teile der Tschechoslowakei und gliederte sie als „Protektorat Böhmen und Mähren“ dem Deutschen Reich ein. Angesichts der Zurückhaltung der europäischen Regierungen und unter fadenscheinigem Vorwand überfiel Deutschland am 1. September 1939 seinen Nachbarn Polen, zerschlug binnen weniger Tage den polnischen Staat und errichtete ein brutales Okkupationsregime. Die Sowjetunion rückte – gemäß einem völkerrechtswidrigen geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 – auf polnisches Territorium vor. Am 28. September 1939 schlossen Deutschland und die Sowjetunion einen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ mit einem Zusatzprotokoll, in dem der Verlauf der nunmehr deutsch-sowjetischen Demarkationslinie genau festgelegt worden war. 130 Der Vertrag nannte diese Linie „Grenze der beiderseitigen Reichsinteressen“, die „endgültig“ sei. Der souveräne Staat Polen, Mitglied des Völkerbundes, war damit de facto liquidiert, de jure bestand Polen mit einer Exilregierung in London weiter. 131 In kurzer Zeit eroberte Deutschland fast ganz Europa und unterstützte Italien in Nordafrika. Unabhängig von den militärischen Erfolgen ver-
130 Deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag; in: Internet, www.polishonline.com/geschichte-polen/grenz-und-freundschaftsvertrag.php 131 Die polnische Exilregierung konstituierte sich im Oktober 1939 nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Zweite Polnische Republik und der sowjetischen Besatzung als legitime Nachfolgerin der in Rumänien internierten polnischen Regierung. Der Sitz der Regierung war erst Paris, später Angers. Kurz vor der Kapitulation Frankreichs wählte sie London als Sitz, um von dort aus u. a. die polnischen Streitkräfte im Westen zu koordinieren.
38
Kapitel 1
folgte das Hitler-Regime eine unbarmherzige Rassenpolitik, der u. a. bis 1945 sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Es entstand ein Militärbündnis, dem drei „Achsenmächte“ angehörten: das Deutsche Reich, Italien und Japan. Gegen dieses Bündnis formierte sich eine internationale Koalition mit den drei Hauptmächten USA, Großbritannien und Sowjetunion.
Pläne über Deutschland Die Regierungs- und Staatschefs dieser drei Mächte trafen sich Ende 1943 in Teheran, um über eine deutsche und europäische Nachkriegsordnung zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die deutschen Truppen bereits auf dem Rückzug, der endgültige militärische, politische und wirtschaftliche Niedergang „Großdeutschlands“ war nur noch eine Frage von Monaten. Auf Einladung des Staatschefs der Sowjetunion Josef W. Stalin kam es vom 4. bis zum 11. Februar 1945 im Seebad Jalta auf der Halbinsel Krim zu einer weiteren Konferenz mit dem US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Großbritanniens Premierminister Winston Churchill. 132 Im Hinblick auf Polen waren sich diese „Großen Drei“ – Frankreich gehörte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Kreis der Siegermächte – darin einig, dass „die Ostgrenze Polens entlang der CurzonLinie verlaufen“ sollte und „Polen einen beträchtlichen Gebietszuwachs im Norden und Westen erhalten muss“. 133 Am 7. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht im französischen Reims, einen Tag später wurde diese Zeremonie für die Sowjetunion in BerlinKarlshorst wiederholt. 134 Der fast sechsjährige Zweite Weltkrieg hatte annähernd 60 Millionen Menschenleben gefordert. Mit der sogenannten 132 Die Konferenz von Jalta war das zweite von insgesamt drei alliierten Gipfeltreffen der „Großen Drei“ – ohne Frankreich – während des Zweiten Weltkriegs (1939–1945). Themen der Krim-Konferenz waren vor allem die Aufteilung Deutschlands, die Machtverteilung in Europa nach dem Ende des Krieges und der Krieg gegen das Japanische Kaiserreich. Deutschland wurde zunächst in drei, später dann in vier Besatzungszonen aufgeteilt. 133 Stalin war vor allem daran interessiert, die ost- und südosteuropäischen Länder als sowjetische Interessensphäre anerkennen zu lassen und die Ostgrenze Polens zugunsten der Sowjetunion auf die sogenannte Curzon-Linie (von Dünaburg über Brest nach Przemysl) festzusetzen. Unter der Voraussetzung, dass an einer provisorischen polnischen Regierung auch Nichtkommunisten und die Londoner Exilregierung beteiligt und freie demokratische Neuwahlen durchgeführt werden würden, stimmten Roosevelt und Churchill dieser Ostgrenze zu. 134 Vor seinem Selbstmord am 30. April 1945 in Berlin hatte Hitler Großadmiral Karl Dönitz zu seinem Nachfolger als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Reichspräsident bestimmt. Dönitz beauftragte Generaloberst Alfred Jodl, die Kapitulationsverhandlungen im amerikanischen Hauptquartier in Reims zu führen. Jodl unterzeichnete am 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation „aller am gegenwärtigen
Die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“
39
„Berliner Erklärung“ übernahmen die Siegermächte am 5. Juni 1945 die Regierungsgewalt für ganz Deutschland. 135 Zur Regelung der Deutschlandpolitik wurde ein Alliierter Kontrollrat eingerichtet, in dem die Oberbefehlshaber der vier Besatzungsmächte „für eine angemessene Einheitlichkeit“ ihres Vorgehens Sorge tragen und zugleich „im gegenseitigen Einvernehmen Entscheidungen über alle Deutschland als Ganzes betreffenden wesentlichen Fragen“ treffen wollten.
Die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“ Auf der „Potsdamer Konferenz“ am Rande Berlins bestimmten vom 17. Juli bis 2. August 1945 die Regierungschefs der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion die Besatzungszonen in Deutschland. Sie richteten sich in ihren jeweiligen Besatzungszonen ein, wie sie in den Konferenzen u. a. von Jalta festgelegt worden waren. Das erst später in den Kreis der Siegermächte aufgenommene Frankreich erhielt Teile der US-Zone sowie des britischen Sektors von Berlin als Besatzungszone bzw. in Berlin als „Sektor“ zugewiesen. Dazu wurden vier fundamentale Beschlüsse zur Behandlung des Kriegsverlierers Deutschland gefasst: Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung und Demontage. 136 Die Sowjetunion hatte bereits vor Kriegsende 1945 ein strategisches Ziel für die Zeit nach dem Krieg formuliert: Das sowjetische Kernland sollte Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte auf dem Lande, auf der See und in der Luft“. Vgl. Quelle: http://www. documentarchiv.de/ns/1945/kapitulation.html. 135 Berliner Erklärung; in Internet: www . documentarchiv . de / in / 1945 / niederlage deutschlands_erkl.html (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 136 Artikel IV, Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, Absatz 4–7: 4. In Ergänzung der Reparationen, die die UdSSR aus ihrer eigenen Besatzungszone erhält, wird die UdSSR zusätzlich aus den westlichen Zonen erhalten: a) 15 % derjenigen verwendungsfähigen und vollständigen industriellen Ausrüstung, vor allem der metallurgischen, chemischen und Maschinen erzeugenden Industrien, soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig und aus den westlichen Zonen Deutschlands zu entnehmen sind, im Austausch für einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln, Kohle, Kali, Zink, Holz, Tonprodukten, Petroleumprodukten und anderen Waren, nach Vereinbarung. b) 10 % derjenigen industriellen Ausrüstung, die für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig ist und aus den westlichen Zonen zu entnehmen und auf Reparationskonto an die Sowjetregierung zu übertragen ist ohne Bezahlung oder Gegenleistung irgendwelcher Art. Die Entnahmen der Ausrüstung, wie sie oben in a) und b) vorgesehen sind, sollen gleichzeitig erfolgen.
40
Kapitel 1
gegenüber dem überragenden „imperialistischen“ Gegenspieler USA abgeschirmt werden, und zwar durch direkte Annexionen des Baltikum und von Teilen Polens, dann durch einen „volks-demokratischen“ Gürtel und eine am weitesten westlich gelegene in der Gesellschaftsordnung auf einer Zwischenstufe zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu haltende Pufferzone. „Deutschland“ sollte als einheitlicher Staat erhalten bleiben. Dabei hatte bis zum März 1945 Stalin auf eine Aufteilung Deutschlands in mehrere Einzelstaaten gesetzt. Als er den Eindruck gewann, dass der Widerstand dagegen in den Reihen der Westmächte zu groß war, schaltete er auf die offene Propagierung eines einheitlichen Nachkriegsdeutschlands um. Eine führende Rolle bei seiner Verwirklichung sollte zunächst die KPD spielen, dann die aus der Zwangsvereinigung von KPD und SPD entstandene SED. Vom Sommer 1946 an suchte Stalin, die öffentliche Meinung in Deutschland gegen Widerstände und vermeintliche „feindliche Tendenzen“ bei den Westmächten zu mobilisieren. 137 Stalin wollte die Einheit Deutschlands bewahren, gleichzeitig damit seine Beziehungen zum Westen normalisieren und die „Sowjetzone“ stabilisieren. Der Preis war hoch: Das Ansehen der Sowjetunion verschlechterte sich in Westdeutschland und in West-Berlin dramatisch. Auch in der „SBZ“ wurde die sowjetische Herrschaft zunehmend abgelehnt. 138
5. Der Umfang der aus den westlichen Zonen zu entnehmenden Ausrüstung, der auf Reparationskonto geht, muss spätestens innerhalb sechs Monaten von jetzt ab bestimmt sein. 6. Die Entnahme der industriellen Ausrüstung soll so bald wie möglich beginnen und innerhalb von zwei Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt der in § 5 spezifizierten Bestimmung, abgeschlossen sein. Die Auslieferung der in § 4 a) genannten Produkte soll so schnell wie möglich beginnen, und zwar in durch Vereinbarung bedingten Teillieferungen seitens der Sowjetunion, und innerhalb von fünf Jahren von dem erwähnten Datum ab erfolgen. Die Bestimmung des Umfanges und der Art der industriellen Ausrüstung, die für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig ist und der Reparation unterliegt, soll durch den Kontrollrat gemäß den Richtlinien erfolgen, die von der alliierten Kontrollkommission für Reparationen, unter Beteiligung Frankreichs, festgelegt sind, wobei die endgültige Entscheidung durch den Kommandierenden der Zone getroffen wird, aus der die Ausrüstung entnommen werden soll. 7. Vor der Festlegung des Gesamtumfanges der der Entnahme unterworfenen Ausrüstung sollen Vorschuss Lieferungen solcher Ausrüstung erfolgen, die als zur Auslieferung verfügbar bestimmt werden in Übereinstimmung mit dem Verfahren, das im letzten Satz des § 6 vorgesehen ist. http://www.documentarchiv.de/in/1945/potsdamer-abkommen.html (Letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 137 In Internet: www.hsozkult.de/publicationre view / id / rezbuecher-5744 von: Band 1. 138 Laufer, Jochen P.; Kynin, Georgij P.: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949. Dokumente aus russischen Archiven, Band 4, Berlin 2012, S. XCVII.
Die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“
41
Faktisch entschieden, aber juristisch nicht endgültig geregelt, wurden in Potsdam die deutsch-polnische Grenze an der Linie Oder-Neiße und das Schicksal der ehemals deutschen Gebiete östlich davon, die zunächst den Status „polnisch verwaltete Gebiete“ erhielten. Die Siegermächte waren sich (noch) einig, die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu einer Friedenskonferenz zurückzustellen. 139 Einen Tag vor Gründung der DDR legte der sowjetische Außenminister Andrei Andrejewitsch Gromyko Stalin eine Erklärung vor, in der es hieß: „Die Sowjetregierung steht in der deutschen Frage nach wie vor auf dem Standpunkt des zwischen den USA, England, Frankreich 140 und der UdSSR geschlossenen Potsdamer Abkommens, da dieses Abkommen den Interessen aller demokratischen und friedliebenden Länder entspricht und dem deutschen Volk alle Möglichkeiten für die Wiederherstellung eines einigen demokratischen Deutschlands und für dessen weitere friedliche Entwicklung bietet. Die Sowjetregierung vertritt die Auffassung, dass die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage und der Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland eine notwendige Voraussetzung für die Herstellung eines festen und dauerhaften Friedens in Europa sind.“ 141 Unberücksichtigt blieb dabei, dass Frankreich eben – wie beschrieben – nicht zu den Unterzeichnern des Potsdamer Abkommens gehörte. Die Gründung der DDR wurde damit gerechtfertigt, dass der bereits am 23. Mai 1949 gebildete Staat „BRD“ die Potsdamer Beschlüsse verletze. Nur die „auf dem Boden des Potsdamer Abkommens gegründete DDR“ werde die Verpflichtungen aus den Viermächtebeschlüssen erfüllen, hieß es. Die DDR sollte also der „Garant“ für die anzustrebende deutsche Einheit sein – so die Erklärung vom 6. Oktober 1949 der sowjetischen Administration an die Vertreter des „Deutschen Volksrates“. Dieser wurde am 7. Oktober 1949 zur „Volkskammer“ umgewandelt. 142 Die DDR wurde zum „Herzstück des sowjetischen Sicherheitssystems“ und galt als der „treueste Verbündete der Sowjetunion“. 143Zunächst war die Deutschlandpolitik der Sowjetunion auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit ausgerichtet. Allerdings unter der immer gleichbleiben-
139 Potsdamer Protokoll, Artikel IX b; in Internet: www.documentarchiv.de/in/1945/ potsdamer-abkommen.html (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 140 Frankreich nahm an der Konferenz von Potsdam nicht teil, stimmte aber später den meisten Beschlüssen zu. 141 Laufer / Kynin: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949. Dok Nr. 166 vom 6. Oktober 1949, S. 486 ff. 142 Ebda., Dok Nr. 167, S. 491. 143 Zelikow / Rice, S. 27.
42
Kapitel 1
den Forderung der „Neutralität“ eines geeinten Deutschlands. 144 Konkret schlug Stalin in einer Note vom 10. März 1952 weiter vor, in Deutschland sollten sich die „demokratischen Parteien und Organisationen“ frei betätigen können. Deutschland sollte sich verpflichten, „keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat“. Das Territorium Deutschlands werde „durch die Grenzen bestimmt, die durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Großmächte festgelegt wurden“. Schließlich wollte Moskau Deutschland eigene nationale Streitkräfte zugestehen. 145 Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnte die Pläne ab, betonte allerdings in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 für die Bundesregierung, dass man sich „unter keinen Umständen mit einer von Sowjetrussland und Polen einseitig vorgenommenen Abtrennung dieser Gebiete abfinde“. Er werde „unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiterverfolgen“. 146 Ungeachtet dessen blieb die DDR bis zur Verfassungsänderung 1974 der deutschen Einheit – allerdings nur verbal – verpflichtet. Die Bundesrepublik weigerte sich konsequent, den Status quo anzuerkennen, der als Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden war. 147 Erst die 1969 an die Macht gelangte SPD/FDP-Bundesregierung Brandt/Scheel weichte diese Haltung mit den „Ost-Verträgen“ auf. Am 3. Juni 1972 traten Verträge mit Polen und der Sowjetunion, der Warschauer und der Moskauer Vertrag, in Kraft. Kurz davor, am 17. Mai 1972, hatte der Bundestag die Ratifizierungsgesetze zu beiden Verträgen abschließend beraten und ihnen – mit der Mehrheit der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bei fast ausnahmsloser Enthaltung der Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – zugestimmt. Die sozialliberale Koalition hatte damit die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze anerkannt, doch widersprach das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 1975: Die Bundesregierung sei „nicht befugt“, eine „Verfügung
144 Für alle Initiativen siehe „Stalin-Note“ vom 12. März 1952. Vgl. Zarusky, Jürgen: Die Stalin-Note vom 10. März 1952: Neue Quellen und Analysen. Göttingen 2010. 145 Sowjetischer Grundriss eines Friedensvertrages; in Internet: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=3082&language=german (letzter Zugriff: 4. 4. 2017). 146 Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag; in Internet: https://www.konrad-adenauer.de/quellen/erklaerungen/1949-09-20-regierungserklaerung (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 147 Bis zum Abschluss des 2 + 4-Vertrages wurde die Frage der endgültigen Grenzregelung zwischen Deutschland und Polen von Seiten der BRD offengehalten. Siehe dazu u. a. auch Küsters / Hoffmann: Deutsche Einheit, Dok Nr. 187, S. 842 ff: Kohl im Gespräch mit Mitterrand; Dok Nr. 89, S. 519 ff: Kohl im Gespräch mit Jaruzelski und Bemerkungen von Kohl in seinen Erinnerungen 1982–1990. S. 388 f
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
43
über den rechtlichen Status im Sinne einer friedensvertraglichen Regelung zu treffen“, und zwar mit „Rücksicht auf die Gesamtverantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes“. 148
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte Am 12. September 1990 gaben die Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und die USA all ihre Rechte über Deutschland als Ganzes auf. Im Parteihotel „Oktjabrskaja“ in Moskau erhielt Deutschland seine Souveränität zurück, wenn auch nicht mehr in den Grenzen des früheren Deutschen Reiches. Die „Vier Mächte“ und die beiden Staaten in Deutschland schlossen den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, den sogenannten 2 + 4-Vertrag, womit das Potsdamer Abkommen von 1945 unwirksam wurde. In diesem Vertrag 149 heißt es unter anderem, dass die Außengrenzen des künftig vereinten Deutschlands die Außengrenzen von bisheriger Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik sein sollten. Am 14. November 1990 bestätigten das „vereinte Deutschland und die Republik Polen (. . . ) die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag“ 150. Den ursprünglichen Wunsch nach einer ausdrücklichen Garantie der Grenze durch die „Vier Mächte“ gab der polnische Außenminister Krysztof Skubiszewski, der zu den Verhandlungen über die Grenzfrage im 2 + 4-Prozess hinzugezogen worden war, auf Wunsch der Bundesregierung auf. Für Außenminister Hans-Dietrich Genscher war die deutsch-polnische Grenze lediglich „eine bilaterale Angelegenheit“ zwischen Deutschland und Polen, bei der es keiner „Gewährleistung durch andere“ bedurfte. 151 Gleichwohl war die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Hinnahme der Gebietsverluste 1945 die zwingende Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung. An eine Vereinigung von BRD und DDR war noch zu Beginn des Jahres 1989 nicht zu denken. Gleichwohl hatten die Deutschen in Ost wie in 148 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. September 1990, Nr. 109, S. 1153–1156; Bundesverfassungsgericht 40/ 141 vom 17. 7. 1975; in Internet: www.servat.unibe.ch/dfr/bv040141.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2016). 149 Zwei+Vier-Vertrag; in Internet: http://www.documentarchiv.de/brd.html (letzter Zugriff: 4. 6. 2020).und Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. September 1990, Nr. 109, S. 1153–1156 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 134, 16. 11. 1990, S. 1394. 150 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 134, 16. 11. 1990, S. 1394 151 Genscher: Erinnerungen, S. 845 f.
44
Kapitel 1
West dieses Ziel nie aufgegeben. Zudem war die Wiedervereinigung als unverrückbares politisches Ziel in der Verfassung (Grundgesetz) des westdeutschen Staates festgeschrieben. 152 In der Präambel des Grundgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 1949 hieß es: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk (. . . ) um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. 153
In der Verfassung der DDR, Art. 1 lautete das Bekenntnis zur deutschen Einheit anfangs so: (1) Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf. (2) Die Republik entscheidet alle Angelegenheiten, die für den Bestand und die Entwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit wesentlich sind; alle übrigen Angelegenheiten werden von den Ländern selbständig entschieden. (. . . ) (4) Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit. 154
1967 wurde dies wie folgt geändert: (1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. 155
Dieser Anspruch war eine eindeutige Verletzung des Vier-Mächte-Status von Berlin. 1974 wurde Artikel 1 neu formuliert und lautete jetzt: Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt
152 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. 153 Wortlaut der Präambel des Grundgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 1949. 154 DDR-Verfassung von 1949; in Internet: www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1949. html (letzter Zugriff: 5. 6. 2016). 155 Die Verfassung der DDR im Wandel der Zeit; in Internet: www.ddr-museum. de/de/blog/archive/die-verfassung-der-ddr-im-wandel-der-zeit (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
45
und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. 156
Auch in der DDR-Hymne war ein Bekenntnis zur Wiedervereinigung enthalten, doch durfte der Text nicht mehr gesungen werden, nachdem sich die DDR-Führung vom Gedanken der Wiedervereinigung verabschiedet hatte. Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint. 157
Vers 2 der Hymne begann mit den Worten: Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. 158
Das Ziel der Vereinigung wurde zumindest in der Bundesrepublik jahrzehntelang offiziell nie aufgegeben, wenn auch Teile der SPD es nicht mehr verfolgten und allenfalls an eine Konföderation zweier gleichberechtigter Staaten in ferner Zukunft glaubten. Das belegen u. a. diese Aussagen: Der damalige Oppositionsführer der SPD von Niedersachsen und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte am 11. Mai 1989 im Landtag von Hannover: „Meine Position ist die, dass ich nicht glaube, dass das Beschwören einer Wiedervereinigung eine historische Chance für uns ist. Wir haben für solche Form der Wiedervereinigung keine Partner. Im Osten nicht, im Westen nicht, vor allen Dingen im Westen nicht.“ 159 Am 12. Juni 1989 erklärte er gegenüber der Tageszeitung „Bild“: „Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie
156 Die Verfassung der DDR im Wandel der Zeit; in Internet: www.ddr-museum.de/de/ blog/archive/die-verfassung-der-ddr-im-wandel-der-zeit. 157 Die Nationalhymne der DDR, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Auferstan den_aus_Ruinen. 158 Ebd. 159 Schlaglichter der deutschen Einheit. Eine kommentierte Chronik (1987–1990); in Internet: www.kas.de/upload/pub/dokumente/Schlaglichter_der_deutschen_Ein heit.pdf (letzter Zugriff: 2. 6. 2020).
46
Kapitel 1
nicht!“ 160 Oskar Lafontaine sagte als stellvertretender SPD-Vorsitzender am 18. Dezember 1989 beim Parteitag der Bundes-SPD in Berlin: „Wiedervereinigung? Welch historischer Schwachsinn!“ 161 Die Wiedervereinigung und die Ausrichtung der BRD nach Westen waren wichtige Elemente in der Politik Konrad Adenauers. Die Bundesrepublik Deutschland sollte, daran ließ er in seiner 14-jährigen Kanzlerschaft keinen Zweifel, in geistiger und kultureller Hinsicht unauflösbar mit dem Westen verbunden werden. Dadurch sollte jeder Versuch eines Bonner Alleingangs, beispielsweise eine „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West, ebenso ausgeschlossen werden wie die Schaffung eines wiedervereinigten, aber neutralisierten und von der Sowjetunion beeinflussten Deutschlands. Eine kontrollierte, vertraglich fixierte „Westbindung“ der Bundesrepublik sollte dazu beitragen, das nach wie vor bestehende deutsch-französische Misstrauen zu überwinden. Eine atlantisch-europäische Verankerung sollte der Bonner Politik Stetigkeit und Berechenbarkeit verschaffen, ihr eine „Politik der Stärke“ ermöglichen und zugleich der Gefahr eines neuerlichen deutschen Sonderwegs entgegenwirken. 162 De facto war die Wiederherstellung der deutschen Einheit diesen Zielen nachgeordnet. Die Bundesrepublik Deutschland bildete im Verständnis ihrer Bürger den durch freie Wahlen legitimierten und ökonomisch attraktiven deutschen „Kernstaat“. Er sollte auf die 17 Millionen Deutschen im sowjetischen Herrschaftsbereich eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben und so mittels einer „Magnetwirkung“ die Wiedervereinigung „in Frieden und Freiheit“ ermöglichen. 163 Diesem Ziel hatte im Übrigen bereits der amerikanische Marshall-Plan wenige Jahre nach Kriegsende gedient. Der nach dem US-Außenminister George C. Marshall benannte und am 5. Juni 1947 präsentierte Plan 164 sollte der Wirtschaft in Europa wieder auf die Beine helfen, die amerikanische Wirtschaft entlasten, aber auch die Ausbreitung des Kommunismus verhindern. Einzige Voraussetzung für die Teilnahme war, dass sich die europäischen Länder auf eine gemeinsame
160 Gerhard Schröder zur Einheit: „Die Wiedervereinigung ist eine Lebenslüge.“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 12. März 1987); Zitate unter: www.wallstreet-online. de/diskussion/500-beitraege/660752-1-500/gerhard-schroeder-zur-wiedervereini gung (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 161 Vorstand der SPD (Hg.), Protokoll vom SPD-Programm-Parteitag Berlin, 18.–20. Dezember 1989, Bonn o. J., S. 253 f. (Zitate S. 254). 162 Köhler, Henning: Adenauer. Eine politische Biographie, Bd. 2; Berlin 1997, S. 93 ff. 163 Grundzüge deutscher Außenpolitik 1949–1990; in Internet: www.bpb.de/izpb/7892/ grundzuege-deutscher-aussenpolitik-1949-1990?p=all (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 164 Einzelheiten über den Marshall-Plan, Planungen über Deutschland nach 1945; in Internet: Truman and the Marshall Plan. www.trumanlibrary.org/whistlestop/study_ collections/marshall/large/ (Letzter Zugriff: 4. 6. 2020).
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
47
wettbewerbsorientierte Wirtschaftsordnung verständigten. Auf der Marshall-Plan-Konferenz im Juli 1947 in Paris gingen 16 europäische Staaten darauf ein. Die ebenfalls eingeladenen osteuropäischen Länder nahmen unter dem Druck der UdSSR nicht teil. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher zielte in den Nachkriegsjahren auf den Aufbau eines demokratischen und sozialistischen Deutschlands in einem sozialistischen Europa bei entschiedener Abgrenzung gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung. Es müsste, und das war für Schumacher die wichtigste Voraussetzung, „ein von den Besatzungsmächten unabhängiges, national einheitliches Deutschland auf demokratischer und sozialistischer Grundlage geschaffen werden, da Europa nur als Vereinigung wirklich freier Völker vorstellbar sei. Zudem könne das Gleichgewichtssystem nie funktionieren, wenn nicht Deutschland als Ganzes in diese Ordnung eingebaut ist“. 165 Weil für Schumacher Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit des deutschen Volkes die zentralen politischen Ziele waren, stimmte er Adenauers Konzeption einer „Westbindung“ insofern zu, als diese es dem freien Teil Deutschlands ermöglichen sollte, das Herrschaftssystem in der SBZ zu überwinden. Durchgesetzt hat sich Adenauers Konzeption der „Westbindung“. Bereits Ende 1947 musste die „Brückenkonzeption“ infolge der Absetzung Jacob Kaisers – des Vorsitzenden der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone – durch die Sowjetische Militäradministration und angesichts des verschärften Ost-West-Gegensatzes als hinfällig gelten, während Schumachers SPD bei den ersten Wahlen zum Deutschen Bundestag der CDU Adenauers nur knapp unterlag. Das Inkrafttreten des Deutschlandvertrages war von Anfang an mit einer militärischen und sicherheitspolitischen West(ein)bindung der Bundesrepublik verknüpft. Ein erster Versuch, ein solches Bündnis zu schaffen, war die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Das Abkommen wurde von den Außenministern Frankreichs, Deutschlands, Italiens, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs im Mai 1952 unterzeichnet und war als ein in der Theorie supranationales, in der Praxis jedoch französisch dominiertes Verteidigungsbündnis konzipiert. Die Ratifizierung – und damit das Inkrafttreten des Deutschlandvertrages – scheiterte jedoch 1954 an der französischen Nationalversammlung. Sie war unter dem Eindruck des militärischen Debakels in den Kolonialgebieten Frankreichs in Indochina (Vietnam) und einer sich abzeichnenden außenpolitischen Wende in Moskau nach dem Tode Stalins 165 Buczylowski, Ulrich: Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951. Zeitpolitische Schriftenreihe 13, Stuttgart 1973, S. 35.
48
Kapitel 1
1953 nicht mehr gewillt, die militärische Souveränität der „Grande Nation“ preiszugeben. Nach dem Scheitern der EVG wurde von Briten und Amerikanern zügig eine Alternativlösung auf den Weg gebracht, welche die Einbindung der Bundesrepublik in die NATO vorsah. Dem Bündnis wurden alle Einheiten einer künftigen „Bundeswehr“ unterstellt. Diese alternative sicherheitspolitische Integration bei gleichzeitiger politischer Aufwertung der Bundesrepublik war das Ergebnis einer Konferenz der sechs EVG-Staaten, Großbritanniens, den USA und Kanadas in London vom 28. September bis 3. Oktober 1954, mit dem sich das Ende der Besatzungsherrschaft der drei Westmächte abzeichnete. Auch Frankreich stimmte einer Bonner NATOMitgliedschaft zu, nachdem es erreicht hatte, dass die Bundesrepublik, neben Italien, ebenfalls Mitglied der Westeuropäischen Union (WEU) wurde. Bei der WEU handelte es sich um eine Umbildung des 1948 von Frankreich, Großbritannien sowie den Benelux-Staaten geschlossenen „Brüsseler Paktes“, der ursprünglich gegen die Gefahr einer deutschen Aggression gegründet worden war und eine noch weitergehende Beistandsklausel im Verteidigungsfall besaß als der NATO-Vertrag. Die Bundesrepublik war, mit Beitritt zur WEU am 7. Mai 1955 und zur NATO zwei Tage später, definitiv und in doppelter – europäischer wie atlantischer – Hinsicht im westlichen Sicherheitsbündnis verankert. Zum selben Zeitpunkt wurde das Besatzungsstatut weitgehend aufgehoben. Es entstanden das Bundesministerium der Verteidigung und – damit verbunden – die Bundeswehr. Damit war ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Souveränität der Bonner Republik erreicht – wobei die Bundesrepublik in den „Pariser Verträgen“ zur NATO-Mitgliedschaft auf Herstellung und Besitz von ABC-Waffen verzichtete. Die Pressionen der SED gegen die eigene Bevölkerung – grundlegende Menschenrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Reisefreiheit wurden verwehrt, die Wirtschaft weitgehend zwangskollektiviert – führten dazu, dass bis Mitte 1961 ca. 3,5 Millionen Menschen aus dem Herrschaftsgebiet der SED flohen. 166 Um diesen Aderlass zu stoppen, errichtete ab dem 13. August 1961 das SED-Regime eine unüberwindbare Mauer, die den sowjetischen Sektor Berlins von denen der drei Westmächte abriegelte, und deklarierte ihn in zynischer Weise als „antifaschistischen Schutzwall“. In Berlin erreichte die innerstädtische Mauer eine Länge von 43,7 Kilometer. Hinzu kam eine 112,7 km lange Mauer um Berlin herum. 167 Darüber hinaus errichtete die DDR auf einer Länge von 166 Quelle; in Internet: www . chronikderwende . de / lexikon / glossar / glossar _ jsp / key=ddr-fl%25fcchtlinge.html (letzter Zugriff: 8. 8. 2016). 167 Hertle, Hans-Hermann: Die Berliner Mauer, Bonn 2007, S. 23.
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
49
1.378 km Sperranlagen zur BRD hin. Dies war nicht nur eine innerdeutsche Demarkationslinie, sondern auch die Schnittstelle zwischen Warschauer Pakt und NATO. Nach der Berlin-Krise 1960/61, die mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 ihren Höhepunkt erreichte, und ferner mit der Kuba-Krise 1962/63, die mit dem Abzug sowjetischer Raketen, von denen sich die USA bedroht fühlten, von der Insel beigelegt wurde, wandelte die NATO ihre Aufgabe und damit politischen Charakter. Jetzt ging es nicht allein nur um die „Verteidigung gegen einen Aggressor aus dem Osten“, sondern auch darum, durch Gespräche mit dem Gegner im Osten „die grundlegenden politischen Fragen zu lösen“. Dazu gehörte primär die Frage der militärischen Aufrüstung auf beiden Seiten. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung sollten sich ergänzen, um Europa und die Welt so sicherer zu machen. Der Weg zu Frieden und Stabilität in Europa beruhte vor allem auf dem konstruktiven Einsatz der Allianz im Interesse der Entspannung. Die Beteiligung der UdSSR und der Vereinigten Staaten war dazu unabdingbar. 168 Durch den Berliner Mauerbau vom 13. August 1961 und den Ausbau der innerdeutschen Grenze wurde der Gedanke an eine baldige „Wiedervereinigung“ von BRD und DDR praktisch aufgegeben. Die meisten Politiker und große Teile der Öffentlichkeit in Westdeutschland glaubten allenfalls an eine Wiedervereinigung in Folge eines Zusammenbruchs der DDR und setzten auf die wirtschaftliche und soziale Anziehungskraft der BRD und – wie Adenauer – auf eine Politik der Stärke. Diese Erwartungen waren, wie der Arbeiteraufstand vom 16./17. Juni 1953 in Ost-Berlin und zahlreichen Gemeinden innerhalb der DDR zeigte, nicht unberechtigt. 169 Sowjetische Soldaten und Volkspolizisten hatten damals 34 Demonstranten erschossen und den Aufstand blutig unterdrückt. 170 Hinzu kam Ende der Fünfzigerjahre eine ökonomische Krise, die eine wahre Fluchtbewegung in Richtung Westen auslöste. Die Deutschlandpolitik in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts bestand in beiden deutschen Staaten darin, sich jeweils als eigentlicher deutscher Kernstaat zu verstehen, die Legitimität des Kontrahenten zu bezweifeln und seine Stabilität zu untergraben. Die DDR stilisierte sich zum antifaschistischen Musterstaat, zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden – wie sie formulierte –, und prangerte angeblich 168 Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?, München 2008, S. 11–18. 169 Vgl. Koop, Volker: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, München 2003 sowie in Internet: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilungdeutsche-einheit/43646/deutschlandpolitik-der-brd. 170 17. Juni in Internet: http://www.17juni53.de/tote/ (letzter Zugriff: 17.12.16)
50
Kapitel 1
faschistische Kontinuitäten in der BRD an. Die BRD wiederum sprach der DDR die demokratische Legitimation ab und beanspruchte für sich, für alle Deutschen zu sprechen und beschloss die sogenannte HallsteinDoktrin. 171 Damit unterstrich sie ihren Alleinvertretungsanspruch. Hinzu kam, dass sich die BRD als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches betrachtete. Die führenden Repräsentanten der DDR, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, bemühten sich im Rahmen gesamtdeutscher Kontaktversuche erfolglos um die Aufwertung und Anerkennung ihres Staates. Am 17. Dezember 1970 sprach SED-Chef Ulbricht erstmals von zwei Nationen. 172 In der offiziellen Sprachregelung hieß es zunächst: Die DDR entwickelt sich zur sozialistischen Nation, während die BRD die überholte bürgerliche Nation verkörpert. Ab Ende 1970 sprach die DDR-Führung von zwei Staaten – zwei Nationen. 173 Nach dem zwischen beiden Staaten 1972 geschlossenen Grundlagenvertrag setzte sich die Staats- und Parteiführung der DDR, die die Einheit strikt ablehnte, immer mehr in Gegensatz zur eigenen Bevölkerung. Mit der Verfassungsänderung vom 7. Oktober 1974 wurden dann jegliche Hinweise auf „Wiedervereinigung“, „Einheit“ oder „deutsche Nation“ gestrichen. Die Übernahme der Regierungsverantwortung durch eine Koalition aus SPD und FDP im Oktober 1969 hatte die Wende in der Deutschlandpolitik der Bundesregierung eingeleitet. Bundeskanzler Willy Brandt erkannte erstmals die DDR an, wenn auch nicht in völkerrechtlich bindender Weise. Noch hielt er an der Einheit der deutschen Nation fest: „Auch, wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland.“ 174 Die sozialliberale Bundesregierung ging von den realen Verhältnissen in Deutschland aus, um diese schrittweise, wie Egon Bahr 175 es formuliert hatte, per „Wandel durch Annäherung“ zu verändern. Darunter verstand Bahr: „Nach den Theorien des Zurückrollens und Eindämmens nun die der Transformation. Gerade mal das erhalten zu wollen, was man hat, reiche als Perspektive nicht. Transformation nannte ich später ‚Wandel 171 Benannt nach dem westdeutschen Diplomaten und Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein. 172 Vgl. Grabowsky, Volker: Zwei-Nationen-Lehre oder Wiedervereinigung? Die Einstellung der Partei der Arbeit Koreas und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zur nationalen Frage ihrer Länder seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich, Bochum, 1987 S. 200 ff. 173 Vgl. ebda., S. 200. 174 Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung, 28. Oktober 1969; in Internet: https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/uploads/2017/08/Regierungser klaerung_Willy_Brandt_1969.pdf (letzter Zugriff: 1. 6. 2020). 175 Egon Bahr war engster Berater von Willy Brandt schon zu Beginn dessen politischer Karriere. Er entwarf die Leitlinien der neuen Ostpolitik unter dem Kernbegriff „Wandel durch Annäherung“ und setzte diese Politik später mit Bundeskanzler Willy Brandt um. Vgl. Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 155 ff.
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
51
durch Annäherung‘. Den ‚status quo‘ nicht bestreiten, sondern nutzen.“ 176 Dazu gehörte auch die Option auf eine Wiedervereinigung. Bahr erkannte: „Die Wiedervereinigung ist ein außenpolitisches Problem. Ihre Voraussetzungen sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen. Sie sind nicht in OstBerlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjetunion, nicht ohne sie.“ 177 Die DDR-Führung hingegen beharrte zunächst auf ihrer Maximalforderung nach einer völkerrechtlichen Anerkennung und ging erst auf Druck der Sowjetunion und nach Ablösung von SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht durch seinen Nachfolger Erich Honecker am 3. Mai 1971 auf Verhandlungs- und Kompromissbemühungen ein. Ein Ergebnis der neuen Politik war der am 21. Dezember 1972 geschlossene Grundlagenvertrag, der zum Fundament der Deutschlandpolitik in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde. In diesem Vertrag erkannten sich die beiden deutschen Staaten an, hielten aber an einem Sonderstatus der innerdeutschen Beziehungen fest. Sie strebten weitere vertragliche Regelungen auf den Gebieten von Wirtschaft, Verkehr, Umwelt und Kultur an. Große praktische Bedeutung hatten vor allem die Vereinbarungen über den in den Jahren des Kalten Krieges immer wieder neuralgischen Transitverkehr zwischen Westdeutschland und Berlin (West). Gleichzeitig bekräftigten beide Staaten in der Präambel des Grundlagenvertrages, dass sie in der Frage der Nation und der deutschen Staatsbürgerschaft (Staatsangehörigkeit) unterschiedlicher Auffassung waren. 178 Wörtlich wurde auf die „historischen Gegebenheiten“ hingewiesen und von den „unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“ gesprochen. 179 Die differierenden Ansichten machte Brandt am 26. September 1973 bei der ersten Rede eines deutschen Bundeskanzlers vor der UN-Generalversammlung in New York deutlich: „Ich spreche zu Ihnen als Deutscher und als Europäer. Genauer: Mein Volk lebt in zwei Staaten und hört doch nicht auf, sich als eine Nation zu verstehen.“ 180 Während der BRD insbesondere an den im Grundlagenvertrag avisierten Verbesserungen für die Menschen in der DDR gelegen war, stellte
176 Ebda, S. 149 ff. 177 Ebda, S. 156. 178 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik („Grundlagenvertrag“) vom 21. Dezember 1972; in Internet: www.documentarchiv.de/brd/grundlvertr.html (letzter Zugriff:12. 5. 2020). 179 Ebda. 180 Zwei Staaten – eine Nation; in Internet: www.vorwaerts.de/artikel/zwei-staatennation (12. 5. 2020).
52
Kapitel 1
die DDR die Verbesserung ihres internationalen Ansehens in den Vordergrund. 181 Die Bundesregierung hielt dagegen, insbesondere, nachdem Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler geworden war, am Einheitsgebot des Grundgesetzes fest. In seiner Tischrede am 7. September 1987 bei einem Abendessen zu Ehren von Honecker in der Redoute in Bonn-Bad Godesberg bekräftigte er: 182 Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht. Dieses Bestreben steht im Einklang mit dem Grundlagenvertrag und dem Brief zur deutschen Einheit. Wir haben dort auch den Gewaltverzicht bekräftigt. Auch dieser ist nicht allein Verfassungsgebot, sondern zentraler Bestandteil der Politik der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an. Krieg und Gewalt dürfen nie wieder Mittel deutscher Politik sein. Wir achten die bestehenden Grenzen, doch die Teilung wollen wir überwinden: auf dem Weg friedlicher Verständigung und in Freiheit. Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zurzeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte, und wir werden dazu auch das Einverständnis unserer Nachbarn brauchen. (. . . ) Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen, weil sie zusammengehören.
Erst mit dem Mauerfall am 9. November 1989 stand die Einheit Deutschlands wieder auf der Agenda der Tagespolitik. Da nach westlichem Denken nur ein Beitritt der DDR zur BRD denkbar und realistisch war, kam nach Ansicht von Experten die Vereinigung nur nach Artikel 23 GG oder Artikel 146 GG in Frage. Artikel 23 GG ging in der Fassung 1989 183 davon aus, dass andere Teile Deutschlands durch Beschluss dem Geltungsbereich des
181 Deutsche Teilung – Deutsche Einheit; in Internet: www.bpb.de/geschichte/deutscheeinheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43646/ deutschlandpolitik-der-brd (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 182 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Band 5, Bonn 1988, S. 194–199. 183 Art. 23 GG der Bundesrepublik Deutschland lautete vom Inkrafttreten bis zur Aufhebung durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23. 09. 1990 (BGBl II 885) wie folgt: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“. Vgl. Art. 23 alte Fassung in Maunz / Dürig / Scholz, 55. EL Januar 2009, GG 23 aF, beck-online.
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
53
Grundgesetzes beitreten könnten. Wenn aber die DDR als „eigenständiger Staat“ kein „anderer Teil“ Deutschlands 184 war, dann wäre der Weg über Artikel 23 versperrt und die beiden deutschen Staaten müssten den Weg zur Vereinigung über einen Vertrag gemäß Artikel 146 185 GG oder über eine Friedensvertrags-Konferenz gehen. Um diese Überlegungen verstehen zu können, musste die Frage beantwortet werden, wer überhaupt verfassungsrechtlich wirksam einen „Vereinigungsbeschluss“ herbeiführen konnte. Zu definieren war zunächst, wer „Deutscher“ im Sinne des Grundgesetzes ist. 186 Nach der DDR-Verfassung waren Einwohner der DDR nicht „Deutsche“, sondern „Staatsangehörige der DDR“. Demgegenüber lautet Art. 116 Absatz 1 GG: 1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in den Gebieten des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.
Die Bundesrepublik Deutschland hielt immer an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit) fest, sodass nach bundesdeutschem Recht auch DDR-Bürger deutsche Staatsangehörige waren. Auch die Verfassung der DDR von 1949 hatte noch und ausdrücklich nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gekannt. Am 20. Februar 1967 führte die DDR dann aber mit dem „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR“ eine eigene Staatsangehörigkeit ein, die alle Deutschen umfasste, die bei Gründung der DDR auf deren Territorium wohnten. Alle übrigen Deutschen konnten durch einfache melderechtliche Registrierung DDR-Bürger werden. Ein Antrag war nicht notwendig. Auch wenn die DDR damit formal eine eigene Staatsangehörigkeit schuf, behandelte sie staatsrechtlich alle Deutschen dennoch weiter einheitlich und grenzte sich nur zu Nicht-Deutschen ab. Mit der Wiedervereinigung 1990 gab es dann wieder ein einziges Staatsangehörigkeitsrecht. 187 Gemäß ihrer Rechtsauffassung betrachtete die Bundesregierung eine eigenständige DDR-Staatsbürgerschaft als nicht existent. DDR-Bürger galten ebenso wie Bundesbürger als „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ 184 Wie z. B. Österreich ein „eigenständiger Staat“ ist und daher nicht nach Artikel 23 Grundgesetz beitreten konnte. 185 Artikel 146 GG in der Fassung von 24. Mai 1949-29. September 1990: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ 186 Siehe auch oben. 187 In Internet: www.juraforum.de/lexikon/deutsche-staatsangehoerigkeit (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
54
Kapitel 1
(Art. 116 GG). Daran hielt die Bundesrepublik auch nach Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs fest. Die Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik erfolgte nie. Diese unterschiedlichen Auffassungen hatten im Übrigen zur Folge, dass es trotz vieler anderer bilateraler Abkommen und Vereinbarungen nie zu einem Rechtshilfeabkommen zwischen BRD und DDR kam. Das war die rechtliche Situation zur Zeit des Mauerfalls im Herbst 1989. Im Frühjahr 1989 waren es noch Denk- und Planspiele gewesen. Die USA hatten aber bereits erkannt, dass durch die sich abzeichnenden Veränderungen in Polen und Ungarn das gesamte bisherige System in Osteuropa einschließlich der Sowjetunion ins Wanken kommen würde. Der gerade ins Amt gewählte US-Präsident George Bush gab Studien in Arbeit, die sich mit den Folgen der Veränderungen beschäftigen sollten. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, also der staatlichen Vereinigung von DDR und BRD, 1990 kamen schnell Fragen und Gerüchte auf: Wurde die DDR vom Kreml für einige Milliarden DM/Dollars oder auch britische Pfund verkauft? Solche Gerüchte sind bis heute nicht verstummt. Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU 188 und Präsident der UdSSR, 189 bemerkte im „Spiegel“: 190 „Das ist alles Unsinn. Man hat mir berichtet, mein guter Bekannter Horst Teltschik habe gesagt, sie seien damals mit der Bereitschaft hergekommen, Gorbatschow die Summe von angeblich hundert Milliarden Mark anzubieten. Davon weiß ich nichts. Wenn sie das vorschlagen wollten, dann hätten sie es tun sollen – es schmückt sie nicht, so einen Vorschlag dann für sich zu behalten.“ In seinem Buch „Alles zu seiner Zeit“ schrieb Gorbatschow: „Bis heute wird mir vorgeworfen, ich hätte diese Länder ‚abgegeben‘. Nein, ich habe sie nicht abgegeben, sondern nur dem Volk dieser Länder überlassen. Hauptakteure der Wiedervereinigung Deutschlands war das Volk dieser Länder.“ 191 Wladimir Putin wiederholte in verschiedenen Formulierungen immer wieder gern diese Behauptung, 192 Gorbatschow sei über den Tisch gezogen worden, und zwar von den Amerikanern, Bush und seinem Außenminister Baker. Geholfen hätten ihm dabei zwei Deutsche: Kanzler 188 Von März 1985 bis August 1991. 189 Von März 1990 bis Dezember 1991. 190 Aust, Stefan; Mettke, Jörg R.; Batrak, Andreej: Interview Michail Gorbatschow: „Schön, ich gab die DDR weg“, in: Spiegel, Nr. 40/95, S. 66. 191 Gorbatschow, Michail, Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hamburg 2013, S. 400. 192 Wagner, Marie Katharina: Was versprach Genscher? in: FAZ, Nr. 16/2014, 19. April 2014, S. 5. Putin sagte: „Unsere Kollegen im Westen haben uns wiederholt angelogen, haben Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es bei der Ost-Erweiterung der Nato und dem Ausbau militärischer Einrichtungen an unseren Grenzen.“
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
55
Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Der Tauschhandel sei einfach gewesen: Für die deutsche Einheit sei Frieden, Zusammenarbeit und Partnerschaft versprochen worden. Vor allem jedoch sei ihm zugesichert worden, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen werde. An diesem Irrglauben hält Moskau bis heute fest. Man habe Russland 1990 während der 2 + 4-Verhandlungen zur Deutschen Einheit zugesagt, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde. Mithin seien die westlichen Alliierten und die Bundesrepublik mit jeder Neuaufnahme eines Bewerberstaates erneut wortbrüchig geworden. 193 Als am 4. April 1949 in Washington Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Island, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA den Nordatlantikpakt gründeten, war dies das erste transatlantische Militärbündnis seit der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg. 194 Der Abschluss dieses Vertrages, der zur „kollektiven Verteidigung“ diente, wurde mit der Gefahr einer „drohenden kommunistischen Aggression“ gegenüber den westlichen Ländern begründet. Die Aufgaben-Definition der NATO war damit eindeutig und klar: Die NATO sollte ihre Mitglieder vor einem erwarteten Angriff durch die Sowjetunion schützen. Dabei hatte der Artikel 5 des NATO-Vertrages grundlegende Bedeutung: Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen (. . . ) der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. (. . . ) Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten. 195
Das Hauptargument der NATO war, dass die Sowjetunion als die alles beherrschende Macht im „Warschauer Pakt“ danach strebte, mit allen 193 Vgl. auch Klussmann, Uwe; Schepp, Matthias; Wiegrefe, Klaus: Absurde Vorstellung, in: Spiegel, Nr. 48/2009, S. 46 ff. 194 Die Bundesrepublik Deutschland trat erst 1955 dem Bündnis bei. 195 Rechtliche Grundlagen des Nordatlantikpaktes; in Internet: https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de (letzter Zugriff: 6. 6. 2016); https://archive.is/8sUgG (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
56
Kapitel 1
Mitteln, auch denen der militärischen Gewalt, eine Erweiterung des kommunistischen Machtbereichs zu erreichen. 196 Damit waren alle Länder, die nicht dem „sozialistischen Lager“ angehörten, von Krieg oder einer ähnlichen Intervention bedroht. 197 Der „Kalte Krieg“ und der ständige Rüstungswettlauf waren die Folgen davon. Militärische Aufgabe der NATO war also die Verteidigung des Bündnisterritoriums gegen einen militärischen Überfall, und einzige Möglichkeit hierfür schien das Prinzip der Abschreckung zu sein. Unter dem Eindruck des Korea-Kriegs 1950 wurde die sogenannte „Vorwärtsstrategie“ entwickelt. Danach sollte jedem Angriff soweit östlich wie möglich bzw. so nahe wie möglich an der Grenze zur sowjetischen Einflusssphäre entgegengetreten werden. Abgesehen davon verstand sich die NATO nicht nur als Verteidigungsbündnis, sondern auch als eine Wertegemeinschaft. Die Sowjetunion sah dies naturgemäß anders und fühlte sich ihrerseits von Beginn an von der NATO bedroht. Das Verhältnis der NATO zur Sowjetunion verschlechterte sich zusehends. Die NATO beschloss daher 1952, 90 Divisionen bis 1954 aufzustellen. Bis dahin sollten der NATO 6.000 Flugzeuge zur Verfügung stehen. Am 5. Mai 1955 trat die Bundesrepublik Deutschland der NATO bei. Dadurch wurde der Verteidigungsraum der NATO wesentlich gen Osten ausgedehnt. Mit dem schon zuvor erfolgten Beitritt der Türkei und Griechenlands erstreckte sich jetzt der Verteidigungsraum von der Nord- und Ostsee entlang der Elbe bis in die Ägäis und bis zum Mittleren Osten. Mit dem deutschen Beitritt wurde der Verteidigungsraum direkt an die Grenze der Interessensphäre des ideologischen Gegners gelegt. Als Reaktion auf den deutschen NATO-Beitritt war unter Führung der Sowjetunion am 14. Mai 1955 das Militärbündnis der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten geschlossen worden. Kurz gefasst auch „Warschauer Vertrag Staaten“ oder auch „Warschauer Pakt“ genannt. In Artikel 4 des Gründungsvertrages verpflichteten sich die Bündnispartner, „im Falle eines bewaffneten Überfalles in Europa auf einen oder mehrere Teilnehmerstaaten des Vertrages“ 198 gegenseitigen militärischen Beistand zu leisten. Dabei erhielt die Sowjetunion im Vertrag eine dominierende Rolle: So stand das „Vereinte Oberkommando“ stets unter Befehl 196 Dies war eine Ableitung des Prinzips der „Weltrevolution“, das nach dem Sieg der Bolschewiken in Russland von Lenin und Trotzki entwickelt wurde. 197 Die Sowjetunion betrieb diese Interventionspolitik bis 1985 in allen Kontinenten, z. B. durch starke Unterstützung der kommunistischen Parteien in Lateinamerika und Afrika. „Stellvertreterkriege“ oder direkte Einflussnahme in Kuba, Nikaragua, Angola, Vietnam u. a. waren die Folge. 198 1955 gehörten dem Bündnis des „Warschauer Paktes“ neben der Sowjetunion Albanien, Bulgarien, die DDR, die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und die Sowjetunion an.
Das Ende der Vier-Mächte-Rechte
57
eines sowjetischen Marschalls, der gleichzeitig der erste Stellvertreter des sowjetischen Verteidigungsministers war. Das Vereinte Oberkommando ˇ führte sowjetische Streitkräfte in der CSSR, Polen, Ungarn und der DDR. Auch die Streitkräfte der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR 199 sowie die gesamte Luftverteidigung der Bündnispartner und die Flottenverbände in der Ostsee standen unter sowjetischem Kommando. Die erste Militärdoktrin des Warschauer Paktes wurde in der NATO als bedrohlich und aggressiv eingestuft. Bis Anfang der Achtzigerjahre gingen die militärischen Planungen des Warschauer Paktes davon aus, dass einer angenommenen Aggression der NATO mit einer offensiven militärischen Strategie begegnet werden müsse. Dabei sollte möglichst schnell die militärische Initiative durch strategische Angriffsoperationen ergriffen werden, bei denen der vermeintliche Aggressor – also die NATO – auf seinem eigenen Territorium vernichtend geschlagen werden sollte. Im Westen wurde die „offensive Verteidigung“ als aggressive Absicht wahrgenommen und mit einer Stärkung der Luftangriffsfähigkeiten der NATO beantwortet. Mit den Abrüstungsgesprächen hatte sich diese Strategie geändert. Auf beiden Seiten erkannten die Strategen, dass ein Krieg in Europa zwar denkbar, aber für beide Seiten nicht zu gewinnen war. So vollzog der Warschauer Pakt in mehreren Planungsschritten den Übergang zu einem defensiven Konzept der Verteidigung, reduzierte seine Angriffsfähigkeiten durch einseitige Abrüstungsmaßnahmen, beschränkte die Manöver auf Verteidigungshandlungen und richtete dann auch die Einsatzplanung ab dem Jahr 1988 ausschließlich auf eine Verteidigungsoperation aus, die im Falle eines Konflikts lediglich die Erreichung des „Status quo ante“ zum Ziel hatte. Diese strategische Umorientierung bildete exakt den Kern der neuen Militärdoktrin, die im Mai 1987 vom Politisch Beratenden Ausschuss der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages in Berlin beschlossen wurde. SED-Generalsekretär Erich Honecker erklärte sie kurz und knapp: „Kern der ausgearbeiteten Militärdoktrin ist die Friedenserhaltung und dazu die Reduzierung der Rüstung und Streitkräfte auf einen Stand, der die Verteidigungsfähigkeit gewährleistet und die Angriffsfähigkeit ausschließt“. 200 BRD und DDR waren in ihren jeweiligen Bündnissen hochgerüstet worden. Auf ihren Territorien standen starke Truppenverbände ihrer Bündnispartner: vornehmlich US-Truppen auf dem Gebiet der BRD und Truppen der Sowjetunion auf dem der DDR. In beiden Staaten waren
199 Der Befehlshaber der sowjetischen Truppen, mit Hauptquartier in Wünsdorf (DDR), übte die operative Kontrolle über die Streitkräfte der DDR und der in der DDR stationierten Truppen aus. 200 Neues Deutschland, Nr. 37/88 vom 13./14. Februar 1988, S. 3.
58
Kapitel 1
Atomwaffen stationiert. Die Politik der BRD war – wie beschrieben – stets auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gerichtet. Von der DDR wurde diese Politik als „revanchistisch und reaktionär“ eingestuft und als „Teil einer imperialistischen Eroberungspolitik“ betrachtet. 201 Umgekehrt wurde die DDR in West-Deutschland teils weiter als „Sowjetische Besatzungszone“ (SBZ) bezeichnet oder als „Vasallenstaat“ bzw. „Satellitenstaat“ der Sowjetunion. 202 Trotz aller ideologischen Gegensätze setzte sich – auch im Kreml – die Erkenntnis durch, dass es nach Jahren Kalten Krieges Zeit für eine weltweite Entspannungspolitik. war. Diese aber bedeutete stets auch Abrüstungspolitik. Die Führungsmacht der NATO, die USA, war legitimiert, mit der Sowjetunion entsprechende Verhandlungen einzuleiten. So wurde bereits am 20. Juni 1963 ein „Heißer Draht“ zwischen Moskau und Washington eingerichtet, um sich im „Notfall“ direkt und sofort verständigen zu können. Am 5. August 1963 einigte man sich über eine Beendigung der Kernwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Das war immerhin ein Beginn, aber unterirdische Versuche waren von der Vereinbarung nicht betroffen.
Beginn der Entspannungspolitik Der Anfang 1961 ins Amt gekommene 35. US-Präsident John F. Kennedy war zuversichtlich, dass die Sowjetunion weiter gesprächsbereit sein würde. So legte er am 10. Juni 1963 in einer Rede in der Universität von Washington eine „Strategie des Friedens“ vor. Darin sagte er: „Ein totaler Krieg ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem Großmächte umfassende und verhältnismäßig unverwundbare Atomstreitkräfte unterhalten können und sich weigern zu kapitulieren, ohne vorher auf diese Streitkräfte zurückgegriffen zu haben. Beide, wir als USA sowie die Sowjetunion, haben ein gemeinsames Interesse an einem gerechten und wirklichen Frieden.“ 203 Der damalige sowjetische Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, sah in dem Politikwechsel einen Erfolg für die Sowjetunion. „Die
201 Hoßfeld, Uwe: Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der FriedrichSchiller-Universität Jena (1945–1990), Köln 2007, S. 2083. 202 Sowjetische Besatzungszone; in Internet: http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl? Sowjetische_Besatzungszone (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 203 Rede von US-Präsident Kennedy; in Internet: www.jfklibrary.org/JFK/HistoricSpeeches/Multilingual-American-University-Commencement-Address/MultilingualAmerican-University-Commencement-Address-in-German.aspx (letzter Zugriff: 4. 6. 2020).
Beginn der Entspannungspolitik
59
Entspannungspolitik ist ein Triumph für die sozialistische Alternative, denn jetzt muss sich der Westen mit der Sowjetmacht arrangieren.“ 204 Enttäuscht zeigte sich der Westen jedoch darüber, dass die Sowjetunion ihre aktive Interventionspolitik (Afrika und vor allem der Einmarsch in Afghanistan 1979) fortsetzte, dass sie die Entspannungspolitik nur für ihren Vorteil nutzte, ansonsten aber weiter die Politik der Einmischung – auch der militärischen – verfolgte. Zudem begann die Sowjetunion mit einem großen neuen Aufrüstungsprogramm konventioneller Waffen. Die USA zogen nach und erhöhten unter Präsident Jimmy Carter massiv den Verteidigungshaushalt. Eine neue Aufrüstungswelle hatte begonnen. 205 Die USA blieben abwartend skeptisch. US-Präsident Reagan bezeichnete die Sowjetunion gar als „Reich des Bösen“. 206 Dennoch zeigten sich erste Erfolge der Entspannungspolitik. In Bonn setzte ab 1969 Kanzler Willy Brandt 207 auf sie und darauf, Misstrauen in Vertrauen umzuwandeln. Das neue Selbstverständnis der NATO hieß jetzt: Sicherheit gleich Verteidigung plus Entspannung. Die USA betrieben so zwischen 1969 und 1975 mit der Sowjetunion eine Politik, die in der strategischen Rüstungskontrolle gipfelte und im SALT-I-Vertrag 208 einen ersten Höhepunkt erreichte. Allerdings rüstete die Sowjetunion im Verlauf der Siebzigerjahre ihre Streitkräfte mit nuklearen Mittelstreckenraketen (SS-20) aus, wodurch die strategische Stabilität zwischen NATO und Warschauer Pakt hinsichtlich der bestehenden Interkontinentalraketen hätte unterlaufen werden können. Es wurde befürchtet, dass die USA auf einen mit SS-20 geführten sowjetischen Angriff unter Umständen nicht mit Interkontinentalraketen reagieren würden. In der Folge kam es im Dezember 1979 zum sogenannten „Doppelbeschluss“ der NATO. Er beinhaltete zum einen ein Abrüstungsangebot an die UdSSR, zum anderen – falls es
204 Neues Deutschland, Nr. 255/76 vom 26. Oktober 1976, S. 3. 205 Zelikow / Rice, S. 34. 206 Ronald Reagan verwendete den Begriff am 8. März 1983 vor einer Versammlung der radikal gläubigen „Evangelikalen“ in den USA. Im Wortlaut bei Helmig, Jan: Metaphern in geopolitischen Diskursen. Raumrepräsentationen in der Debatte um die amerikanische Raketenabwehr, Berlin 2008, S. 183. In Englisch / Wortlaut: C13322-21A, President Reagan addresses the Annual Convention of the National Association of Evangelicals („Evil Empire“ speech) in Orlando, Florida. 03/08/1983. Internet: https://www.politico.com/story/2018/03/08/this-day-in-politics-march8-1983-440258. Ronald Reagan verwendete den Begriff am 8. März 1983 vor einer Versammlung der radikal gläubigen „Evangelikalen“ in den USA. C13322-21A, President Reagan addresses the Annual Convention of the National Association of Evangelicals („Evil Empire“ speech) in Orlando, Florida. 03/08/1983. 207 1913–1992; Regierender Bürgermeister von Berlin 1957–66; Außenminister 1966–69; Bundeskanzler 1969–74; SPD-Parteichef 1964–87. 208 SALT = Strategic Arms Limitation Talks.
60
Kapitel 1
bis Ende 1983 zu keinem befriedigenden Verhandlungsergebnis käme – die Aufstellung von 108 Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörpern in Westeuropa. Als 1983 die Verhandlungen scheiterten, wurden die Raketen in Westeuropa mit Zielrichtung Osten aufgestellt. Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion gestaltete sich angesichts einer solchen Entwicklung bis zum Beginn der Ära Gorbatschow spannungsgeladen, ja „sehr kühl“. 209 Zwar hatte die Entspannungspolitik unter Bundeskanzler Brandt für atmosphärische Besserungen gesorgt, doch der immerwährende Gedanke an die „Wiedervereinigung“ stand einem besseren Verhältnis entgegen. Schon am 13. Juni 1986 hatte Gorbatschow im Politbüro erklärt: „Bei allen Treffen mit den Freunden (gemeint waren die Parteiführer der Warschauer-Pakt-Staaten) stimmt man allgemein darüber überein, dass es notwendig sei, mit der BRD zusammenzuarbeiten.“ 210 Es fällt auf, dass der Kreml-Chef und sein Außenminister Schewardnadse zunehmend von der „Vereinigung der beiden deutschen Staaten“ sprachen. So führte Schewardnadse in der Politbürositzung am 12. Februar 1987 aus: „Die Idee einer geeinten deutschen Nation lebt in der Psychologie und im Denken sogar der Kommunisten. Sie beginnen, mit den Westdeutschen anzubändeln. Sie kritisieren die BRD nicht. Und es geht hier nicht um wirtschaftliche Interessiertheit. Die Idee eines geeinten Deutschland erfordert eine ernsthafte, wissenschaftliche Untersuchung.“ 211 Der Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 6. bis 11. Juli 1987 in der Sowjetunion trug wesentlich dazu bei, sich kennen und auch besser verstehen zu lernen. Gorbatschow schloss in den Gesprächen mit von Weizsäcker eine „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten nicht aus, allerdings „nicht jetzt, sondern später: Man solle der Geschichte die Möglichkeit der Entwicklung geben“. 212 Im Anschluss an den Besuch wertete das Politbüro am 16. Juli 1987 die Gespräche aus. Gorbatschow stellte fest: „Die BRD ist das bedeutendste Land Westeuropas. Wir haben den richtigen Kurs eingeschlagen: sich an den Realitäten orientieren und sie ernsthaft analysieren. In Europa können wir vieles zustande bringen, wenn wir die gebotene Herangehensweise in den Beziehungen zur BRD finden – unter Einbeziehung auch des historischen Aspektes: sowohl Gegenwart als auch Zukunft. Ein Umbau der Beziehungen zur BRD könnte vieles in Europa verändern.“ 213 209 Galkin / Tschernjajew, S. 2, Anm. 12. Grund war die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses durch die Regierung Kohl / Genscher ab 1983. 210 Ebda., S. XXX (Vorwort). 211 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 12, S. 27. 212 Ebda., S. XXIX. 213 Ebda., Dok Nr. 17, S. 51.
Beginn der Entspannungspolitik
61
Am 29. Dezember 1987 war Franz-Josef Strauß, Ministerpräsident von Bayern, zu Gast in Moskau. Gorbatschow wiederholte gegenüber dem Bayern die Kernthese seiner Politik, die unter dem Begriff „Perestroika“ 214 zum Begriff wurde: „Jedes Land soll seinen Weg wählen, seine Staatsform, seine Religion, seine Ideologie, seinen Lebensentwurf. Es ist das souveräne Recht eines jeden Volkes, seine Wahl ohne Weisungen oder Zwang zu treffen.“ 215 In dem sehr offenen Gespräch fragte Gorbatschow Strauß, „ob die Regierung der BRD reif sei für neue Beziehungen“? 216 Strauß antwortet mit einer Gegenfrage: „Wie wird die Sowjetunion in zehn oder zwanzig Jahren als Resultat der Politik der Perestroika aussehen?“ 217 Gorbatschow antwortete nicht darauf, sondern erklärte ausführlich die jüngsten sowjetischen Beschlüsse in der Abrüstungspolitik. Schließlich sagte er: „Generell ist es nötig, dass beide Blöcke so handeln, dass sie über Kräfte verfügen, die nur zur Verteidigung, aber nicht für Angriffsaktionen ausreichen.“ 218 Zur „deutschen Frage“ meinte Gorbatschow gegenüber Strauß: „Das Reden über die offene deutsche Frage ist schon lange gegenstandslos geworden. Dieses ganze Gerede erregt Verdacht. Denn wenn es irgendjemandem in den Kopf kommt, dies zu realisieren, wie wird dann alles ausgehen?“ 219 Strauß antwortete: „Was die deutsche Einheit angeht, so muss man den großen Unterschied sehen zwischen den historisch entstandenen Fakten und den juristischen, den rechtlichen Positionen. Wir forcieren die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands nicht. Es können 10, 50 oder hundert Jahre vergehen. Aber wir wissen, dass sich der Schlüssel zur Lösung dieses Problems in Moskau und nicht in Washington befindet. (. . . ) Wir werden auch künftig an der Möglichkeit der deutschen Nation in beiden deutschen Staaten festhalten und dies als Aufgabe betrachten, die uns von der Geschichte auferlegt worden ist. In eben diesem Rahmen wird sich unsere ‚deutsche Politik‘ verwirklichen.“ 220 Bundeskanzler Helmut Kohl und Michail Gorbatschow trafen sich zum ersten Mal am 24. Oktober 1988 in Moskau. Ihr Verhältnis war bis dahin distanziert. Kohl hatte im Oktober 1986 in einem „Newsweek“-Interview über Gorbatschow gesagt: „Das ist ein moderner kommunistischer Führer, der war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber der versteht etwas von
214 Perestroika: russ. für „Umstrukturierung“; Reform zur Umgestaltung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Sowjetunion, u. a. Demokratisierung durch freie Wahlen und Lockerung der Planwirtschaft. 215 Ebda., Dok Nr. 19, S. 57. 216 Ebda., Dok Nr. 19, S. 63. 217 Ebda., S. 64. 218 Ebda., S. 66. 219 Ebda., S. 67. 220 Ebda., S. 68.
62
Kapitel 1
PR. Der Goebbels verstand auch etwas von PR. Man muss doch die Dinge auf den Punkt bringen!“ 221 Der sowjetische Botschafter am Rhein, Julij Kwizinski, legte sofort Protest im Bonner Kanzleramt gegen den Vergleich mit dem Nazi-Propagandaminister Goebbels ein. Moskau verlangte eine öffentliche Klarstellung. „Ohne diese“, so der Botschafter, seien „normale Beziehungen zur Regierung der Bundesrepublik unmöglich“. Die Sowjetunion werde zu „ernsthaften Konsequenzen“ gezwungen sein, wenn sich der deutsche Kanzler nicht in „persönlich klarer und überzeugender“ Weise „kategorisch“ von seinem Vergleich der Propaganda-Qualitäten Gorbatschows und Goebbels’ distanziere. 222 Hintergrund für die Bemerkung Kohls war der Gipfel zwischen US-Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavik am 12. Oktober 1986. Kohl, so der „Spiegel“, 223 sei es darum gegangen, Reagan kurz nach diesem Gipfel „daran zu erinnern, dass im Osten das Reich des Bösen sei“. Kohl habe Reagan mahnen wollen, nicht auf Moskauer Propagandatricks hereinzufallen, wenn Gorbatschow weitreichende Vorschläge zur Abrüstung unterbreite. Der Schaden war enorm. Die sowjetische Regierung fror Kontakte zur Bundesrepublik ein, sagte Besuche ab, lud Besucher aus. Kohl konnte das Eis erst mit einem persönlichen Besuch bei Gorbatschow zwei Jahre später, am 28. Oktober 1988, brechen. Kohl bemühte sich um Besserung der Stimmungslage. In seinen „Erinnerungen“ schrieb er:. „Für mich blieb Gorbatschow bei aller Reformrabulistik ein orthodoxer Kommunist. Außerdem sah ich in der sowjetischen Wirtschaftspolitik keine Verbesserungschancen. Ich hielt sie zunächst für unfähig, Reformen einzuleiten. Spätestens 1988 stellte ich fest, dass meine Einschätzung falsch war. Ich hatte Gorbatschows Fähigkeit und Kraft unterschätzt, eine Veränderung der sowjetischen Politik in die Wege zu leiten.“ 224 Jahrelang hatte die NATO mit den USA an der Spitze eine Politik der „Eindämmung“ (Containment) der Sowjetunion verfolgt. Wie bereits beschrieben, war es das Ziel, den Kommunismus und damit den Einfluss der UdSSR in der Welt einzudämmen. Die Sowjetunion dagegen war überzeugt, dass auf Dauer nur ein Gesellschaftssystem überleben könne. Da der 221 Helmut Kohl in einem Interview mit Newsweek im Oktober 1986 über Michail Gorbatschow und Joseph Goebbels; zitiert nach SPIEGEL ONLINE, 22. November 2010 und SPIEGEL 40, 46, 10. 11. 1986, S. 19. 222 „Eiskalter Mann“; in: Internet: www.spiegel.de/einestages/politiker-entgleisungena-946818.html (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 223 Ebda. 224 Kohl: Erinnerungen, 1982–1990, S. 441.
Beginn der Entspannungspolitik
63
„Sozialismus“ das bessere System sei, müsse der „Kapitalismus“ untergehen bzw. besiegt werden. Die massive Aufrüstungspolitik der Sowjetunion war eine Folge dieser Ideologie. Als Gorbatschow am 12. März 1985 an die Macht kam, entschied er sich für Kooperation und Rüstungsabbau. 225 Das hieß: Änderung der sowjetischen auswärtigen Politik. Er wollte nicht mehr mithalten im Wettlauf um immer mehr Rüstung. Gorbatschow gab das Diktat der „Weltrevolution“ 226 auf. Er rechnete am 10. März 1988 im Politbüro der KPdSU die Kosten vor, die der Sowjetunion für die Unterstützung des „sozialistischen Lagers“ einschließlich Kuba jährlich entstanden. Danach formulierte er: „Das Volk der Sowjetunion geht vor!“ In der englischen Übersetzung heißt es: „We have to take care of Sovietpeople first!“ Dann schloss Gorbatschow mit den Worten: „Im ökonomischen Sinne hat der Sozialismus den Praxistest nicht bestanden.“ Eduard Schewardnadse erklärte in einer seiner ersten Reden als Außenminister der UdSSR, nun gelte nicht mehr das „Ziel der Weltrevolution“, sondern das Konzept „der allgemein-menschlichen Werte“. 227 Am Ende der Reagan-Administration 1987/88 kam es zu Gesprächen der beiden Regierungschefs. Jetzt begann das Eis zwischen den Blöcken zu schmelzen. Gorbatschow gehörte zu den „Russen mit Rang“. Er begann mit einseitigen Abrüstungsschritten. Damit setzte er den Westen in Zugzwang. US-Außenminister Baker beschrieb das so: „Wir begannen, die Schlacht um die öffentliche Meinung zu verlieren. Wir mussten etwas unternehmen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Angesichts von Gorba225 Für Kanzler Kohl war das der Beginn einer neuen Politik. In einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ mit Siegmar Schelling und Heinz Vielain vom 27. 9. 1992, Nr. 39/92, S. 1, 25–27 sagte er: „Mir ist heute klar, dass der Ausgangspunkt für alles, was sich ab 1983 außen- und sicherheitspolitisch bis hin zur Deutschen Einheit ereignet hat, in dieser Grundentscheidung der Atlantischen Allianz gelegen hat. Wir haben der Sowjetunion, die nicht erst seit der Breschnew-Zeit eine Politik der Überrüstung und der Drohgebärde betrieb, unmissverständlich bedeutet, dass der Westen sich nicht in die Knie zwingen lässt. [. . . ] Von Michail Gorbatschow selbst weiß ich, dass er – nachdem die Breschnew-Nachfolger Andropow und Tschernenko auf der Stelle getreten waren – nach der Stationierung der Pershing-Raketen sehr bald erkannte, dass es zu einer Änderung der sowjetischen Außenpolitik kommen müsse. Das führte dann zu den Abrüstungsgesprächen mit dem Westen und – aus innen-ökonomischen Gründen – zur Perestroika und letztlich auch zur Chance, über die deutsche Einheit ernsthaft zu reden.“ 226 Das Prinzip der „Weltrevolution“ stammt von Karl Marx und Friedrich Engels, wurde von Lenin übernommen, von Stalin fortgeführt und von Chruschtschow revitalisiert. Der Kern lautete: Die revolutionäre Ablösung des Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft ist historisch notwendig und muss in Anbetracht des internationalen Charakters des Kapitals international durchgesetzt werden. Siehe Lenin, Wladimir I.: Werke, Bd. 21 „Die Oktoberrevolution als Auftakt zur Weltrevolution“ und Band 33. 227 Biermann, S. 50.
64
Kapitel 1
tschows Charme-Offensiven und der schwindenden sowjetischen Bedrohung wuchs nun die Gefahr, dass sich die NATO auflöste.“ 228 Bush entschied sich daher zu einer „offenen“ Politik gegenüber der Sowjetunion. Er stellte seine Europa- und Russlandpolitik unter das Motto: „Europa ungeteilt und frei“. Das hieß nichts anderes, als die Mauer in Berlin niederzureißen, die „Bruderstaaten“ der Sowjetunion aus der Umklammerung durch Moskau herauszuholen und Deutschland wiederzuvereinigen. In den USA war weder eine Reaktion noch eine Leitlinie auf die neue Außenpolitik aus Moskau formuliert worden. Die Außen- und Sicherheitspolitik unter US-Präsident Reagan und nach dem Genfer Treffen im November 1985 229 mit Michail Gorbatschow ließ keine signifikanten Veränderungen erkennen. Gorbatschow war enttäuscht. 230 „Statt sich mit unseren Ideen ernsthaft auseinanderzusetzen, gossen sie [die USA] noch Öl ins Feuer der ideologischen Auseinandersetzungen“. Der erneute Ausbruch der antikommunistischen Hysterie ging auch diesmal von Reagan aus, der wieder laut über das ‚Reich des Bösen‘ sinnierte. Man ließ nichts unversucht, unsere Initiativen in Misskredit zu bringen, sie als eine Utopie hinzustellen, nicht aber als ehrlich gemeinte Aufforderung zur Abrüstung anzusehen. Mit allen Mitteln sollte das „Phänomen Gorbatschow“ demontiert werden. „Kurz und gut. Die USA traten den Rückzug von Genf an“. 231 So sah es jedenfalls aus, doch die Realität war anders. Die lauten Worte von US-Präsident Reagan erwiesen sich häufig als Seifenblase. 232 „Seine Rhetorik war ungleich konservativer als seine Politik.“ 233 Mit den Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow von Genf 1985 234 und Reykjavik 1986 235 lernten sich die beiden Staatsmänner besser kennen. Während der Gespräche stellte Gorbatschow praktisch die gesamte sowjetische Militärdoktrin zur Disposition. Erst nach diesen Gipfeltreffen erkannten die USA, was Gorbatschow wirklich plante: Abrüstung auf beiden Seiten, Demokratisierung im Inneren und neue Sicherheitsstrukturen für das ganze Europa.
228 Baker, S. 86, 93. 229 Am 19. November 1985 trafen sich US-Präsident Reagan und Gorbatschow in Genf und leiteten erste Abrüstungsmaßnahmen ein. Es war die erste Begegnung seit 1979, als Präsident Jimmy Carter im Juni 1979 mit Leonid Breschnew in Wien zusammentraf. 230 Savranskaya, Svetlana: Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe, 1989, Budapest und New York 2010, S. 23. 231 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 588. 232 Zelikow / Rice, S. 47 233 Winkler, Heinrich-August: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014, S. 923. 234 19. November 1995. 235 11./12. Oktober 1986.
Beginn der Entspannungspolitik
65
Tatsächlich kam es nach und nach zu Abrüstungsabkommen zwischen den USA und der UdSSR. Moskau hatte Inspektionen zur Überprüfung der vereinbarten Abrüstungsmaßnahmen zugestimmt. Die Sowjetarmee war aus Afghanistan abgezogen. Sowohl die britische Premierministerin Margaret Thatcher wie der damalige US-Außenminister George P. Shultz meinten: „Der Kalte Krieg ist 1988 vorbei“ (Thatcher) „bis auf das Geschrei, das es immer noch gab.“ 236 Das sah George Bush, ab Januar 1989 Nachfolger von Reagan im Weißen Haus, ganz anders. Er formulierte: „Der Kalte Krieg ist erst zu Ende, wenn Europa ungeteilt und frei ist.“ 237 Drei Jahre hatte Gorbatschow gebraucht, um seine Reformpolitik zu konzipieren und außenpolitisch reifen zu lassen. Es war immer deutlicher geworden: Ohne Abrüstung, die nur mit den USA zu erreichen war, war die Sowjetunion wirtschaftlich am Ende. Die Hilfe des Westens aber war nur über den Weg der Abrüstung zu erreichen. Gorbatschow hatte von Lenin 238 diesen Grundsatz übernommen: Man muss sich von der Praxis leiten lassen. 239 Gorbatschow blieb „ideologiefest“ und handelte „praxisgerecht“ nach Lenin: Er passte sich der Lage an. Am 7. Dezember 1988 verblüffte Gorbatschow den Westen mit einer Rede von großer Offenheit. Der Kreml-Chef kündigte eine einseitige Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann an und Maßnahmen zur Verringerung des Offensivcharakters der sowjetischen Truppen in Osteuropa. Er wiederholte, dass die anderen sozialistischen Länder ihren eigenen Weg gehen könnten, ohne dass sich die Sowjetunion einmischen würde. 240 Verbunden war der Appell mit der Botschaft: „Lasst uns jetzt das gemeinsame Haus Europas bauen – ohne Ideologie und Feindschaft!“ 241 Damit waren die Kernpunkte der neuen sowjetischen Politik erstmals insgesamt formuliert und verkündet. Militär- bzw. Abrüstungspolitik waren nun mit politischen Initiativen verknüpft. Doch der Westen reagierte kaum. Die ersten Reaktionen auf Gorbatschows Ankündigungen waren verhalten positiv; die Ministertagung des Nordatlantikrats sprach von einem „positiven Beitrag“, die britische Premierministerin Margaret Thatcher von einem „wichtigen Schritt“. Ronald
236 Zelikow / Rice, S. 47. 237 Ebda., S. 53. 238 Lenin (1870–1924) war trotz schwerer Krankheit formal Regierungschef Russlands (1917–1924) und der Sowjetunion (1922–24) und ideologischer Begründer des Sowjetsystems. 239 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 303, 1133. 240 Rede von Michail Gorbatschow vor der 43. UNO-Generalversammlung am 7. Dezember 1988 in New York. In: Europa-Archiv. Zeitschrift für internationale Politik. Dokumente, 1/1989, D23-D38, S. 1–4. 241 Zelikow / Rice, S. 43.
66
Kapitel 1
Reagan, nannte den angekündigten Truppenabzug 242 in einer Rede vom gleichen Tage wichtig und bedeutungsvoll für die Geschichte, „wenn er sofort und vollständig durchgeführt wird“. Und Bundeskanzler Helmut Kohl ließ am 7. Dezember 1988 durch Regierungssprecher Friedhelm Ost erklären, die Ankündigung sei „ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“. 243 Gorbatschow war enttäuscht. Er hatte seine Rede als seine bedeutendste überhaupt gedacht. Aber die erhoffte Reaktion war ausgeblieben, obwohl er eine immense Vorleistung erbracht hatte. Die USA erkannten dies, mussten und wollten reagieren. Dazu jedoch musste auch die Außenpolitik der USA gegenüber der Sowjetunion grundlegend geändert werden. Dies war durchaus im Sinn des neuen US-Präsidenten George Bush. Er wollte nicht die Politik der „harten Hand“ gegenüber Moskau fortsetzen, 244 Er glaubte, „Reagan sei von geistig minderbemittelten Gangstern“ umgeben. 245 Bush hatte Gorbatschow bereits einige Male als Vize-Präsident unter Reagan getroffen, z. B. am 13. März 1985 in Moskau anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Generalsekretär Konstantin Tschernenko. Für seinen „Chef“ Präsident Reagan schrieb Bush dieses Memo: „Er ist sehr fest in seiner Meinung. Aber er kann und will mit uns über alles reden.“ 246 Und: „Gorbatschow ist ein ernsthafter Mann. Ich habe ein gutes Gefühl mit ihm.“ 247 1987 trafen sich Bush und Gorbatschow in Washington in der Botschaft der Sowjetunion. Bush versprach ihm, „als Präsident der USA ein neues Kapitel zwischen den beiden Ländern aufzuschlagen“. 248 Das nächste Mal sahen sich die beiden Staatsmänner in New York am 7. Dezember 1988. Bush war jetzt „gewählter US-Präsident – President elected“ 249, Gorbatschow auf dem Höhepunkt seiner weltweiten Popularität. Er hatte gerade seine Rede vor der UNO zur Abrüstung gehalten und war zum Abschiedsessen mit dem noch amtierenden Präsidenten Reagan gekommen. Für die Sowjets galt Reagan schon lange nicht mehr als „Kalter Krieger“. 250 Gorbatschow bedankte sich bei Reagan und hoffte nun auf den neuen 242 243 244 245 246 247 248 249 250
Auszüge von Gorbatschows Rede vom 7. Dezember 1988 im Anhang. Europa-Archiv, Dokumente 1989. Bush / Scowcroft, S. 3. Beschloss, Michael R. und Talbott, Strobe: Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989–1991, Düsseldorf, 1993, S. 7. Ebda., S. 4. Ebda., S. 5. Ebda. Die Amtszeit von Präsident Bush begann mit seiner Vereidigung am 20. Januar 1989. Ebda., S. 6.
Beginn der Entspannungspolitik
67
Präsidenten. „Er suchte den engen Kontakt zu mir“, so Bush nach dem Dinner. 251 Der neue Präsident beschloss, Gorbatschow zu helfen. Unmittelbar nach dem Treffen mit Gorbatschow wies er sein Team im Weißen Haus an, etwas „dramatisch Neues“ zu planen, um die Beziehungen zwischen Moskau und Washington deutlich aufzuwerten. 252 Der Hintergedanke war bei Bush allerdings ebenso klar formuliert: Er hoffte auf Entgegenkommen z. B. in der Rüstungskontrolle. Bush fürchtete, dass Gorbatschow die USA mit Initiativen überhäufen werde, da der KremlChef sich besonders in Europa größter Beliebtheit erfreute. An „Deutsche Einheit“ und NATO-Osterweiterung bzw. -ausdehnung war 1988 noch nicht zu denken. Aber was sich im Dezember 1988 in Washington zwischen den beiden Politikern abspielte, könnte 1990 bedeutsam gewesen sein. Bush war „sehr viel weniger misstrauisch“ 253 gegenüber Gorbatschow als seine eigenen Mitarbeiter. „Ich war fest davon überzeugt, dass dieser stolze Russe niemals von der Revolution Abstand nehmen würde, die er mit Perestroika in seinem Land und für sein Land entfacht hatte“, so Bush. „Ich fühlte, ich kann ihm vertrauen. Und ich denke, er fühlte auch, dass er mir, dass er uns, den USA, vertrauen kann. Ich mochte ihn einfach. (I liked him.)“ 254 Selbstkritisch schrieb Bush: „Wäre es anders gewesen, dann wäre möglicherweise die Vereinigung Deutschlands anders verlaufen.“ 255 Noch war das Thema „Wiedervereinigung“ nicht aktuell. Allerdings wurde immer deutlicher, dass Gorbatschow nicht nur seine Perestroika durchsetzen wollte, sondern auch unbeirrt an den Änderungen seiner Außen- und Sicherheitspolitik festhielt. Doch das „Gemeinsame Haus Europa“, das er bauen wollte, hatte noch kein sicheres Fundament. Denn diese Fragen waren weiterhin nicht geklärt: – Entlässt die Sowjetunion ihre „Bruderstaaten“? – Was geschieht mit NATO und Warschauer Pakt? – Welchen Status wird ein neues, vereintes Deutschland haben (dürfen)? Die politischen Strukturen in Europa waren noch unverändert. Weder Polen noch Ungarn 256 machten Anstalten, aus dem Warschauer Pakt aus-
251 Ebda., S. 7. 252 Ebda., S. 8. Im Wortlaut: „I wanted to come up with something dramatic to move the relationship with Moscow forward.“ 253 Ebda., S. 9. 254 Ebda. 255 Ebda. 256 Siehe dazu die Erinnerungen des damaligen ungarischen Außenministers Gyula Horn: Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 275 ff.
68
Kapitel 1
zutreten oder gar der NATO beizutreten. Der deutsche Bundeskanzler hielt sich mit Reden über die Einheit Deutschlands als kurzfristiges Ziel zurück. Das würde alle Nachbarn in West und Ost zu sehr irritieren, war die Befürchtung. Zudem war die NATO-Doktrin unverändert. Doch es gab Annäherungsversuche. Bush las in den Analysen seiner Berater, dass eine Neuordnung Europas mit unabhängigen Staaten und mit einem vereinten Deutschland die logische Folge der Idee vom „Gemeinsamen Haus Europa“ wäre. Für Bush war Mitte 1989 klar: „Der Westen muss Gorbatschow unterstützen, damit dieses ‚Haus Europa‘ gebaut wird.“ 257 Dann würden Mauer und Stacheldraht fallen und Europa sich unter dem Dach der USA und vor allem der NATO neu formieren. Davon musste Bush Gorbatschow überzeugen. Gorbatschow in Moskau hatte dagegen keine Idee, die auf Realpolitik basierte. Sein „Europa-Haus“ war eine Vision, deren Grundfesten noch nicht einmal gelegt waren. Er ging von dem „Traum“ aus, dass der „Sozialismus“ in der reformierten Form, wie er sie plante, eine derart große Anziehungskraft auf die Menschen haben würde, dass sie dieses reformierte System dem „kapitalistischen System“ vorziehen würden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Länder, die 1988 bis 1990 noch im Warschauer Pakt organisiert waren, den Pakt so schnell wie möglich verlassen wollten. Vor allem wollten die Menschen in diesen Ländern den „Sozialismus“ abschütteln. 1988 begann sich die innenpolitische Situation in der Sowjetunion dramatisch zu verschlechtern. Lebensmittel und andere Güter des täglichen Lebens wurden knapp, und Gorbatschow bat erst Bush, dann Kohl, schließlich die EU um Hilfe. Gegenleistung für die dringend erforderliche materielle Hilfe sollten nach Kohl ein unteilbares und freies Europa sowie die Einheit Deutschlands und Änderungen im NATO-Statut sein. Bundeskanzler Kohl sorgte am 22. August 1989 für Unruhe unter den Alliierten. Vor der Bundespressekonferenz, einer Einrichtung der wichtigsten Journalisten in der Bundeshauptstadt, erklärte er: „Die Entwicklung der letzten Wochen hat deutlich gemacht, dass die deutsche Frage – entgegen dem, was hier und da auch bei uns gesagt wird – nach wie vor auf der Tagesordnung der internationalen Politik steht.“ 258 Dem britischen Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby, erläuterte Kanzleramtsminister Rudolf Seiters am 24. Oktober 1989 die Haltung der Bundesregierung: „Im Vordergrund steht jetzt die Forderung nach Freiheit und Selbst-
257 Bush / Scowcroft, S. 154 ff. 258 Deutsche Einheit, Dok Nr. 66, Anm. 2, S. 463.
Beginn der Entspannungspolitik
69
bestimmung für alle Deutschen, eine Forderung, gegen die niemand etwas einwenden kann. Für uns ist naturgemäß damit verbunden, dass jeder Schritt zu mehr Freiheit in der DDR auch ein Schritt zur Überwindung der deutschen Teilung ist. Jetzt ist aber nicht die Zeit der Pläne.“ 259 Mit diesen Äußerungen des deutschen Ministers kam der Begriff „Selbstbestimmung“ ins Spiel. Das heißt: Die deutsche Einheit war in den Köpfen. Signalisiert wurde nun: Die Deutsche Frage ist mit den Geschicken Europas unlösbar verbunden. Die DDR-Führungsriege um SED-Generalsekretär Erich Honecker erkannte, dass Glasnost 260 und Perestroika zum Ende der DDR führen würden. Honecker selbst warnte Gorbatschow beim Treffen anlässlich des 40. Geburtstages der „Republik“ am 7. Oktober 1989 in Berlin vor den USA: „Die USA signalisieren Bereitschaft zur Hilfe, versuchen aber, die Sowjetunion zur Aufgabe sozialistischer Werte zu bewegen.“ 261 Der kurz darauf ins Amt gekommene neue Generalsekretär der SED, Egon Krenz, sagte in seinem Schlusswort auf der Tagung des Politbüros am 17. Oktober 1989: 262 „Ohne die Sowjetunion gibt es keine DDR. Wenn wir nicht sofort eine Wende in der Partei einleiten, kann es zu bürgerkriegsähnlichen Ausbrüchen kommen.“ 263 Gleichzeitig machte Krenz deutlich, dass er an der DDR als einem „souveränen Staat“ festhalten werde. 264 US-Außenminister Baker hielt tags zuvor, am 16. Oktober 1989, in New York vor der „Foreign Policy Association“ eine Rede, die Bezug auf die Entwicklungen in der DDR nahm. Er führte aus: „Das legitime Recht der Deutschen muss ihnen irgendwann zugestanden werden. (. . . ) Aussöhnung durch Selbstbestimmung kann nur in Frieden und Freiheit erzielt werden. Die Normalisierung muss auf der Grundlage westlicher Werte mit dem Endergebnis erfolgen, ein in der Gemeinschaft demokratischer europäischer Nationen integriertes Volk zu sein.“ 265 Horst Teltschik, zu dieser Zeit Kanzler Kohls wichtigster Denker und Berater in außenpolitischen Fragen, lobte die Rede, vor allem die Diktion. An Kanzler Kohl berichtete er: „Es ist der Ton, der darauf hindeutet, dass die vorsichtige bis deutliche Skepsis zu Anfang der Bush-Administration nunmehr einer entschlossenen, wenn auch weiterhin wachsamen Koope-
259 Ebda., Dok Nr. 66, S. 464. 260 Russisch: Offenheit, Transparenz. 261 Gespräch Honecker mit Gorbatschow am 7. Oktober 1989 in Berlin; in: Galkin / Tschernjajew: Dok Nr. 46, S. 189. 262 Einen Tag später, am 18. Oktober 1989 wurde Honecker gestürzt. 263 Krenz, Egon: Herbst ’89. Neues Leben, Berlin 1999, S. 117. 264 Ebda., S. 124 und 129. 265 Ebda., S. 466.
70
Kapitel 1
rationsbereitschaft zu weichen beginnt.“ 266 Zwar hatte Baker den Begriff der Selbstbestimmung ganz bewusst gewählt, doch vermisste der Kanzlerberater das Wort „Wiedervereinigung“. Aber „Selbstbestimmung“ hieß nichts anderes, als dass das deutsche Volk selbst darüber bestimmen sollte, in welcher Staatsform und in welchem Bündnis es künftig leben wollte. 267 Die US-Regierung analysierte die Geschehnisse in Osteuropa genauer als die Deutschen oder die anderen Bündnispartner in Europa. Sie erkannte, dass mit der Formel der „Selbstbestimmung“, die Gorbatschow jetzt ständig benutzte, das „sozialistische Lager“ ausgehebelt werden konnte. Aufmerksam registrierte das Führungsteam von Präsident Bush neue Akzente in den Erklärungen Gorbatschows und seiner Gefolgschaft über das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. 268 Sie kamen zu der Erkenntnis, dass der Kreml-Chef nicht mehr bereit war, um die weitere Existenz der Staaten des Ostblocks zu kämpfen, und schlussfolgerten, dass die Breschnew-Doktrin nicht mehr gültig war. 269 Damit war ein Eingreifen sowjetischer Truppen wie 1953 in Berlin, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei unwahrscheinlich geworden. Denn die „Breschnew Doktrin“ sagte nichts anderes aus, als dass die Sowjetunion jederzeit das Recht hatte, in jedem der Warschauer Pakt Staaten militärisch zu intervenieren, wenn es dort zu „konterrevolutionären“ Entwicklungen kommen sollte, die das gesamte System in Gefahr bringen würden. Nunmehr bekam die Parole „roll back“ einen Sinn. 270 Diese Anfang 1953 von US-Präsident Dwight D. Eisenhower und Außenminister John Foster Dulles verkündete Doktrin hatte nur ein Ziel: „Dem sowjetischen System das Herz herauszureißen.“ Vernon Walters, ab 24. April 1989 US-Botschafter in Bonn, lag genau auf dieser Linie. In einem Zeitungsinterview wurde er kurz vor seiner Berufung nach Bonn so zitiert: „Eine meiner Hauptaufgaben ist es, die letzte Ölung zu geben, bevor der Patient stirbt.“ 271 Walters war es auch, der gegenüber allen Gesprächspartnern 1989 die Wiedervereinigung Deutschlands voraussagte. Beispielhaft ist
266 Ebda., S. 467. 267 Das entsprach auch der Präambel im Grundgesetz: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Eine am 21. Januar 1990 veröffentlichte Umfrage zum Politbarometer des ZDF ergab: 74 Prozent der 1.016 Befragten waren für eine Wiedervereinigung. 268 Biermann, S. 85 ff. 269 Bush / Scowcroft: S. 14 ff und 114 ff. Die US-Administration analysierte jede außenpolitische Rede von Gorbatschow und kam zu dem Schluß: Ohne Aufgabe der Breschnew Doktrin sind keine Reformen in der Sowjetunion erfolgreich durchzuführen. 270 Unter dem Begriff „roll back“ wurde die Politik des „Zurückdrängens“ der Sowjetunion verstanden. Notfalls auch mit nuklearer Gewalt. 271 Wieland, Leo: Ein Globetrotter, in: FAZ, 10. Januar 1989, Nr. 8/89, S. 10.
Beginn der Entspannungspolitik
71
eine Schilderung von Egon Bahr, dem einstigen „Erfinder“ der Ostpolitik. Bahr schreibt in seinem Buch „Zu meiner Zeit“: „In unserem Gespräch Anfang 1989 verkündete Walters seinen Glauben, noch während seiner Botschafterzeit die deutsche Einheit zu erleben. Das werde wie eine Flut kommen; wer sich ihr entgegenstelle, werde fortgespült. Er war der einzige Mensch, den ich getroffen habe, der sie vorausgesehen hat.“ 272 Die CIA erwartete 1989 binnen weniger Monate eine völlige Umgestaltung in Ostdeutschland, die zu einer nichtkommunistischen Regierung und zu einer Entwicklung in Richtung Wiedervereinigung führen werde. Für US-Außenminister Baker lag zu dieser Zeit der Schlüssel für die weitere Entwicklung des Ostblocks in der DDR. Am 23. September 1989 reiste die britische Regierungschefin Margaret Thatcher nach Moskau. Die Ereignisse in der DDR beunruhigten sie zutiefst, fürchtete sie doch, sie würden zur Wiedervereinigung führen, an der London überhaupt nicht gelegen war. Es gehört zu den Absurditäten dieser Zeit, dass ausgerechnet Michail Gorbatschow der Regierungschefin helfen sollte, den Vereinigungsprozess in der DDR zu stoppen. Gorbatschows Vertrauter, sein persönlicher Referent und außenpolitischer Berater Anatolij Tschernjajew machte Notizen zum Gesprächsverlauf. Er horchte auf, als Thatcher auf einmal darum bat, ihre folgenden Worte nicht aufzuzeichnen. Denn sie sagte, klipp und klar: „Die Wiedervereinigung Deutschlands liegt nicht im Interesse Großbritanniens und Westeuropas. Es mag sich in unseren offiziellen Stellungnahmen anders anhören, aber das muss man nicht weiter ernst nehmen. Wir wollen kein wiedervereintes Deutschland. Es könnte unsere Sicherheit bedrohen.“ 273 Ausgerechnet die Sowjetunion sollte dem Westen also helfen, die Deutschen in Schach zu halten. Ausgerechnet die Sowjetunion – die der Westen im Kalten Krieg stets als Unterdrücker der DDR gegeißelt hatte! Bei all den Planspielen, die jetzt einsetzten, ließen die USA nie Zweifel darüber aufkommen, dass sie an der Präsenz der NATO in Europa festhalten würden. So sagte Bush-Beraterin Condoleezza Rice zu dieser Frage: „Die NATO war die treibende Kraft für den Frieden in Deutschland, der Anker Amerikas in Europa.“ 274 Für die Amerikaner war es daher unabdingbar, dass ein vereintes Deutschland der NATO angehören müsse. Für die USA waren Wiedervereinigung oder die Einheit Europas ohne eine 272 Bahr: Zu meiner Zeit; Walters, Vernon A.: Die Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres. Die Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters, Berlin 1994, S. 52. 273 Thatcher, S. 1102 ff. 274 Plato, Alexander von: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2003, S. 29.
72
Kapitel 1
NATO-Ausdehnung auf das Gebiet der früheren DDR unvorstellbar. 275 Vor allem aber dachte Washington in sehr viel kürzeren Zeitabläufen als alle anderen Regierungen. Die Bush-Regierung hatte schon seit Langem die Wiedervereinigung in einem veränderten Europa durchgespielt. 1989 war die Entsendung von Vernons Walters als neuem Botschafter am Rhein geradezu zwangsläufig. Denn der Ex-General und Geheimdienstmann galt als „Schlachtross des Kalten Krieges“. Condoleezza Rice formulierte die damalige US-Politik nun so: „Der Schlüssel unserer Politik 1989 war, Deutschland unter westlichen Bedingungen zu vereinigen und die Sowjetunion dazu zu bringen, das zu akzeptieren.“ 276 Kohl-Berater Horst Teltschik nannte zwei Säulen, auf denen die Wiedervereinigungspolitik gestützt war: „Die europäische Integration im engen Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich und das atlantische Bündnis in enger Beziehung zu den USA.“ 277 Bis zum 9. November 1989 waren Überlegungen zur Wiedervereinigung Deutschlands mehr oder weniger „Sandkastenspiele“. In Bonn und Washington – so scheint es – bereitete man sich zumindest halbherzig darauf vor, in Moskau war sie fernab jeder Überlegung und in London und Paris befasste man sich erst gar nicht mit solchen Gedankenspielen bzw. lehnte sie strikt ab. Aus Gorbatschows Idee des „Gemeinsamen Hauses Europa“ entwickelten die USA den Gedanken des „ungeteilten und freien Europa“. Dies war 1989 klar erkennbar. Es gab für die Analysten in Washington keinen Zweifel an einer solchen Entwicklung, vorausgesetzt, Gorbatschow konnte seinen Weg zu einer demokratisch reformierten Sowjetunion weitergehen. Unverrückbar waren diese Kriterien: Die NATO und damit das transatlantische Bündnis musste halten. Weder Neutralität noch Demilitarisierung einiger Staaten in Europa oder gar eines vereinten Deutschland kamen in Frage. Gorbatschow dürfte, darin sind sich alle Beobachter einig, dies realisiert haben. Je vehementer er sein „nein“ zur NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland formulierte, desto enger rückten die westlichen Partner zusammen. Daraus erwuchs ein Druck für den Mann im Kreml, dem er kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Wollte er selbst politisch überleben, musste er umdenken.
275 Ebda. 276 Ebda., S. 30. 277 Ebda., S. 33.
Kapitel 2 Die Überwindung der Teilung: Voraussetzungen – Alternativen 1988 waren Preiserhöhungen Anlass für eine Streikbewegung, die bald ganz Polen erfassen sollte. In Moskau hatte Gorbatschow den „Bruderstaaten“ inzwischen versichert, jedes Land könne seinen eigenen Weg gehen. Im Herbst 1988 kam es zu ersten Gesprächen der polnischen Regierung mit der seit sieben Jahren verbotenen Gewerkschaft „Solidarno´sc´“. 278 Im Frühjahr 1989 berieten Vertreter der kommunistischen Partei und der Opposition in Warschau über die Einführung demokratischer Freiheiten und eine Umgestaltung der Planwirtschaft. In den vom 6. Februar 1989 bis zum 5. April 1989 andauernden Verhandlungen am „Runden Tisch“ einigte man sich unter anderem auf folgende Reformen: Nach der Verfassung von 1952 hatte es seitdem kein Präsidentenamt gegeben. Nun sollte es wieder eingeführt und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden. Ferner sollte es eine zweite Parlamentskammer, den Senat, geben, der frei gewählt werden sollte. Die Abgeordneten für die erste Kammer, den Sejm, sollten zu 35 Prozent ebenfalls frei gewählt werden. Auf wirtschaftlicher Ebene waren die Anpassung der Löhne, die unter der Inflationsrate lagen, sowie eine Freigabe der Preise vorgesehen. Darüber hinaus war die Gewerkschaft „Solidarno´sc´“ ab dem 17. April wieder offiziell zugelassen. Mit diesen Beschlüssen war also ein entscheidender Schritt für einen friedlichen politischen Wandel Polens von einem kommunistischen Regime zu einem demokratischen Rechtsstaat getan. Der „Runde Tisch“ von Warschau sollte zu einem Symbol für die Umgestaltung Osteuropas werden. Bei den Wahlen vom 4. Juni 1989 kam das „Bürgerkomitee Solidarno´sc´“ auf 99 von 100 Sitzen im Senat, und im Abgeordnetenhaus (Sejm) errang es alle den unabhängigen Gruppen zugestandenen Mandate, was einem Anteil von 35 Prozent entsprach. Tadeusz Mazowiecki 279
278 Stichtag 17. April 2009 – Vor 20 Jahren: Gewerkschaft Solidarno´sc´ wird legalisiert; in Internet: www1.wdr.de / stichtag / stichtag4232.html (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). Solidarno´sc´, „Solidarität“, hieß die polnische Gewerkschaft, die 1980 aus der Streikbewegung in den Werften hervorging. Bereits am 31. August 1980 hatte die kommunistische Regierung Polens mit dem Streikführer und Arbeiter Lech Wałe˛sa in Danzig eine Vereinbarung getroffen, wonach die herrschende Partei PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) erstmals in einem kommunistischen Land unabhängige Gewerkschaften anerkannte, das Streikrecht und den Zugang zu den Massenmedien einräumte. (Siehe auch Anhang) 279 Tadeusz Mazowiecki (1924 bis 2013) polnischer Politiker, Journalist, Gründer des „Katholischen Klubs der Intelligenz“; Parlamentsabgeordneter der katholischen Partei (ZNAK); Chefredakteur der Zeitung „Solidarität“; 1981 von der polnischen
74
Kapitel 2
wurde im August 1989 nach über 40 Jahren erster nicht-kommunistischer Ministerpräsident Polens. Unter Mazowiecki wurde der Übergang zur Demokratie gefestigt, die Hyperinflation gebremst und ein rascher Übergang zur Marktwirtschaft eingeleitet. 1990 wurde Lech Wałe˛sa, Symbolfigur der Solidarno´sc´, in direkter Wahl polnischer Präsident. Ereignisse, mit denen vorher Analysten nicht gerechnet hatten, brachten nun die europäische Politik in Bewegung. US-Präsident Bush entschied sich in dieser Situation, aktiv in die Entwicklung einzugreifen. Er plante eine Reise nach Polen und Ungarn. Am 17. April 1989 bot er den Polen Hilfe an und erklärte: „Wir träumen von dem Tag, an dem es keine Schranken für die Bewegungsfreiheit von Menschen, Waren und Ideen mehr gibt.“ 280 Gorbatschow hatte Vorleistungen erbracht, die USA waren zunächst noch zögerlich gewesen. Bush gab nun die Parole aus: „We had work to do“ 281 – oder frei übersetzt: „Legen wir los, es gibt genug zu tun“. Am 8. März 1989 besprach Baker mit Bush die Lage in Osteuropa, ganz besonders in Polen und Ungarn. Weil sich alles so „schnell“ 282 dort entwickelte, schlug Bush eine Reise in diese beiden Länder vor. „Nicht um eine Revolution zu entfachen. Aber wir haben die Menschenrechte, Demokratie und Freiheit auf unserer Seite“, so Bush. 283 Unsicher waren beide Politiker weiterhin darüber, ob die Perestroika Bestand haben würde. „Beide – Gorbatschow und Schewardnadse – wollen die Perestroika so schnell wie möglich zu Ende bringen. Sie sind in größter Eile, empfinden starken Druck, haben jedoch keinen Plan. Sie suchen nach Ideen, nach Möglichkeiten; sie diskutieren, und legen sich krumm, um Initiativen zu finden“, so Baker zu Bush. 284 Beide gingen davon aus, dass Gorbatschow bald einen neuen „gewichtigen Vorschlag zum Rüstungsabbau“ machen werde. Doch beide wussten auch, dass die USA noch nicht in der Lage waren, darauf adäquat zu antworten. 285 Die USA hatten erkannt, dass mit der politischen Wende in Polen und Ungarn eine Veränderung in Osteuropa in Gang gekommen war, die
280 281 282 283 284 285
Militärregierung verhaftet; nach seiner aktiven Teilnahme an den Beratungen des Runden Tisches war er 1989/90 nach der Wende erster Premierminister. 1992 bis 1995 war er Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission in Bosnien. Amerika-Dienst, 19. April 1989; in Internet: https://amerikadienst.usembassy.de (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). Der „Amerika Dienst“ wird von der US-Botschaft als Mitteilungsblatt herausgegeben und ist im Internet abrufbar. Bush / Scowcroft, S. 45. Beschloss / Talbott, S. 124. Baker, S. 87. Ebda., S. 68. Ebda.
1989: US-Präsident in Polen und Ungarn
75
das gesamte bisherige kommunistische Herrschaftssystem zu Fall bringen könnte. Die Chancen waren groß, aber auch die Risiken. Wie z. B. würde die Sowjetunion darauf reagieren? Wie die anderen „Bruderstaaten“? Vor allem auch die DDR? Wie reagierte die NATO auf die Veränderungen?
1989: US-Präsident in Polen und Ungarn US-Präsident Bush besuchte vom 9. bis 11. Juli 1989 Polen und anschließend bis 13. Juli 1989 Ungarn. Noch hielt die Berliner Mauer, noch bestand die Sowjetunion und noch der „Warschauer Pakt“. Aber der US-Präsident zeigte Präsenz und damit Flagge. Er wollte demonstrieren, dass es den USA um „Veränderung“ im Sinne des Westens ging und nicht um Stabilisierung des „sozialistischen Systems“. Bush entwickelte in Warschau ein Sechs-Punkte-Programm, um den Polen bei der Sanierung ihrer Wirtschaft zu helfen. Der Präsident versprach, beim Pariser Weltwirtschaftsgipfel auf eine „konzertierte Aktion“ der reichen Industrienationen zugunsten Polens und Ungarns zu drängen und sich bei der Weltbank für eine Sofortanleihe Polens in Höhe von 325 Millionen Dollar einzusetzen. Angesichts dieses eher kärglichen HilfsProgramms bemühte sich Bush, den Polen klarzumachen, dass sie sich bei aller Hilfsbereitschaft des Westens letztlich nur selbst aus der Misere befreien können: „Die schweren Zeiten sind noch nicht zu Ende“, warnte Bush in Danzig, „aber den Polen ist harte Arbeit nicht fremd“. 286 Auch in Ungarn zeigte sich Bush eher zurückhaltend. Der US-Präsident wollte Gorbatschow nicht verärgern. Denn noch wusste niemand, ob sich die Reformpolitik in Ungarn und Polen durchsetzen würde und ob die Sowjetunion in persona Gorbatschow nicht doch noch intervenieren würde, denn dieser hatte die schlechten Ergebnisse der polnischen Wahlen für die Kommunisten nicht erwartet. Nach diesen Besuchen hatte Bush begriffen: In beiden Ländern ging der Prozess der Demokratisierung schnell voran, ebenso die Reform des Wirtschaftssystems war schnell und effizient. Dennoch war, wie erwähnt, die Finanzhilfe, die Bush beiden Ländern gewährte, gering und eher enttäuschend. 287 Über die Frage „Wie helfen wir den osteuropäischen Staaten auf dem Weg zur Demokratisierung und zur Loslösung von der Sowjetunion“ kam es zu einem heftigen Streit in Washington zwischen Präsident Bush und 286 Großer Führer, Spiegel vom 17. Juli 1989, Nr. 29/1989, S. 126 f. (Ohne Autorkennung). 287 Quelle: In Internet: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/the-presidentsnews-conference-helena-montana (letzter Zugriff: 4. 6. 2020).
76
Kapitel 2
seinen Beratern. 288 Die Positionen waren einfach zu beschreiben: Geben wir, also die USA, Geld, um somit Reformen überhaupt erst zu ermöglichen? Oder gibt der Westen erst dann Geld, wenn es zu sichtbaren Reformen gekommen ist? Zu entscheiden war auch, wer zunächst unterstützt werden sollte: Polen oder Ungarn? Präsident Bush folgte den Vorschlägen seines Sicherheitsberaters Brent Scowcroft und seines Außenministers Baker: Polen sollte massive Hilfe erhalten, um die Reformpolitik zu beschleunigen. Lediglich verbale Unterstützung würde nicht reichen, darüber waren sich die Beteiligten einig. „Wir müssen es einfach versuchen“, zeigte sich Bush nun entschlossen und verlangte konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen. 289 Die USA spielten im Frühjahr 1989 ein doppeltes Spiel: Reformkräfte in Osteuropa und in der UdSSR sollten gestärkt, die Sowjetunion damit gleichzeitig geschwächt werden. Da der Kreml die Reformpolitik in seinen „Bruderländern“ selbst unterstützte, schien die Gefahr gering, mit Moskau deswegen in Streit zu geraten. In der Sowjetunion gärte es derweil. Die von Gorbatschow geplanten Abrüstungsmaßnahmen stießen in der sowjetischen Armee auf Widerstand. 1988/89 zeigte sich, dass weder die politischen noch die wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion großen Erfolg hatten. Unmut macht sich breit. „Marktwirtschaft“ hieß auch die Einführung von Bankensystem, Börsen, Finanzzentren, mithin des bisher verfemten Kapitalismus. 290 Vor allem aber versagte die kommunistische Partei KPdSU Gorbatschow die Gefolgschaft. Sie war es gewohnt, Befehle zu empfangen und auszuführen. Jetzt sollten die Kader selbstständig entscheiden und waren damit massiv überfordert. Den Grund für das Scheitern früherer Versuche, das sowjetische Wirtschaftssystem zu reformieren, sah man nunmehr darin, dass sie nicht durch die Entwicklung und Erweiterung der Demokratie untermauert worden waren, dass alle Beschlüsse nur im engen Kreis gefasst, das Volk aber nie eingeschaltet worden war. Deshalb wurde auf dem ZK-Plenum am 27./28. Januar 1987 291 die ernsthafte, tiefergehende Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft als das wichtigste Thema in den Vordergrund geschoben. Gorbatschow: „Nur durch Demokratie und dank der Demokratie ist die Umgestaltung selbst möglich. Wir brauchen die Demokratie
288 289 290 291
Bush / Scowcroft, S. 49. Ebda., S. 49. Schachnasarow, S. 54. Vgl. Küsters, Hanns-Jürgen: Der Zerfall des Sowjetimperiums und Deutschlands Wiedervereinigung. The Decline of the Soviet Empire and Germany’s Reunification. Wien 2016. S. 122 ff.
1989: US-Präsident in Polen und Ungarn
77
wie die Luft zum Atmen.“ 292 Ein Jahr später, im Februar 1988, erklärte er auf der Plenartagung des ZK der KPdSU: „Wir stehen nunmehr vor der Notwendigkeit einer Umgestaltung unseres politischen Systems.“ 293 „Deshalb ist es durchaus natürlich, ich würde sagen, logisch, dass wir jetzt unser politisches System umgestalten müssen“. 294 Dagegen erhob sich Widerstand aus der Partei. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) schrieb kurz darauf in einem Kommentar: „Die Sowjetunion befindet sich im Vorzustand des inneren Aufruhrs.“ 295 Es kam nicht dazu. Im Gegenteil. Die 19. Unionsparteikonferenz begann am 28. Juni 1988. Aus dem Einleitungsreferat Gorbatschows ging nunmehr hervor, dass die grundlegende Reform des politischen Systems zur wichtigsten Garantie für die Unumkehrbarkeit der Perestroika avanciert war. Ausführlich begründete er die Notwendigkeit dieser Reform. Gorbatschow stellte an die Spitze seiner Vorschläge die „Menschenrechte“. Die „umfassende Bereicherung der Menschenrechte“ sei Endziel der Reform des politischen Systems. 296 Trotz dieser klaren Aussagen blieben die USA hinsichtlich des Reformprozesses in der Sowjetunion skeptisch. Allerdings waren sich die Berater von Präsident Bush auch einig darin: Je mehr sich Gorbatschow über den Reformprozess im Lande selbst kümmern muss, umso mehr hätten die USA „freie Hand“ bei der Unterstützung der Reform-Regierungen in Polen und Ungarn. Das drückte sich auch in den Gesprächen zwischen US-Außenminister Baker und seinem Amtskollegen in Moskau, Schewardnadse, am 10. Mai 1989 aus. Beide Politiker sprachen ausführlich über die Reformen in der Sowjetunion und Osteuropa. Schewardnadse erläuterte Baker umfangreich die Idee des „Gemeinsamen Europa-Hauses“: „Ausdrücklich sagte er mir, dass es die USA und Kanada einschließt. Europa kann nicht gespalten werden. Das war einer der schweren Fehler, den osteuropäische Führer gemacht haben.“ 297
292 Rede am 27. Januar 1987 in Moskau. Zit. n.: Perestroika; in Internet: http://www. general-anzeiger-bonn.de/news/politik/Perestroika-Vor-25-Jahren-hielt-Gorbatschow-seiner-Perestroika-Rede-article611117.html (letzter Zugriff: 12. 5. 2020) und Gorbatschow, Michail: Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei. Bericht und Schlusswort des Generalsekretärs des ZK der KPdSU auf dem Plenum am 27.–28. Januar 1987; vgl. Küsters, Zerfall. S. 122 ff. 293 Schachnasarow, S. 56 ff. 294 Küsters, Zerfall, S. 122 ff. 295 Maetzek, Ernst Otto: Heißer Sommer in Moskau, in: FAZ vom 6. April 1988, Nr. 80/88, S. 1. 296 Schweisfurth, Theodor: Perestroika durch Staatsrecht, in: Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht, 49/1989, S. 711; in Internet: www. zaoerv.de/49_1989/49_1989_4_a_711_777.pdf (letzter Zugriff: 8. 8. 2016). 297 Baker, S. 77.
78
Kapitel 2
Mit dieser Äußerung im Mai 1989 wurde der Grundgedanke der sowjetischen Führung offenbar. Europa darf nicht weiter gespalten bleiben. Das hieß aber auch: Deutschland kann und darf nicht weiter geteilt bleiben. Schewardnadse erläuterte zudem seine Gedanken über die künftige Gestalt Europas. „Unser neues Denken basiert auf einem fundamentalen Grundprinzip: Auf der Freiheit der Wahl. Jede Nation hat das Recht, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen oder das sozialpolitische System zu wählen, das sie für das beste hält. Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der Moskau Osteuropa dazu ermuntert hat, das sowjetische Modell zu übernehmen. Die Folgen waren nicht sehr positiv.“ 298 Der sowjetische Diplomat vertraute Baker an, dass die Lage in der Sowjetunion für Gorbatschow immer gefährlicher (precarious) wurde. James Baker sprach sich angesichts dieser Offenheit für amerikanische Hilfe zugunsten Moskaus aus. Der US-Außenminister war überzeugt, dass der Reformprozess in der Sowjetunion unter Gorbatschow auch zum Nutzen der ganzen übrigen Welt sei. Vor allem aber erkannte der US-Außenamtschef, dass Gorbatschow dabei war, die sozialistische Gesellschaft von Grund auf zu verändern, einschließlich der Außen- und Verteidigungspolitik. 299 Baker folgerte daraus: Wir haben jetzt die Chance, die Nachkriegszeit mit dem Kalten Krieg hinter uns zu lassen. Wir müssen jetzt herausfinden, wo sich die Interessen der Sowjetunion und der USA treffen, damit diese Welt sicherer wird. Wir wollen, dass die Perestroika Erfolg hat. Und die Perestroika kann nur Erfolg haben, wenn zwischen der sowjetischen Außenpolitik und der Reformpolitik eine unlösbare Verbindung besteht. Wir wollen aber auch den Erfolg der Perestroika, weil wir daran glauben, dass es am Ende eine sehr viel weniger aggressive Sowjetunion gegenüber der westlichen Demokratie geben wird als noch vor einiger Zeit. Ich bin daher überzeugt davon, dass eine Perestroika nur dann Erfolg haben kann und wird, wenn es mehr Bemühungen um eine freie Marktwirtschaft, freie Rede und unabhängige Institutionen geben wird. Das bedeutet eine größere demokratische Gesellschaft, eine größere Respektierung der Menschenrechte und der gesetzlichen Normen und mehr Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen. 300
Baker hatte zudem registriert, dass „der sowjetische Würgegriff auf Osteuropa durch die Perestroika ein wenig gelockert worden war. Das war im Interesse des Westens“. 301 Es war das erste Mal überhaupt, dass ein sowjetischer Politiker die Entwicklung der letzten 40 Jahre in Europa für „falsch“ erklärte. Damit war die 298 299 300 301
Ebda. Ebda. Baker, S. 65. Ebda.
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland
79
Denkweise der neuen Politik vorgezeichnet. Was immer in den osteuropäischen Staaten geschehen würde, die Sowjetunion würde es hinnehmen und nicht mehr einschreiten, was Schewardnadse gegenüber seinem US-Kollegen Baker ausdrücklich bekräftigte. Aus den Äußerungen von Schewardnadse lässt sich folgern: Auch ohne den Mauerfall hätte es die deutsche Einheit gegeben. Denn die Sowjetunion war nach seinen Worten dabei, allen osteuropäischen Staaten zuzugestehen, ihren Weg selbst zu wählen und zu gehen. Schewardnadse versicherte Baker, dass „sich die Sowjetunion durch die Perestroika in einen verlässlichen Partner des Westens verwandeln würde“. 302 Für die Ernsthaftigkeit dieser Absicht spricht auch dieses: In seinem Treffen mit Gorbatschow am 11. Mai 1989 gewann Baker das Gefühl, dass der Kreml dabei war, die USA in Fragen der Abrüstung zu überholen. „Wenn wir nicht mit einer kühnen Initiative beim kommenden NATO-Gipfel 303 aufwarten würden, riskieren wir, von Gorbatschow in den Hintergrund gedrängt zu werden.“ 304 Bush beschloss, in Brüssel „gute Vorschläge“ zur Abrüstung vorzulegen. 305
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland Gleichzeitig wurden in Washington vier wichtige Reden zu „Osteuropa, Sowjetunion und deutsche Einheit“ vorbereitet. Bush hielt am 17. April 1989 eine Rede in der City Hall von Hamtramck (Michigan). Dort lebten zahlreiche US-Bürger mit polnischen Wurzeln. „Es war der richtige Platz, um über die Freiheit für Polen zu sprechen“, entschied Bush-Berater Scowcroft. 306 Und es war der richtige Zeitpunkt. Denn am selben Tag wurde in Polen das Verbot der Solidarno´sc´ aufgehoben. Bush bot „Hilfe aus dem Westen gleichzeitig mit der Liberalisierung“ an. 307 Er sprach davon, dass es ohne Reformen keine demokratische Entwicklung geben könne, und kündigte Hilfen aus dem Westen an. Polen würde zudem ein Beispiel für andere Länder sein. Bush wollte die Sowjets nicht provozieren und hielt eine eher zurückhaltende Rede. 308 Dennoch gab er eine Reihe von Versprechungen 302 303 304 305 306 307
Ebda. 29./30. Mai 1989 in Brüssel. Baker, S. 84. Bush / Scowcroft, S. 43. Ebda., S. 48. Remarks to Citizens in Hamtramck, in: Amerika-Dienst, 19. April 1989, in Internet: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/remarks-citizens-hamtramck-michi gan und Amerika Dienst, 19. April 1989 (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 308 Zelikow / Rice, S. 54.
80
Kapitel 2
ab – zu viel, meinte Scowcroft. „Wir können das nicht einlösen“, sagte er seinem Präsidenten. 309 In der DDR und teilweise auch in der Sowjetunion wurde die Bush-Rede überwiegend negativ aufgenommen. Die Kommentatoren spürten, dass die USA dabei waren, sich aktiv in die Entwicklungen in ihren Ländern einzumischen. 310 Nur wenige Wochen später, am 12. Mai 1989, hielt Bush an der A & M University 311 in Texas unter dem Titel: „Einbindung statt Eindämmung“ erneut eine Rede zu Osteuropa. 312 Würde dieses Konzept aufgehen, so seine Überlegung, wäre das Ende des Kalten Krieges einschließlich der Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland unausweichlich. Damit folgte er Scowcrofts Empfehlungen. 313 In Texas formulierte Bush: Wir nähern uns dem Abschluss des historischen Nachkriegskampfes zwischen zwei Visionen. Tyrannei und Konflikt auf der einen, Demokratie und Freiheit auf der anderen Seite. Die Zeit ist gekommen, sich über die Eindämmung hinaus in die Richtung einer neuen Politik für die neunziger Jahre zu bewegen, einer Politik, die die volle Reichweite des Wandels in der Welt und in der Sowjetunion selbst anerkennt. 314
Bush bot der Sowjetunion an, sie in das „System freier Staaten aufzunehmen“ und sie dann „willkommen zu heißen in der freien Welt“. Doch müsse Moskau seine Ernsthaftigkeit erst unter Beweis stellen. Versprechungen seien nicht genug, Taten müssten folgen. Am 21. Mai 1989 befasste sich Bush an der Universität von Boston ein drittes Mal mit „Europa“. Er lobte Gorbatschow, warnte aber zugleich vor der noch immer „enormen Militärmacht“ der Sowjetunion. „Wir wollen echten Frieden“, so Bush, „keinen Frieden von bewaffneten Lagern.“ 315 Die vierte und abschließende Rede zu „Europa“ hielt der US-Präsident schließlich am 24. Mai 1989 vor der „Coast Guard Academy“ in New London. 316 Bush lobte die Erfolge der Reformregierungen und versprach
309 Ebda., S. 52. 310 Bush / Scowcroft, S. 53. 311 „Agriculture and University in College Station Texas“; vgl. Amerika-Dienst Nr. 20, 17. Mai 1989. 312 Bush: https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/may-12-1989commencement-address-texas-am-university(letzter Zugriff 17. 6. 2020) 313 Winkler, S. 968 und Bush / Scowcroft S. 53. Im Original heißt es: „Our objective would be to welcome the Soviet Union back into the world order, but Moscow would have to demonstrate its sincerity.“ 314 Winkler, S. 968. 315 Bush / Scowcroft, S. 55. 316 Bush, George: Remarks at the United States Coast Guard Academy Commencement Ceremony in New London, Connecticut; in Internet: https://www.presidency.ucsb.
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland
81
ihnen Hilfe beim Umbau ihrer Staaten. Vor allem aber sprach er vom Ende der kommunistischen Idee und dem Sieg der Demokratie. 317 Gorbatschow übte an den Reden seines amerikanischen Amtskollegen heftige Kritik und zeigte seinen Unmut kurz darauf bei seinem Staatsbesuch in der BRD. Gegenüber Kanzler Kohl erklärte er am 12. Juni 1989: „Diese Reden 318 sind weder realistisch noch konstruktiv. Bush spricht von Kräften der Freiheit, die die Sowjetunion verdrängen und den Status quo verändern werden. Osteuropa müsse geöffnet und der Sozialismus verdrängt werden. Demgegenüber reden wir in der Sowjetunion von der Notwendigkeit der De-Ideologisierung, vom Ausgleich der Interessen und von der unteilbaren Sicherheit.“ 319 Gorbatschow sah in den Reden von Bush keinen Unterschied zu den Reden seines Vorgängers Reagan. 320 Bush hatte die neue Strategie der US-Politik gegenüber der Sowjetunion formuliert. In jeder Rede ging er einen Schritt weiter. Er bot Osteuropa Hilfe an; pries die NATO als einen unentbehrlichen Partner, lobte die westliche Demokratie als das „Allheilmittel“ an und steuerte langsam auf die deutsche Vereinigung unter dem Dach einer reformierten NATO zu. So dienten die Reden auch der Vorbereitung auf den NATO-Gipfel im Mai 1989 in Brüssel. Hier sollte die NATO auf die veränderte Lage in Europa eingestimmt werden. Kurz zusammengefasst hieß das: „Die politische Strategie der NATO macht die Unterstützung größerer Freiheit im Osten zum Grundsatz der Bündnispolitik. Dementsprechend sollte die NATO Menschenrechte, Demokratie und Reformen in den osteuropäischen Staaten vorantreiben. Sie sind das beste Mittel, um eine Versöhnung zwischen Ost- und Westeuropa zu bewirken.“ 321 Wichtiger noch waren die Ausführungen und Appelle an die osteuropäischen Staaten sowie die Aussagen und Forderungen zur durch die Mauer in Berlin symbolisierten Teilung Deutschlands. Hier zeigte sich bereits, wie sehr die NATO-Führung an die möglichen Folgen von Perestroika für ganz Europa dachte. So hieß es in der NATO-Erklärung
317 318 319 320 321
edu/documents/remarks-the-united-states-coast-guard-academy-commencementceremony-new-london-connecticut (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). Text in deutscher Sprache – siehe Anhang. In Internet: chnm.gmu.edu/1989/archive/ files/gorbachev-kohl-7-12-89_a053addf1c.pdf. Gemeint sind die Reden vom 12. und 21. Mai 1989. Deutsche Einheit, Dok Nr. 2, S. 282. Ebda., Reagan hatte am 8. Juni 1982 zum „Kreuzzug für die Freiheit“ aufgerufen, an dessen Ende werden dann der „Marxismus-Leninismus auf dem Aschehaufen der Geschichte landen“. In: Amerika-Dienst, 14. Juni 1982 / Nr. 23. In Internet: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/Chapter1_Doc11Nato_ German.pdf (letzter Zugriff: 13. 7. 2016). Vgl. auch http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23554.htm?selectedLo cale=en (letzter Zugriff: 3. 6. 2016).
82
Kapitel 2
vom Mai 1989: „Wir wollen, dass die Mauern, die uns trennen, abgerissen werden. Wir fordern freien Austausch von Personen, Informationen und Ideen. Wir fordern das Recht für jeden Bürger, sein Land frei verlassen zu können. Wir fordern, dass jedes Land selbst entscheiden soll, wie es und in welchem System es leben will.“ 322 Diese Erklärung war die erste der NATO, in der von der Einheit Europas und Deutschlands die Rede war und sie markierte den Beginn der auf Einheit gerichteten Politik, 323 auch wenn die meisten Politiker in der BRD und in West-Europa dies noch weit von sich wiesen. 324 Dennoch fragte Bush am 21. Mai 1989 seinen Gast, Frankreichs Präsidenten François Mitterrand, was „er denn von einer möglichen Wiedervereinigung halte“. Dieser antwortete: „Wenn das deutsche Volk es will, stehe ich dem nicht entgegen. Aber ich sehe das erst in weiter Zukunft.“ 325 Paris war das Ziel von Bush nach seinem Besuch in Polen und Ungarn. Dabei sprach Bush anerkennend über das „Thema der Reformen“ in Polen und Ungarn und lobte dabei Gorbatschow, „ohne den es das nicht gäbe“. 326 Frankreich feierte den 200. Jahrestag der Revolution, gleichzeitig tagte der G7-Gipfel. Bush, der gerade vor 24 Stunden aus Osteuropa gekommen und von den Entwicklungen dort sehr beeindruckt war, über Gorbatschow: „Was dort vorgeht, ist so bemerkenswert, dass ein informelles Treffen mit Gorbatschow vielleicht eine ganz gute Idee ist“, so der US-Präsident. „Besser, wir unterhalten uns von Mann zu Mann, als ständig Vorschläge, Reden und Briefe hin und her zu schicken. Ich will ihm gegenübersitzen, ihm ins Gesicht sehen und ein Gefühl dafür bekommen, ob wir uns tatsächlich verstehen.“ Während des Rückflugs nach Washington am 18. Juli 1989 verlangte Bush das Briefpapier des Weißen Hauses und schrieb eigenhändig eine Einladung an Gorbatschow, sich mit ihm bereits vor ihrem ersten offiziellen Gipfel, der für 1990 ins Auge gefasst war, zu treffen; eine private Begegnung würde ihnen Gelegenheit geben, über den rapiden Wandel in der Welt, insbesondere in Europa, zu sprechen. Wie es hieß, war Gorbatschow sehr erfreut über diese Einladung. 327
322 In Internet: http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23554.htm?selectedLocale=en. Diese Passage aus dem NATO – Kommuniqué findet sich dann sinngemäß wieder im Zehn-Punkte-Programm von Kanzler Kohl am 28. November 1989 (letzter Zugriff: 4. 12. 2016). Vgl. Plato, S. 28. 323 Plato, S. 29. 324 Ebda., S. 26. 325 Bush / Scowcroft, S. 78. 326 Beschloss / Talbott, S. 122 ff. 327 Ebda.
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland
83
Bush war jetzt zwar sechs Monate im Amt, doch sein anfängliches Misstrauen gegenüber Gorbatschow hatte sich noch immer nicht ganz gelegt. Gegenüber seinen Mitarbeitern warnte er immer wieder: „Wir müssen vorsichtig sein“, doch von einer „Pause“ sprach auch Bush nicht mehr. Misstrauen gab es weiterhin auf allen Seiten. Gorbatschow registrierte das zögerliche Verhalten von Bush, war aber auch selbst der US-Politik gegenüber misstrauisch. Kanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker zeigten sich ebenfalls zurückhaltend, wenn es um die neue Strategie der USA in Richtung Osteuropa und vor allem um die deutsche Einheit ging. Die Mehrzahl der deutschen Politiker sahen sie in weiter Zukunft und bevorzugten eine „Entspannungspolitik“ gegenüber einer „versöhnlichen“ Politik. 328 Moskau dagegen sah sehr wohl, in welcher Weise sich die USA bereits in Osteuropa engagierten, und man betrachtete die neue strategische Ausrichtung durchaus als gegen die Sowjetunion gerichtet. Kanzler Kohl, dem dies nicht entging, versuchte daher, anders als US-Präsident Bush, beim Thema „Deutsche Einheit“ möglichst Zurückhaltung zu üben. Er wollte Gorbatschow auf keinen Fall verärgern. Eine gute Nachbarschaft strebte er an, ohne erneute Spannung. 329 Nach den Reden in Polen und Ungarn war Bush, wie erwähnt, nach Paris zum G7-Gipfel geflogen, 330 der 1989 unter dem Motto „Ost-Europa“ stand. In seinem Denken formte sich jetzt ein „neues Europa.“ 331 Gorbatschow hatte Mitterrand per Brief gebeten, teilnehmen zu dürfen. Er wollte präsent sein und gleichzeitig um Hilfe und Unterstützung für seine Politik bitten. Bush hielt das noch für zu früh, 332 wollte Gorbatschow aber „privat“ treffen. 333 Er war überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt hierfür gekommen sei. Das folgerte er daraus, dass die neue US-Strategie gegenüber Ost-Europa mit den vier Reden und den beiden Reisen nach Ungarn und Polen erfolgreich gestartet worden war und er jetzt mit Gorbatschow reden müsste, damit nicht „Misskalkulation“ über die Absichten der USA entsteht. Die Politik sollte jetzt „choreografiert“ werden, so Bush. 334 Er hatte die rasanten Entwicklungen in Polen und Ungarn gesehen und fragte sich nun, 328 Plato, S. 50. 329 Vgl. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 999 ff. 330 G7-Staaten. Die sieben führenden Industrienationen der Welt (USA, Deutschland, Japan, Frankreich, Italien, Großbritannien und Kanada), deren Staats- und Regierungschefs sich seit 1975 zum jährlich stattfindenden Weltwirtschaftsgipfel treffen. 331 Bush / Scowcroft, S. 126. 332 Ebda., S. 129. Russland wurde erst 2001 als 8. Mitglied aufgenommen, nach Annexion der Krim 2014 wieder ausgeschlossen. 333 Ebda. 334 Ebda.
84
Kapitel 2
welche Freiheiten Moskau seinen Satellitenstaaten einräumen würde. Er musste sich eingestehen, hierauf keine Antwort zu wissen. „Die Gefahr von einem weiteren Tiananmen-Massaker 335 war immer noch gegeben,“ glaubte Bush. 336 Deswegen wollte er jetzt den Kreml-Chef treffen und schlug hierfür Camp David 337 vor. „Ich möchte Sie gern auch persönlich besser kennenlernen“, schrieb er Gorbatschow. 338 Die Zusage kam wenige Tage später. „Ja, ich komme.“ 339 Im Dezember 1989 sollte die Begegnung zwar nicht in Camp David, aber in Malta stattfinden. Baker bemerkte zu diesem Treffen: „Nach vielen internen Diskussionen waren Präsident Bush und ich der Meinung, wir sollten uns nun mit Gorbatschow und Schewardnadse treffen. Diese beiden meinten es ernst mit Reformen, wir können und sollten mit ihnen zusammenarbeiten und wir sollten sie in ihrer Reformpolitik Glasnost und Perestroika unterstützen. In Malta wurde die Basis für die gute Beziehung zwischen Bush und Gorbatschow gelegt. Eine Zusammenarbeit, die auf Vertrauen basierte. Die beiden wurden richtige Freunde.“ 340 Am 25. August 1989 trafen sich Kanzler Kohl und Außenminister Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh 341 und seinem Außenamtschef Gyula Horn. 342 Németh berichtete dem Kanzler über die Entwicklung innerhalb der kommunistischen Partei Ungarns. Es sei die Taktik der Oppositionsparteien, die Kommunisten und ihre Unga335 Am 3. und 4. Juni 1989 hatte die chinesische Führung Demonstrationen gewaltsam niederschlagen lassen. Mehrere Tausend Menschen wurden getötet. Für das Massaker steht fälschlicherweise der Platz des Himmlischen Friedens. Es wurde in den Nebenstraßen verübt, nachdem die Armee die Demonstranten vom Platz verdrängt hatte. 336 Bush / Scowcroft, S. 131. Andererseits erklärt ihm der frühere Präsidentenberater unter Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, die Gefahr sei eher gering, weil in China die Protestbewegung von den Studenten gegen die Partei und die Regierung ausging, in der Sowjetunion aber die Reformbewegung von der Partei selbst in Gang gesetzt wurde. Die Partei, mithin Gorbatschow selbst, habe – anders als in China – ein Interesse daran, die Reform umzusetzen. 337 Das in den Blue Ridge Mountains gelegene Camp David wurde in der jüngeren Geschichte neben seiner Rolle als Ferienrefugium des amerikanischen Präsidenten und dessen Familie (First Family) oft auch als Ort für formelle und informelle Gespräche zwischen den USA und Regierungschefs anderer Staaten genutzt. 338 Bush / Scowcroft, S. 132. 339 Ebda., S. 133. 340 Bush / Scowcroft, S. 160, 173. Und: Bush and Gorbachev at Malta, in Internet: https://nsarchive2 . gwu . edu / NSAEBB / NSAEBB298 / index . htm (letzter Zugriff: 12. 5. 2020); Interview Baker 17. 3. 2011; in Internet: https://millercenter.org/the-presidency/presidential-oral-histories/james-baker-iii-oral-history-2011-white-housechief (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 341 Miklós Németh war vom 23. November 1988 bis zum 23. Mai 1990 ungarischer Ministerpräsident. Er gehörte zum damaligen Reformflügel der (kommunistischen) „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“ – USAP. 342 Gyula Horn war 1989/ 90 ungarischer Außenminister.
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland
85
rische Sozialistische Arbeiterpartei – USAP – - für die Gesamtentwicklung verantwortlich zu machen. Innerhalb der Partei laufe eine heftige Diskussion zwischen Reformern und Reformgegnern. Der Partei drohe eine Spaltung. Er halte es für möglich, dass links von der USAP eine weitere kommunistische Partei gegründet werde, der sich von den 700.000 Mitgliedern etwa 200.000 anschließen würden. Die Entwicklung in Ungarn und Polen werde von den anderen Bündnispartnern aufmerksam beobachtet. Beim Gipfel in Bukarest habe Ungarn sein neues Konzept des Zusammenlebens im Warschauer Pakt vorgestellt. Das sei von allen, auch von Schewardnadse, zurückgewiesen worden, berichtet Genscher. Als Gorbatschow dazugekommen sei, habe dieser sich das Konzept zu eigen gemacht, es sei dann schließlich akzeptiert worden. In den ungarischen Oppositionsparteien werde auch die Frage der Neutralität diskutiert; das sei nicht das Ziel seiner Partei. Wenn allerdings der Versuch gemacht werden sollte, durch Einfluss von außen die Reformentwicklung zu verhindern, werde sich diese Frage auch für seine Partei neu stellen. 343 Németh berichtete ferner über das Telefonat des polnischen Ministerpräsidenten Mieczysław Rakowski mit Gorbatschow vom 22. August 1989. Es war der Beleg dafür, dass Gorbatschow in der Tat keineswegs militärisch intervenieren würde. Ganz im Gegenteil. Ohne dessen „Anweisung“ an die polnischen Kommunisten wäre es zu keiner pro-westlichen Regierung gekommen. Darüber hinaus seien folgende Details angesprochen worden: – Rakowski habe erklärt, Polen werde sich nicht aus dem Warschauer Pakt lösen; – Rakowski habe zur Lage der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiter Partei) gesagt, sie sei nicht in der Lage, ihre Forderungen gegenüber Solidarno´sc´ durchzusetzen. Gorbatschow habe darauf verwiesen, die PVAP verfüge über alle Machtmittel, mit denen sie die Teilnahme an der Macht durchsetzen müsse. Németh bemerkte, die Entwicklung in Polen bringe Gorbatschow in eine schwierige Lage, er habe auch in Moskau einen schweren Stand. Es sei das Ziel der ungarischen Regierung, alles zu tun, um den Erfolg von Gorbatschows Politik zu sichern. Németh erläuterte, man befinde sich in einer schweren ökonomischen Krise in Ungarn. Man stelle sich auf die Marktwirtschaft ein, wobei sofortige Ergebnisse erwartet würden. Er habe sich seit 20 Jahren mit Wirtschaftspolitik befasst und erkenne immer mehr, welchen Schaden die letzten 40 Jahre Ungarn zugefügt hätten. 343 Deutsche Einheit, Dok Nr. 28, S. 377 ff.
86
Kapitel 2
Das Land habe allein bei deutschen Banken Schulden in Höhe von 400 Millionen DM. 344 Zwei Millionen Ungarn lebten unter dem Existenzminimum. Im Grunde sollte man die Exporte nach Osten einschränken, um die Versorgung zu verbessern; dann müsse man aber mit Retorsionen 345 der Sowjetunion rechnen, vor allen Dingen bei der Fluchthilfe. 346 Man könne sich nur an den Westen wenden. „Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, können wir auf Ihre Unterstützung rechnen? Ich meine nicht nur die Bundesrepublik, sondern den ganzen Westen. Wollen Sie den Reformkurs unterstützen oder heißt die Devise ‚abwarten‘? Wir brauchen Ihre Entscheidung vor unserem Parteitag am 6. Oktober.“ 347 Trotz aller Bemühungen, die Entwicklungen in Osteuropa und in der Sowjetunion weitgehend unter Kontrolle zu behalten, gerieten sie in Prag und Budapest aus dem Lot. „Ungarns Umorientierung nach Westen war unausbleiblich“, stellte der Berater von Gorbatschow, Georgi Schachnasarow, schon 1988 fest. Die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh testete als erste der Regierungen in den „Bruderländern“ das Wort von Gorbatschow, dass jedes Land tun könne, was es wolle. Laut Protokoll des Gespräches zwischen Németh und Gorbatschow vom 3. März 1989 erklärte Németh dem sowjetischen Parteichef: „Wir haben die Entscheidung getroffen, die elektronischen Zäune komplett zu entfernen. Wir werden die Genossen in der DDR natürlich informieren.“ 348 Die Reaktion von Gorbatschow war – Schweigen. Er sagt nur: „Wir haben ein strenges Grenzregime, aber wir werden es auch mehr öffnen.“ Németh nahm die Antwort als Zustimmung. Bereits im Frühjahr 1989 wurde an der Westgrenze Ungarns die technische Grenzsperre abgebaut. In den Sommermonaten reisten immer mehr DDR-Bürger nach Ungarn, um durch die undicht gewordene Grenze über Österreich in die Bundesrepublik zu fliehen. In der ungarischen Hauptstadt – und später am Balaton – wurden Flüchtlingslager eingerichtet. 349 344 Ca. 205 Millionen Euro, Stand April 2017. 345 Retorsionen = Erwiderung eines unfreundlichen Aktes durch eine Gegenmaßnahme. 346 Ungarn half den Flüchtlingen aus der DDR, in den Westen zu kommen. Damit verletzte das Land die Verträge mit der DDR, die eine Rückführung aller DDR-Bürger in die DDR vorsahen, die bei einem Fluchtversuch über die ungarisch-österreichische Grenze festgenommen worden waren. Mit der Grenzöffnung der Ungarn am 11. September 1989 waren diese Abkommen von 1957 bzw. 1977 de facto außer Kraft gesetzt. Vgl. Tantzscher, Monika: Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von „Republikflucht“, Berlin 1998; in Internet: https://d-nb.info/1028651805/34 (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 347 Deutsche Einheit, Dok Nr. 28, S. 377. 348 Savranskaya: Masterpieces of History, Dok Nr. 50, S. 412. 349 Die ungarische Regierung beschloss, entgegen allen Abmachungen mit der DDR, „keinen einzigen DDR-Staatsbürger zur Heimkehr zu zwingen“. Horn, Freiheit die
Vier Grundsatzreden von Bush zu Europa und Deutschland
87
Am 19. August 1989 kam es in Sopronpuszta im Rahmen des „Paneuropäischen Picknicks“ zu einer Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze. Drei Wochen später wurde die Entscheidung der ungarischen Regierung bekanntgegeben, die Grenze für die DDR-Flüchtlinge, die sich in Ungarn aufhielten, zu öffnen. In den darauffolgenden Wochen flohen 57.000 DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland. 350Angesichts dieser Entwicklung wurde Erich Honecker am 18. Oktober 1989 als SED-Generalsekretär abgesetzt und von Egon Krenz abgelöst. 351 Er bemerkte damals: „Es ist zu bezweifeln, dass der Führungswechsel ausreicht, um den bestehenden Druck in der DDR abzubauen.“ 352 Am 23. Oktober 1989 telefonierte Kanzler Kohl mit US-Präsident Bush. Er gab ihm einen Überblick über die Lage in Ungarn, Polen und in der DDR. „Die Lage in der DDR ist dramatisch“, so Kohl. 353 Der Kanzler versicherte Bush, dass „er den Kessel nicht erhitzen wolle, aber ich sage noch einmal, falls keine Reformen durchgeführt würden, werde die Lage sehr schwierig sein.“ Kohl wies darauf hin, dass „ohne eine starke Position der NATO und ohne die Entwicklung der Gemeinschaft in Europa es nicht diese starke Veränderung im Warschauer Pakt gegeben hätte“. Doch unabhängig von dieser Einschätzung war klar, dass der Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung in Moskau lag. Zehn Jahre nach den Ereignissen beschrieb Gorbatschow seine damalige Haltung zur deutschen Frage folgendermaßen: 354 Sie sei im Herbst 1989 im Grunde genommen zum zentralen Problem der Weltpolitik geworden. Dies seien seine damaligen Grundpositionen gewesen: 1. die Moralische: Ich hielt es vom moralischen Standpunkt aus für unzulässig, die Deutschen ewig zur Spaltung der Nation zu verurteilen und immer neuen Generationen die Schuld für die Vergangenheit aufzubürden. 2. die Politische: Das Streben der Deutschen nach der Einheit konnte nur vereitelt werden, wenn die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte eingesetzt würden. Das aber hätte das völlige Scheitern aller Bemühungen zur Beendigung des Kalten Krieges und des nuklearen Wettrüstens bedeutet,
350 351 352 353 354
ich meine. S. 309. Auch die deutschen „Malteser“ kamen, um zu helfen. Sie bauten in Ungarn fünf Lager für insgesamt 7200 DDR-Flüchtlinge auf. DDR-Außenminister Oskar Fischer beschwerte sich ständig darüber bei den Ungarn. Er drängte die Ungarn, alle DDR-Flüchtlinge abzuschieben, also in die DDR zu bringen; vgl. Horn, S. 309; Vgl. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 915 ff. Deutsche Einheit, Dok Nr. 63, S. 455 f. Vgl. Krenz: Herbst ’89; S. 119 ff.; Deutsche Einheit, Dok Nr. 63, S. 455. Deutsche Einheit, Dok Nr. 64, S. 459. Gorbatschow: Wie es war, S. 83.
88
Kapitel 2
und der Perestroika wäre ein nicht wieder gut zu machender Schlag versetzt worden. 3. die Strategische: Die Anwendung von Gewalt gegen die Bevölkerung der DDR und die Unterdrückung des demokratischen Strebens nach Wiedervereinigung hätten für lange Zeit die Beziehungen zwischen unseren Völkern vergiftet und den natürlichen Interessen Russlands unermesslichen Schaden zugefügt. 355
Es ist denkbar, dass diese Ansichten eine nachträgliche Interpretation seines eigenen Handelns darstellen. Völlig unbegründet ist die Vermutung angesichts seines Agierens in jenen Monaten nicht. Denn nachdem auch dem Westen klargeworden war, dass die deutsche Einheit auf die politische Agenda gerückt war, stellte sich zwingend die Frage nach der künftigen Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschland. Die Bundesrepublik gehörte zur NATO, die DDR zum Warschauer Vertrag. Bei einer Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland würde das Gebiet des Warschauer Vertrages zwangsläufig um das Territorium der ehemaligen DDR reduziert.
Fall der Mauer am 9. November 1989 Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurden bisherige Gedankenspiele Wirklichkeit. Die „Deutschlandpolitik“ wurde konkret und vor allem umsetzbar. Nun ging es darum, die Marken zu setzen, das Tempo zu bestimmen und Veränderbares bzw. Unveränderbares zu definieren. In der Nacht zum 10. November 1989 wurden in Handlungen und Reden, Stellungnahmen und Interviews erste Weichen gestellt, die zum Ziel die Einheit Deutschlands hatten. Die Frage nach einer künftigen Bündniszugehörigkeit stellten in dieser historischen Situation die wenigsten. Der Autor dieser Arbeit 356 erlebte den Mauerfall als Zeitzeuge. Im Herbst 1989 war er als Journalist von der DDR-Regierung als Korrespondent der Tageszeitung „Bild“ akkreditiert worden. Am 9. November 1989 nahm er an der Pressekonferenz von ZK-Mitglied Günter Schabowski teil, in deren unmittelbarer Folge Angehörige der DDR-Grenztruppen bzw. Passkontrolleinheiten (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit zunächst die innerstädtischen Berliner Sektorenübergänge öffneten. Der Autor hatte daran einen gewissen Anteil, als er Schabowski 357 die entscheidenden Fragen stellte, nämlich ob die von ihm präsentierte Reiseverord-
355 Ebda., S. 84. 356 Brinkmann, Peter: Zeuge vor Ort, Berlin 2014, S. 35. 357 Günter Schabowski (4. 1. 1929-1. 11. 2015), SED, Mitglied des Politbüros des ZK der SED in der DDR.
Fall der Mauer am 9. November 1989
89
nung „ab sofort“ gelte und ob Berlin (West) in die Regelung einbezogen sei. „Ab sofort, unverzüglich“, hatte Schabowski geantwortet, ohne die Konsequenzen seiner Aussage zu überschauen. SED-Generalsekretär Egon Krenz, der die Sitzung im Gebäude des ZK leitete (heute Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland) erläuterte später gegenüber dem Autor: Die Grenzöffnung war für den 10. November 1989 vorgesehen. Darüber wurden gegen 17 Uhr auch die Bezirke und Kreise in einem Fernschreiben von mir informiert. Es ging nicht nur um die Berliner Mauer, sondern um die Grenze vom Norden bis zum Süden der DDR. Gegen 17.15 Uhr kam Günter Schabowski zu mir. Er meldete sich für den Rest der Tagung ab. Um 18 Uhr fand eine internationale Pressekonferenz statt. Schabowski sollte über den Verlauf der ZK-Tagung informieren. Er fragte mich, ob ich noch Hinweise für ihn habe. Ich sagte: „Du musst unbedingt über den Reisebeschluss informieren. Das ist die Weltnachricht!“, Da er nicht die authentische Ministerratsverordnung über die neue Reiseregelung hatte, übergab ich ihm mein Exemplar, aus dem ich im ZK vorgelesen hatte.
Schabowski fuhr zum Internationalen Pressezentrum und löste durch seinen Irrtum eine geradezu weltpolitische Wirkung aus. Um 18.53 Uhr wurde Schabowski von einem Journalisten (Ricardo Ehrmann) nach dem Stand der Ausarbeitung einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger gefragt. „Er antwortete: ‚Mir ist eben mitgeteilt worden, der Ministerrat hat beschlossen. . . ‘ Er hielt sich im Wesentlichen an den Text der Verordnung und der offiziellen Mitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Pressemitteilung sollte am Morgen des 10. November 1989 veröffentlicht werden. Für diesen Zeitpunkt waren die Befehle für die Grenztruppen und die Ministerien des Inneren und der Staatssicherheit vorbereitet. Günter Schabowski antwortete jedoch auf eine Frage (von Peter Brinkmann) nach dem Zeitpunkt offensichtlich irritiert: ‚Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich, sofort.‘“ Schabowski hatte offensichtlich das Krenz-Papier nicht gründlich gelesen. Zudem beachtete er nicht, was auf der ZK-Tagung zur Veröffentlichung gesagt wurde. Er hätte sagen müssen: „Die Verordnung tritt ab morgen, den 10. November, in Kraft.“ Denn nach einer kurzen Diskussion auf der ZK-Tagung war festgelegt worden, dass ‚gleich‘ über die Öffnung informiert werden konnte. ‚Gleich‘ bezog sich aber auf die Nachricht, nicht darauf, dass die Grenze ‚gleich‘ geöffnet wird. 358
358 Interview von Peter Brinkmann mit Egon Krenz für „Berliner Kurier“ (künftig: „Krenz-Interview“). Handschriftliche Korrekturen von Egon Krenz im Manuskript vom 22. 10. 1999. Tonbandabschrift mit Original-Korrekturen befindet sich im Besitz von Peter Brinkmann.
90
Kapitel 2
Kurz vor 21 Uhr 359 rief Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, 360 Egon Krenz an. Krenz schilderte das Telefonat so: „Er informierte mich, dass er gerade erfahren hat, dass sich in Berlin-Mitte viele Menschen in Richtung Grenze bewegen. Schabowski habe irgendetwas auf einer Pressekonferenz gesagt.“ Er wisse noch nicht genau, was los sei, werde sich aber sofort sachkundig machen und ihn – Krenz – wieder anrufen. Beide vereinbarten, dass es, was auch passiere, zu keiner Konfrontation zwischen der Staatsmacht und der Bevölkerung kommen dürfe. Krenz weiter: „Nach wenigen Minuten rief Mielke wieder an. Diesmal wurde er konkreter: Tausende sind in Richtung Grenzübergangsstellen unterwegs, teils zu Fuß, teils mit Pkw. ‚Was sollen wir machen‘ fragte er mich. Ich sage, dass ich gleich zurückrufe. Ich will mich vorher mit Verteidigungsminister Keßler verständigen, dem die Grenztruppen der DDR unterstehen. Ich erreiche ihn aber nicht. Dann ruft Mielke wieder an. ‚Wenn wir nicht sofort entscheiden, was zu tun ist, verlieren wir die Kontrolle‘, sagte er. Wir befanden uns in einer außerordentlich gefahrvollen Situation. Eine falsche Entscheidung konnte Blutvergießen bedeuten.“ In diesen Minuten sei es um die Frage gegangen: „Lassen wir den Dingen freien Lauf oder setzen wir die bewaffnete Macht zur Sicherung der Staatsgrenze ein? Letzteres wäre ein Spiel mit dem Feuer. Ich frage Mielke: ‚Was schlägst Du vor?‘ Er antwortet: ‚Generalsekretär bist Du.‘ Ich verstehe. Meine Entscheidung: ‚Wir werden wegen ein paar Stunden, morgen sollten die Grenzübergangsstellen ohnehin geöffnet werden, nicht eine Konfrontation mit der Bevölkerung riskieren. Also, hoch mit dem Schlagbaum.‘ Mielke sagte leise, sehr nachdenklich: ‚Hast recht!‘“ 361
Die DDR-Führung war sich also einig: Keine Gewalt, aber die Grenze wird geöffnet. Doch wie reagierte Moskau auf die Ereignisse? Krenz dazu: 362 Ich versuche, Gorbatschow in Moskau anzurufen. Dort ist es inzwischen nach Mitternacht. Ich erreiche ihn nicht. Am Morgen des 10. November rief mich der sowjetische Botschafter Kotschemassow an. Er kam ohne Vorrede auf die nächtlichen Ereignisse zu sprechen: „Genosse Krenz, in Moskau ist man beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer, wie sie sich heute Nacht entwickelt hat.“ „Das wundert mich“, erwiderte ich. „Im Prinzip wurde doch nur um Stunden vorgezogen, was heute ohnehin vorgesehen war. Unser Außenminister hat die Reiseverordnung mit Ihnen abgestimmt.“ Kotschemassow: „Ja, aber das stimmt nur zum Teil. Es handelt sich nur um die Öffnung von Grenzübergängen zur BRD. Die Öffnung der Grenze in Berlin berührt die Interessen der Alliierten.“ Nun wurde also der Vier-Mächte-Status ins Spiel gebracht. Doch dies war jetzt nur noch eine theoretische Frage. Ich sage: „Die
359 360 361 362
Ebda. Erich Mielke, SED, Minister für Staatssicherheit der DDR. Krenz-Interview. Ebda.
Fall der Mauer am 9. November 1989
91
Grenzöffnung wäre nur durch militärische Mittel zu verhindern gewesen. Das hätte ein schlimmes Blutbad gegeben.“ 363
Dann stellte sich Krenz selbst einige Fragen: Noch am 8. November hatte mir Stoph 364 bestätigt, dass der Entwurf der Reiseverordnung mit Moskau abgestimmt ist. Jetzt will die sowjetische Seite nichts mehr davon wissen. Ich frage mich: Wer spielt mit falschen Karten. Kurze Zeit nach dem ersten Telefonat rief der sowjetische Botschafter ein zweites Mal an. Jetzt lässt Michail Gorbatschow Glückwünsche ausrichten für „Ihren mutigen Schritt, dass Sie die Berliner Mauer geöffnet haben.“ Mir geht danach durch den Kopf: Was ist in Moskau passiert? Innerhalb kurzer Zeit zwei grundsätzlich verschiedene Standpunkte. Welche Auseinandersetzung hat es hinter den Kulissen des Kremls gegeben. Die Antwort auf diese Frage werden wir wohl erst bekommen, wenn wir die Akten aller beteiligten Länder kennen, einschließlich der des Bundesnachrichtendienstes. 365
Die Darstellung von Egon Krenz zehn Jahre nach dem Mauerfall entspricht nicht in allen Punkten den Tatsachen. DDR-Außenminister Oskar Fischer 366 hatte nicht den Auftrag, den sowjetischen Botschafter über Reisefreiheit „für alle Bürger“ zu informieren. Wollten Krenz und Schabowski eine „Reiseregelung für alle“ als „Kern ihrer neuen Politik“ erreichen, 367 so wollte das DDR-Außenministerium dies offenbar nicht. Denn Fischer hatte gegenüber dem sowjetischen Botschafter Kotschemassow lediglich „von der Einrichtung eines Sondergrenzüberganges für Ausreisewillige im Süden der DDR“ gesprochen und nur hierfür die Zustimmung der sowjetischen Führung bis spätestens zum Morgen des 9. November erbeten. Die Möglichkeit von Privatreisen hatte Fischer überhaupt nicht erwähnt. 368 Kotschemassow und seine Berater gaben diese „Bitte“ nach Moskau weiter, waren sich aber einig, dass „diese vorherige Konsultation mit uns lediglich von der Feigheit von Krenz zeuge, der sich durchaus im Klaren sei, dass die geplante Maßnahme praktisch auf die Grenzöffnung hinauslaufe und unübersehbare Folgen haben würde“. 369 Schließlich kam aus Moskau die Ansage, „die DDR solle als souveräner Staat selbst entscheiden, was an der Grenze geschehen solle“. 370
363 Ebda. 364 Willy Stoph, 9. 7. 1914-13. 4. 1999; Ministerpräsident der DDR. 365 Letzter Satz handschriftlich von Krenz im Interview für den „Berliner Kurier“ eingefügt; 22. 10. 1999. 366 Oskar Fischer, 19. 3. 1923-2. 4. 2020, SED, DDR-Außenminister. 367 Krenz- Interview. 368 Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls, Berlin 2009, S. 236. 369 Hertle, S. 230 370 Hertle, S. 232
92
Kapitel 2
Als die sowjetischen Diplomaten während der Pressekonferenz von Schabowski am 9. November miterlebten, dass dieser die Grenze auch nach Berlin (West) öffnen wollte, 371 waren alle „zutiefst irritiert“. 372 „Erbittert und niedergeschlagen“ seien alle gewesen, so ein Mitarbeiter des Botschafters. 373 In der KGB-Zentrale in Berlin-Karlshorst fühlten sich alle Agenten wie vom „Blitz getroffen“. 374 Ab Mitternacht bis in die Mittagsstunden des 10. November 1989 habe die KGB-Zentrale in Moskau fast minütlich Berichte aus Berlin verlangt. Noch in der Nacht hatte Valentin Falin, einstiger Botschafter der UdSSR in Bonn, über Presseagenturen erfahren, was in Berlin im Gange war. Seine Reaktion war deutlich und klar: „Mein Empfinden war: die Öffnung der Grenze in der Art ist das Ende der Republik, die Auflösung des Staates.“ 375 Krenz schickte am Vormittag des 10. November 1989 Michail Gorbatschow ein Telegramm, um den Kreml-Chef zu beruhigen. Aber es war, wie die sowjetische Botschaft es später nannte, „ein Meisterstück der Tatsachenverdrehung“. 376 Gorbatschow blieb besonnen. Keine militärischen Gegenmaßnahmen, sondern jetzt müsse die „Politik der Situation angepasst werden“. 377 So hieß es auf einer Pressekonferenz mit Außenminister Schewardnadse in Moskau am 10. November 1989: „Das, was in der DDR geschehen ist und geschieht, ist ein souveräner Akt der Regierung der DDR. Jetzt dürfen sich dort weder die Sowjetunion noch der Westen einmischen.“ 378 Gorbatschow schickte entsprechende Telegramme an die Präsidenten der USA, Frankreichs 379 und an die britische Regierung sowie an Bundeskanzler Kohl. Darin bat er, die „Lage in der DDR nicht zur Destabilisation zu nutzen“. An die „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD)“ in der DDR erging der Befehl „Keine Aktionen unternehmen.“ 380 Einer der wichtigsten Berater in Sachen „Deutschland“ war Anatolij Tschernjajew. Er schrieb in sein Tagebuch: „Die Mauer ist gefallen. Eine lange Ära der Geschichte des ‚sozialistischen Systems‘ ist zu Ende. Das 371 Die Frage nach West-Berlin stellte Peter Brinkmann. Siehe auch Brinkmann: Zeuge vor Ort, S. 37. 372 Hertle: Chronik, S. 236. 373 Maximytschew, Deutschland-Archiv, S, 1137 ff.; Hertle: Chronik, S. 235. 374 RTL-Nachtjournal, 6. 11. 1994. 375 Hertle: Chronik, S. 236. 376 Ebda., S. 238. 377 Spiegel, Nr. 40/95, 2. Oktober 1995, S. 66 ff. 378 ADN (4084) vom 10. 11. 1989, 18.45 Uhr. 379 Jacques Attali, Berater von Frankreichs Präsident François Mitterrand, erklärte am 6. Dezember 1989 gegenüber V.V. Zagladin, einem Berater von Gorbatschow: Frankreich wolle auf keinen Fall eine Wiedervereinigung Deutschlands. Vgl. Galkin / Tschernjajew: Dok Nr. 63, S. 272. 380 Hertle: Chronik, S. 240.
Fall der Mauer am 9. November 1989
93
ist keine Sache des ‚Sozialismus‘, sondern ein Wechsel in dem Gleichgewicht der Mächte in der Welt. Es ist das Ende von Jalta, das Ende der Stalin-Epoche.“ 381 In den USA war es später Nachmittag, also die beste Fernsehzeit, als die ersten Nachrichten vom Mauerfall eintrafen. Außenminister James Baker eilte zum Büro von Bush. Nach kurzer Besprechung trat der US-Präsident mit unbewegtem Gesicht 382 vor die Kameras und zeigte sich überrascht von den Ereignissen in Berlin. „Ich kann nicht sagen, dass ich diese Entwicklungen vorhergesehen habe.“ 383 Und: „Es hat nichts zu tun mit Wiedervereinigung.“ 384 Bush bemühte sich um die Balance zwischen Freude und Beruhigung der Partner und vor allem Moskaus. „Ich wollte die Sowjets nicht durch schadenfrohe Bemerkungen demütigen. Und ich werde mir nicht auf die Brust schlagen und auf der Mauer tanzen.“ 385 Zehn Jahre später, am 9. November 1999, berichtete Bush in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag über diesen Abend im Weißen Haus: An dieser Mauer hatte ich als Vizepräsident gestanden, und mein Freund Helmut Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker zeigten mir die Stellen, wo junge Ostdeutsche erschossen worden waren, weil sie in die Freiheit flüchten wollten. Und im Februar 1983 hatte ich mit meinem lieben Freund Manfred Wörner, den wir alle schmerzlich vermissen, ein Städtchen besucht, dessen Mitte der Stacheldrahtzaun durchtrennte, der ganz Deutschland spaltete. Jetzt aber, sechs Jahre später, war ich Präsident der Vereinigten Staaten und sah zu, wie die so lange unmöglich erschienenen Hoffnungen und Träume der Menschheit vor meinen Augen Wirklichkeit wurden. Es war ein nachgerade surrealistisches Bild, das Dalí gemalt haben könnte. Dann aber überfiel uns die Erkenntnis, wessen Ereignisses Zeuge wir wurden. Der Damm war gebrochen, die Freiheit schäumte geradezu in Kaskaden über die Mauer.
Bush wurde von seinem Pressesekretär Marlin Fitzwater gedrängt, eine Erklärung vor der Presse abzugeben, doch wollte er sich vor übereilten Kommentaren hüten. Vor allem musste er, wie er später sagte, bedenken, welcher Druck auf den Schultern von Gorbatschow lastete. Bush sorgte sich über ein Zurückschlagen der Hardliner und antwortete auf die von den Medien berichteten Neuigkeiten vorsichtig positiv, zwar nicht zögerlich, aber doch überlegt. Noch einmal Bush: „Was die Kritiker beim Anblick der unbeschreiblich frohen Ereignisse nicht verstanden,
381 Tschernjajew, Anatolij: The Diary of Anatoly S. Chernyaev 1989 und 1990; in Internet: https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB275/1989 for posting.pdf (letzter Zugriff: 5. 6. 2020). 382 Die Einheit, Dok Nr. 22, S. 138. 383 FAZ, 11. November 1989. 384 Die Einheit, Dok Nr. 22, S. 139. 385 Sarotte, Mary: The Collapse, New York 2014, S. 121.
94
Kapitel 2
wissen wir heute, zehn Jahre danach: Dass nämlich ein arroganter Zug unsererseits die Freude hätte zunichtemachen und das Anliegen, auf das so viele Menschen hingearbeitet, für das sie ihr Blut und manche ihr Leben geopfert hatten, einen schweren Rückschlag erleiden konnten. Dennoch hatten führende Köpfe bei uns im Kapitol verlangt, ich solle mich aufmachen zur Mauer in Berlin und auf ihr mit den Studenten tanzen. Das aber wäre nach meiner Meinung einer offenen Provokation gleichgekommen, als drückten wir den sowjetischen Militärs geradewegs die Finger ins Auge. Also hielten wir uns zurück, und ich halte das bis heute für richtig.“ 386
Gorbatschows erste Rede nach dem Mauerfall: Nein zur Einheit In Moskau sprach Michail Gorbatschow am 15. November 1989 vor dem „Allunions-Studenten Forum“ über mögliche Folgen der Maueröffnung. Der Staatspräsident der Sowjetunion benutzte erstmals das Wort „Wiedervereinigung“ und sagte: 1. Eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ist gegenwärtig keine Frage der aktuellen Politik. 2. Überlegungen von dritter Seite über eine Wiedervereinigung stellen eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der BRD und DDR dar. 3. Die Existenz der beiden deutschen Staaten ist ein Resultat der historischen Entwicklung, ein reales Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Diese Tatsache ist allgemein anerkannt vor der internationalen Gemeinschaft, und man muss dieser Realität Rechnung tragen. 387
Die Mitarbeiter von Kanzler Kohl und Außenminister Genscher waren irritiert. In einer Zusammenfassung der Rede für Genscher hieß es: 388 „Bemerkenswert ist es, dass Gorbatschow eine Entscheidung über ‚Wiedervereinigung‘ überhaupt ins Auge fasst und dies nicht nur als ‚innere Angelegenheit‘ der DDR, sondern ausdrücklich auch der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet.“ Die Experten warnten aber Genscher auch: „So positiv die neuen Töne zur ‚Wiedervereinigung‘ klingen mögen, so klar muss sein, dass die Sowjetunion nicht bereit ist, in der derzeitigen Lage dem Thema ‚Wiedervereinigung‘ näher zu treten. Dies gilt nicht nur für ‚Taten‘, sondern auch für Worte. Behutsamkeit ist angezeigt, auch in der öffentlichen Diskussion
386 In Internet englisch: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/ bush_sen/rede-247398, deutsch: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/ gastredner/bush_sen/rede_deutsch-247416 (letzter Zugriff: 5. 6. 2020). 387 Die Einheit, Dok Nr. 23, S. 141. 388 Ebda., S. 143 und Anmerkung 6.
Gorbatschows erste Rede nach dem Mauerfall: Nein zur Einheit
95
‚draußen im Lande‘.“ 389 Genschers Staatssekretär Jürgen Sudhoff ergänzte am 17. November 1989: „Und trotzdem bin ich der Meinung, dass diese Äußerung des Generalsekretärs eine beachtliche Öffnung gegenüber diesem Thema ist.“ Außenminister Genscher schrieb an den Rand: „Richtig!“ 390 Gorbatschow sah früher als andere, dass die Entwicklung in der DDR seit 1988/89 auf deren Ende und damit auf eine noch unklare Form deutsch-deutscher Vereinigung hinauslaufen würde – sei es in Form einer „Vertragsgemeinschaft“, einer „Konföderation“ oder sogar einer Verschmelzung beider deutscher Staaten zu einem neuen Einheitsstaat „Deutschland“. Ihm war bewusst, dass er den wichtigsten Schlüssel dazu in der Hand hielt und Entwicklungen beschleunigen, bremsen oder gar verhindern konnte. Moskau bzw. ganz konkret Gorbatschow hatte damals offenkundig nichts mehr gegen eine deutsche Vereinigung, wohl aber etwas gegen die Ausdehnung der NATO bis an Oder und Neiße. Horst Teltschik, zu jener Zeit Kanzler Kohls wichtigster Denker und Berater in außenpolitischen Fragen, sagte dazu auf einer Veranstaltung in Berlin Anfang 2015: „Weil Gorbatschow Ende 1989 und lange Zeit in 1990 in dieser Frage beim Nein blieb, mussten wir ihm Angebote machen. Das taten wir. Wir umwarben ihn, veränderten unsere militärischen und politischen Doktrinen, passten sie den Realitäten an und so gab er langsam nach. Am Ende wurde aus dem Nein ein Ja.“ 391 Daraus lässt sich schließen, dass sich Bonn in Abstimmung mit den westlichen Partnern ausschließlich auf die Herstellung der Einheit fokussierte und diesem Ziel alles unterordnete. In den USA gestand Bush: „Ich habe wenig über die Wiedervereinigung Deutschlands nachgedacht. Ich hielt das eher für eine Sache der Deutschen selbst. Warum sollten die USA sich da einmischen? Deswegen hatte ich auch keine Angst vor einer Wiedervereinigung. 392 Die Deutschen stellen absolut keine Bedrohung mehr dar.“ 393 Bush erkannte, dass die Zeit reif war, die Prinzipien der KSZE, insbesondere in Form der „Selbstbestimmung“ aller Völker, umzusetzen. Andererseits gab es durchaus Stimmen im Weißen Haus, die fragten: „Warum sollen wir jetzt darauf drängen, die Teilung zu überwinden, wenn diese doch die Lage in Europa stabil hält?“ 394
389 Ebda. 390 Ebda. 391 Persönlicher Tonbandmitschnitt des Autors von einer Veranstaltung der Atlantischen Gesellschaft in Berlin am 19. Februar 2015. 392 Bush / Scowcroft, S. 187. 393 Beschloss / Talbott, S. 179. 394 Bush / Scowcroft, S. 188.
96
Kapitel 2
Bush war ein Verfechter der „Selbstbestimmung“, und diese Haltung führte dazu, dass die US-Politik vom Präsidenten bis zum Referenten im Weißen Haus unmittelbar nach dem Mauerfall am 9. November 1989 das Streben nach Wiedervereinigung unterstützte. 395 Damit war Bush Ende 1989 auch der Einzige, der vehement für das „Selbstbestimmungsrecht“ der Deutschen in West und Ost eintrat, teilweise zum Verdruss auch seiner Berater. Brent Scowcroft bekannte: „Ich habe den Standpunkt des Präsidenten zur Wiedervereinigung Deutschland in seiner Weisheit bezweifelt. Keiner außerhalb Deutschlands, schon gar nicht unter den europäischen Alliierten, liebte diese Idee. Was war denn so schlecht daran, zwei deutsche Staaten zu haben, wenn die Lage stabil war und blieb? Der ganze Prozess der Wiedervereinigung könnte extrem zur Instabilität beitragen. Ja, sogar zu einem großen Konflikt. Ich sah also keinen Anlass, diese Frage auf die Tagesordnung zu setzen. Warum sollen wir schlafende Hunde aufwecken?“ 396 Mit dem Fall der Mauer änderten Scowcroft und viele Skeptiker ihre Meinung und standen nunmehr hinter dem Kurs ihres Präsidenten. Dazu noch einmal Scowcroft: „Jetzt waren alle Hunde aufgewacht. Die Lage war völlig anders als vor dem Mauerfall.“ 397 Der Führungsmacht der NATO war klar, dass die „Wiedervereinigung“ plötzlich wieder auf der politischen Tagesordnung stand. 398 Am 13. November 1989 kam Henry Kissinger zum Dinner ins Weiße Haus. Der gebürtige Deutsche und ehemalige Außenminister der USA entwarf verschiedene Szenarien für die deutsche Zukunft in Europa nach dem Mauerfall. Die Essentials von Kissinger lauteten: 399 – Die DDR ist aus eigener Kraft nicht mehr lebensfähig (longer viable). Für sie gibt es keine Existenzberechtigung mehr. Die Wiedervereinigung ist unvermeidlich. 400 – Beide deutsche Staaten verlassen die NATO bzw. den Warschauer Pakt. Osteuropa wird quasi durch die Furcht vor der politischen und wirtschaftlichen Macht des vereinten Deutschland „zusammengehalten“. – Beide Bündnissysteme könnten aufgelöst werden.
395 396 397 398
Ebda., S. 191. Ebda. Ebda., S. 189. Schon im März 1989 hatte Präsident Bush eine neue Studie bei seinen Mitarbeitern angefordert, die eine neue Deutschland- und Europapolitik formulieren sollte. 399 Bush / Scowcroft, S. 191. 400 Vgl. auch: Baker, S. 158.
Gorbatschows erste Rede nach dem Mauerfall: Nein zur Einheit
97
– Kissinger betonte, dass die Vereinigten Staaten nach seiner Einschätzung für die Deutschen nicht das Hindernis für die Vereinigung sein könnten 401 – Die USA reklamieren den Fall der Mauer als Erfolg sowohl ihrer als auch der NATO-Politik. Vierzig Jahre habe man darauf hingewirkt. In einer Vorlage für den Bundeskanzler verwandte Teltschik erstmals am 17. November 1989 die Formel der „Deutschen Frage“ 402 und beschrieb die Haltung der Westmächte und der Sowjetunion dazu: 1.1. Unter den drei Westmächten gibt es eine deutlich abgestufte Haltung zur Wiedervereinigung: Am positivsten die USA, zurückhaltender Frankreich und gegenüber beiden deutlich abfallend Großbritannien. Der mögliche Prozess einer Wiedervereinigung wird – soweit überhaupt angesprochen – als langsam, vorsichtig, demokratisch und evolutionär gewünscht, ebenso wie eine Einbettung in den europäischen Einigungsprozess. Die besondere Verantwortung (Deutschlandvertrag) wird – wenn überhaupt – dann nur sehr zurückhaltend zum Ausdruck gebracht. Nur Mitterrand und Thatcher haben ausdrücklich auf die Verantwortung der Vier-Mächte Bezug genommen.
Die USA hätten sich, so Teltschik weiter, – wenn auch mit Nuancen – am deutlichsten für die Wiedervereinigung ausgesprochen. Dies gelte insbesondere für Präsident Bush, aber auch z. B. für den Mehrheitsführer im US-Senat, den Demokraten Mitchell. Teltschik bescheinigte Außenminister James Baker, eine „gewisse Entwicklung“ durchgemacht zu haben. Am 16. Oktober 1989 habe er noch das Wort „Wiedervereinigung“ vermieden und von „Aussöhnung“ gesprochen, aber zuletzt am 10. November 1989 deutlich die über 40-jährige Politik der NATO und der USA für Wiedervereinigung betont. 403 Bemerkenswerterweise fehlten Hinweise auf die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes. Insgesamt werde deutlich, dass man sich unter Wiedervereinigung einen vorsichtigen, evolutionären, Zeit beanspruchenden Prozess vorstelle, der auf westlichen Werten, auf Frieden und Freiheit beruhen müsse. Die Verständigung mit wichtigen Partnern (USA, Großbritannien und Frankreich) und die Einbettung in den europäischen Einigungsprozess würden offensichtlich vorausgesetzt.
401 Bush / Scowcroft, S. 191. Im Original heißt diese Passage: „Kissinger emphasized that – in his judgment –, the United States could not appear to be – to the Germans – the obstacle to unification.“ 402 Deutsche Einheit, Dok Nr. 94, hier 94A und 94B, S. 541 ff. 403 Deutsche Einheit. 94 B, S. 541 ff. In der Sendung „ABC-Primetime“ sagte Baker: „Es war vierzig Jahre die Politik der NATO und der USA die Politik der Wiedervereinigung Deutschlands zu verfolgen. Das ist unsere Politik.“
98
Kapitel 2
Reservierter klinge die französische Position, die das Streben nach Wiedervereinigung als legitim bezeichne. Vor der Wiedervereinigung habe man „keine Angst“. Sie liege in der „Logik der Geschichte“. Eine gewisse Distanziertheit werde jedoch darin deutlich, dass Mitterrand für den Fall, dass die „Deutschen die Wiedervereinigung durchführen können“, lediglich die französische Politik anpassen wolle. „Eine aktive Unterstützung klingt da nicht an“, konstatierte Teltschik. Noch zurückhaltender verhielt sich die britische Regierung. Premierministerin Thatcher habe sich in den vergangenen Tagen zur Wiedervereinigung überhaupt nicht geäußert. Außenminister Hurd habe in einem Pressegespräch gleich zweimal wiederholt, dass „Selbstbestimmung“ eine Angelegenheit der Deutschen sei und dass entscheidend nun nicht die Forderung nach Wiedervereinigung, sondern die nach Reformen sei. Die Haltung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung und zur Entwicklung in der DDR beschrieb Teltschik folgendermaßen: „Generalsekretär Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse hätten sich erst relativ spät geäußert und klar darauf hingewiesen, dass sie jetzt nicht zur Debatte stehe und lediglich in einer fernen, nicht sehr konkret gesehenen Zukunft denkbar sei und dies auch nur bei Auflösung der Militärpakte, Beachtung der bestehenden Grenzen und nicht in Form einer ‚Absorbierung‘ der DDR. Grundsätzlich und kategorisch wird eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht abgelehnt.“ 404 Zur aktuellen Entwicklung in der DDR fasste Teltschik zusammen: „Reformprozess als solcher wird von Moskau unterstützt (nicht zuletzt auch als Einschwenken auf Entwicklungen wie in Sowjetunion (SU) selbst, in Polen und Ungarn) und als unumkehrbar bezeichnet. Sowjetunion hat große Besorgnis wegen möglicher Destabilisierung der Lage und steht deshalb z. B. mit USA in Kontakt (Gorbatschow mit Botschaft an Bush)“. 405
404 Deutsche Einheit, Dok Nr. 94B, S. 548. 405 Ebda.
Kapitel 3 Diplomatie und die Deutsche Frage Eine Woche nach dem Mauerfall waren die Positionen der wichtigsten Regierungen zur Wiedervereinigung identifiziert: Es war nicht allein die Sowjetunion, die sich im November 1989 einer Wiedervereinigung widersetzte. Es war vor allem auch die britische Premierministerin Thatcher. In ihren „Erinnerungen“ schrieb sie: „Falls es noch Hoffnung gab, die deutsche Wiedervereinigung aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen, so musste eine entsprechende Initiative von Großbritannien und Frankreich ausgehen. Doch es standen uns nur wenige Möglichkeiten offen.“ 406 Und nach einiger Zeit gestand Mitterrand Frau Thatcher: „In Wahrheit gibt es keine Macht in Europa, welche die Wiedervereinigung verhindern kann. Ich bin ratlos.“ 407 Die USA standen von Beginn an auf der Seite der Deutschen, wiewohl Präsident Bush in seiner kurzen Rede in der Nacht vom 9. auf den 10. November im Weißen Haus ausdrücklich nicht von „Wiedervereinigung“ sprach. Das änderte sich aber schnell. Am 21. November 1989 besuchte Genscher wieder Washington und Bush fragte ihn, wann der Ruf nach Wiedervereinigung vom deutschen Volk kommen werde. Genscher antwortete vorsichtig: „Wer weiß das schon? Je schneller die DDR demokratisch wird, umso besser für alle in Europa. Wichtig ist vor allem, dass wir in der NATO verankert bleiben und in der EG. Wir wollen keine Sonderbehandlung, aber wir wollen auch nicht für die Selbstbestimmung der Völker in aller Welt kämpfen, nur nicht in Deutschland. Aber dieses alles muss so geschehen, dass die Sowjetunion nicht alarmiert wird.“ 408 Der neue SED-Chef Egon Krenz hatte in diesen Tagen bis auf zwei Telefonate keinen Kontakt zum Kanzler. Besonders interessant ist das Gespräch vom 11. November 1989, nur zwei Tage nach dem Mauerfall. Krenz beschwerte sich bei Kohl. „Jede Form von Radikalisierung ist gefährlich. . . Die Grenze durchlässiger zu machen, bedeutet ja noch nicht, die Grenze abzubauen. Da wäre ich Ihnen also sehr dankbar, wenn Sie in dieser Beziehung beruhigend einwirken könnten.“ 409 In seiner Antwort begrüßte Bundeskanzler Kohl die Öffnung der Grenze. Sie sei angetan, die Beziehungen zwischen beiden Staaten weiter 406 407 408 409
Thatcher, S. 1103 ff. Ebda., S. 1104. Bush / Scowcroft, S. 191 f. Deutsche Einheit, Dok Nr. 86, S. 513 ff. Zusammenfassung für Horst Teltschik. Original Mitschnitt in „Chronik der Mauer“: Mitschnitt eines Telefonats zwischen Egon Krenz.und Helmut Kohl, 11. November 1989, 10.13-10.22 Uhr
100
Kapitel 3
zu entwickeln. Sein Ziel sei es nicht, dass möglichst viele Leute die DDR verließen. „Unsere gemeinsame Politik muss sein, dass die Leute zufrieden sind und in ihrer eigenen Heimat bleiben.“ Aber, „dass sie herüberund hinübergehen können, sich besuchen, miteinander sprechen, ist ganz wichtig. Ich glaube, wir stehen in einem ganz wichtigen Zeitabschnitt. Ein Zeitabschnitt, in dem sehr viel Vernunft und gar keine Aufgeregtheit am Platze ist, eine ruhige Gelassenheit, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.“ 410 Krenz hatte dagegen andere Vorstellungen: „Die Grenzen bleiben bestehen und werden nicht abgeschafft.“ 411 Krenz wiederholt seinen Standardsatz: „Ich bin mir sicherlich mit dem Bundeskanzler absolut darin einig, dass gegenwärtig die Wiedervereinigung nicht auf der politischen Tagesordnung steht.“ Daraufhin verwies Kohl DDR-Staatschef Krenz auf das Grundgesetz und die darin enthaltene Verpflichtung, der er als Bundeskanzler zu folgen habe. Im Protokoll des Telefonats heißt es: „Der Bundeskanzler erwiderte, dass in diesem Punkt ihr Verständnis auseinanderginge. Er sei auf das Grundgesetz vereidigt und habe in dieser Frage sicherlich eine andere Grundauffassung als der Herr Staatsratsvorsitzende. Die Wiedervereinigung beschäftige uns jedoch im Augenblick nicht am meisten.“ 412 Auch wenn Kohl nicht vom Fall der Mauer sprach, hörte er die Untertöne bei Krenz und reagierte ganz anders. Kohl erklärte, er komme auf keinen Fall nach Ost-Berlin, wohl aber zu einem Treffen mit Krenz in die DDR 413. Beide Politiker sollten nun in offenem Gespräch herausfinden, was geht und was nicht geht. 414 Krenz war damit erst einmal zufrieden, denn er zweifelte nicht am Fortbestand der DDR. Er glaubte, wenn die Bürger erst einmal reisen dürften, dann würden sie auch zurückkommen. Diese Vorstellung war illusionär, weil die Sowjetunion der DDR keinen Rückhalt mehr geben wollte und konnte. Sie stand selbst vor ihrer Auflösung. Aus Bonn kam auch keine Hilfe mehr. Die BRD wollte sich finanziell nicht mehr am Reiseverkehr beteiligen. Krenz: 415 „Ich habe Kohl erklärt,
410 411 412 413 414 415
Deutsche Einheit, Dok Nr. 86, S. 513 ff. Ebda. S. 513. Ebda., S. 514. Ebda. S. 514. Ebda., S. 513 ff. Ebda., S. 514. Seit 1972 zahlte die Bundesrepublik für die Reise-Nutzung der Autobahnen durch die DDR eine „Transitpauschale“. Sie betrug zuletzt (1989) ca. 900 Millionen DM jährlich. Insgesamt flossen über den Reiseverkehr rund 2,2 Milliarden DM in die DDR-Kassen; vgl. Artikel „Transitpauschale“; in Internet: http://www. ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Transitpauschale (letzter Zugriff: 12. 5. 2020), vgl. auch Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über den Transitverkehr von zivilen
Diplomatie und die Deutsche Frage
101
dass ich zu radikalen Reformen bereit bin. Ich habe ihm aber auch gesagt, dass die Grenzen bleiben, jedoch durchlässiger werden würden. Das beschäftige uns jedoch im Augenblick nicht am meisten. [. . . ] Als die in Bonn spürten, sie kriegen die DDR früher oder später, dann war Schluss. Ich habe aber auch nicht an eine Konföderation gedacht. Die Voraussetzungen dafür – gemeinsame Währung, Außenpolitik – gab es doch gar nicht. Kooperation ja vielleicht, aber eine Strategie hatte doch niemand so recht.“ 416 Bundeskanzler Kohl teilte anschließend der Presse in Bonn mit, er und Krenz würden sich „bald persönlich in der DDR – und zwar außerhalb von Ost-Berlin – treffen“. In der Mitteilung von ADN 417 wurde hervorgehoben, dass „die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung“ stehe. Die Ankündigung eines persönlichen Treffens zwischen Bundeskanzler Kohl und Krenz fehlte. 418 In einer Rundfunksendung betonte Krenz, es gebe „zwei völlig souveräne deutsche Staaten“. 419 Noch beharrte Krenz gegenüber dem Kanzler darauf, dass es die DDR trotz oder auch gerade wegen der Ereignisse am 9. November gebe und sein Staat, die DDR, als vollwertig und gleichberechtigt behandelt werden müsse. Das sah Kanzler Kohl schon 48 Stunden nach dem Mauerfall ganz anders. Nach dem Telefonat mit Egon Krenz rief Kohl nur eine Stunde später Michail Gorbatschow in Moskau an. Der Ton war freundlich. 420 Fast vergessen war die Rede des Kanzlers vom Vortag vor dem Berliner Schöneberger Rathaus. Kohl bemühte sich mit Engelszungen, Gorbatschow zu beruhigen und nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, er wolle um jeden Preis die Einheit. In Wirklichkeit wollte er aber genau dieses, und zwar möglichst schnell. Gorbatschow dagegen riet dem Kanzler dringend zu „durchdachten und aufeinander abgestimmten Schritten“. 421 Ebenfalls am 11. November 1989 telefonierte Bundesaußenminister Genscher mit seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse. Genscher kam es darauf an, Moskau zu versichern, dass „wir nichts tun würden, um auftretende Schwierigkeiten auszunutzen“. Schewardnadse antwortete darauf mit der Ermahnung, „der Prozess der Modernisierung und Erneuerung muss fortgesetzt werden. Jede provozierende Handlung kann
416 417 418 419 420 421
Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), 17. Dezember 1971; in Internet: https://www.1000dokumente.de/index.html?c= dokument_de&dokument=0248_tan&st=ABKOMMEN ZWISCHEN DER REGIE RUNG DER DEUTSCHEN&l=de (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). Deutsche Einheit, Dok 86, S. 514. ADN – Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur. ADN, 11. November 1989 /1426 f. in: DDR-Spiegel. Nr. 219/I. 13. November 1989, 2; BPA/PA, F 1/23. Meldung Radio DDR, 11. November 1989/12.30 Uhr / Politik am Mittag, ebda. Deutsche Einheit, Dok Nr. 87, S. 515. Gorbatschow: Wie es war, S. 89.
102
Kapitel 3
die Lage destabilisieren. Von besonderer Wichtigkeit sei es, die Stabilität in der DDR zu bewahren. Die Lage in der DDR ist für die Sowjetunion eine Angelegenheit von großer Besorgnis. Alle brauchen jetzt ein großes Verantwortungsbewusstsein, um das zu bewahren, was der Stabilität in Europa dient.“ 422 Am 12. November 1989 reiste der Bundeskanzler wieder nach Polen. Er hatte seinen Besuch am 9. November wegen der Ereignisse in Berlin nur unterbrochen. Im Gespräch mit Staatspräsident Jaruzelski dreht sich alles um die Frage: Wie geht es nun weiter? Die Polen waren beunruhigt. Unausgesprochen schwebte die Frage über allen Besuchern in Warschau: Wird sich ein neues, vielleicht sogar vereintes Deutschland an die bestehenden Grenzverträge halten? Oder wird dieses neue Deutschland Ansprüche aus der Vergangenheit erheben? Kohl spürte die Sorgen und Ängste und versicherte seinem polnischen Gastgeber: „Hier und jetzt beginnt ein neuer Abschnitt unserer Geschichte. Für meine Politik ist es ein ganz wichtiges Element, dass von dieser Entwicklung für unsere Nachbarn kein Grund zu Angst und Besorgnis ausgeht. Den gibt es überhaupt nicht! Gerade deshalb ist es für mich ungeheuer wichtig, dass unser Problem unter einem europäischen Dach gelöst wird, damit von unserem Land, von unserem Territorium keine Angst ausgeht.“ 423 Darauf reagierte der polnische Staatspräsident mit diesen Worten: „Besorgnisse, dass die polnischen Grenzen gefährdet seien, sind unter der Haut immer vorhanden. Es muss aber im gemeinsamen Interesse liegen, diesen emotionalen Zünder abzuschreiben.“ 424 In Moskau herrschte eher Verwirrung denn planvolles Überlegen. Wjatscheslaw Daschitschew, ein enger Berater von Gorbatschow, beschrieb die Lage im Kreml nach dem Mauerfall so: „Nach dem 9. November 1989 herrschte ein absoluter Mangel an Konzepten für die sowjetische Deutschlandpolitik. Es gab keine Klarheit über die deutsche Wiedervereinigung, den politischen und militärischen Status Deutschlands oder die Rechte der früheren Alliierten.“ 425 „Gorbatschow“, so die amerikanische Russland-Expertin Angela Stent, „sandte ständig unterschiedliche Signale aus. Es ist bemerkenswert, dass das deutsche Problem, das so lange Moskaus Außenpolitik beherrscht hatte, beim Kreml nur Reaktionen und keine aktive Politik auslöste. Zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989 bis zum 16. Juli 1990, als
422 Hilger: Dokumente des Auswärtigen Amts, Dok Nr. 7. Signatur PA AA ZA, 178.931 E, S. 42. 423 Deutsche Einheit, Dok Nr. 89, S. 521. 424 Ebda. 425 Stent, S. 174.
Diplomatie und die Deutsche Frage
103
Gorbatschow im Kaukasus gegenüber Kohl den äußeren Aspekten der Vereinigung Deutschlands zustimmte, scheint es weder einen einheitlichen sowjetischen Aktionsplan noch eine konzeptionelle Basis für Diskussionen mit dem Westen gegeben zu haben.“ 426 Nur schwer lässt sich die Frage beantworten, warum „Gorbatschow und seine Mitstreiter keine Strategie besaßen“. 427 Ein Teil der Antwort beruht auf den Erfahrungen der Sowjetunion im „Großen Vaterländischen Krieg“. Dieser Krieg mit über 27 Millionen Toten allein auf sowjetischer Seite reichte für ein „Nein“ gegenüber dem Wunsch der Deutschen nach Vereinigung aus. Allerdings war eine Situation entstanden, in der es schwierig und nahezu unmöglich war, die Erfüllung dieses Wunsches ohne Gewaltanwendung in der DDR zu verhindern. Das war das Dilemma, in dem Gorbatschow steckte. Er konnte und wollte keine Gewalt anwenden. 428 Moskau blieb vor allem eine Politik der Entschleunigung und des Bremsens im Einigungsprozess 429, die zunächst von Frankreich und Großbritannien 430 mitgetragen wurde. Durch Zugeständnisse in der „NATO“-Frage konnte Moskau Hilfszusagen für die Modernisierung der Sowjetunion erreichen – mehr nicht. „Geld war im Tanz um die Vereinigung Deutschlands nicht ohne Bedeutung.“ 431 Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist eine Äußerung von Frankreichs Präsident Mitterrand nach der Einigung im Kaukasus und der Zustimmung Moskaus zur NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands: „Da haben wir den Salat. Gorbatschow, der uns so bekniet hat, Kohl in nichts nachzugeben, gibt jetzt selber alles auf, ganz sicher für ein paar Mark mehr. Damit können wir gegen die Wiedervereinigung nicht mehr lange Widerstand leisten.“ 432 James Baker sagte dazu in einem Interview in der Universität von Virginia: „Gorbatschow gab erst spät sein Ja zur NATO-Mitgliedschaft von Deutschland. Aber er bekam dafür 22 Milliarden DM.“ 433 426 427 428 429
430 431 432 433
Ebda. Ebda., S. 175. Ebda., S. 176. Gorbatschow schrieb in seinen „Erinnerungen“, S. 717: „In der gegebenen Situation war es entscheidend, zu verhindern, dass Kohl in Euphorie verfiel und die deutsche Frage lediglich auf die Vereinigung und Befriedigung nationaler Sehnsüchte der Deutschen reduzierte. Sie betraf die Interessen aller Nachbarstaaten, einschließlich der Sowjetunion.“ Thatcher, S. 1096 ff. Stent, S. 178. Maetzke, Heinrich: Kohl, Gorbatschow und eine „planetarische Revolution“, in: Bayernkurier vom 17. 7. 2015, S. 1. George H.W. Bush Oral History Project, Miller Center, University of Virginia. Miller Center: Presidential Oral Histories: In Internet: https://millercenter.org/the-presi
104
Kapitel 3
Fast kategorisch lehnte Michail Gorbatschow am 30. November 1989 auf dem Weg zum Gipfel in Malta auf einer Pressekonferenz in Mailand eine Wiedervereinigung Deutschlands „jetzt“ ab, als er sagte: „Langfristig ist das nicht auszuschließen. Wir sollten dieses Thema aber nicht drängeln und auch nicht forcieren.“ 434 Das ist umso bemerkenswerter, als ihn das Thema „Deutschland“ seit seinem Amtsantritt beschäftigt hat. Ein Beispiel dafür ist sein Satz in einer Sitzung mit seinen Beratern am 29. September 1986. Dort hatte Gorbatschow gesagt: „Vielleicht sagen wir [zu Honecker]: Wie blickt ihr in die Zukunft, auf die deutsche Frage? Lassen wir sie sich äußern. Das wird für sie ein ungemütliches Gespräch. Alle sozialistischen Länder sind verwundbar. Wir können sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen.“ 435 Gorbatschow hatte also die Realität richtig eingeschätzt: Es gab zwar zwei Staaten in Deutschland, doch die Menschen fühlten sich gemeinsam als Deutsche. Behutsamkeit war angezeigt, um den beginnenden Prozess der Wiedervereinigung nicht zu gefährden. Beim Empfang des Diplomatischen Corps wies Helmut Kohl einen deutschlandpolitischen Alleingang zurück. In der Volkskammer stellte der neue DDR-Ministerpräsident Modrow sein Kabinett vor. In einer kurzen Rede sprach er zwar von einer möglichen „Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik, nicht aber von einer Wiedervereinigung. 436 Modrow musste vorsichtig agieren und lavieren. Denn aus Bonn kam politischer Druck – unterstützt von den USA –, eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten anzustreben – einschließlich der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland.
dency/presidential-oral-histories/james-baker-iii-oral-history-2011 (letzter Zugriff: 12. 5. 2020) Baker belegt seine Behauptung aber nicht. Wörtlich sagte Baker: „If you follow through on all of that, you’ll find that it was only subsequently that he specifically agreed to the unified Germany being in NATO, with some restrictions on the use of NATO forces on the territory of the former GDR, but he got 22 billion Deutsch marks for it. So to what extent was that a deal – at the time he said that at the Washington summit he’d been talking extensively with Kohl. They got a lot of money, which they needed badly.“ 434 Baker, S. 159. 435 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 8, S. 16 f. 436 Modrow, Regierungserklärung vom 17. November 1989. Neues Deutschland vom 18. 11. 1989. S. 1. In Internet: http://www.glasnost.de/hist/ddr/89regerkl.html. Zitat: „Wir sind dafür, die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen, die weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten hinausgeht. Dafür ist diese Regierung gesprächsbereit. So können beide deutsche Staaten und ihre Beziehungen wichtige Pfeiler für den Bau und die Ausgestaltung des gemeinsamen europäischen Hauses werden.“
Diplomatie und die Deutsche Frage
105
Dass die DDR-Führung diese Vorstellungen nicht akzeptierte, liegt auf der Hand. Sie folgte dem Moskauer Kurs, der eine Möglichkeit für die Beendigung der Teilung in dieser Weise sah: 437 Erst sollte eine Vertragsgemeinschaft, dann eine Konföderation zwischen BRD und DDR, am Ende dann eine „Deutsche Föderation“ gebildet werden. Damit könnten die „innerdeutschen Veränderungen“ in den europäischen Prozess zur Schaffung eines „europäischen Hauses“ eingebettet werden. Das schloss aber nach Ansicht von Modrow die Neutralität Deutschlands ein. Neutralität bedeutete De-Militarisierung, also den Austritt der BRD aus der NATO. Diese Gedanken waren Bestandteil sowjetischer Deutschlandpolitik seit Stalin und von Bonn und den USA verworfen worden. Jetzt tauchten sie bei Modrow wieder auf. 438 Bonn musste diese Vorschläge ablehnen. Für Kohl war die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO überhaupt nicht verhandelbar. Außerdem war sie Voraussetzung für Washingtons Unterstützung des Vereinigungskurses. Damit war aber zugleich klar: Mit einer DDR-Regierung gab es nichts zu verhandeln. 439 Kanzler Kohl telefonierte kurz nach dem Mauerfall 1989 lange mit George Bush. Kein Wort über NATO, deutsche Einheit oder Konföderation. Noch beherrschte die instabile Lage in der DDR die Themen. Wie kann man helfen? Wie reagiert Gorbatschow? Im November 1989 lag das Ziel „Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten“ fest im Blick sowohl von Kanzler Kohl wie auch von Bush. Allerdings sah Bush bereits zu diesem Zeitpunkt ein vereintes Deutschland in der NATO, während Kohl und Außenminister Genscher dazu noch keine feste Meinung gebildet hatten. Auch der zeitliche Ablauf war völlig ungewiss. Als Genscher am 20. November 1989 in Washington eintraf, spielte er das Thema „Deutsche Einheit“ herunter, obwohl sowohl Bush wie auch sein Außenamtschef Baker längst Gutachten auf dem Tisch liegen hatten, die sich mit dem Ziel „Deutsche Einheit“ beschäftigten. 440 Genscher sprach in Washington von einem „Prozess, der sich im Rahmen der allgemeinen politischen Veränderungen in Europa vollziehe, wozu die Bindungen der Bundesrepublik an die Europäische Gemeinschaft (EG), die Haltung der NATO gegenüber der Sowjetunion und die Ost-West Beziehungen gehörten“. 441 437 Modrow, Hans: Ich wollte ein neues Deutschland, Berlin 1998, S. 339; ders.: Aufbruch, S. 123. 438 Galkin / Tschernjajew, S. 304 ff; Modrow: Aufbruch, S. 118 ff. 439 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1028. 440 Beschloss / Talbott, S. 181 ff. 441 Zelikow / Rice, S. 169 f.
106
Kapitel 3
Präsident Bush war offensiver. „Er sei für die deutsche Selbstbestimmung“, bekannte er und fragte dann Genscher: „Wird die Wiedervereinigung schneller vorangehen, als wir alle denken?“ „Keiner weiß das“, so Genscher. „Bei allem, was man tue, müsse man jedoch darauf achten, die Sowjetunion nicht zu beunruhigen.“ 442 Zum Schluss fügte Genscher hinzu: „Die Dinge müssen jetzt im Gesamtrahmen der Ost-West-Beziehungen behandelt werden. Zusammen mit unseren Freunden können wir ein neues Europa aufbauen. Wir haben das siegreiche Konzept. Wir sollten nicht zu viel darüber reden, aber wir wissen, dass die Dinge in unserem Sinne laufen.“ 443 Nikolai Portugalow, Deutschlandspezialist der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU unter Leitung von Valentin Falin, traf am 21. November 1989 in Bonn ein. 444 Er hatte ein Non-Paper geschrieben, zu dem sich offiziell niemand bekennen würde. Dieses Non-Paper zeige, so erklärte der sowjetische Diplomat und Vermittler seinem Gesprächspartner Teltschik, dass man in Moskau in der deutschen Frage alternativ über Vieles nachdenke. „Mittelfristig können wir uns sogar vorstellen, für eine wie immer gestaltete deutsche Konföderation grünes Licht zu geben.“ 445 „Die Fragen auf dem Non-Paper hatten alle einen Bezug zur deutschen Einheit: Friedensvertrag, Konföderation und all diese Dinge. Ich war buchstäblich elektrisiert. Ausgerechnet Portugalow, der KGB-General“, so Teltschik. 446 Portugalow schrieb erstmals darüber, „dass es in Kreisen des ZK in Moskau Überlegungen darüber gebe, was passieren würde, wenn die Bundesregierung die Frage der Wiedervereinigung in die praktische Politik einführen wolle“. 447 Bis heute ungeklärt ist die Frage, wer Portugalow mit dem Non-Paper nach Bonn geschickt hatte. Offiziell gehörte er zum Arbeitskreis um Valentin Falin. Portugalow fungierte aber auch als Informations-Händler. So ging er bei vielen Zeitungen in West-Deutschland ein und aus, vor allem auch bei „Bild“. Der Sowjet-Diplomat starb 2008. Bis heute (2020) sind seine Texte und Bücher nicht freigegeben. Nur einige wenige Journalisten durften sie lesen und haben dann darüber geschrieben. Portugalow hielt eine Reihe von Vorträgen in Deutschland. So sprach er z. B. auf der Veranstaltung der Joseph-Wirth-Stiftung e. V. der Stadt Freiburg und der West-
442 Ebda., S. 170. 443 Ebda. 444 In Internet: http://www.helmut-kohl-kas.de/index.php?msg=559 (letzter Zugriff: 5. 6. 2020). 445 Teltschik, S. 43 f. 446 In einem Gespräch mit dem Autor am 17. Juni 2015 in Berlin. 447 Deutsche Einheit, Dok Nr. 112 A, S. 616.
Diplomatie und die Deutsche Frage
107
Ost-Gesellschaft Südbaden am 19. Oktober 2007 im Freiburger Rathaus 448. Sein Thema: „Von Rapallo zu den deutsch-russischen Beziehungen heute“. Hier einige Kernsätze aus dem Vortrag, der den teils dramatischen Wandel in der Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Westen generell, gegenüber der Bundesrepublik und der DDR und gegenüber der Wiedervereinigung aufzeigt. Bis 1989 sei die sowjetische Haltung im Hinblick auf die DDR unverändert geblieben, obschon der Kreml ganz klar gesehen habe, dass die Bundesrepublik die DDR an die „bundesdeutsche goldene Kette“ gelegt hatte. Erst der Vertrag über die Mittelstreckenraketen und der Verzicht Moskaus auf die Breschnew-Doktrin hätten die Lage etwas verändert. Jedoch blieb Moskaus Position in Bezug auf die DDR praktisch die alte, auch nach Gorbatschows Visite in Bonn im Sommer 1989. 449 Portugalow weiter: „Erst nach Honeckers Fiasko nach dem traurigen Jubiläum des 40-jährigen Bestehens der DDR, und erst recht nach dem Mauerfall, begann sich die Lage radikal zu ändern. Dieser Zeitpunkt markiert auch die meines Erachtens größte staatsmännische Leistung Gorbatschows, dem man ansonsten viel vorwerfen kann: Seinen ausdrücklichen Befehl an die sowjetischen Streitkräfte und sonstigen Moskauer Vertreter in der DDR, sich in die Entwicklung in Ostberlin nicht einzumischen.“ Über die in Kohls „10-Punkten“ vom 28. November 1989 erwähnte Möglichkeit der konföderativen Annäherung zwischen BRD und DDR wollte Gorbatschow (noch) nicht nachdenken. Er stand allzu sehr unter dem Einfluss seines Sicherheitsberaters Tschernjajew. Dieser war ein „treuer“ Gefolgsmann, für den eine Vereinigung beider deutschen Staaten völlig unrealistisch war. Wohl aber eine Annäherung. Denn als Gorbatschow mit seiner Öffnungspolitik gegenüber den USA und der Bundesrepublik einen Kurs der Kooperation statt der Konfrontation einschlug, folgte ihm Tschernjajew. Er war es, der den Gedanken eines neuen europäischen Sicherheitssystems, des „Europäischen Hauses“ mit entwarf. Dabei sollten die beiden Staaten durch Zusammenarbeit auf vielen Ebenen immer näher zueinander rücken. Vereinigung also Nein, Kooperation Ja. Und das unter dem Dach eines großen europäischen Hauses parallel zur kapitalen Abrüstung beider Weltmächte. Diese Idee hatten Gorbatschow und Tschernjajew Bundeskanzler Kohl bereits beim Besuch von Gorbatschow in Bonn 1987 nahegebracht. 450 448 Portugalow, Nikolai: Vortrag auf der Veranstaltung der Joseph-Wirth-Stiftung e. V., der Stadt Freiburg und der West-Ost-Gesellschaft Südbaden am 19. Oktober 2007 im Rathaus Freiburg. 449 Gorbatschow war vom 12. bis zum 15. Juni 1989 in der Bundesrepublik. 450 Mitschnitt eines Gespräches im „Deutschlandfunk“ mit Tschernjajew am 23. März 2007 um 19.15 Uhr. Transskript beim Deutschlandfunk. Titel der Sendung: „Tschernjajew erzählt: Wie Gorbatschows Berater die deutsche Einheit erlebte.“
108
Kapitel 3
Einige Monate später schlug Kohl mit seinem untrüglichen politischen Instinkt die Geldreform vor und sicherte dadurch die Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes als Anschluss der DDR an die BRD, was jeden Gedanken an eine Art Konföderation mit der DDR (unter Patenschaft von Moskau) in den Orkus verschwinden ließ. So wurde die deutsche Einheit nach dem amerikanischen Modell wiederhergestellt. Denn die USA haben – besonders in Europa – mitnichten auf das Hauptprinzip ihrer Außenpolitik verzichtet, ihre Oberhoheit auf dem alten Kontinent zu erhalten und auf die früheren ‚sozialistischen Länder‘ zu erstrecken. Portugalow war es, der mit der Übergabe des erwähnten Non-Papers an Horst Teltschik am 21. November 1989 der Bonner Führung signalisierte, dass in Moskau ohne Tabus über deutsch-deutsche Möglichkeiten nachgedacht wurde. Insofern hatte er indirekt seinen Anteil an Helmut Kohls „Zehn-Punkte-Plan.“ 451 Kohl-Berater Horst Teltschik glaubte Portugalow und war von dem Emissär Moskaus „elektrisiert“. 452 In einer Zusammenfassung von Teltschik 453 für Kohl wurde deutlich, dass sich der Zug in Richtung Einheit in Bewegung gesetzt hatte. Die Formulierungen waren so gewählt, dass der Kanzler sie als Empfehlung ansehen musste, seinen Plan für eine Vereinigung beider Staaten in Deutschland möglichst schnell vorzulegen. Widerstände waren nicht so beschrieben, als ob sie nicht beseitigt werden könnten. Im Gegenteil: Horst Teltschik hatte seine Worte so gewählt, dass alles machbar erschien, wenn Kohl (und seine Berater) es klug angehen würden. Es sollte sich zeigen, dass Teltschik die westlichen wie den östlichen Partner richtig eingeschätzt und daraus für die Bonner Politik die richtigen Konsequenzen gezogen hatte. Nun brauchte es nur den Mut des Kanzlers, seine Vorstellungen von der Einheit so umzusetzen, dass sie die Ängste der Partner beseitigen und die Vereinigung Deutschlands als „großen Nutzen“ für alle, sowohl die Europäer in Ost und West wie die Amerikaner, darstellte.
451 Karner, S. 31. 452 Plato, S. 119. 453 Deutsche Einheit, Dok Nr. 94, S. 541 ff.
Kapitel 4 Beiträge zur Einheit Europas Die Frage, ob das vereinte Deutschland der NATO oder dem Warschauer Vertrag bzw. einem neuen, anderen Bündnissystem angehören könnte, gewann an Bedeutung. 454 Im Grunde ging Gorbatschow von den gleichen Prämissen aus wie Kohl: Wenn die Deutschen schon ständig über die Wiedervereinigung reden, haben sie bestimmt schon Pläne, meinte er. Doch konkrete Pläne gab es weder an der Moskwa noch am Rhein. Es begann ein Wettlauf, ohne Ziel und Weg genau zu kennen. 455 Aber jetzt setzten Dynamik und Phantasie ein. Deutsche Einheit war das Stichwort – ob in der NATO oder nicht, war noch offen. Kohl hatte es eilig, Michail Gorbatschow zu treffen. 456 Es bestätigte sich bald, dass man in Moskau mit Überlegungen zu einer deutschen Wiedervereinigung und zu einer künftigen Bündniszugehörigkeit erheblich weiter war als die Bonner Politik. Denn am Rhein hatten sich alle politischen Gruppierungen weitgehende Zurückhaltung auferlegt. 457 In der SPD meldete sich allerdings Oskar Lafontaine 458 zu Wort und meinte: „Wiedervereinigung ja, aber in den Vereinigten Staaten von Europa“, 459 wobei der Begriff „Wiedervereinigung“ in der Sozialdemokratie höchst umstritten war. 460 Bei allen Bonner Aktivitäten waren die Empfindlichkeiten der europäischen Partner zu berücksichtigen. Am 18. November 1989 traf man sich zu einem Abendessen in Paris. Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand hatte eingeladen. Anwesend waren die Regierungschefs aller EU-Länder, also auch Kohl. Ein Thema wurde bewusst ausgeklammert: Was wird nun aus den beiden deutschen Staaten nach dem Mauerfall? Kohl antwortet später auf die Frage, ob auch über die „Wiedervereinigung“ gesprochen worden sei, so: „Jein, wir haben über das Selbstbestimmungsrecht gesprochen.“ 454 455 456 457 458
Karner, S. 30. Stent, S. 180. Deutsche Einheit, Anmerkung 1 zu Dok. 112A, S. 616. Die Einheit, Dok Nr. 23, S. 141 ff. Oskar Lafontaine: 1985–1989 Ministerpräsident des Saarlandes; 1995 bis1999 Vorsitzender der SPD; 1998 bis 1999 Bundesminister der Finanzen. 1995 Austritt aus der SPD und Eintritt in die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) – später Linkspartei. 2007 bis 2010 Parteivorsitzender der „Linken“. Seit 2012 Fraktionschef der „Linke“ im Landtag des Saarlandes. 459 Rödder, Andreas: Die deutsche Frage vor dem Einigungsvertrag. Parteien, Intellektuelle, Massenmedien in der Bundesrepublik, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Bd. 15, Heft 1, S. 295–310, hier: S. 296. 460 Ebda., S. 299; Gerhard Schröder, der spätere Kanzler, nannte ihn „reaktionär und hochgradig gefährlich“.
110
Kapitel 4
Das momentane Schweigen der anderen führte bei Kohl dazu, dass er sich zum Handeln entschloss. Ergebnis seiner Überlegungen war der „Zehn-Punkte-Plan“ vom 28. November 1989, an dem der Verfassungsrechtler und Ex-Bundesverteidigungsminister Prof. Dr. Rupert Scholz wesentlichen Anteil hatte. 461
Kohls Zehn-Punkte-Plan Als Kohl am Morgen des 28. November an das Rednerpult des Deutschen Bundestages trat, war nur eine Handvoll Eingeweihter informiert, was er sagen würde. Auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte keine Information, ebenso wenig die Westmächte, die entgegen der diplomatischen Gepflogenheiten nicht unterrichtet worden waren; allein im Weißen Haus war der Text vor Beginn der Bundestagssitzung eingegangen, in Washington war es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch Nacht. 462 Was Kohl in diesen zehn Punkten sagte, war inhaltlich und in keinem Punkt wirklich neu. 463 Die ersten fünf Punkte markierten Stufen der innerdeutschen Entwicklung: Erstens Sofortmaßnahmen, zweitens die Fortführung der ökonomischen, technologischen und kulturellen Zusammenarbeit, drittens eine umfassende Ausweitung der bundesdeutschen Hilfen, wenn „ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird“, viertens die von Hans Modrow in dessen Regierungserklärung vom 17. November 1989 angesprochene „Vertragsgemeinschaft“, fünftens, darüber hinaus „konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland“ mit dem „Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“. An diesem Punkt, unmittelbar vor einer Wiedervereinigung, wechselte das Programm von der innerdeutschen auf die internationale Ebene, um die Einbettung der deutschen Vereinigung in den internationalen Integrationsprozess zu dokumentieren: sechstens die weitere Entwicklung der Ost-West-Beziehungen, siebtens die Fortsetzung der europäischen Einigung und ihre Ausdehnung auf die ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Südosteuropas, „achtens die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses“ und neuntens „weitreichende und zügige
461 So Volker Koop gegenüber dem Autor. Koop war damals Sprecher im Bundesverteidigungsministerium. 462 Vgl. Zehn-Punkte-Programm zur Deutschlandpolitik 1989; in Internet: www.helmutkohl-kas.de/index.php?msg=559 (letzter Zugriff: 5. 6. 2020). 463 Der Wortlaut der Rede im Anhang.
Kohls Zehn-Punkte-Plan
111
Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle“. Somit sollte schließlich zehntens der „Zustand des Friedens in Europa“ erreicht werden, in dem Deutschland „seine Einheit wiedererlangen kann“. Sprachlich und politisch hatte Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm ein nach allen Seiten abgefedertes Konzept vorgestellt, das den Begriff „Wiedervereinigung“ vermied. Zwei weitere Themen sprach er ebenfalls nicht an: die polnische Westgrenze und die Bündniszugehörigkeit eines wiedervereinten Deutschlands – beide Fragen gewannen binnen weniger Wochen zentrale Bedeutung. Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Beifall bei der SPD war die erste Reaktion der Abgeordneten auf Kohls Rede, auf welche die folgenden Redner wegen des Überraschungsmoments spontan nur mit Zustimmung reagieren konnten. Obwohl Kohl in keinem Punkt über Bekanntes und über wiederholt geäußerte (Rechts-)Standpunkte der Bundesrepublik hinausging, rief sein Programm ein gewaltiges Echo hervor, zumal im Ausland. Denn Kohl hatte damit gebrochen, regierungsoffiziell nur zurückhaltend über das Ziel Wiederherstellung der deutschen Einheit zu sprechen, und er hatte das Thema nun definitiv auf die aktuelle politische Tagesordnung gesetzt. Der Bundeskanzler hatte die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage übernommen, und vor allem hatte er instinktiv wie wohl kein anderer die Stimmung in der DDR-Bevölkerung erfasst. Kohl hatte am 23. November 1989 seinen Mitarbeitern den Auftrag erteilt, ein Papier zu seinen deutschlandpolitischen Positionen auszuarbeiten. Daraus wurde dann der bekannte „Zehn-Punkte-Plan“. Wichtigste Vorgabe an den Leiter der Arbeitsgruppe, Horst Teltschik, war das Ziel „deutsche Einheit“, ohne jedoch den Weg zu beschreiben. Zeitmarken durften nicht genannt werden. Alles sollte zudem geheim gehalten werden. Nicht einmal Außenminister Genscher bzw. der Koalitionspartner FDP sollten informiert werden. Weder Frankreich, noch England und schon gar nicht die Sowjets waren von dieser Rede unterrichtet worden, die Kohl dann am 28. November 1989 im Bundestag hielt. Die Kernsätze finden sich im Anhang Ziffer 6 bzw. im Internet. 464
464 Redetext mit Anmerkungen in Internet: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2014/kwv47_kalenderblatt_kohl/341782 (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
112
Kapitel 4
Genschers Kritik an Kohls Zehn-Punkte-Rede Bundesaußenminister Genscher war von dieser Rede überrascht worden. 465 und zeigte sich lange Zeit verärgert. Beim „Lüdenscheider Gespräch“ 466 bekannte er: „Es stimmt, der 10-Punkte-Plan des Kanzlers war mit der Regierung, also auch mit mir als Außenminister, nicht abgestimmt. Ich hätte ihm auch in dieser Form nicht zustimmen können, und zwar deshalb, weil er geschichtlich überholt war. [. . . ] Bei den Demonstrationen hieß es, ‚Wir sind ein Volk‘, und nicht ‚Wir sind zwei Konföderationsstaaten‘ oder irgendetwas. Das heißt, die geschichtliche Entwicklung war sehr viel weiter. Das ist auch der Grund, warum im Grunde von diesem 10-Punkte-Plan schon drei Wochen später kein Mensch mehr gesprochen hat, weil jetzt etwas ganz Anderes auf der Tagesordnung stand, nämlich die Einheit.“ 467 Genscher war noch aus einem anderen Grunde ungehalten über die Heimlichtuerei des Kanzlers. In seinen „Erinnerungen“ heißt es dazu: „Die Rede war auch nicht mit unseren wichtigsten Alliierten besprochen worden, deren Unterstützung wir in den nächsten Wochen dringend brauchen würden.“ 468 Auch inhaltlich gefiel Genscher einiges nicht. „Der Hinweis auf beiden Staaten gemeinsame Institutionen und auf konföderative Strukturen konnte dagegen Unklarheit und Unsicherheiten hervorrufen. Ich hegte gegen dieses Modell Vorbehalte, weil mir eine deutsch-deutsche Konföderation nicht lebensfähig, nicht zukunftsträchtig erschien.“ 469 Schließlich kritisierte Genscher im Bundestag: „In der Sache blieb die Erklärung des Bundeskanzlers weit hinter den tatsächlichen Gegebenheiten im Vereinigungsprozess zurück.“ 470 Genscher hatte recht. Schon in den drei Wochen nach Mauerfall hatten die Menschen in der DDR verstanden, dass das Tor zur Vereinigung weit offen war. Genscher schrieb: „Die Vereinigung war in vollem Gange, und es war gut, dass sie von unten kam. Es war offenkundig, dass für die Herstellung konföderativer Strukturen keine Zeit bleiben würde. Vielmehr musste die Einheit Deutschlands so rasch wie möglich vollendet werden,
465 Plato, S. 122. 466 25. April 2001. Das „Lüdenscheider Gespräch“ ist eine Institution der Fernuniversität Hagen. Es findet seit 1994 monatlich mit Gästen aus Politik, Wirtschaft und Kultur im Kulturhaus in Lüdenscheid statt. 467 Plato, S. 123. 468 Genscher: Erinnerungen, S. 671. 469 Ebda., S. 672. 470 Ebda., S. 673.
Genschers Kritik an Kohls Zehn-Punkte-Rede
113
und dafür brauchten wir die Zustimmung aller unmittelbar Beteiligten, das heißt der vier für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte.“ 471 Nicht nur in Moskau war man erstaunt über diese Rede. Das war nicht die „Besonnenheit“, um die Gorbatschow, Thatcher und Mitterrand den Kanzler gebeten hatten. Auch wenn von einer unmittelbaren Vereinigung beider deutscher Staaten nicht direkt die Rede war: Es war zu erwarten, dass es harsche Reaktionen geben würde, die dann auch nicht ausblieben. Die Reaktionen im Bundestag waren mit Ausnahme bei den Grünen positiv. Karsten Voigt, Mitglied des Bundestags und der Nordatlantischen Versammlung, erklärte für die SPD die grundsätzliche Zustimmung zu dem Programm. In der DDR und dort auch in den Reihen der Opposition wurde allerdings der Zehn-Punkte-Plan des Kanzlers mit gemischten Gefühlen, wenn nicht gar mit Ablehnung aufgenommen. Egon Krenz, immerhin noch SED-Generalsekretär und DDR-Staatschef, wies den Plan vehement zurück. Er blieb dabei: „Es gibt zwei souveräne deutsche Staaten.“ Auch DDR-Bürgerrechtler Jens Reich vom „Neuen Forum“ gingen Kohls Pläne deutlich zu weit: 472 Ich kann noch nichts sagen dazu. Mein Zwiespalt ist ein bisschen aus der eigenen Erfahrung der vielen abgelehnten Initiativen auf Konföderationen aus den 50er-Jahren. Damals hat Stalin, damals hat Ulbricht, damals hat Wehner von der SPD solche Vorschläge gemacht und man hat Adenauer viele Vorwürfe gemacht, dass er sie nie ausgetestet hat, sondern immer gleich ablehnte. Und ich denke, man sollte über solche Vorschläge ernsthaft nachdenken und sollte sie wirklich austesten. Die Antwort muss natürlich die DDR-Bevölkerung letzten Endes geben, und die DDR-Bevölkerung hat ja der Welt das Schauspiel einer selbstbewussten friedlichen Revolution gegeben, die ein Regime hinweggefegt hat, und da ist mir schwer vorstellbar, dass sie jetzt in der Krise als Bankrotteure in so eine Konföderation gehen wollen. Ich möchte nicht gleich Ja oder Nein dazu sagen. Persönlich neige ich dazu, dass man auf absehbare Zeit bei der Zweistaatlichkeit bleiben sollte. Ich denke schon, dass es eine Reihe von Leuten gibt, die einen solchen Weg unterstützen würden, entgegengehen würden unter gewissen Bedingungen, und ich denke aber auch, dass es andere gibt, die ihn ablehnen, die an Ausverkauf denken und glauben, dass zumindest erst mal unsere Krise, unser Bankrott behoben werden muss, bevor wir überhaupt den Stolz haben können, uns in eine solche Entwicklung zu begeben.
Erstmals kam jetzt auch die Idee eines „Runden Tisches“ auf. Ziel dieser Idee aber war es nicht, die Einheit vorzubereiten, sondern die DDR zu reformieren.
471 Ebda. 472 Morgenmagazin, Deutschlandfunk, 28. November 1989.
114
Kapitel 4
Sowohl in Moskau wie auch in allen westlichen Hauptstädten war der Mauerfall der Beginn, manchmal auch die Fortsetzung der Diskussionen über eine deutsche Wiedervereinigung. Auch in Moskau waren sich die Akteure bewusst, dass mit dem Fall der Mauer auch das Ende der Teilung Deutschlands und Europas bevorstand. Wann das sein könnte, darüber war man sich nicht einig. Kanzler Helmut Kohl wollte das Tempo bestimmen. Er wollte auf keinen Fall, dass die vier Siegermächte über die künftige Gestaltung Deutschlands das letzte Wort haben sollten. Noch ein „Jalta“, also eine totale Fremdbestimmung über Deutschland, durfte es nicht geben. 473 Für Kohl ergab sich zunehmend die Frage: Vereinbaren Moskau und Washington allein einen Deal zur deutschen Einheit? Oder reden die Deutschen in West und Ost dabei mit? Diese Frage wurde dann mit der Lösung 2 + 4 beantwortet. US-Präsident Bush spürte dies und schrieb: 474 „Kohl konnte die Einheit nicht allein herbeiführen. Dazu brauchte er uns. Aber er fürchtete, dass Gorbatschow und ich ohne die Deutschen zu einer Einigung über Deutschland kommen könnten. So wie in Jalta 1945 Stalin und Roosevelt.“ 475 Kohl rief – wohl den Ärger ahnend, den er bei allen durch seine Rede verursacht hatte – sofort Bush an und versprach ihm: „Alles, was ich künftig tun werde, werde ich mit Ihnen abstimmen“. 476 Bereits am 29. November 1989 hatte er dem US-Präsidenten versichert: „Die DDR wird im Warschauer Pakt bleiben. Die Bundesrepublik Deutschland in der NATO.“ 477 Die Bündnisfrage kam in seiner Rede vom Tag zuvor überhaupt nicht vor. Jetzt aber umging er sie gegenüber Bush mit einem vage gehaltenen Satz. Über die Konsequenzen schien der Kanzler nicht nachgedacht zu haben: Wollte er die Einheit, konnte es nicht zwei Systeme für das vereinte Deutschland geben. 478 Auch die USA setzten Zeichen. Schon am 29. November 1989 gab Außenminister Baker in Washington eine „Erklärung zur Frage der deutschen Wiedervereinigung“ ab. 479 Die Aussage war unmissverständlich: ja
473 Auf der Konferenz von Jalta vom 3. bis 11. Februar 1945 beschlossen die USA, Großbritannien und die Sowjetunion die Aufteilung Deutschlands nach Kriegsende in Besatzungszonen. 474 Bush / Scowcroft, S. 194. 475 Ebda. 476 Ebda., S. 195. Das wunderte Scowcroft. Genau das hatte er mit der Rede eben nicht getan, ist seine Bemerkung an dieser Stelle. 477 Ebda. S. 196. 478 Dies bemerkte aber Scowcroft sofort. Er schrieb: „He (Kohl) was certainly not yet out in front of the process as it was developing.“ Ebda. S. 196. 479 Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, Anmerkung 1.
Genschers Kritik an Kohls Zehn-Punkte-Rede
115
zur Einheit und ja zur NATO. In seiner Erklärung hatte James Baker vier Punkte formuliert: Das Ziel der deutschen Selbstbestimmung wird unbeschadet ihrer Konsequenzen weiterverfolgt. Weiter: Wir wollen wirklich keinerlei bestimmte Vision der Einheit unterstützen oder ausschließen. Es kann einen Einheitsstaat bedeuten oder auch eine Konföderation oder auch etwas anderes bedeuten. Falls es eine Einheit geben sollte, sollte Deutschland nicht nur Mitglied der NATO bleiben, sondern auch Bestandteil einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft sein. Das heißt, so Baker, es soll keinen Handel Neutralität gegen Einheit geben und Deutschland soll demokratisch bleiben. Im Interesse allgemeiner europäischer Stabilität würden wir (USA) es vorziehen, dass die Schritte zur Einheit friedlich und stufenweise vollzogen werden. Die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, insbesondere im Hinblick auf die Grenzen, müssen eingehalten werden. Also keine Grenzänderung in Folge der Einheit. Das galt insbesondere für die deutsch-polnische Grenze. 480
Damit waren die Grundprinzipien für eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten von Seiten der USA festgelegt. Jetzt war es daher an der Sowjetunion, diesen Prinzipien nachzugeben oder sie abzulehnen. In diesem Fall hätte das ein nein zur Einheit bedeutet. Im November / Dezember 1989 war die Sowjetunion sowohl gegen die Einheit und erst recht gegen eine Einheit unter Beibehalt der NATO-Mitgliedschaft. Diese Probleme waren in Moskau allzu klar erkannt worden. Denn im Umfeld von Gorbatschow sahen einige seiner Berater, was der Mauerfall für die Sowjetunion und Europa, insbesondere aber für Deutschland bedeuten würde. Einer der Mitarbeiter von Außenminister Eduard Schewardnadse, Tejmuraz Stepanow-Mamaladze, notierte: „Ich sehe das Ende von Jalta, das Ende der nach dem Krieg entstandenen Spaltung Europas gekommen, und ich sehe die Errichtung eines neuen vereinten Deutschlands.“ 481 Noch deutlicher formulierte es ein anderer Berater von Gorbatschow, Anatolij S. Tschernjajew: „Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche in der Geschichte des ‚sozialistischen Systems‘ ist zu Ende gegangen. Hier geht es schon nicht mehr um den Sozialismus, sondern um eine Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt; hier ist das Ende von Jalta, das Finale für das Stalinsche Erbe und für die Zerschlagung von HitlerDeutschland.“ 482
480 Ebda., Dok Nr. 102; Anm. 1 am Ende. 481 Karner, S. 21. 482 Ebda.
116
Kapitel 4
Polens Präsident Jaruzelski klagte: „Eine Wiedervereinigung ist völlig unakzeptabel. Keiner kann das erlauben, wenn es wieder zum ‚Anschluss‘ kommt. Dann würde Deutschland auch Österreich wieder schlucken.“ 483 Gorbatschow steckte in einer Zwickmühle. Um seine Perestroika durchsetzen zu können, brauchte er Hilfe aus dem Westen. Um die Einheit Deutschlands ohne NATO zu ermöglichen, brauchte er Bündnispartner im Westen. Dafür boten sich nur Frankreich und Großbritannien an. Gleichzeitig musste er den „Warschauer Pakt“ zusammenhalten und auch Sorge tragen, dass der Widerstand gegen seine Perestroika-Politik in der KPdSU und im Land selbst nicht so groß werden durfte, dass er gestürzt werden könnte. Eine fast unlösbare Aufgabe!
Internationale Reaktionen auf Kohls Rede Horst Teltschik legte dem Kanzler am 30. November 1989 die Reaktionen aus aller Welt zur Zehn-Punkte-Rede vor. 484 So habe US-Außenminister Baker folgende Grundsätze zur Erlangung der deutschen Einheit aufgestellt: Selbstbestimmung sei vorrangig; ‚. . . wir sollten wirklich keinerlei bestimmte Vision der Einheit unterstützen oder ausschließen‘; Einheit könne Bundesstaat, Konföderation oder ‚etwas Anderes‘ bedeuten; Einheit müsse im Kontext von anhaltenden Bindungen an die NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft erfolgen; „es sollte keinen Handel ‚Neutralismus für Einheit‘ geben . . . keine ‚Illusion‘ über den demokratischen Charakter der Bundesrepublik Deutschland geben;“ 485 es müsse im Interesse ‚europäischer Stabilität ein friedlicher, gradueller und schrittweiser Prozess‘ sein. Bonns Londoner Botschafter von Richthofen habe über ein Gespräch berichtet, das Genscher und Thatcher geführt hätten. „Premierministerin Thatcher habe Bundesminister (BM) Genscher eingangs um Erläuterung der Erklärung gebeten, sie sei sich aufgrund der Presseberichte und des Berichts ihres Botschafters nicht ‚ganz im Klaren‘. Nach der Erläuterung durch BM Genscher habe sie darauf verwiesen, dass man in Paris zusammengesessen und festen Grund unter den Füßen gehabt habe. Hieran wollte man doch festhalten – nun sei plötzlich alles in Bewegung.“
483 Sarotte: The Collapse, S. 121. 484 Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 574 ff. 485 Scowcroft und Bush zweifelten nach der Zehn-Punkte-Rede von Kohl im Bundestag an der Standfestigkeit des Kanzlers. Sie fragten sich, ob Kohl die Einheit Deutschlands gegen eine Neutralität eintauschen würde; vgl. Bush / Scowcroft, S. 195.
Internationale Reaktionen auf Kohls Rede
117
Zu Frankreich wurden Äußerungen Mitterrands zitiert, die dieser auf einer Pressekonferenz in Athen gemacht hatte. Er habe volles Verständnis für die Erklärungen des Bundeskanzlers und würde sich den Bestrebungen der deutschen Politiker nicht widersetzen. Mitterrand: „Ich habe stets erklärt, sie seien legitim. Ich weiß, dass die deutschen Politiker verantwortungsbewusst und vernünftig genug sind, um derartige Fragen zur rechten Zeit zu behandeln. Zudem werden sie eine ganze Reihe von Situationen prüfen, die es natürlich notwendig machen werden, dass die übrigen europäischen Völker nicht vor eine vollendete Lage gestellt werden, vor allem jene nicht, die die Funktion von Garanten ausüben.“ 486 Der französischen Haltung zur Frage der Einheit widmete Teltschik einen überproportional großen Teil seines Papieres. So gab er die wesentlichen Aussagen von Außenminister Roland Dumas aus einer Fragestunde der Nationalversammlung vom Vortag wieder: Die 10 Punkte, die die französische Regierung im Einzelnen genau prüfen werde, stellten in vollständiger und klarer Weise die Haltung der Bundesregierung dar, die der französischen Seite aufgrund des bestehenden ständigen Dialogs voll vertraut sei. Die französische Haltung zur Wiedervereinigung sei bekannt. Jedes Volk und daher auch das deutsche Volk habe das Recht, sein Schicksal zu bestimmen. Daher sei der Wunsch nach Wiedervereinigung völlig legitim. Hierfür sei aber die Zustimmung der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte unerlässlich. Der Weg dahin könne nur in demokratischer und friedlicher Weise erfolgen. Die französische Regierung lege besonderen Wert auf die Erklärung des Bundeskanzlers, dass die Wiedervereinigung im Kontext der europäischen Integration erfolgen müsse. Die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur EG, ihr Wille zur Europäischen Union müsse dazu führen, in Straßburg die notwendigen konkreten Beschlüsse zur sozialen Dimension sowie zur Wirtschaftsund Währungsunion zu fällen. 487
Die sowjetische Haltung beschrieb Teltschik wie folgt: Außenamtssprecher Gerassimow habe in Rom 488 erklärt, niemand in Europa sei „begierig“, ein vereintes Deutschland zu sehen, weil es die gegenwärtige Stabilität Europas umstoßen würde. Außenminister Schewardnadse habe die Ansicht vertreten, falls die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 als Ziel fallengelassen werde, könne die Sowjetunion ihre Ablehnung des von Bundeskanzler Kohl formulierten Plans überdenken. Gegenüber dem italienischen Außenminister habe er den Vorschlag von Bundeskanzler 486 Pressekonferenz von Mitterrand in Athen am 29. 11. 1989, in: Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 575. 487 Ebda. 488 Gorbatschow hielt sich vom 29.11. bis 1. 12. 1989 in Italien auf.
118
Kapitel 4
Kohl, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR könnten über einen Staatenbund möglicherweise zu einem Bundesstaat zusammenwachsen, abgelehnt. Konföderative Strukturen seien aber denkbar. Es gebe Realitäten, die nicht umgangen werden können. Äußerungen des italienischen Ministerpräsidenten Andreotti lagen noch nicht vor. Der italienische Regierungssprecher habe aber nach dem Gespräch zwischen Außenminister Schewardnadse und Außenminister Gianni De Michelis nach Agenturmeldungen erklärt, De Michelis teile in gewisser Weise die Sorge Schewardnadses hinsichtlich der Gefahr eines „deutschen Revanchismus“. Er habe gesagt, „dass ein deutsches Problem existiert und dass es mit Phantasie und Erneuerungsgeist angegangen werden muss, damit es im Rahmen des gemeinsamen europäischen Hauses Fortschritte macht.“ 489 Auf Anfrage von Botschafter Ruth hat der Generalsekretär des italienischen Außenministeriums nach Rücksprache mit dem Außenminister klargestellt, dass Außenminister Gianni de Michelis mit keinem Wort der Behauptung Schewardnadses über den „deutschen Revanchismus“ zugestimmt habe. De Michelis habe gewisse Sorgen im Hinblick auf den in „Europa aufflammenden Rechtsradikalismus, insbesondere der Republikaner in Deutschland, geäußert“. Zu den Benelux-Staaten war im Teltschik-Papier zu lesen: „Ministerpräsident Lubbers begrüßte den 10-Punkte-Plan vor dem niederländischen Parlament, warnte gleichzeitig davor, die vorgeschlagene Konföderation zu einer rein deutschen Angelegenheit zu machen. Dies zu verhindern, sehe er als Aufgabe der EG-Mitgliedstaaten an. Belgischer Außenminister Eyskens (ähnlich Luxemburg) hat Ihren [Kohls] Plan positiv aufgenommen.“ 490
Spaniens Außenminister Ordonez hatte nach Mitteilung von Botschafter Brunner in mehreren Interviews im Rundfunk und Fernsehen „alle Sympathie für das Anliegen der Deutschen“ geäußert und „die Erklärung des Bundeskanzlers als sachgemäß und flexibel“ bezeichnet. 491 Der Präsident der EG-Kommission, Delors, habe schließlich in einer persönlichen Erklärung seine Unterstützung für Kohls politische Linie bekräftigt. Wertend fasste Teltschik zusammen: 1. Während die amerikanische Reaktion durchgehend positiv ist und lediglich vor einem Handel „Neutralität gegen Einheit“ warnt – für den es keine
489 Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 576. 490 Ebda. 491 Ebda.
Internationale Reaktionen auf Kohls Rede
119
Grundlage in Ihrer Erklärung gibt –, fällt britische Reaktion von Premierministerin (PM) Thatcher gegenüber Bundesminister (BM) Genscher kritischer aus. (Öffentliche Erklärungen gibt es bisher nicht.) Dies liegt auf der Linie der bisherigen Äußerungen von PM Thatcher, die offenbar dezidiert der Auffassung ist, dass das Thema „deutsche Einheit“ jetzt nicht auf die Tagesordnung (TO) gehört und ein überstürzter Prozess in Richtung „deutsche Einheit“ die Position und die Nachkriegsordnung in Europa – die für Großbritannien (GB) zugleich eine gewisse Garantie für Stabilität auf dem Kontinent darstellt – erschüttern könnte. 2. Die offizielle französische Reaktion – vor allem in der Stellungnahme von AM Dumas – ist konstruktiv. Der Hinweis, dass die Wiedervereinigung im europäischen Kontext erfolgen müsse, ist nicht anfechtbar. Gleichzeitig wird damit der taktische Versuch verbunden, uns in der Frage des weiteren Vorgehens bei der Wirtschafts- und Währungsunion auf eine klare Entscheidung beim nächsten ER festzulegen. Gleichwohl dürfte es in Paris – wie auch in London und anderswo – die tiefsitzende Sorge geben, dass in der ganzen weiteren Entwicklung – Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten, Öffnung der EG gegenüber Osteuropa – die Hauptrolle bei Deutschland liegt. 492
US-Außenminister Baker erläuterte die Haltung seiner Regierung noch einmal am 29. November 1989 auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus in Washington. 493 Er wiederholte die Position der USA zur NATO-Frage: Das vereinte Deutschland müsse NATO-Mitglied bleiben, jeder Gedanke an Neutralität im Tauschgeschäft für Einheit sei eine Illusion, und das neue Deutschland müsse nach westlichem Muster und Geschichte demokratisch bleiben. Damit war die US-Haltung zur NATO-Frage bereits Ende November 1989 festgelegt. Widerspruch gab es von der Sowjetunion. Aber keine Aussage, die wie eine Bedingung hätte klingen können. Diese Formel hatte heißen können: Einheit Ja, aber nur unter der Bedingung der Neutralität. Also Austritt des vereinten Deutschland aus der NATO. Gorbatschow wiederholte nur ständig seine Ablehnung einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO. Er setzte aber anders als die USA keine Bedingungsformel ein. Damit blieb die NATO – Frage im Verhältnis zur Sowjetunion verhandelbar. In den Worten von Präsidenten-Beraterin Condoleezza Rice hieß das: „Der Schlüssel unserer Politik 1989/90 war es, Deutschland unter westlichen Bedingungen zu vereinigen und die Sowjetunion dazu zu bringen, das zu akzeptieren.“ 494
492 Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 574 ff. 493 Ebda. 494 Plato, S. 30.
120
Kapitel 4
Dass Moskau dem in dieser Form nicht zustimmen konnte, lag auf der Hand. Es musste nach Wegen gesucht werden, den Kreml zur Akzeptanz zu bewegen und einen Zeitrahmen zu definieren. Bundeskanzler Kohl sagte noch im November 1989: „Wir haben keinen Zeitplan. Ich denke, wir rechnen in zehn Jahren mit der Einheit.“ 495 Die Zeitintervalle wurden dann allerdings immer kürzer. Ende 1989 waren nur es nur noch fünf Jahre. Zwei der westlichen Alliierten – Frankreich und England – gingen allerdings nicht von einer baldigen Einheit aus. 496 Nur die US-Regierung und ihr Präsident George Bush waren der Ansicht, die Einheit kommt „bald“. Denn für Bush war die Einheit kein Wunschtraum, sondern ein konkretes Mittel seiner Politik gegenüber der Sowjetunion. Nur wenn es gelingen würde, Moskau für eine Neuordnung europäischer Politik und Strukturen im Sinne der USA zu bringen, würde es dann quasi automatisch auch zur Einheit kommen müssen. Damit die Sowjets ihr Interesse an westlicher Hilfe und Unterstützung nicht verlieren und damit ihr Interesse an Europas Neuordnung, mussten zügig Maßnahmen ergriffen werden. Bush musste vor allem Kanzler Kohl dazu bringen, sein Zögern aus Rücksicht auf Moskau aufzugeben. Aus NATO-Sicht gehörte dazu vor allem auch eine Änderung der NATO-Strukturen, der NATO-Doktrin und NATOPolitik. Käme es zu einer Partnerschaft von NATO und Sowjetunion, wäre der Weg für die deutsche Einheit frei. Voraussetzung war, die NATO so zu verändern, dass sie für Gorbatschow attraktiv würde, entweder als Partner – eventuell sogar mit der Sowjetunion als Mitglied – oder doch wenigstens als befreundete Einrichtung. Mit dem für alle überraschenden Mauerfall wurden sämtliche Zeitpläne hinfällig. Der Einigungsprozess entwickelte eine Dynamik, der sich auch die Skeptiker bzw. sogar Gegner wie Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion nicht entziehen konnten.
Harsche Ablehnung in Moskau Am 5. Dezember 1989 flog Genscher nach Moskau und traf dort auf einen erregten Gorbatschow. Die Rede von Kohl im Bundestag Ende November über den Zehn-Punkte-Plan sei, so der Kreml-Chef, „ohne jedwede vorherige Konsultation oder auch nur eine Information“ gehalten worden. Er
495 Ebda., S. 31. 496 Ebda.
Harsche Ablehnung in Moskau
121
habe sich entschlossen, „diesen Schritt des Kanzlers nicht still zu übergehen“. 497 Genscher schilderte das Treffen so: 498 Gorbatschow habe erklärt: „Ich sage Ihnen unverblümt, dass ich den Bundeskanzler Kohl, der mit seinen zehn Punkten aufgetreten ist, nicht verstehen kann. Ich muss feststellen: Das sind ultimative Forderungen.“ Gorbatschow selbst schrieb über dieses Treffen: „‚Es empörte mich, dass plötzlich ein solcher Schachzug unternommen worden war, nachdem zwischen mir und dem Kanzler vor ganz kurzer Zeit ein konstruktiver, positiver Meinungsaustausch stattgefunden hatte. Oder hat der Bundeskanzler so etwas nicht mehr nötig?‘, fuhr ich gegenüber Genscher fort. ‚Er scheint der Meinung zu sein, nun gebe er den Ton an. Gestern hat Kohl ohne zu schwanken erklärt, er unterstütze die Idee einer Konföderation. Was bedeutet eine Konföderation? Eine Konföderation bedeutet doch eine einheitliche Verteidigung, eine einheitliche Außenpolitik. Wo aber wird dann die Bundesrepublik sein – in der NATO, im Warschauer Pakt? Oder wird sie vielleicht neutral werden? Und was wird danach sein? Haben Sie sich alles gründlich überlegt? Der Kanzler behandelt im Grunde genommen die Bürger der DDR wie seine Untertanen.‘“ 499 Gorbatschow fühlte sich hintergangen: „Obwohl es um die DDR geht, betreffen diese Äußerungen des Bundeskanzlers uns alle. [. . . ] Eigentlich sollte man mit einem solchen Dokument erst nach entsprechenden Konsultationen mit den Partnern an die Öffentlichkeit gehen. Oder hält der Bundeskanzler das alles nicht mehr für nötig? Er meint zu glauben, dass bereits seine Musik gespielt wird – Marschmusik. [. . . ] Sie wissen, dass wir mit Kanzler Kohl telefoniert hatten. Ich hatte ihm gesagt, dass die DDR nicht nur ein Faktor der europäischen Politik ist, sondern der Weltpolitik insgesamt. [. . . ] Kohl hatte dem zugestimmt und mir versichert, dass die BRD auf keinen Fall eine Destabilisierung der Lage in der DDR bezweckt, sondern ausgewogen vorgehen wird. [. . . ] Gestern verkündete Kanzler Kohl dann bedenkenlos, dass US-Präsident Bush die Idee einer Konföderation unterstützt. [. . . ] Was kommt als nächstes? [. . . ] Wohin mit unseren Abmachungen? Kann man so etwas Politik nennen?“ 500 Genscher antwortete: „Ich würde Ihre Aufmerksamkeit gerne auf Punkt 2 lenken, in dem die Bundesregierung erklärte, dass sie ihre Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen werde, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugutekommen.“ Gorbatschow: „Hören Sie mit der
497 498 499 500
Gorbatschow: Erinnerungen, S. 714. Genscher: Erinnerungen, S. 685. Gorbatschow: Wie es war, S. 91 ff. Ebda.
122
Kapitel 4
Anwalterei auf, Herr Genscher! Des Kanzlers Erklärung ist ein politischer Fehlschritt. Und wir werden das nicht unbeachtet lassen. [. . . ] Ihnen wurde gerade die Meinung der politischen Führung der Sowjetunion mitgeteilt. Sie war aufrichtig und offen. Andere würden es Ihnen nicht so offen und ohne falsche Höflichkeit sagen, doch ich möchte Ihnen versichern, dass sie in der Tiefe ihrer Seele das gleiche denken wie wir.“ Genscher: „Wer sind denn diese anderen?“ Gorbatschow: „Ihre und unsere wichtigsten Partner im Westen und im Osten.“ 501 Genscher war höchst irritiert. Denn er war ja nach Moskau gekommen, um den doch recht vagen Zehn-Punkte-Plan zu erklären. Und nun wurde er vom Mann im Kreml „zusammengestaucht“. Der deutsche Plan zu einer Annäherung der beiden deutschen Staaten sei „Herrenmenschenpolitik“. Genscher nannte das Verhalten später: „sehr offen und mit großer Härte miteinander sprechen“. Dem sowjetischen Partei- und Staatschef sei es damals vor allem darum gegangen, „mitzuwirken an einem Prozess, den er für notwendig und unvermeidbar“ hielt. Gorbatschow wollte „Mitspieler, Mitgestalter“ sein. 502 Er fühlte sich jetzt hintergangen und verstand Kohls Vorgehen nicht. Nach den Ausbrüchen des Kreml-Chefs wurde dieser konkret: Was bedeute es beispielsweise, wenn Kohl nun behaupte, US-Präsident Bush unterstütze die Idee einer Konföderation? Wie solle es dann weitergehen? Eine Konföderation setze schließlich eine gemeinsame Verteidigung und Außenpolitik voraus. Wo aber werde sich die Bundesrepublik dann wiederfinden? In der NATO oder im Warschauer Pakt? Oder wolle sie vielleicht neutral werden? Was aber sei die NATO ohne die Bundesrepublik? 503 Das alles sei doch wohl wenig durchdacht: „Kann man denn so Politik machen?“ Auch Eduard Schewardnadse, der sich bislang zurückgehalten hatte, machte nun keinen Hehl aus seiner Verärgerung: „Heute geht man in diesem Stil mit der DDR um, morgen dann vielleicht mit Polen, mit der Tschechoslowakei und danach – mit Österreich“. Genscher wehrte sich. Die Politik der Bundesregierung sei stets berechenbar gewesen und werde dies auch bleiben. Kohl habe sich in seiner Erklärung – die weder ein Diktat noch ein Ultimatum darstelle – an die DDR gewandt, um die Hilfsbereitschaft der Bundesregierung zu bekräftigen und Möglichkeiten für eine künftige Annäherung aufzuzeigen. Wie sie auf dieses Angebot reagiere, sei die freie und unabhängige Entscheidung der DDR. Die Bundesregierung sei an der Stabilität in der DDR interessiert, und die Zehn Punkte seien als Beitrag zur Festigung dieser Stabilität zu verstehen. Weder in Polen noch in Ungarn habe man den Eindruck gewonnen, 501 Hilger, Dok Nr. 13, S. 77; Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 61, S. 263. 502 Genscher: Erinnerungen, S. 687. 503 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 713
Harsche Ablehnung in Moskau
123
dass es sich dabei um ein Diktat oder ultimative Forderungen handle. Das beruhigte Gorbatschow nun keineswegs. Im Gegenteil. Er attackierte jetzt Genscher. „Ich habe wirklich nicht erwartet, dass Sie den Anwalt des Bundeskanzlers Kohl einnehmen werden. Punkt 3, wo der Kanzler der DDR Hilfe anbiete, ist doch geradezu eine ungenierte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. 504“ „Noch nicht einmal Hitler hat sich etwas Derartiges erlaubt“, warf Schewardnadse ein. 505 Gorbatschow ließ nicht locker: Kohl habe sich mit seiner Ansprache doch direkt an die DDR-Bevölkerung gewandt, „wie an seine eigenen Staatsbürger. Das ist einfach eingefleischter Revanchismus, der seine positiven Beteuerungen zunichtemacht, alle von uns erreichten Übereinkünfte in Frage stellt“. 506 Mit Kohls Erklärung verhalte es sich wie mit der Situation eines politischen Häftlings im zaristischen Russland. Diesem habe man nach seiner Freilassung erklärt, er könne sich nun niederlassen, wo immer er wolle, außer in 18 Gouvernements. Nun gab es aber in Russland nur 18 Gouvernements – wo sollte er also, Ihrer Meinung nach, hinziehen? „Die Erklärung des Kanzlers ist ein politischer Fehlschuss. Wir können sie nicht ignorieren,“ 507 so Gorbatschow. Schließlich kehrte Gorbatschow zu sachlichem Gespräch zurück. Die Sowjetunion sei zur Zusammenarbeit mit der Bundesregierung bereit, wenn diese nur wolle. Wenn nicht, dann werde man daraus politische Konsequenzen ziehen. Das Vorgehen Kohls stelle ein Ultimatum dar und habe „damit die Beendigung der europäischen Prozesse“ im Sinn. Diesem Verweis auf den KSZE-Prozess widersprach Genscher. Die Bundesrepublik mische sich in keine inneren Angelegenheiten ein, sondern trete für eine politische Zusammenarbeit und für verantwortliche Schritte ein. Das wiederum wies Gorbatschow zurück. Es gehe nicht um die Politik der DDR, sondern um die der Bundesrepublik. Dort herrsche offenbar „in den Köpfen Verwirrung und Durcheinander“. Kopflose Politik sei aber keine Politik mehr. „Ihr Deutschen seid ein emotionales Volk, aber ihr seid doch auch Philosophen und dürftet nicht vergessen, wozu kopflose Politik in der Vergangenheit geführt hat.“ 508 Ihm gehe es im Augenblick nicht um die Politik insgesamt, sondern um die zehn Punkte. Es sei doch offensichtlich, dass Helmut Kohl damit die Entwicklungen künstlich vorantreiben wolle, was den mühsam in Gang gekommenen gesamteu-
504 505 506 507 508
Galkin / Tschernjajew: Dok. Nr. 61, S. 260. Ebda. S. 260. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 61, S. 260. Ebda. S. 260 ff. Galkin / Tschernjajew: Dok. Nr. 61 S. 262.
124
Kapitel 4
ropäischen Prozess untergrabe. Die Bundesregierung schätze die ganze Situation falsch ein. „Unter der Oberfläche schwelt es, sozusagen, und Sie blasen in die Glut, fachen das Feuer an.“ Diese Unbedachtheit erstaune die sowjetische Führung doch sehr. Er befürchte, dass die momentane Situation in Deutschland bereits zum Wahlkampfthema für die bevorstehende Bundestagswahl gemacht werden solle. Noch einmal mahnte er eine verantwortliche Politik an: „Improvisationen in der Politik sind, das sage ich unverblümt, eine höchst gefährliche Angelegenheit. Wer sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhält, der lässt sich eine große Chance entgehen.“ 509 Das Gespräch nahm ein erstaunliches Ende: Er habe nun eine Pressekonferenz vor sich, und auch zu Hause werde man ihn nach seinen Gesprächen in Moskau fragen, leitete Genscher zum Abschluss der Unterhaltung über. Was solle er da denn sagen? „Wenn wir die Beziehungen zur BRD stören oder sie verderben wollten, könnten wir wohl auch den Inhalt unseres Gesprächs bekanntgeben“, fasste Gorbatschow die Unterredung zusammen. Da er hieran aber kein Interesse habe, schlage er vor, man sage einfach, es sei um besonders wichtige Fragen der Europa- und Weltpolitik gegangen, ebenso um die Beziehungen zwischen den beiden souveränen deutschen Staaten, die Stabilität auf dem Kontinent und die Vertiefung des gesamteuropäischen Prozesses. Abschließend wolle er Genscher noch einmal daran erinnern, dass man im Kreml alles sehr aufmerksam verfolge. Wichtig sei nun, dass alle Prozesse normal verliefen. „Da soll man nichts übereilen, soll keiner die Feuerwehr spielen, wie Kanzler Kohl es getan hat.“ Er habe übrigens den Eindruck, dass Genscher von den zehn Punkten auch erst im Bundestag erfahren habe, stichelte der Generalsekretär, worauf Genscher kurz angebunden erwiderte, dass dies zwar stimme, aber eine innere Angelegenheit sei. „Das regeln wir alleine.“ „Nehmen Sie nicht alles, was ich gesagt habe, persönlich, Herr Genscher. Sie wissen, dass wir zu Ihnen ein anderes Verhältnis haben als zu anderen. Wir hoffen, dass Sie das nicht falsch verstanden haben“, versicherte Gorbatschow seinem deutschen Gesprächspartner. 510 Genscher nahm vor allem zwei Eindrücke aus der Unterhaltung mit nach Hause: Zum einen wollte Gorbatschow mit seinem energischen Auftreten demonstrieren, dass er noch immer Herr der Lage – „Akteur und Gestalter“ 511 – war, zum anderen, so Genscher später in seinen Memoiren, hatte sich die sowjetische Führung „auf die Unausweichlichkeit der deut-
509 Weidenfeld, Werner: Außenpolitik für die deutsche Einheit, Die Entscheidungsjahre 1989/90. Stuttgart 1998, S. 124. 510 Galkin / Tschernjajew: Dok Nr. 61, S. 264 f. 511 Genscher: Erinnerungen, S. 687.
Harsche Ablehnung in Moskau
125
schen Vereinigung eingestellt. Jetzt ging es um die Umstände und um die Zeitachse“. 512 Hervorzuheben ist, dass Gorbatschow nach der „strengen Rüge“ sich wieder versöhnlich gab. Genscher zog daraus den Schluss: „Das Tor zur deutschen Einheit war bereits geöffnet. Die sowjetische Führung hatte sich im Grunde auf die deutsche Vereinigung eingestellt. Sie wollte den Weg dorthin aber mitbestimmen. Ihre Umsetzung verlangt von uns Verantwortung und Klarheit.“ 513 Trotz aller Härte der Auseinandersetzung mit Genscher wurde deshalb auch hier das neue sowjetische Denken deutlich. Wo jeder seiner Vorgänger noch energisch auf die alliierten Siegerrechte verwiesen hätte, argumentierte Gorbatschow sehr viel stärker mit den neuen Kooperationsideen und der von ihm erhofften deutsch-sowjetischen Annäherung. Genscher bemerkte: „Die sowjetische Führung hatte sich auf die Unausweichlichkeit der deutschen Vereinigung eingestellt. Jetzt ging es um die Umstände und die Zeitachse“. 514 Seine Bemerkungen schloss er mit dem Satz: „Der Besuch in Moskau zeigte, wie wichtig es war, bei jedem Schritt, den wir auf dem Weg zur deutschen Vereinigung zurücklegten, uns des Vertrauens unserer Verbündeten im Westen, aber auch der Sowjetunion und unserer östlichen Nachbarn zu versichern.“ 515 Am Tag darauf wollte Gorbatschow seinen Ärger mit dem französischen Präsidenten in Sachen Wiedervereinigung teilen. Der Kreml-Chef traf sich am 6. Dezember 1989 in Kiew mit Mitterrand und berichtete über das Treffen mit Genscher. Genscher hatte eingestanden, dass er über die Rede des Kanzlers nicht vorher informiert gewesen war. Jetzt wollte Gorbatschow wissen, ob Mitterand darüber von Kohl eingeweiht gewesen war. Mitterrand antwortete: „Sie wissen wohl, dass wir, genauso wie Genscher, über Kohls Vorschläge nicht vorher informiert waren.“ „Genscher war furchtbar verstört“, führte Gorbatschow das Gespräch weiter, „er versicherte seine Treue gegenüber dem europäischen Prozess, erinnerte an seine persönlichen Verdienste auf diesem Gebiet.“ 516 Gorbatschow nannte übrigens die Diskussion um die Einheit Ende November noch die „Wiedervereinigungs-Anarchie“. 517Anfang / Mitte Dezember 1989 war der Prozess der Einheit – vorangetrieben durch Kanzler Kohl – bekanntermaßen schon
512 513 514 515 516 517
Ebda. Ebda. Ebda. Ebda., S. 688. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 62, S. 270. Gorbatschow: Wie es war, S. 92.
126
Kapitel 4
sehr weit fortgeschritten. Für Gorbatschow verlief er zu schnell, doch er konnte ihn mehr nicht stoppen. So klagte er gegenüber Mitterrand: „Kohl prescht nach vorne, hat es sehr eilig. Er formuliert seine Thesen in einer solchen Form, dass dies faktisch ein Diktat bedeutet.“ 518 An dieser Stelle muss allerdings die Frage gestellt werden, warum er den Prozess nicht gebremst hat, obwohl er ständig davon sprach. Die Lösung liegt in den Überlegungen Gorbatschows, die er bereits unmittelbar nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 anstellte, die aber erst später erkennbar wurden. Schon im Dezember 1989 war Gorbatschow fest entschlossen, mit dem Westen ins „Geschäft“ zu kommen. Im Gespräch mit Mitterrand am 6. Dezember 1989 stellte er bereits diese Fragen: Wem wird eine mögliche Konföderation der deutschen Staaten angehören? Der NATO oder dem Warschauer Pakt? Oder wird sie neutral sein? Was bleibt dann von der NATO? Noch erschien die Sowjetunion dem Westen als stabil und stark. Gorbatschow selbst hielt sein Land für ebenso stark und deswegen für einen starken und ebenbürtigen Verhandlungspartner. Doch das sollte sich schon in wenigen Wochen ändern. „Die Sowjetunion und die deutsche Frage“ – unter diesem Titel verfasste Horst Teltschik einen Bericht für den Bundeskanzler. Er bescheinigte der sowjetischen Führung eine grundsätzlich positive Einstellung zur Entwicklung in der DDR. 519 Der Kreml sei sich von Beginn seiner eigenen Reformpolitik an bewusst gewesen, welche Folgen dies für die DDR haben werde. Die strukturelle Umgestaltung in der Sowjetunion befinde sich in allen Bereichen (politisch, wirtschaftlich, „im nationalen Bereich“) noch immer im Anfangsstadium. Dies gelte erst recht für die DDR, konstatierte Teltschik. Ablauf, Qualität und Tempo der Umgestaltung in der DDR hingen jedoch – im Gegensatz zur Sowjetunion – entscheidend von der Politik der Bundesregierung ab. Politische Parolen, wie „Vorrang der gesamteuropäischen Friedensordnung vor der Lösung der deutschen Frage“ oder „Die Lösung der deutschen Frage ausschließlich unter einem europäischen Dach“ klängen vernünftig; sie könnten sich jedoch als Leerformeln erweisen oder – was noch schlimmer wäre – in Widerspruch zur tatsächlichen Politik geraten. Die Sowjetunion sei besorgt, dass die Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen gerade in dieser entscheidenden Phase der Zäsur in eine für sie unerwünschte und gefährliche Richtung gehen könnte – aus welchen Gründen auch immer. Die Entwicklung in der DDR müsse mit Geist und Buchstaben der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung vom
518 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 62, S. 269. 519 Deutsche Einheit, Dok Nr. 112, 112 A. S. 616 ff.
Harsche Ablehnung in Moskau
127
12. Juni 1989 in Einklang bleiben. Dass betreffe vor allen Dingen die Anerkennung der bestehenden europäischen Nachkriegsstrukturen auf absehbare Zeit als Grundlage für neue Entwicklungen. Für die Sowjetunion heiße das, dass der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung Priorität haben müsse vor der Lösung der deutschen Frage, d. h. vor der Beantwortung der Frage nach den künftigen Formen der nationalen und staatlichen Existenz der Deutschen. Die gesamteuropäische Friedensordnung müsse als unabdingbare Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage aufgefasst werden. Zu amtlichen Überlegungen zählte der Kanzlerberater des weiteren: Die strikte, uneingeschränkte und vorbehaltlose Einhaltung der Ostverträge, einschließlich des Grundlagenvertrages mit der DDR, müsse so lange eine Selbstverständlichkeit sein, bis die neue gesamteuropäische Friedensordnung und Stabilität hergestellt und gesichert sei. 520
Heute sei eine neue Lage in der DDR entstanden. Jetzt gelte es, auf der Basis des Grundlagenvertrages mit der DDR einen neuen Modus Vivendi zu finden. Modrows Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft“ sollte es ermöglichen, den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland restriktiv und pragmatisch zu handhaben. Andernfalls werde die DDR objektiv in ihrer Existenz bedroht. Unter der „Rubrik II. Nichtamtliche Überlegungen“ führte Teltschik ferner aus, „nun sei die Stunde gekommen, das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR von allen Relikten aus der Vergangenheit zu befreien“. Im Einzelnen: 1. Die DDR sei auf wirtschaftliche Zusammenarbeit angewiesen. Vorbedingungen dürfen nicht zur Selbstverleugnung und zur Destabilisierung der DDR führen. Die Bundesregierung sollte sich großzügig verhalten und einen langen Atem haben. 2. Im Bereich der Abrüstung tun sich für beide Staaten der deutschen Nation zusätzliche großartige Möglichkeiten auf. Es hänge jetzt in ganz entscheidender Weise von der Bundesregierung ab, wie schnell und umfassend Fortschritte im Interesse beider deutscher Staaten bei den Abrüstungsfragen erreicht werden könnten. 3. Es sei der Wunsch bzw. die Bitte der Sowjetunion, die langfristige Lösung der deutschen Frage nicht zum Gegenstand der Tagespolitik oder des Wahlkampfes zu machen. [. . . ] 4. Rein theoretisch gefragt: Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde, die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, dann wäre es vernünftig, öffentlich über 520 Deutsche Einheit, Dok Nr. 112A, S. 616.
128
Kapitel 4
die Vorstellungen der zukünftigen Allianzzugehörigkeit beider deutscher Staaten und über die Austrittsklausel der Pariser Verträge 521 und des Römischen Vertrages im Wiedervereinigungsfall nachzudenken. 522 5. Sollte es – theoretisch gesehen – ebenso gelingen, die DDR recht bald in die EG zu integrieren, soll dann die Sowjetunion am „Katzentisch“ sitzen und ihren DDR-Handel via Brüssel betreiben, Eurozölle bezahlen und auf die heutige Meistbegünstigung mit der DDR verzichten? Auch darüber sollte die Bundesregierung nachdenken. 6. Die Sowjetunion denke im Zusammenhang mit der deutschen Frage bereits über alle möglichen Alternativen nach, sogar über gewissermaßen „Undenkbares“. Sie habe von Anfang an gewusst, worauf sie sich bei einer Umgestaltung auch in der DDR einlasse. In diesem Zusammenhang wäre die Sowjetunion an der Haltung der Bundesregierung zu einem möglichen Friedensvertrag interessiert. Die Bundesrepublik Deutschland könne sich dabei nicht auf ihre Alliierten verlassen, die nicht auf ihr Besatzungsstatut verzichten wollten. 7. Die Sowjetunion verfolge mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge, dass „mancher gescheite Kopf in Bonn“ den Ausweg darin sieht, eine künftige deutsche Konföderation in die EG zu integrieren, wobei dies als gesamteuropäische Integration verbrämt werde. Diese Richtung passe der Sowjetunion nicht. 523 Vorstellbar sei schließlich, dass die Sowjetunion in absehbarer Zeit einer wie auch immer gearteten deutschen Konföderation grünes Licht geben könnte. Dies setze jedoch voraus, dass es auf deutschem Boden keine fremde nukleare Präsenz mehr gebe. Dies wäre vielleicht die einzige Conditio sine qua non, die die Sowjetunion für ihr Wohlverhalten gegenüber künftigen deutschen Regierungen aufrechterhalten könnte. Es könne durchaus davon ausgegangen werden, heißt es in dem Teltschik-Papier abschließend, dass sich auf dem Wege der Annäherung der beiden deutschen Staaten schon sehr bald die Frage eines Friedensvertrages stellen werde. Es ist auffällig, dass in dieser Aufstellung kein Wort über die NATO fiel. Erst im letzten Abschnitt wurde die einzige Bedingung für die Einheit (in Form einer Konföderation) genannt. Zu welchem Bündnis diese „Konföderation“ gehören sollte, wurde nicht erörtert. 524 Verärgert zeigten sich Kohl und Genscher über ein Vier-Mächte-Treffen in Berlin am 11. Dezember 1989. Seit 18 Jahren war das Alliierte
521 Vom 23. Oktober 1954. 522 Erklärung vom 28. Februar 1957 für den Fall einer Wiedervereinigung. Im Detail Anm. 3 zum Dok Nr. 112A in „Deutsche Einheit“, S. 618. 523 Deutsche Einheit, Dok Nr. 112A, S. 618 f. 524 Ebda., S. 616 ff.
Harsche Ablehnung in Moskau
129
Kontrollratsgebäude am Berliner Kleistpark nahezu ungenutzt gewesen. Die Sowjetunion hatte das Treffen einberufen, nachdem es Gorbatschow, schon am 10. November 1989, wenige Stunden nach dem Mauerfall, vorgeschlagen hatte. Auf keinen Fall wollte Kohl es zulassen, dass die „Großen Vier“ im symbolträchtigen Kontrollratsgebäude demonstrativ ihre Rechte über Deutschland wahrnahmen. Kohl reiste nach Berlin, um am 12. Dezember 1989 mit US-Außenminister Baker zu frühstücken. Dieser hatte den neuesten CIA-Bericht über die Stimmung in der DDR dabei. Zu lesen war dort u. a.: „Binnen weniger Monate ist mit einer völligen Umgestaltung Ostdeutschlands zu rechnen, die zu einer nichtkommunistischen Regierung und zu einem dramatischen Anwachsen des Verlangens nach Wiedervereinigung führen werden.“ Das US-Außenministerium erhielt zudem Berichte, aus denen hervorging, dass die westdeutschen Parteien Kohls Programm unterstützten, wenn auch mit Einschränkungen. Genscher tat das Seine dazu, indem er der Sowjetunion versicherte, dass man ihre Interessen berücksichtigen werde. Im Dezember schien selbst im konservativen Bayern „ein allgemeines Unbehagen über die unvermutet schnelle Entwicklung die Oberhand zu gewinnen“. Wenn Kohl ins Stolpern geriet, würde möglicherweise auch der Wille der Bundesrepublik, die schwierige Aufgabe der Vereinigung auf sich zu nehmen, brüchig werden. 525 Am 12. Dezember 1989 besuchte Baker Berlin und fuhr zum ersten Mal in die DDR nach Potsdam. In Berlin traf Baker Kohl. Auf dem Weg nach Berlin hatte Baker einen Stopp in London eingelegt, um sich von Frau Thatcher anhören zu müssen, dass die Deutschen viel zu schnell vorangingen. Vor dem Berliner Presseclub sprach Baker am 12. Dezember 1989 über die „neue Architektur für eine neue Zeit“, über ein „neues Europa“ und einen „neuen Atlantizismus“. Baker erklärte, dass diese „neue Architektur“ – erstens die Chance eröffnen müsse, „die Teilung Berlins und Deutschlands durch Frieden und Freiheit zu überwinden“, und – zweitens gewährleisten sollte, dass die Sicherheit der Vereinigten Staaten an die Sicherheit Europas gekoppelt blieb. Das erste Element dieser neuen Architektur sei eine neue Aufgabenstellung der NATO. Neben ihrer traditionellen Rolle als Instrument der Abschreckung und Verteidigung solle sie in Zukunft nichtmilitärische Aspekte der Sicherheit stärker einbeziehen, vor allem die Verifizierung 525 CIA: Outlook for Eastern Europe 1990; in Internet: https://cia.gov/library/reading room/docs/DOC_0000265642.pdf
130
Kapitel 4
des KSZE-Vertrages und anderer Abrüstungsvereinbarungen. Außerdem solle das Bündnis Regionalkonflikten und dem Problem der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen mehr Aufmerksamkeit zuwenden sowie über Initiativen nachdenken, um – etwa im Rahmen des KSZE-Prozesses – wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Osten aufzubauen. Das kooperative, nicht auf Zwang gegründete Sicherheitsbündnis der NATO biete den Staaten Osteuropas, so Baker, ein attraktives Modell internationaler Beziehungen. Die Erhaltung eines vitalen Nordatlantikbündnisses liege auch im Interesse der Sowjetunion. Dann wandte sich Baker dem Thema Deutschland zu: „Wir dürfen nicht drängen. Der Weg muss friedlich und demokratisch gegangen, und die legitimen Sorgen aller Mitgliedstaaten in dem neuen Europa müssen berücksichtigt werden.“ 526 In seinen „Erinnerungen“ hielt er fest: „Mit meiner Feststellung, die NATO müsse zu einer politischeren Allianz werden, wollte ich nicht zuletzt die Sowjets darauf vorbereiten, den Fortbestand dieses Bündnisses selbst dann zu akzeptieren, wenn sich der Warschauer Pakt auflösen würde, und sie außerdem dazu zu bringen, mit einem vereinten Deutschland in der NATO einverstanden zu sein.“ 527 Irritiert waren die Amerikaner allerdings von CDU-Parteitagsplakaten am Straßenrand, auf denen die Losung „Ein Volk, eine Nation!“ prangte. Bei einem gemeinsamen Frühstück am 12. Dezember 1989 riet Baker dem Bundeskanzler, vorsichtiger mit den Sowjets, Briten und Franzosen umzugehen. Hier waren also – nur knapp drei Wochen nach dem Mauerfall – die künftigen politischen Leitlinien schon gezogen: Deutschland wird vereint und in der NATO bleiben. Unmittelbar nach seiner Rede im Berliner „Steigenberger Hotel“ fuhr Baker nach Potsdam. Danach berichtete er seinem Präsidenten aus der DDR und über die Stimmung in der DDR: „Am meisten bin ich vom Willen zu Reform und friedlichem Wandel beeindruckt. [. . . ] Meiner Ansicht nach wird es in jedem Fall de facto zu einer wirtschaftlichen Vereinigung der DDR und BRD kommen. Aber ich glaube nicht, dass sich der durchschnittliche Ostdeutsche viel Gedanken um diese Option macht: Er sieht im Westen einfach grüneres Gras.“ 528 Baker animierte im Weiteren seinen Chef zu einem stärkeren Engagement: Offen gesagt dient unsere – politische und wirtschaftliche – Aktivität in der DDR auch unseren eigenen Interessen, denn sie würden uns im Spiel lassen, 526 Kiessler, Richard; Elbe, Frank: Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, BadenBaden 1996, S. 59. 527 Baker, S. 166. 528 Ebda., S. 169.
Uneinigkeit unter den Westmächten über deutsche Einheit
131
während die beiden Deutschland schnell zusammenrücken. Und ich vermute, die Sowjets werden zunehmende Verflechtungen zwischen den deutschen Staaten bereitwilliger zulassen, wenn sie glauben, dass wir ein Auge auf die Szenerie haben. Es bestehen neue Möglichkeiten, die Trennung Europas und damit Deutschlands und insbesondere auch Berlins zu überwinden. Diese neue Lage öffnet den Weg zu einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten. Wir streben die Festigung des Zustands des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dieser Prozess muss sich auf friedliche und demokratische Weise, unter Wahrung der einschlägigen Abkommen und Verträge sowie sämtlicher in der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Prinzipien im Kontext des Dialogs und der West-Ost-Zusammenarbeit vollziehen. Er muss auch in die Perspektive der europäischen Integration eingebettet sein. 529
Und weiter: Inmitten von Wandel und Ungewissheit bleibt das Bündnis ein verlässlicher Garant des Friedens und wird eine unverzichtbare Grundlage für Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit für das Europa der Zukunft bilden. 530
Damit war die Funktion der NATO in Gegenwart und Zukunft deutlich artikuliert worden. Aber Kanzler Kohl las in den Erklärungen von Baker noch etwas Anderes. Er glaubte, dass Baker den Einheitsprozess entschleunigen wollte. Daher war Baker bemüht, dem Kanzler eine beruhigende Erklärung zukommen zu lassen. Darin hieß es: 531 „Ich bedauere es sehr, dass meine Bemerkungen während meiner Pressekonferenz am 12. Dezember in Potsdam Probleme für Sie verursachten. Ich wollte genau das Gegenteil erreichen.“ Bakers Bemerkung, „der Prozess müsse sich im Kontext des Dialogs vollziehen“ wurde allerdings von den meisten Beobachtern als „Dämpfer“ für Kohls Eile im Prozess verstanden. 532 „Radio DDR“ kommentierte, Baker „habe deutlich gemacht, dass für die USA eine deutsche Vereinigung nach einem Terminkalender nicht zur Debatte steht“. 533
Uneinigkeit unter den Westmächten über deutsche Einheit Die Situation im Dezember 1989 verdeutlichte, wie unbestimmt der Vereinigungsprozess bisher verlief. Er stockte, weil die Vier Mächte unter sich nicht einig waren, wie die Einheit vollzogen werden sollte, in welchem
529 530 531 532 533
Ebda. Ebda., S. 165. Deutsche Einheit, Dok Nr. 125, S. 658. Egon Bahr im Saarländischen Rundfunk laut ADN, 13. Dezember 1989. Radio DDR, 13. Dezember 1989, 16.53 Uhr.
132
Kapitel 4
Tempo und unter welcher Bündniszugehörigkeit. Da die DDR-Führung unter Ministerpräsident Modrow vordergründig die DDR reformieren und so erhalten und zwischen den beiden deutschen Staaten keine Vereinigung, sondern eine „Vertragsgemeinschaft“ von BRD und DDR konstruieren wollte, war Modrow an einem solchen Vertragswerk interessiert. Die Bonner Bundesregierung dagegen hielt davon nicht viel. Für Kanzler Kohl war offenkundig, dass die DDR-Bevölkerung ihren Staat mit der Bundesrepublik vereinen wollte, und so drang er auf schnelle Verhandlungen zwischen den Siegermächten und mit der DDR. Mitte Dezember war noch offen, wie sich Gorbatschow verhalten würde. Nur eines war klar: Die Sowjetarmee würde nicht intervenieren. Gorbatschow ging zwar davon aus, dass die Einheit Deutschlands kommen würde, aber erst mit langer Zeitverzögerung. Moskau glaubte, viel Zeit zu haben. Auch Kanzler Kohl rechnete mit fünf bis zehn Jahren, bis die Einheit vollzogen sein könnte. 534 Im Dezember 1989 nahm aufgrund der wirtschaftlichen Talfahrt der Sowjetunion der innenpolitische Druck auf Gorbatschow zu. In Washington, so später die Russland-Expertin Condoleezza Rice in einem Fernsehinterview 535, wurde eine kleine Gruppe gebildet, die die Konsequenzen eines möglichen Putsches in Moskau analysierte. „Wir spielten alle Optionen durch. Natürlich höchst geheim, denn wir konnten keine Schlagzeile gebrauchen. Die USA rechneten mit dem Sturz Gorbatschows. Doch genau das fürchteten wir.“ Öffentlich ließ Gorbatschow die Muskeln spielen. Vor dem Zentralkomitee der KPdSU erklärte er am 9. Dezember 1989: Die Sowjetunion werde alles tun, um die Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der DDR zu neutralisieren. Die DDR sei strategischer Verbündeter und Mitglied des Warschauer Paktes. Man müsse in der Welt von diesen gewachsenen Realitäten und von der Existenz zweier deutscher Staaten ausgehen. Ganz in diesem Sinne war auch das Schreiben zu verstehen, das am 18. Dezember 1989 in Bonn eintraf. Es erfüllte den Tatbestand einer Warnung, um nicht Drohung zu sagen. Kohl beabsichtigte nämlich, am Tag darauf Dresden zu besuchen. „Wir haben Sorge. Einige der zehn Punkte waren in der Form von Vorbedingungen, wenn nicht von ultimativen Forderungen verfasst. Wie auch die DDR halten wir ein derartiges Herangehen für unannehmbar. Es entspricht weder dem Buchstaben noch dem Geiste der Schlussakte von Helsinki. Die Prozesse auch in der DDR vollziehen sich in einer angespannten Atmosphäre. Die Ereignisse künstlich aufzupeitschen, politischen Sprengstoff in das noch glühende Feuer zu 534 Zelikow / Rice, S. 182. 535 Rice in „ZDF History, Geheimakte Deutsche Einheit“, gesendet am 27. September 2015.
Uneinigkeit unter den Westmächten über deutsche Einheit
133
werfen, ist äußerst gefährlich“, schrieb Gorbatschow. „Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, diese meine Botschaft ganz ernst zu nehmen.“ 536 Bereits wenige Tage zuvor hatte Gorbatschow „eine persönliche Botschaft zu diesen Fragen übermittelt“ 537, die Kohl von seinen Experten beurteilen ließ. Ministerialdirigent Peter Hartmann 538 analysierte den Text aus Moskau wie folgt: Das Schreiben Gorbatschows hat sich offenbar mit Ihrer persönlichen Botschaft gekreuzt, die Sie ihm am 14. Dezember 1989 übermittelt haben. Das Schreiben Gorbatschows dient offensichtlich dazu, Ihnen die Besorgnisse der sowjetischen Führung hinsichtlich unserer Deutschlandpolitik noch einmal drastisch vor Augen zu führen. Die Sprache ist teilweise hart und geht über die Formulierungen von Gorbatschows ZK-Rede 539 hinaus. Es bleibt festzuhalten, dass Gorbatschow keine Bedenken gegen eine weitere Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses erhebt. Was die Sowjetunion im Kern besorgt, sind Tempo und Finalität des deutsch-deutschen Einigungsprozesses und dessen Rückwirkungen auf ihre eigene geopolitische und strategische Situation einschließlich evtl. bündnispolitischer Implikationen. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass die innersowjetische Kritik an Gorbatschow nicht mehr nur die desolate Wirtschaftslage, sondern zunehmend auch die Außenpolitik einbezieht. 540
Kohl ließ sich von mahnenden Worten und der Bitte um Zurückhaltung aus Moskau nicht beeindrucken, als er nur 24 Stunden später 541 in Dresden wie ein Heilsbringer gefeiert wurde. Am 20. Dezember 1989 traf Mitterrand zum Staatsbesuch in der DDR ein, der Termin war lange vor dem Fall der Mauer festgelegt worden. Außenhandelsminister Gerhard Beil hatte Frankreichs Präsidenten am 1. Dezember 1989 in einem Brief wissen lassen, dass er eine „souveräne DDR“ besuche, und ihn gebeten, dies auch laut zu sagen. 542 Zum Verdruss von Kohl hatte Mitterrand dies wiederholt. Man unterzeichnete Wirtschaftsverträge mit einer Laufzeit von fünf Jahren. Erst kurz vor seinem Rückflug äußerte sich Mitterrand auch zur deutschen Frage. Er schließe Neuverhandlungen über den Vier-Mächte-Status von Berlin nicht aus, sagte der Präsident, Frankreich habe auch nichts gegen die deutsche Einheit, doch deren Herstellung müsse sich auf friedlichem und demokratischem Wege sowie im Rahmen einer europäischen Ordnung vollziehen. 536 537 538 539 540 541 542
Deutsche Einheit, Dok Nr. 126, S. 658. Ebda., Dok Nr. 127, S. 660. Ministerialdirigent Peter Hartmann war von 1987–1991 im Bundeskanzleramt. 9. Dezember 1989. Deutsche Einheit, Dok Nr. 127, S. 661. 19. Dezember 1989. Gespräche des Autors mit Gerhard Beil, 2009; Weidenfeld, S. 159.
134
Kapitel 4
Seit dem Mauerfall am 9. November 1989 beobachteten sich die sechs Akteure: London, Paris, Washington, Moskau, Ost-Berlin und Bonn. Wer macht welchen Schritt? Wer sagt was zum Einheitsprozess und zur Frage der Bündniszugehörigkeit? Moskau und Bonn spielen mit verdeckten Karten. Moskau schickte – wie bereits beschrieben – Portugalow, der in Bonn Fragen stellte, von denen Kanzler Kohl annahm, dass die Antworten in Moskau längst formuliert waren. Die DDR-Führung unter Krenz und Modrow wehrte sich gegen jede Art von Annäherung an die BRD, schon gar gegen jeden Plan einer Vereinigung. Gorbatschow ließ erklären, die „DDR sei ein souveräner Staat“, obwohl das Volk der DDR längst auf der Straße skandierte „Wir sind ein Volk“ und in den neuen gegründeten Parteien forderte, mit der BRD vereinigt zu werden. 543 Mit der Wahl zur Volkskammer änderte sich dies gründlich. Vom 18. März 1990 an wurden die Weichen aller Parteien in der DDR auf „Einheit“ gestellt. Nur in der NATO-Bündnisfrage blieb die DDR bis zum Juli-Gipfel der NATO mit der Sowjetunion auf Kurs gegen die USA und Bonn. 544
Analyse in Moskau über die DDR Eine Analyse des Kreml über die Lage in den Staaten des Warschauer Paktes und ganz besonders in der DDR war verheerend. „Es gibt keine wirklichen Kräfte in der DDR“, stellte Gorbatschow ernüchtert fest. 545 „Auf niemanden kann man sich stützen, mit keinem gibt es vertrauliche Beziehungen. Und wenn man mit jemanden etwas vereinbaren kann, hat das keine entscheidenden Auswirkungen.“ 546
543 Anfang Dezember 1989 waren noch 71 Prozent laut einer Spiegel- und ZDF-Umfrage für eine souveräne DDR. Vgl. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 62, FN 25, S. 271. 544 Siehe Koalitionsvertrag vom 12. April 1990 in Artikel 3.2: „Es ist Aufgabe der Regierung der DDR, dafür einzutreten, den Prozess der Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu fördern. Es ist davon auszugehen, dass das vereinigte Deutschland für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems Mitglied der sich in ihren militärischen Funktionen verändernden NATO sein wird. Die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ist den osteuropäischen Staaten nur zumutbar, wenn damit sicher das Aufgeben bisher gültiger NATO-Strategien, wie Vorneverteidigung, Flexible Response und nuklearer Ersteinsatz, verbunden ist.“ 545 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 286. 546 Ebda.
Analyse in Moskau über die DDR
135
So rief Gorbatschow am 26. Januar 1990 547 neun seiner Berater in seinem Büro der 6. Etage des Moskauer ZK-Gebäudes zusammen, um die Deutsche Frage zu erörtern. Dabei waren auch Ryschkow, Tschernjajew, Schewardnadse, Krutschkow (KGB-Chef), Achromeev (Verteidigungsminister), Schachnasarow, Jakovlev, Falin (Ex-Botschafter in Bonn) und Fedorov. Gorbatschows Vertrauter Tschernjajew protokollierte. Gorbatschow formulierte: „Das Wichtigste ist jetzt, den Prozess in die Länge zu ziehen, wie immer auch das endgültige Ziel (Wiedervereinigung) aussehen mag. Der Idee des Zeitgewinns entspricht der Vorschlag einer ‚Vertragsgemeinschaft‘ mit konföderativen Eigenschaften. Wir werden jene zurückhalten, die es eilig haben. Ich werde ein Interview zur Wiedervereinigung nach dem Treffen mit Modrow und Kohl geben. Und wir bereiten den Abzug der Streitkräfte aus Deutschland vor.“ 548 Geschenkt werden sollte die Einheit den Deutschen nicht. Gorbatschow fuhr fort: 549 „Das Wichtigste ist, dass niemand damit rechnen sollte, dass das vereinte Deutschland in die NATO geht. Die Anwesenheit unserer Truppen wird das nicht zulassen.“ 550 Noch sehr selbstbewusst meinte er, „Kohl muss damit rechnen, dass es einige Jahre dauern wird, die DDR wirtschaftlich zu schlucken. Also, diese Jahre haben sowohl sie als auch wir zur Verfügung. Lasst sie uns vernünftig nutzen und bereiten wir uns auf ein gesamteuropäisches Treffen auf höchster Ebene 1990 vor.“ 551 Alexander Jakowlew, einer der zehn Teilnehmer und ein exzellenter Deutschland-Kenner, warf ein: „Es wäre gut, wenn Modrow mit einem Wiedervereinigungsprogramm aufträte – ohne Vorurteile, von der Realität ausgehend. Dabei sollten wir uns darauf berufen, dass wir schon seit 1946 für die Wiedervereinigung des deutschen Volkes eingetreten sind.“ Ryschkow ergänzte: „Man kann diesen Prozess der Vereinigung nicht mehr aufhalten. Die DDR zu erhalten, ist eine unrealistische Sache. Eine Konföderation? – Ja. Wir müssen jedoch die Bedingungen für eine Konföderation vorbringen. Es ist falsch, dem Kohl alles einfach zu geben. [. . . ] Die anderen sozialistischen Länder. Man muss mit ihnen arbeiten. Sie sind immerhin Verbündete. Wenn wir sie im Stich lassen, wird man sie auflesen.“ 552 Der Idee des Zeitgewinns entsprach der Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft“ mit konföderativen Eigenschaften. 553 Moskau gab
547 Ob dies am 25. oder 26. Januar stattfand, darüber besteht keine Einigkeit unter denjenigen, die über die Konferenz z. T. Jahre später erst Aufzeichnungen machten. 548 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 289 f. 549 Plato, S. 190. 550 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 287. 551 Ebda.S. 287 552 Ebda. S. 290 553 Plato, S. 192 und Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66 S. 290.
136
Kapitel 4
den Weg frei, wollte aber die Akteure ausbremsen und das vereinigte Deutschland keinesfalls in die NATO lassen bzw. in ihr belassen! Obwohl die Lage richtig eingeschätzt wurde, wurden doch keinerlei Bedingungen formuliert. 554 Eine echte Diskussion fand nicht statt. Gorbatschow kam es darauf an, einen Weg aus der innenpolitischen Krise zu finden, ohne die Sowjetunion zu opfern. Er und seine Berater verkannten den Ernst der Lage. Um die Krise zu lösen und sein politisches Überleben zu sichern, war er schließlich bereit, den Deutschen die Wiedervereinigung zu geben. Zu welchen Bedingungen? Das ließ er offen. Er ging davon aus, dass allein die Anwesenheit seiner Truppen – immerhin über 370.000 Soldaten – auf dem Gebiet der DDR ausreichen würde, um den Wunsch der NATO-Mitgliedschaft für das vereinte Deutschland abzublocken. 555 Beim erklärten Verzicht auf Anwendung von Gewalt waren die Truppen aber als Druckmittel kaum tauglich. Den größten Fehler begingen aber alle Teilnehmer dadurch, dass sie glaubten „viel Zeit zu haben“. Beratergruppen wurden nicht rechtzeitig gebildet, Alternativpläne nicht aufgestellt und eine Strategieplanung gab es auch nicht. Die Protokolle und Notizen dieses Treffens zeigen, wie weit entfernt die sowjetischen Machthaber von einer realistischen Betrachtung waren. Erst ab Mai / Juni 1990 sollte sich dies ändern. Bis dahin blieb Gorbatschow bei seiner Haltung: Einheit Ja, NATO Nein. Die Notizen, (weder wurde ein Wortprotokoll noch ein Stenogramm geführt 556) die mindestens die Hälfte der zehn Teilnehmer unabhängig voneinander formulierten, sind nicht vollständig und inhaltlich nicht identisch. Selbst Gorbatschow veränderte in seinen „Erinnerungen“ einen wichtigen Satz. Hieß es in der Aufzeichnung von Tschernjajew 557 unter der Frage „Was sind die nächsten Schritte?“ in Punkt 1: „Modrow empfangen und danach Gysi. Hier haben wir moralische Verpflichtungen“, 558 ist in den „Erinnerungen“ von Gorbatschow etwas Anderes zu lesen. Dort heißt es: „Die Diskussion in meinem Arbeitszimmer in kleinem Kreis dauerte vier Stunden. Danach war unser Kurs für die nächste Zukunft abgesteckt: Die Wiedervereinigung Deutschlands sei unvermeidlich.“ 559 Die übrigen Punkte deckten sich inhaltlich.
554 555 556 557 558 559
Vgl. Savranskaya, Masterpieces of History, S. 675. Vgl. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 287. Ebda., Dok Nr. 66. S. 291. Ebda., Dok Nr. 66, S. 290. Ebda. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 715.
Überlegungen in Washington zu Deutschland
137
Gorbatschow schildert in seinen „Erinnerungen“ das Treffen derart, dass man glauben musste, dass die Wiedervereinigung nunmehr für Moskau beschlossene Sache sei. Schließlich war zu lesen: „Selbstverständlich nahm das Thema der deutschen Wiedervereinigung auch einen zentralen Platz in unserem Gespräch mit Baker ein, der nach Moskau kam.“ 560 Prinzipieller Widerstand war damit schon Ende Januar 1990 aus dem Moskauer Politbüro nicht mehr zu erwarten, der Weg zur deutschen Einheit grundsätzlich frei. Es ging der sowjetischen Regierung nicht länger um das „ob“, sondern allein um das „wie“ der deutschen Einheit. Aber: Warum stellte der Kreml nicht seine Beschlüsse vom 26. Januar 1990 als Ultimatum oder Bedingungen? Keine der aufgestellten Aufgaben wurde als Bedingung formuliert. Weder am 26. Januar 1990 noch irgendwann später. Zwischenzeitlich beschäftigte sich aber die NATO mit den Entwicklungen in Europa.
Überlegungen in Washington zu Deutschland In dem schon mehrfach zitierten Zehn-Punkte-Plan vom November 1989 wurde die NATO von Kohl nicht erwähnt. Dabei war die NATO-Frage in den Überlegungen der US-Administration schon seit Amtsübernahme von Bush im Januar 1989 präsent. Zu prüfen waren daher folgende Fragen: Wie intensiv beschäftigte sich US-Präsident Bush vor dem Mauerfall im November 1989 bereits mit der deutschen Wiedervereinigung? Wie weit hatten die USA zu diesem Zeitpunkt eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands mit der Mitgliedschaft in der NATO verknüpft? Sind die Antworten bereits in der Erklärung des Mai-Gipfels der NATO und aus den Äußerungen führender US-Politiker herauszulesen? Im Frühjahr 1989 ging die US-Administration von diesen Prognosen aus: – Die Entwicklung in Osteuropa mit Polen und Ungarn an der Spitze läuft auf einen Wechsel im politischen System hinaus. Polen und Ungarn werden Demokratien nach westlichem Muster. Das wird weitreichende Veränderungen im Verhältnis zum Westen – z. B. an der Grenze Ungarns zu Österreich – mit sich bringen. – In der Sowjetunion werden sich ebensolche Veränderungen ergeben, die von der Partei- und Staatsspitze in Person von Generalsekretär und Staatspräsident Gorbatschow so gewollt sind. Hier vollzieht sich ebenfalls eine Annäherung an den Westen. 560 Ebda.
138
Kapitel 4
– Warschauer Pakt und NATO verlieren möglicherweise ihre Existenzberechtigung, weil es keine Bedrohung und mithin kein Feindbild mehr gibt. Ferner ergaben sich im Frühjahr 1989 aufgrund der Analysen der Expertenrunden im Weißen Haus und im Foreign Office der USA diese Fragen: 561 – Wie wird sich die Abtrennung der „Bruderstaaten“ von der Sowjetunion und die Herauslösung aus dem Warschauer Pakt gestalten? – Auf welcher Basis werden sich die beiden deutschen Staaten vereinigen und unter welchem Bündnisschirm? Stand für die amerikanischen Strategen, so fragt der Historiker von Plato, die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland überhaupt jemals in Frage? 562 Bush und seine Berater erkannten allerdings auch, dass sie mit solchen Gedankenspielen Gorbatschow überforderten. Bush glaubte trotz mancher anderslautenden Erklärung aus Moskau zu erkennen, dass Gorbatschow letztlich das Ziel verfolgte, die Sowjetunion zu einem nach westlichem Vorbild liberal-marktwirtschaftlich orientierten Staat umzuformen, 563 und die Umsetzung seiner Wirtschaftsreformen als Grundbedingung für jede andere Reform priorisierte. Der US-Präsident wollte Gorbatschow auf diesem Weg unterstützen, ihn gleichzeitig aber dazu animieren, das gesamte kommunistische Gesellschaftssystem der UdSSR auf den Kopf zu stellen. Ein Instrument hierfür war die Rüstungspolitik. So legte Bush Ende Mai 1989 auf dem NATOGipfel 564 in Brüssel einen ersten Abrüstungsvorschlag der NATO vor: Abzug von 30.000 US-Soldaten aus Europa und von 325.000 Soldaten des Warschauer Paktes, Abzug der SNF-Raketen. 565 Dies war einerseits eine Fortsetzung der von Präsident Reagan bereits eingeleiteten Abrüstungsstrategie, andererseits aber auch der massive Versuch, das marxistischleninistische System durch Abrüstungsdruck zu unterminieren. Auf dem Rückweg aus Brüssel macht Bush in Mainz Station. Hier hielt er erneut eine grundlegende Europa-Rede. Er habe die neue US-Politik gegenüber der Sowjetunion als Überwindung des Containments (Eindäm-
561 Plato, S. 29. 562 Ebda., S. 29 563 Gorbatschow, Michail: Meine Vision. Die Perestroika in den neunziger Jahren, München 1991, S. 13. 564 NATO – 40 Jahre, Erklärung in Brüssel 29./30. Mai 1989; in Internet: http://www. nato.int/docu/comm/49-95/c890530a.htm (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 565 Short-Range Nuclear Forces (SNF).
Überlegungen in Washington zu Deutschland
139
mung) bezeichnet. 566 Wörtlich dann: „Seit vierzig Jahren liegt die Saat der Demokratie in Osteuropa brach, begraben unter der im Kalten Krieg gefrorenen Erde der Tundra. Seit vierzig Jahren wartet die Welt auf ein Ende des Kalten Krieges. Jahrzehntelang und immer wieder wurde der schöpferische Geist des Menschen Opfer von Krisen und Unterdrückung.“ Der leidenschaftliche Wunsch nach Frieden könne nicht ewig verwehrt werden. Die Welt habe lange genug gewartet. „Die Zeit ist reif. Europa muss frei und ungeteilt sein“, forderte Bush und brachte nun die NATO ins Spiel: „Für die Gründerväter des Bündnisses war diese Hoffnung ein ferner Traum. Jetzt ist diese Hoffnung die neue Aufgabe der NATO. Wenn sich alte Gegner wie Großbritannien und Frankreich oder Frankreich und Deutschland versöhnen können – warum können es dann nicht die Länder in Ost und West?“ 567 Der Kalte Krieg habe mit der Teilung Europas begonnen und könne nur beendet werden, wenn es diese Teilung nicht mehr gebe, unterstrich Bush und reklamierte die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Osteuropas. Wenn er im Sommer nach Polen und Ungarn reise, werde er (an Gorbatschow gerichtet) diese Botschaft übermitteln: „Es kann kein gemeinsames europäisches Haus geben, wenn sich nicht all seine Bewohner von Raum zu Raum frei bewegen können. Und ich werde noch eine Botschaft mit dorthin nehmen: Der Weg der Freiheit führt in ein größeres Haus – ein Haus, in dem West und Ost zusammentreffen.“ 568 Konkret schlug Bush vor, den KSZE-Prozess zu stärken und auszubauen, um in Osteuropa freie Wahlen und politischen Pluralismus zu fördern. 569 Die westlichen Erwartungen sollten in dem Maß steigen wie die Kräfte von Freiheit und Demokratie in Osteuropa zunähmen. Die Verbindung der vereinzelten Freiheitsbestrebungen in Osteuropa sei eine große Aufgabe für die westlichen Demokratien. Dabei müssten insbesondere die großen politischen Parteien im Westen eine historische Verantwortung übernehmen, den – wie er sagte – tapferen Menschen mit Rat und Tat zur Seite stehen, die erstmals repräsentative politische Parteien in Osteuropa gründen und mit der Forderung von Freiheit und Demokratie den Eisernen Vorhang öffnen wollten. Diese Öffnung habe bereits begonnen.
566 Bush, George, Ein ungeteiltes freies Europa. Rede zu den Bürgern von Mainz. Rheingoldhalle, Mainz, 31. Mai, 1989; in Internet: http://www.chronik-der-mauer. de/material/178891/rede-von-us-praesident-george-bush-in-mainz-31-mai-1989 (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 567 Ebda. 568 Ebda. 569 Ebda. und Rede von US-Präsident George Bush in Mainz, 31. Mai 1989; in Internet: www.chronik-der-mauer.de/material/178891/rede-von-us-praesident-georgebush-in-mainz-31-mai-1989 (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
140
Kapitel 4
Die Grenze aus Stacheldraht und Minenfeldern zwischen Ungarn und Österreich werde Fuß um Fuß, Schritt für Schritt beseitigt. Ebenso wie in Ungarn müssten diese Schranken in ganz Osteuropa fallen. Berlin müsse die nächste Station sein. Denn an keinem anderen Ort werde die Teilung zwischen Ost und West deutlicher sichtbar als in Berlin. Dort trenne eine brutale Mauer Nachbarn und Brüder. Bush: „Diese Mauer steht als Monument für das Scheitern des Kommunismus. Sie muss fallen. Glasnost mag ja ein russisches Wort sein. Offenheit jedoch ist ein westliches Konzept.“ 570 Bush entwickelte in diesem Zusammenhang die Vision von West-Berlin als Zentrum des Handels zwischen Ost und West – einem Ort der Zusammenarbeit, nicht der Konfrontation. Glasnost solle in Ost-Berlin Einzug halten, lautete der zweite Vorschlag von Bush. Mehr politische Freiheit im Osten, ein Berlin ohne Mauer, eine sauberere Umwelt, ein weniger militarisiertes Europa – dies seien jedes für sich schon ehrenwerte Ziele. „Zusammengenommen sind sie Merkmale einer umfassenderen Vision – eines Europas, das frei und im Frieden mit sich selbst lebt. Die Sowjets sollten wissen, dass unser Ziel nicht darin besteht, ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu untergraben. Unser Ziel ist es, sie schrittweise davon zu überzeugen, dass ihre Definition von Sicherheit überholt ist und ihre innersten Ängste unbegründet sind.“ 571 Die friedliche Integration von Nationen in die Weltgemeinschaft bedeute jedoch nicht, dass irgendein Land seine Kultur, geschweige denn seine Souveränität aufgeben müsste. Dieser Prozess der Integration, eine subtile Verflechtung gemeinsamer Interessen, der in Westeuropa so kurz vor seiner Vollendung stehe, habe nun endlich auch im Osten begonnen. Voller Pathos entwickelte Bush sein Bild eines künftigen Europa: „Wir möchten den Staaten Osteuropas zu einer Erkenntnis verhelfen, die sich in Westeuropa schon vor langer Zeit durchgesetzt hat. Die Grundlage dauerhafter Sicherheit erwächst nicht von Panzern, Truppen oder Stacheldraht. Sie wird auf gemeinsame Werte und Vereinbarungen gegründet, die freie Völker verbinden. Die Nationen Osteuropas entdecken aufs Neue ihr glanzvolles nationales Erbe. Mögen die grauen Gesellschaften des Ostens erneut in den Farben nationaler Kultur erstrahlen. Möge Europa von einem Frieden der Spannungen zu einem Frieden des Vertrauens finden, einem Frieden, in dem die Völker des Ostens und des Westens frohlocken können, auf einem Kontinent, der vielfältig ist und doch eine Einheit bildet. Vierzig Jahre des Kalten Kriegs waren ein Prüfstein für unsere
570 Ebda. 571 Ebda.
Gorbatschow zunehmend in der Zwickmühle
141
Entschlossenheit und die Stärke unserer Werte. Nun ist die erste Aufgabe der NATO nahezu vollendet. Aber wenn wir unsere europäische Vision verwirklichen wollen, wird uns die Herausforderung der nächsten vierzig Jahre nicht weniger abverlangen. Gemeinsam werden wir diesem Ruf folgen. Die Welt hat lange genug gewartet.“ 572 Diese Rede wurde wenig beachtet, obwohl Bush so offen wie nie zuvor über die Neuordnung Europas ohne Mauer und Stacheldraht sprach. Bush folgerte diese Möglichkeiten aus den Ereignissen in Ungarn und Polen. Bedeutsam wurde sie auch durch den Hinweis auf die KSZE. George Bush, den ein ausgeprägter Wettbewerbssinn auszeichnete, hatte seine Redenschreiber angewiesen, an Reagans Forderung vor dem Brandenburger Tor anzuknüpfen und die europäische und damit deutsche Einheit zum zentralen Thema seiner Europareise zu machen. Im ersten Textentwurf gab es weit gehende Passagen, die Bush-Berater Scowcroft streichen ließ, weil er Bedenken hatte, dass unnötigerweise dem deutschen Nationalismus Vorschub geleistet werde, 573 und Bush damit weitergehen könnte als Kohl in seinen Äußerungen zur deutschen Frage. 574 Tatsächlich hatte der Kanzler schon länger Forderungen als unrealistisch zurückgewiesen, neue Denkansätze zu entwickeln und neue Wege zur Wiedervereinigung zu suchen. An Kohls Haltung änderte sich auch nach Bushs Rede nichts. Dabei hatte ihm der US-Präsident bereits am 12. Mai vertraulich 575 mitgeteilt, „dass sich uns eine historische Chance bietet“, die Ost-West-Beziehungen zu verändern. Die Sowjets sollten „jetzt den Staaten Mittel- und Osteuropas das Selbstbestimmungsrecht gewähren“. 576
Gorbatschow zunehmend in der Zwickmühle Angesichts der Entwicklung seit dem Mauerfall am 9. November 1989 geriet der sowjetische Parteichef zunehmend in eine Zwickmühle. Einerseits wollte und musste er abrüsten, denn nur so konnte er die Mittel für eine umfassende Reform des Systems freimachen. Gab er aber den Forderungen speziell der USA zu sehr nach, riskierte er den Widerstand der KPdSU.
572 573 574 575 576
Ebda. Bush / Scowcroft, S. 83. Plato, S. 31. Plato, S. 28. Anm. 32. In den „Erinnerungen 1982–1990“ von Kohl wird die Mainzer Rede nur knapp abgehandelt. Die Stichworte „Deutsche Einheit“ und „Gorbatschow“ kommen überhaupt nicht vor. Für Kohl lag das alles noch in weiter Ferne, während die USA bereits Planspiele über die Einheit und die Zeit danach machten und Bush dies auch in seinen Reden öffentlich ansprach.
142
Kapitel 4
Hier musste Gorbatschow einen Weg finden, seine Ziele durchzusetzen, ohne die anderen Beteiligten zu verschrecken. Er musste sich der US- bzw. NATO-Strategie behutsam annähern. 577 1989 hatte die Sowjetunion, so beschrieben es Philip Zelikow und Condoleezza Rice 578, „die alte Vorstellung von der ‚sozialistischen Alternative‘“ aufgegeben. Moskau war bereit, die Isolation zu verlassen und sich ins internationale System einzugliedern. Die Sowjetunion wollte sich als gleichberechtigter Partner einem umgestalteten Europa anschließen. Für die USA bedeutete das zu diesem Zeitpunkt: – Die Kriegsgefahr durch die Sowjetunion war minimiert. – Spannungsherde in der übrigen Welt zwischen USA und UdSSR verloren an Bedeutung. – Menschenrechte wurden durch die sowjetische Politik weltweit respektiert. 579 Diese positive Entwicklung hatte jedoch aus Sicht der USA eine Kehrseite: Es bestand die Möglichkeit, dass, wie US-Experten es bereits prophezeit hatten, die NATO ihre Existenzberechtigung verlor. Zwar verstand sich die NATO auch als „Wertegemeinschaft“, doch der Kitt, der sie zusammenhielt, war die Bedrohung aus dem Osten. 580 Die Gefahr eines Exportes der „Weltrevolution“ in alle Länder der Erde war durch die Politik von Gorbatschow seit 1985 erheblich geschrumpft. Die NATO musste also in ihrer Zielsetzung den politischen Veränderungen angepasst werden. Die USA verfolgten daher eine doppelte Strategie: Zum einen unterstützten sie Gorbatschow in seiner Politik der Perestroika. Dazu gehörten neue Verträge zwischen beiden Ländern, der rhetorische Beistand durch Präsident Bush sowie konforme Abrüstungsschritte. Zum anderen ermutigten die USA die osteuropäischen Staaten in ihrem Drang, von der Sowjetunion unabhängig zu werden. Die amerikanische Außenpolitik zielte dabei neben Moskau vor allem auf Polen und Ungarn. Beide Staaten waren dabei, sich schnell und „energisch“ vom „sowjetischen Griff“ zu befreien. 581 Dazu Baker: „Von Anfang an hatten wir das demokratische und marktwirtschaftliche Potential in Osteuropa wie auch den mittelbaren Zusammenhang von Reformen in Osteuropa und in der Sowjetunion deutlich vor Augen. Ziemlich schnell entwickelten wir daher den Plan für eine Art
577 578 579 580 581
Gorbatschow: Erinnerungen, S. 236 ff. Zelikow / Rice: S. 46. Ebda., S. 47. Baker, S. 57. Bush / Scowcroft, S. 112.
Kohls Hilfszusagen
143
stillschweigende Arbeitsteilung mit unseren westlichen Bündnispartnern, wobei sich die Bundesrepublik und andere Staaten auf Wirtschaftshilfe für Osteuropa und die Sowjets konzentrieren sollten, während wir uns mehr der Verlagerung des ‚Kräfteverhältnisses‘ zuwenden würden, indem wir uns dafür einsetzten, die sowjetische Außenpolitik zu demilitarisieren und Gorbatschow zu politischen Reformen zu drängen. [. . . ] Zwar war Präsident Bush und mir bewusst, dass es unsere wichtigste Aufgabe sein würde, den Kalten Krieg zu beenden, doch begannen wir schon damals mit den Vorbereitungen für eine Welt nach dem Kalten Krieg.“ 582
Kohls Hilfszusagen Vom 12. bis 15. Juni 1989 traf Michail Gorbatschow in Bonn Kanzler Kohl. Beide Politiker sprachen lange über die politische und wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion und in der DDR. Kohl versicherte seinem Gast erneut, dass „Bonn nicht an einer Destabilisierung der DDR interessiert“ sei. 583 Dieser stellte klar: „Wir sind der festen Meinung, dass jede Führung in Partei oder Staat für die eigenen Angelegenheiten selbst und vor der eigenen Bevölkerung verantwortlich ist. Wir belehren niemanden und bitten andere auch nicht um Ratschläge. Früher wurde immer die Frage gestellt, ob es eine Breschnew-Doktrin geben würde. Dies ist aber eine Frage, die im Wesentlichen im Westen selbst erfunden worden ist“. 584 Schließlich betonte Kohl, es sei wichtig festzustellen, „dass er sich mit dem Generalsekretär in der deutschen Frage nicht einig sei“. 585 Nach diesem Vorab-Austausch der Meinungen zu Europa und zur deutschen Frage kam Kohl auf die Situation in der Sowjetunion zu sprechen. Er konstatierte, „dass der Generalsekretär mit zwei großen Problemen konfrontiert ist: mit der Versorgung der Bevölkerung und mit der Nationalitätenfrage“. 586 Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: „Generalsekretär Gorbatschow nickt zustimmend.“ 587 Auf die „Probleme“ im Einzelnen gingen die beiden Staatsmänner nicht ein. Aber Kohl fügte noch einen kurzen, wegweisenden Satz zur NATO hinzu: „Es bleibt unser Ziel, die NATO stark und einig zu halten.“ 588
582 583 584 585 586 587 588
Ebda., S. 63. Deutsche Einheit, Dok Nr. 2, S. 283. Ebda. Ebda., Dok Nr. 2, S. 284. Ebda. Ebda. Ebda., Dok Nr. 2, S. 285.
144
Kapitel 4
Aufschlussreich ist die „Gemeinsame Erklärung“ 589 von Kohl und Gorbatschow zum Abschluss des Besuches in Bonn. In ihr schlug sich die gute Stimmung während des Treffens nieder. In dem Papier vom 13. Juni 1989 bekannten sich beiden Staatsmänner angesichts von Problemen, „die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, [zu] neuem politischen Denken“. Weiter: 3. Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde müssen beigelegt und der Friede erhalten und gestaltet werden. Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden. 590
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde hier erstmals von sowjetischer Seite mitgetragen und machte den besonderen Erfolg dieses Besuches aus. Entsprechend war dies auch Thema auf der abschließenden Pressekonferenz in Bonn. Auf die Frage: „Können Sie sich vorstellen, dass die beiden deutschen Staaten irgendwann ihre europäische Identität und Gemeinsamkeit festschreiben könnten?“, antwortete Gorbatschow: „Ich halte das für möglich. Die Mauer ist sicherlich nicht das einzige Hindernis. Aber nichts unter dem Mond ist ewig. Die Mauer könne wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen ihrer Entstehung entfielen. Ich sehe darin kein großes Problem.“ 591 Am nächsten Tag fand ein weiteres Gespräch zwischen Kohl und Gorbatschow statt. Kohl berichtet US-Präsident Bush in einem Telefonat am 15. Juni 1989, dass Gorbatschow über die „wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ ganz offen rede und „auch darüber, dass ihm einige schwierige Jahre bevorstünden“. 592 Kohl versprach Hilfe, wenn nötig und gab dem US-Präsidenten einen Rat, der sich in den nächsten Monaten als äußerst glücklich erweisen sollte. Kohl bat Bush, „er möge ab und zu von sich aus eine direkte Nachricht an Gorbatschow geben. Es wäre auch ein Zeichen des wachsenden Vertrauens zwischen den USA und der UdSSR. Für Gorbatschow sei ein persönliches Vertrauensverhältnis sehr wichtig. Die „Chemistry“ müsse stimmen“. 593
589 Ebda. 590 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr 61, 15. 6. 1989, S. 543. 591 Galkin / Tschernjajew, S. XIII. 592 Deutsche Einheit, Dok Nr. 5, S. 300. 593 Ebda.Kohl gegenüber Frankreichs Staatspräsident Mitterrand am 22. Juni 1989 in Paris. Und Kohl am Telefon gegenüber Bush in Deutsche Einheit, Dok Nr. 5, S. 300
Kohls Hilfszusagen
145
Ähnlich berichtete Kohl der britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Nur in Bezug auf die NATO wurde Kohl sehr viel deutlicher, als er Thatcher sagte: 594 „Ich habe in meiner Tischrede Gorbatschow erklärt, dass es ganz sinnlos ist, zu hoffen, dass man die Bundesrepublik von der Seite der NATO wegdrängen könnte. [. . . ] Und ich habe ernsthaft gegenüber Gorbatschow zum Ausdruck gebracht, dass er keine Hoffnung auf eine Neutralisierung bei uns setzen soll.“ 595 Fast wortgleich verlief auch das Telefonat mit dem spanischen Ministerpräsidenten Gonzales am 15. Juni 1989. 596 Mit diesem mehrtägigen Besuch von Gorbatschow in Bonn brach das Eis endgültig. In seiner Tischrede beim Abschlussbankett sagte Gorbatschow: „Wir ziehen den Strich unter die Nachkriegsperiode.“ Kohl verstand das „als Ziel, von der Konfrontation im Verhältnis zwischen Ost und West wegzukommen und die Zukunft auf Dialog und Zusammenarbeit zu bauen. Mit dieser Willenserklärung und diesem Ziel stimmte ich voll und ganz überein. Hier dachte ich in erster Linie an die Teilung Europas und an die Teilung unseres Vaterlandes.“ 597 Mit dem Besuch in der Bundesrepublik offenbarte Gorbatschow aber auch, dass er die Hilfe des Westens bei der Umgestaltung und Modernisierung seines Landes dringender denn je benötigte. So wurden in Bonn allein elf Abkommen unterzeichnet. „Die sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungen erreichten eine neue Qualität“, fasste Gorbatschow zusammen. 598 Andererseits ließ er keinen Zweifel daran, dass er – trotz des Bekenntnisses zum Selbstbestimmungsrecht der Völker – dem Gedanken an eine mögliche Wiedervereinigung keineswegs folgen werde. Als Kohl seinem Gast bei einem abendlichen Rhein-Spaziergang bekräftigte, die Teilung Deutschlands sei die entscheidende Belastung zwischen „unseren beiden Völkern“, widersprach ihm Gorbatschow. „Die Teilung ist die logische Folge der geschichtlichen Entwicklung“, sagt er dem Kanzler 599 und bekam zur Antwort: „Die Deutschen werden sich nicht mit der Teilung abfinden.“ 600 Kohl glaubte von nun an, dass „bei Gorbatschow ein Umdenken einsetzte“, 601 doch war er mit dieser Einschätzung relativ allein. 602
594 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr 61, 15. 6. 1989, S. 537 ff. 595 Deutsche Einheit, Dok Nr. 6, S. 302. 596 Deutsche Einheit, Dok Nr. 7, S. 303. 597 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 891 f. 598 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 710. 599 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 889. 600 Ebda. 601 Ebda. 602 Zelikow / Rice, S. 66.
146
Kapitel 4
Am 22. Juni 1989 besuchte Kohl Paris. Gegenüber dem französischen Staatspräsidenten betonte er, dass „die Hauptprobleme wie die Nationalitätenfrage und die Versorgung noch auf Gorbatschow zukommen werden“. 603 Zur NATO-Frage bemerkte Kohl, Gorbatschow habe mehrmals beschworen, dass er nicht versuchen wolle, die Bundesrepublik aus der NATO und der EU herauszuholen. „An einer Destabilisierung Europas ist Moskau nicht interessiert.“ 604 Zum Abschluss formulierte der deutsche Kanzler einige bemerkenswerte Sätze, ohne zu ahnen, dass sie bald eine neue Bedeutung bekommen sollten: „Der Westen hat zum ersten Mal seit 40 Jahren die Karten in der Hand. Wenn er jetzt klug, nicht rechthaberisch und ohne Illusionen vorgeht, besteht eine gute Chance, zu besseren Beziehungen zu kommen.“ 605 Zu allen Analysen, Interpretationen und Versuchen, die neue Moskauer Politik zu erklären, gewann jetzt ein weltpolitischer Akzent an Bedeutung, der in den meisten Hauptstädten der westlichen Welt verdrängt worden war: der Gedanke an eine mögliche deutsche Wiedervereinigung. Er ergab sich logischerweise aus allen Überlegungen zur Konstruktion des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“. Würde es nach den Vorstellungen Gorbatschows gebaut, dann musste zuvor die Teilung Europas und Deutschlands aufgehoben werden. Doch niemand – mit Ausnahme der US-Administration – wagte diesen Gedanken laut auszusprechen. Auch die Bundesregierung war in ihren Äußerungen zu einer möglichen „Wiedervereinigung“ sehr zurückhaltend. Die Berater von Präsident Bush glaubten sogar erkannt zu haben, dass die CDU als Regierungspartei den Gedanken an eine Wiedervereinigung gänzlich aus ihrem Programm streichen wollte. 606 So sagte Wolfgang Schäuble, immerhin Chef des Kanzleramtes, am 22. Februar 1989 vor der Evangelischen Akademie in Bad Boll: „Wir hatten die Erwartung, dass man die Einheit Deutschlands durch eine Wiedervereinigung beider Staaten in absehbarer Zeit erreichen könne. Inzwischen wissen wir, dass diese Hoffnungen getrogen haben.“ 607 In den USA wurde dieser Satz missverstanden. Angesichts der Lage in Europa wollte er „das gegenwärtige Gleichgewicht zwischen Ost und West nicht destabilisieren, um die Wirkung der Politik, die auf Evolution setzt, nicht zu gefährden“. 608 Die CDU wollte also keineswegs den Gedanken an eine Wiedervereinigung aufgeben, sondern nur sehr viel behutsamer damit umgehen als die Amerikaner es jetzt vorschlugen. 603 604 605 606 607 608
Deutsche Einheit, Dok Nr. 8, S. 309. Ebda. Ebda., S. 310. Plato, S. 21. Texte zur Deutschlandpolitik 1989, S. 47. Ebda.
Kohls Hilfszusagen
147
Selbst der ehemalige SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler Willy Brandt war skeptisch. Im November 1984 sprach er in München und sagte: „Die fruchtlose Diskussion, wie offen wohl die Deutsche Frage sei, sollte beendet werden. Sie bringt nichts.“ 609 Der neue US-Botschafter in Bonn, Vernon Walters, 610 allerdings verkündete öffentlich: „Unsere Strategie ist die Vereinigung Deutschlands bei Durchsetzung der Mitgliedschaft dieses neuen Deutschlands in der NATO.“ 611 Dies erklärte er auch 1990 dem neuen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. 612 Wichtiger waren die Ausführungen und Appelle an die osteuropäischen Staaten sowie die Aussagen und Forderungen zur durch die Mauer in Berlin symbolisierten Teilung Deutschlands. Hier zeigte sich bereits, wie sehr die NATO an die möglichen Folgen von Perestroika für ganz Europa dachte. So heißt es im Text einer NATO-Erklärung vom 29./ 30. Mai 1989: „Wir wollen, dass die Mauern, die uns trennen, abgerissen werden. Wir fordern freien Austausch von Personen, Informationen und Ideen. Wir fordern das Recht für jeden Bürger, sein Land frei verlassen zu können. Wir fordern, dass jedes Land selbst entscheiden soll, wie es und in welchem System es leben will.“ 613Diese Erklärung war die erste der NATO, in der von der Einheit Europas und Deutschlands die Rede war und markierte den Beginn einer auf Einheit gerichteten Politik 614, auch wenn die meisten Politiker in der BRD und in West-Europa dies noch weit von sich wiesen. 615 Dennoch fragte US-Präsident Bush am 21. Mai 1989 seinen Gast Präsident Mitterrand, was „er denn von einer möglichen Wiedervereinigung halte“. Dieser antwortete: „Wenn das deutsche Volk es will, stehe ich dem nicht entgegen. Aber ich sehe das erst in weiter Zukunft“. 616
609 Willy Brandt, Vortrag am 18. November 1984 in München; in: Zelikow / Rice S. 525, Anm. 61 und S. 102. 610 Vernon Walters war vom 24. April 1989 bis 18. August 1991 Botschafter der USA in Bonn. 611 Walters, S. 8, 31, 38, 57. 612 Plato, Anmerkung 23, S. 25. 613 In Internet: https://www.nato.int/docu/comm/49-95/c890530a.htm. Passage aus dem NATO-Kommuniqué findet sich dann sinngemäß wieder im Zehn-PunkteProgramm von Kanzler Kohl am 28. November 1989 (letzter Zugriff: 4. 12. 2016). Vgl. Plato, S. 28. 614 Plato, S. 29. 615 Plato, S. 26. 616 Bush / Scowcroft, S. 78.
Kapitel 5 Politikwechsel im Kreml Schon bevor Michail Gorbatschow zum KPdSU-Generalsekretär und damit zum mächtigsten Mann der Sowjetunion gewählt worden war, war ihm klargeworden, dass sich sein Land in einer Dauerkrise befand. Ohne Hilfe aus dem Westen würde sich die Sowjetunion nicht selbst modernisieren können, 617 erkannte er frühzeitig. Die Erkenntnis war jedoch nicht neu. So hatte bereits im Dezember 1979 Schewardnadse auf gemeinsamen Spaziergängen mit Gorbatschow festgestellt: „Alles in unserem Land ist verfault und das Land ist krank.“ 618 Um den Rüstungswettlauf zu beenden und die Wirtschaft umzustrukturieren, war es notwendig, den Parteienstaat von Grund auf umzubauen. Die hierfür erforderliche Änderung der Verfassung setzte zunächst den Rückzug der KPdSU aus allen Bereichen der Gesellschaft voraus. Die „gesamte Fülle der Staatsgewalt“ sollte künftig beim Volkskongress liegen. 619 Diese Reformarbeiten an der sowjetischen Verfassung begannen im Dezember 1988. Sie verliefen nicht störungsfrei. Gorbatschow gelang es nicht, die Partei aus allen staatstragenden Funktionen zu verdrängen. 620 Unklar blieb bis heute, ob er es auch unbedingt wollte. 621 Er konnte jedoch den „Apparat“ so weit von konservativen Kräften befreien, dass es den nachrückenden Diplomaten gelang, einvernehmliche Lösungen mit dem Westen für eine Hilfestellung beim weiteren Umbau der Sowjetunion zu finden. 622 Aufgrund seiner steilen Parteikarriere kannte Gorbatschow die gesamte Polit-Hierarchie und auch jeden möglichen Widerstand gegenüber seiner Reformpolitik. Für viele in seiner Umgebung war seine Unberechenbarkeit nicht erklärbar. 623 So sollte es auch in der NATO-Frage sein. Nur seine „engsten persönlichen Mitarbeiter“ konnten dies nachvollziehen. 624 Allein Gorbatschow gab die Richtung vor, und nur er verstand, warum er so und nicht anders handelte. Biermann ist der Ansicht: „Ohne seinen persönlichen deutschlandpolitischen Einstellungswandel hätte die Wiedervereinigung in dieser Form nicht stattfinden können.“ 625 617 618 619 620 621 622 623 624 625
Gorbatschow: Erinnerungen, S. 577 ff. Karner, S. 24 und Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit, S. 245. Biermann, S. 37. Biermann, S. 38. Biermann, S. 40. Ausführlich Biermann, S. 39 ff. Biermann, S. 40. Ebda. Biermann, S. 41.
Politikwechsel im Kreml
149
So waren seine (wenigen) deutschlandpolitischen Berater nur ihm unterstellt. Zwei davon unterstützten 1990 maßgebend seinen Kurs: Anatolij Tschernjajew und Georgij Schachnasarow. Tschernjajew nahm als „Persönlicher Referent“ und Berater an allen Reisen von Gorbatschow teil und ebenso an allen Gesprächen mit Kanzler Kohl. Tschernjajew war es auch, der bei Gorbatschow darauf drängte, den Deutschen das Selbstbestimmungsrecht zu geben (Tschernjajew-Formel). Neben diesen beiden war Schachnasarow einer der wichtigsten Berater und Freunde von Gorbatschow. Beide hatten 1990 den größten Einfluss auf Gorbatschow. 626 Ohne Veränderungen im Politbüro der KPdSU konnte Gorbatschow wenig umsetzen. Das Politbüro war trotz Perestroika und Glasnost immer noch das wichtigste Machtzentrum. Es tagt einmal in der Woche. Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU leitete regelmäßig die Sitzungen. So musste er darauf Acht geben, dass er immer eine Mehrheit der Mitglieder hinter sich hatte. Die Flügelkämpfe im Politbüro waren außerordentlich scharf. 627 Also wurde das Politbüro nach seiner Amtsübernahme im März 1985 umgebaut. Zuletzt geschah dies auf dem 28. Parteitag der KPdSU im Juli 1990. Davor – also 1989 bis Juli 1990 – bestand das Politbüro aus elf Vollmitgliedern und sieben Kandidaten. Nur vier der Vollmitglieder waren erklärte Anhänger der Politik von Gorbatschow: Eduard Schewardnadse, Alexander Jakowlew, Wadim Medwedjew und Wladimir Iwaschko. Von den Kandidaten war die Mehrzahl ebenfalls gegen Gorbatschows Kursänderung. Damit konnte Gorbatschow mit diesem Politbüro keine deutschlandpolitische Kurswende vollziehen. 628 Auch das Verhältnis zwischen Schewardnadse und den Orthodoxen im Politbüro war „äußerst gespannt“. 629 Gorbatschow musste also 1989 die Mehrheiten im Politbüro verändern, wollte er das „Gemeinsame Europäische Haus“ bauen. Als erste Maßnahme ließ er im Politbüro nur noch „lange diskutieren“, aber nicht mehr abstimmen. Dann legte er dem Gremium wichtige Entscheidungen gar nicht mehr vor. Die Zahl der Sitzungen wurde deutlich reduziert, und er verlegte wichtige Debatten in neue, von ihm zusammengestellte Kreise. Schließlich ließ er sich zum Staatspräsidenten wählen. Mit diesen Maßnahmen unterhöhlte er den Herrschaftsanspruch der Partei und verlagerte ihn zunehmend auf seine Person. 630
626 627 628 629 630
Biermann, S. 43. Ebda. S. 44 Ebda. S. 44. Ebda. S. 45. Ebda. S. 46.
150
Kapitel 5
Ungeachtet der laufenden Veränderungen bereitete das Politbüro unter Führung von Gorbatschow die wichtigsten Maßnahmen in der Deutschlandpolitik vor. Von dort kamen dann auch 1990 Angriffe in Form von vehementer Kritik an seinem Kurs. Schewardnadse hatte daher einen schweren Stand und musste in den 2 + 4-Verhandlungen oft seine öffentlichen Äußerungen hinter verschlossenen Türen erklären und gegebenenfalls korrigieren. Wichtiger Unterstützer der Deutschlandpolitik Gorbatschows war als „Dritter im Bunde“ Jakowlew. Er war für die internationale Politik im ZK zuständig. 631 Auf der anderen Seite trat besonders Ligatschow als „permanenter Kritiker“ von Gorbatschow auf. Er wollte auf keinen Fall ein Einlenken gegenüber den Deutschen. Schewardnadse hatte 1985 das Außenministerium übernommen. Er verfügte über keine Erfahrung auf diplomatischem Gebiet. Gorbatschow ernannte ihn jedoch genau deswegen. Er wollte „Erneuerung“. 632 Zusammen mit Gorbatschow entwickelte er unverzüglich das „neue politische Denken“. Kernsatz dieser neuen Politik und Philosophie war der Wechsel von einer marxistisch geprägten Weltsicht hin zu „allgemein-menschlichen Werten“. Die „Weltrevolution als Ziel“ war überholt, die Zusammenarbeit über die Blockgrenzen hinweg neues Ziel. „Frieden, Wohlstand, Fortschritt“ hieß jetzt die Parole. Und „Kooperation statt Konfrontation“ war nunmehr sowjetische Außenpolitik. 633 Abrüstung stand plötzlich ganz vorn. Der Widerstand gegen den neuen Mann war stark. Schewardnadse tauschte daher das Personal zügig aus. Bis Ende 1989 waren fast 100 von 124 Botschaftern ersetzt. Daher waren seine Berater Tejmuras Stepanow und Sergej Tarassenko umso wichtiger. Diese beiden prägten zusammen mit dem Außenminister die Deutschlandpolitik 1989/90. Neben diesen beiden Diplomaten arbeiteten noch die „Germanisten“ an der Deutschlandpolitik im Außenministerium. Sie wurden so genannt, weil sich deren Abteilung seit 1949 um Deutschland (BRD und DDR) gekümmert hatte. Für sie waren die deutsche Teilung und der Bestand von Mauer und DDR „ultima ratio“ ihrer Politik. 634 Eine Wiedervereinigung war für sie völlig unvorstellbar. Die beiden Botschafter in Deutschland waren nicht eingebunden in das Netz des Ministers. Kotschemassow als DDR-Botschafter galt als Honeckers Freund, Kwizinski, der Mann in Bonn, wurde ebenfalls nicht ins Vertrauen gezogen.
631 632 633 634
Ebda., S. 48. Ebda., S. 49. Ebda., S. 50. Ebda., S. 53.
Politikwechsel im Kreml
151
Leiter der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU war Valentin Falin. Er verstand sich nicht mit Schewardnadse und war zudem ein strikter Gegner der neuen Politik. Dies machte er Gorbatschow in verschiedenen Briefen immer wieder sehr deutlich. Ende 1991 war das früher gute Verhältnis zwischen den beiden total zerrüttet. Falin warf Gorbatschow vor, er habe Partei und Staat zerstört. 635 Als Stellvertreter von Falin fungierte bis 1990 Rafael Fjodorow. 1989/90 spielte er aber noch eine wichtige Rolle im diplomatischen Kampf um die Einheit. Sein Vertrauter war Nikolaj Portugalow. Er besaß aber nicht das Vertrauen von Gorbatschow, obwohl er dies im Westen immer vorgab. Über die Verbindungen des Generalsekretärs zum KGB und zum Verteidigungsministerium gibt es kaum verlässliche Unterlagen. Die Archive sind weitgehend verschlossen. 636 Dennoch lassen sich Grundmuster erkennen: Gorbatschow ging schonend mit dem KGB um. Er wechselte kaum Spitzenpersonal aus. Anders im Verteidigungsministerium. Hier tauschte er seit 1986 fast die gesamte Führung aus. Dadurch wurde das Militär „entpolitisiert“. Das Außenministerium unter Schewardnadse übernahm die Sicherheitspolitik. Dies führte zu einer starken Gegnerschaft zur Reformpolitik. Eine wichtige Rolle in der Deutschlandpolitik spielte der Teil der sowjetischen Streitkräfte, der in der DDR stationiert war. Deutschen Stellen war die Zahl der sowjetischen Soldaten in der DDR nicht bekannt, selbst der Ost-Berliner Regierung nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass es zur Zeit des Mauerfalles ca. 400.000 Soldaten plus etwa 200.000 Angehörige waren. 637 Diese Macht wäre in der Lage gewesen, jeden Aufstand niederzuschlagen. Wie würde diese Militärmacht reagieren, wenn die DDR sich von Moskau lossagen sollte? Oder wenn die DDR-Regierung von Demonstranten angegriffen würde? Über die Auslandsaufklärung des KGB mit Sitz im Ost-Berliner Stadtteil Karlshorst wurde der Kreml über jede Aktivität in der DDR informiert. Von hier ging täglich ein Lagebericht direkt an Gorbatschow nach Moskau. 638 „Gorbatschow hat alles gewusst“, stellte Tschernjajew später fest. 639 So war der Kreml-Chef stets genau darüber informiert, was zwischen der DDR und BRD geheim verhandelt wurde. Nach dem Mauerfall war der Zustand der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) besorgniserregend; sie war dabei, sich selbst aufzulösen. Das sowjetische Militär verlangte jetzt, an den Verhandlungen beteiligt zu wer-
635 636 637 638 639
Ebda., S. 61. Ebda., S. 62. Ebda., S. 64. Ebda., S. 65. Ebda., S. 65.
152
Kapitel 5
den. Bei wichtigen Politbürovorlagen zur Deutschlandpolitik waren daher immer das Außenministerium, das Verteidigungsministerium und der KGB beteiligt, wobei sich die Abstimmung mit den Militärs in dieser Frage stets schwierig gestaltete. 640 Vor allem auch deswegen, weil Schewardnadse es ablehnte, die Positionen der Militärs in den Verhandlungen mit dem Westen zu übernehmen. Der Außenminister wehrte sich dagegen, von der Generalität kontrolliert zu werden. Er wollte nichts mit ihr zu tun haben. So nahm Schewardnadse in das Team, das die 2 + 4-Verhandlungen zu führen hatte, keine Vertreter des Verteidigungsministeriums auf. Auch bei den Treffen mit Kohl waren keine Militärs dabei. 641 Gorbatschow dagegen hatte mit Sergej Achromejew einen persönlichen Militärberater. Er war „Marschall der Sowjetunion“ und von 1984 bis 1988 Generalstabschef. 642 Er unterstützte zunächst die Perestroika, ging aber dann auf Abstand zu Gorbatschow. Auf den meisten politischen Ebenen hatte Gorbatschow es mit starkem Widerstand zu tun. Deshalb schuf er eigene „informelle“ Gremien, in denen er sich beraten ließ und Entscheidungen traf. 643 Die NATO war die (überlebenswichtige) Verbindungsstelle. Sie garantierte mit den USA an der Spitze die Sicherheit für alle nicht-kommunistischen Staaten in Europa sowie den Schutz vor einem Angriff östlicher Staaten. Das Ziel der Sowjetunion war es daher immer, die NATO aus Europa „um jeden Preis“ 644 herauszudrängen. Mit Gorbatschow setzte eine Veränderung in der Wahrnehmung ein. Galt bisher die Losung „NATO raus aus Europa“, so formulierte der neue Mann im Kreml jetzt: „NATO bleibt in Europa als Sicherheitsfaktor“. Das war eine totale Umkehr bisheriger sowjetischer NATO-Politik. Ohne die USA in Europa würde es zu instabilen Situationen kommen, so Gorbatschow. Die US-Truppen in Europa und insbesondere in Deutschland hätten dazu beigetragen, Deutschland „nuklearfrei“ zu halten. Ohne diese US-Präsenz könnte es wieder genau andersherum kommen, folgerte Gorbatschow.
640 Ebda., S. 67. 641 Ebda., S. 70. 642 Achromojew beging nach dem Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 Selbstmord. 643 Biermann, S. 84. 644 Adomeit mit Bezug auf Schewardnadse, S. 4.
Umdenken bei Gorbatschow
153
Umdenken bei Gorbatschow Dieses Umdenken setzte bei ihm ab 1986 ein. 645 Als am 21. Juli 1986 Genscher Gorbatschow im Kreml traf, war er überrascht von der Offenheit des KPdSU-Chefs. 646 Die Kernaussage zur NATO war: Wir wollen ein besseres Verhältnis zum Westen und zur Bundesrepublik, ohne dass dies die Bündnisverpflichtungen beeinträchtigt. Zu dieser Erkenntnis von Gorbatschow führte auch ein Hinweis von Genscher. Er hatte Gorbatschow daran erinnert, dass „wenn er vom europäischen Haus spreche, er wohl kaum ein geteiltes Haus erhalten wolle“. 647 Genscher machte Gorbatschow auch deutlich darauf aufmerksam, dass „alle“ Deutschen dann über eine Einheit zu entscheiden hätten. Gorbatschow war zu einem grundlegenden Richtungswechsel der sowjetischen Politik bereit, „seine Entscheidungen dürften aber nicht von außen aufgezwungen erscheinen“. 648 In einem „Spiegel“-Interview erklärte er weitere Beweggründe für den radikalen Politikwechsel: Es musste eine neue Struktur der Beziehungen entstehen, eine Atmosphäre des Vertrauens, wir mussten erkennen, welche riesigen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit es gibt. Wir haben die Beschränkung der Atomwaffen und konventionellen Waffensysteme erreicht und damit Europa von der Konfrontation befreit, wir haben die Blöcke grundlegend verändert. Wäre das alles nicht passiert, wäre auch aus Deutschland nichts geworden. [. . . ] Wir sagten: mehr Demokratie, mehr Sozialismus, dazu noch Glasnost, um die Menschen aus der Apathie herauszuführen und ihr Selbstverständnis als Bürger zu wecken. Das haben wir erreicht. [. . . ] Fast die gesamte Nomenklatura geriet in Aufruhr. Da kam ich zu dem Schluss, dass wir eine politische Reform durchführen müssten. Ich habe gespürt, dass die einzige Macht, die uns, die Reformer, unterstützen würde, das Volk ist. Deshalb dachte ich, dass es mir gelingen könnte, durch freie Wahlen die Menschen in den politischen Prozess einzubeziehen und dadurch der Nomenklatura unmöglich zu machen, das zu tun, was sie mit Chruschtschows und Kossygins Reform gemacht hatte, nämlich sie zu Grabe zu tragen. 649
Damit war die Haltung zur NATO erstmals gegenüber einem westlichen Gesprächspartner ausgesprochen worden. Die NATO sollte jetzt in Europa bleiben, um so Sicherheit und Stabilität in einem „gemeinsamen Haus
645 Adomeit, S. 4; Gorbatschow: Erinnerungen, S. 596. 646 Genscher schildert diese Begegnung sehr ausführlich in seinen „Erinnerungen“ auf den Seiten 493–505. 647 Genscher, Erinnerungen: S. 498. 648 Ebda., S. 501. 649 Interview mit Michail Gorbatschow, Spiegel, Nr. 40/95 vom 2. Oktober 1995 (Auszüge), S. 66.
154
Kapitel 5
Europa“ zu gewährleisten. „Nun war die deutsche Frage auf dem Tisch“, so der Außenminister. 650 Mit Blick auf die Ereignisse von 1990 war dies ein besonderer Markstein. Nur konnte 1986 noch niemand ahnen, was 1989/90 in Berlin geschehen würde. Mit dieser Änderung in der politischen Strategie der Sowjetunion war konsequenterweise auch eine Änderung der sowjetischen Außenpolitik gegenüber den NATO-Staaten, insbesondere gegenüber der BRD und den USA verbunden. Schon kurz nach seinem Amtsantritt im März 1985 hatte Gorbatschow das Bild von „unserem gemeinsamen Haus Europa“ 651 entwickelt und beschlossen, den Dialog mit dem Westen wiederaufzunehmen. „Wir mussten uns treffen“, so Gorbatschow. 652 Jede Begegnung dieser Art war nach dem Einmarsch der Sowjetunion 1980 in Afghanistan praktisch auf Eis gelegt worden. Ein neues Gipfeltreffen? Das klang einfach, war es aber damals nicht. US-Präsident Reagan hatte die Sowjetunion häufig als „Reich des Bösen“ bezeichnet. 653 Dieses „Reich“ wollte Reagan durch einen nie gekannten Rüstungswettlauf in den Ruin treiben. 654 Die Grundpfeiler der amerikanischen Politik unter Präsident Reagan, daran sei erinnert, waren: Antikommunismus und Aufrüstung. In seiner ersten Pressekonferenz nach Amtsantritt sagte Reagan am 29. Januar 1981 655: „Die Sowjets lügen und betrügen, sie stecken hinter allem Terrorismus und haben sich eine Moral zurechtgelegt, die es ihnen erlaubt, jede Art von Verbrechen zu begehen.“ 1982 kündigte Reagan vor dem britischen Parlament an: „Ich führe einen Kreuzzug für die Freiheit an. Der wird erst zu Ende sein, wenn der Marxismus-Leninismus auf dem Aschehaufen der Geschichte gelandet sein wird.“ 656 Deutschland stand ebenfalls ganz oben auf der Agenda von Ronald Reagan. Kanzler Kohl urteilte später in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ über die Deutschlandpolitik dieses Präsidenten: „Für Ronald Reagan war das nicht irgendeine Frage. Für ihn war es ganz und 650 651 652 653
Genscher: Erinnerungen, S. 491. Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit, S. 400. Ebda., S. 401. FN 202 Seite 50: „evil empire“. Rede am 8. März 1983 in Orlando / Florida; in Internet: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/USA/reagan1983.html (4. 6. 2020) 654 1983 hat Reagan bereits seine „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI), ein Raketenabwehrsystem im Weltraum, gestartet. Nach CIA-Berechnungen gab die Sowjetunion allein 1976 etwa 141 Prozent mehr für Waffensysteme aus als die USA. Immer neue Waffensysteme wurden in Europa und in der Sowjetunion aufgestellt. Trotz mehrfacher Mahnungen aus Washington marschierten Truppen der Sowjetunion am 24. Dezember 1979 in Afghanistan ein. 655 Reagan: Wir dürfen nicht zimperlich sein, in: Spiegel, Nr. 7/81 vom 9. 2. 1981, S. 100 ff. 656 Zelikow / Rice, S. 47.
Umdenken bei Gorbatschow
155
gar unnatürlich, dass mitten in Berlin eine Mauer steht, dass man ein Land brutal zerschneidet, dass Familien auseinandergerissen werden.“ 657 Umgekehrt prangerte Moskau unentwegt die USA wegen ihrer Sozialund Wirtschaftspolitik an. Dennoch wollte und musste Gorbatschow den Kontakt zum US-Präsidenten herstellen. 658 Sein Ziel hatte Gorbatschow von Beginn seiner Amtszeit im März 1985 klar formuliert. 659 Seine Reformen zielten zunächst auf die Innen- und Wirtschaftspolitik der Sowjetunion. Zugleich wollte er außenpolitisch den „Kalten Krieg“ beenden und ein „gemeinsames Haus Europa“ bauen, 660 in dem „kapitalistische, sozialistische und kommunistische Länder friedlich nebeneinander existieren“ 661 – ohne Teilung und ohne sich feindlich gegenüberstehende Blöcke mit der Sowjetunion in seiner Mitte. 662 Die KSZE sollte dabei eine neue, übergreifende Rolle bekommen 663 und im Idealfall NATO und Warschauer Vertrag als koordinierendes Bündnis ablösen. haapchDer Rückgriff auf die KSZE-Strukturen und die Einbeziehung von Gorbatschows Idee eines „Europäischen Hauses“ waren gut gewählt. Denn der sowjetische Generalsekretär gründete seine geopolitischen Visionen und seine neue politische Ausrichtung weitgehend auf die Zielsetzung der KSZE. Gorbatschows Vorbild war ausgerechnet Zar Peter der Große 664, denn ihm war schon vor seiner Wahl zum Generalsekretär klargeworden, wie nötig die UdSSR einen grundsätzlichen Wandel der Außenpolitik brauchte. 665 Dazu benötigte er ein ideologisches Fundament. Das waren ab 1986 Perestroika und Glasnost sowie eine materielle Basis in Form von westlichen Devisen. Die Gegenleistung bestand darin, die Sowjetunion vom „Gegner / Feind“ des Westens zum „Partner und Freund“ zu wandeln. Gorbatschow hatte nicht nur Rohstoffe (Öl, Gas, Gold, Kohle) zu bieten. Der Westen hatte schnell verstanden, was Gorbatschow wollte. Gorbatschow aber merkte erst spät, dass seine Gegenleistung nicht zuletzt mit dem Wort „Selbstbestimmung“ verbunden war.
657 Interview Kanzler Kohl mit Siegmar Schelling und Heinz Vielain, Welt am Sonntag, Nr. 39/1992 vom 27. 9. 1992, S. 1, 25–27. 658 Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit, S. 40. 659 Karner, S. 20; Gorbatschow: Erinnerungen, S. 532 und S. 844. 660 Zelikow / Rice, S. 31. 661 Rede von Gorbatschow in Straßburg, Neues Deutschland, Nr. 158 vom 7. Juli 1989, S. 3. 662 Zelikow / Rice, S. 30; Gorbatschow: Erinnerungen, S. 633 f. 663 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 634. 664 Peter der Große, Zar von 1682 bis 1721. Wollte mithilfe des Westens Russland modernisieren. 665 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 573.
156
Kapitel 5
Ein Blick zurück ist hier angebracht: Als am 1. August 1975 die Schlussakte der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ – KSZE – in Helsinki von der Sowjetunion und 34 anderen Staaten unterschrieben wurde, war damit die „Selbstbestimmung“ zum Leitmotiv dieser Einrichtung geworden. Das waren die Kerninhalte der KSZE-Schlussakte: – Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte – Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt – Unverletzlichkeit der Grenzen, es sei denn auf friedlichem / Verhandlungswege 666 – Territoriale Integrität der Staaten – Friedliche Regelung von Streitfällen – Nichteinmischung in innere Angelegenheiten – Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens- Religions- und Überzeugungsfreiheit – Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker – Zusammenarbeit zwischen den Staaten – Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben. 667 Ab 1987 bildeten Prinzipien der KSZE wie „Menschenrechte“ und „Selbstbestimmung“ den Kern der Perestroika. 668 Die KSZE wurde jetzt nicht mehr als „Papiertiger“ betrachtet. Ihre Statuten wurden zur Grundlage sowjetischer Politik, und zwar umso mehr, je deutlicher sich Gorbatschow der desolaten Lage seines Landes bewusst wurde. Im Inneren dienten die KSZE-Formeln zur Legitimation aller Protestbewegungen. Politische Forderungen wurden mit den KSZE-Prinzipien begründet. Nur logisch war es daher, dass die Reformkräfte um Gorbatschow ausschließlich auf Selbstbestimmung und Demokratisierung setzten und den Gedanken an eine Intervention jeglicher Art verwarfen. 669 Damit war politisch und ideologisch der Weg für die Loslösung aller Staaten des bisherigen sowjetischen Machtbereiches frei geworden. Schließlich konnte Gorbatschow die Ent-
666 Die Sowjets wollten ursprünglich keinerlei Veränderungen der Grenzen zulassen. Auf Druck der Bundesregierung und mit Hinweis auf eine mögliche Vereinbarung zwischen DDR und BRD, ihre Grenzen zueinander aufzuheben, wurde dann das Wort „friedlich“ eingeführt. Die Sowjetunion hielt 1975 eine derartige Vereinbarung für unmöglich. Sie gab dem Zusatz keine Bedeutung. Vgl. Plato, S. 37. 667 Am 1. Januar 1995 wurde die KSZE in „Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ = OSZE umbenannt. 668 Saal, Yulia von: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion, Berlin 2014, S. 365 ff. 669 Interview mit Michail Gorbatschow, Spiegel, Nr. 40/90 vom 2. Oktober 1995 (Auszüge), S. 66.
Umdenken bei Gorbatschow
157
wicklung nicht mehr steuern. Die Kräfte der „Selbstbestimmung“ waren zu stark geworden. 670 Als im Juni 1987 US-Präsident Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor sprach und Gorbatschow aufforderte: „Mister Gorbachev, open this gate! Mister Gorbachev, tear down this wall!“ – „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor . . . reißen Sie diese Mauer nieder!“, stützte er sich auf die KSZE-Prinzipien. Schließlich führte die Forderung nach „Selbstbestimmung aller Völker“ gemäß der Satzung / Charta der UNO nach Art. 1 Abs. 2 und in Art. 55. erst zum Ende des „sozialistischen Lagers“, dann zur Auflösung der Sowjetunion. Auf der westlichen Seite waren die deutsche Einheit und die Ausweitung der NATO gen Osten die Folge. Frühere Staaten des Warschauer Vertrages entschieden nunmehr „selbst“, welchem Bündnis sie angehören wollten. Der Begriff „Nationale Selbstbestimmung“ stammt aus der Verfassung der UdSSR/Sowjetunion. 671 Bis 1985 musste jede Politik der WarschauerPakt-Staaten mit Moskau abgestimmt werden. Erst ab 1987 wurde den Staaten tatsächlich ein „Recht auf Selbstbestimmung“ zugesprochen, das Gorbatschow 1988 im Dezember in seiner Rede 672 vor der Vollversammlung der UNO nochmals bestätigte und als selbstverständlich und absolut definierte. Ein Sonderstatus für einzelne Länder sollte hier nicht geschaffen werden. Diese Wahlfreiheit wurde schriftlich fixiert. Im Juli 1988, bei einer Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister des Warschauer Paktes in Moskau, 673 betonte Gorbatschow, dass die nationalen Interessen im Vordergrund stünden. 674
670 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 574. 671 Artikel 70 und 72 der Verfassung der UdSSR.: „Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ein einheitlicher multinationaler Bundesstaat, der auf der Grundlage des Prinzips des sozialistischen Föderalismus als Ergebnis der freien Selbstbestimmung der Nationen und der freiwilligen Vereinigung gleichberechtigter sozialistischer Sowjetrepubliken gebildet wurde.“ Artikel 72: „Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.“ 672 Rede von Michail Gorbatschow vor der 43. UNO-Generalversammlung am 7. Dezember 1988 in New York. In: Europa-Archiv. Zeitschrift für internationale Politik. Dokumente, 1/1989, D23-D38, S. 1–4. 673 Keßler, Heinz: Bericht über die wichtigsten Ergebnisse der 21. Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes, Anlage 2: Wesentlicher Inhalt der Ausführungen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Genossen Michail Gorbatschow, während des Treffens mit den Mitgliedern des Komitees der Verteidigungsminister am 7. 7. 1988, S. 1; BArch / P,MZA, Strausberg AZN 32662, Bl. 23. 674 Gorbatschow: „Politik der Situation anpassen!“; in Internet: http://www.chronikder-mauer.de/material/180372/hans-hermann-hertle-gorbatschows-reaktion-aufden-mauerfall-politik-der-situation-anpassen (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
158
Kapitel 5
Alexander Jakowlew, seit März 1986 Sekretär des ZK der KPdSU für internationale Beziehungen und seit 1987 Mitglied des Politbüros, hat ebenso wie Mitarbeiter der Abteilung für Internationale Fragen des ZK der KPdSU im Nachhinein berichtet, dass die sowjetischen Militärs in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 den Befehl erhalten hätten, sich nicht in innenpolitische Angelegenheiten der DDR einzumischen. Unabhängig davon, ob ein solcher Befehl tatsächlich existierte, ergab sich der Verzicht der Sowjetunion auf eine militärische Intervention in ihren sozialistischen Bruderländern aus der Logik der politischen Vorgaben Gorbatschows seit dem XXVII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1986, in denen die Breschnew-Doktrin mit zunehmender Eindeutigkeit verworfen und durch eine „Frank-Sinatra-Doktrin“ („I did it my way“) 675 ersetzt wurde. „Wichtigste Rahmenbedingung der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten muss die absolute Unabhängigkeit dieser Staaten sein“, hatte Gorbatschow in seinem 1987 erschienenen Buch „Perestroika“ ausgeführt. 676 Nicht nur seinem eigenen Generalstab, sondern allen Verteidigungsministern des Ostblocks, darunter auch DDR-Verteidigungsminister Keßler, machte er mit der ganzen Autorität des Generalsekretärs der KPdSU begreiflich, dass die Zeit militärischer Interventionen in Bruderländern abgelaufen war: „Jede Partei ist für ihre Angelegenheiten selbst verantwortlich und erfüllt ihre Aufgaben selbstständig. Es dürfen keine Versuche geduldet werden, einander nicht zu achten oder sich in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen“, schärfte er den Militärs ein. Die Umwälzungen in Polen und Ungarn hatte die Sowjetunion hingenommen. Würde sie nun auch den Fall der Mauer widerspruchslos und ohne militärische Einmischung akzeptieren? Die Tragweite dieser Wahlfreiheit konnte zu diesem Zeitpunkt kaum jemand erahnen. Bald regten sich die ersten Freiheitsbewegungen. In Prag 677 und Budapest 678 wurden Zweifel geäußert: Wird das Prinzip halten, wenn wir unser
675 Nach dem Lied „I did it my way“ war die neue Politik gut umschrieben: Jeder macht es so, wie er will und in der neuen Politik hieß das: Jedes Land kann sich seinen Bündnispartner zum „Tanzen“ aussuchen wie er will. Daher hieß die neue Doktrin nach dem Sänger des Liedes Frank Sinatra = Frank Sinatra Doktrin. 676 Gorbatschow, Michail: Die Perestroika. Die zweite russische Revolution – Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987, S. 280. 677 In den Jahren 1988 und 1989 fanden die ersten antikommunistischen Demonstrationen in der Tschechoslowakei statt. Diese friedlichen Kundgebungen wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen und führende Oppositionelle, darunter Václav Havel, inhaftiert. Vom 10. bis zum 14. November 1989 fanden Demonstrationen in Teplice statt. 678 1987/88 bildeten sich Oppositionsgruppen, die den friedlichen Systemwechsel vorantrieben und die Legitimität der sowjetischen (faktisch russischen) Vorherrschaft
Umdenken bei Gorbatschow
159
Recht auf „Selbstbestimmung“ durchsetzen und den Warschauer Vertrag verlassen wollen? Oder wird es doch wieder ein militärisches Eingreifen wie 1956 in Ungarn und 1968 in Prag geben, fragten sich die Verantwortlichen. „Nein“, hieß es aus Moskau. Eine militärische Einmischung sollte ausgeschlossen und eine politische Einflussnahme weitgehend vermieden werden. Mehr noch: Das Ergebnis von freien Wahlen im Zuge dieser Vereinbarung sollte von der Sowjetunion anerkannt werden. Gorbatschow selbst legte den „Bruderländern“ einen politischen Kurswechsel nahe. 679 Für den Kreml unter seiner Führung brach eine Epoche der Selbsterkenntnis an. So schrieb er in seinen Memoiren: „Es wurde immer offenkundiger, wie trügerisch die abstrakten Vorzüge der Planwirtschaft in Wirklichkeit waren. Der Gedanke, dass der Sozialismus gleichsam a priori eine harmonische Entwicklung der Produktionskräfte und natürliche Abstimmung der Interessen garantiere, war stets ein bloßes Konstrukt geblieben. [. . . ] Meine Ausführungen liefen darauf hinaus, dass sich die früheren Formen der Zusammenarbeit erschöpft hatten. Das alte Modell der Wirtschaftsbeziehungen [. . . ] funktionierte nicht mehr, ja, wurde für beide Seiten zunehmend unvorteilhaft.“ 680 Gorbatschow musste erkennen, dass die Verfassung der Sowjetunion jetzt eine ungewollte Wirkung entfaltete. In seinen „Erinnerungen“ schrieb er später: 681 „Da wir uns bestimmten Prinzipien der Nationalitätenpolitik verpflichtet fühlten, konnten wir das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Loslösung nicht negieren. Dass dieses Recht in der Verfassung verankert war, kam noch hinzu. Kurzfristig wurde ein Gesetz über das Verfahren und die Regeln des Austritts aus der Union vorbereitet und verabschiedet.“ Gorbatschow war sich im Klaren darüber, dass er seine Perestroika nur durchführen konnte, wenn die Teilung Europas und Deutschlands aufgehoben würde. Er sprach oft über eine mögliche deutsche Einheit. 682 Der Mauerfall im November 1989 war dann Anlass, diese Frage real auf die Tagesordnung zu setzen. Gorbatschow hatte sich schon 1985 als Berater einen alten Freund an die Seite geholt: Prof. Wjatscheslaw Daschitschew. Am 17. Juni 1986 hatte der fließend Deutsch sprechende Wissenschaftler
679 680 681 682
in Frage stellten. Am 27. Juni 1989 durchtrennte Gyula Horn, der ungarische Außenminister, zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock in einer symbolischen Aktion den Stacheldraht an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn. DDR-Bürger, die in Ungarn Urlaub machten, nutzten die Gelegenheit, über Österreich nach Westdeutschland zu gelangen. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 3, S. 4. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 843 ff. Ebda., S. 502 ff. Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 8, S. 15; Dok Nr. 16, S. 38; Dok Nr. 19, S. 55; Dok Nr. 22, S. 85.
160
Kapitel 5
im Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erstmals von der Möglichkeit einer Wiedervereinigung gesprochen. Die Rede wurde nicht weiter beachtet, weil sie zu sehr an die Stalin-Note von 1952 erinnerte. 683 Die Bundesregierung reagierte ablehnend auf die Gedankengänge von Daschitschew. „Wir müssen eindeutig klarmachen, dass ein Verlassen des NATO-Bündnisses und ein Rückzug der USA aus Europa für uns absolut tödlich sind,“ 684 so der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen. 685 Nur ein Jahr später legte Daschitschew eine neue Studie vor. Gorbatschow hatte ihn gebeten, eine Analyse über den Zustand der Sowjetunion im Innern und Äußern anzufertigen. Kernsatz war: Mit der Perestroika konnte jetzt das westdeutsche Konzept von Brandt, Scheel und Bahr „Wandel durch Annäherung“ durch ein Gegenkonzept „Annäherung durch Wandel“ sowjetischerseits ergänzt werden. 686 Dagegen jedoch erhoben viele einflussreiche Politiker in der Sowjetunion ihre Stimme, vor allem die Anhänger des Status quo in der deutschen Frage. Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis legte auch die DDR-Führung um Honecker dieser Idee in den Weg. Sie wandte sich heftig gegen die Perestroika und gegen die grundlegende Reform des Sozialismus. 687 Am 27. November 1987 hielt Daschitschew ein Seminar in Moskau ab, das sich mit der deutschen Frage beschäftigte. Zwar lehnte er eine Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO ab, doch glaubte er, dass die deutsche Wiedervereinigung auch im Interesse Russlands und im Interesse der Sowjetunion war. Ein Jahr später, im November 1988, sprach Daschitschew vor dem ZK der KPdSU und kam zu denselben Schlüssen, fügte aber hinzu: „Es ist ganz unmöglich, ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, solange Europa geteilt ist.“ 688 Die DDR erteilte daraufhin dem Berater von Gorbatschow ein Einreiseverbot. Im ZK und ganz beson683 Am 10. März 1952 bot Josef Stalin den Westmächten (Frankreich, Großbritannien, USA) in einer Note Verhandlungen über die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands an. Diese Note und die Erwiderungen Stalins auf die Antworten der Westmächte werden als Stalin-Noten bezeichnet. 684 Zit. n.: Grieser, Helmut: Vjaˇceslav Ivanoviˇc Dašiˇcevs Bemühen um eine sittliche Staatsraison Rußlands vor und nach der Wende von 1989; in Internet: http://www. deutschlandjournal.de/Deutschland_Journal_-_Jahresau/Deutschland_Journal_-_ Jahresau/Bemuhen_um_eine_sittliche_Staatsraison.pdf (12. 5. 2020). 685 Heinrich Windelen (CDU) war von 1983 bis 1987 Minister für innerdeutsche Beziehungen. 686 Daschitschew, Wjatscheslaw: Deutschland und Russland in der europäischen Politik. Aufsatz im Internet: www.imepi-eurasia.ru/baner/Deutschland.doc (letzter Zugriff: 4. 6. 2020). 687 Ebda. 688 Ebda., S. 127.
Umdenken bei Gorbatschow
161
ders durch Valentin Falin wurde Daschitschew heftig attackiert. Er lehnte dessen Gedanken komplett ab. Doch Daschitschew ließ sich nicht von seiner Überzeugung abbringen. Er konfrontierte Gorbatschow weiter mit seinen Ideen und schrieb: „Am günstigsten für die Überwindung der Spaltung Europas wäre eine konsequente Annäherung seiner beiden Teile auf der Grundlage der Konvergenztheorie. Der Westen dürfe die Wiederkehr Russlands in die europäische Zivilisation nicht hindern. Ausschlaggebend für die Einheit Europas sei eine allmähliche Beseitigung der Teilung Deutschlands und die Bildung eines geeinten deutschen Staates.“ 689 In Daschitschews Papier hieß es unter anderem zu diesem Thema: „Die nationale Komponente der deutschen Frage ist sehr gewichtig. Niemand darf für die Deutschen über ihr Schicksal entscheiden.“ 690 Im November 1987 bat Daschitschew Gorbatschow, „die Frage der deutschen Wiedervereinigung auf die Tagesordnung der sowjetischen Politik wieder zu setzen“. Das begründete er nicht nur mit der Notwendigkeit, mit dem Kalten Krieg und mit der Hochrüstung Schluss zu machen, sondern auch mit den alarmierenden Tendenzen im Leben der DDR, die auf eine herannahende tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Krise hindeuteten und auf die Unfähigkeit der Honecker-Führung, sie abzuwenden. 691 Jedoch wurden Daschitschews Ideen damals einer scharfen Kritik unterzogen und zurückgewiesen. Gorbatschow musste erkennen, dass seine Politik nur unter „Schmerzen“ umgesetzt werden konnte. 692„Unser Land brachte die Perestroika unter Qualen hervor“, so der Staatschef. 693 Auf einem „sozialistischen Gipfel“ 694 im November 1986 erläuterte er den Staats- und Parteiführern des sowjetischen Einflussbereiches seine Politik und stellte fest, dass der größte Teil der Anwesenden „von einer Art Müdigkeit befallen war“. 695 Zudem wurde offenbar, dass die Mehrzahl der Politiker in den anderen sozialistischen Staaten nicht gewillt war, ihm – Gorbatschow – auf dem Weg der Reformen zu folgen. 696 Sie erkannten, dass die Reformen, die in der Sowjetunion eingeleitet werden sollten, das „Ende des Systems“ bedeuten würden. 697 Diesen Vorwurf musste sich Gorbatschow auch von einigen 689 Daschitschew, Wjatscheslaw: Deutschland und Russland, in: Russische Akademie der Wissenschaften; in Internet: www.imepi-eurasia.ru/baner/Deutschland.doc (Keine weiteren Angaben) 690 Ebda. 691 Ebda. 692 Zelikow / Rice, S. 29. 693 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 508. 694 Ebda., S. 843. 695 Ebda., S. 845. 696 Ebda. 697 Ebda.
162
Kapitel 5
Angehörigen der Spitzenriege der KPdSU gefallen lassen. 698 Die Schlussfolgerung, die Gorbatschow zog, war aber eindeutig: „Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht war nicht mehr zu rechnen.“ 699 Gleichzeitig erkannte Gorbatschow, dass Europa ohne die Präsenz der USA „Gefahr lief, das bestehende Gleichgewicht zu zerstören“. 700 Auf der Plenartagung des ZK der KPdSU im Januar 1987 erklärte SED-Generalsekretär Erich Honecker als Gast: „Die Perestroika eignet sich nicht für die DDR!“ 701 Auch Rumänien lehnte den neuen Kurs in Moskau strikt ab. 702 Bulgarien schloss sich dem an. Die Ungarn und Polen erkannten dagegen die positiven Folgen der Reformen, die in Moskau angestoßen worden waren. So waren die Polen und Ungarn den anderen weit voraus. Dies erkannte besonders Gorbatschow und erinnerte sich: „Besonders engagiert unterstützte die Veränderungen Wojciech Jaruzelski. 703 [. . . ] Die Entschiedenheit, mit der der General für die Reformen eintrat, erkläre ich mir dadurch, dass er aus eigener Erfahrung nur allzu gut wusste: Mit Gewaltmethoden lassen sich die Probleme eines Landes nicht lösen; es kommt deshalb auf einschneidende Veränderungen des gesellschaftlichen und staatlichen Rahmens an.“ 704 Gorbatschow verfolgte eine zur bisherigen sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik scheinbar konträre Politik. Dennoch handelte er im Interesse der Sowjetunion 705 und gemäß der erlernten leninistischen Philosophie. 706 Er begründete seine Glasnost- und Perestroika-Politik mit einem Rückgriff auf Lenin. 707 Das gab dem KPdSU-Chef das nötige ideologische Fundament für seine neue Politik. Unter Lenin, so Gorbatschow, wurde in der Partei noch offen diskutiert. 708 Lenin hatte mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ nach 1920 die brachliegende sowjetische / russische Wirtschaft marktwirtschaftlich reorganisieren wollen. Das wollte Gorbatschow auch. Lenin hatte das Prinzip der „dialektischen Wechselwirkung“ zur Politik gemacht: Innen- und 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707
708
Ebda., S. 532 ff. Ebda., S. 845 f. Stent, S. 89. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 846. Ebda. Wojciech Jaruzelski, General, von 1981 bis 1989 1. Sekretär des ZK der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“; Staatspräsident von Polen 1989 bis1990. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 847. Savranskaya: Masterpieces of History, S. 2. Zelikow / Rice, S. 44, 46. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 229. Dort fand Gorbatschow die Lehre Lenins, die besagte: Erkenne deine Fehler, denn Fehler „konnten nur dann korrigiert werden, wenn sie zuvor in ihren Ursachen erkannt und analysiert worden waren. So konnte ich 1985 auf viele Ideen Lenins zurückgreifen“. Ebda.
Umdenken bei Gorbatschow
163
Außenpolitik bedingen einander. Entsprechend musste Lenin als Kronzeuge für seine „Perestroika“-Politik herhalten. Dabei sollte aber an den Grundfesten des „Sozialismus“ nicht gerüttelt werden. Die Partei sollte weiter die bestimmende Rolle behalten. Für Gorbatschow war Lenin ein „Demokrat“, 709 bei dem er Sätze wie diesen las: „Wir machten schwere Zeiten durch, manchmal sehr schwere Zeiten, aber nicht für alles in der Welt würde ich auch nur einen Tag davon gegen ein ganzes Leben mit oberflächlichen Leuten und Spießern eintauschen wollen.“ 710 Gorbatschow wollte eine neue, liberale, demokratische und friedfertige Sowjetunion schaffen. Auch dazu berief er sich auf Lenin. Dieser habe mehr als einmal über den „Vorrang der allgemein-menschlichen Interessen vor den Klasseninteressen“ 711 gesprochen. Gorbatschow formulierte einen Kernsatz seiner Abrüstungspolitik aus Lenin heraus: „Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Begründung der internationalen Politik auf allgemeinmenschliche moralische und ethische Normen zu einer lebenswichtigen Bedingung geworden. Sicherheit kann nicht mehr durch militärische Mittel hergestellt werden, durch nukleare Waffen und Abschreckung.“ 712 Gorbatschow beharrte darauf, die Argumente „der Militaristen“ seien auch vom ökonomischen Standpunkt aus nicht stichhaltig. Er belegt das nicht anhand der US-, sondern der Sowjetrüstung, wo jeder Arbeitsplatz zwei- bis dreimal so viel kostete wie in der zivilen Industrie. 713 Gorbatschow sah in einer Kooperation mit dem Westen keine grundsätzliche Abweichung vom marxistisch-leninistischen Ideengut, 714 sondern eine Maßnahme, die dem Land einerseits aus der umfassenden wirtschaftlichen Krise helfen sollte und andererseits dazu angelegt war, einer militärischen Konfrontation mit der Perspektive eines Atomkrieges vorzubeugen. 715 Die Annäherung zwischen Ost und West zog die Reduktion und Kontrolle der atomaren Potentiale auf beiden Seiten nach sich. Die Militärbündnisse blieben vorerst bestehen. Die Moskauer Führung akzeptierte die NATO und die Europäische Gemeinschaft als Akteure der interna-
709 Ebda., S. 994. 710 Gorbatschow und seine Revolution von oben, in: Spiegel, Nr. 45/1987 vom 2. 11. 1987, S. 162; in Internet: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13524558.html (letzter Zugriff: 12. 5. 2020). 711 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 303. 712 Ebda. 713 Rede auf 28. Parteitag, 2. bis 13. Juli 1990. Gorbatschow Erinnerungen: S. 531 ff. 714 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 229 f. 715 Perovic, Jeronim; Wenger, Andreas: Russland und die Osterweiterung der Nato. Herausforderung für die russische Außen- und Sicherheitspolitik, in: Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung. Heft Nr. 43/1997; in Internet: www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securitiesstudies/pdfs/ZB_43.pdf (letzter Zugriff: 12. 5. 2020).
164
Kapitel 5
tionalen Politik. In pragmatischer Kooperation mit der Sowjetunion und den Ländern ihres Einflussbereichs sollte die Bewältigung der vielfältigen Probleme globalen Ausmaßes (wirtschaftlicher Transformationsprozess, gemeinsame Anstrengungen bei der weltweiten Abrüstung oder der ökologischen Sicherheit) angegangen werden. Die Entwicklung eines guten Verhältnisses zum Westen hatte aber noch eine weitere Dimension: Der Versuch der Herstellung konstruktiver Beziehungen mit NATO und EG war nicht zuletzt ein Mittel zur Legitimierung von sowjetisch kontrollierten Institutionen in Osteuropa. Mit der Vision vom „Gemeinsamen Haus Europa“ verband sich zwar kein konkretes politisches Projekt, doch war damit die Vorstellung verknüpft, dass im Rahmen der Ost-West-Kooperation NATO und Warschauer Pakt gemeinsame Aufgaben im militärischen Bereich übernehmen, die EU 716 und das östliche Gegenstück Comecon 717 auf wirtschaftlichem Gebiet eng zusammenarbeiten sollten. 718 Gorbatschow hatte aus seiner langen Zeit als kommunistischer Funktionär erkannt: Im Zeitalter des Atomkrieges konnte keine Seite mehr einen Krieg gewinnen. Es reichten daher Korrekturen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr aus. Es musste eine neue Strategie gemeinsam mit dem Westen, dem bisherigen Feind, erdacht und umgesetzt werden, um den Frieden zu erhalten. In Paris sagte Gorbatschow am 3. Oktober 1985 vor französischen Parlamentariern: 719 „Wir sind in einer Situation, die einen Bruch mit den Traditionen, mit der Denk- und Handlungsweise bedeutet, die sich in Jahrhunderten, ja Jahrtausenden herausgebildet haben. Das menschliche Denken braucht Zeit, um sich allem Neuen anzupassen. Das trifft auf alle zu. Wir spüren das, wir haben umzudenken begonnen und viele gewohnte Sachen, darunter auf militärischem und natürlich auch auf politischem Gebiet, voll mit den neuen Realitäten in Einklang zu bringen.“ Hinzu kommt, dass eine verschärfte Politik der Konfrontation mit den USA und die damit verbundene Zunahme der Gefahr eines Kriegsausbruchs dem anvisierten Hauptziel einer Modernisierung der Wirtschaft eher entgegenwirken müsste. Sie würde Moskau und seine Verbündeten von den notwendigen Technologiezufuhren aus dem Westen abschneiden, und die Aussicht auf einen Krieg mit den USA würde darüber hinaus die Bevölkerung der Sowjetunion kaum zu erhöhten wirtschaftlichen Anstrengungen anspornen. Gorbatschow war der erste Sowjetführer,
716 717 718 719
Zur Entwicklung der EU siehe Anhang. Zur Entwicklung des Comecon siehe Anhang. Perovic / Wenger. Eppler, Erhard: Neues Denken in der Sicherheitspolitik, in Internet: http://library. fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1987/1987-08-a-456.pdf (letzter Zugriff: 5. 6. 2020).
Umdenken bei Gorbatschow
165
der diese Gedanken selbstkritisch aussprach und danach handelte. Damit waren Rhetorik des Kalten Krieges und die Konfrontation der Blöcke hinfällig. Auch die Zeiten, da Fahnen des Sozialismus Moskauer Prägung den baldigen Sieg der „Weltrevolution“ signalisierten, waren vorüber. Das hatte zwangsläufig Auswirkungen auf das Verhältnis zu den osteuropäischen „Bruderstaaten“. Sie alle wollten sich von Moskau lösen, strebten nach Autonomie und Selbstbestimmung. Gorbatschow wollte mit ihnen Beziehungen auf einer neuen Ebene herstellen. Konnte es dann überhaupt noch eine „Block-Disziplin“ geben? Diese zentralen Probleme musste die Sowjetführung bei der Dynamisierung ihrer Außenpolitik berücksichtigen. Zumindest im ZK-Apparat und in der Publizistik kam es zu kontroversen Diskussionen. Gorbatschow war mit seiner Entspannungsoffensive zum Erfolg verdammt. Er stieß jedoch allenthalben auf Skepsis. Der Westen – mit den USA an der Spitze – misstraute dem neuen Mann im Kreml von Beginn an. 720 Seit Gründung der NATO 1949 herrschte dort die Überzeugung, dass die Sowjetunion unbeirrt an ihrem Ziel der „Weltrevolution“ festhielt. Vor allem George Bush war umgeben von Beratern, die sich nicht sicher waren, ob die neue Politik unumkehrbar war und ob Gorbatschow sich an der Spitze der Kreml-Führung halten könnte. 721 Die Bush-Administration knüpfte drei Erwartungen an das Ende des Kalten Krieges: – Abbau der Nuklearbedrohung auf beiden Seiten = NATO und Warschauer Pakt – Entschärfung ALLER Spannungsherde in der ganzen Welt – Respektierung der Menschenrechte aller Bürger in der Sowjetunion durch deren Regierung Bis auf den letzten Punkt waren diese Vorstellungen mit Gorbatschow weitgehend erreicht worden. Selbst die gewünschten Veränderungen in der Sowjetunion kamen langsam voran. Die Skepsis der USA wich einem vorsichtigen Optimismus. Ende 1988 hieß es: „Der Kalte Krieg ist bis auf das Geschrei vorüber.“ 722 Diese Formulierung ging Bush doch zu weit. 723 Er meinte: „Der Kalte Krieg ist erst vorbei, wenn Europa ungeteilt und frei ist.“ 724 Denn noch war Europa geteilt, noch stand die Mauer in Berlin und noch standen sich NATO und Warschauer Pakt gegenüber. US-Präsident
720 721 722 723 724
Zelikow / Rice, S. 49. Bush / Scowcroft, S. 39. Zelikow / Rice, S. 47. Ebda., S. 49. Ebda., S. 53.
166
Kapitel 5
Reagan hatte eine rhetorische Salve nach der anderen gegen Moskau und den Kommunismus abgefeuert. 725 1987 rief er, wie beschrieben, bei seinem Berlin-Besuch vor dem Brandenburger Tor Gorbatschow zu: „Öffnen Sie dieses Tor. Reißen Sie diese Mauer nieder.“ 726 Tatsächlich hat Reagan die Teilung Deutschlands in den Gesprächen mit Moskau nie in Frage gestellt. 727 Sein Nachfolger Bush aber wollte die bisherigen Standpunkte erst einmal überprüfen. Vor allem wollte er die USA rüstungstechnisch auf den modernsten Stand bringen. Also musste die NATO „ertüchtigt“ werden. Dies war die Ausgangslage bei Amtsübergabe von Reagan an Bush im Januar 1989: In der Rede zur Amtseinführung am 20. Januar 1989 sagte Bush: „Die Tage der Diktaturen sind gezählt. Die Ära des Totalitarismus ist vorüber.“ 728 Das waren zu dieser Zeit noch Träume bzw. Visionen. Entsprechend forderte Bush von seinen Mitarbeitern: „Wir sollten alle große Träume denken.“ 729 Allein Brent Scowcroft riet Bush „vorsichtig“ zu sein: „Ich denke nicht, dass der Kalte Krieg vorbei ist. Er ist erst vorbei, wenn Europa ungeteilt und frei ist.“ 730 Bush beauftragte seine Berater Wege aufzuzeigen, wie die Probleme der Teilung in Europa zu lösen wären. Vor allem aber wollte er eine Einschätzung wissen, ob die Politik in Moskau dauerhaft sei oder nur ein taktisches Manöver. 731
725 726 727 728
Ebda., S. 47. Europa-Archiv, 15/1987, S. 234. Brandt,Willy: Erinnerungen, Berlin 2013, S. 55 und Zelikow / Rice, S. 48. George Bush, Inaugural Adress, 20. 1. 1989; in Internet: https://www.presidency. ucsb.edu/documents/inaugural-address (letzter Zugriff: 5. 6. 2020) Beschloss / Talbott, S. 25. 729 Zelikow / Rice, S. 53. 730 Rede Bush in Mainz 31. 5. 1989; zit. n.: Beschloss / Talbott, S. 26. 731 Bush / Scowcroft, S. 12 f.
Kapitel 6 Zum Verhältnis USA – Sowjetunion Mit dem Amtsantritt von George Bush als Präsident der USA waren die Zweifel gegenüber der Sowjetunion im Weißen Haus keinesfalls beendet. Die meisten Mitarbeiter im Bush-Team misstrauten Gorbatschow. Chefberater Brent Scowcroft beschrieb die Gründe so: „Unter Reagan waren wir auf dem Kurs: Zerstört das ‚Reich des Bösen‘. Jetzt plötzlich sollten wir denen in Moskau trauen und vertrauen. Das ging alles ziemlich schnell.“ 732 Scowcroft hatte daneben auch starke Gründe, der Reform „Perestroika“ zu misstrauen. Er bezweifelte, dass Gorbatschow die Folgen dessen einschätzen konnte, was er anstrebte. Immerhin gab es in der Sowjetunion keine Messdaten für Produktion, keine Kosten-Nutzen-Analysen, keine Bilanzen, keine ausreichenden Transportsysteme. Und noch eine offene Frage bewegte Scowcroft: Wird die kommunistische Partei überhaupt eine Umwandlung der „sozialistischen“ Wirtschaftssysteme in ein kapitalistisches System zulassen? 733 Scowcroft war äußerst skeptisch. Er erkannte, dass Gorbatschow den Widerstand in der kommunistischen Partei völlig unterschätzt hatte. 734 Der Bush-Vertraute sah noch eine andere Gefahr: Gorbatschow stärkte mit seiner Reform das System, statt es zu zerstören („He was trying to save the system, not destroy it“). Scowcroft kam zu der Überzeugung: Wir müssen daher unsere Strategie und unser politisches Handeln gegenüber Gorbatschow „fundamental“ verändern. 735 Das hieß: – Unterstützung der Sowjetunion bei der Reformwilligkeit, um so den Weg der Sowjetunion von einer „Diktatur“ in eine „Marktwirtschaft nach westlichem Muster“ zu erleichtern; – Hilfe für die „Bruderstaaten“, damit sie sich aus dem „Griff Moskaus“ befreien können; 736 – Forcierung der Abrüstungsgespräche. Damit würden die in Osteuropa stationierten sowjetischen Streitkräfte erheblich reduziert werden und die USA dort in eine bessere Position gebracht werden können. 737
732 733 734 735 736 737
Ebda., S. 12 und S. 14. Ebda. Ebda., S. 15. Ebda. Ebda., S. 16. Ebda.; im Wortlaut: „[. . . ] and find the best way to take advantage of the new possibilities unfolding in Eastern Europe.“
168
Kapitel 6
Bush gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass Gorbatschow bereit sein würde, für die Modernisierung seines Landes „einen angemessenen Preis zu bezahlen“. 738 Schon drei Tage nach seiner Vereidigung als US-Präsident, am 23. Januar 1989, lud Bush zu einer Sitzung mit seinen engsten Beratern. Thema: Die Lage in Ost-Europa und die Entwicklung in der Sowjetunion. „Das ganze System war in Bewegung“, so Bush. „Was müssen und können wir tun?“, fragte der Präsident in die Runde. 739 Scowcroft stellte fest: Polen hat bereits die Führungsrolle in der Modernisierung und bei den Reformen im Ostblock übernommen. Hier wird es als erstes zu einer Gewaltenteilung zwischen Reformern und Kommunisten kommen. Hier können die USA Hilfe geben. 740 In Ungarn geschieht Ähnliches. Die tschechoslowakische Führung ist noch zurückhaltend. Der Schock von 1968, als die Sowjets mit ihren Panzern die Demokratiebewegung niederwalzten, sitzt noch tief. Aber die Polizei erlaubt große Demonstrationen. Weit abgeschlagen im Reformprozess sind die DDR, Rumänien und Bulgarien. 741 Scowcroft schloss daraus: Wir müssen unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten lenken. Wir müssen immer daran denken, dass die Sowjetunion mit ihren Truppen in diesen Ländern steht. Das System des Warschauer Paktes existiert noch, warnte er in die Runde. Scowcroft schlug daher Bush ein Abrüstungsabkommen mit Moskau vor, damit die sowjetischen Truppen weitgehend oder sogar vollständig Osteuropa verlassen, sowie die Änderung der US-Politik gegenüber den Noch-„Bruderstaaten“ der Sowjetunion. 742 Bisher galt der Grundsatz: Je distanzierte ein „Bruderstaat“ sich zu Moskau verhielt, umso mehr „Hilfe“ bekam er aus dem Westen. 743 Scowcroft hielt es für sinnvoller, Staaten umso mehr Hilfe zu geben, je reformwilliger sie sich zeigten. Ziel sollte es sein, „die ganze Region zu befreien“. 744 Bush stimmte dieser Strategieänderung „vorsichtig“ zu. 745 „Ich musste immer daran denken, was 1953 in Berlin, 1956 in Budapest und 1968 in Prag geschehen war. Ich wollte auf keinen Fall Dinge beschleunigen, die zu ähnlichen Gewaltaktionen führen könnten. Ich wollte auf keinen Fall eine sowjetische Gegenreaktion („Soviet backlash“).“ 746 Bush 738 739 740 741 742 743
Ebda., S. 28: „Gorbachev was willing to pay a reasonable price to that end.“ Ebda., S. 37. Ebda., S. 38. Ebda. Ebda. Rumänien wurde bevorzugt von den USA behandelt, weil es nach außen „kritisch“ gegenüber Moskau war. 744 Bush / Scowcroft, S. 39. 745 Ebda. 746 Ebda.
Zum Verhältnis USA – Sowjetunion
169
warnte: „Unser Problem ist es, herauszufinden, wo die Linie verläuft und ab wo sich die Sowjets provoziert fühlten.“ 747 Die USA und die Sowjetunion verfolgten von nun an dasselbe Ziel: Die USA unterstützten nicht nur die Reformen im Inneren der Sowjetunion, sondern jetzt auch die Reformparteien in Osteuropa. Gorbatschow tat dasselbe. Er forderte vor allem die DDR zur Perestroika auf, was die SED-Führung bisher strikt ablehnte. 748 Scowcroft wies darauf hin, dass „keiner von uns genau wisse, was eigentlich im Inneren der Sowjetunion geschieht. Dies machte eine Beurteilung der Politik schwierig“. 749 Gorbatschow, so analysierte er, ging davon aus, dass das Volk ihn „lieben“ würde und er deswegen in den „Bruderländern“ nur „kleine Gorbatschows“ installieren müsse, damit der Reformprozess innerhalb des Kommunismus zustande kommen würde. Das aber war ein Trugschluss, wie Scowcroft richtig folgerte: Die Länder wollten keinen reformierten Kommunismus, sie wollten überhaupt keinen Kommunismus mehr. „Das machte unsere Kalkulation der Lage so schwierig.“ 750 In seiner ersten Pressekonferenz als Präsident sagte Bush am 27. Januar 1989 konsequenterweise: „Lassen Sie uns prüfen, wo wir stehen. Ich glaube nicht, dass die Sowjets dies als Verzögerungen verstehen. Wir sollten vorsichtig sein.“ 751 Bush selbst orderte am 15. Februar 1989 nach den
747 Ebda. 748 Ähnlich wie Honecker in seiner Rede am 6. Februar 1987 argumentierte SED-Politbüromitglied und Chefideologe Kurt Hager in einem mit Honecker abgestimmten Interview mit der Hamburger Wochenzeitschrift „Stern“ am 9. April 1987. Es erschien unter dem Titel „Jedes Land wählt seine Lösung“ und wurde am 10. April 1987 im SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“ nachgedruckt. Darin machte er die Haltung der SED unmissverständlich klar. Die DDR sei nicht verpflichtet, alles, was in der Sowjetunion geschieht, zu kopieren und er stellte die rhetorische Frage: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“; in Internet: http://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/sed-und-stasi-zumreformplenum-der-kpdsu-im-januar-1987/ (letzter Zugriff: 5. 1. 2017). 749 Bush / Scowcroft, S. 39. 750 Ebda. 751 Pressekonferenz Bush am 27. Januar 1989; in Internet: https://www.presidency.ucsb. edu/documents/the-presidents-news-conference-98 (letzter Zugriff: 13. 5. 2020). Hier der Wortlaut: „Let’s take our time now. Let’s take a look at where we stand on our strategic arms talks; on conventional force talks; on chemical, biological weapons talks; on some of our bilateral policy problems with the Soviet Union; formulate the policy and then get out front – here’s the U.S. position. And I don’t think the Soviets see that as foot-dragging. I’m confident they don’t. Indeed, I made that clear to General Secretary Gorbachev just this week in a rather long talk with him. So, I want to try to avoid words like ‚Cold War‘ if I can because that has an implication. If someone says Cold War to me, that doesn’t properly give credit to the advances that have taken place in this relationship. So, I wouldn’t use that term. But if it’s used in the context of do we still have problems; are there still uncertainties; are we still
170
Kapitel 6
Diskussionen mit seinen Beratern 752 eine Studie, die eine neue Deutschland- und Europapolitik mit Schwerpunkt „Wiedervereinigung“ beinhalten sollte. 753 Die Ausgangsfrage lautete: Ist Perestroika eine „Peredischka“, eine Atempause, oder ist sie ein „Perechod“, ein fundamentaler Wandel der sowjetischen Politik? Und was bedeutet das für die USA? US-Außenminister James Baker war vor seiner politischen Karriere als Stabschef im Weißen Haus unter Präsident Roland Reagan und Außenminister unter Präsident Bush ein erfolgreicher Rechtsanwalt in Texas. Er hatte gelernt, zu wagen, aber auch abzuwägen. „Ich bin eher ein Mann der Aktion als der Reflexion“, schrieb er über sich selbst. 754 Baker war pragmatisch und neigte dazu, Perestroika mit „Revolution“ zu übersetzen. „Mein Gefühl sagte mir, dass Gorbatschow in der Tat bereit sein könnte, einen weitreichenden, grundlegenden Wandel herbeizuführen – doch wie weit er wirklich zu gehen bereit war, das würden wir nur herausfinden, wenn wir uns selbst vorwärtsbewegten.“ 755
752
753 754 755
unsure in our predictions on Soviet intentions? I’d have to say, yes, we should be cautious.“ (5. 8. 2016) Rice hatte eine Gruppe von Sowjet-Experten zusammengestellt, die am 12. Februar 1989 mit Bush diskutierten. Er wollte von ihnen wissen, „welche Prozesse in der Sowjetunion momentan laufen. Wir müssen wissen, was dort vor sich geht und mit wem wir es zu tun haben.“; zit. n.: Beschloss / Talbott, S. 32. Plato, S. 19 ff.; Baker, S. 68. Der Plan bekam den Namen „Strategische Revision“. Baker, S. 11. Ebda., S. 70.
Kapitel 7 Wiedervereinigung als beherrschendes Thema Baker war sich bewusst, wenn die USA „stillsäßen“, 756 würden sie Gorbatschow die Initiative überlassen. Er war überzeugt, dass Gorbatschows Strategie auf der Prämisse aufbaute, er könne das Bündnis spalten und die Stellung der USA in Westeuropa unterminieren, indem er nicht nur die westeuropäischen Regierungen, sondern auch die westeuropäische Öffentlichkeit für sich gewänne. 757 Am 15. Februar 1989 standen die ersten Ergebnisse der von Bush angeforderten Studien fest und Baker fasste sie so zusammen: „Was wir erhielten, konnten wir wegwerfen.“ 758 Am 20. März 1989 lagen neue Studien vor, die kurz darauf – am 30. März – diskutiert werden sollten. Sie stammten im Wesentlichen von Brent Scowcroft. Die Kerngedanken der Studie lauteten: – Die Sowjetunion war durch die westliche Politik der vergangenen 40 Jahre erfolgreich „eingedämmt“ worden. – Die US-Politik gegenüber der Sowjetunion war insofern erfolgreich. – Unter Federführung der USA war der Westen auf die kommende Periode des schnellen Wandels zumindest theoretisch vorbereitet. – Was immer in der Sowjetunion geschah, Gorbatschow konnte es nicht steuern. Dasselbe galt in dieser Phase für den Westen. – Die Sowjetunion blieb – ungeachtet aller geplanten Reformen – eine militärische Großmacht. – Die Sowjetunion war ein aus 15 Republiken bestehender Vielvölkerstaat mit ca. 260 Mio. Einwohnern. Es war offen, wie die einzelnen Nationalitäten zu den Reformen stehen würden. – Unklar war, wie sich die sogenannten Bruderstaaten nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit verhalten würden. – Der Weg eines „ungeteilten und freien“ Europa war unsicher. Es konnte den USA aufs Engste verbunden bleiben oder den Status einer eigenen – eventuell neutralen – Supermacht ansteuern. – Die NATO konnte entweder die bestimmende Kraft in Europa, ebenso aber auch überflüssig werden. – Wohin ein vereintes Deutschland tendieren würde, konnte (im März 1989) nicht definitiv gesagt werden. 759
756 757 758 759
Ebda. Ebda. und Bush / Scowcroft, S. 46. Ebda., S. 69; Beschloss / Talbott, S. 60. Bush / Scowcroft, S. 42 ff.
172
Kapitel 7
Wesentlich mitbeteiligt an einer der vielen Studien, die Präsident Bush erbeten hatte, war Rozanne Ridgway. Sie war Botschafterin der USA in der DDR von 1983–1985, und mit „NSR-5“ sollte die „deutsche Frage wiederbelebt werden.“ 760 Die Diplomatin hielt dies jedoch für eher „unklug“. Ihr Argument: „Das ist ein Thema, das jeden Amerikaner interessiert, um das sich aber kein Deutscher schert“. 761 Sie setzte sich durch. In der Studie stand nun: „Die Deutschen selbst wollen das Thema zu diesem Zeitpunkt nicht weiter in den Vordergrund rücken. Die anderen Europäer wollen dies ebenso wenig. Es dient keinem US-Interesse, wenn wir die Initiative ergreifen und es aufwerfen.“ 762 Das Thema „Deutschland und Einheit“ war damit in der Studie selbst unterrepräsentiert. Aber um den Inhalt gab es heftige Auseinandersetzungen im „Ausschuss zur Koordinierung der amerikanischen Europapolitik“. Scowcroft war „frustriert“ und sprach sich dafür aus, das Thema „Wiedervereinigung“ auf die Tagesordnung zu setzen. Es „müsse als politische Aufgabe aufgegriffen werden“. 763 Sein Hauptargument war: Die Vision eines neuen Europa könne ohne ein vereintes Deutschland nicht realisiert werden können. Auf die Argumente von Ridgway eingehend, sagte Scowcroft: „Obwohl so gut wie kein Westdeutscher damit rechnet, dass es noch in diesem Jahrhundert zur Wiedervereinigung kommt, gibt es keinen Deutschen, der nicht in seinem tiefsten Innern davon träumen würde.“ 764 Scowcroft wollte also das Thema „Einheit“ Präsident Bush nahebringen. Zwar unterstützte Washington offiziell die friedliche und demokratische Wiedervereinigung Deutschlands, aber niemand glaubte, beim Wort genommen zu werden. Bush musste von der Notwendigkeit zu Korrekturen in der Deutschlandpolitik überzeugt werden. 765 Besonders Bush-Berater Robert Zoellick 766 bedrängte Außenminister Baker: „Wir müssen in der deutschen Frage als erster aus der Kurve kommen, sonst wird dies Gorbatschow möglicherweise als erster tun.“ 767 Baker sah das ein und reagierte. „Wenn wir stillsäßen, würden wir Gorbatschow die Initiative überlassen“. 768 Das wollte der US-Außenminister auf keinen Fall. 769 Washington war beunruhigt über die vielen Aktivitäten in Mos760 761 762 763 764 765 766
Zelikow / Rice, S. 55. Ebda. Ebda., S. 56. Plato, S. 19 f. Zelikow / Rice, S. 65 f.; Bush / Scowcroft, S. 155. Ebda., S. 59. Robert Zoellick: geboren 25. Juli 1953, Berater von Präsident Bush sen. und jun. Von 2007 bis 2012 Präsident der Weltbank. 767 Zelikow / Rice, S. 59. 768 Baker, S. 70. 769 Ebda.
Wiedervereinigung als beherrschendes Thema
173
kau. Demgegenüber legte Präsident Bush eine „Pause“ ein, um sich einen Überblick zu verschaffen und Positionen zu überdenken. 770 Bush neigte nicht zu raschen Entscheidungen. Er war eher vorsichtig und abwartend. Die Sowjets sprachen daher zu Recht von einer „pauza“, einer Pause in den Beziehungen, 771 die Gorbatschow überhaupt nicht behagte. Die US-Administration, die Anfang 1989 an die Macht gelangt war, kam nur sehr langsam „in Fahrt“, und es bestand der Verdacht, Bush würde alles, was unter Reagan erreicht worden war, ad acta legen. 772 Gorbatschow wollte endlich konkret wissen, welche Politik der Westen betreiben wollte. Nur mit und aus einer positiven europäischen Resonanz vor allem auch bei den weitreichenden Abrüstungsplänen der Sowjetunion konnte eine neue Zusammenarbeit von Ost und West erwachsen. Doch weil Bush sich zunächst sehr zurückhaltend verhielt, wollte Gorbatschow den deutschen Bundeskanzler zu einem „seiner Hauptpartner bei der Realisierung der Politik des ‚neuen Denkens‘ machen“. 773 Am 26. März 1989 und mit einer zweiten Runde am 9. April 1989 fand die erste relativ demokratische, d. h. frei und geheim zu nennende Wahl zum Obersten Sowjet statt. Sie war zugleich die letzte Wahl auf gesamtstaatlicher Ebene vor der Auflösung der Sowjetunion zum Jahresende 1991. Zahlreiche kommunistische Funktionäre mussten Niederlagen hinnehmen. Für Bush war dies das Signal, die „Pause“ zu beenden: „Es geschieht zu viel in Europa“, 774 begründete er seinen Entschluss, wieder die Führerschaft zu übernehmen. 775 Vorrangig sollten nunmehr die Reformbewegungen in Osteuropa „durch weitreichende Initiativen“ unterstützt werden. 776 Richard Cheney 777 und Robert Gates 778 waren dagegen. Beide hielten die Reformpolitik von Gorbatschow für „reine Kosmetik“ und empfahlen „nichts zu tun“. 779 Nur Außenminister James Baker war voller Optimismus. 780
770 771 772 773 774 775 776 777 778 779 780
Beschloss / Talbott, S. 36. Savranskaya: Masterpieces of History, S. 23. Gorbatschow: Wie es war, S. 79. Ebda. S. 79. Kohl riet Gorbatschow, er möge doch Bush einfach anrufen. „Bush will sich mit Ihnen sachlich verständigen.“ Falin, Konflikte im Kreml, S. 155. Bush / Scowcroft, S. 45. Ebda., S. 44. Ebda. Richard Cheney war Verteidigungsminister. Er hatte am 29. April 1989 auf CNN gesagt, „Gorbatschow werde in Bausch und Bogen untergehen“; zit. n.: Baker, S. 71. Das „Weiße Haus“ distanzierte sich später von Cheney. Robert Gates war Vizedirektor „Nationaler Sicherheitsrat“ NSC, 1991–1993 Direktor CIA. Bush / Scowcroft, S. 44. Ebda., S. 44; Baker, S. 87.
174
Kapitel 7
Bush fokussierte seine Europa-Politik auf die sowjetischen Satellitenstaaten, die dabei waren, sich demokratisch zu reformieren und von Moskau zu lösen. Ferner konzentrierte er sich auf die Sowjetunion, deren Entwicklung für niemanden vorhersehbar war. Nach der „Pause“ hatte Bush es jetzt eilig. „Je länger wir abseits stehen, umso weniger können wir das Ergebnis mitbestimmen“, so seine Vorgabe. 781 Direkte Einflussnahme war nahezu unmöglich, musste er eingestehen, denn das hätte eine „möglicherweise gewalttätige Reaktion“ provoziert. 782 Das einzige Mittel, Spannungen zu vermeiden, war ein Abkommen mit dem Kreml, um die Truppenstärken auf beiden Seiten zu verringern. Dazu mussten die USA aber mit jedem einzelnen NATO-Mitglied in Europa reden, auf dessen Territorium – wie in der BRD – US- bzw. NATO-Truppen standen. Das kostete Zeit. Bush gestand später ein: „Ich war ungeduldig, unsere Ideen in praktische Politik umgesetzt zu sehen.“ 783 Bush war am Ende davon überzeugt, dass sich „Europa“ mit der Sowjetunion nur dann umgestalten ließ, wenn die „deutsche Frage“ wieder auf die Tagesordnung kam. Das schien aber Anfang 1989 nahezu ausgeschlossen, es sei denn, so die inhaltliche Analyse der Studie NSR-5, die Sowjetunion würde den eingeschlagenen friedlichen Weg beibehalten und ihre Ambitionen als „aggressive“ Macht im Osten aufgeben. Den USA ging es jetzt darum, die „Eindämmungspolitik“ der Vergangenheit in eine Politik der „Einbindung“ der Sowjetunion in die westliche Außenpolitik zu verändern. 784 Der Idee des „Gemeinsamen europäischen Hauses“ sollte ein „Commonwealth freier Nationen“ entgegengestellt werden. 785 Im Klartext hieß das: Die Sowjetunion übte nicht länger Druck auf die bisherigen Satellitenstaaten aus. Das galt auch für die DDR. Für die „Brain Trusts“ in Washington und insbesondere für Präsident Bush stand unverrückbar fest: Ein Ende des Kalten Krieges setzte ein freies und ungeteiltes Europa voraus. So schrieb Bush am 12. Mai 1989 Bundeskanzler Kohl: „Vierzig Jahre lang ist es mit der Strategie der Eindämmung gelungen, sowjetischen Expansionsdrang in Schach zu halten und die Führung in Moskau davon zu überzeugen, dass sich Konfrontationspolitik nicht durchsetzt. Ziel muss es nun sein, tiefgreifende Änderungen und grundlegende Umstrukturierungen der sowjetischen Institutionen und Streitkräfte einzuleiten. Die Umwandlung der Sowjetunion von einem Faktor der Instabilität in eine produktive Kraft der Völkergemeinschaft ist
781 782 783 784 785
Bush / Scowcroft, S. 44. Ebda. Ebda., S. 45. Plato, S. 20. Ebda., S. 21.
Wiedervereinigung als beherrschendes Thema
175
ein langfristiges Ziel. Dazu braucht der Westen Geduld und Kreativität.“ 786 Die Umgestaltung könne nur gelingen, wenn die Sowjetunion den Staaten Mittel- und Ost-Europas das Selbstbestimmungsrecht gewähre. 787 In Washington erkannte man aber auch, dass Gorbatschow und Schewardnadse nach Ideen und nach Möglichkeiten suchten, diese zu diskutieren, aber hierfür keinen Plan hatten. 788 Um sich aus erster Hand zu informieren, um westliche Gedanken einzubringen und den Besuch von Bush an der Moskwa vorzubereiten, traf James Baker am 10. Mai 1989 zu seinem ersten Treffen mit Gorbatschow in Moskau ein. Er wollte ihn davon überzeugen, dass „wir für Ost-West-Kooperationen offen und bereit waren, Moskau jede nur erdenkliche Chance einzuräumen, das ‚neue Denken‘ in die Praxis umzusetzen“. 789 Es kam Bewegung in die bilateralen Beziehungen USA – UdSSR, aber auch in Mitteleuropa änderten sich die Zeiten. Hier war es die Bevölkerung der DDR, die mit ihren Protesten gegen das SED-Regime Akzente setzte und wesentlich dazu beitrug, dass die politische Weltkarte neu gezeichnet werden musste. Angesichts der historischen Bedeutung des Jahres 1989 für den Weltfrieden ist es erforderlich, die Ereignisse in Erinnerung zu rufen, die letztlich zum Zusammenbruch des Weltreichs Sowjetunion beitrugen: 790 1. Januar: Eine neue DDR-„Reiseverordnung“ tritt in Kraft, welche die Möglichkeiten zu Privatreisen in den Westen beziehungsweise auf ständige Ausreise erweitert. 13. Januar: Die Sozialdemokratische Partei Ungarns wird in Budapest wiedergegründet. 15. Januar: Polen fordert vor dem Besuch des polnischen Ministerpräsidenten Rakowski in Bonn die Garantie seiner Westgrenze auch im Falle einer deutschen Wiedervereinigung. 16. Januar: Die regierende Polnische Kommunistische Partei beschließt die Wiederzulassung der seit 1981 verbotenen unabhängigen Gewerkschaft Solidarno´sc´. Sie wird am 17. April wieder legalisiert. 19. Januar: Der SED-Vorsitzende Erich Honecker versichert, die Mauer werde „noch in 50 und 100 Jahren“ stehen.
786 Bundesarchiv, B 136/29806, 212–30101 A5 Am 4, Bd. 21; Deutsche Einheit, Einführung, S. 35. 787 Deutsche Einheit, Einführung S. 36; Plato, S. 28, Anm. 32. 788 Baker, S. 68. 789 Baker, S. 73. 790 20 Jahre Mauerfall. Chronik der Ereignisse des Jahres 1989, in: Der Tagesspiegel, Online-Ausgabe, 2. 1. 2009.
176
Kapitel 7
7. Februar: Erstes Treffen in Polen am Runden Tisch zwischen Regierung und Opposition. Solidarno´sc´-Chef Lech Wałe˛sa sieht gute Chancen auf Einigungen. 21. Februar: Vaclav Havel wird in Prag wegen „Rowdytums“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Am 17. Mai wird er nach massiven Protesten aus dem In- und Ausland vorzeitig aus der Haft entlassen. 21. März: Gorbatschow unterzeichnet ein Dekret zur Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte um eine halbe Million Mann bis Ende 1990. Wenige Tage zuvor hatte bereits die CSSR einen Truppenabbau beschlossen. Polen hatte am 4. März mit der angekündigten Truppenreduzierung begonnen. 2. Mai: Ungarn kündigt den Abbau des „Eisernen Vorhangs“, der Grenzsicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich, an und beginnt mit den Arbeiten. Am 27. Juni schneiden die Außenminister Ungarns, Gyula Horn, und Österreichs, Alois Mock, ein Loch in den Stacheldrahtzaun an der Grenze. Die offizielle Grenzöffnung am 11. September hat die Flucht Tausender DDR-Bürger zur Folge. 7. Mai: In der DDR finden Kommunalwahlen statt. Bürgerrechtler kontrollieren die Stimmauszählungen und decken Wahlfälschungen auf. 8. Mai: Erstmals wird zu einem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche ein Polizeikessel gebildet. Die Friedensgebete, fortan auch Montagsgebete genannt, hatten einen immer größeren Zulauf, unter anderen von Ausreisewilligen, verzeichnet. Am Rande der folgenden Friedensgebete gibt es zunehmend Polizeikontrollen, Übergriffe und Verhaftungen. 18. Mai: Der litauische Oberste Sowjet erklärt die Unabhängigkeit Litauens. 4. Juni: Die friedlichen Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking werden blutig niedergeschlagen. SED-Politbüromitglied Egon Krenz rechtfertigt das gewaltsame Vorgehen gegen die Studenten. 12. Juni: Gorbatschow ist zu einem mehrtägigen Besuch in der Bundesrepublik. In einer gemeinsamen Erklärung versichern beide Staaten, zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. 7. Juli: Der Warschauer Pakt widerruft auf seiner Jahrestagung die Breschnew-Doktrin über die eingeschränkte Souveränität der Ostblockstaaten. Tags darauf kommt es zu heftigen Kontroversen zwischen Reformbefürwortern (Sowjetunion, Ungarn, Polen) und Reformgegnern (DDR, CSSR, Rumänien). 5. August: Erstmals nimmt die DDR-Regierung im DDR-Fernsehen Stellung zur Flucht von DDR-Bürgern in die Botschaften der Bundesrepublik
Wiedervereinigung als beherrschendes Thema
177
in Ost-Berlin, Prag, Warschau und Wien. Die Flüchtlinge werden davor gewarnt, ihre Ausreise auf diese Weise erzwingen zu wollen. Die Bundesrepublik wird am 7. August vom DDR-Außenministerium der Einmischung in „innere Angelegenheiten“ bezichtigt. 13. August: Am Jahrestag des Mauerbaus demonstrieren Ausreisewillige am Brandenburger Tor in Berlin. Am 14. August verkündet Erich Honecker: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ 10. September: Das „Neue Forum“ veröffentlicht unter der Überschrift „Aufbruch 1989“ den von 30 Bürgerrechtlern unterzeichneten Gründungsaufruf der DDR-weiten Oppositionsbewegung. Der Zulassungsantrag wird am 21. September von den DDR-Behörden abgelehnt – mit der Begründung, die Bewegung sei „staatsfeindlich“. Am 14. Oktober findet die erste Landeskonferenz des „Neuen Forums“ in Berlin statt. Bis zum Ende des Jahres unterzeichnen insgesamt 200.000 DDR-Bürger den Aufruf. 30. September: Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher verkündet vom Balkon der überfüllten Prager Botschaft, dass die Ausreise der dort versammelten DDR -Bürger genehmigt sei. In den nächsten Tagen fahren mehrfach Züge mit insgesamt 17.000 Flüchtlingen von Prag über die DDR in die Bundesrepublik, da die Botschaft mehrmals neu besetzt wird. 7. Oktober: Gast der staatlichen Feierlichkeiten anlässlich des Geburtstages der DDR ist KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow, der mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika auch bei den DDR-Bürgern Hoffnungen auf demokratische Reformen geweckt hatte. 9. Oktober: Die bislang größte Montagsdemonstration mit 70.000 Menschen in Leipzig wird zum „Tag der Entscheidung“. Die SED-Führung wagt es trotz Drohungen im Vorfeld nicht, die Demonstration gewaltsam aufzulösen. Am darauffolgenden Montag, dem 16. Oktober, sind es bereits 100.000 Teilnehmer. 17. Oktober: Das SED-Politbüro beschließt die Absetzung Erich Honeckers. Egon Krenz wird neuer SED-Generalsekretär. Tags darauf, am 18. Oktober, kündigt Krenz die Einleitung einer „Wende“ und die Verabschiedung neuer Reisebestimmungen an. 30. Oktober: Der Chef der Staatlichen Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, und andere führende DDR-Wirtschaftsexperten legen dem SED-Politbüro eine „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ vor, aus der hervorgeht, dass „ein Stoppen der Verschuldung“ im Jahr 1990 „eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erforderlich und die DDR unregierbar machen“ würde.
178
Kapitel 7
4. November: Größte Massendemonstration in der Geschichte der DDR auf dem Berliner Alexanderplatz. Hunderttausende fordern Reformen, freie Wahlen und Meinungsfreiheit. 7. November: Die gesamte DDR-Regierung, der DDR-Ministerrat, tritt zurück. 8. November: Das gesamte SED-Politbüro tritt zurück. 9. November: Auf der Pressekonferenz, die am Abend über die Ergebnisse der Politbürositzung informiert, teilt Politbüromitglied Günter Schabowski mit, dass ab sofort die Ausreise ins westliche Ausland ohne das Vorliegen besonderer Gründe möglich ist. 13. November: Die Sperrzone an der innerdeutschen Grenze und entlang der Berliner Mauer wird aufgehoben. 17. November: Mit über 50.000 Teilnehmern findet in Prag die größte Demonstration seit 20 Jahren statt. 24. November: Die tschechoslowakische KP-Führung tritt zurück und ermöglicht damit den Weg zu Reformen und freien Wahlen. 27. November: Leipziger Montagsdemonstration mit 150.000 Teilnehmern, erste Sprechchöre „Deutschland einig Vaterland“. 28. November: Bundeskanzler Kohl legt einen Zehn-Punkte-Plan zur schrittweisen Überwindung der deutschen Teilung vor. 30. November: Die tschechoslowakische Regierung gibt die sofortige Demontage aller Sperranlagen an der Westgrenze bekannt. 1. Dezember: Der Führungsanspruch der SED wird aus der DDR-Verfassung gestrichen. 2. Dezember: Auf dem Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Bush und Gorbatschow auf Malta steht die Deutschlandfrage im Mittelpunkt. 3. Dezember: Das Zentralkomitee und das Politbüro der SED unter Egon Krenz treten zurück. 14. Dezember: Die Außenminister der Nato-Staaten sprechen sich für die deutsche Einheit in freier Selbstbestimmung aus. 16. Dezember: Initialzündung der Revolution in Rumänien: In Temeswar kommt es zu Demonstrationen, die sich über das ganze Land ausbreiten. 18. Dezember: Schweigemarsch mit rund 150.000 Teilnehmern in Leipzig für die Opfer des Stalinismus. Auch in Dresden, Schwerin, Halle und OstBerlin finden große Demonstrationen statt. 25. Dezember: In Rumänien werden der bisherige Staatschef Nicolae Ceausescu und seine Frau hingerichtet.
Mauerfall-PK am 9. November 1989 durch ZK-Mitglied Günter Schabowski
179
29. Dezember: Vaclav Havel wird einstimmig zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten gewählt. 30. Dezember: In seiner vorab veröffentlichten Ansprache zum Jahreswechsel würdigt Bundeskanzler Helmut Kohl den Kampf der Menschen in der DDR und in den anderen Staaten Osteuropas für Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung.
Mauerfall-PK am 9. November 1989 durch ZK-Mitglied Günter Schabowski Besonders hinzuweisen ist noch einmal auf die Pressekonferenz, zu der SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 eingeladen hatte. Nur wenige Stunden nachdem Schabowski die Öffnung der Berliner Mauer noch für denselben Abend – respektive „sofort“ – angekündigt hatte, stürmten Tausende DDR-Bürger die Grenzbefestigungsanlagen und beschleunigten so den Untergang der DDR. Der Gedanke der Vereinigung beider deutscher Staaten war von einer Minute zur anderen höchst aktuell. Folgerichtig stellten sich nun diese Fragen: – Zu welchem Bündnis würde das vereinte Deutschland gehören? – Zur NATO wie die BRD oder zum Warschauer Pakt wie die DDR bzw. – gänzlich anders zu einem neu geschaffenen gesamteuropäischen Sicherheitssystem? (Vorschlag der Sowjetunion und der DDR-Regierung) 791 Im Koalitionsvertrag 792 vom 12. April 1990 zwischen CDU, SPD, DSU, DA und den Liberalen hieß es dann in Artikel 3.1: „Es ist Aufgabe der Regierung der DDR, dafür einzutreten, den Prozess der Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu fördern. Es ist davon auszugehen, dass das vereinigte Deutschland für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems Mitglied der sich in ihren militärischen Funktionen verändernden 791 Im Koalitionsvertrag vom 12. April 1990 zwischen CDU, SPD, DSU, DA und den Liberalen hieß es in Artikel 3.1: „Hauptaufgabe der Außenpolitik der Regierung der DDR ist die Einbettung des Prozesses der deutschen Einigung in den gesamteuropäischen Einigungsprozess. Dafür spielt die KSZE eine wesentliche Rolle. Die Integration verlangt Übergangslösungen in den Bereichen der militärischen Sicherheit und der Wirtschaft. Sie sind notwendig, um Behinderungen und Verzögerungen der Vereinigung durch ihre äußeren Aspekte zu vermeiden-“ 792 Koalitionsvertrag DDR-Regierung, April 1990; in Internet: www.deutsche-einheit1990.de/die-regierung-de-maiziere / und BArch, DC 20/8950 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
180
Kapitel 7
NATO sein wird. Die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ist den osteuropäischen Staaten nur zumutbar, wenn damit sicher das Aufgeben bisher gültiger NATO-Strategien, wie Vorneverteidigung, Flexible Response und nuklearer Ersteinsatz, verbunden ist.“ 793 Um diese Fragen ging es vorzugsweise, als sich am 2. und 3. Dezember 1989 Gorbatschow und Bush auf dem im Hafen von Malta liegenden sowjetischen Kreuzfahrtschiff „Maxim Gorki“ begegneten. Ursprünglich hatte das Treffen auf Kriegsschiffen stattfinden sollen, doch wegen des starken Seegangs war es auf die „Maxim Gorki“ verlegt worden. Gorbatschow zeigte sich zunächst ungehalten. „Wir haben den Eindruck, dass Herr Kohl antreibt, hetzt, nicht seriös und verantwortungsbewusst handelt. Was soll dabei herauskommen? Wird das vereinigte Deutschland neutral oder wird es NATO-Mitglied?“, wird Gorbatschow zitiert. 794 Bush stimmte zu: „Wir werden nicht vorschnell handeln, keine Versuche zur Beschleunigung der Einheit unternehmen.“ 795 Bush hatte zuvor eine Analyse vom Nationalen Sicherheitsrat zur Position und den Denkmustern von Gorbatschow bekommen. Die wesentlichen Punkte lauteten: – Die Sowjets haben ihre Kontrolle über Osteuropa verloren. Sie reagieren nur noch auf Tagesereignisse. – Der Kreml ist gegen die deutsche Vereinigung. Sein schlimmster Albtraum ist ein geeintes Deutschland in der NATO. – Ein Warschauer Pakt, der seinen osteuropäischen Anker verloren hat, würde rasch zerfallen, sodass die sowjetische Verteidigungslinie an der Grenze zur Ukraine verliefe. – Die Sowjetunion arbeitet an einer Politik, mit der die Existenz zweier deutscher Staaten gesichert werden kann. Sie versucht, mit Frankreich und Großbritannien zusammenzugehen, um den Status quo zu erhalten. – Es gibt noch kein Anzeichen dafür, dass Moskau wegen der deutschen Frage in Panik oder in Zeitnot gerät. 796 Die Gespräche an Bord verliefen im Weiteren friedlich und freundschaftlich, wurde hinterher von allen Seiten berichtet. 797 Das Besondere aber war das Thema „Selbstbestimmung“, bei dem beide Seiten sich einig waren. Gorbatschow formulierte laut Scowcroft / Rice: „Jedes Land muss das Recht
793 794 795 796 797
Ebda. Plato, S. 125 ff. und andere wie Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 59, S. 251. Galkin / Tschernjajew, S. 251. Zelikow / Rice, S. 186. Ebda., S. 189.
Mauerfall-PK am 9. November 1989 durch ZK-Mitglied Günter Schabowski
181
haben, sein politisches, kulturelles und wirtschaftliches System selbst zu wählen.“ 798 Uneinig waren sich beide beim Thema „Deutsche Einheit“. Gorbatschow wiederholte seine Position: „Die beiden deutschen Staaten sind eine Realität.“ Da die Stimmung aber entspannt war, kamen die beiden Beobachter und späteren Autoren Scowcroft und Rice zu diesem Urteil: Die Amerikaner waren überzeugt davon, dass Gorbatschow in der deutschen Frage beeinflussbar war. Man müsse nur alles vermeiden, was die Sowjets dazu zwingen könnte, zu einem bestimmten Vorschlag zu Deutschland Nein zu sagen. Sie scheinen nicht zu wissen, wohin der Zug rollt. Deshalb sollte der Westen Gorbatschow nicht zu grundsätzlichen Äußerungen verleiten. 799
Die Einschätzung der NSC-Berater stimmte mit der der sowjetischen Berater, die mit auf dem Schiff waren, überein. Sie zeigten sich erstaunt über die Äußerungen von Gorbatschow, allen voran Marshall Achromejew, der kritisierte, dass Gorbatschow „in der deutschen Frage keine konkrete Antwort gegeben“ – mithin keine Bedingungen gestellt habe. 800 Kanzler-Berater Teltschik schätzte die Gipfel-Ergebnisse so ein: Die deutsche Frage Beim Malta-Treffen von Präsident Bush grundsätzlich positiv behandelt. Von Gorbatschow Unterstützung der ‚Vertragsgemeinschaft‘, jedoch keine zu rasche Entwicklung. Hinsichtlich 10-Punkte-Plan keine sowjetische Kritik am Endziel Einheit, wohl aber Vorbehalte gegen zu große Geschwindigkeit und Unklarheit hinsichtlich polnischer Westgrenze. 801
Teltschik wies in seinem ihm eigenen „Steno – Berichtstil“ darauf hin, dass bis jetzt Gorbatschow das Ziel „Wiedervereinigung“ nicht mit politischen Forderungen wie „Neutralität“, also Austritt aus der NATO und Demilitarisierung, verknüpft hatte. „Von sowjetischer Seite auch nicht die leiseste Andeutung, man könne ‚deutsche Karte‘ spielen: Wiedervereinigung gegen Neutralität. Tatsächliches sowjetisches Ziel: Demokratisierung in der DDR und Verbleib im Warschauer Pakt.“ 802 Am Schluss seiner Vorlage erinnerte Teltschik den Kanzler: „Wir hatten nie so gute Karten in der internationalen Politik wie in diesen Wochen. Deshalb Rat für weitere Diskussion: Behutsamkeit, keine Überstürzung.“ 803 James Baker, der am Gipfeltreffen teilgenommen hatte, meinte, dass man nunmehr von der Konfrontation zur Kooperation gefunden habe, 798 799 800 801 802 803
Ebda., S. 190. Ebda., S. 192. Ebda. Deutsche Einheit, Dok Nr. 119, S. 633. Ebda. Ebda.
182
Kapitel 7
weshalb die Staatschefs auf der Pressekonferenz den Kalten Krieg für beendet erklärt hätten. „Wir beide haben in den Gesprächen festgestellt, dass die Welt eine Epoche des Kalten Krieges verlässt und in eine andere Epoche eintritt“, sagte dort Gorbatschow. „Wir sind am Beginn unseres langen Weges zu einer dauerhaften, friedvollen Periode.“ Baker meinte später: „Durch Malta bekam die Beziehung eine menschliche und persönliche Komponente; und im Frühjahr 1990, als wir alles daransetzten, ein vereintes Deutschland in die NATO aufzunehmen, sollte dieser persönliche Kontakt zwischen Bush und Gorbatschow die entscheidende Rolle spielen.“ 804 Bush empfand es genauso. „Wir sollten Gorbatschow dort helfen, wo er Hilfe braucht“, sagte er nach dem Treffen 805 und erläuterte: „Ich will nicht den Eindruck erwecken, als ob Amerika jetzt die Sowjetunion retten wolle. Ich biete kein Programm der Hilfe, sondern ein Programm für mehr Zusammenarbeit an.“ 806 Dazu zählten „kleine Schritte“, die in der Gesamtheit einen Wandel in der bisherigen US-Politik gegenüber Moskau darstellten. 807 Die Sowjets erkannten das an. „Das ist das Ende des Wirtschaftskrieges“, stellte Georgij Arbatow, der Amerika-Experte in der Delegation von Gorbatschow, fest. Deutschland-Berater Tschernjajew hielt die Angebote von Bush für „psychologisch bedeutsam“. 808 Baker traf sich unmittelbar nach Malta mit seinem Amtskollegen Genscher, um diesen ins Bild zu setzen. Die Begegnung fand in Brüssel am Rande einer NATO-Ratstagung statt, auf der auch Kohl und Bush miteinander sprachen. Während die Amerikaner den Deutschen erklärten, dass Gorbatschow klargemacht worden sei, dass die NATO sich für den Prozess der Wiedervereinigung verantwortlich fühle und die Westgrenze Polens nicht zur Disposition stehe, traf sich in Moskau der Politisch Beratende Ausschuss, das Führungsgremium des östlichen Bündnisses (Warschauer Pakt), um von Gorbatschow über seine Audienz beim Papst, seine Gespräche mit dem Präsidenten der USA und über Malta unterrichtet zu werden. Egon Krenz hatte an der Sitzung teilgenommen und Verlauf und Ergebnisse so wiedergegeben: Laut Gorbatschow hatte das Treffen mit Bush keine feste Tagesordnung gehabt. Das „Feindbild“ verblasse allmählich. Ausführlich habe Gorbatschow über die Abrüstung gesprochen. Am Verhalten der Amerikaner zu dieser Frage könne er, Krenz, allerdings nicht 804 Baker, S. 161. 805 Bierling, Stephan G.: Wirtschaftshilfe für Moskau. Motive und Strategien der BRD und der USA 1990–1996, Paderborn 1998, S. 64. 806 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 694. 807 Bierling, S. 64. 808 Galkin / Tschernjajew, S. 265.
Bedenken unter den westlichen Partnern
183
erkennen, dass es kein Feindbild mehr gebe. „Wie viele Illusionen verträgt ein Land wie die UdSSR?“, fragte sich der Gast aus Ost-Berlin. 809 Gorbatschow habe Bush gefragt, „ob die amerikanischen Aufrufe zur Vereinigung Europas auf der Grundlage westlicher Werte als Streben nach Vernichtung des Sozialismus zu verstehen seien“. Bush habe zugestanden: Bei allen Überlegungen über das künftige Schicksal sei es jetzt notwendig, den Warschauer Vertrag und die NATO als Elemente der Stabilität zu erhalten. 810 Auch die Deutsche Frage sei mit Bush behandelt worden. Die USA hätten bekräftigt, dass sie an den existierenden Grenzen, an der Existenz zweier deutscher Staaten, an den Realitäten der Nachkriegszeit festhielten. Gleichzeitig hätten sie jedoch hervorgehoben, dass man die emotionale Seite, den Wunsch der Deutschen nach Wiedervereinigung, auch sehen müsse. Sie hätten jedoch nicht die Absicht, die Ereignisse zu forcieren. Krenz resümierte: „Das sind andere Töne, als ich sie am 1. November von Gorbatschow vernahm. Er sagt, dass Kohl ja inzwischen von einer Konföderation spricht. Eine Konföderation bedeutet jedoch gemeinsame Verteidigung, gemeinsame Außenpolitik, gemeinsame Streitkräfte. Gorbatschow fragt: ‚Wo werde deren Standort sein? In der NATO oder im Warschauer Vertrag? Oder werde es sich um einen neutralen Staat handeln?‘ Er habe den Eindruck, Kohl wolle das Thema vor allem für Wahlspekulationen nutzen.“ 811
Bedenken unter den westlichen Partnern Fast vier Wochen nach der Maueröffnung hatte sich aus den „konföderativen Strukturen“ (Kanzler Kohl im Zehn-Punkte-Plan am 28. November 1989) und der „Vertragsgemeinschaft“ (DDR-Ministerpräsident Modrow, Februar 1990) der Gedanke der Wiedervereinigung herauskristallisiert. Aber außer den USA stand keiner der westlichen Verbündeten Deutschlands vorbehaltlos hinter diesem Ziel. Die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien wollten „bremsen“, wenn nicht sogar verhindern. Kohl erkannte, dass er der Diskussion die Richtung vorgeben musste. Denn deutlich wurde, dass Moskau nicht wusste, welche Politik es verfolgen sollte. Langfristig hielt man die Einheit nicht für ausgeschlossen. Auf jeden Fall wollte man sich Zeit lassen und die DDR erhalten. Das aber
809 Krenz, S. 348. 810 Krenz, S. 348 811 Ebda., S. 349.
184
Kapitel 7
wollte außer Moskau niemand, auch in der DDR-Führung unter Modrow wuchsen Zweifel am Fortbestand der „Republik“. So waren die internationalen Rahmenbedingungen in Bewegung geraten, ohne dass die Richtung bereits ersichtlich gewesen wäre. Für Bush und Kohl war dies Anlass, das Tempo der Einheits-Bewegung zu beschleunigen. Das zeigte sich auf dem NATO-Gipfel am 4. Dezember 1989 in Brüssel. Zeitgleich kamen die Führer der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes in Moskau zusammen. Gorbatschow übte massive Kritik an Kohls Zehn-Punkte-Plan. Modrow verknüpfte die Frage der Vertragsgemeinschaft mit der Bedingung, dies dürfe nicht zur Einheit führen. Doch genau dieses Ziel wollten Bush und Kohl auf der NATO-Tagung schriftlich fixiert wissen. Vor allem sollte festgeschrieben werden, dass ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO sein müsse. Dies hatte die Bush-Administration bereits Ende November 1989 so festgelegt. Auch Kohl sprach sich Ende 1989 explizit für den Verbleib der größeren Bundesrepublik in der NATO aus. Am 3. Dezember 1989 hatte er sich bei einer Begegnung mit Vorsitzenden europäischer christdemokratischer Parteien in Salzburg nachdrücklich zu NATO und EG bekannt. Bush selbst erklärte am 4. Dezember 1989 in Brüssel in einer Pressekonferenz, dass die NATO bestehen bleiben müsse und plädierte für eine weitere Integration Europas sowie eine engere Zusammenarbeit zwischen EG und USA. Ausdrücklich unterstützte er Kohls Ziel der Wiedervereinigung. Die USA und die NATO hätten die schmerzliche Teilung Europas nie hingenommen und seien stets für die Wiedervereinigung Deutschlands eingetreten. Die US-Regierung stütze sich dabei auf vier Grundsätze: 812 Erstens muss die Selbstbestimmung so ausgeübt werden, dass das Ergebnis des Prozesses nicht vorweggenommen werden dürfe. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte kein bestimmtes Modell die Einheit befürworten oder ausschließen. Zweitens sollte die Wiedervereinigung von dem unveränderten Bekenntnis Deutschlands zur NATO und einer mehr und mehr zusammenwachsenden Europäischen Gemeinschaft ausgehen. Sie müsste die Rechte und Verantwortlichkeiten der alliierten Mächte gebührend berücksichtigen. Drittens müssten im Interesse der allgemeinen Stabilität in Europa Maßnahmen in Richtung auf die Wiedervereinigung friedlich, allmählich und schrittweise getroffen werden. Viertens sollten in der Frage der Grenzen die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki bekräftigt werden.
812 Bush / Scowcroft, S. 197.
Bedenken unter den westlichen Partnern
185
„Das Ende der unnatürlichen Teilung Europas und Deutschlands“, fügte Bush hinzu, „muss auf der Grundlage und in Anwendung der Wertvorstellungen erfolgen, die immer mehr zu allgemeingültigen Idealen werden, je mehr sich alle Staaten Europas in einem Bund freier Völker zusammenfinden.“ Er wisse, dass Kohl diese Auffassung „uneingeschränkt teilt“. Bush verwies auf die im Mai verkündete Formel vom „ungeteilten und freien Europa“ und schlug vor, dass die NATO die Förderung der Freiheit im Osten zu einem Grundelement ihrer Politik machen solle. Gleichzeitig müsse das Bündnis in dieser historischen Umbruchphase ein Garant der Stabilität bleiben. In diesem Zusammenhang erklärte er: „Ich verbürge mich hier und heute dafür, dass die Vereinigten Staaten auch weiterhin bedeutende Streitkräfte in Europa unterhalten werden, solange unsere Verbündeten unsere Anwesenheit als Teil unserer gemeinsamen Bemühungen um Sicherheit wünschen.“ Die Vereinigten Staaten würden „eine europäische Macht bleiben“. Schließlich sprach sich Bush für eine noch intensivere Integration der EG und engere Beziehungen zwischen den USA und der EG aus. 813 Damit konnte der Kanzler beruhigt nach Hause fahren. Denn weder im Kreis der NATO noch seitens der EG-Partner waren unüberwindbare Hindernisse auf dem Weg zur Vereinigung errichtet worden. Gegen die Wiedervereinigung war weiterhin die Sowjetunion. 814 Moskau hatte das Gefühl, die Entwicklung nicht mehr mitbestimmen zu können. Aber auch Margaret Thatcher war zumindest verärgert. In ihren Erinnerungen ist zu lesen: „Ich kann von den Amerikanern in Bezug auf eine Verlangsamung der deutschen Wiedervereinigung weiterhin nichts erwarten – dafür aber möglicherweise viel mehr, als mir lieb war, im Hinblick auf einen zügigen europäischen Einigungsprozess.“ 815 Kohl dagegen konnte zufrieden sein: Weder beim Pariser EG-Sondergipfel noch auf Malta noch beim NATO-Treffen in Brüssel waren Hürden auf dem Weg zur deutschen Einheit aufgerichtet worden. „Im Gegenteil!“, schrieb Teltschik. „Das Signal steht auf Grün – zur Vorsicht wird ermahnt, aber die Weichen sind richtiggestellt“. 816
813 Bush, „Zukunft Europas“, Rede vor dem NATO-Rat in Brüssel, 4. Dezember 1989. In: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/us-unterstuetzung-auf-nato-gipfel-in-bruessel-472050. Bush schickte Gorbatschow die vier Prinzipien über Deutschland in einer Botschaft vom 8. Dezember 1989 persönlich zu; in Internet: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/the-presidents-news-conferencebrussels (letzter Zugriff: 14. 5. 2020); vgl. auch Teltschik, S. 64–67. 814 Schewardnadse, S. 240. 815 Thatcher, S. 1101. 816 Teltschik, S. 67.
186
Kapitel 7
Zwischen der Vorstellung von Kohls Zehn-Punkte-Plan und dem 6. Januar 1990 lagen knapp sechs Wochen. In Washington galt weiterhin die Auffassung: Einheit ja, aber nur unter dem Dach der NATO. In Bonn traute man sich noch nicht so richtig, über einen Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz zu sprechen. Noch waren „Vertragsgemeinschaft“ und „konföderative Strukturen“ die Kennworte für die Zukunft Deutschlands. Auch über die Zugehörigkeit des neuen Deutschland zur NATO wurde nur zögerlich diskutiert. Ziel sei dies, versicherte der Kanzler. Aber die DDR-Führung lehnte das ab. Sie wusste, dass sie in den freien Wahlen, die auf den 18. März 1990 festgelegt waren, abgewählt werden würde. Wer dann regieren und neuer Gesprächspartner sein würde, war offen.
Genschers Reden in Stuttgart und Tutzing In dieser Phase preschte Außenminister Genscher vor. Er hielt im Januar 1990 zwei bemerkenswerte Reden. Die erste am 6. Januar 1990 in Stuttgart, die zweite am 31. Januar 1990 in Tutzing. Sie unterschieden sich inhaltlich kaum, nur wurde Genscher in Tutzing präziser als zuvor in Stuttgart. Zum ersten Mal nahm ein westdeutscher Politiker offen und öffentlich Stellung zur Frage: In welchem Bündnis wird das vereinte Deutschland sich wiederfinden und wo wird dann die Grenze der NATO verlaufen? US-Präsident Bush hatte allerdings die Grundlinie bereits vorgegeben, als er schon am 9. November 1989 darauf hinwies, dass es ohne NATO nicht zum Fall der Mauer gekommen wäre. 817 Damit machte er unausgesprochen deutlich, dass für ihn und die US-Regierung ein vereintes Deutschland natürlich zur NATO gehören musste! Das musste gleichzeitig bedeuten, dass die NATO im Falle der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich auf das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR ausdehnen würde. Diese Frage war also im Raum, aber bisher von niemandem aufgegriffen, schon gar nicht beantwortet worden. Sie setzte zudem voraus, dass der „Warschauer Pakt“ sich nicht gen Westen ausdehnte, also Deutschland nicht Mitglied im Warschauer Pakt werden würde. Genscher war zugleich Bundesvorsitzender der FDP. In dieser Eigenschaft hielt er beim traditionellen „Dreikönigstreffen“ seiner Partei am 6. Januar 1990 in Stuttgart eine bemerkenswerte Rede, die jedoch nicht von allen auf Anhieb verstanden wurde. So erklärte er: „Den Bündnissen 817 Pressekonferenz US-Präsident Bush zur Maueröffnung; in Internet: https://www. presidency.ucsb.edu/documents/remarks-and-question-and-answer-session-withreporters-the-relaxation-east-german-border (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Genschers Reden in Stuttgart und Tutzing
187
NATO und Warschauer Pakt kommt in diesem Prozess eine besondere politische Steuerungsfunktion zu. Die den Völkern Europas von den Bündnissen gewährte Sicherheit muss in einem ersten Schritt durch kooperative Sicherheitsstrukturen gestärkt werden. In einem zweiten Schritt müssen die dann kooperativ strukturierten Bündnisse in einen Verbund gemeinsamer kollektiver Sicherheit überführt werden, das heißt, es sollten zwischen den Bündnissen Strukturen entstehen, die den Antagonismus der Bündnisse Schritt für Schritt überwinden.“ 818 In seinen „Erinnerungen“ erklärt Genscher den Sinn seiner Gedanken: 819„Die Worte ‚Zwischen den Bündnissen‘ drückten aus, dass ich den Fortbestand der NATO wollte, zugleich jedoch neue Formen der Zusammenarbeit mit den Warschauer-Pakt-Staaten. [. . . ] Der Gedanke kooperativer Sicherheit war aus meiner Sicht die einzig mögliche Form, Strukturen zu schaffen, mit denen die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in Moskau durchgesetzt werden konnte. Anfang 1990 forderte ich deshalb, die sowjetischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, denn nur, wenn diese als legitim anerkannt und behandelt würden, könnten wir darauf vertrauen, dass die Sowjetunion die Veränderungen, die sich in Europa vollzögen, nicht nur nicht behinderte, sondern tatkräftig förderte.“ 820 Genscher befürwortete daher Verhandlungen, die gleichzeitig mit der Wiedervereinigung zu einem Aufgehen der Bündnisse in einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur führen sollten und daher einen intensiven Ausbau voraussetzten. Das hätte aber gleichzeitig das Aufgehen der NATO als eigenständiges Bündnis in der neuen „gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur“ bedeutet, also ein Ende der NATO. Das entsprach weitgehend den sowjetischen Vorstellungen von einem „Europäischen Haus“. Die KSZE – die bekanntermaßen auf sowjetische Vorschläge zurückging – sollte eine stärkere Funktion im neuen europäischen Sicherheitssystem erhalten und am Ende sowohl NATO wie Warschauer Pakt ablösen. Mit diesem Konzept fand Genscher jedoch weder bei den westlichen Verbündeten 821 noch auf Dauer bei Bundeskanzler Kohl Zustimmung. Doch zunächst schwenkte Kohl auf die Linie seines Außenministers ein. Im Januar 1990 entfernte sich Kanzler Kohl für einen Moment vom Kurs der US-Administration. In einem Interview mit der „Washington Post“ 822 sagte er, in „der Frage der NATO-Mitgliedschaft gebe es Mei818 Genscher: Rede auf Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart am 6. Januar 1990. Freie Demokratische Korrespondenz, 6. 1. 1990, Nr. 2/1990 Bonn 819 Genscher: Erinnerungen, S. 712. 820 Ebda., S. 712 f. 821 Plato, S. 215. Die US-Regierung „befürchtet, dass Genscher den sowjetischen Interessen vielleicht ein wenig zu sehr entgegenkam.“ 822 Genscher: Erinnerungen, S. 713.
188
Kapitel 7
nungsverschiedenheiten mit Washington“. 823 Die Zeitung schrieb: „Es schien, als stimme Kohl nicht mit dem beharrlichen Argument der Regierung Bush überein, dass die deutsche Vereinigung im Kontext der fortbestehenden Verpflichtungen in der NATO herbeigeführt werden müsse.“ Kohl wurde mit den Worten zitiert: „Ich denke nicht, dass es klug wäre, solchen Gedanken beim gegenwärtigen Stand der Diskussion Raum zu geben.“ US-Präsident Bush wollte Klarheit und lud den Kanzler noch im Februar 1990 nach Camp David ein. 824 Zwischen Genscher und Kohl herrschte gerade in der kritischen Phase der Deutschlandpolitik Ende 1989 bis Frühjahr 1990 eine gewisse Spannung. Genscher wollte gegenüber Moskau behutsam vorgehen. Er dachte fortwährend an die Interventionen der Sowjetunion in Ungarn 1956 und Prag 1968. Kohl hingegen drückte aufs Tempo. 825 Genscher hatte die Rede des Kanzlers zum Zehn-Punkte-Plan verärgert. Seither dachte der Bundesaußenminister über seinen eigenen Plan nach: einbinden der sowjetischen Sicherheitsinteressen, nichts beschleunigen und nichts überstürzen. Das war seine Devise. Dies wollte er deutlich machen und dazu sollte vor allem die Tutzinger Rede dienen. „Mit Blick auf die internationale, aber auch auf die deutsche Öffentlichkeit indessen schien es mir dringend geboten, Klarheit über unseren Willen zu fortdauernder NATO-Mitgliedschaft zu schaffen.“ 826 In der Rede hieß es dann auch folgerichtig: „Ein neutralistisches Gesamtdeutschland wollen wir nicht. Ich sprach ausdrücklich von Gesamtdeutschland, um jedes Missverständnis auszuschließen, das Gebiet der DDR könne von der NATO-Mitgliedschaft ausgeschlossen, also quasi neutralisiert werden.“ 827 Um es der Sowjetunion zu ermöglichen, dieser Form einer NATO-Mitgliedschaft zuzustimmen, besann sich Genscher auf die KSZE und das darin enthaltene Prinzip der „Selbstbestimmung“. In seiner Rede am 31. Januar 1990 an der Evangelischen Akademie Tutzing bekannte sich Genscher klar zur NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland. Er wollte eine Balance zwischen dem Ziel, das vereinte Deutschland in der NATO zu halten und gleichzeitig die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion nicht zu verletzen, herstellen. Genscher lehnte kategorisch eine Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR ab. Er sagte: „Was immer auch im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung von NATO-Territorium gen Osten, in
823 824 825 826 827
Plato, S. 217; Genscher: Erinnerungen, S. 713. Heumann: Genscher, S. 274. Zelikow / Rice, S. 351. Genscher: Erinnerungen, S. 713. Ebda., S. 714.
Genschers Reden in Stuttgart und Tutzing
189
anderen Worten, also näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird nicht geschehen. Vorstellungen, dass der Teil Deutschlands, der heute die DDR bildet, in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden soll, würden die deutsch-deutsche Annäherung blockieren.“ 828 Schon vorher hatte Genscher in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ gesagt: „Wer die Grenze der NATO bis zur Oder und Neiße ausdehnen will, schlägt die Tür zu für unser geeintes Deutschland.“ 829 Genscher hatte ein besonderes Gespür für die Politik der Sowjetunion. Er selbst stammte aus der Gegend von Halle, also vom Gebiet der DDR, und war als junger Mann in den Westen geflohen. Er war sich bewusst, dass ein zu eiliges und unsensibles Vorgehen Bonns dazu führen könnte, dass die „deutsche Frage“ wieder von der politischen Tagesordnung verschwinden könnte. 830 Entsprechend legte er seine Rede in Tutzing an: vorsichtig und mit Rücksicht auf das Gefühl des Kreml. Allen Beteiligten, besonders Gorbatschow und seinen Beratern, war klar: Die Sowjetunion wird verlieren, wenn die DDR sich mit der BRD vereinigt und dann naturgemäß aus dem Einflussbereich der Sowjets ausscheidet. Vor allem aber würde die NATO mit einem vereinten Deutschland als Mitglied des „feindlichen Bündnisses NATO“ plötzlich näher an die sowjetischen Grenzen heranrücken. Also musste dies entweder verhindert oder eine besondere Art von Garantie für Sicherheit und Zusammenarbeit geschaffen werden. Für den Kreml war ein solches Szenario ein „Albtraum“. 831 Da alle Beteiligten auf westlicher Seite Anfang 1990 davon ausgingen, dass das vereinte Deutschland in der NATO sein sollte, musste ein Weg gefunden werden, dies Gorbatschow „schmackhaft“ zu machen. Die „Gegenleistung“ musste ein Entgegenkommen in Sachen „Sicherheit“ sein.
828 Hilger: S. DokNr. 20, S. 102; Rede des Bundesministers des Auswärtigen, HansDietrich Genscher in Tutzing, Zur deutschen Einheit im europäischen Rahmen, in: Der Bundesminister des Auswärtigen, Mitteilungen für die Presse, Nr. 1026/9, S. 29 f.; Tutzinger Blätter, 2/90, S. 8. . 829 Kiessler / Elbe, S. 79; Bild am Sonntag, 28. Januar 1990, S. 1, Nr. 4/90. Interview mit Genscher. 830 Elbe in RBTH, 5. April 2016: „Die Pflege der transatlantischen Beziehungen, die Entwicklung der Europäischen Union und insbesondere die Versöhnung mit Russland und den anderen Nachbarn in Osteuropa waren seine beständigen Zielmarken, denen er bis zu seinem Tod treu geblieben war. Er wollte der Anomalie des Kalten Krieges ein Ende setzen, die durch die Nachkriegsordnung erzwungene starre Trennung von Ost und West auflösen und dem bornierten Denken in Blöcken Einhalt gebieten.“ Frank Elbe ist Botschafter a. D., Rechtsanwalt und Publizist. Er war als Verhandler an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen über die Einheit Deutschlands beteiligt. 831 20 Jahre Mauerfall – Reaktionen; in Internet: www.stern.de/politik/deutschland/mauerfall/20-jahre-mauerfall-reaktionen-das-dachten-thatcher-co-wirklich3445312.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
190
Kapitel 7
Die NATO musste umgewandelt werden in ein Bündnis mit stärkerem politischen Charakter. Genscher: „Im Warschauer Pakt verstärkt sich in Polen, in der CSSR und in Ungarn der Wunsch nach Abzug der sowjetischen Streitkräfte. Welche Auswirkungen das auf die Struktur und auf die Zukunft des Warschauer Pakts hat, kann derzeit nicht genau bestimmt werden. Es handelt sich dabei allein um eine Angelegenheit des Warschauer Pakts. Das Gebot der Nichteinmischung ist hier besonders ernst zu nehmen. Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenze der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. Diese Sicherheitsgarantien sind für die Sowjetunion und ihr Verhalten bedeutsam. Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Wiedervereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen darf.“ Vorstellungen, dass der Teil Deutschlands, der die DDR bildete, in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden sollte, würden die deutsch-deutschen Annäherungen blockieren. Bedeutsam war – so Genscher –, sich Klarheit über die künftige Rolle der beiden Bündnisse zu verschaffen. Sie würden von der Konfrontation zur Kooperation übergehen und Elemente kooperativer Strukturen der Sicherheit in ganz Europa werden. Das westliche Bündnis werde nach dem Willen seiner Mitglieder fortbestehen, denn die Bündnisse hätten auch in Zukunft friedensichernde und stabilisierende Funktion. „Das schließt unseren Verbleib in der NATO ein. Ein deutscher Neutralismus würde niemandem nutzen.“ 832 Diese Aussagen waren Teil seiner öffentlichen Rede in Tutzing und hatten damit keinen verbindlichen Charakter. Es handelte sich um ein Angebot, über die Aussagen nachzudenken und zu diskutieren und sie möglicherweise in Verhandlungen einzuführen. Genscher musste zunächst die Mitglieder der NATO, an erster Stelle die USA, den Bundeskanzler, den er mit dieser Rede überrascht hatte, und die zwei anderen westlichen Siegermächte von der Machbarkeit seiner Vorstellungen überzeugen. Sollte ihm das gelingen, hätte man seine Gedanken in die Gespräche mit der Sowjetunion einbringen, eventuell sogar zum Inhalt eines Vertrages machen können. Dann wäre aus der bloßen Aussage in der Rede ein Vertragsbestandteil in Form einer Garantie geworden. Mit dem Zehn-Punkte-Programm vom November 1989 hatte Kohl seine Gedanken vorgetragen. Sein Außenminister und Koalitionspartner 832 Rede Genschers in der Evangelischen Akademie Tutzing, „Zur deutschen Einheit im europäischen Rahmen“, in: Der Bundesminister des Auswärtigen, Mitteilungen für die Presse, Nr. 1026/9, S. 29 f.; Tutzinger Blätter, 2/90, S. 8.
Die Baker-Genscher-NATO-Formel
191
Genscher hatte nun gleich zweimal seine Vorstellungen auf den Tisch gelegt: das erste Mal in Stuttgart und dann modifiziert in der TutzingRede vom 31. Januar 1990. Das wollten Bush und Baker nun erklärt wissen, und Genscher machte sich auf den Weg zu seinem wohl kürzesten Besuch in den USA. Er flog am 2. Februar 1990 um 13.30 Uhr in Deutschland ab. Nach einem Gespräch mit US-Außenminister Baker und US-Präsident Bush ging es noch am selben Abend zurück nach Bonn.
Die Baker-Genscher-NATO-Formel Baker empfing Genscher in seinem Arbeitszimmer zu einem Vier-AugenGespräch 833 und bat seinen Amtskollegen, ihm seine Vorstellungen zu erläutern. 834 Genscher bekräftigte erneut, dass er die Zukunft eines vereinigten Deutschland als Mitglied der NATO und der EG sehe. Baker akzeptierte dann zunächst die „Tutzing“-Formel, wonach die NATO-Strukturen nicht auf das Gebiet der DDR ausgedehnt werden dürfe. 835 Dennoch müsse aber klar sein, dass dieser Teil Deutschlands nicht zu einem Gebiet mit geringerer Sicherheit in Europa werden dürfe. Dafür müsse Moskau etwas geboten werden. Man müsse z. B. eine „Lage in Europa schaffen, die auch für die Sowjetunion Vorteile bringe. Nur so könne die sowjetische Führung gewonnen werden“, so Genscher. 836 Auf die Frage von Baker, ob er glaube, dass Gorbatschow einer NATOMitgliedschaft des vereinten Deutschlands zustimmen werde, antwortete dieser zustimmend. Dafür müssten aber die von ihm für notwendig gehaltenen gesamteuropäischen Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen sein. Im anschließenden Gespräch mit Bush wurden all diese Themen und Vorschläge gebilligt. 837 Genscher zeigte sich sehr zufrieden: „Das Briefing für die Journalisten gab ich mit einem Gefühl innerer Hochstimmung.“ 838 Baker, Bush und Genscher lagen nun auf einer Linie. Baker trug diese Gedanken dann einige Tage später, am 7. Februar 1990, in Moskau vor, zwei Tage bevor Genscher und Kohl dort eintrafen. Die westliche Haltung zur NATO lag jetzt fest. Passend zur guten Stimmung des Außenministers am 2. Februar 1990 traf am selben Tag Gorbatschows Einladung an Kohl in Bonn ein mit der Bitte, ihn doch am 9. Februar in Moskau zu besuchen.
833 834 835 836 837 838
Genscher: Erinnerungen, S. 717. Darüber liegt kein Protokoll vor, so Spohr, S. 18. Genscher: Erinnerungen, S. 717. Kiessler / Elbe, S. 86; Baker nannte die „Tutzing-Formel“ jetzt „Genscherplan“. Genscher: Erinnerungen, S. 717. Ebda., S. 718. Es heißt dort: „Bush segnete ab, was ich mit Baker vereinbart hatte.“ Ebda.
192
Kapitel 7
Bundeskanzler Kohl nahm die Einladung an, bat aber darum, erst am 10. Februar 1990 kommen zu dürfen. Das Eis – so schien es – begann zu schmelzen. Schon am 1. Februar 1990 war Frank Elbe, Genschers Bürochef, zur Vorbereitung des USA-Besuches des Ministers in Washington eingetroffen. Elbe sollte die Amerikaner auf die „Tutzing-Formel“ einstimmen, die in einem Satz alles beschrieb: Deutschland bleibt in der NATO, aber kein NATO-Soldat rückt weiter „gen Osten“ vor. Ob damit nur das Gebiet der DDR oder auch das Territorium der damals noch Warschauer-PaktStaaten gemeint war, blieb offen. Elbe beschrieb die Gespräche mit Bakers Beratern Bob Zoellick und Denis Ross so: „Die amerikanischen Gesprächspartner akzeptierten am 1. Februar die Tutzing-Formel, die NATO-Strukturen nicht auf das Gebiet der DDR auszudehnen. [. . . ] Zoellick und Ross sagten Elbe zu, Baker über die NATO-Formel von Tutzing zu informieren. Dann fuhr Elbe zum Flughafen von Washington, um Genscher abzuholen. Während der Fahrt in die US-Hauptstadt unterrichtete Elbe Genscher über seine Gespräche mit den Amerikanern. [. . . ] Politisch bestand zwischen der NATO-Formel und dem Verhandlungsformat ein wichtiger Zusammenhang. Baker ging nun in die Offensive, nachdem sich die Deutschen für die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland ausgesprochen hatten.“ 839 Baker teilte diese Formel dann auch dem nach Moskau entsandten Vize-Chef des „Nationalen Sicherheitsrates“, Robert Gates, mit. Gates traf am 2. Februar 1990, nur zwei Tage nach Genschers Rede in Tutzing, in Moskau mit KGB-Chef Vladimir Krutschkow zusammen. In dem zweistündigen Gespräch 840 ging es vor allem um die Frage: Welchem Bündnis darf / soll das vereinte Deutschland angehören? Gates sagte: „Wir unterstützen die Idee von Kohl und Genscher: Deutschland bleibt in der NATO, aber es wird keine militärische Expansion / Erweiterung auf das Gebiet der DDR geben.“ 841 Gates fügte dann hinzu: „Was denken Sie, Herr Krutschkow, darüber, dass NATO-Truppen sich nicht von dem Gebiet fortbewegen, wo sie heute stehen? Auf jeden Fall gibt es nur drei Optionen für das vereinte Deutschland: Entweder es bleibt in der NATO oder es wird neutral oder es wird Mitglied im Warschauer Pakt.“ 842 839 Elbe / Kiessler, S. 88 ff. 840 Protokoll im Internet: http://nsarchive.gwu.edu/dc.html?doc=3242112-Document4-Gates-Kryuchkov-Memcon-KGB (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 841 Siehe Genschers Rede in Tutzing. Kohl schloss sich dieser Idee kurzzeitig an. Siehe oben. 842 Protokoll Gates / Krutschkow. Gates im Interview, in Internet: http://web1.millercen ter.org/poh/transcripts/ohp_2000_0723_gates.pdf (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Die Baker-Genscher-NATO-Formel
193
Der KGB-Chef bemerkte: „Die Sowjetunion ist nicht begeistert („could have no enthusiasm about a united Germany in NATO“). Daher sollten wir nach anderen Lösungen suchen. Kohl und Genscher haben interessante Ideen. Aber selbst diese Vorschläge brauchen Garantien. Unsere Menschen sagen: Wir hatten Frieden, weil Deutschland geteilt war.“ 843 Ebenfalls am 2. Februar 1990 erschien in allen sowjetischen Medien 844 ein Interview mit Außenminister Eduard Schewardnadse. Mit einem neuen Vorschlag versuchte die Sowjetunion damit, den Prozess der Vereinigung zu bremsen. 845 Seine Kernaussagen lauteten: 846 Der Prozess der Vereinigung muss etappenweise erfolgen. Über die Einheit Deutschlands muss ein gesamteuropäisches Referendum mitentscheiden.
Gorbatschow wollte offensichtlich Kohls „Euphorie“ drosseln und den Prozess der deutschen Vereinigung „mit dem gesamteuropäischen Prozess“ verknüpfen. 847 Dazu waren „eine Unzahl von Fragen zu lösen: nach Garantien der Unantastbarkeit der Grenzen und der Anerkennung der territorialen Realitäten der Nachkriegszeit und nach dem militärpolitischen Status des vereinten Deutschland“. 848 Trotz aller Bekundungen aus Moskau, die Sowjetunion habe „nichts“ gegen die Einheit einzuwenden, kam hier zum Ausdruck, dass genau dies der Fall war. Gorbatschow und seine Berater wollten die Einheit nicht. Sie hatten aber bisher kein Mittel gefunden, diesen Prozess entscheidend mitzubestimmen. Noch waren keinerlei Bedingungen aus Moskau gestellt worden. Auch das Interview mit Schewardnadse enthielt weder Drohungen noch Bedingungen. 849 Es hieß nur sehr vage formuliert: „Begründet ist unserer Meinung nach auch die Frage nach der Notwendigkeit, dass sich beide Staaten militärisch neutral erklären und praktische Maßnahmen zur Senkung des Rüstungsniveaus und zur Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten unternehmen.“ 850 Alles sollte noch einmal „überlegt“ werden. Gorbatschow war es bisher offenbar nicht gelungen, innerhalb seiner Kreise – im ZK, dem KGB
843 Ebda. 844 Am 10. Juli 1925 auf Anweisung des Präsidiums des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare eingerichtete Telegrafenagentur der Sowjetunion, kurz TASS. TASS, Iswestija, Pravda, ADN vom 2. 2. 1990. 845 Vgl. Gorbatschow: Erinnerungen S. 717. 846 Biermann, S. 401. 847 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 717. 848 Ebda. 849 Biermann, S. 401. 850 Ebda.
194
Kapitel 7
und dem Außenministerium – eine einheitliche Linie zu finden. Nicht einmal über den Weg zur Einheit waren sich die Sowjets bis Februar einig, geschweige denn in der NATO-Frage. Das ergab sich nun klar zu Beginn des Februar 1990. 851 Kurz vor dem Genscher-Besuch in Washington, hielt Baker am 1. Februar 1990 vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats 852 eine Rede zu den außenpolitischen Zielen der USA. Zur „Deutschen Frage“ erklärte er, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten inkl. Berlin sei Ziel der US-Politik seit 40 Jahren. Das sei „nach wie vor so“. Dabei sollten vier Prinzipien beachtet werden: 1. 2.
3. 4.
Die Selbstbestimmung muss ungeachtet des Ergebnisses erfolgen. Die Wiederherstellung der Einheit soll im Rahmen der bleibenden Integration der Bundesrepublik in die NATO und der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes erfolgen. Die Einheit muss im Interesse der allgemeinen europäischen Stabilität friedlich und schrittweise wiederhergestellt werden. In der Frage der Grenzen sollten die USA ihre Unterstützung für die in der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze bekräftigen, mit denen die Unverletzbarkeit der Grenzen und gleichzeitig die Möglichkeit friedlicher Veränderungen anerkannt wird.
Dazu strebten die USA „eine demokratischere Sowjetunion an, in der Fortschritte bei den Menschenrechten durch einen Rechtsstaat und demokratische Verfahren fest verankert werden“. In diesem Sinn äußerte sich auch US-Botschafter Vernon Walters, der am selben Abend vor der „Atlantik-Brücke“ 853 in Stuttgart sprach. Auch er postulierte klar, dass die Wiedervereinigung nur im Rahmen von NATO und EG denkbar sei.
851 Ebda., S. 402. 852 Amerika-Dienst (USA-Botschaft Bonn), Nr. 5 vom 7. 2. 1990. 853 Die „Atlantik-Brücke“ wurde 1952 als überparteiliche Vereinigung von Unternehmern, Bankern und Journalisten aus der ganzen Bundesrepublik gegründet. Ziel war es, das „Vertrauen zu den Amerikanern“ wiederaufzubauen. Heute unterhält die „Atlantik-Brücke“ Büros in ganz Deutschland.
SPD-Spitze contra NATO-Pläne
195
SPD-Spitze contra NATO-Pläne Die SPD wandte sich unverzüglich gegen diese Vorstellungen. Die Haltung der SPD Anfang 1990 war gegen eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland gerichtet 854 wie auch die Haltung der DDR-Regierung bis April / Mai 1990. 855 SPD-Vorstandsmitglied Horst Ehmke ließ erklären, diese Bedingung sei völlig unakzeptabel! Ein gesamtdeutscher Bundesstaat (Föderation), wie die SPD ihn anstrebe, sei nur bei Ablösung der Blöcke durch ein europäisches Sicherheitssystem denkbar. 856 Karsten Voigt 857 erinnert daran, dass die „Führung der SPD damals die deutsch-deutschen Beziehungen immer im Zusammenhang mit ihren Beziehungen innerhalb der EU und innerhalb der NATO und damit insbesondere zu den USA gesehen hat“. Egon Bahr vertrat in dieser Übergangszeit stets sehr klar seine konzeptionellen Prioritäten: möglichst schnelle und große Schritte in Richtung auf eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einschluss der Sowjetunion. Ein USA-Besuch ließ einige führende SPD-Politiker an ihrer Haltung gegenüber der NATO zweifeln. Karsten Voigt gehörte 1990 der Reisegruppe an, die am 27. Januar 1990 nach Washington geflogen war. Dort hatten Steve Hatley und Bob Blackwill vom „Nationalen Sicherheitsrat (NSC)“ ausführlich über die amerikanischen Überlegungen für künftige Zwei-plus-Vier-Verhandlungen informiert. In einem anschließenden längeren Vier-Augen-Gespräch erläuterte Bob Blackwill, der damals deutschlandpolitischer Berater von Präsident Bush war, Karsten Voigt, wie die USA glaubten, die sowjetische Führung dazu bewegen zu können, der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO zuzustimmen. Karsten Voigt: „Unser Gedankenaustausch hatte mit der Feststellung begonnen, dass wir beide wegen der geschichtlichen Erfahrungen und des großen Gewichts eines vereinigten Deutschlands in Europa gegen eine deutsche Neutralität seien. Es liege im Interesse aller Nachbarstaaten Deutschlands und wohl auch der Sowjetunion, die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in multilaterale
854 Voigt, Karsten: Anfang 1990: Die SPD, Moskau und die NATO-Frage, in: Das Blättchen, Nr. 5/16 vom 29. Februar 2016. Voigt (SPD) nahm am Gespräch von Egon Bahr in Moskau vom 27./28. Februar 1990 mit Gorbatschows Berater Valentin Falin teil. Voigt war damals Vorsitzender der deutsch-sowjetischen Parlamentariergruppe im Bundestag, zugleich aber Vorsitzender des Verteidigungsausschusses in der Parlamentarischen Versammlung der NATO. 855 Brinkmann, Peter, Wir erwarten keine starken Widerstände in Moskau, Interview mit DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, in: Bild, Nr. 99 vom 28. April 1990, S. 1. 856 Einhellige Absage an deutsche Neutralität, SZ, Nr. 27 vom 2. Februar 1990. 857 Karsten Voigt, SPD, MdB 1976–1998. Von 1977–1998 Mitglied der „Parlamentarischen Versammlung der NATO“.
196
Kapitel 7
Strukturen einzubetten. Blackwill fragte mich dann, ob ich trotz dieser Übereinstimmung in Versuchung geraten würde, wenn es doch nur eine Chance auf Wiedervereinigung gäbe, wenn Deutschland neutral würde. Ich antwortete, dass ich zwar gegen ein neutrales Deutschland sei, ich – vor eine solche Alternative gestellt – aber vielleicht doch in Versuchung geraten konnte. Er bemerkte daraufhin, dass ich anders als andere Deutsche wenigstens ehrlich sei. Deshalb sei es umso wichtiger, von vornherein eine derartige Alternative zu verhindern.“
Eine Absage erteilte Blackwill in diesem Gespräch Gedankenspielen einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsordnung als Alternative zu NATO und Warschauer Pakt. Die europäischen Mitglieder der NATO hätten kein Interesse daran, wegen der Wiedervereinigung Deutschlands auf die NATO zu verzichten und ihre Sicherheit stattdessen von einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur abhängig zu machen. Auch die USA seien am Fortbestand der NATO interessiert. Die sowjetische Führung, so Blackwill weiter, sei zwar gegen eine Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO, sie habe aber keinerlei realistische Alternativen anzubieten, mit denen eine effektive multilaterale Einbindung Deutschlands gewährleistet werden könne. Gegen eine völlig neue Sicherheitsstruktur für Europa spreche auch der Zeitfaktor: Aufgrund der Entwicklungen in der DDR wachse der Druck, den Prozess der Vereinigung Deutschlands zu beschleunigen. Die USA sähen keinerlei Grund, diesen Zeitdruck von außen her künstlich zu verringern: Sie seien Befürworter der Vereinigung Deutschlands selbst dann, wenn sie sich schneller vollzöge, als man noch vor wenigen Wochen gedacht habe. Unter diesen Umständen sei es durchaus realistisch anzunehmen, dass die sowjetische Führung ihren bisherigen Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft aufgeben würde, dies umso mehr, als sie generell an guten Beziehungen zu den USA interessiert sei. Es sei deshalb auch wichtig, die Sowjetunion im weiteren Prozess nicht zu isolieren. Voigt war von Blackwills Argumenten überzeugt. Nach seiner Rückkehr nach Bonn sprach er in der Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion über die Änderung seiner Haltung und die Gründe hierfür. Doch Egon Bahr und DDR-Außenminister Meckel widersprachen ihm. 858 Voigt war davon überzeugt, „dass die sowjetische Führung zu diesem Zeitpunkt kein eigenes Konzept für die sicherheitspolitische Einbettung des vereinigten Deutschlands hatte. Sie war zwar mit der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO nicht einverstanden, hatte 858 Vgl. Voigt: Anfang 1990. Das Blättchen Nr. 5, 2016. Ohne Seitenangabe. Internet: https://das-blaettchen.de/2016/02/anfang-1990-die-spd-moskau-und-die-nato-fra ge-35367.html.
SPD-Spitze contra NATO-Pläne
197
dem aber keine überzeugenden Alternativen entgegenzusetzen. Außerdem schienen ihr damals die Beziehungen zu den USA und ihre wirtschaftlichen Probleme wichtiger zu sein“. „Als ich aus Moskau abflog, war ich mehr als zuvor davon überzeugt, dass die sowjetische Führung letztlich einer Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO zustimmen würde“. 859 In der SPD-Führung hatte sich eine andere Denkrichtung durchgesetzt. Je schwächer der „Warschauer Pakt“ wurde, desto lauter wurde die Meinung vertreten, die NATO werde ebenfalls zerfallen. Oskar Lafontaine hatte sogar bereits am 27. März 1983 den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO gefordert. Egon Bahr formulierte nur wenige Tage nach dem Mauerfall eine Resolution. Am 16. November 1989 schrieb er: „Wer heute die staatliche Einheit fordert, muss die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt fordern. Beide Bündnisse überflüssig zu machen, ist das Ziel der SPD.“ So wurde es denn auch im Dezember 1989 in das neue Grundsatzprogramm der Partei geschrieben: „Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.“ 860 Auf dem SPD-Parteitag ließ sich Lafontaine zu dieser Aussage hinreißen: „Ein vereintes Deutschland in der NATO? Welch ein historischer Schwachsinn!“ 861 Heidemarie Wieczorek-Zeul assistierte: „Es ist für mich geradezu undenkbar, dass als Ergebnis der Revolution in der DDR die NATO obsiegen wird.“ 862 Zum Zeitpunkt des Parteitages Ende 1989/Anfang 1990 lag auch Außenminister Genscher auf dieser Linie. Seine Tutzinger Rede hielt er erst knapp fünf Wochen später. Auch er formulierte Ende 1989 bis zum Besuch in Moskau im Februar 1990: „Eine Ausdehnung nach Osten kommt nicht in Frage.“ 863 Dem schlossen sich für kurze Zeit auch
859 Ebda. 860 SPD-Grundsatzprogramm 1989, S. 12; in Internet: https://www.spd.de/fileadmin/ Dokumente/Beschluesse/Grundsatzprogramme/berliner_programm.pdf (Letzter Zugriff 14. 4. 2020) 861 SPD-Parteitag 1989, Protokoll vom Programm-Parteitag in Berlin, 18.-20. 12. 1989. 862 Sturm, Daniel F.: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006, S. 447. 863 Siehe „Tutzinger Rede“. Am 31. Januar 1990 hielt Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Evangelischen Akademie in Tutzing eine Rede, die nicht mit Bundeskanzler Kohl abgesprochen war. Kernaussage: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. Diese Sicherheitsgarantie sei für die Sowjetunion bedeutsam, denn der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess dürften „nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen“. Genscher führte zudem aus, das Gebiet der DDR solle nicht in die militärischen Strukturen der Nato einbezogen werden – da dies wegen zu erwartender Widerstände der Sowjetunion die Einigung blockieren würde. Wortlaut in Tutzinger Blätter, 2/90.
198
Kapitel 7
Bundeskanzler Kohl und US-Außenminister Baker an, bis Präsident Bush den Kurs änderte. 864 So absurd, wie sie heute erscheinen mögen, waren die Vorschläge und Ideen der SPD nicht. Der Unterschied lag in der Betrachtungsweise: Diejenigen, die die NATO nicht auf das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR ausdehnen wollten, waren zu diesem Zeitpunkt pragmatisch denkende Politiker. „Es ist nicht denkbar und völlig abwegig“, so beispielsweise Hans-Jürgen Wischnewski. 865 Diejenigen aber, die die NATOSchutzrechte auf das dann neue Gesamt-Deutschland ausdehnen wollten, erkannten die Notwendigkeit eines einheitlichen Sicherheitssystems für das neue, wiedervereinte Deutschland. Sie mussten sich auf Dauer durchsetzen. Noch aber reagierten in der SPD diejenigen, die die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland ablehnten. Egon Bahr sammelte sie um sich mit dem Ruf: „Wo bleibt der Feind, gegen den sich die NATO verteidigen soll? Die NATO hat keine Strategie mehr, weil es den Gegner nicht mehr gibt, den das Bündnis abschrecken sollte“. 866 Gegen solche Äußerungen wandte sich als prominentes SPD-Mitglied und ehemaliger Kanzler Willy Brandt, der erklärte: „Dass die Bundesrepublik aus der NATO austritt wie aus einem Fußballverein, ist nicht zu vermuten. Ich bin auch dagegen.“ 867 Bis zum Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 versuchte ein großer Teil der SPD, die Ausdehnung der NATO zu verhindern. DDR-Außenminister Markus Meckel (SPD) war einer der Wortführer, auf den keiner mehr hörte. Am 1. März 1990 erschien in der außenpolitischen Zeitschrift der DDR, „Horizont“, ein Interview mit Voigt. In ihm sprach er sich dafür aus, dass das vereinigte Deutschland politisch insgesamt zur NATO gehören solle. Vom Territorium der bisherigen DDR sollten die sowjetischen Truppen abgezogen, jedoch keine Truppen der NATO dort stationiert werden. In West-Deutschland sollten aber wie bisher Truppen der USA, Frankreichs und Großbritanniens stationiert bleiben. Zeitgleich müssten Vereinbarungen über eine enge Kooperation mit der Sowjetunion abgeschlossen werden. Mit diesen Vorstellungen lag Voigt schon sehr nahe bei den später in den 2 + 4-Verhandlungen vereinbarten Regelungen. 868
864 Siehe oben: Baker in Moskau. 865 Hans-Jürgen Wischnewski, 1922–2005, SPD-Politiker, u. a. Bundesgeschäftsführer, mehrfach Mitglied der Bundesregierung. 866 Sturm, S. 450 und Karner, S. 83. 867 Koch, Dirk und Wirtgen, Klaus: Interview mit Willy Brandt: Die Einheit ist gelaufen, Spiegel, Nr. 6 vom 5. Februar 1990, S. 26. 868 Vgl. Voigt, Ohne Seitenzahl. https://das-blaettchen.de/2016/02/anfang-1990-diespd-moskau-und-die-nato-frage-35367.html.
Vorsichtiges Umdenken an der Moskwa
199
Vorsichtiges Umdenken an der Moskwa In Moskau gaben sich westliche Spitzenpolitiker die Klinke in die Hand. Kohl bekam eine Einladung in den Kreml für den 10. Februar 1990, und vor ihm trafen US-Außenminister Baker und Außenminister Genscher im Kreml ein. Am 5. Februar 1990 fand die reguläre Politbüro-Sitzung statt. Es kann nur darüber spekuliert werden, was dort besprochen und diskutiert wurde. Die Protokolle sind weiterhin unzugänglich. Es bleiben nur die Aussagen einzelner Teilnehmer. Ob sie der geschichtlichen Wahrheit entsprechen, wird man erst erfahren, wenn Moskau die Archive öffnet. Die Begleit-Verlautbarungen deuten darauf hin, dass Gorbatschow sich in der Deutschen Frage gegen die „Germanisten“ durchsetzen konnte. So erklärte Wadim Sagladin, Gorbatschows deutschlandpolitischer Berater, am 6. Februar 1990 im sowjetischen Fernsehen „Studio 9“: „Der Prozess, der zur Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands führt, hat begonnen. Die Frage ist heute nicht mehr, ob und wie schnell er verlaufen wird. Es geht um die Fragen der Folgen.“ Ähnlich äußerten sich alle anderen Berater von Gorbatschow. 869 Im Kreml sah man, wie sich der Prozess der Wiedervereinigung beschleunigte. Anfang Februar 1990 wurde über die Einführung der DM in der DDR diskutiert. DDR-Minister reisten ständig nach Bonn und umgekehrt. Den Sowjets behagte dieses Tempo nicht. Immer wieder baten Gorbatschow, aber auch Thatcher Bundeskanzler Kohl, diesen Prozess nicht zu überdrehen. Im Kreml kam man zu der alarmierenden Erkenntnis: „Wir haben den Zug fast verpasst!“ 870 KGB-Chef Krutschkow musste in einem Gespräch mit Robert Gates, Vize-Chef des „Nationalen Sicherheitsrates“ der USA, eingestehen: „Unser Volk muss langsam an die Wiedervereinigung Deutschlands gewöhnt werden“. 871 So formierten sich die „EinheitsGegner“ bzw. diejenigen, die die Einheit, wenn schon nicht mehr verhindern, in jedem Fall aber an straffe Bedingungen knüpfen wollten. Die „Germanisten“ wollten und mussten vor den Besuchen des US-Außenministers und der beiden Bonner Politiker Genscher und Kohl versuchen, Gorbatschow auf eine harte Linie zu bringen. Bisher hatte der Generalsekretär allen Ideen und Gedankenspielen lediglich zugehört. In
869 Ebda. 870 Sitzung mit Gorbatschow am 26. Januar 1990, in: Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 288. 871 Memorandum Gespräch Gates / Krutschkow 9. 2. 1990; in Internet: www.document cloud . org / documents / 3242112 - Document - 4 - Gates - Kryuchkov - Memcon - KGB . html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
200
Kapitel 7
keinem Falle hatte er die Aussagen der westlichen Gesprächspartner beantwortet und mit einer Bedingung verknüpft. Die Tage zu Beginn des Februar 1990 mussten also Klarheit in der Positionierung der Sowjets und auch auf der US- und bundesdeutschen Seite bringen. Bis jetzt stand nur fest: – Die Sowjetunion war im Grundsatz für die Vereinigung der deutschen Staaten. Diese Vereinigung sollte im Prozess der Bildung eines „Gesamteuropäischen Sicherheitssystems“ (Europäisches Haus) zeitgleich erfolgen. – Im Rahmen der Errichtung dieses neuen „Europäischen Sicherheitssystems“ sollten die Blöcke NATO und Warschauer Pakt aufgehen. – Die beiden deutschen Staaten könnten sich aber vorher zu einer „Konföderation“ oder „Föderation“ vereinigen. (siehe Modrow-Plan; ZehnPunkte-Plan von Kanzler Kohl) – Die NATO dehnt sich bei der Wiedervereinigung nicht nach Osten auf das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR aus. (Genscher-Plan, übernommen von US-Außenminister Baker und Kanzler Kohl Anfang Februar, nach wenigen Tagen aufgegeben) – Der Genscher-Plan wird nach Vorschlägen von NATO-Generalsekretär Wörner zeitgleich mit Genscher auf Drängen von US-Präsident Bush wesentlich geändert. Das wiedervereinigte Deutschland (BRD + DDR + Berlin) gehört in Gänze der NATO an. Das Bündnis hätte sich dann nach Osten ausgedehnt. – Die Sowjetunion lehnt weiter alle Pläne ab, die NATO nach Osten auszudehnen, gesteht aber den Deutschen die Einheit zu, falls das vereinte Deutschland neutralisiert und demilitarisiert wird. BRD und USA lehnen das ab. Die DDR stimmt (noch) zu. Ein Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz darf unter keinen Umständen erfolgen. Valentin Falin war wohl der einzige auf östlicher Seite, der eine Zustimmung zur Wiedervereinigung ablehnte, wenn nicht zuvor alle Fragen, die die Sowjetunion betrafen, geklärt sein würden. Falin sah, dass ein Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz automatisch die Vollmitgliedschaft der NATO für das vereinte Deutschland bedeuten würde. Gegenüber dem Kreml-Chef wurde er deutlich: Ich versuchte, Gorbatschow vor Augen zu führen, dass die Einverleibung des DDR-Gebietes in den Geltungsbereich der NATO lediglich eine Zwischenstation bei der Ausdehnung des Nordatlantikblocks nach Osten sein werde. 872
872 Falin, Konflikte im Kreml, S. 178.
Vorsichtiges Umdenken an der Moskwa
201
Daher verlangte er von Gorbatschow, wenn schon nicht die Forderung an die BRD nach dem Austritt aus der NATO Erfolg haben würde, dass er dann zumindest den Verzicht auf Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz und Wiedervereinigung auf dem Vertragswege nach Artikel 146 Grundgesetz einfordert. Das schrieb Falin dem Generalsekretär in Vorbereitung des Besuches von Baker und Kohl im Februar 1990. Er forderte, der Einheit Deutschlands nur unter Bedingungen zuzustimmen. 873 Gorbatschow erhielt diese Nachrichten, schenkte ihnen aber keine Beachtung. Ohnehin war es nicht auszuschließen, dass Gorbatschow Entscheidungen treffen würde, ohne sie mit seinen Beratern abzustimmen. Alexander Jakowlew, Vorgesetzter von Falin, gab TASS ein Interview. 874 Darin sagte er, dass die „deutsche Frage wiederholt im Politbüro behandelt worden sei, sie erfordere intensives Nachdenken. Zurzeit gäbe es eine sehr aktive politische und diplomatische Betriebsamkeit. Noch aber könne man keine endgültigen Schlüsse ziehen“. 875 In Bonn wurde am 5. Februar 1990 eine „Tischvorlage“ des Chefs des Bundeskanzleramts für die Kabinettsitzung am 7. Februar 1990 verteilt. Unter Punkt 2 („Aussprache zu deutschlandpolitischen Fragen“) wurde von „konföderativer Zusammenarbeit“ gesprochen, das Wort „Einheit“ noch vermieden. In einer solchen Konstellation würden BRD und DDR jeweils in ihren Bündnissen verbleiben, die NATO-Frage ergäbe sich nicht. Entscheidend war aber, dass der Vereinigungsprozess auf der praktischen Ebene jetzt vorangetrieben wurde und nun Fakten geschaffen wurden. Kurz gefasst enthielt die Vorlage folgende Punkte: 1. Die Entwicklung in der DDR hat sich in den letzten Wochen dramatisch beschleunigt. Die Frage der Einheit Deutschlands ist das beherrschende Thema geworden. Alle politischen Kräfte in der DDR bekennen sich mittlerweile zu diesem Ziel. Auch Ministerpräsident Modrow hat erkannt, dass die Perspektive der staatlichen Einheit nicht verschlossen werden darf, und hat sich unter dem Druck der Entwicklung in seiner am 01.02. vorgeschlagenen „Konzeption für den Weg zu einem einheitlichen Deutschland“ dieses Ziel zu eigen gemacht. Nach dem 18. März (Volkskammer 876) müssen wir kurzfristig Gespräche über die konföderative Zusammenarbeit der beiden Staaten in Deutschland im Hinblick auf ihr weiteres Zusammenwachsen aufnehmen. 2. Es wird folgender Beschluss vorgeschlagen:
873 874 875 876
Ebda., S. 164 ff. TASS, 7. Februar 1990, zit. n. Biermann S. 407. Ebda. Gemeint sind die Wahlen zur Volkskammer der DDR.
202
Kapitel 7
Es wird ein Kabinettsausschuss ‚Deutsche Einheit‘ unter Vorsitz des Bundeskanzlers gebildet. Dazu gehören alle wichtigen Minister. Beginn der Sitzungen: 07. Februar 1990 um 17.00 Uhr. Und das soll besprochen und in die Wege geleitet werden: – Bildung einer Währungsunion, Finanzfragen – Entwicklung der Wirtschaftsunion, Energie und Umwelt, Infrastruktur in der DDR – Angleichung der Arbeits- und Sozialordnung – Rechtsfragen, insbesondere Rechtsangleichung – Staatsstrukturen und öffentliche Ordnung – Außen- und sicherheitspolitische Zusammenhänge 877
Ministerialdirigent Peter Hartmann wandte sich an Kanzler-Berater Teltschik und übermittelte ihm einen aufschlussreichen Bericht über ein Gespräch, das er mit John Weston, dem politischen Direktor im britischen Außenministerium, geführt hatte. Weston hatte sich nach seiner Einschätzung der innerdeutschen Entwicklung erkundigt und dann wissen wollen, wie die Bundesrepublik sich zu einer Konferenz der vier Siegermächte unter Beteiligung der beiden deutschen Staaten stellen würde, die die jetzt sich abzeichnende Entwicklung begleiten sollte. Weston stellte mit großem Nachdruck heraus, dass nach britischer Auffassung spätestens bei Beginn von Verhandlungen über konföderative Strukturen eine Befassung der vier Siegermächte erforderlich sei, da hiervon deren Rechte und Verantwortlichkeiten für Berlin und Deutschland als Ganzes unmittelbar betroffen seien. Weston ließ durchblicken, dass dies auch die Auffassung der Sowjetunion und, wie er hinzufügte, wahrscheinlich auch der zwei anderen westlichen Mächte sei. Hartmann entgegnete dem Briten, bei einer abschließenden Regelung der deutschen Frage müsse in der Tat auch das Berlin-Problem angegangen werden, und hier kämen die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte ins Spiel. Der jetzt in Gang kommende Prozess einer Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten und einer möglichen vertraglichen Regelung bestimmter Zwischenstufen oder auch von Fragen der wirtschaftlichen und monetären Zusammenarbeit vollziehe sich dagegen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes. Er sehe rechtlich in diesem Stadium keine Grundlage für eine Befassung der Vier Mächte. Aus politischer Sicht würde damit sogar der fatale Eindruck erweckt, dass den Deutschen von außen Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes auferlegt würden. Hartmann weiter: „Weston insistierte zunächst nachdrücklich und wurde erst nachdenklich,
877 Deutsche Einheit, Dok Nr. 161, S. 759.
Vorsichtiges Umdenken an der Moskwa
203
nachdem ich ihm die Frage stellte, ob es aus seiner Sicht denn wirklich politisch opportun sei, der Sowjetunion ein direktes Mitspracherecht bei dem sich jetzt anbahnenden Prozess einzuräumen. Wir könnten doch auf westlicher Seite kein Interesse haben, dass die Sowjetunion beispielsweise formell ihre Vorstellungen einbringen könne, wenn es um die schrittweise Einbeziehung der DDR in die EG gehe oder um die noch schwierigere Frage des künftigen Sicherheitsstatus. Dies seien Fragen, die wir zunächst unter uns in der EG oder im Bündnis ausdiskutieren müssten.“ Weston verwies abschließend auf die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bei einer Grenzregelung. Im Übrigen meinte er, es müsse doch für die Bundesregierung sehr hilfreich sein, wenn sie sich beispielsweise gegenüber dem Bundesverfassungsgericht in der Frage der polnischen Westgrenze auf eindeutige Vorgaben der Vier Mächte berufen könne. Zu diesem Zeitpunkt war man sich in Bonn nicht völlig sicher über die Haltung der Verbündeten. Eines wollten der Kanzler und seine Vertrauten um jeden Preis vermeiden: Dass die vier Siegermächte über das Schicksal eines vereinten Deutschland mitreden oder dies sogar mitgestalten wollten. Kanzler Kohl kurz und knapp: „Wir brauchen keine vier Hebammen.“ 878 Am 6. Februar 1990 trafen sich Außenminister Genscher und sein britischer Amtskollege Douglas Hurd in Bonn. Genscher stellte dabei klar: 879 „Wir selbst wollten das NATO-Territorium nicht ausdehnen, wir wollten aber auch nicht die NATO verlassen. Unseres Erachtens müssten beide Bündnisse Bestandteile der gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur werden.“ 880 Ergänzend meinte er: „Der Westen könne vieles tun, um die derzeitigen Entwicklungen für die Sowjetunion zu erleichtern. Wichtig sei insbesondere die Erklärung, dass die NATO nicht beabsichtige, ihr Territorium nach Osten auszudehnen. Eine solche Erklärung dürfe sich nicht nur auf die DDR beziehen, sondern müsse genereller Art sein. Beispielsweise brauche die Sowjetunion auch die Sicherheit, dass Ungarn bei einem Regierungswechsel nicht Teil des westlichen Bündnisses werde.“ 881 878 Teltschik, S. 105. 879 Die Einheit, Dok Nr. 45, S. 230 ff.; in Internet: Bericht von Hurd über Gespräch mit Genscher vom 6. 2. 1990: https://nsarchive2.gwu.edu//dc.html?doc=4325676Document-02-Mr-Hurd-to-Sir-C-Mallaby-Bonn (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 880 Dies hatte Genscher bereits so in seiner Rede von Tutzing am 31. Januar 1990 formuliert. 881 Die Einheit, Dok Nr. 45, S. 232. Im britischen Protokoll (DBPO, German Unification, Dok 129, S. 262) ist statt Ungarn Polen benannt. So heißt es im Original: „The Russians must have some assurance that if, f.e., the Polish Government left the Warsaw Pact one day, they would not join NATO the next.“ Archiv des Auswärtigen Amtes, PA AA, B 31, Bd. 178054.
204
Kapitel 7
Hier wurde zum ersten Mal der Gedanke ausgesprochen, dass sich Staaten aus dem im Februar 1990 noch bestehendem „Warschauer Vertrag“ der NATO anschließen könnten. Dafür sollte die NATO eine „Erklärung“ vorbereiten, so die beiden Außenminister. „Diese Fragen machen aber eine rechtzeitige Diskussion im Bündnis erforderlich“, so Hurd. Und Genscher ergänzte: „Es spreche nichts dagegen, die militärischen Aspekte bereits jetzt in der NATO zu diskutieren. Selbstverständlich könne man schon untersuchen, was die Entwicklungen in Polen, der CSSR, Ungarn und der DDR für die Bedrohungsanalyse und das Kräfteverhältnis zwischen den Bündnissen bedeute.“ Sie waren sich auch einig darin, dass „Deutschland keinen Status bekommen solle, der es aus Europa herausnehme“. Das wäre nach dem Plan von Modrow „Für Deutschland, einig Vaterland“ der Fall. 882 Der britische Außenminister erklärte, dass die Position Genschers, wonach es keine Ausdehnung der NATO nach Osten geben sollte, für „ihn akzeptabel“ sei. 883 Es komme jetzt darauf an, so Hurd, „der Sowjetunion im Rahmen des KSZE-Prozesses das Angebot einer Stabilitätspartnerschaft zu machen, das eine Kräfteverschiebung in Europa ausschließe“. 884 Dieses Gespräch zwischen zwei Ministern, deren Länder beide der NATO angehörten, hatte lediglich einen unverbindlichen Charakter und kann nicht als Versprechen gegenüber einem Dritten, in diesem Fall der Sowjetunion, gewertet werden. Eine solche Erklärung, wie sie Genscher vorgeschlagen hatte, wurde nie wiederholt oder gar öffentlich bekundet. Zumal auch in der Zusammenfassung des Gespräches für Genscher, die sein Ministerbüro anfertigte, rechts oben handschriftlich vermerkt ist: „Von BM (Bundesminister) noch nicht gebilligt“. 885Allerdings wiederholte Hurd diese Aussage in seiner Information für den britischen Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby vom 6. 2. 1990. 886 Im Rahmen der Reisediplomatie traf US-Außenminister Baker am 7. Februar 1990 in Moskau ein. Tags darauf hielt NATO-Generalsekretär Manfred Wörner in Hamburg eine Rede. Am 9. Februar 1990 schrieb US-Präsident George Bush Bundeskanzler Helmut Kohl einen Brief. Am selben Tag traf Baker Michail Gorbatschow in Moskau, und am 10. Februar 1990 landete Kohl, wie bereits erwähnt, in Moskau. 882 883 884 885
Die Einheit, Dok Nr. 45, S. 233 und Anm. 15. Ebda., S. 234. Ebda. Besuch des britischen Außenministers Douglas Hurd am 6. Feb. 1990. Die Einheit, Dok Nr. 45, S. 230 886 Mr. Hurd to Sir C. Mallaby (Bonn). Telegraphic N. 85: Secretary of State’s Call on Herr Genscher: German Unification. elexnr. 129/85; in Internet: https://nsarchive2. gwu.edu//dc.html?doc= 4325676-Document-02-Mr-Hurd-to-Sir-C-Mallaby-Bonn (letzter Zugriff: 6. 6. 2020).
Vier Tage der Bewegung
205
Vier Tage der Bewegung In diesen vier Tagen – vom 7. bis 10. Februar 1990 – sollte sich die Position zur NATO-Mitgliedschaft und der DDR grundlegend ändern. Nun war der Kreml am Zuge. So war der Ablauf dieser vier Tage: Am 7. Februar 1990 favorisierte Baker noch den „Genscher-Plan“: Keine Ausdehnung der NATO gen Osten. So trug er es auch dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse vor. Baker ahnte nicht, dass Brent Scowcroft diese Formel für „gefährlich“ hielt. „Das war eine unglückliche Konzession an Genscher, die uns eine Reihe schwerer Probleme bescheren konnte. Die Koalitionsregierung in Bonn machte auswärtige Politik jetzt kompliziert.“ 887 Am 8. Februar 1990 sprach NATO-Generalsekretär Manfred Wörner 888 vor dem „Überseeclub“ von einem „besonderen Status“ des DDR-Gebietes. 889 Er führte u. a. aus: Die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion können durch verschiedene Maßnahmen berücksichtigt werden: Stärkere Abrüstung, Abzug von Truppen, stärkere Partnerschaft zwischen Sowjetunion und NATO, Ausdehnung der KSZE-Politik. Deutschland als NATO-Mitglied könnte aber einen „militärisch besonderen Status“ (im Wortlaut: „Special military status for the territory of the GDR, or perhaps an agreement not to extend military integration to that territory“) auf dem Gebiet der DDR bekommen oder aber auch vielleicht eine Vereinbarung, die Integration zu beschränken. 890
Genschers Vorstellung, die NATO nicht auszudehnen, stimmte mit der Idee einer „Sonderzone“ nicht überein. Gab es keine „Ausdehnung“ der NATO, konnte es dort zwangsläufig auch keine NATO-Soldaten geben. Anders wäre es in einem Gebiet mit einem „besonderen Status“, denn dort könnten sehr wohl Soldaten stationiert werden, wenn auch mit „besonderem Status“. 891 Moskau wollte als „große“ Lösung den Austritt des vereinten Deutschland aus der NATO sehen. Als „kleine“ Lösung war nach dem Genscher-Plan angedacht, dass das Gebiet der dann früheren DDR nicht der NATO angehört, sondern demilitarisiert würde und einen neutralen Status bekäme.
887 Bush / Scowcroft, S. 237. 888 Wörner traf am 10. Februar 1990 George Bush in Washington, mit dem er die neue Formel diskutierte. 889 Auszug aus der Rede von NATO-Generalsekretär Wörner am 8.2.90 im Übersee-Club in Hamburg. NATO – Service: https://www.nato.int/docu/speech/1990/ s900208a_e.htm (letzter Zugriff: 6. 6. 2020). 890 Speech by Secretary General, Manfred Wörner at the Uberseeclub; in Internet: http:// nato.int/docu/speech/1990/s900208a_e.htm (letzter Zugriff:14. 5. 2020). 891 Zelikow / Rice, S. 252.
206
Kapitel 7
Bush hatte mittlerweile in Washington zwei Prüfaufträge erteilt. Es ging darum, juristische Möglichkeiten zu erkunden, die NATO auf ein vereintes Deutschland auszudehnen und welches die Konsequenzen bei einer vollen NATO-Mitgliedschaft wären. 892 In einem der Vorschläge, die von den NSC-Mitarbeitern Blackwill und Zelikow stammten, wurde betont, es sei notwendig, NATO-Mitgliedschaft, US-Truppenpräsenz und nukleare Abschreckung auf jeden Fall beizubehalten. Außerdem wurde eine neue Lösung des NATO-Problems vorgeschlagen: Das Gebiet der DDR sollte nicht durch die NATO geschützt werden, sondern Gegenstand von Beistandsverpflichtungen sein, die die USA, Großbritannien, Frankreich außerhalb des NATO-Vertrages gegenüber Bonn abgeben sollten. 893 Aber die beiden Berater hatten auch den Wörner-Text gelesen und arbeiteten ihn nun in den Vorschlag für Bush ein. So entstand am 9. Februar 1990 die Formulierung: „Eine Komponente der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland im Atlantischen Bündnis könnte ein besonderer militärischer Status des heutigen Territoriums der DDR sein.“ 894 Der Sonderstatus für die Ex-DDR hätte bedeutet, dass die Verteidigungsverpflichtung der NATO für ganz Deutschland gelten würde. Es war undenkbar, dass die sowjetischen Truppen in einem unter NATO-Schutz stehenden Gebiet verbleiben könnten. Die USA gingen daher davon aus, dass sie abziehen würden. 895 Präsidenten-Berater Scowcroft erkannte, dass der Vorschlag „sich grundlegend von dem Genscher-Plan unterschied. Jetzt gehörte ganz Deutschland zur NATO, auch das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR“. „Dies war eine kritische Korrektur und hatte zum Ziel, dass Gorbatschow uns nicht in den Genscher-Knoten einwickeln konnte.“ 896 Über den Erfolg dieser Wendung waren sich Bush und seine Berater nicht sicher. „Wir waren ganz schön nervös. Wir hatten großes Vertrauen in Kohl. Aber was würde passieren, wenn Gorbatschow nicht nachgeben würde? Wir konnten die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Gorbatschow Kohl austesten oder gar bedrohen würde.“ 897 In den USA hatte man übersehen, dass bei Anwendung von Artikel 23 Grundgesetz die dann nicht mehr existierende DDR ohnehin automatisch zum NATOGebiet gehören würde. Dies hatte Valentin Falin gesehen und den KremlChef entsprechend gewarnt. 898
892 893 894 895 896 897 898
Ebda., S. 264. Ebda., S. 263 f. Ebda., S. 265. Beschloss / Talbott, S. 247; Teltschik, S. 135. Bush / Scowcroft, S. 241. Ebda. Falin: Konflikte, S. 197.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
207
Am 10. Februar 1990 traf Kanzler Kohl in Moskau Michail Gorbatschow. Kohl erklärte nach seiner Rückkehr in Bonn: „Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmissverständlich zugesagt, dass die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird, und dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen. Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns ebenfalls einig, dass die deutsche Frage nur auf der Grundlage der Realitäten zu lösen ist: das heißt sie muss eingebettet sein in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozess der West-Ost-Beziehungen. Wir müssen die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und unserer Freunde und Partner in Europa und in der Welt berücksichtigen. Es liegt jetzt an uns Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, dass wir diesen gemeinsamen Weg mit Augenmaß und Entschlossenheit gehen. Generalsekretär Gorbatschow und ich haben ausführlich darüber gesprochen, dass auf dem Wege zur deutschen Einheit die Fragen der Sicherheit in Europa herausragende Bedeutung haben. Wir wollen die Frage der unterschiedlichen Bündniszugehörigkeit in enger Abstimmung auch mit unseren Freunden in Washington, Paris und London sorgfältig beraten, und ich bin sicher, dass wir eine gemeinsame Lösung finden.“ 899
Annäherung Bonn – Ost-Berlin Die beiden Staaten BRD und DDR rückten derweil schneller zusammen, als dies zu erwarten gewesen war. Schon am 19. November 1989, also nur zehn Tage nach dem Mauerfall, hatten erste konkrete Vorschläge auf dem Tisch gelegen. So las sich eine Notiz von diesem Tag über die künftige „Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ aus dem Bundesministerium für Wirtschaft: 900 1. Je früher in der DDR Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft vollzogen werden, desto schneller können die Möglichkeiten einer vertieften wirtschaftlichen Zusammenarbeit genutzt werden, das gilt insbesondere für die Bereitschaft unserer Wirtschaft zur umfassenden Kooperation mit DDR-Betrieben. Damit verbunden wäre ein erheblicher Kapital- und Sachtransfer (Übertragung von Technologie und Knowhow), der in der DDR rasch zu positiven Wirtschaftsergebnissen führen könnte. Insbesondere sind Firmen aus der Bundesrepublik bereit, durch Direktinvestitionen, auch mit Joint Ventures, zur Modernisierung der DDR-Wirtschaft schnell beizutragen. Die Intensivierung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen muss Hand in Hand gehen mit dem Abbau prohibitiver Reglementierungen der unterneh-
899 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 24,13. 2. 1990. 900 Deutsche Einheit, Dok Nr. 96A, S. 559.
208
Kapitel 7
merischen Betätigung in der DDR selbst. Die volle Entfaltung der in der DDR vorhandenen privatwirtschaftlichen Möglichkeiten, insbesondere in Handwerk, Handel und Dienstleistungsbereichen, setzt Gewerbefreiheit, Einführung eines leistungsstimulierenden Steuersystems und die Abschaffung von Beschränkungen, die der Privatinitiative entgegenstehen, voraus. 2. Die Wirtschaft erwartet ein wirtschaftspolitisches Umfeld mit grundlegenden Reformen, die die Leistungskraft und Flexibilität der DDR-Betriebe erhöhen. Neben grundlegenden Reformen sollten unverzüglich Beschränkungen abgebaut werden, die den Wirtschaftsverkehr behindern. Es geht insbesondere um die Möglichkeit von uneingeschränkten Direktkontakten, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Geschäftsleuten, den Abbau aller Hemmnisse für Kooperationsbeziehungen (Kooperationen sollten nur von wirtschaftlichen Gesichtspunkten abhängen), die Übertragung von Verhandlungs- und Abschlussvollmacht auf die produzierenden Betriebe, die Abschaffung der Einschaltung von zwangsweisen Vertretern, die Sicherstellung der notwendigen Flexibilität etwa bei Zulieferungen für Betriebe, die ungehinderte Zusammenarbeit der Mitarbeiter, auch bei Beratung und Schulung, die Beseitigung der Konzentration der Verkäufe der DDR auf nur wenige Firmen in der Bundesrepublik. 901
Die Bundesregierung sei bereit, so hieß es in dem Papier weiter, aufgrund der Erfahrungen mit anderen Ländern beratend zu helfen. Bilateral sollte insbesondere die Frage des Investitionsschutzes geregelt werden. Auf diese Weise würde für den Handel ein besseres Klima und eine neue Vertrauensbasis geschaffen werden. Der Sonderstatus des Handels innerhalb der EG werde auch in Zukunft bestehen bleiben. Bei einer grundlegenden Änderung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der DDR sei die Bundesregierung zu einer neuen Dimension der Zusammenarbeit bereit. Als besondere Schwerpunkte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurden die Bereiche Energie, Umwelt und Tourismus genannt. Grundsätzlich wurde der DDR-Vorschlag begrüßt, eine gemeinsame Wirtschaftskommission einzuberufen. Im Übrigen ging die Bundesregierung davon aus, „dass die Schwierigkeiten hinsichtlich einer Tagung in Berlin (West) ausgeräumt sind“. 902 In Bonn hielten die führenden Politiker eine baldige Zusammenarbeit oder gar ein Zusammengehen der beiden Staaten für möglich. Anders dagegen sah es die DDR-Führung. Bundesinnenminister Rudolf Seiters traf am 20. November 1989 in Berlin zum ersten Mal auf eine große Regierungsdelegation der DDR. Ihr gehörten u. a. der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz, 903 Ministerpräsident Hans Modrow und Alexander Schalck-
901 Deutsche Einheit, Dok Nr. 96A, S. 559. 902 Ebda. 903 Am 6. Dezember 1989 gab Krenz den Vorsitz des Staatsrates ab.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
209
Golodkowski an. Fast drei Stunden wurde debattiert, davon 45 Minuten unter sechs Augen: Krenz, Modrow und Seiters. Krenz erkannte sofort, dass Seiters nicht zum Verhandeln gekommen war, sondern dass der Minister aus Bonn einen „Forderungskatalog“ 904 vorlegen wollte. Krenz hatte offenbar nicht verstanden, was seit dem 9. November in der DDR geschehen war. So meinte er weiterhin, die DDR bleibe ein souveräner sozialistischer Staat. Öffentlich erteilte Ratschläge sollten vermieden werden. Die Wiedervereinigung Deutschlands stehe nicht auf der Tagesordnung. Die DDR mache die Grenzen durchlässiger, das heiße aber nicht, dass die Grenzen in Frage gestellt würden. Das gelte auch für die Sektorengrenzen in Berlin. 905 Die Formen der Zusammenarbeit wurden dennoch konkreter. Im (von Bonn angefertigten) Protokoll hieß es: Die Gesprächsatmosphäre war sachlich und aufgeschlossen. Seitens der DDR wurden bestehende Probleme mit erstaunlicher Offenheit angesprochen, wobei insbesondere Modrow deutlich erkennen ließ, dass er ihre Dimension selbst noch nicht immer voll übersieht, sich aber der Komplexität und Schwere der vor ihm liegenden Aufgaben durchaus bewusst ist. Deutlich war gerade bei ihm die Bereitschaft, einen neuen Anfang zu machen und dafür auch vieles in den bestehenden Strukturen in Frage zu stellen. Freie Wahlen zur Volkskammer sollten zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 1991 stattfinden. Die Entwicklung der Beziehungen zu uns (Bonn) nimmt in den Überlegungen der DDR-Führung offensichtlich einen zentralen Platz ein (Krenz: „von der Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden zu einer Vertragsgemeinschaft für die Beziehungen“). Wenngleich Krenz die Eigenständigkeit der DDR betonte und Bestrebungen zur Wiedervereinigung als nicht aktuell bezeichnete, gingen sowohl er als auch Modrow von der Besonderheit der deutsch-deutschen Beziehungen aus; Berlin betreffende Fragen wurden ohne auch nur angedeutete Vorbehalte in das Gespräch einbezogen. [. . . ] Modrow betonte im Übrigen die Notwendigkeit einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die DDR wünscht insbesondere eine langfristige Zusammenarbeit bei größeren Umweltprojekten. Bundesminister Seiters wiederholte die Bereitschaft der Bundesregierung zu umfassender Hilfe und Zusammenarbeit unter der Voraussetzung eines grundlegenden politischen Wandels und der notwendigen wirtschaftlichen Reformen in der DDR. 906
Schon kurz zuvor, am 17. Oktober 1989, war Ex-Kanzler Brandt in Moskau. Über den Besuch unterrichtete Brandts Mitarbeiter und Büroleiter Klaus Lindenberg Horst Teltschik. Dieser formulierte daraus eine Notiz für
904 Krenz, S. 303. 905 Ebda. und Deutsche Einheit, Dok Nr. 96, S. 553. 906 Deutsche Einheit, Dok Nr. 96, S. 550.
210
Kapitel 7
Kohl. Darin heißt es: „In Washington sehe man die Möglichkeiten, dass die UdSSR zum Taufpaten der deutschen Wiedervereinigung werden könne. Unter Umständen wollten die USA dabei der Sowjetunion zuvorkommen. [. . . ] Brandt habe das Verhältnis beider Staaten angesprochen und von einem gemeinsamen Dach gesprochen, wenn die gesamte Entwicklung in Europa positiv verläuft. Gorbatschow habe darauf geantwortet: ‚Wir wollen darüber nachdenken.‘ “ 907 Ende 1989 war das Thema „Wiedervereinigung“ – in welcher Form auch immer – bei allen westdeutschen Politikern präsent. Frankreichs Präsident Mitterrand und Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher waren sich zwar einig darin, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglichst lange zu blockieren, doch den Gang der Geschichte konnten sie nicht aufhalten. In Moskau war es schwieriger, weil die Berater von Gorbatschow und auch er selbst davon ausgingen, dass ihre Sowjetunion stark genug sei, um den Gang der Geschichte allein bestimmen zu können. 908 Die „Macht“ der ehemaligen Roten Armee, die in der DDR stationiert war und nun GSSD hieß – Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland –, so glaubte Gorbatschow, sei allein schon Garantie genug, um nichts geschehen zu lassen, was dem Kreml nicht passte. In einer Sitzung seines Beraterkreises am 26. Januar 1990 in Moskau sagte der Kreml-Chef: „Das Wichtigste ist, dass niemand damit rechnen sollte, dass ein vereinigtes Deutschland in die NATO eintritt. Die Anwesenheit unserer Streitkräfte wird das nicht zulassen.“ 909 Im Kreml glaubte man deswegen schon gar nicht, dass sich die DDR selbst auflösen könnte. Für die Bonner Regierung unter Kanzler Kohl kam es Ende 1989 darauf an, die Entwicklung, die durch den Mauerfall am 9. November 1989 in Gang gekommen war, in Bewegung zu halten. Das hieß zuallererst: den Gedanken an die Vereinigung der beiden Staaten in die Tat umzusetzen. Dies geschah mit einer Geschwindigkeit, die alle Beteiligten wie Frau Thatcher, Präsident Mitterrand und vor allem auch Gorbatschow in Erstaunen und / oder Verärgerung versetzte. Kohl aber wollte Fakten schaffen. So fanden pausenlos Gespräche zwischen DDR-Vertretern und der Bonner Regierung statt. Schon am 10. November 1989, nur Stunden nach der Maueröffnung, schrieb Finanzminister Theo Waigel an Kohl: „Wir müssen sehr rasch in der Lage sein, unsere Vorstellungen zu konkretisieren. [. . . ] Ich halte es
907 Deutsche Einheit, Dok Nr. 98, S. 564. 908 Vgl. Baker, S. 184. 909 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 287.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
211
für notwendig, unverzüglich eine interministerielle Arbeitsgruppe mit der Erarbeitung konkreter Vorschläge zu beauftragen.“ 910 Fast täglich telefonierte Kohl nach dem 9. November 1989 mit den Staatschefs in der westlichen Allianz, aber auch mit der SED-Führung unter Egon Krenz und mit Staatspräsident Gorbatschow. Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, Staatssekretär Franz Bertele, unterrichtete Bonn ebenfalls täglich über die Geschehnisse in der DDR. 911 Mit Polen gab es sehr intensive Kontakte. Der Kanzler wollte um jeden Preis den Eindruck vermeiden, das vereinte Deutschland könne irgendwelche territorialen Ansprüche an Polen haben. 912 Kohl betonte immer wieder: „Von dieser Entwicklung in Deutschland gibt es für unsere Nachbarn keinen Grund für Angst oder Besorgnis. (. . . ) Besorgnisse, dass die polnischen Grenzen gefährdet werden könnten, würden unter der Hand immer wieder vorhanden sein. 913 Es müsse im gemeinsamen Interesse liegen, diesen emotionalen Zünder abzuschrauben.“ 914 Am 14. November 1989 traf sich Kohl mit dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Am 17. November telefonierte Kohl mit Bush. Am 18. November 1989 trafen sich alle Staats- und Regierungschefs der EU in Paris, am 20. November 1989 konferierte Minister Rudolf Seiters mit der SED-Führung in Berlin. Bei diesem Treffen waren sich alle einig: Wir wollen zusammenkommen. Für DDR-Staatschef Krenz sollte sich dieses „Zusammenkommen“ in Form einer „Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden und einer Vertragsgemeinschaft für die Beziehungen“ vollziehen. 915 Dabei betonte Krenz allerdings, dass „die Bestrebungen zur Wiedervereinigung nicht aktuell seien. [. . . ] Die DDR bleibe ein sozialistischer Staat und die DDR sei ein souveränes Land.“ 916 DDR-Ministerpräsident Modrow betonte die Notwendigkeit einer „umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit. [. . . ] Die Entwicklung in der DDR verlaufe in einem beachtli910 911 912 913
Deutsche Einheit, Dok Nr. 84, S. 510. Deutsche Einheit, Dok Nr. 88, S. 517. Deutsche Einheit, Dok Nr. 89, S. 519. Diese Besorgnis leitete sich aus Artikel IX des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 ab. Danach sollte die „endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedensregelung zurückgestellt werden“. Bis dahin sollten die ehemals deutschen Gebiete westlich der Oder und Neiße mit Ausnahme des sowjetisch verwalteten Teiles Ostpreußen „der Verwaltung des polnischen Staates unterstellt sein“. Siehe „Potsdamer Vertrag“; Internet: http://www.documentarchiv.de/in/1945/potsdamerabkommen.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 914 Deutsche Einheit, Dok Nr. 89, S. 521. So Kohl in einem Gespräch mit dem polnischen Staatspräsidenten Jaruzelski am 10. November 1989. 915 Deutsche Einheit, Dok Nr. 96, S. 550. 916 Ebda., S. 551.
212
Kapitel 7
chen Tempo“. 917Am Schluss dieses Treffens wurde auch der Plan für freie Wahlen zur Volkskammer besprochen. Bundesminister Seiters erinnerte die DDR-Führung daran, dass weitere Hilfen für die DDR auch vom Zeitpunkt dieser „freien Wahl“ abhängig gemacht würden. 918 Dabei war für die Bundesregierung klar, dass die SED nach wirklich freien Wahlen nicht mehr Regierungspartei sein würde. Obwohl Krenz immer wieder betonte, die „Wiedervereinigung“ sei kein Thema, war die bundesdeutsche Politik darauf angelegt, möglichst schnell Fakten realer Zusammenarbeit zu schaffen. Kohl war bewusst, dass dies in Moskau Ärger machen würde. So schrieb er dem amerikanischen Präsidenten Bush am 28. November 1989: „Sollte Generalsekretär Gorbatschow diese Haltung der Bundesregierung als Einmischung kritisieren, so wäre ich Ihnen sehr verbunden für die Klarstellung, dass es weder für uns noch für den Westen insgesamt darum gehen kann, eine diskreditierte Führung und unhaltbar gewordene Zustände zu stabilisieren; dass es vielmehr darum gehen muss – entsprechend dem Willen der Bevölkerung selbst – einen tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess von außen abzustützen.“ 919 Wie intensiv Kohl jetzt das Ziel „Wiedervereinigung“ verfolgte, zeigte sich in einer Passage des Schreibens 920 von Kohl an Bush zu eben diesem Aspekt. Er wies noch einmal darauf hin, dass die „Wiedervereinigung Sache der Deutschen bzw. der beiden deutschen Staaten ist“. Damit wollte er jeden Versuch abblocken, die „Wiedervereinigung“ zum Thema einer „Friedensvertrags-Konferenz“ zu machen oder auch nur zur alleinigen Sache der vier Siegermächte von 1945. Und als ob er sich nicht sicher war, dass Bush hinter diesem deutschen Wunsch stehen könnte, mahnte er Bush, „nachdrücklich, keinen Festlegungen zuzustimmen, die als Einschränkung für eine Politik ausgelegt werden könnten [und] auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. 921 Gleichsam um sich selbst, Bush und Gorbatschow sowie Krenz zu beruhigen, betonte Kohl, „dass die Bundesregierung in keiner Weise die jetzt in der DDR entstandene Lage einseitig ausgenutzt habe, um das nationale Ziel der Deutschen in einem Alleingang zu erreichen. Wir haben im Gegenteil unsere unverbrüchliche Treue zum Bündnis bekräftigt und innere aktive Mitarbeit an der europäischen Integration noch verstärkt.“ 922 917 918 919 920 921 922
Ebda., S. 555. Ebda., S. 559. Deutsche Einheit, Dok Nr. 101, S. 571. Ebda., S. 567. Ebda., S. 571. Ebda., S. 572.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
213
Kohl erinnerte an seine Zehn-Punkte-Rede im Bundestag und bat Bush, er möge gegenüber Gorbatschow verdeutlichen, dass die darin skizzierte Politik „im besten Interesse auch seines Landes liegt“. 923 Bush selbst bewertete den Zehn-Punkte-Plan als „Anstachelung zur Wiedervereinigung“. 924 Die amerikanische Reaktion darauf war eindeutig: Die USA wollten Kohl verlangsamen, um Gorbatschow nicht zu unbedachten Reaktionen zu provozieren. 925 Der Kanzler übersah im November / Dezember 1989 keineswegs die Gefahren, die in einer schnellen Annäherung an die DDR und im Thema „Wiedervereinigung“ lagen. Gorbatschow hätte mit einem strikten „Nein“ den ganzen Prozess stoppen können. Ohnehin waren im Kreml die meisten der Ansicht, Kohl treibe den Prozess viel zu schnell voran, 926 und einhellig der Auffassung: Selbst, wenn der Bundeskanzler aufs Tempo drückt, würde er keinen Erfolg ohne die Sowjetunion haben, denn sie bestimme die Schnelligkeit in der deutschen Frage. Dieser Prozess sei durch die Sowjetunion steuerbar und „man habe genug Instrumente dafür in der Hand“. 927 In Washington rieten die Berater 928 von Bush dem Präsidenten: Wir verfolgen das Ziel der Wiedervereinigung weiter. Für die Unterstützung des Zehn-Punkte-Plans muss der deutsche Bundeskanzler verbindlich erklären: „Deutschland bleibt in der NATO.“ 929 Dafür musste Gorbatschow etwas geboten werden, wozu er nicht Nein sagen konnte. Was das sein könnte, darüber war im Detail allerdings noch nicht diskutiert worden. Dabei waren sich auch die Westmächte nicht einig, wie Thatcher und Mitterrand demonstrierten. Beide waren „äußerst verstimmt“ über das Verhalten von Kohl. 930 Dieter Kastrup, 931 Staatssekretär im Bonner Auswärtigen Amt, war 1990 „erfüllt von Zorn“ 932, als er erkennen musste, dass die Verbündeten der BRD es gar nicht eilig mit der Unterstützung der Bundesregierung auf dem Weg zur Einheit hatten. Baker traf am 12. Dezember 1989 Kanzler Kohl in Berlin. Baker beschrieb dieses Treffen so: „Ich traf einen leicht irritierten Helmut Kohl. 923 924 925 926 927 928 929 930 931
Ebda., S. 573. Deutsche Einheit, Einführung, S. 65. Ebda. S. 65. Deutsche Einheit, Dok Nr. 94B, S. 546. Deutsche Einheit, Einführung, S. 67. Blackwill, Rice, Zelikow, Ross. Deutsche Einheit, Einführung, S. 67. Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 574. Dieter Kastrup war von 1990–1994 Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Bonn und 1990 Leiter der Verhandlungsdelegation bei den 2 + 4-Gesprächen zur deutschen Einheit. 932 Weinzierl, Alfred und Wiegrefe, Klaus: Wir hatten eine große Portion Glück, Interview mit Dieter Kastrup, Spiegel Nr. 40/2015, S. 46.
214
Kapitel 7
Was ihn wirklich beunruhigte, das waren die bremsenden Signale aus Paris und vor allem London. Die Versuche des Westens, die Vereinigung zu verzögern oder die Wünsche der Ostdeutschen in eine Richtung zu lenken, die knapp an einer Vereinigung vorbeiziele – also beispielsweise in Richtung einer Föderation – hielt er für sehr gefährlich. [. . . ] Die vier Prinzipien von Bush hatten ihn aber beruhigt, Doch Thatcher hatte ihn eindeutig verstimmt.“ 933 Besonders feinfühlige Diplomatie war jetzt gefordert. Denn in einem Punkt waren sich alle einig: Das Tempo der Wiedervereinigung darf die Sicherheit in Europa nicht gefährden. 934 Dies gab Gorbatschow am 8. Februar 1990 im Kreml Baker zu verstehen: „Wir müssen uns den neuen Gegebenheiten anpassen und dürfen nicht passiv bleiben, damit die Stabilität in Europa auf keinen Fall zerstört wird. Nun, für uns ist die Aussicht auf ein vereintes Deutschland genauso wenig erschreckend wie für Sie.“ 935 Baker gewann den Eindruck, dass Gorbatschow davon auszugehen schien, „die Sowjetunion werde für alle Zeiten eine überragende Macht in Europa bleiben – selbst wenn Deutschland vereinigt war“. 936 Trotz aller Beteuerungen des Kanzlers, er übe Zurückhaltung, trieb seine Regierung in Bonn die Verzahnung mit der DDR auf allen Ebenen voran. Die beiden deutschen Staaten rückten immer näher zusammen. Ab 7. Februar 1990 wurde zielgerichtet auf die Vereinigung der beiden Staaten nach Artikel 23 GG hingearbeitet. Am 7. Februar 1990 schrieb Bundesfinanzminister Theo Waigel in Abstimmung mit Kanzler Kohl an die Unions-Fraktion: „Der täglich zunehmende Vertrauensschwund unserer Landsleute in wirtschaftliche Reformen in der DDR macht es erforderlich, schon heute Perspektiven für die Zeit nach den dortigen Wahlen aufzuzeigen. Aus diesem Grunde hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, mit der DDR über eine Währungsunion zu verhandeln. [. . . ] Unser Angebot einer Währungsunion mit der DDR ist ein klares Signal auf dem Weg zur deutschen Einheit, der wir uns verpflichtet fühlen und die unser verfassungsmäßiges Gebot ist.“ 937 Ebenfalls am 7. Februar 1990 wurde offiziell bekanntgegeben, dass die BRD mit der DDR eine „Wirtschaft- und Währungsunion“ anstrebe. 6,87 Milliarden DM (ca. 3,4 Mrd. Euro) wurden als Sofort-Maßnahme für die DDR bereitgestellt. 938 Die Vereinigung sollte über den Beitritt der DDR
933 934 935 936 937 938
Baker, S. 180 ff. Deutsche Einheit: Einführung, S. 68, und Dok Nr. 102, S. 575. Baker, S. 183. Ebda., S. 184. Deutsche Einheit, Dok Nr. 165, S. 766 und Dok Nr. 175 B, S. 768. Deutsche Einheit: Einführung, S. 95.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
215
zum Grundgesetz über Artikel 23 GG erfolgen. Nun musste die DDR sich nur noch bereit erklären, dieses Angebot anzunehmen. Am 14. Februar 1990 nahm der „Ausschuss Deutsche Einheit“ offiziell seine Arbeit auf. 939 Er sollte alle Aktivitäten in Sachen „Vereinigung“ bündeln. Vorsitzender war der Bundeskanzler selbst. Noch am gleichen Tag wurden sechs Arbeitsgruppen eingesetzt. Diese sollten u. a. die Währungsunion (Finanzministerium), die Wirtschaftsunion (Wirtschaftsministerium) und Staatsstrukturen (Innenministerium) vorbereiten. Das aber war nicht so einfach wie gedacht. Die DDR-Regierung unter SED/PDS- 940Ministerpräsident Hans Modrow wollte das Tempo, das Kohl in Bonn vorlegte, nicht mitgehen. Die Vertreter der PDS als Nachfolgepartei der SED wollten es stark verlangsamen. Die reale Lage in der DDR stand dagegen. Die DDR war bankrott. Die DDR-Regierung hatte keine Wahl mehr und musste das Angebot aus Bonn akzeptieren. Ebenfalls am 7. Februar 1990 traf Kohl den polnischen Außenminister Krzystof Skubiszewski. Kohl „schreckte nicht davor zurück, unverblümt von der Einheit Deutschlands zu sprechen“. 941 Skubiszewski widersprach nicht. Der polnische Außenminister war mehr daran interessiert, von Kohl die Zusicherung zu bekommen, keinen Alleingang zu unternehmen. Zudem sollte sich die BRD für die Assoziierung Polens mit der EG einsetzen. Polen wollte nach Jahren der Anbindung an die Sowjetunion nun endlich zum Westen gehören. Schließlich drang der Gast aus Warschau darauf, dass Kohl eine Grenzgarantie aussprach. 942 Zwischen Kanzler Kohl und Außenminister Genscher gab es wegen Polen heftigen Streit. Kohl wollte den von Polen verlangten endgültigen Grenzvertrag erst nach dem Beitritt der DDR, also nach Vollzug der Einheit, durch das neue gewählte gesamtdeutsche Parlament beschließen lassen. Polen wollte bereits in den 2 + 4-Verhandlungen, also vor dem Beitritt, einen endgültigen Beschluss und Vertrag. Dem hatte sich Genscher angeschlossen, der sich schließlich durchsetzte. 943 Mit der ersten freien Wahl zur „Volkskammer“, dem Parlament der DDR, am 18. März 1990 und dem Sieg der Koalition 944, die für den Beitritt nach Artikel 23 GG eintrat, gab es keinen Widerstand mehr gegen 939 Deutsche Einheit, Dok Nr. 182, S. 830. 940 Die SED benannte sich in PDS – Partei des Demokratischen Sozialismus – um, ohne jedoch an ihrer Ideologie etwas zu verändern. 941 Deutsche Einheit: Einführung, S. 93. 942 Deutsche Einheit: Einführung, S. 94. 943 Weinzierl / Wiegrefe in „Spiegel“ Nr. 40/2015, S. 46. 944 Koalition aus der „Allianz für Deutschland“, bestehend aus der Ost-CDU, dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU). Das Wahlbündnis war am 5. Februar gegründet worden und unter dem Motto „Freiheit und Wohlstand – Nie wieder Sozialismus“ zur Wahl angetreten. Die SPD wurde
216
Kapitel 7
eine Vereinigung. Jetzt war dies Ziel und Programm beider Regierungen zugleich. Die Verhandlungen zwischen DDR und BRD bestimmten jetzt das Tempo. BRD und DDR verknüpften sich. Jetzt musste das außen- und sicherheitspolitische Gerüst verhandelt werden. Das war vor allem die Sicherheitsfrage der NATO. 945 Schon elf Tage nach dem Mauerfall standen damit die grundsätzlichen Ausgangspositionen fest: – Die USA befürworteten die Einheit Deutschlands. – Das vereinte Deutschland sollte als Ganzes der NATO angehören. – Die DDR sollte während dieser Prozesse und bis zur Vereinigung (und damit ihrem eigenen Ende) demokratisiert werden. US-Präsident Bush drängte Kohl nicht, „seine Vorstellungen über die Zukunft Deutschlands zu konkretisieren“. 946 Zudem zeigten die übrigen Alliierten der Bonner Republik im November 1989 keine große Begeisterung für die Einheit. London und Paris lehnten sie zu diesem Zeitpunkt, wie mehrfach dargestellt, schlichtweg ab. Premierministerin Margaret Thatcher hielt am 13. November 1989 eine Rede in London, in der sie eine „nüchterne Einschätzung der künftigen Entwicklung“ anmahnte. In einem Brief an Bush schrieb sie: „Wir müssen demonstrieren, dass wir nicht die Absicht haben, die Situation zum Nachteil der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion auszunutzen. Dafür ist es unter anderem notwendig, unsere Ansicht deutlich zu machen, dass die deutsche Wiedervereinigung kein Thema ist, das gegenwärtig behandelt werden muss.“ 947 Vier Tage später rief Thatcher Bush an, um sich zu vergewissern, dass er ihre Botschaft bekommen habe und ob er ihre Meinung teile. Bush antwortete, auch er sei dafür, „die Veränderungen nicht zu schnell vorzunehmen, um die Sowjets nicht unnötig aufzuregen“. 948 Thatcher wurde ihrem Ruf als „Eiserne Lady“ gerecht und beharrte darauf, dass eine „Diskussion der
945 946 947 948
zweitstärkste Kraft mit 21,9 Prozent der Stimmen. Die zur PDS umbenannte SED übernahm mit 16,4 Prozent die Rolle der größten Oppositionspartei. Der „Bund Freier Demokraten“, das liberale Wahlbündnis der drei Parteien Deutsche Forum Partei (DFP), Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP) und Freie Demokratische Partei erhielt 5,3 Prozent der Stimmen. „Neues Forum“, „Demokratie Jetzt“ und die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ hatten sich noch im Februar zum „Bündnis 90“ zusammengeschlossen. Es kam auf 2,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Insgesamt zogen zwölf Listen in die Volkskammer ein; in Internet: http:// www.bpb.de/themen/01MOVB,0,0,18_M%E4rz_1990%3A_Erste_freie_Volkskam merwahl.html. (Letzter Zugriff: 14. 5. 2020). Deutsche Einheit: Einführung, S. 110. Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 574. Ebda. Zelikow / Rice, S. 171.
Annäherung Bonn – Ost-Berlin
217
deutschen Wiedervereinigung verfrüht und unklug wäre“. 949 Der Westen solle „Gorbatschows Wunsch respektieren, die Grenzen des Warschauer Paktes zu behalten“. 950 Die harte Haltung der britischen Premierministerin stieß im Beraterkreis um US-Präsident Bush auf Widerstand. Der „Nationale Sicherheitsrat“ mit Brent Scowcroft an der Spitze „beschwor“ den Präsidenten, sich im Gespräch mit Thatcher nicht auf Formulierungen festlegen zu lassen, „die zwar das deutsche Selbstbestimmungsrecht unterstrichen, die Wiedervereinigung aber als fernes, unerreichbares Ziel erscheinen ließen“ Bush las dies und stimmte zu. 951 Am 24. November 1989 trafen sich Bush und Thatcher in Camp David. Thatcher brachte diverse Argumente gegen ein zu schnelles Vorgehen der Deutschen in Sachen „Einheit“ vor. Bush ging darauf nicht ein, aber er warf einen bemerkenswerten Satz in die Diskussion. Er stellte die Frage: „Was würde passieren, wenn andere osteuropäische Staaten aus dem Warschauer Pakt austreten wollen?“ 952 Seiner Ansicht nach müsse die NATO auch in diesem Fall bestehen bleiben. Dahinter verbarg sich die Frage, ob die NATO Staaten aufnehmen könne und dürfe, die noch dem Warschauer Vertrag angehörten. Der damit verbundene Gedanke einer NATO-Ausweitung blieb vorerst undiskutiert. Doch die Leitlinie der Ost-Politik im Rahmen deutscher Einheitspolitik war dabei, gedanklich gezeichnet zu werden: Jeder Staat, der aus dem Warschauer Vertrag ausscheiden sollte – und zwar durch freiwillige Austrittserklärung – ist bei der NATO willkommen. Nur: dafür war es noch zu früh. Nolens volens freundete sich Gorbatschow mit dem Einheitskurs an. Er schickte seine Emissäre nach Deutschland. Am 24. Januar 1990 gab sein Berater Portugalow 953ein Interview: 954 Die Aussage lautete: „Wenn das Volk der DDR die Wiedervereinigung will, dann wird sie kommen. Wir werden uns in keinem Fall gegen diese Entscheidung stellen, werden uns nicht einmischen.“ Das war die erste Äußerung von einem Berater aus dem engsten Umfeld von Gorbatschow, der die „deutsche Einheit“ als möglich bezeichnete. Kanzler-Berater Teltschik stufte sie als „sensationell“ ein. 955 949 950 951 952 953
Ebda. Ebda. Ebda., S. 547, Anm. 45. Zelikow / Rice, S. 173. Portugalow gehörte zur Abteilung von Falin, dem damals noch engsten Deutschland-Berater von Gorbatschow. Portugalow besuchte regelmäßig Bonn und in Hamburg die Bild-Zeitung. 954 Wenn die Deutschen die Einheit wollen, dann kommt sie auch: Bild, Nr. 20 vom 24. Januar 1990, S. 1. 955 Teltschik, S. 114.
218
Kapitel 7
Strikter Widerstand gegen eine mögliche Wiedervereinigung kam jedoch weiterhin aus London. In einem Bericht für den Kanzler berichtete Teltschik am 25. Januar 1990 kurz und knapp, was man in London dachte. Die „Eiserne Lady“ Thatcher war vehement gegen die Wiedervereinigung Deutschlands. Teltschik berichtete von einem Gespräch Thatchers mit dem Wall Street Journal 956, in dem die Premierministerin in der ihr eigenen Weise – scharf, zum Teil überpointiert – ihre Ansichten zur Reformpolitik in der Sowjetunion, Mittel- und Südosteuropa, zur Wiedervereinigung sowie zur Europapolitik, insbesondere zur Währungsunion geäußert hatte. Sie war dabei mit der Bundesregierung und dem Bundesbankpräsidenten ungewöhnlich scharf ins Gericht gegangen. „Europäische Führer wie Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher sollten diese längerfristige Sicht der Bedürfnisse Europas vor ihre engen nationalistischen Ziele setzen. Man müsse der Bundesregierung diese weitsichtigere Version eintrichtern!“ 957 In Moskau drückte man derweil aufs Tempo und bremste gleichzeitig. Eine klare Linie war vorerst nicht zu erkennen. Die DDR kam nun selbst unter Druck. Mit der Öffnung der Sektorengrenzen in Berlin und der innerdeutschen Grenze zur Bundesrepublik am 9. November 1989 und danach wollte die DDR-Führung unter SED-Generalsekretär Egon Krenz auf die Ereignisse in Ungarn reagieren. Sein Ziel war es dabei keineswegs, die Mauer zu beseitigen. Es ging lediglich darum, einen geregelten Grenzverkehr bei Weiterbestehen der DDR und der Sperranlagen zu organisieren. 958 Die bereits seit Oktober 1989 bei den Demonstrationen zu hörenden Rufe „Wir sind ein Volk“ 959 versuchte die SED-Führung herunterzuspielen. Doch in Washington hatte US-Präsident Bush bereits erkannt, was sich jetzt zwischen den beiden deutschen Staaten und im Verhältnis der NATO-Staaten gegenüber den Warschauer-Pakt-Staaten anbahnen würde. 960 Im Januar 1990, nur acht Wochen nach dem Mauerfall, bekannten sich alle relevanten Regierungen – auch der Kreml in Moskau – zur Vereinigung beider deutscher Staaten, wenn auch voller Skepsis wie die Londoner 956 Keatly, Robert u. a., Thatcher sees East European Progress as more urgent than Germans Unity, in: Wall Street Journal, Nr. 24 vom 26. Januar 1990, S. A 12. Und Deutsche Einheit, Dok Nr. 148, S. 719. 957 In Internet: www . margaretthatcher . org / document / 107876 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 958 Krenz 7. 11. 2014 in TV „Stimme Russlands“ und in Internet: https://www.youtube. com/watch?v=nVJPokvblc4 (letzter Zugriff: 6. 6. 2020). 959 Deutsche Rufe: Wir sind ein Volk; in Internet: https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsche-rufe-2-8-wir-sind-ein-volk.1001.de.html?dram:article_id=291734 (letzter Zugriff: 6. 6. 2020). 960 Hertle: Berliner Mauer, S. 216.
Gorbatschows Bitte um Lebensmittelhilfen
219
Regierung. Das Szenario, das in den Hauptstädten gezeichnet wurde, unterschied sich erheblich. Wie sollten die deutschen Staaten vereinigt werden? Zu welchem Bündnis sollten sie bei einer Konföderation gehören, zu welchem Bündnis das vereinte Deutschland? Ein neutrales Deutschland wurde schnell verworfen. Wer konnte diese Fragen entscheiden und wer an den Lösungen mitarbeiten? Was wurde aus NATO, Warschauer Pakt und KSZE? So lauteten die brennenden Fragen, auf die von allen Beteiligten und Nicht-Beteiligten akzeptierte schnelle Antworten kaum möglich erschienen.
Gorbatschows Bitte um Lebensmittelhilfen Bundeskanzler Kohl war sich bewusst, in welch einer gefährlichen Lage sich Gorbatschow seit Beginn der Perestroika befand. Die von Gorbatschow eingeleitete Umwandlung von der Plan- zur Marktwirtschaft stockte. Es fehlte am Geld für die nötigen Umstrukturierungsmaßnahmen. Die Parteigliederungen auf kommunaler Ebene bremsten den Prozess. Die Mängel der Planwirtschaft im weiterhin sozialistischen PlanwirtschaftsStaat lähmten zudem jeden Reformansatz. Die Probleme, mit denen Gorbatschow zu kämpfen hatte, vergrößerten sich. Die gesamte Sowjetunion drohte zu kollabieren. Die CIA wie auch Gorbatschow selbst waren genau im Bilde, was in der Sowjetunion im Argen lag. Gorbatschow wusste nur einen Rat: Der Westen musste ihm helfen, musste ihm quasi die „Perestroika“ retten. Dies hatten US-Präsident Bush, die NATO und besonders auch Kanzler Kohl sehr genau erkannt. Sie waren nach anfänglichem Zögern dazu bereit. Sofort nach Amtsantritt im Januar 1989 hatte Bush eine „strategische Überprüfung“ des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses angeordnet. 961 Bush verwendete jetzt die Formel „Beyond containment“ („hinter der Eindämmung“), mit der niemand etwas genau anfangen konnte. Bush hielt sich bis in den Frühsommer 1989 deutlich mit Äußerungen zurück. Er wartete auf die Ergebnisse der Studien, die er in Auftrag gegeben hatte. Selbst die Aufforderung seines Botschafters in Moskau, Jack Matlock, Bush möge doch „die Perestroika-Politik im Kreml durch ökonomische Anreize unterstützen“, fruchtete erst einmal nicht. Bush wollte zunächst mehr „Ak-
961 Bierling, S. 62.
220
Kapitel 7
tionen“, sprich noch mehr Reformen sehen, bis er reagierte. Dies geschah bis September 1989 nur zögerlich. „Es ist nicht unsere Sache, den Reformkurs in Moskau zu beschleunigen. Das müssen die schon selber tun“, sagte Vize-Außenminister Lawrence Eagleburger am 13. September 1989. Kurz darauf trafen sich die beiden Außenminister Schewardnadse und Baker in Jackson Hole, Wyoming. Von nun an bewegte sich die US-Politik auf eine Unterstützung der Perestroika-Politik zu. 962 Allerdings gab es dafür eine klare Bedingung: „Jeder Reformschritt in Moskau wird mit einem Entgegenkommens-Schritt der USA beantwortet“, so Bush in einer Rede vor dem IWF am 27. September 1989 in Washington. 963 Auf dem schon beschriebenen Gipfeltreffen vom 2. Dezember 1989 im Hafen von Malta wurden die Schritte konkreter. Nach dem Amtsantritt von Bush im Januar 1989 und besonders nach dem Mauerfall im November 1989 wuchs die Erkenntnis: besser eine intakte Sowjetunion mit Anlehnung an den Westen (durch Perestroika) als ein Chaos! 964 Dafür wurde nun der Preis verlangt, und zwar Hilfe für Gorbatschow im Gegenzug für die Zustimmung zur deutschen Einheit unter dem NATODach. Direkt ausgesprochen wurde diese Verknüpfung selten, aber es gab sie. Anfang des Jahres 1990 erinnerte Gorbatschow Kanzler Kohl an sein Versprechen, ihm zu helfen, wenn es nötig sein würde. 965 Er schickte seinen Vize-Ministerpräsidenten Iwan Silajew 966 im Januar nach Bonn. Kohl schrieb in seinen „Erinnerungen“: „Gorbatschow wusste, dass ich jemand bin, der Wort hält, auf den man sich auch in schwierigen Zeiten verlassen kann. Damals im Sommer 1989 im Kanzlerbungalow in Bonn hatte er mich gefragt, ob ich ihm helfen würde, wenn es im Winter zu Versorgungsschwierigkeiten in Moskau und Leningrad käme. Ohne zu zögern antwor-
962 Ebda., S. 63. 963 Deutsche Bundesbank, Nr. 77/1989 vom 27. September 1989. Mitschnitt der Rede im Internet: https://books.google.de/books?id=z0DVAwAAQBAJ&pg=PA1306&lpg= PA1306&dq=Besuch+Bush+beim+IMF+1989&source=bl&ots=6gT_Ew_lpK&sig= ACfU3U1bq0RxNWYws4vFkkryiV-fNCqx3Q&hl=de&sa=X&ved=2ahUK 964 Siehe das Gipfeltreffen Bush-Gorbatschow am 2. und 3. Dezember 1989 in Malta; in Internet: www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014_Deutsche_Einheit/ 1989-12-02-treffen-vor-malta.html sowie Küsters: Der Zerfall des Sowjetimperiums. 965 Kohl hatte Gorbatschow bei einem Spaziergang in Bonn am Rhein im Juni 1989 versprochen, ihm erforderlichenfalls zu helfen; vgl. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1069 ff.; Protokoll Kohl-Besuch in Moskau, 10. Februar 1990 in Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 72, S. 331. Dort heißt es: „Die sowjetische Führung kann in jeder Situation, so schwierig sie auch sei, auf mich zählen.“ 966 Iwan Silajew war seit 1974 in verschiedenen Positionen in der sowjetischen Regierung. Von 1985–1990 Vize- Ministerpräsident, dann bis 1991 Ministerpräsident. Von 1991 bis 1994 bekleidete er das Amt des Botschafters Russlands bei der Europäischen Union in Brüssel.
Gorbatschows Bitte um Lebensmittelhilfen
221
tete ich mit einem uneingeschränkten JA.“ Entgegen der demonstrativen und prinzipiellen Härte, die Gorbatschow öffentlich demonstrierte, war er politisch bereits nahezu am Ende. Sein Ansehen, seine Autorität näherten sich einem Tiefpunkt. Die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion war desaströs. Gorbatschow brauchte dringend materielle Hilfe in Form von Lebensmitteln. Der Fall sei nun da, gab Moskau Silajew als Botschaft mit auf den Weg nach Bonn. Gorbatschow ließ mitteilen: „Zum Jahreswechsel 1989/90 war die Versorgung in den russischen Metropolen zusammengebrochen.“ Er stellte Kohl die Frage: „Gilt die Zusage noch?“ Kohl sagte Ja 967 und reagierte sofort. Er setzte sich mit Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle in Verbindung und am 9. Februar – einen Tag vor seiner Abreise in die Sowjetunion – wurde ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. Die Sowjetunion brauchte vor allem Fleisch, Fette, Pflanzenöl und Käse. Getreide war vorhanden. Kohl ließ für etwa anderthalb Milliarden D-Mark (ca. 750 Millionen Euro) Lebensmittel in die Sowjetunion liefern, um die größten Versorgungsengpässe dort zu überwinden, wohl wissend, dass sich diese Investition bezahlt machen würde. Kohl: „Diese schnelle Hilfe machte großen Eindruck auf Gorbatschow.“ 968 Kohl begründete seine Entscheidung intern übrigens damit, dass die Lebensmittelhilfe für die Sowjetunion mehr zur Sicherheit in Europa beitrage als neue Waffensysteme. Dies war der Beginn der neuen Politik, in der sich Überredung mit kaufmännischem Handeln mischte und gut ergänzte. Hilfe für den Einen (Gorbatschow) – die deutsche Einheit für den anderen (Kohl). Das deutete sich jetzt mit den ersten Tonnen Fleisch aus der BRD für die Sowjetunion an. Zum ersten Mal hatte Kohl Gorbatschow bei seinem Besuch in Bonn im Juni 1989 Hilfe versprochen. Bereits im April 1989 hatten beide Seiten u. a. ein Investitionsschutzabkommen, eine Vereinbarung über Aus- und Weiterbildung und die Eröffnung des „Hauses der deutschen Wirtschaft“ in Moskau beschlossen. Es gibt „viele kleine Projekte statt Milliarden-Aufträge“, schrieb damals die FAZ. 969 Der Vizepräsident des „Freundschaftskomitees UdSSR/BRD“, Daniel Protektor, sagte im Deutschlandfunk: „Wir hoffen, dass die Verbesserung der politischen Beziehungen auch mit der Verbesserung der ökonomischen Beziehungen und der technologischen Kooperation einher geht.“ 970 967 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1069. 968 Ebda., S. 1070. 969 Broichhausen, Klaus: Mehr kleine Projekte statt Milliardenaufträge, in: FAZ, Nr. 80 vom 6. April 1989, S. 13. 970 Bierling, S. 65; Information am Morgen: Deutschlandfunk am 7. März 1989; BPA, Dok Nr. 11792/1989.
222
Kapitel 7
Bis hierhin hatte Gorbatschow noch kein einziges Mal von „Bedingungen“ für die Einheit gesprochen. Doch in Bonn formulierte Ministerialdirigent Peter Hartmann am 29. Januar 1990 in einer „Aufzeichnung“ für den Kanzler Bemerkenswertes. Dort heißt es: „Auch, wenn Gorbatschow ‚das Recht auf Vereinigung‘ ausdrücklich bejaht, müssen wir damit rechnen, dass die Sowjets den deutsch-deutschen Annäherungsprozess mit Bedingungen verknüpfen werden, die vor allen Dingen auf die Sicherheitsproblematik zielen dürften.“ Gemeint war damit die Frage der NATOZugehörigkeit. „Die schwierigste Frage ist die der Sicherheit eines künftigen gesamtdeutschen Staates“, meinte der Verfasser ferner. Unter Punkt 7 hieß es dann in der Aufzeichnung: „Wie die jüngsten Vorschläge von Modrow zeigen, die mit Moskau abgestimmt sein dürften, werden wir massiv mit der Forderung bedrängt werden, spätestens am Ende des Prozesses der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands alle ausländischen Truppen vom Territorium der DDR und der BRD abzuziehen. Ich halte dies für eines der schwierigsten Probleme, mit dem wir uns werden auseinandersetzen müssen. (. . . ) Unsere politische Zugehörigkeit zum NATO-Bündnis würde in dem Augenblick fraglich, wo de facto eine militärische Entkoppelung der Bundesrepublik von den übrigen NATO-Staaten stattfinden würde. Die bloße politische Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur NATO wäre eine leere Hülse!“ 971 Die Schlussfolgerung lautete daher unter Punkt 9: „Unter den heutigen Bedingungen ist dagegen nur denkbar, dass die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland bestehen bleibt und ein Sonderstatus für die (reduzierten) Streitkräfte der DDR vorgesehen wird.“ Schließlich wurde in Punkt 10 ein Fazit gezogen: „Die Frage ist nicht nur, welchen Preis die Sowjetunion hierfür fordern würde, sondern auch, ob wir in der Lage sind, einen Preis hierfür zu zahlen, der nicht auf Kosten unserer Sicherheit geht. Langfristig ist ausgeschlossen, dass in einem deutschen Einheitsstaat ein Teil der Streitkräfte der NATO unterstellt bleibt, ein anderer dem Warschauer Pakt. Um dieses Dilemma zu umgehen, genügt es auch nicht, die Rolle der Bündnisse umzudefinieren (in Richtung auf eine mehr politische, sprich abrüstungspolitische Funktion). Auch ein künftiges Gesamtdeutschland bedarf einer gesicherten Verteidigungsstruktur, und die kann es nur im Verbund mit den anderen europäischen Partnern finden.“ 972
971 Deutsche Einheit, Dok Nr. 151, S. 734, Pkt. 8. 972 Ebda., S. 735.
Kooperationsvertrag als Lockmittel vom Rhein
223
Hier tauchte übrigens der Begriff „Sonderstatus“ erstmalig für den Fall auf, dass die „neue“ Bundesrepublik Deutschland Mitglied der NATO bliebe. Schon beim Treffen mit US-Präsident Bush in Camp David am 25. Februar 1990 gab es zwischen Kohl und Bush Einvernehmen, dass Gorbatschow sicherlich besser gestimmt werden könne, wenn ihm auch mit Geld geholfen werden würde. Den Notizen zu dem Treffen 973 ist dieser Dialog zu entnehmen: Kohl: „Ich könnte mir vorstellen, dass den Sowjets in Sachen deutscher Mitgliedschaft in der NATO etwas nachgeholfen werden kann. Das ist alles eine Frage von cash. Sie brauchen Geld. Am Ende ist es nur eine Frage von Geld. Wir müssen einig und hart bleiben bei der NATO-Frage. Nur wenn Moskau versteht, dass es eine totale Übereinstimmung zwischen uns und der Bundesrepublik in dieser Frage gibt, werden sie bereit sein, eines Tages ihr Preisschild zu zeigen („the real price tag for their Agreement“).“ „Bush: ‚Moskau will etwas dafür haben. Helmut, Sie haben tiefe Taschen. Gorbatschow will dabei sein Gesicht wahren. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Das ist eine Schlüsselfrage.‘ Kohl: ‚Das ist meine These. Er will von Präsident zu Präsident verhandeln. Auf Augenhöhe. Seine zentrale Frage ist die Frage der NATOZugehörigkeit des vereinten Deutschland. Ich bin sicher, am Ende wird er dem zustimmen.‘“ 974 Mitten in die Diskussionen, wie Gorbatschow überzeugt werden könnte, der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland zuzustimmen, traf am 16. April 1990 aus der sowjetischen Hauptstadt das zuvor beschriebene Non-Paper ein. Kohl-Berater Teltschik fertigte eine Notiz für den Kanzler an. 975 Er erkannte sofort die wahre Bedeutung: Gorbatschow bat um die Zusage für einen „Großen Vertrag“.
Kooperationsvertrag als Lockmittel vom Rhein Es schien, als ob Gorbatschow jetzt das Versprechen von Kohl nach und nach einlösen wollte: „Hilfst Du mir, helfe ich Dir“, so ein Sprichwort. 976 Gorbatschow hatte Kohl bereits geholfen: Er hatte der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt und ganz konkret keine Einwände gegen die Einführung der DM mit der „Währungsunion BRD/DDR“ zum 1. Juli 1990
973 974 975 976
Bush / Scowcroft, S. 254; Deutsche Einheit, Dok Nr. 192, S. 119; Baker, S. 199. Baker, S. 199. Deutsche Einheit, Dok Nr. 250, S. 1023 und Teltschik, S. 202 f. Bierling, S. 93.
224
Kapitel 7
erhoben. Offen war noch seine Zustimmung in der NATO-Frage. Andererseits war auch Kohl Gorbatschow entgegengekommen und hatte dringend benötigte Lebensmittel in die Sowjetunion liefern lassen. Jetzt erinnerte Moskau daran, es werde Zeit, den „Großen Vertrag“ zu verhandeln. Kohl stimmte grundsätzlich zu, aber erst, wenn der 2 + 4-Vertrag unterzeichnet war. 977 Dann trifft am 19. April 1990 eine Nachricht aus Moskau ein, ein sog. „Non – paper“. Kohl war über das Non-Paper aus Moskau verärgert. Gegenüber dem sowjetischen Botschafter Kwizinski nannte Kohl das Papier „unverständlich“ 978 Darin war von einem „Ultimatum“ 979 im Rahmen der geplanten „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der BRD und der DDR“, die Moskau ablehnte, die Rede. Der Kreml sah darin „eine vollständige und unverzügliche Abtretung der Souveränität der DDR im Finanz-, Wirtschafts- und Sozialbereich an die BRD“. Damit werde „eine rechtliche Basis für die faktische Einverleibung der DDR“ geschaffen. „Wir rechnen mit konkreten Schritten der BRD zur Untermauerung dieser Versicherungen.“ 980 Damit war gemeint, Kohl solle dafür sorgen, dass die DDR alle ihre Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion erfüllt. Teltschik stuft das Non-Paper als eher unwichtig ein. Es ist zwar ärgerlich, aber „die Sowjetunion hat unsere Politik auf dem Weg zur Einheit damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt.“ 981 So fällt die Zusammenfassung des Non-papers für den Kanzler durch Ministerialdirigent Claus-Jürgen Duisberg auch eher beschwichtigend und deutlich kurz aus: 982 „Es wird darauf ankommen, mit der Sowjetunion unverzüglich Gespräche darüber (über die Wirtschaftsinteressen der Sowjetunion, der Verfasser) aufzunehmen und dann konkrete Lösungsansätze aufzuzeigen.“ 983 Ministerialrat Ludewig schrieb in einem Vermerk: „Die UdSSR erwarte zusätzliche Impulse für die sowjetische Wirtschaft, die über die bisherige Zusammenarbeit mit der BRD und mit der DDR noch hinausgehen.“ 984 Jetzt waren die beiden Staaten Bundesrepublik und Sowjetunion an einem Punkt angelangt, an dem es um den „Preis“ für die NATO-Zustimmung und damit der Einheit ging. Ohne diesen „Großen Vertrag“ stand Gorbatschow mit nahezu leeren Händen da. Also musste der Vertrag mit
977 978 979 980 981 982 983 984
Deutsche Einheit, Dok Nr. 250, S. 1023. Deutsche Einheit, Dok Nr. 253, S. 1026. Ebda. S. 1023. Teltschik: S. 202. Ebda. S. 203. Dok Nr. 251, S. 1024. Deutsche Einheit, Dok Nr. 251, S. 1025. Deutsche Einheit, Dok Nr. 252, S. 1025.
Kooperationsvertrag als Lockmittel vom Rhein
225
seinen Leistungen möglichst schnell vorliegen, möglichst genau und möglichst sehr gut ausgestattet sein. Die NATO-Lösung war nicht „umsonst“ zu bekommen. Oder wie der Kanzler bisweilen sagte: „Es geht nur um Bimbes.“ 985 Um Gorbatschow „milde“ zu stimmen, sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Denn noch immer hatte er die NATO-Bündnisfrage nicht entschieden. Als Kohl am 23. April 1990 gegenüber dem sowjetischen Botschafter Julij Kwizinski 986 die Vorstellungen über den Vertrag erläuterte und dabei bemerkte, er wolle gewissermaßen eine „Charta der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Sinne der großen geschichtlichen Tradition vereinbaren“, reagierte Kwizinski beinahe euphorisch. Seit er nach Deutschland gekommen sei, sei es sein Traum gewesen, „zwischen Deutschland und der Sowjetunion etwas im Bismarck’schen Sinne zu schaffen“. Ein Vertrag, wie ihn der Bundeskanzler vorschlage, sei im Sinne von Präsident Gorbatschow. Zusätzlich kam es Moskau bei den 2 + 4-Verhandlungen vor allem darauf an, eine deutliche Verringerung der Stärke der Bundeswehr zu erreichen. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden. Über alles dies ließ sich nach sowjetischer Auffassung jedoch Einvernehmen erzielen. Als wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden bilateralen Vertrages einen Vorschlag unterbreitet hatte, der in Moskau die Vertrauensbasis für eine Regelung der Einzelfragen schuf. Kohls Vertrauter Teltschik notierte deshalb am 23. April in sein Tagebuch, offenbar habe die sowjetische Führung nur auf einen derartigen „weiterführenden Vorschlag von uns gewartet“. 987 Die Sowjetunion war in einer schwierigen Finanzsituation. In einer Studie über die „Ökonomie im Kalten Krieg“ heißt es: Je länger der Kalte Krieg dauerte, desto mehr Ressourcen wurden der zivilen Produktion und dem staatlichen Sozial- und Gesundheitswesen entzogen. Schließlich entfiel jeder zehnte Arbeitsplatz auf die Rüstungsindustrie – eine Entwicklung, die im Vergleich zu den USA umgekehrt proportional verlief. Hinzu kamen die sowjetischen Transferzahlungen an die Verbündeten in Osteuropa. Allein sie schwollen zwischen 1975 und 1981 von 5,3 auf 18,6 Milliarden Dollar an. 988 985 Bimbes meint im Dialekt seiner Heimat, dem Bundesland Rheinland-Pfalz, bei Kanzler Kohl „Geld“. Kohl gebrauchte den Begriff gelegentlich für Geld. 986 Deutsche Einheit, Dok Nr. 253, S. 1026. 987 Teltschik, S. 203. 988 Vgl. Greiner, Bernd; Müller, Christian; Weber, Claudia (Hg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg, 2010, S. 40.
226
Kapitel 7
Gorbatschow musste sich eingestehen, dass sein Land dem sozialen und wirtschaftlichen Verfall entgegen ging. „Die Finanzen gerieten in immer größere Turbulenzen, die Wirtschaft entwickelte sich defizitär.“ 989 Am 4. Mai 1990 traf die Kreditbitte aus Moskau in der Bundeshauptstadt ein. Schewardnadse kam nach Bonn und bat Kohl – natürlich vertraulich – um einen weiteren Kredit, abgesichert mit einer Bürgschaft der Bundesregierung. 990 Kohl sagte nicht sofort zu, sondern schickte Teltschik nach Moskau. Begleitet wurde er von Hilmar Kopper und Wolfgang Röller, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen bzw. der Dresdner Bank. Die beiden Banker wussten um die Liquiditätskrise der Sowjetunion und wiesen Kohl darauf hin, dass „eine privatwirtschaftliche Lösung nicht mehr möglich sei“. 991 „Auch die Bundesrepublik könne allein nicht helfen. Kohl müsse jetzt im Westen eine Vorreiter-Rolle übernehmen und andere Staaten zur Teilnahme bewegen“. 992 Die drei Männer flogen nur wenige Tage nach dem Hilferuf mit einer Bundeswehr-Maschine nach Moskau. Kohl wollte Gorbatschow damit zeigen, wie ernst er die Bitte um Hilfe und Geld nahm. Der Kanzler 993 sah aber diese Bitte auch als eine „weitere Möglichkeit, die Rahmenbedingungen für die Vereinigung zu verbessern“. 994 Ministerpräsident Ryschkow empfing die drei Westdeutschen, die er mit den konkreten Forderungen konfrontierte: Moskau benötigte kurzfristig einen ungebundenen Finanzkredit in Höhe von anderthalb bis zwei Milliarden D-Mark, um die Zahlungsfähigkeit der Sowjetunion auf den internationalen Märkten zu sichern. Darüber hinaus, so der Ministerpräsident eines der an Bodenschätzen reichsten Länder der Welt, brauche die Sowjetunion einen langfristigen Kredit in Höhe von bis zu 20 Milliarden DM, und zwar zu Vorzugsbedingungen: Die Tilgung sollte auf zehn bis fünfzehn Jahre bei fünf Freijahren gestreckt werden. Die angebotenen Konditionen verrieten, wie groß die sowjetischen Zahlungsprobleme waren und welches Gewicht die Moskauer Führung in diesem Zusammenhang den deutsch-sowjetischen Beziehungen beimaß. 995 Bei einem Treffen mit Gorbatschow betonte dieser, er wünsche eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit. „Die Sowjetunion braucht jetzt Sauerstoff, sie braucht eine Schulter, Geld, um die Wende herbeizufüh-
989 990 991 992 993
Gorbatschow: Erinnerungen, S. 324. Teltschik, S. 221. Ebda., S. 227. Ebda., S. 227. Teltschik überschrieb das Kapitel in seinem Buch mit „Kredite und Kooperation als Katalysator“, S. 230. 994 Ebda., S. 232. 995 Bierling, S. 74 f.
Warten auf Gorbatschow
227
ren.“ 996 Das Ergebnis: Die Sowjetunion bekam zunächst fünf Milliarden DM. Die Bundesregierung bürgte nur für die Summe. 997 Im Gegenzug erwartete die Bundesregierung laut Teltschik „Entgegenkommen“ im 2 + 4-Prozess. 998 Entsprechend hatte Kohl keine Scheu zu erklären, er verbinde damit die Erwartung, „dass die Regierung der UdSSR im Rahmen des 2 + 4-Prozesses im gleichen Geiste alles unternimmt, um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglichen.“ 999 Kohl rief Bush an, um ihn noch einmal auf die Dringlichkeit der NATO-Frage hinzuweisen. Er möge doch bitte Gorbatschow sagen, dass „wir ein sensibles ökonomisches Arrangement mit ihm“ finden werden. Kohl weiter: „Er braucht sehr viel Hilfe.“ 1000 Die Berater um Gorbatschow waren nicht eben begeistert. Sie rieten dem Generalsekretär erneut, behutsam vorzugehen. Ex-Botschafter Kwizinski, wichtiger Berater des Kreml-Chefs, lehnte es ab, „dass wir in Bonn um Geld betteln gehen“. 1001 „Gewollt oder ungewollt haben wir damit einen Zusammenhang zwischen der deutschen Frage und dem Kredit hergestellt“, monierte er – und weiter: „Die Bitte um einen Kredit bei den Deutschen könnte nur der Anfang einer langen Kette ähnlicher Bittgesuche sein, die zu immer größeren Erniedrigungen führen und die westliche Seite zu immer unangenehmeren politischen Forderungen verleiten.“ 1002
Warten auf Gorbatschow Erkennbar war ein grundlegendes Entgegenkommen von Gorbatschow trotz seines – geäußerten – Wunsches zur Zusammenarbeit und trotz der Kreditzusage Anfang Mai 1990 noch nicht. Der Kreml bemühte sich nicht sonderlich, die sicherheitspolitischen Aspekte der Vereinigung und die wirtschaftliche Unterstützung der Perestroika säuberlich voneinander zu trennen. 1003 Darüber war wiederum US-Präsident Bush verärgert. „2 + 4
996 Teltschik, S. 233. 997 Vgl. Biermann, S. 649; vgl. auch Sarotte, Mary Elise : Perpetuating U.S. Preeminence. The 1990 Deals to Bribe the Soviets Out and Move NATO, in: International Security, Vol. 35, No. 1 (Summer 2010), S. 159. 998 Teltschik, S. 232 ff. 999 Brief Kohl an Gorbatschow, 22. Mai 1990; in: Deutsche Einheit, Dok Nr. 284, S. 1136. 1000 Telefonat Kohl mit Bush am 30. Mai 1990; in Internet: https://bush41library.tamu. edu/archives/memcons-telcons, 30. Mai 1990 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1001 Kwizinski, S. 25. 1002 Ebda. und Bierling, S. 75. 1003 Bierling, S. 75.
228
Kapitel 7
dürfe nicht über das Recht Deutschlands, volles Mitglied der NATO zu bleiben, verhandeln.“ Für die von Gorbatschow benötigten Finanzhilfen reichten die deutschen Ressourcen nicht aus. 1004 Kohl hoffte daher auch auf Milliarden von den USA und den europäischen Partnern. Doch die Erfolge blieben aus: Aus den USA kam eine Absage von Präsident Bush. Auch die Ansprachen des Kanzlers an die europäischen Bündnispartner in NATO und EG waren wenig erfolgreich. Beim EG-Gipfel in Dublin am 25. und 26. Juni 1990 hatte Kohl die Kreditwünsche der Sowjetunion den Partnern vorgetragen. Sie beliefen sich auf maximal 25 Milliarden DM. Die Bitte von Kohl, doch einiges davon zu übernehmen, stieß „bei vielen auf starke Zurückhaltung“. 1005 Ein sofortiges Hilfspaket, wie es sich Kohl gewünscht und auch erwartet hatte, war damit gescheitert. Entscheidend war dabei der Widerstand der britischen Premierministerin Thatcher. 1006 Zum Weltwirtschaftsgipfel in Houston / USA vom 9. bis 11. Juli 1990 schrieb Gorbatschow persönlich einen Bittbrief an die Teilnehmer: „In dieser extrem kritischen Phase der Perestroika brauche ich Kredite, Investitionen und die Expertise des Westens.“ 1007 Die Antworten waren eher ernüchternd. Bush selbst lehnte eine Finanzhilfe mit der Begründung ab, „die Zeit ist noch nicht gekommen“. 1008 Kohl nannte diese Erklärung bzw. Ablehnung „nicht akzeptabel“. 1009 Genscher empfand den ganzen Gipfel „enttäuschend“. 1010 Im Ergebnis hieß das: Die Bundesrepublik war bei der Hilfe für Gorbatschow allein auf sich gestellt. So antwortete Bush in der Pressekonferenz am 11. Juli 1990 auf die Frage, warum denn Deutschland der Sowjetunion helfen würde: „Well, Germany has some very special interest that we understand. And we’re not – as I said over in London.“ 1011 Die westlichen Partnerländer zogen nicht mit. Als DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am 29. Januar 1990 direkt von einer Sitzung der Volkskammer und des „Runden Tisches“ zum Flughafen Schönefeld fuhr, um nach Moskau zu fliegen, kannte er weder das Ergebnis des Treffens in Moskau vom 26. Januar 1990 – darüber wurde er erst am Ende der Begegnung in Kenntnis gesetzt – noch die Überlegungen zur Bündnis- und Deutschlandfrage in Bonn. Modrow hatte zwar einen
1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011
Biermann, S. 647. Bierling, S. 84. Ebda. Ebda. S. 87. Bierling, S. 88. Teltschik, S. 309. Genscher: Erinnerungen, S. 830. „Die Deutschen haben eigene ganz besondere Interessen. Wir nicht.“; in Internet: www.g8.utoronto.ca / summit/1990 houston / news.html (letzter Zugriff: 4. 3. 2017).
Warten auf Gorbatschow
229
Stufenplan über den Weg zur Einheit in der Tasche, er wusste aber nicht, dass die Gedankenspiele in Moskau schon erheblich weiter vorangeschritten waren. 1012 Das Gespräch mit Gorbatschow begann freundlich, doch kam nie die Atmosphäre der „Strickjacken-und-Pullover-Freundschaft“ auf, die das Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow später prägte. 1013 Modrow präsentierte einen eigenen „10-Punkte-Plan“, der bezeichnenderweise den Titel „Deutschland, einig Vaterland“ trug. Modrow gestand zu, dass „eine endgültige Lösung der deutschen Frage [. . . ] nur in freier Selbstbestimmung der Deutschen in beiden Staaten [. . . ], in Zusammenarbeit mit den Vier Mächten und unter Berücksichtigung der Interessen aller europäischen Staaten“ erreicht werden könne. Sie müsse den gesamteuropäischen Prozess fördern, der den Kontinent ein für alle Mal von militärischen Gefahren befreien solle. Die Annäherung beider deutscher Staaten und ihre nachfolgende Vereinigung dürfe durch niemanden als Bedrohung betrachtet werden. In diesem Sinne schlug Modrow „einen verantwortungsbewussten nationalen Dialog vor. Sein Ziel sollte es sein, konkrete Schritte zu bestimmen, die zu einem einheitlichen Deutschland führen, das ein neuer Faktor der Stabilität, des Vertrauens, des Friedens in Europa zu werden bestimmt ist“. 1014 Danach sollte der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten stufenweise durchgeführt werden. So sollte als erstes ein „Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft“ mit bereits „konföderativen Elementen“ abgeschlossen werden. Aus der Konföderation sollte sich dann in einem weiteren Schritt der „Bundesstaat“, also eine Föderation ergeben. Diesem Plan stimmte Gorbatschow zu. 1015 So weit wäre der Plan auf Zustimmung auch in Bonn gestoßen. Doch dann drängte Gorbatschow Modrow, diese Passage hinzuzufügen: Deutschland müsse aus der NATO austreten und neutral werden. Der Generalsekretär erklärte Modrow, dass mit dem Bau des „Europäischen Hauses“ die Bündnisse zusammen mit einer Reform der NATO „praktisch zu dem vorgegebenen Ziel der Neutralisierung Deutschlands führen würden“. Gorbatschow beendete den Satz
1012 Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland, S. 415. 1013 Ebda. 1014 Für Deutschland einig Vaterland. Konzeption Hans Modrows für den Weg zu einem einheitlichen Deutschland; in Internet: www.ddr89.de/d/modrow.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1015 Was Modrow nicht wusste, war, dass Gorbatschow bereits am 26. Januar 1990 ähnliche Gedanken in seiner Beraterrunde diskutiert hatte.
230
Kapitel 7
mit seiner üblichen Formel: „Dies erfordert konkretes Nachdenken. Unsere Minister müssen das gut durcharbeiten.“ 1016 Modrow forderte Gorbatschow auf, „initiativ zu werden, damit sich der in Gang gekommene Prozess nicht weiter so spontan und rasant fortsetzt“. Dabei dachte er an die Einberufung der Vier Mächte. Die „Sowjetunion möge die anderen drei Mächte an ihre Rechte in Deutschland erinnern.“ Man sollte sich rasch über eine Partnerschaft der Vier Mächte zugunsten einer Stabilisierung der Lage verständigen. Modrow war klar, dass die DDR nur in einem starken „Bündnis mit der Sowjetunion“ die Krise überstehen könnte. 1017 Gorbatschow versprach Modrow, alles hierfür zu tun. Die sowjetische Seite war damals der Auffassung, dass die Veränderungen in den Staaten Osteuropas die Sowjetunion nicht tangieren würden. 1018 Gorbatschow meinte noch Ende Januar 1990, er könne den Prozess aktiv – vorrangig verlangsamend – mitgestalten. Ganz offensichtlich hatte er keine ausreichende Kenntnis von der Richtungsänderung in den USA und in Bonn. Für beide war die deutsche Einheit unter dem NATODach unverzichtbar. In allen bedeutsamen Gesprächen zu Deutschlands Zukunft war die Sowjetunion nicht involviert. Wie also konnte Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass seine Regierung entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung Europas in einer neuen Ordnung haben würde? Gorbatschow, das Politbüro und das ZK verstanden nicht, was dort seit Anfang 1989 passierte. 1019 Der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess verlief bereits im Eiltempo. Der Wahltag für eine neue DDR-Volkskammer war auf den 18. März 1990 festgelegt. 1020 Artikel 23 Grundgesetz wurde von der westlichen Seite favorisiert, von der Sowjetunion und der DDR-Regierung jedoch abgelehnt. Gorbatschow wollte das Gesicht nicht verlieren und sagte in einer improvisierten Pressekonferenz: „Zwischen den Vier Mächten und den Vertretern der beiden deutschen Staaten gebe es ein gewisses Einverständnis darüber, dass die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen wurde.“
1016 Treffen Modrow mit Gorbatschow; in Internet: www.rodon.org/other/mgigv/index. htm (letzter Zugriff: 6. 6. 2020). 1017 Karner, S. 67. 1018 Ebda., S. 66 ff. 1019 Karner, S. 66. 1020 Nach Verhandlungen der Modrow-Regierung und dem Runden Tisch am 28. Januar 1990 beschlossen.
Warten auf Gorbatschow
231
20 Jahre später erläuterte Modrow in einem Interview mit der „Jungen Welt“ den Ablauf des Gespräches mit Gorbatschow. Hier ein Auszug: 1021 Das Treffen am 30. Januar 1990 kam auch nach meiner damaligen Meinung viel zu spät. Das Tempo der Entwicklung hatte sich enorm beschleunigt, die Zeit lief davon, und ich verstand nicht, warum auf sowjetischer Seite kein Interesse bestand. Erst später, als ich Erinnerungen von Politikern las, wurde mir das verständlich – weniger bei Gorbatschow selbst als bei Alexander Jakowlew (damals Mitglied des Politbüros der KPdSU – d. Verf.) und Anatoli Tschernjajew. Sie bremsten, begannen sich umzuorientieren und überlegten, wieweit die DDR noch Gesprächspartner bleiben sollte und ob die Bundesregierung nicht den Vorrang bekommen sollte. Heute weiß man, dass sie erst am 25. Januar begannen, unser Treffen am 30. intensiv vorzubereiten. Das macht das Vakuum sichtbar, das in der sowjetischen Außenpolitik damals bestand. Auf einer ZK-Tagung der KPdSU am 8. und 9. Dezember 1989 war noch festgehalten worden, dass sie zur DDR als ihrem Verbündeten solidarisch stehen. Wir haben das als klare Aussage bewertet. Heute muss man sagen: Das war mehr nach innen als nach außen gerichtet, um in der Partei und im Land Ruhe zu haben.
Da man kein Konzept 1022 hatte, wurde die Position sofort wacklig, als es um die Interessen der Sowjetunion und der DDR ging. Es gab nach Modrow zwei Momente, die man beachten musste: Wenn der erste Mann des Landes, in diesem Fall also Gorbatschow, sich keinen Rat mehr holt, stehen die Dinge schlecht. So geht es z. B. aus den Memoiren von Marschall Sergej Achromejew, seinem militärischen Berater, hervor. Das Schlüsselereignis war demnach das Treffen mit Bush in Malta. Die US-Seite war umfassend und bestens vorbereitet, während Gorbatschow sich nur mit seinem allerengsten Beraterkreis besprach. Marschall Achromejew und damit das Verteidigungsministerium wurden nicht einbezogen, d. h. der militärische Faktor – es ging immerhin um NATO und Warschauer Vertrag – war auf sowjetischer Seite nicht qualifiziert eingebunden. Dasselbe galt für das Außenministerium. Modrows Eindruck war, dass der sowjetische Geheimdienst in geringem Maß einbezogen war und die Entwicklungen, die es auf diesem Feld gab, nur wenig analysiert wurden. Dagegen wussten die US-Geheimdienste sehr genau Bescheid. Modrow fasste zusammen: „Ich würde das heute so bewerten: Gorbatschow saß dem Westen bei Verhandlungen wie ein nackter Mann gegenüber. Er dagegen war – ich will nicht sagen, ihr Kasper –, aber jemand, der unvor-
1021 „Wir wollten ein militärisch neutrales vereintes Deutschland“, Gespräch mit Hans Modrow 30. 1. 2010; in Internet: www.jungewelt.de/2010/01-30/007.php (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1022 Auch Joachim Bitterlich, 1990 Mitarbeiter von Kanzler Kohl, im „Deutschlandradio Kultur“, 30. Mai 2015.
232
Kapitel 7
bereitet hinging, ein bisschen viel redete und glaubte, er mache Weltpolitik. Das hat die Gewichtsverteilung entscheidend verschoben.“ „Wir wollten ein militärisch neutrales vereinigtes Deutschland“, erklärte Modrow und erinnerte an seine erste Regierungserklärung, die er am 17. November 1989 abgegeben hatte. Alle fünf Parteien der DDR-Regierungskoalition seien der Auffassung gewesen, nicht die Vereinigung stehe auf der Tagesordnung, sondern die Umgestaltung der DDR. Mit dieser Haltung sei er noch Anfang Dezember nach Moskau gereist. Aber als er dort erlebt habe, wie unvorbereitet Gorbatschow im Hinblick auf die deutsche Problematik war, sei es für Harry Ott 1023 und ihn klar gewesen, dass man sich selbst Gedanken über die weitere Entwicklung machen musste. Weitere Klarheit verschaffte am 9. und 10. Januar 1990 eine Tagung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Sofia. Dort entwickelte der Vorsitzende des sowjetischen Ministerrates, Nikolai Ryschkow, die Initiative, den RGW umzugestalten und den Handel zwischen den RGW-Staaten nicht mehr auf der Basis von transferablem Rubel und den laufenden Verträgen, sondern auf der von freikonvertierbarer Währung zu gestalten. Das bedeutete: Auf dieser Grundlage wird die DDR nicht in der Lage sein, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu gestalten, Stabilität zu bewahren oder gar auszubauen. Politisch und militärisch hielt das Bündnis nicht mehr, auf ökonomischem Gebiet war keine Kooperation möglich. Der RGW-Integrationsprozess wird sich nicht fortsetzen, es geht auf die deutsche Vereinigung zu. Schließlich war die Stimmung in der DDR umgeschlagen. Dazu noch einmal Modrow: „Ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, bei uns sei alles marode gewesen. Aber ich musste zur Kenntnis nehmen, dass uns in den Jahren 1988 und 1989 Hunderttausende Menschen verlassen hatten und dass es das immer wieder, auch noch am 40. Jahrestag beschworene Vertrauen zur Partei und Staatsführung überhaupt nicht gab. Es war also nötig zu handeln.“ 1024 Als Außenminister James Baker am 8. Februar 1990 nach Moskau flog und mit Schewardnadse sprach, blieben die DDR-Interessen bereits völlig unbeachtet. In dem folgenden Gespräch mit Gorbatschow wurde dann ersichtlich: Die militärische Neutralität ist aufgehoben. Schließlich konstatierte Modrow: „Gorbatschow kann heute viel davon reden, die NATO1023 Harry Ott war ein deutscher Diplomat. Er war von 1974 bis 1981 Botschafter der DDR in der Sowjetunion, 1982 bis 1988 Ständiger Vertreter der DDR bei den Vereinten Nationen und stellvertretender Außenminister. 1024 Ein neutrales und demilitarisiertes Deutschland hätte keine ausländischen Truppen auf dem Staatsgebiet Deutschlands stationieren können und dürfen. Der Aufenthalt von NATO- bzw. US-Truppen wäre damit auf deutschem Boden nicht mehr möglich. Die USA hätten mittelfristig Europa ganz verlassen müssen.
Warten auf Gorbatschow
233
Ausdehnung nach Osten sei nie verabredet worden – sein Verhalten hat dafür die Tür geöffnet. Es gab nichts Verbindliches. Am folgenden Tag, am 10. Februar, flog Bundeskanzler Helmut Kohl, der von Baker informiert worden war, nach Moskau und erklärte anschließend: Nun seien alle Dinge geklärt [. . . ]. Mit dem Verzicht auf die militärische Neutralität gegenüber Baker und Kohl war aber klar: Hier wird ein NATO-Deutschland entstehen.“ 1025 Modrow hatte das richtig erkannt. Aber er selbst trug dazu bei, dass auch Gorbatschow nicht mehr auf die DDR setzte. Denn er – wie auch Gregor Gysi, Chef der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), vormals Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und heute „Die Linke“, ein paar Tage später – zeichnete gegenüber dem Sowjetführer ein so klägliches Bild der DDR, dass Gorbatschow schlussfolgerte: „Die DDR ist nicht mehr zu halten“, zumal die Sowjetunion ebenso angeschlagen war. 1026 Als Gysi am 2. Februar 1990 nach Moskau kam, wurde er von nahezu allen wichtigen Beratern und auch von Gorbatschow empfangen. Von ihm erhoffen sie sich nun Klarheit über den Kurs der DDR, über die Lage bei ihrem „Noch-Bündnispartner“ und über den Weg zur Einheit. Gorbatschow und seine Berater wussten, dass Gysi zwar den „Modrow-Plan“ in Teilen befürwortete, aber seine Partei ihn ablehnte. Gysi vermochte es nicht, Gorbatschow ein positiveres Bild von der DDR zu liefern als Modrow. Beide schilderten die DDR in düsteren Farben. Gysi und Gorbatschow waren sich einig in der Ablehnung der Einheit Deutschlands, anders als Modrow, der einen Zeitplan für die Einheit schon präsentiert hatte. Gysi bestätigte Gorbatschow in seiner Erkenntnis: Die DDR ist nicht mehr lebensfähig – DDR und BRD steuern auf eine Vereinigung zu. 1027 Ein Konzept hierfür hatte Moskau noch immer nicht. Der damalige Botschafter der DDR in Moskau, Gerd König, war bei den Gesprächen zwischen Gorbatschow und Modrow dabei und hielt in seinen Memoiren fest: 1028 „Ich hatte den Text der Modrow-Initiative in der Nacht übersetzen und Gorbatschow zuleiten lassen. Er kannte das Papier. Modrow kannte dagegen die Gorbatschow-Papiere nicht.“ König schildert dann eine Episode, die sich schon im Arbeitszimmer von Gorbatschow abspielte. 1029 „Der DDR-Journalist Christian Neef 1030 fragte Gorbatschow, wie dessen Position jetzt zur deutschen Einheit sei. Darauf antwortete Gorba1025 1026 1027 1028 1029 1030
Auszüge aus Modrow, in „Junge Welt“ Nr. 27 vom 30. Januar 2010. Gorbatschow: Erinnerungen, S. 937. Biermann, S. 403, Anm. 559. König, S. 410 ff. Ebda., S. 412. Später beim Magazin „Spiegel“ in Hamburg.
234
Kapitel 7
tschow: ‚Die Sowjetunion hat niemals prinzipiell die Vereinigung Deutschlands in Zweifel gezogen und Moskau achte das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung.‘ Die Herstellung der militärischen Neutralität der DDR und der BRD auf dem Weg zu einer Konföderation bezeichnete Gorbatschow als die komplizierteste Frage.“ Jetzt klärte Gorbatschow laut Botschafter König Hans Modrow auf, dass bereits am 26. Januar 1990 ähnliche Überlegungen geäußert worden waren. Mehr Erklärungen gab er aber nicht dazu ab. Gerd König allerdings schrieb dann in seinem Buch einige kritische Bemerkungen. So heißt es 1031: „Gorbatschow verfügte nach wie vor weder über Vorstellungen noch über einen Plan oder eine Konzeption für die Vereinigung beider deutscher Staaten.“ Valentin Falin überarbeitete jetzt den Modrow-Entwurf. Daraus entstand eine neue Version. Dieses Papier wurde am 1. Februar 1990 von Modrow in Berlin auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Modrows Initiative wurde übrigens von seiner Partei, der PDS, abgelehnt. Gysi begründete gegenüber Gorbatschow, den er nur 48 Stunden nach Modrow in Moskau traf: 1032 „Wir sind der Ansicht, dass es nur um eine schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten gehe. Insofern haben wir mit der Erklärung des Parteivorstandes vom 1. Februar das Papier abgelehnt. Für die militärische Neutralität beider deutscher Staaten sei auch er, aber das bedeute für Gysi und die PDS volle Entmilitarisierung. Die Losung ‚Deutschland, einig Vaterland‘ komme ihm nur schwer über die Lippen.“ 1033 Anfang 1990 schälten sich die Positionen heraus, über die es zu verhandeln galt. So erklärte der sowjetische Gesandte in Ost-Berlin, Igor Maximytschew, Anfang Februar zur Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands, die Forderung nach Neutralität sei ebenso eine „Eröffnungsposition in der kommenden Auseinandersetzung über diese Frage“ wie die amerikanische Auffassung, ganz Deutschland müsse der NATO angehören. Der Diplomat verwendete den Begriff „Eröffnungsposition“ statt „Bedingung“. Maximytschew warnte vor den mit einer Vereinigung verbundenen psychologischen Problemen in der UdSSR. Der Eindruck, Gorbatschow verspiele den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg, könne konservativrevanchistische Kräfte stärken. 1034 Er warb für ein schrittweises Vorgehen mit dem Ziel der ökonomischen Stabilisierung der DDR sowie für 1031 König, Gerd: Fiasko eines Bruderbundes. Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau, Berlin 2011, S. 418. 1032 Ebda., S. 422. 1033 Am 2. Februar 1990 gegenüber Gorbatschow; vgl. Focus, 14. September 1998, Nr. 38/98. 1034 Falin, S. 312 f.
Warten auf Gorbatschow
235
eine KSZE-Gipfelkonferenz im Jahr 1990, bei der die Deutsche Frage „das Hauptthema“ sein sollte. Ähnlich äußerte sich Mitte Februar ein ranghoher DDR-Diplomat im Gespräch mit einem Spitzenbeamten aus dem Bonner Auswärtigen Amt: Die Frage einer Neutralität sei nicht „unumstößlich“. Entscheidend sei lediglich, dass ein vereintes Deutschland keine dauerhafte militärische Größe darstelle. 1035 Kanzler-Berater Teltschik sah sofort: „Modrow ist beim Zehn-PunktePlan des Bundeskanzlers angekommen, der sich uneingeschränkt bestätigt fühlen kann.“ 1036 Während der DDR-Ministerpräsident auf einer Pressekonferenz in Moskau die positiven Grundtendenzen des Gesprächs mit Gorbatschow betonte und dabei vor allem auf dessen Erklärung zur langfristigen „Perspektive einer Einheit“ einging, verblüffte Gorbatschow zugleich und machte aber auch seine Distanz deutlich. Vor Beginn des Treffens mit Modrow am 30. Januar 1990 gab der Kreml-Chef eine Stellungnahme ab. Darin hieß es unter anderem: 1037 Mir scheint, es gibt sowohl bei den Deutschen in West und Ost als auch bei den Vertretern der Vier Mächte ein gewisses Einverständnis darüber, dass die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen wurde. Mir scheint, dass man den Verlauf der gegenwärtigen Ereignisse genau durchdenken muss. Die Dinge werden offensichtlich enorm beschleunigt. [. . . ] Auf keinen Fall darf man die Interessen der Deutschen schmälern. [. . . ] Wenn wir sagen, die Geschichte wird die Dinge entscheiden, dann wird das auch so sein, und ich glaube, dass sie bereits ihre Korrekturen einbringt. 1038
Er schloss erstmals die Möglichkeit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht kategorisch aus, ging aber auf Distanz, weil er „alles genau durchdenken muss“. Entschieden war also noch nichts. Modrow hatte den Eindruck, dass die Wiedervereinigung Gorbatschow zwar jetzt als möglich, aber durchaus noch nicht als unabwendbar erschien. In der Bündnis-NATO-Frage war ebenso nichts entschieden. Gorbatschow drängte Modrow zwar, in dessen Plan die Forderung nach einem NATOAustritt der Bundesrepublik und einer künftigen Neutralität Deutschlands aufzunehmen. Modrow lehnte zunächst ab, lenkte dann aber ein. Für ihn
1035 Deutsche Einheit, Dok Nr. 174, S. 804 f; Spiegel Nr. 8/1990, S. 156 ff; Zur Frage der Neutralität: Seiffert, Wolfgang, and Dieter Blumenwitz. „Positionen zur deutschen Frage.“ Zeitschrift Für Politik, vol. 36, no. 4, 1989, pp. 422–425. JSTOR, www.jstor. org/stable/24226399. (letzter Zugriff: 26 Mai 2020. Falin: S. 312 f. 1036 Teltschik, S. 120. 1037 Biermann, S. 392. 1038 Ebda., Anm. 518.
236
Kapitel 7
war dies eine Art „Maximalforderung“ 1039 und er empfand sie zunächst als hinderlich für die kommenden Gespräche. Er sollte Recht behalten. Er distanzierte sich dann schnell von dieser Neutralitätsformel, indem er sie für „verhandelbar“ erklärte. 1040 Neu war, dass die DDR selbst auf die BRD zugehen würde, um eine „Föderation“ auszuhandeln. Daher gab er seinem Plan nach seinem Besuch in Moskau den Titel: „Deutschland, einig Vaterland“. Gorbatschow war damit keineswegs einverstanden. Er wollte zunächst einmal den Plan einer „Konföderation“ diskutieren 1041 und konnte oder wollte Modrow keine klare Richtung geben. 1042Auf Modrow wirkte der Mann im Kreml „unentschlossen“. 1043 Die Ergebnisse dieses Treffens steckten den aktuellen politischen Handlungsspielraum ab: – Gorbatschow wusste noch immer nicht, wie er im Detail mit der deutsch-deutschen Annäherung umgehen sollte. Deutlich wurde aber, dass Modrow und dessen Regierung nicht mehr seine Wunschpartner waren. – Modrows Konzept „Deutschland, einig Vaterland“ sah einen Stufenplan auf dem Weg zur Einheit vor, wie er ursprünglich in Kohls ZehnPunkte-Programm zu finden gewesen war. Während der Bundeskanzler mittlerweile jedoch seine Strategie geändert hatte, ging der DDR-Ministerpräsident weiterhin von einer längeren zeitlichen Perspektive aus. Der Plan wurde von Gorbatschow dennoch als zu weitgehend eingeschätzt. Angesichts der von seinen engsten Mitarbeitern gestützten schonungslosen Darstellung der Lage in der DDR hatte der Generalsekretär der Veröffentlichung des Planes zugestimmt, doch verlangte er die Verschärfung einzelner Punkte sowie eine Abstimmung mit den Parteien in der DDR. Die reservierte Haltung Gorbatschows gegenüber Modrows Plan wurde drei Tage später noch einmal deutlich, als der neue SED-PDS-Vorsitzende Gregor Gysi zu Gesprächen nach Moskau kam. Insgesamt war Gorbatschows Resonanz auf den keinesfalls revolutionären Plan Modrows somit sehr zurückhaltend. Mit seiner Erklärung vor dem Gespräch hatte der Generalsekretär zwar angedeutet, dass derzeit noch alles im Fluss sei, die offiziellen Nachberichte fielen aber negativ aus. 1044 1039 1040 1041 1042 1043 1044
Ebda., S. 397. Ebda., Anm. 538. Biermann, S. 399. Ebda., S. 398. Ebda., S. 396, Anm. 533. Biermann, S. 398 ff.
Warten auf Gorbatschow
237
Modrow selbst schrieb über diesen Besuch am 30. Januar 1990: 1045 „Bereits am 26. Januar – aber das wussten wir damals freilich noch nicht – hatte Gorbatschow in seinem Arbeitszimmer mit Ryschkow, Schewardnadse, Jakowlew, Falin, Krujtschkow, Achromejew, Tschernjajew und Schachnasarow zusammengesessen, um über die Deutsche Frage zu beraten. Will man den Erinnerungen Gorbatschows glauben, ging es am Ende um fünf Kernfragen: Die Wiedervereinigung Deutschlands sei unvermeidlich, die UdSSR solle die Initiative zu einer Konferenz der Sechs ergreifen, also der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten, die Verbindung zur Führung der DDR sei aufrechtzuerhalten, die Politik in der deutschen Frage müsse enger mit Paris und London koordiniert werden, und Achromejew müsse die Frage des Abzuges der Streitkräfte aus der DDR gründlich prüfen.“ 1046 Der sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinski, las Kohl-Berater Teltschik 1047 am 31. Januar 1990 persönlich den Text der offiziellen Meldung der Nachrichtenagentur TASS über den Besuch von Modrow in Moskau vor, in der lediglich vom „Verständnis“ der Sowjetunion für die legitimen Interessen der beiden deutschen Staaten die Rede war. Dabei wurde offensichtlich, dass die Führung der UdSSR ihre Haltung zur deutschen Frage noch nicht festgelegt hatte, was sie so auch dem Bundeskanzler ausrichten ließ: „Die Anerkennung des deutschen Selbstbestimmungsrechtes war in den Berichten der sowjetischen Medien nicht zu finden, dafür aber eine deutliche Warnung an die Bundesrepublik vor dem Eindringen in das Leben eines souveränen Staates.“ Modrow sagte später über das Gespräch: „Das Problem ‚Deutsche Einheit‘ war in allen Nuancen damals noch nicht im Führungszirkel ausdiskutiert.“ 1048 Anders liest es sich in seinem Buch „Aufbruch und Ende“. 1049 Dort schrieb der ehemalige Regierungschef: „Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stand schon auf der Tagesordnung. Eine etappenweise Vereinigung der beiden deutschen Staaten hätte bei gemeinsamem Handeln beider Staaten wohl zwei Jahre in Anspruch genommen.“
1045 1046 1047 1048 1049
Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 413 ff. Ebda. S. 413 ff. Teltschik, S. 120 ff. Biermann, S. 394, Anm. 525. Modrow: Aufbruch, S. 125.
Kapitel 8 Das Kunststück einer neuen NATO-Formel Von all diesem ahnte US-Außenminister Baker am 9. Februar 1990 noch nichts. Er ging weiterhin davon aus, dass der Genscher -Plan bzw. die „Tutzinger-Formel“ Grundlage seines Gespräches mit Michail Gorbatschow an eben diesem Tag wäre. Gorbatschow erinnerte sich gut an diesen Besuch: „Baker versuchte, mir die Vorzüge des Verbleibens Deutschlands in der NATO im Vergleich zur Neutralität nahezubringen. Die militärische Präsenz der USA in Deutschland und dessen NATO-Mitgliedschaft gäben den USA und dem Westen gewisse Hebel zur Kontrolle der Innen- und Außenpolitik Deutschlands in die Hand. Ein neutrales Deutschland aber, außerhalb der Bündnisverpflichtungen der NATO, könne erneut zum Generator der Instabilität in Europa werden. ‚Wenn Deutschland neutral wird‘, so versuchte Baker mich zu überzeugen, wird das nicht unbedingt heißen, dass es nicht militärisch bleiben wird. Im Gegenteil, es kann sich durchaus entschließen, ein eigenes nukleares Potential aufzubauen, statt sich auf das amerikanische zu verlassen. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die Sie nicht sofort zu beantworten brauchen: 1050 Angenommen, es kommt zur Wiedervereinigung, was würden Sie vorziehen: ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, ganz selbstständig, ohne amerikanische Truppen, oder ein wiedervereinigtes Deutschland, das Verbindungen zur NATO aufrechthält, verbunden mit der Zusicherung, weder die Rechtsprechung noch die Truppen der NATO auf Territorien auszudehnen, die östlich der jetzigen NATO-Grenzen liegen.“ 1051 Darüber werde man nachdenken, das alles sei sehr realistisch, meinte Gorbatschow, fügte aber hinzu, ganz gewiss sei eine „Expansion der NATO-Zone inakzeptabel“. Baker schloss das kurze Gespräch mit einem Wort ab: „Einverstanden“. 1052 Baker schrieb dann in einer kurzen Notiz über die Begegnung: „Endergebnis: Vereintes Dtland verankert in (polit.) veränderter NATO – *deren Jurisd. sich nicht ostwärts verschieben würde!“ 1053
1050 Deutsche Einheit, Dok Nr. 173, S. 793. Im Original heißt es: „And then I put the following question to him. Would you prefer to see a unified Germany outside of NATO, independent and with no US forces or would you prefer a unified Germany to be tied to NATO, with assurances that NATOS jurisdiction – would not shift one inch eastward from it’s present position?“ 1051 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 716. 1052 Zelikow / Rice, S. 261. 1053 Im Klartext: Endergebnis: „Vereintes Deutschland verankert in (politisch) veränderter NATO – deren Jurisdiktion sich nicht ostwärts verschieben würde!“ Die Sternchen waren von Baker eingefügt. Im Original Englisch: „End result: Unified
Bakers Strategie
239
Bedeutsam an diesem Dialog war die kurze Antwort von Baker. Bedeutete das „Einverstanden“ eine Garantie oder eine feste Zusage, die NATO werde sich „keinen Inch“ ostwärts bewegen? War Baker in der Lage und in der Position, solche Zusagen abzugeben und sie dann durch den Dialog am Ende rechtsverbindlich mit dem Wort „Einverstanden“ abzuschließen? Gorbatschow wäre in diesem Fall davon ausgegangen, dass die sowjetische Haltung, einer Ausdehnung der NATO gen Osten nicht zuzustimmen, auch von Baker akzeptiert wurde. Beide waren sich einig, so geht es aus den Stenogrammen der Treffen hervor, „dass die NATO ihren Geltungsbereich nicht erweitern soll“. 1054 Dabei ging es nur um das Gebiet der DDR, nicht um eine Erweiterung über die Grenze der DDR hinaus nach Osten. Daraus ergibt sich: Gorbatschow hat die Aussage von Baker nicht als Versprechen auf eine weitere Ausweitung verstanden. Ja, er bezeichnete derartiges selbst als „Dummheit“. Insofern resultierte aus dem Baker-Gespräch keineswegs eine irgendwie geartete Zusage oder ein Versprechen an Moskau, die NATO nicht zu erweitern.
Bakers Strategie Nach dem Treffen mit Gorbatschow gab Baker eine Pressekonferenz. Seine Mitarbeiter hatten ihm die neuen „Formel“ über den „militärischen Sonderstatus“ erklärt. Baker schwenkte sofort um. Die „Tutzinger Formel“ – mithin der „Genscher-Plan“ – war jetzt Geschichte. Es war nicht allein die Rede von Manfred Wörner, die zu der veränderten Haltung führte. Beim Studium des Genscher-Vorschlages waren die beiden NSC-Berater von Präsident Bush, Robert Blackwill und Philip Zelikow, auf einen wesentlichen Fehler gestoßen. Beim „Genscherplan“, der das Gebiet der DDR nicht der NATO unterstellen wollte, hätte es konsequenterweise auch keinen Schutz nach Artikel 5 und 6 des NATOVertrages geben können. Deutschland musste also als Ganzes der NATO unterstellt werden. Die Formel wurde daher ganz entscheidend umgestaltet. Jetzt hieß es: Das gesamte Territorium Deutschlands gehört zur NATO und genießt damit die Schutzgarantie des Bündnisses. Außerdem sollte das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR weder neutralisiert noch entmilitarisiert werden, sondern einen „besonderen militärischen Status“ innerhalb
Ger. Anchored in a *changed (polit.) NATO-*whose juris. would not move *eastword!“ 1054 Gorbatschow: Wie es war, S. 107.
240
Kapitel 8
der NATO erhalten. Jetzt dehnte sich die NATO aus, was genau Genschers Plan und Formel nicht vorgesehen hatte. Auf der Moskauer Pressekonferenz erklärte Baker, nachdem Präsident Bush ihn telefonisch entsprechend instruiert hatte: „Wenn das vereinigte Deutschland zur NATO gehöre, dann werde die DDR ein Teil dieser Mitgliedschaft sein. Im Gegenzug für diese Mitgliedschaft müsse nur eine gewisse Sicherheitsgarantie in Bezug auf ostwärts verlegte NATO-Streitkräfte oder ostwärts ausgedehnte NATO-Zuständigkeit gewährt werden. Es könnte, mit anderen Worten, hinsichtlich der Ausdehnung von NATOStationierungen nach Osten einige Sonderregelungen innerhalb der NATO geben. Das ist alles, was ich damit gemeint habe.“ 1055 Baker weiter: „Ich hatte mehrfach davon gesprochen, dass sich die ‚Zuständigkeit der NATO‘ nicht auf die DDR ausdehnen würde. Diese Formulierung hatte ich in Varianten auch gegenüber Gorbatschow und Schewardnadse gebraucht, nicht zuletzt, weil sie ziemlich vage und so abgeschwächt war, dass sie für die Sowjets eher akzeptabel schien. 1056 Doch in Bulgarien 1057 hatten wir begriffen, dass diese Formulierung nur Verwirrung stiftete. Sie wurde als gleichbedeutend mit der Aussage verstanden, dass Artikel 5 und 6 des Nordatlantikvertrags nicht anwendbar sein würden, d. h., dass keine NATO-Sicherheitsgarantien für die DDR gelten würden. Also begann ich, den Begriff der ‚Zuständigkeit‘ fallenzulassen und stattdessen nur von ‚Streitkräften‘ zu sprechen, und auf diese Formulierung einigten wir uns dann auch mit Kohl.“ 1058 Baker hatte nur ein politisches Ziel: Wir helfen den Deutschen, die Einheit zu bekommen. Dafür aber muss das vereinte Deutschland ohne Wenn und Aber in der NATO bleiben. 1059 Sprach Genscher noch davon, dass sich die NATO nicht auf das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR ausdehnen würde, klang das bei Baker jetzt anders. Diese neue Bewertung führte zu neuen politischen Schlussfolgerungen: Denn wollte man das gesamte Gebiet eines vereinten Deutschland unter den militärischen Schirm der NATO stellen, so mussten die in Artikel 5 und 6 des Nordatlantikvertrages geregelten Schutz- und Verteidigungsgarantien ausdrücklich auch für das Territorium der jetzigen DDR gelten. Dies bedeutete, dass das NATO-Gebiet nach Osten ausgedehnt werden musste. Dabei sollte Ostdeutschland keinesfalls vollständig entmilitarisiert werden, sondern – so die NSC-Formulierung – einen „besonderen 1055 Zelikow / Rice, S. 262, Anm. 60. 1056 Das Problem am Genscherplan war auch dessen Unklarheit. Wer sollte zu welchem Bündnis mit welchen Rechten und Pflichten gehören? 1057 Baker besuchte Bulgarien am 10. und 11. Februar 1990. 1058 Baker, S. 202. 1059 Zelikow / Rice, S. 247.
Bakers Strategie
241
militärischen Status“ innerhalb der NATO erhalten. Als Baker von dieser neuen Linie erfuhr, war sein Brief an Kohl bereits abgesandt; in seiner anschließenden Moskauer Pressekonferenz wechselte der US-Außenminister allerdings sofort auf die neuen Vorgaben aus Washington über, die nicht mehr identisch mit der „Tutzing-Formel“ Genschers waren. Bakers „Versprechen“, „die NATO keinen Inch gen Osten auszuweiten“, war wertlos geworden. Baker korrigierte sich noch in Moskau, als er sagte: Wenn das vereinigte Deutschland zur NATO gehöre, werde die DDR ein Teil dieser Mitgliedschaft sein. Im Gegenzug für diese Mitgliedschaft müsse nur eine gewisse Sicherheitsgarantie in Bezug auf ostwärts verlegte NATO-Streitkräfte oder ostwärts ausgedehnte NATO-Zuständigkeit erreicht werden. Auf diese Formel von Genscher/Baker beziehen sich heute diejenigen, die von einem „Versprechen“ reden, das der damaligen sowjetischen Führung dadurch gegeben worden sei, auch wenn Gorbatschow nicht insistierte und nicht um eine schriftliche Form bat bzw. danach verlangte. Daher ist die Ansicht der Nachfolger von Gorbatschow, daraus ein „Versprechen“ lesen zu können, unbegründet. Denn diese Formel wurde nur in Gesprächen zwischen Baker und Gorbatschow gebraucht. Sie wurde als Diskussionsgrundlage eingebracht. Gorbatschow hat lediglich dazu gesagt, er wolle diesen Vorschlag diskutieren. Er hat nicht einmal darauf bestanden, ihn im Detail zu untersuchen. 1060 Durch die Analyse in Washington und die Anweisung von Präsident Bush an seinen Außenminister wurde die Genscher-Formel gänzlich obsolet. US-Außenminister Baker hatte sie zurückgezogen, damit war sie nicht mehr existent, und niemand konnte sich rechtsverbindlich auf sie berufen. Hans Modrow fasste später zusammen: „Zunächst begriff ich gar nicht die Tragweite dessen, was sich in Gorbatschows Denken nach dem Gespräch mit Baker verändert hatte: Er gab die DDR frei, nichts weniger und nichts mehr. Und diese Chance nutzte Bonn gnadenlos!“ Der DDR-Ministerpräsident erkannte auch die Folgen dieser Politik in Blick auf die NATO: „Nichts mehr blieb von dem Plan, Deutschland schrittweise in den Status eines blockfreien Landes hinüberzuführen. Stattdessen: Weg des vereinten Deutschlands in die NATO und, in der logischen Konsequenz, Osterweiterung dieses atlantischen Bündnisses. [. . . ] Gorbatschow folgte Baker ohne KSZE und schlug seine einstigen großen Gedanken über ein europäisches Haus in den Wind. Weder die Interessen der Sowjetunion noch die des einstigen Verbündeten DDR fanden ernsthafte
1060 Sarotte, 1989, S. 110.
242
Kapitel 8
Beachtung. [. . . ] Die äußeren Bedingungen für eine Vereinigung legte man nun ebenfalls in die Hände der BRD. Und die wusste damit umzugehen.“ Modrow zeigte sich tief enttäuscht von Gorbatschow. Gegenüber dem Autor dieser Arbeit sagte er mehrfach: „Gorbatschow ist nach unserem Gespräch am 4. Dezember 89, am 6. und 7. Dezember im ZK der KPdSU aufgetreten und hat mit aller Eindeutigkeit dort formuliert, die DDR wird nicht aufgegeben, nicht preisgegeben. Was stimmt denn nun? Das, was er noch am 6. und 7. Dezember 1989 im ZK der KPdSU sagte, oder was er in seinen ‚Erinnerungen‘ redete. Wir setzten ja am 9. und 10. Januar 1990 in Sofia eine Kommission ein, die eine Reform des RGW 1061 herbeiführte. Erst am 26. Januar 1990 setzte bei Gorbatschow das neue Denken in Bezug auf die Einheit ein – nicht weiter vorher. Das mag zwei, drei Tage früher sein, wo er den Trupp einlud, aber zeitiger nicht. Das ist meine Überzeugung. Portugalow und wir haben immer gesagt, Grenze auf, aber nicht Grenze weg. Das heißt: DDR bestehen lassen und geregelten Grenzverkehr einführen. So war es ja gedacht. Nicht anders.“ 1062 Über die beschriebene Veränderung in der US-Deutschlandpolitik wurde Kanzler Kohl noch in Moskau durch einen Brief von US-Außenminister Baker informiert. Darin war zusammengefasst, was Baker in den letzten beiden Tagen in Moskau besprochen hatte: – Die USA und die Bundesrepublik bestehen darauf, dass Deutschland als Ganzes in der NATO verbleibt. – Das Gebiet der DDR wird eine Zone mit besonderem militärischem Status, die dem NATO-Schutz unterliegt. – Völlig offen war aber immer noch, wie die Sowjetunion darauf reagieren wird, ob es Bedingungen aus Moskau dafür geben wird, also ob die Sowjets ein Junktim zwischen Wiedervereinigung und Bündnisfrage auf den Tisch legen werden, ob Moskau generell der Einheit Deutschlands zustimmen wird, wenn es in der NATO bleiben wird. Das Ergebnis der Gespräche in Moskau am 10. Februar 1990 konnte niemand vorhersagen. „Ich konnte meine gemischten Gefühle nicht verleugnen. Welche Pläne hatte Gorbatschow? Würde er uns seine Zustimmung zu Deutschlands Einheit nur um den Preis der Neutralität anbieten und
1061 Auf dieser Tagung wurde eine Reform des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) beschlossen. Allgemein tendierte man auf der Tagung zur Marktwirtschaft und zum raschen Übergang zur frei konvertierbaren Währung im gegenseitigen Handel. Die Beziehungen zu Kuba, Laos und der Mongolei sowie den afrikanischen Staaten sollten „entsolidarisiert“ werden. Die Sowjetunion forderte künftig besonders für Rohstofflieferungen Dollar, Pfund oder DM, also „harte Währung“. 1062 Modrow im Gespräch mit dem Autor, 2016/17.
Bakers Strategie
243
uns damit in größte Schwierigkeiten bringen?“, fragte sich Kohl auf dem Hinflug. 1063 Ihn begleitete Außenminister Genscher. Auch er wusste, dass diese Reise eine sehr schwierige sein würde. „Ich wusste, welche Vorbehalte, Bedenken, Widerstände in Moskau gegen eine NATO- Mitgliedschaft Deutschlands bestanden. Die sowjetischen Sicherheitsinteressen spielten dabei eine erhebliche Rolle. Wir würden also noch viel tun müssen, um der Sowjetunion eine veränderte Situation in Europa zu bieten.“ 1064 Kurz vor dem Treffen mit Gorbatschow überbrachte der (west-)deutsche Botschafter Klaus Blech den erwähnten Brief des US-Außenministers mit der Zusammenfassung seiner Gespräche mit Schewardnadse und Gorbatschow und mit der neuen NATO-Formel. Baker war in derselben Stunde aus Moskau abgereist, als Kohl dort landete. „Bakers Schreiben entnehme ich“, so Kohl später, 1065 „dass seine sowjetischen Gesprächspartner die Einheit Deutschlands als unabwendbar ansähen, jedoch ihre Sorge zum Ausdruck gebracht hätten, die Lage könne durch die rasante Entwicklung außer Kontrolle geraten. Die Sowjetunion würde dem nicht tatenlos zusehen.“ Wie diese Reaktion aussehen könnte, blieb offen. Weiter hieß es in dem Brief zur NATO-Zugehörigkeit laut Kohl: 1066 „Zur Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands habe er Gorbatschow vorgetragen, dass die Bundesregierung in Übereinstimmung mit der amerikanischen Administration eine deutsche Neutralität strikt ablehne. Um einen Weg zu finden, habe er dem Generalsekretär vorgeschlagen, dass das vereinte Deutschland ohne das Gebiet der DDR der NATO angehören könne.“ Dieser alte „Genscher-Plan“ aus Tutzing war durch die neue Formel ad acta gelegt worden. Im Gespräch mit Gorbatschow am 10. Februar 1990 betonte dieser „klipp und klar, dass die Entwicklung in Richtung deutsche Einheit unaufhaltsam auf uns zulaufe. Man könne es drehen und wenden, wie man wolle – die Entscheidung stehe kurz bevor“. 1067 Dann wiederholte der Kanzler die Essentials des Baker-Schreibens in eigenen Worten: „Mit Nachdruck stellte ich fest, dass eine Neutralisierung mit der Bundesregierung nicht durchsetzbar sei. Und natürlich könne die NATO ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen. Erforderlich seien jedoch Regelungen, um ein Einvernehmen zu finden. Ich sei mir sicher, die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion richtig einschätzen zu können.“ 1068 1063 1064 1065 1066 1067 1068
Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1062. Genscher: Erinnerungen, S. 722. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1063. Ebda. Ebda., S. 1064. Ebda., S. 1965.
244
Kapitel 8
Gorbatschow stimmte zu, was den Aspekt der Einheit anging. „Die Deutschen können ihre Wahl selbst treffen. Die Deutschen in der BRD und DDR müssten selbst wissen, welchen Weg sie gehen wollten. Aber die Deutschen müssten auch wissen, dass die Einheit nur im Kontext der Realitäten vollzogen werden müsse.“ 1069 In der TASS-Erklärung über das Gespräch 1070 hieß es sogar: „Gorbatschow stellte fest – und der Kanzler stimmte ihm zu –, dass es zurzeit zwischen der UdSSR, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gebe, dass die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen Staatsformen, zu welchen Zeitpunkten, mit welchem Tempo und zu welchen Bedingungen sie diese Einheit realisieren werden.“ Neu war Gorbatschows aktuelle Haltung übrigens nicht. In seiner Rede auf dem ZK-Plenum in Moskau am 10. Dezember 1989 hatte er bereits erklärt: „Wir gehen davon aus, dass jedes Volk das Recht hat, sein Schicksal selbstständig zu bestimmen, einschließlich der Wahl des Systems, der Wege, der Geschwindigkeit und der Methoden seiner Evolution.“ 1071 Das bedeutete im Einzelnen: Staatsform: Unabhängig davon, was in den Verhandlungen zwischen DDR und BRD präferiert werden würde – Konföderation, Föderation, Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz –, Moskau würde das Ergebnis akzeptieren. Die Deutschen hatten jetzt Wahlfreiheit. System: Kein Festhalten am Sozialismus. Die Wahl des Systems war frei. Weg: Artikel 23 GG, Artikel 146 GG oder Friedenskonferenz. Worauf sich die Deutschen auch einigen würden, Moskau nahm die Wahl an. Geschwindigkeit: Keine Beschränkung mehr. Selbst Kohl hatte in seinem Zehn-Punkte-Plan vom 28. November 1989 noch von einem „Moratorium“ gesprochen. Und Gorbatschow wollte bis zum 10. Februar einen Zeitplan einhalten: Erst das „Gemeinsame Europäische Haus“ mit einer „gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur“ bauen, dann die Einheit Deutschlands vollenden. Davon war nun keine Rede mehr. Bedingungen: Alle Experten waren sich einig: Moskau stellte keine „Bedingungen“ hinsichtlich der Frage, ob der Beitritt nach Artikel 23 oder 146 Grundgesetz erfolgen sollte. Das war eine klare Niederlage für Gorbatschow. Berater Valentin Falin, der in einem Brief Gorbatschow „dringend“ darum gebeten hatte, dies zur „Bedingung“ für eine Zustimmung
1069 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1066. 1070 TASS vom 10. Februar 1990. 1071 Biermann, S. 412, Anm. 598; TASS, 10. Dezember 1989.
Bakers Strategie
245
der Einheit zu machen: „Kein Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz!“ Jetzt erteilte Gorbatschow den Deutschen quasi einen „Freibrief“. 1072 Und noch schärfer formulierte der ehemalige Botschafter der Sowjetunion in Bonn in einem Gespräch mit Egon Bahr am 27. 2. 1990 in Moskau: „Dieser berüchtigte Artikel ist für uns eine Art casus belli“. 1073. Falin hatte offenkundig verloren. In der gesamten Erklärung kam der Begriff NATO nicht vor. 1074 Daraus ließ sich ableiten: Was nicht ausdrücklich einer Regelung unterliegt, bleibt den Partnern offen zu regeln. Gorbatschow hatte also keine Bedingungen gestellt, ganz im Gegenteil, er hatte den Deutschen völlig freie Hand gegeben, die Einheit mit allen Konsequenzen auszuhandeln. Zwei Wochen zuvor hatte Gorbatschow Modrow genötigt, die Neutralitätsforderung in seinen Plan aufzunehmen. Davon war gegenüber Kohl nichts geblieben: Kein Drängeln, kein Zwang, keine Bedingungen. Jahrzehnte sowjetischer Deutschlandpolitik waren damit beendet. 1075 Aber: Gorbatschow wies Kohl deutlich darauf hin, dass in der Bündnisfrage bisher keinerlei Annäherung zwischen der westlichen Position (Einheit nur unter dem NATO-Schirm) und der sowjetischen Haltung (Einheit nur ohne NATO) festzustellen war. Gorbatschow sagte Kohl: „Ich sehe ein vereintes Deutschland außerhalb der Bündnisse. Überlegungen, ein Teil Deutschlands solle der NATO, der andere Teil dem Warschauer Pakt angehören, nehme ich nicht ernst.“ Dann aber kam der Satz, den Gorbatschow am Ende nahezu jeder Diskussion über die Bündnisfrage sagte: „Lassen Sie uns diesen Gedanken verfolgen.“ Gorbatschow hatte sich noch keine feste Meinung gebildet. Er war sich in der Frage der NATOZugehörigkeit noch nicht sicher. 1076 Auch wenn in der Bündnisfrage keine Annäherung in Sicht war, 1077 waren Kohl und sein Berater Teltschik hochzufrieden. „Es war ein guter
1072 Kohl wollte diesen Begriff nicht hören. Am 13. Februar 1990 traf er Hans Modrow in Bonn und während dieses Treffens sagt Kohl in die Fernsehkameras: „Ich will die Haltung der Sowjetunion auf keinen Fall als Freibrief zu einem nationalen Alleingang betrachten.“, in: Teltschik, S. 145. 1073 Karner: Dok Nr. 13, S. 202 1074 Dazu Teltschik in einem Gespräch mit dem Autor am 17. Juni 2015: „Die NATOMitgliedschaft war für uns noch kein Thema. Für uns war die Einheit wichtig, und die sollte durch multilaterale Gespräche vorbereitet werden. So entstand die Idee von 2 + 4 und die Einbindung der deutschen Einheit in den KZSE-Prozess. Alle anderen Fragen, etwa die nach der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschland, waren nicht vordergründig. In den Vordergrund kam das durch unsere westlichen Partner, die haben ganz klar gesagt: NATO-Mitgliedschaft!“ 1075 Biermann, S. 414. 1076 Galkin / Tschernjajew, S. 329; Biermann, S. 413; Teltschik, S. 141. 1077 Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, S. 249.
246
Kapitel 8
Tag“, so Kohl zu seinen Mitarbeitern am Abend. 1078 Teltschik war geradezu euphorisch. „Wieder eine Sensation: Gorbatschow legt sich nicht auf eine endgültige Lösung fest; keine Einforderung eines Preises und schon gar keine Drohung. Welch ein Treffen! Der Bann ist gebrochen.“ 1079 Beim gemeinsamen Abendessen flüsterte Falin seinem Tischnachbarn Sagladin 1080 zu: „Jetzt ist die deutsche Frage gelöst, nun können wir beide ja in Pension gehen.“ Kanzler Kohl ging voller Euphorie um Mitternacht zu Fuß auf den Roten Platz, um sich abzukühlen, wie er seinen Mitarbeitern sagte. Er war bester Stimmung, denn „Gorbatschow hat sich ihm nicht in den Weg gestellt, sondern sich schneller als erwartet den Realitäten angepasst“. 1081 Kohl war zufrieden und enttäuscht zugleich. 1082. Zufrieden, weil Gorbatschow die deutsche Einheit in die Hände der Deutschen gelegt hatte. „Der Durchbruch war geschafft“, so Kohl. 1083 Unzufrieden, weil in der Frage der Bündniszugehörigkeit kein Entgegenkommen zu spüren war. In der Pressekonferenz spätabends in Moskau sagte Kohl: „Wir wollen die Frage der unterschiedlichen Bündniszugehörigkeit in enger Abstimmung auch mit unseren Freunden in Washington, Paris und London sorgfältig beraten und gemeinsam eine Lösung finden.“ 1084 Aber: Beide waren sich einig, „dass die deutsch-deutsche Annäherung der europäischen Annäherung keinen Schaden zufügen dürfe. Sie muss so verlaufen, dass sie für die konstruktive gesamteuropäische Entwicklung einen Beitrag leistet“. 1085 Kein Wort von einer Art „Bedingung“ oder einem „Versprechen“. Es wurde nur von „Lösungen“ gesprochen, die gemeinsam erarbeitet werden müssten. Selbst ein Junktim zwischen Wiedervereinigung und Neutralität wurde nicht schriftlich fixiert. Kohl wunderte sich allerdings, „wieso es bei Gorbatschow in so kurzer Zeit zu solchen Metamorphosen kommen konnte. Denn in Wahrheit wollte er die deutsche Einheit nicht“. 1086 Kohl erhielt die Zusage, dass die Deutschen allein über ihre Vereinigung entscheiden könnten. Er bekam aber keine Zusage, dass Deutschland in der NATO verbleiben könne. Gegen die NATO-Zugehörigkeit des gesamten vereinten Deutschlands war nicht nur Moskau, sondern auch die neue
1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086
Ebda., S. 248. Teltschik, S. 141. Ebda. S. 142. Teltschik, S. 144. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1067. Ebda. Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1068. Biermann, S. 516, Anm. 375. Ebda., S. 1069.
Bakers Strategie
247
DDR-Regierung. „Hier sei man mit Bonn nicht einig“, 1087 so der neue DDR-Regierungschef Lothar de Maizière noch Ende April 1990. Die Sowjetunion teilte ihre Position der DDR-Regierung am 16. April 1990 noch einmal ausführlich mit. In dem Non-Paper aus Moskau 1088 an die Regierung von Ministerpräsident de Maizière heißt es unter Punkt 5: Die Eingliederung eines vereinigten Deutschlands in die NATO ist unannehmbar, und daran ändern auch keinerlei Vorbehalte über eine zeitweilige bzw. ständige Ausklammerung des gegenwärtigen Territoriums der DDR aus der Einflusssphäre der NATO etwas. Die NATO ist ein wichtiger Faktor des Kräfteverhältnisses nicht nur in Europa, sondern auch im Weltmaßstab. Nicht ausgewogene Veränderungen in diesem Verhältnis hätten unvorhersehbare Konsequenzen, deren Vermeidung Aufgabe aller am gesamteuropäischen Prozess Beteiligter ist. Wenn man konsequent ist, kann man nicht umhin, anzuerkennen, dass eine Aufrechterhaltung der NATO bei Auflösung des Warschauer Vertrages und die Eingliederung eines vereinigten Deutschlands in die NATO durchaus kein positiver Beitrag zur gesamteuropäischen Sicherheit und zur Schaffung von Strukturen sein wird, die den Interessen der Stabilität und des Friedens in stärkerem Maße entsprechen. Der Ausweg ist die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Einen Übergang vom gegenwärtigen System zweier Bündnisse zu einer kollektiven Sicherheitsstruktur zu finden – dieses Ziel erschließt breite Möglichkeiten. Die Hauptsache ist, dass dabei keiner Seite Schaden zugefügt wird. 1089
Am selben Tag, am 19. April 1990, gab Lothar de Maizière seine Regierungserklärung in der Volkskammer der DDR ab. 1090 Darin fand sich kein Wort zur NATO. Die Reaktion in Bonn auf diese Erklärung war entsprechend. In einer Bewertung schrieb Ministerialdirigent Hartmann an Kanzler Kohl: „Sehr problematisch erscheint insbesondere, dass die NATO und die NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands überhaupt nicht erwähnt werden. In der Koalitionsvereinbarung hingegen wurde die NATOMitgliedschaft eines geeinten Deutschlands – wenn auch mit problematischen Kautelen – befürwortet. Verstärkt wird dieser gravierende Mangel dadurch, dass an anderer Stelle von einer ‚Loyalität gegenüber dem Warschauer Pakt‘ und einer Initiative gegenüber den übrigen Warschauer
1087 „Bild“-Interview Peter Brinkmann mit Lothar de Maizière, 28. April 1991. 1088 Inoffizielle Note der Sowjetunion an DDR-Regierung, 16. 4. 1990; in Internet: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/inoffizielle-note-der-sowjet union-an-ddr-regierung-481958 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1089 Lehmann, Ines: Die Außenpolitik der DDR 1989/1990, Baden-Baden 2010, S. 265. 1090 Politik für unser Volk: Regierungserklärung des Ministerpräsidenten; in Internet: www.deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/BArch-DC20-1-3-2944_Re gerkl.pdf (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
248
Kapitel 8
Pakt-Staaten gesprochen wird, die politische Zusammenarbeit zu intensivieren.“ 1091 Seit dem Amtsantritt der neuen DDR-Regierung versuchte die Bundesregierung, diese in der NATO-Frage auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Bonn schickte Berater in die DDR. Doch deren Außenminister Markus Meckel (SPD) 1092 lehnte jedwede bundesdeutsche Unterstützung ab. 1093 Meckel, ein Pfarrer aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR, orientierte sich an pazifistisch-neutralistischen Positionen. Diese wollte er auch energisch in die 2 + 4-Gespräche einbringen. Meckels und anfangs auch de Maizières Zielsetzungen waren die Anerkennung der polnischen Westgrenze, die deutliche Abrüstung aller deutschen Streitkräfte und die Ablösung der Rechte der Alliierten. Während Kanzler Kohl auf einem vereinten Deutschland in der NATO bestand, waren de Maizière und Meckel hier anderer Meinung und verfolgten Gorbatschows Ansicht. Sie wollten mittelfristig ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem schaffen und die Blöcke damit auflösen. Dies erschien den westlichen Gesprächspartnern in den 2 + 4-Verhandlungen „ziemlich weltfremd“. 1094 Der BRD-Botschafter bei der NATO, Hans-Friedrich von Plötz, musste Meckel stundenlang in die Struktur der NATO einweisen, bevor dieser überhaupt in die 2 + 4-Verhandlungen gehen konnte. 1095 Ministerpräsident de Maizière forderte in seiner Regierungserklärung den Abzug aller westlicher alliierter Truppen und die Denuklearisierung Deutschlands. Doch nach und nach zeigten die Gespräche mit bundesdeutschen Politikern Wirkung. Ab Mai 1990 ließ er sich mehr und mehr davon überzeugen, dass eine Reform der NATO-Strategie hin zu einem mehr politischen Bündnis zu einem Nebeneinander von gesamteuropäischem Bündnis und NATO führen könne. 1096 Der DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung, der Pfarrer und Kriegsdienstverweigerer Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch (DA), 1097 wollte sowohl sowjetische wie alliierte Streitkräfte in Deutschland stationiert lassen und dafür einen Verzicht auf die volle Souveränität hinnehmen. 1098 Damit war die DDR deutlich näher an den 1091 Deutsche Einheit, Dok Nr. 249, S. 1022. 1092 Außenminister der DDR vom 12. April bis 20. August 1990. 1093 Biermann, S. 513 und Anm. 363. Scholtyseck, Joachim: Die Außenpolitik der DDR, München 2003, S. 52. 1094 Beschloss / Talbott, S. 306 1095 Biermann, S. 513. 1096 Bock, Siegfried; Muth, Ingrid; Schwiesau, Hermann (Hg.): DDR-Außenpolitik: Ein Überblick. Daten, Fakten, Personen (III), Berlin 2010. S. 36 ff. 1097 Eppelmann war Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR vom 12. April bis 3. Oktober 1990. 1098 Biermann, S. 513.
Keine Bedingungen aus Moskau
249
Positionen der Sowjetunion als an denen der Bundesrepublik, der NATO und den USA. Wenn sich aber die beiden deutschen Staaten schon nicht einig waren, dann konnte es keine Einheit unter dem NATO-Dach geben. Ein neutralisiertes Deutschland schloss Kanzler Kohl aber strikt aus und hatte dies den USA immer wieder versichert. Kohl musste also auch die DDR-Regierung davon überzeugen, dass das vereinte Deutschland in der NATO verbleiben musste, dass dies Voraussetzung für die Vereinigung war. Der Schlüssel lag im Umbau der NATO, dem Beginn der Verhandlungen über eine stärkere KSZE und im Aufbau eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Ziel musste es sein, die NATO so zu verändern, dass sie keine Bedrohung – in welcher Form auch immer – für die Sowjetunion darstellte. Die NATO sollte durch KSZE und ein neues Sicherheitssystem in Europa praktisch „an die Kette“ gelegt werden. Bei allen diesen Bemühungen lief zeitgleich der deutsche Einigungsprozess zügig voran. Kohl gelang es, nach dem 10. Februar 1990 die Zusage Gorbatschows zur Einheit zu bekommen und ihn in der NATO-Frage umzustimmen. Mitte Februar 1990 war die künftige Rolle der NATO wiederholt Thema vertraulicher Gespräche zwischen US-Präsident George Bush, seinem Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und dem britischen Außenminister Douglas Hurd und anderen europäischen Politikern. Es gab im Februar 1990 diese Hinweise darauf, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde: 1. 2.
3. 4. 5.
Am 31. Januar 1990 hatte Bundesaußenminister Genscher in Tutzing erklärt: Die NATO wird sich nicht nach Osten erweitern. Genscher und Hurd am 6. Februar 1990: Keine Ausdehnung nach Osten geplant. Keine mögliche Erweiterung für ehemalige „Warschauer Vertrags“-Staaten. Für NATO-Generalsekretär Manfred Wörner waren solche Gedanken noch Anfang Februar „Gedankenspiele, die ihm zu weit gingen“. US-Außenminister Baker notierte, „keine Verschiebung gen Osten“. Helmut Kohl in Moskau gegenüber Gorbatschow: 1099 Keine Erweiterung gen Osten.
Keine Bedingungen aus Moskau Von sowjetischer Seite wurde hierzu nichts geschrieben, nichts verlangt, nichts gefordert, nichts verhandelt. Kernsatz war: Die NATO wird sich 1099 Kohl: Erinnerungen 1982–1990, S. 1065.
250
Kapitel 8
nicht in das Gebiet der dann nicht mehr existierenden DDR ausdehnen. Aber im „Nationalen Sicherheitsrat“ in Washington entdeckte man rechtzeitig den „Pferdefuß“: Wenn das vereinte Deutschland in der NATO bliebe (woran die westliche Seite schon im Februar keinen Zweifel ließ), dann konnte es nicht sein, dass ein Teil Deutschlands, nämlich der Teil, der einmal DDR gewesen war, nicht unter dem Schutz des Artikel 5 und 6 (Verteidigungsfall) des NATO-Vertrages stehen würde. Es musste logisch so sein, dass ganz Deutschland unter den Schutz der NATO gestellt würde. Daher konnte es sich nur um ein Gebiet handeln, das – obwohl es zur NATO gehört – besonderen „militärischen Status“ bekam. Trotz vieler Gespräche mit Schewardnadse und Gorbatschow waren sich die westlichen Gesprächspartner nicht sicher, ob die Frage, zu welchem Bündnis das vereinte Deutschland denn nun am Ende gehören sollte, bereits definitiv beantwortet war. Einerseits gab es eine klare Aussage von Gorbatschow, dass die Deutschen allein darüber entscheiden könnten und sollten, ob sie in einem gemeinsamen Staat Deutschland leben wollten. Andererseits wurde um die Antwort auf die Frage „Zu welchem Bündnis soll dieser neue Staat gehören“ heftig gerungen. Gorbatschow bog jede beginnende Diskussion darüber bis Februar mit dem Satz ab: Darüber müssen wir weiter nachdenken. Wie also war der Stand? Im NATO-Bündnis und in der EU war diese Frage beantwortet: Natürlich zur NATO. Aber Moskau tat sich schwer. Dies geht aus den zzt. einsehbaren Akten und Protokollen vom Februar 1990 klar hervor. Gorbatschow war sich offenbar – aber fälschlicherweise – sicher, dass er die Fäden für die deutsche Einheit in der Hand hielt. Sein Hinweis, dass ja „unsere Truppen in der DDR stehen“ 1100, spricht für diese Einstellung, wenngleich er selbst die Breschnew-Doktrin außer Kraft gesetzt hatte. Gorbatschow steckte in einer selbst gebauten Falle. Anfang Februar merkte er es nicht. Er war sich offenbar dieser drei Tatsachen sicher: – Die Sowjetunion ist und bleibt ein starker und bestimmender Staat. 1101 – Der „Warschauer Pakt“ ist stark und bleibt bestehen. – Voraussetzung dafür ist, dass die „sozialistischen Länder“, die die Sowjetunion umgaben, standfest zu Moskau halten. Mit diesen Punkten erlag Gorbatschow einem irreparablen Irrtum. Baker konstatierte: „Gorbatschow wollte den Niedergang der Sowjetunion als Großmacht nicht wahrhaben.“ 1102 1100 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 66, S. 287. 1101 Baker, S. 184. 1102 Ebda., S. 183.
Keine Bedingungen aus Moskau
251
Angesichts weitreichender Atomraketen, die in der DDR und in der Bundesrepublik stationiert waren, war die geografische Verschiebung der NATO-Grenze von der Elbe an die Neiße in strategischer Sicht unbedeutend. Es hätte die Bedrohungslage für beide Seiten nicht entscheidend verändert. Es war also kein geografisches, sondern ein psychologisches Problem für die Regierung in Moskau. Aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges hatte sich bei den Menschen in der Sowjetunion festgesetzt: Nie wieder Krieg mit und nie wieder Krieg von deutschem Boden. Die NATO wurde seit jeher als „Kriegstreiber-Bündnis“ angesehen. Für Gorbatschow war es daher schwer, seiner Bevölkerung, besonders seinem Militär, nahezubringen, dass dieses Bündnis nun näher an die Sowjetunion rücken sollte. Hinzu kam: Es war nach fast 50 Jahren „Kaltem Krieg“ mit der NATO für die Sowjetführung nahezu unmöglich, dem sowjetischen Volk zu erklären, dass das neue vereinte Deutschland als besiegtes Land diesem bisher verteufelten Bündnis angehören sollte. Viele in Moskau fragten sich, wer denn eigentlich den „Großen Vaterländischen Krieg“ gewonnen hatte. US-Präsident Bush hatte die Brisanz erkannt und für sich diesen Schluss gezogen: „Die Sowjets sind nicht in der Position, den Deutschen ihr Verhältnis zu NATO zu diktieren. Zur Hölle damit! Wir haben uns durchgesetzt, nicht sie. Wir können nicht zulassen, dass sich die Sowjets aus dem Keller der Niederlage den Sieg schnappen.“ 1103 In Moskau wurde diskutiert, doch am Ende blieb es bei der Formel: Wir lassen Gesamt-Deutschland nicht in die NATO! Alle Versuche, Deutschland zu neutralisieren, schlugen fehl. Denn es gab eine logische Folge einer Vereinigung: Wenn nämlich Einvernehmen in Bezug auf die Vereinigung bestand – also hinsichtlich der Aufhebung aller mit den Kriegsfolgen verbundenen Beschränkungen – dann erhielt Deutschland damit auch das souveräne Recht zu wählen, in welchem Block / Bündnis es sein oder ob es generell außerhalb eines Blockes / Bündnisses bleiben wollte. Die sowjetische Position war also nicht haltbar. Denn der Prozess der Wiedervereinigung war im Februar 1990 so weit vorangeschritten, dass Moskau ihn nicht mehr stoppen konnte. Widersetzte sich jetzt die Sowjetunion den deutschen / westlichen Wünschen zur NATO-Mitgliedschaft, dann käme die Einheit ohne die Sowjetunion zustande. 1104 Ein militärisches Engagement hatte Gorbatschow bereits 1987 ausgeschlossen. Wollte Moskau auf dem Spielfeld bleiben, musste es auch die Spielregeln akzeptieren. Dazu gehörte auf westlicher Seite auch das ständige Bemühen, die sowjetische Seite zu ködern. 1103 Ebda., S. 198. 1104 Ebda., S. 231.
252
Kapitel 8
Das sollte geschehen durch: – eine Veränderung in der NATO-Doktrin, – finanzielle Hilfen vornehmlich durch die Bundesrepublik, – Stärkung der KSZE. In der NATO-Frage wollte (oder konnte) sich Gorbatschow nicht bewegen. Er wolle die „Gedanken weiter verfolgen“, hatte er Kohl gesagt. Gorbatschow war offenbar nicht bereit, die NATO-Frage mit Kohl weiter zu diskutieren. Dies ist ein Zeichen dafür, unter welchem Druck Gorbatschow stand. Er suchte zusammen mit seinem Außenminister Schewardnadse einen Weg, um die Interessen der Sowjetunion zu wahren und gleichzeitig die NATO fernzuhalten. Das hätte aufgehen können, wenn er mehr von den USA und der Bundesrepublik eingefordert hätte. Und dies früher als im Februar 1990. Er musste einen Weg finden, die NATO-Frage zu entschärfen und gleichzeitig Hilfe zu bekommen. Dabei unterschätzte Gorbatschow die Zeit, die er für eine Lösung in seinem Sinne brauchte und die ihm fehlte. Mehrfach sagte er zu seinen Mitarbeitern, „wir haben genug Zeit“ 1105 und verschob die Diskussion weit, was auf eine große Ratlosigkeit hindeutete. 1106 Lothar de Maizière sagte dazu im Juni 2015: „Wetterfahne“ ist ein schönes Bild dafür und verdeutlicht unsere Probleme, die wir später, bei den Verhandlungen hatten. Wir wussten nicht immer, wer gerade in Moskau das Sagen hatte, wer da was gerade gesagt hatte und woran wir waren: Portugalow, Kwizinski, Kotschemassow, Schewardnadse, Falin, Gorbatschow . . . ? Der eine sagte „Neutralität“, der andere ‚Gesamtdeutschland in der NATO‘, ein dritter ‚in beiden Bündnissen‘. Ich dachte erst, dass die mit verteilten Rollen spielten. Dann merkten wir, dass es Ausdruck völliger Unsicherheit war. Sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte, sie hatten kein Konzept. Gorbatschow hatte noch im Dezember 1989 erklärt, dass die deutsche Einheit nicht auf der Tagesordnung stehe. Ich meine, er war damals tatsächlich davon überzeugt. 1107
Es könnte aber auch darauf hindeuten, dass Gorbatschow ganz andere Pläne hatte. 1108 Er, Gorbatschow, wollte die Einheit Deutschlands mitgestalten, und zwar über die Vier Mächte des Zweiten Weltkrieges. Bis zum Kohl-Besuch am 10. Februar 1990 gab es keinerlei ernsthafte Gespräche
1105 1106 1107 1108
Biermann, S. 413. Ebda. 17. Juni 2015 in Berlin. Biermann, S. 415; Teltschik, S. 146; Baker, S. 190 f.
Keine Bedingungen aus Moskau
253
über die deutsche Einheit zwischen den vier Siegermächten. Verhandlungen standen erst noch bevor. Hier wollte Gorbatschow seine Pläne einbringen, und hier sollte die Frage der Bündniszugehörigkeit behandelt werden und nicht in bilateralen Gesprächen zwischen ihm und Kanzler Kohl. Am 10. Februar 1990 war Julij Kwizinski, einer der Berater von Gorbatschow, der Meinung: „Alle Eisen sind noch im Feuer“, und fügte hinzu: „Für unsere Begriffe gibt es für Herrn Kohl nicht viel zum Feiern.“ Der ehemalige Botschafter in Bonn schrieb später: „Ich glaube noch heute, dass Deutschland aus der NATO ausgetreten wäre, wenn man das deutsche Volk entschieden genug vor die Wahl gestellt hätte – nationale Einheit oder NATO.“ 1109 Tatsächlich hätte es eine Mehrheit der Deutschen für einen Austritt aus der NATO gegeben, wenn die Frage gelautet hätte: „Sind Sie für die deutsche Wiedervereinigung, wenn Deutschland dafür aus der NATO austreten müsste?“ Die Antwort war im Frühjahr 1990 eindeutig: Die Mehrheit der Deutschen war für Neutralität. Zugleich wuchs die Zahl derer, die ein neues „Gesamteuropäisches Sicherheitssystem“ befürworteten. 1110 Die SPD nutzte diesen Meinungstrend sofort aus. Ihr Vorsitzender Oskar Lafontaine nannte die Forderung nach einer künftigen gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft einen „Irrtum“. 1111 Kohl machte allen Gesprächspartnern zu dieser Zeit klar: Die Bündnisfrage ist nicht entschieden, und ohne eine von allen akzeptierte Antwort ist alles Verhandeln „Makulatur“. Diese Haltung erklärt auch, warum Kohl keine Bedingungen stellte. Sie konnte er im Prozess der dann später sogenannten 2 + 4-Verhandlungen immer noch einbringen. Für die Sowjetunion hatte der Einheitsprozess noch nicht begonnen. Er stand noch bevor. Gorbatschow hatte – und dies machte er allen seinen Partnern klar – bisher auf keine der vermeintlichen Ansprüche der Sowjetunion aus den Vier-Mächte-Rechten verzichtet. Innenpolitisch geriet Gorbatschow weiter unter Druck. Er hatte Kohl bei seinem Besuch in Moskau nicht, wie seine Kritiker erhofft hatten, in die Schranken verwiesen, sondern er hatte ihm die „DDR überlassen“. Unzählige Protestbriefe trafen im ZK ein. Seine Berater waren konsterniert. Keinen der Vorschläge, die diese Gorbatschow zur Vorbereitung des Treffens mit Kohl aufgeschrieben hatten, hatte Gorbatschow auch nur gelesen. Berater Valentin Falin 1112, der beim Abendessen mit Kohl dabei war und
1109 Biermann, S. 416. 1110 Ebda., S. 484 und Anm. 231–235. 1111 SPD machte auch Samstag noch Wahlkampf, in: WamS, Nr. 11 vom 18. März 1990, S. 1,7. 1112 Biermann, S. 415 f.
254
Kapitel 8
schon in „Pension gehen wollte“, war „empört“. 1113 Er drängte Gorbatschow, „Bedingungen“ zu nennen. Vergeblich! Gorbatschow musste sich auch gegen die heftige Kritik aus den Reihen des KGB, des ZK und der Partei wehren. Das führte dazu, dass er und sein Außenminister wieder schärfer im Ton wurden und die NATO-Mitgliedschaft heftig ablehnten. Bevor er weitere Konzessionen machen konnte, musste er den Sturm im eigenen Haus beilegen. Unbeantwortet blieb die Frage, was Gorbatschow bewogen hat, schließlich doch große Zugeständnisse an Kohl zu machen, von denen er auch verbal – trotz neuer Schärfe in der NATO-Frage – kein Wort zurücknahm. Offen ist auch, was dazu führte, dass Gorbatschow schließlich der NATOMitgliedschaft zustimmte. Die dramatische Veränderung der sowjetischen Haltung zur NATO-Frage hat sich zwischen dem 10. Februar 1990 und dem Kohl-Besuch in Moskau und im Kaukasus im Juli 1990 ergeben. Über den Auslöser kann man – vorerst – nur spekulieren. In der sowjetischen Bevölkerung war seit Beginn 1990 ein Stimmungswandel eingetreten. Im März 1990 waren 60 Prozent der Bürger für eine Wiedervereinigung Deutschlands. Nur 24 Prozent waren dagegen. Ganz anders dagegen das Stimmungsbild in der Führungselite des Landes. Nahezu einhellig missbilligten Partei und Staats-Nomenklatura das, was in Deutschland ablief. Gerade die Euphorie der Deutschen in West und Ost über Gorbatschow war Grund, ihn scharf anzugreifen. 1114 Der Kreml-Chef sah sich genötigt zurückzurudern, als er am 14. Februar 1990 mitteilen ließ: „Keinesfalls habe er mit seinem Entgegenkommen den Deutschen eine Blankovollmacht erteilt. Die eigentlichen Verhandlungen stünden erst noch bevor!“ 1115 In Bonn war man zurecht beunruhigt. Zumal auch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS über den Zustand in Moskau meldete: Es gibt gegenwärtig mehr Fragen als Antworten. 1116 Moskau hatte keinen Plan für die 2 + 4-Verhandlungen, und Gorbatschow hatte keine Idee, wie er die NATO-Frage lösen sollte. Der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinski 1117 sagte 1994: „Ich war gar nicht begeistert von der Sache 1118, weil ich wusste, dass diese Schachpartie eigentlich schon verloren war, denn es gab keine Chancen, sie zu gewinnen. Wäre die Partie
1113 1114 1115 1116 1117
Ebda. Ebda., S. 514. Stuttgarter Zeitung, 14. 2. 1990 und Biermann, S. 515. TASS, 14. 2.1990. Botschafter von 1986 bis Mai 1990 in Bonn, danach Vize-Außenminister, Teilnehmer an den 2 + 4-Gesprächen. 1118 Gemeint sind die 2 + 4-Gespräche.
Keine Bedingungen aus Moskau
255
zu gewinnen gewesen, dann hätten wir sie nicht verloren, aber sie war verloren“. 1119 Gorbatschow hatte, anders als Bush in Washington, keine zukunftsweisenden Berater um sich. Sein Beraterstab stammte aus dem ZK der KPdSU, dem Auswärtigen Amt und war beherrscht von den „Germanisten“, die die Pläne bereits in den Fünfzigerjahren selbst ausgearbeitet und seitdem nichts dazu gelernt hatten. 1120 Aber gerade diese Pläne – Neutralisierung und Demilitarisierung Deutschlands – waren vom Westen stets abgelehnt worden. Jetzt legte Gorbatschow sie erneut auf den Tisch und stieß dabei wiederum auf westliche Ablehnung. Gorbatschow präsentierte nach dem Mauerfall zunächst immer wieder altbekannte Vorschläge. Eine Ursache hierfür ist in seiner Lebensgeschichte zu finden. Er hatte die deutsche Besetzung in seinem Dorf noch miterlebt. Die Angst vor der deutschen Militärmacht saß tief in ihm und bei seinem Partner, Freund und Außenminister Schewardnadse. Beide dachten in der Kategorie: Europas Frieden ist nur gesichert, wenn wir die deutsche Macht klein halten. Gorbatschow begriff nach dem Fall der Mauer nicht, dass die geopolitische Lage sich grundlegend geändert hatte. Er selbst hatte die BreschnewDoktrin bereits 1985 (Ankündigung) und 1988 (Umsetzung) aufheben lassen. Damit war das einzige Machtmittel, das Moskau gegenüber den „Bruderstaaten“ hatte, weggefallen. Mit der KSZE hatte sich Moskau nun ein Instrument geschaffen, das für das System lebensbedrohlich wurde. Die beiden Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Menschenrechte“ wurden von Gorbatschow mit Leben erfüllt, zeigten aber bald gegenteilige Wirkung. Die „Bruderstaaten“ Polen, Ungarn, Aserbaidschan und das Baltikum wandten sich gegen Moskau. In der DDR ging die Menschen auf die Straßen, indem sie sich auf das Selbstbestimmungsrecht beriefen und jagten die SED-Parteidiktatur davon. Eduard Schewardnadse waren als einem der ersten in der Nomenklatura die System-Widersprüche aufgegangen. Er erkannte, dass die sowjetische Deutschlandpolitik weder zeitgemäß noch durchsetzbar war. 1121 Was fehlte, war eine klare Vorgabe von Gorbatschow als KPdSU-Generalsekretär. Er glaubte, diese gegeben zu haben, als er dem Bau des „Gesamteuropäischen Hauses“ Priorität gab. Erst das „Europäische Haus, dann die Gesamteuropäische Sicherheitsstruktur, damit zeitgleich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten“. Die Wirklichkeit war aber stärker. Die beiden Staaten in Deutschland näherten sich schneller an als Gorba1119 Biermann, S. 514. 1120 Ebda., S. 515. 1121 Ebda., S. 516.
256
Kapitel 8
tschow je gedacht hatte. In dieser Phase sah er nicht, was geschah und erkannte nicht, welche Dynamik sich in Europa entwickelte, um alle alten Strukturen aufzuheben. Er hatte keine Kontrolle über die Prozesse, die in Europa – Ost wie West – abliefen. Vor allem aber war Gorbatschow in seiner Perestroika-Politik gefangen. Sie sah gemäß der KSZE-Schlussakte von 1975 das „Selbstbestimmungsrecht“ oder die „Freiheit der Wahl“ vor, was nunmehr nahezu alle Staaten für sich einforderten, die bisher von der Sowjetunion abhängig waren. Es fiel schwer, im Frühjahr 1990 eine klar ausgewiesene Position der sowjetischen Politik in der Deutschland-Frage zu erkennen. Viele Vorschläge wirkten diffus und unausgegoren. 1122 Der Historiker von Plato beschrieb das so: Die sowjetische Führung unter Gorbatschow hatte kein Konzept. Anstatt nüchtern zu analysieren, dass in der DDR die Zeichen in Richtung Einheit wechselten, die DDR auch ökonomisch zerfiel, anstatt die Folgen für den Warschauer Pakt bzw. für die Sowjetunion zu bedenken und für eine solche Wiedervereinigung Deutschlands die sowjetischen Bedingungen möglichst früh auszuarbeiten, wurde ausgerechnet von Helmut Kohl verlangt, sich gegen seine Grundüberzeugung einer Politik in Richtung Einheit Deutschlands zu enthalten. Es wurde eine unpolitische Vorwurfshaltung gegen den Bundeskanzler an den Tag gelegt, obwohl der den ökonomischen Zerfall der DDR nicht zu verantworten hatte. Ein Grundfehler sowjetischer Politik setzte sich hier fort: Ebenso wenig wie die sowjetische Führung diese Bewegungen von unten berücksichtigte, ebenso wenig wurde von ihr in der praktischen Politik die DDR (noch nicht) als Besonderheit einer ‚halben Nation‘ behandelt. Sie übersah die Bedeutung der anhaltenden Bindungen zwischen DeutschlandOst und Deutschland-West, die sofort mit dem Wegfall der Mauer wirksam werden mussten. Anstatt die Westeuropäer für ein konkretes gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Einschluss der Sowjetunion (und der USA) zu gewinnen und nicht abstrakt vom ‚Europäischen Haus‘ zu reden, wurde von sowjetischer Seite versucht, die übrigen Westeuropäer gegen die Einheit Deutschlands zu mobilisieren. 1123
Diese Konzeptionslosigkeit und das Nicht-Erkennen der realen Veränderungen 1124 machten es Gorbatschow unmöglich, die Einheit als Faktum zu sehen. Das führte aber dazu, dass auch er keine Bedingungen formulieren konnte. „Was nicht geschehen sollte, musste ja nicht aufgehalten werden. Und was nicht geschehen darf, wird auch nicht geschehen.“ Dies war der Fehlgedanke in Moskau. Und so wurden immer wieder neue Vorschläge von immer mehr Politikern in die Welt gesetzt. Kohls Berater Teltschik 1122 Ebda. 1123 Vgl. Plato, S. 135. 1124 Adomeit, S. 4.
Keine Bedingungen aus Moskau
257
beurteilte das Fehlen einer klaren Linie so: „Solange solche Vorschläge immer wieder kommen und immer wieder andere, ist der Denkprozess im Gange; ja, das war für uns entscheidend, ist die sowjetischen Seite flexibel und zurrt nicht etwas fest, was man dann unter Gesichtswahrung nicht mehr auflösen kann.“ 1125 Auf diese Weise wurden viele Vorschläge schlicht nicht ernst genommen und somit entwertet. Da von Gorbatschow keine einheitliche Position vorgegeben wurde und sich alle vermeintlichen Deutschland-Kenner in nahezu allen westlichen und bundesdeutschen Presseerzeugnissen zu Wort meldeten, war es sehr schwierig, die Meinung herauszufiltern, die zumindest annähernd das Denken und die Vorstellungen von Michail Gorbatschow wiedergab. Hinzu kommt, dass viele Dokumente in sowjetischen / russischen Archiven bis heute gesperrt sind. Der interne Meinungsbildungsprozess in Moskau im Jahr 1990 ist daher nur bruchstückhaft nachzuvollziehen. So stellte es sich heraus, dass ausschließlich auf die persönlichen Stellungnahmen von Gorbatschow und Schewardnadse geachtet wurde. 1126 Bereits am 19. Dezember 1989 formulierte der sowjetische Außenminister vor dem „Politischen Ausschuss“ des Europaparlamentes in Brüssel Grundgedanken für eine Umgestaltung Europas. 1127 Die Mauer war fünf Wochen zuvor gefallen. Den Ausschussmitgliedern stellte Schewardnadse diese Frage: „Welchen Platz würde dieses nationale deutsche Gebilde in den militärpolitischen Strukturen, die in Europa existieren, einnehmen? Schließlich kann man nicht ernstlich erwarten, dass sich der Status der DDR radikal ändert, während der Status der BRD derselbe bleibt.“ Diskutiert wurde 1990 die Frage, ob die Siegermächte überhaupt noch Mitspracherechte beim Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten haben. Immerhin hatten die westlichen Siegermächte der Bundesrepublik 1955 Souveränität gewährt, allerdings mit Vorbehaltsrechten. In einer Studie des Deutschen Bundestages zum Thema „Souveränität Deutschlands“ 1128 heißt es dazu: Der zunächst als Generalvertrag, später meist als Deutschlandvertrag bezeichnete „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten“ vom 26. Mai 1952/23. Oktober 1954, der am 5. Mai 1955 in Kraft trat, beendete das Besatzungsregime der Westmächte in der Bundesrepublik.
1125 1126 1127 1128
Biermann, S. 517, Anm. 379 f. Ebda., S. 518. Ebda., S. 523. Geiger, Rudolf: Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht, München 2009, S. 40 ff.
258
Kapitel 8
Nach Art. 1 des Deutschlandvertrages erhielt die Bundesrepublik „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten (. . . ) vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Vertrages“. 1129 Die Westalliierten sicherten sich im Deutschlandvertrag allerdings Vorbehaltsrechte, die auf die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Vier Mächte 1945 zurückgingen und die Souveränität Deutschlands einschränkten. Es handelte sich um die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung. Bestimmte Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland wurden beibehalten. Insoweit enthielt der Deutschlandvertrag nur Konsultationspflichten der Drei Mächte gegenüber der Bundesrepublik. Art. 7 des Deutschlandvertrages ließ erkennen, dass die Vertragspartner die Existenz der Bundesrepublik Deutschland nur als vorübergehend ansahen. Dort formulierten sie als wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden solle. Die Vertragsparteien seien sich weiterhin darüber einig, dass die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden müsse. Bis zum Abschluss der friedensvertraglichen Regelung wollten sie zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: „ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.“ Formal ähnlichen Restriktionen ihrer Souveränität wie die Bundesrepublik unterlag auch die Deutsche Demokratische Republik im Verhältnis zur Sowjetunion. Im Moskauer Vertrag vom 20. September 1955 über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR war festgelegt: „Die vertragschließenden Seiten bestätigen feierlich, dass die Beziehungen zwischen ihnen auf völliger Gleichberechtigung, gegenseitiger Achtung der Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten beruhen. In Übereinstimmung hiermit ist die Deutsche Demokratische Republik frei in der Entscheidung ihrer Innenpolitik und Außenpolitik, einschließlich der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland, sowie der Entwicklung der Beziehungen zu an-
1129 Die Souveränität Deutschlands – Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Nr. 74/09 und in Internet: http://www.bpb.de/apuz/29084/von-der-beschraenktenzur-vollen-souveraenitaet-deutschlands?p=all (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). Wortlaut des „Deutschland-Vertrages“ von 1955 in Internet: http://www.documentarchiv. de / brd / dtlvertrag.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Keine Bedingungen aus Moskau
259
deren Staaten.“ 1130 (Art. 1). Die Präambel rekurrierte auf Anstrengungen beider Vertragsparteien „zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat und zur Herbeiführung einer friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland [. . . ] unter Berücksichtigung der Verpflichtungen gemäß den internationalen Abkommen, die Deutschland als Ganzes betreffen“. 1131 Auch spätere bilaterale Vereinbarungen über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR beseitigten nicht die Statusbeschränkungen durch die Rechte der Siegermächte, wenn auch zuletzt das Vertragsziel der Herstellung des einheitlichen deutschen Staates entfallen war (vgl. Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 7. Oktober 1975). Eine wesentliche zusätzliche Einschränkung der Souveränität der DDR bestand darin, dass es ihr – wie allen anderen Staaten des sozialistischen Machtbereichs – nach sozialistischem Völkerrechtsverständnis nicht gestattet war, aus der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ auszutreten (sogenannte Breschnew-Doktrin, die 1968 nachträglich den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei rechtfertigte und die erst 1988 von Gorbatschow aufgehoben wurde). Der völkerrechtliche Sonderstatus Deutschlands wurde erst beendet durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ vom 12. Dezember 1990 (Zwei-plus-Vier-Vertrag), der am 15. März 1991 in Kraft trat. Bereits vor der Ratifizierung des Vertrages hatten die Vier Mächte die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten mit Wirkung vom 3. Oktober 1990, dem Tag der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt (New Yorker Deutschland-Erklärung vom 1. Oktober 1990). Nach Art. 7 des Vertrages beendeten die Vier Mächte „hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis wurden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.“ 1132 Damit wurde dem vereinten Deutschland die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten bescheinigt. Art. 1 des Zwei-plusVier-Vertrages nannte als Staatsgebiet des vereinten Deutschlands die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins. Gemäß Art. 1 Abs. 3 des Vertrages hat das 1130 Vertrag über die Beziehungen der DDR zur UdSSR vom 20. 9. 1955; in Internet: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/131478/20september-1955/. 1131 Ebda. 1132 Artikel 7 des 2 + 4 Vertrages, in Internet: http://www.documentarchiv.de/brd/2p4. html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
260
Kapitel 8
„vereinte Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche in Zukunft auch nicht erheben“. 1133 Von daher ließ sich die Meinung vertreten, der Sowjetunion stehe überhaupt kein Mitspracherecht beim künftigen deutschen Bündnisstatus zu. 1134 Dennoch stimmte Bonn der Teilnahme der Sowjetunion an den 2 + 4-Gesprächen zu. Es war ein diplomatischer, ein politischer Schachzug. Das westliche Angebot an die Sowjets war nunmehr klar formuliert: Volle Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO mit dem Angebot eines militärischen Sonderstatus für das DDR-Territorium. Dies lehnte Moskau kategorisch ab. Die NATO war immer noch „Hauptfeind“ oder wie Tschernjajew formulierte: „Die NATO war ein Symbol des Kalten Krieges. Ein Symbol der gesamten antisowjetischen Politik. Die Annäherung an die sowjetischen Grenzen betrachtete man als einen unzuverlässigen Zustand, als eine Schreckensvision.“ 1135 Über den „Genscher-Plan“ von Tutzing mit der Einbeziehung der NATO nach dem Abzug der sowjetischen Armee waren die Sowjets eher erzürnt, denn beunruhigt. Bei TASS hieß es am 2. Februar 1990: 1136 „Absolut unakzeptabel. Wir sind schockiert.“ In einem Brief an Willy Brandt 1137 warnte Gorbatschow: „Diejenigen, die sich auf Gedankengänge über die Zugehörigkeit des ganzen künftigen einheitlichen Deutschlands bzw. dessen Teil zur NATO und über die weitere Benutzung der BRD zu den Zwecken einlassen, die den Zielen eines militärischen Blocks dienen, sind gegen die Wiedervereinigung, sind für das Fortbestehen der Spaltung.“ 1138 In den Vorbereitungen zum Kohl-Besuch am 10. Februar 1990, formulierten die „Germanisten“ im ZK der KPdSU eine Art Junktim für die Einheit: – Die Einheit wird nur in der Form einer „Konföderation“ gebilligt. – Das vereinte Deutschland wird neutralisiert und demilitarisiert. – Alle Truppen (West wie Ost!) werden aus Deutschland abgezogen. Die NATO zieht damit aus ganz Deutschland ab. 1133 Die Souveränität Deutschlands; in Internet: www.bundestag.de/blob/190766/ 8d40cb0d8bad1d825a5381890c0763b1/souveraenitaet_deutschlands-data.pdf (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1134 Biermann, S. 523. Biermann folgert dies aus den diversen Verträgen der Sowjetunion mit der DDR über deren Souveränität und den Verträgen der drei Westmächte mit der BRD. Danach wären beide deutsche Staaten allein zuständig für die Verhandlungen. Die Westmächte hätten keine Mit-Entscheidungsbefugnis. 1135 Biermann, S. 524. 1136 Portugalow bei TASS; Biermann, Anm. 413, S. 524. 1137 Zitiert nach: Bonner Schlüssel. Die Bonner verwirren durch widersprüchliche Aussagen zur deutschen Einheit ihre Nachbarn in Ost und West, in: Spiegel Nr. 9/1990 vom 26. 2. 1990, S. 21; in Internet: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13507478.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1138 Ebda.
Keine Bedingungen aus Moskau
261
Die „Germanisten“ waren überzeugt, dass Gorbatschow der deutschen Einheit nicht bedingungslos zustimmen würde. Nach dem Besuch von Kohl am 10. Februar mussten sie lernen, dass Gorbatschow allerdings nicht mehr bereit war, alten Thesen zu folgen. Er war zum „Realisten“ geworden und handelte pragmatisch. Nicht so sehr aus Überzeugung, als vielmehr aus der „Einsicht in die Notwendigkeit“ zum Handeln. Vor allem diese Gründe waren es, die Gorbatschow dann doch handeln ließen: Die Sowjetunion war veraltet in Technologie, Wirtschaft und Militär. Sie konnte mit dem Westen nicht mehr mithalten. Der „Sozialismus“ hatte jede Glaubwürdigkeit verloren. Die daraus resultierende Wirtschaftskrise führte zu sozialen Notständen und stärkerer Armut der Massen. Die Bevölkerung begann folglich am Erfolg der Perestroika zu zweifeln. 1139 Perestroika führte aber auch zu Zerwürfnissen mit den Bündnispartnern. Ungarn und Polen scherten als erste 1988/89 aus. Die DDR löste sich auf. BRD und DDR verhandelten ohne wirkliche Einflussnahme durch die Sowjetunion über die Vereinigung. Gorbatschow musste fürchten, dass die Rechte der Vier Mächte, also auch der Sowjetunion, ohne „Gegenleistung“ aufgehoben würden. Das wollte er auf keinen Fall zulassen. 1140 Die Reformen im Inneren kamen nur noch langsam voran. Die Konflikte in einzelnen Sowjetrepubliken wie Litauen, Aserbaidschan nahmen an Gewalt zu. Alle hatten nur ein Ziel: den Austritt aus der Sowjetunion, deren Existenz zunehmend in Frage gestellt wurde. Um aus der Krisenlage herauszukommen, musste er also Konzessionen in der Deutschland-Frage machen. Insbesondere lag ihm daran, eine „Gegenleistung“ für sein „Entgegenkommen“ baldmöglichst und schnellst wirksam zu erhalten. 1141 Zwei Gruppen / Denkschulen standen sich Anfang 1990 im Kreml gegenüber: die Germanisten im ZK, den Ministerien und im KGB, die seit den Fünfzigerjahrem die Deutschlandpolitik mitgestalteten. Hauptvertreter waren Valentin Falin, Jegor Ligatschow, Nikolai Portugalow und Julij Kwizinski. Die Sowjetunion und deren Sicherheitsverständnis hatten unbedingte Priorität. Gegenüber Deutschland hieß das: strenge Beaufsichtigung der Deutschen und Einbindung in die sowjetischen Sicherheitsinteressen. Der Vereinigungsprozess könne „einige Jahre“ dauern. 1142 Daher 1139 Diese Lage schilderte Gorbatschow seit 1986 seinen westlichen Besuchern. Siehe Genscher: Erinnerungen, S. 500 ff. 1140 Kwizinski schrieb darüber: „Der Zug der deutschen Wiedervereinigung rollte immer schneller, und wir riskierten, bald nur noch das Schlusslicht in der Ferne zu sehen“; zit. n. Biermann, S. 418. 1141 Biermann, S. 419. 1142 Ebda.
262
Kapitel 8
musste die Einheit Deutschlands verlangsamt werden. Wenn die Deutschen zu schnell vorankamen oder gar den Interessen dieser Gruppe nicht entsprachen, wurde mit dem Einsatz der Truppen gedroht. Dazu hätte Artikel 18 des „Vertrages zur Stationierung sowjetischer Streitkräfte in der DDR von 1957“ die Möglichkeit gegeben. Dieser Artikel erlaubte der Sowjetunion, „angemessene Maßnahmen“ zu ergreifen, sollten ihre militärisch-politischen Interessen verletzt sein. 1143 Die „moderneren“ Berater um Gorbatschow waren vor allem Außenminister Eduard Schewardnadse und Sergej Tarassenko, Chef des Planungsstabes im Außenministerium. Diese Richtung sah den Bau des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ als vorrangig an. Die Wiedervereinigung Deutschlands sollte das Stimulans dazu sein und zur Begründung einer deutsch-sowjetischen Partnerschaft dienen. 1144 Daher musste die Einheit Deutschlands vorangetrieben werden. Die „Germanisten“ waren deutlich stärker als die „Modernisierer“. Gorbatschow musste sich also entscheiden. Folgte er den „Germanisten“, würde die deutsche Einheit in weite Ferne rücken. Denn zuerst sollte eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur geschaffen werden, um erst dann die beiden deutschen Staaten über Artikel 146 Grundgesetz oder über eine „Friedensvertrags-Konferenz“ zu vereinen und in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem zu verankern. Das erklärt, warum die Sowjets anfangs auf einer Vereinigung nach Artikel 146 Grundgesetz bestanden und den Weg über Artikel 23 Grundgesetz strikt ablehnten. Nur zwölf Tage nach dem Besuch von Bundeskanzler Kohl und dessen euphorischer Stimmung kamen aus dem Kreml höchst irritierende Nachrichten. Am 22. Februar 1990 1145 legte Horst Teltschik dem Kanzler einen Bericht über „Jüngste sowjetische Äußerungen zur deutschen Frage“ 1146 vor. Darin wurde zwar das Recht der Deutschen auf Einheit bekräftigt; gleichzeitig jedoch wurden die Bedingungen für die Vereinigung erneut präzisiert. Teltschik formulierte: „Gorbatschow erteilt erstmalig einer wie auch immer beschaffenen NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands eine deutliche Absage. Er fordert einen etappenweisen und kontrollierbaren Vereinigungsprozess unter voller Berücksichtigung der Interessen der Vier Mächte.“ 1147
1143 Vertrag über die Stationierung sowjetischer Streitkräfte in der DDR, in Internet: www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dy30bho/mets/dy30bho_2510/index.htm#5 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1144 Ebda. 1145 Deutsche Einheit, Dok Nr. 191, S. 857. 1146 Gemeint waren zwei Interviews von Gorbatschow in der „Pravda“ vom 21. Februar 1990 und Schewardnadse vom 19. Februar 1990 in der „Iswestija“. 1147 Ebda.
Keine Bedingungen aus Moskau
263
Teltschik analysierte die beiden Interviews: 1.
Der Weg zur Einheit solle langsam gehen und am Ende in der Neutralität münden. Die Vereinigung werde einige Jahre dauern. Der Bau des „Europa-Hauses“ müsse der Einheit vorangehen. Die USA gehörten dazu. 1148
2.
Es folgte die wichtige Aussage zur NATO: Die Sowjetunion hätte nichts gegen eine NATO-Zugehörigkeit Deutschlands, falls sie Garantien – innerhalb einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur – gegen fundamentale Veränderungen der NATO-Politik erhielte. 1149
Gorbatschow sagte in seinen Interviews: Die Deutschen haben ein Recht auf Einheit. Die Vier Mächte sind aber nicht von ihrer Verantwortung entbunden. Die Einheit dürfe nicht zu einer Verletzung des militärstrategischen Gleichgewichtes führen. Daraus war zu schließen: „Die Einheit Deutschlands muss mit der Schaffung einer prinzipiellen neuen Struktur der europäischen Sicherheit, die die Blockstrukturen ablösen wird, organisch verbunden und abgestimmt sein.“ 1150 Die Einheit darf zudem der Sowjetunion „keinerlei Schaden zufügen“. Aus diesen Äußerungen ist u. a. zu schließen, dass der europäische Einigungsprozess zeitgleich mit dem der deutschen Einheit verlaufen sollte. Die Sowjets nahmen im Februar 1990 an, dass sie auf den zeitlichen Ablauf Einfluss nehmen könnten. Die dann kommenden Verhandlungen hätten, so die Annahme im Kreml, ausgereicht, um den Prozess der deutschen Einheit und auch die Bündnisfrage entscheidend mitzugestalten. Diese Annahme erklärt, warum Gorbatschow in den ersten beiden Monaten 1990 keinerlei Bedingungen formulierte. So schrieb Teltschik an Kohl: „Die sowjetische Führung hält sich alle Optionen offen.“ 1151 Andererseits hatte Bush längst seine Bedingung formuliert: Deutsche Einheit Ja, aber nur in der NATO. 1152 Nur zwei Wochen später gaben sowohl Gorbatschow wie auch Schewardnadse Interviews. Gorbatschow präzisierte in der ARD und im DDR-Fernsehen die Bedingungen für die Vereinigung der beiden Staaten. Dazu gehört ein klares NEIN zur – wie auch immer beschaffenen – NATO-Mitgliedschaft eines
1148 1149 1150 1151 1152
Dies hatte Gorbatschow bereits 1986 gegenüber Genscher und Kissinger erklärt. Deutsche Einheit, Dok Nr. 191, S. 857. Ebda. Ebda. Ebda.
264
Kapitel 8
vereinten Deutschland. 1153 Er erinnerte zudem daran, dass der Vereinigungsprozess „etappenweise und kontrollierbar“ verlaufen müsse. 1154 In einem weiteren Interview 1155 lehnte der sowjetische Außenminister in scharfer Form Artikel 23 GG als „überaus gefährlichen Weg auf ausgesprochen nationalistischer Basis ab“. 1156 Den Artikel 23 GG wertete er polemisch-plakativ und in durchsichtiger Wahltaktik als „Anschluss“ ab. Pläne eines „Anschlusses“ von neu gebildeten Ländern seien widerrechtlich. Vorgeworfen wird der Bundesrepublik, sie fördere aktiv die Destabilisierung der DDR („Taktik der Verzögerung der Hilfe, Versuchsgelände für die eigene Wahlkampagne“). Schewardnadse präzisierte in dem Interview sowjetische Vorstellungen hinsichtlich einer Tagesordnung für die 2 + 4-Gespräche: – Anerkennung der Grenzen, – Ausschluss einer Kriegsgefahr vom deutschen Boden, – Entmilitarisierung (großzügig definiert als „Schaffung von Bedingungen, unter denen eine Aggression vom Territorium Deutschlands aus nicht möglich wäre“), – Garantien gegen Wiederentstehen des Nazismus, – bündnispolitischer Status des vereinten Deutschlands, – Viermächte-Verantwortung, – ausländische Truppen auf dem Territorium Deutschlands, – finanzielle und materielle Ansprüche an Deutschland (der Begriff Reparationen fiel nicht). Der Ton aus Moskau hatte sich deutlich verschärft. Teltschik wertete dies als Unterstützung für die SED/PDS im begonnenen Wahlkampf. „Polemisch-plakative Überzeichnungen sind mehr auf das Ziel der massiven Einmischung in den Wahlkampf in der DDR zurückzuführen, denn als echte Besorgnis zu werten, zumal die holzschnittartigen Ausführungen zu Artikel 23 große sachliche Unkenntnis verraten.“ 1157 „Insgesamt behält die sowjetische Position Flexibilität, wenn auch die Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland deutlicher als bisher ausfällt.“ 1158 Anders als in Washington wurde in Moskau (aber auch in Ost-Berlin und in Bonn) noch um eine definitive Formulierung gerungen. Die Reden von Genscher am 6. und 31. Januar 1990 in Stuttgart und Tutzing, die 1153 1154 1155 1156 1157 1158
Deutsche Einheit, Dok Nr. 211, S. 921. ARD-Interview vom 6. März 1990. Ebda. Neue Berliner Illustrierte, 11/90 vom 7. März 1990. Deutsche Einheit, Dok Nr. 211, S. 921. Deutsche Einheit, Dok Nr. 211, S. 921 ff. Ebda.
Keine Bedingungen aus Moskau
265
USA-Besuche von Kohl und die Besuche von Genscher, Baker und Kohl in Moskau hatten noch keine Klarheit gebracht. Washington zweifelte zeitweilig am klaren Kurs des Außenministers 1159 und auch des Kanzlers 1160 in der NATO-Frage. Die USA hatten Sorge, dass Kohl die Einheit gegen Neutralität eintauschen würde wollen. 1161 Unklar war auch die Beurteilung des Kurses in Moskau: Einheit Ja, aber ohne NATO-Mitgliedschaft. Warum hielt Moskau daran so fest? Kein Argument hatte bisher Gorbatschow überzeugen können. Dies, obwohl er seit 1986 selbst überzeugt war – wie bereits beschrieben –, dass ein vereintes Deutschland in der NATO besser für die Sicherheit in Europa sei als ein neutrales Deutschland ohne Bündniszugehörigkeit. Anlässlich der „Open Skies“-Konferenz 1162 am 12. Februar 1990 in Ottawa war erstmals die Rede von den 2 + 4-Gesprächen. Die beiden deutschen Staaten plus die vier Siegermächte gaben den Namen. 1163 Ziel war es, die „deutsche Einheit“ herzustellen. 1164 In Ottawa wiederholte Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher noch einmal seinen Standpunkt: „Das vereinte Deutschland muss unter allen Umständen in der NATO bleiben, unterschiedliche Regelungen für die NATO-Struktur auf dem Gebiet der DDR sollten aber möglich bleiben.“ 1165
1159 1160 1161 1162
Baker, S. 89; Bush / Scowcroft: S. 195. Bush / Scowcroft, S. 71, 243. Ebda. „Open Skies“ – so genannt nach der Konferenz in Ottawa im Februar 1990, auf der über gegenseitige Kontrolle der Luftbewegungen über NATO- und Warschauer Pakt-Staaten verhandelt wurde. „Ein offener Himmel“ (= open skies) war das Ziel. Auf dieser Konferenz gelang es aber dem bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, die vier ehemaligen Siegermächte dazu zu bringen, dass die beiden deutschen Staaten und nur die vier ehemaligen Siegerstaaten an dem Verhandlungsprozess zur deutschen Einheit gleichberechtigt teilnehmen müssten. So entstand Zwei-plus-Vier. Zum abschließenden Arbeitsfrühstück am 13. Februar 1990 in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Ottawa kamen die Außenminister der beiden deutschen Staaten, Genscher und Meckel, sowie die Außenminister Hurd für Großbritannien, Dumas für Frankreich und Baker für die USA zusammen. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse fehlte. Hier wurde der Entwurf für den Zwei-plus-Vier-Vertrag ausgearbeitet. Diesem Entwurf stimmte der sowjetische Außenamtschef Schewardnadse dann später zu. 1163 Die Sowjetunion wollte „unbedingt“ 4+2 durchsetzen, um zu zeigen, dass die vier Siegermächte das letzte Wort über Deutschland haben sollten und nicht die Deutschen selbst. Genscher und Baker setzten sich aber mit 2 + 4 durch. Vgl. Biermann, S. 431. 1164 Die Kernpunkte für 2 + 4 aus bundesdeutscher Sicht lauteten: kein Friedenvertrag; Ablösung der Vier-Mächte-Regelungen; Souveränität des vereinten Deutschland; Mitgliedschaft in der NATO; kein Sonderstatus, keine Singularisierung, keine Diskriminierung; Abzug der sowjetischen Streitkräfte; Lösung der Grenzfrage mit Polen; vgl. Kiessler / Elbe, S. 106. 1165 Genscher: Erinnerungen, S. 728.
266
Kapitel 8
Die Bundesrepublik und die Westmächte waren sich einig, dass der Verhandlungsgegenstand (Herstellung der deutschen Einheit) so „eng gefasst werden sollte, dass Moskau möglichst wenig Möglichkeiten hatte, die deutsche Einheit in ihrem Sinne zu beeinflussen“. Als der sowjetische Außenminister es unterließ, eine „Neutralisierung Deutschlands zur Vorbedingung für die Verhandlungen“ zu erklären, war vor allem Genscher erleichtert. 1166 Die Vorbereitungen für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begannen auf der Ebene der politischen Direktoren der Außenministerien von BRD und DDR und der Vier Mächte mit zwei Treffen in Bonn und Berlin am 14. März und 16. April 1990. Themen sollten sein: – – – – – – –
Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands, die Stärke der Bundeswehr, Sicherheitsgarantien für die Nachbarn Deutschlands, die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze, der Abzug der alliierten Streitkräfte, die Aufhebung der alliierten Vorbehaltsrechte sowie die Wiederherstellung der vollen völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands.
Die Sowjetunion wollte den Abschluss eines Friedensvertrages auf die Tagesordnung setzen, nahm davon jedoch auf Drängen des Leiters der Bonner Delegation, Dieter Kastrup, wieder Abstand. Kastrup wies nämlich darauf hin, dass Gespräche über dieses Thema auch viele andere Staaten einbeziehen müssten, mit denen das Deutsche Reich sich formell im Kriegszustand befunden hatte. Polen dagegen sollte zu der Konferenz hinzugezogen werden, wenn das Thema „Oder-Neiße-Linie“ zu behandeln war. 1167 Die Diskussion über den künftigen militärischen Status Deutschlands war bereits vor Ottawa überaus intensiv gewesen. Dabei hatte die amerikanische Regierung ebenso wie Paris und London von Anfang an darauf bestanden, dass sich der Wiedervereinigungsprozess „im Rahmen der fortbestehenden Verpflichtungen Deutschlands gegenüber der NATO“ bewegen müsse, wie es ein wenig unbestimmt hieß. In Ottawa war es jedoch noch zu früh, diese Frage zu entscheiden, da Moskau sich noch nicht mit der vollständigen Westintegration eines wiedervereinigten Deutschlands abfinden mochte. Stattdessen spielte Außenminister Schewardnadse
1166 Biermann, S. 430. 1167 Siehe Polen / Oder-Neiße-Frage. Vgl. Schlott, René: Die Frage der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in den internationalen Verhandlungen zur deutschen Einheit, 2007, Norderstedt.
Keine Bedingungen aus Moskau
267
mit der Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitslösung im Rahmen der KSZE, die auch von Genscher und seinem italienischen Amtskollegen Gianni De Michelis vorübergehend aufgegriffen wurde: Eine „zweite Schlussakte von Helsinki“ solle „paneuropäische Institutionen“ schaffen, um langfristig die bestehenden Militärbündnisse zu ersetzen. Gorbatschow allerdings hatte weiterhin eine klare, unverrückbare Position. Bei seinem letzten Besuch als Ministerpräsident der DDR in Moskau am 5. Und 6. März 1990 erklärte Gorbatschow, dass „der Verbleib eines vereinigten Deutschlands in der NATO für uns unannehmbar sei“. 1168 Auf der anderen Seite deutete Moskau am Tag nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 offiziell an, dass man sich an der Moskwa mit der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands in der NATO doch abfinden wolle. Nikolai Portugalow meinte, dass dies zwar offiziell immer noch abgelehnt werde, es aber nur „die Ausgangsposition bei den Zweiplus-Vier-Verhandlungen“ sei. Wjatscheslaw Daschitschew, einer der führenden sowjetischen Deutschland- und Europaexperten, ging sogar noch einen Schritt weiter, als er am 20. März 1990 in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ die Ansicht formulierte, dass die UdSSR an einer deutschen NATO-Mitgliedschaft sogar interessiert sein müsse. „Man muss das geeinte Deutschland in den Rahmen der NATO einfügen. [. . . ] Es gibt das Bild einer Kanone, die an Bord eines Schiffes nicht festgezurrt ist, und einige Leute vergleichen ein neutrales Deutschland mit einer solchen Kanone.“ 1169 Am 23. März 1990 legte Teltschik seine Analyse über die „Sowjetische Position zum sicherheitspolitischen Status eines vereinten Deutschlands, insbesondere zur NATO-Mitgliedschaft“ vor. Die wesentlichen Punkte waren: 1. Bisherige Stellungnahmen der Sowjetunion Die sicherheitspolitischen Aspekte bilden für die Sowjetunion die Schlüsselfrage des deutschen Einigungsprozesses. Von einer für die Sowjetunion zufriedenstellenden Lösung dürfte das Gesamtverhalten der Sowjetunion bei den „Zwei-plus-Vier“-Gesprächen abhängen. 1.1. Die Sowjetunion hat ihre Ablehnung einer Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO bisher deutlich und hochrangig artikuliert: – Präsident Gorbatschow (ARD-Interview am 6. März 1990): Nein, da werden wir nicht zustimmen. Das ist absolut ausgeschlossen. – Außenminister (AM) Schewardnadse (Interview mit Berliner Illustrierten am 8. März 1990): Die Prognose über eine Mitgliedschaft des vereinten
1168 Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 433. 1169 Schell, Manfred: Vereinigung schon Mitte nächsten Jahres möglich. Gespräch mit Gorbatschows Berater Daschitschew, in: Welt, Nr. 67 vom 20. März 1990, S. 1.
268
Kapitel 8
Deutschland in der NATO entspricht nicht unseren Vorstellungen von den eigenen nationalen Interessen. – Regierungssprecher Gerassimow am 19. März 1990: Ein vereintes Deutschland soll nicht Mitglied der NATO sein. 1.2. Dennoch haben Diplomaten von WP-Staaten (SU, CSSR, DDR) ihre Überzeugung geäußert, dass die SU letztlich doch eine NATO-Mitgliedschaft akzeptieren werde, sofern gewisse Bedingungen erfüllt seien. Diese Ansicht wird vielfach auch von westlichen Kreisen geteilt. Auch Mitglieder renommierter sowjetischer Forschungsinstitute – oft ‚Herolde‘ neuer Entwicklungen in der SU – scheinen ebenfalls entweder die Frage der NATO-Mitgliedschaft in ihrer Bedeutung zu relativieren oder sie gar wie Professor Daschitschew als hinnehmbar anzusehen (Interview Bild am Sonntag, 18. März 1990: „. . . wenn das Volk Deutschlands den Wunsch äußert, das Land solle Mitglied der NATO sein, wird sich diesem Wunsch niemand widersetzen können“). 1170
Erstaunlich ist, dass der Kreml seine Stellungnahmen zur NATO-Bündnisfrage noch immer nicht mit einem Ultimatum oder Junktim versah. Alles deutete auf innere Streitigkeiten in Moskau hin. Die „Germanisten“ wehrten sich gegen eine Veränderung. Die „Realisten“ (Pragmatiker) um Tschernjajew und Schewardnadse hatten derweil schon eine Formel geprägt, die den Namen des Schöpfers bekam: Tschernjajew. Sie besagte: Wir geben den Deutschen die Einheit und sie dürfen in der NATO bleiben. Sie können darüber selbst bestimmen. Gorbatschow konnte oder wollte sich dennoch nicht entscheiden. Ratlosigkeit bestimmte die Monate März / April 1990. Gorbatschow dachte in langen Zeiträumen, verkannte aber, wie schnell der Prozess in den beiden deutschen Staaten voranging. 1171 Am 6. April 1990 trafen sich Baker und Schewardnadse erneut. In der NATO-Frage gab es weiter keinen erkennbaren Fortschritt. Das sowjetische Nein zum Beitritt eines vereinten Deutschland zur NATO schien unverrückbar zu sein. 1172 Ausgerechnet Genscher sorgte kurzzeitig für Unruhe in der NATODiskussion. In einer Rede vor der WEU-Versammlung im März 1990 in Luxemburg, 1173 irritierte er die Zuhörer mit diesen Aussagen: „In den sicherheitspolitischen Fragen im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung müsse ein Höchstmaß an Klarheit herrschen.“ In der Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands bekannte Genscher
1170 Deutsche Einheit, Dok Nr. 228, S. 970 ff. 1171 Biermann, S. 413. 1172 Siehe zuletzt Telefonat Gorbatschow / Modrow am 12. Februar 1990 in Galkin / Tschernjajew, S. 339. 1173 Die Einheit, Dok Nr. 77, S. 383. Anm. 7. FDP Bulletin Nr. 40 v. 27. März 1990, S. 309 ff. Genscher: Erinnerungen S. 752 f; Teltschik: S. 182 f.
Keine Bedingungen aus Moskau
269
sich eindeutig zur NATO-Mitgliedschaft, forderte aber zugleich: „Für das Gebiet der heutigen DDR sollten dabei Regelungen möglich sein, die auch die Zustimmung der Sowjetunion und der Nachbarn finden können.“ Um den gesamten sicherheitspolitischen Rahmen zu schaffen, sah er die „Notwendigkeit eines Wandels der Bündnisse von einer bisher antagonistischmilitärischen hin zu einer sicherheitsbildenden-politischen Rolle“. Wie dieser – bereits eingeleitete – Wandel von der Konfrontation zur Kooperation aussehen konnte, ließ Genscher zunächst offen. Dagegen entwarf Genscher zum Wandel der Militärbündnisse ein ZweiStufen-Modell: Auf der ersten Stufe würden sie zu einer engeren Zusammenarbeit finden, auf der zweiten sollten die dann kooperativ strukturierten Bündnisse in einen Verbund gemeinsamer kollektiver Sicherheit überführt werden. Dabei würden neue Sicherheitsstrukturen geschaffen, von denen die Bündnisse „zunehmend überwölbt würden, um schließlich in ihnen aufzugehen“. 1174 Mit diesem Vorschlag lag Genscher nicht mehr auf der Linie seines Kanzlers. Helmut Kohl schickte ihm denn auch eine Verwarnung: 1175 „Lieber Hans-Dietrich, ich weiß nicht, ob die Wiedergabe (in der Presse) Deinem Text entspricht. Für den Fall, dass es so sein sollte, möchte ich Dir in aller Form mitteilen, dass ich beide Positionen nicht teile und unterstütze. Darüber hinaus bin ich nicht bereit zu akzeptieren, dass die Bundesregierung in diesen Fragen ohne jede Rücksprache festgelegt wird.“ Von jetzt an galt wieder die unverrückbare Kohl-Linie: Ausdehnung der Verteidigungsverpflichtung der NATO nach Osten; Zugehörigkeit zur Militärstruktur der NATO sowie Stationierung US-nuklearer und konventioneller Streitkräfte in Deutschland. Der Ostteil Deutschlands wird weder eine neutrale noch entmilitarisierte Zone. 1176 Die SPD lehnte ein solches Konzept zu diesem Zeitpunkt geschlossen ab. Egon Bahr und andere formulierten vor dem Berliner Parteitag der SPD im Dezember 1989 den einschlägigen Text für die Vorstandsvorlage zum Berliner Grundsatzprogramm der SPD, das am 20. Dezember 1989 beschlossen wurde. Dort hieß es: Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im atlantischen Bündnis, vorausgesetzt, sie kann ihre eigenen Sicherheitsinteressen dort einbringen und durchsetzen, auch ihr Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist
1174 Zelikow / Rice, S. 326. 1175 Der Brief vom 23. März 1990 ist im Original abgedruckt in: Karner, S. 231. 1176 Zelikow / Rice, S. 326.
270
Kapitel 8
ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa. 1177
Am 6. April 1990 trafen sich Baker und Schewardnadse erneut. In der NATO-Frage gab es weiter keinen erkennbaren Fortschritt. Das sowjetische Nein zum Beitritt eines vereinten Deutschlands zur NATO schien unverrückbar zu sein. Daran hatte sich nichts geändert. Nach der Genscher- Rede vom 23. März 1990 in Luxemburg versuchten die vier westlichen Direktoren 1178 der 2 + 4-Gespräche 1179 am 10. April 1990 mit dem Leiter der Bonner „Politischen Abteilung“, Dieter Kastrup, eine gemeinsame NATO-Linie zu finden, stießen aber bei dem deutschen Diplomaten auf Granit. Noch war keine einheitliche Meinung im Kabinett gebildet worden. Genscher sprach zwar nicht mehr über seine Pläne, war aber noch nicht bereit einzulenken. 1180 So kam eine einheitliche Absprache nicht zustande. Die Runde diskutierte stattdessen die Frage, was die Sowjetunion in der Hand habe, um den Prozess der Vereinigung noch zu stoppen oder gar zu verhindern. Man war sich einig, „dass die Sowjetunion ernst genommen werden wolle. Sie braucht das Gefühl, dass sie dazu gehöre. Man müsse sich ihre Ängste und Befürchtungen genau ansehen“. Die Sowjetunion habe kaum Möglichkeiten der Beeinflussung.
Gegenkräfte in Moskau Am 18. April 1990 erhielt Gorbatschow ein weiteres Schreiben von Falin. Darin beklagte er den Umgang der USA mit der Sowjetunion: „Das eigentliche Motiv für das Verhalten sowohl Washingtons als auch Bonns ist simpel: Der Handlungsspielraum der Sowjetunion ist derzeit aufs Höchste eingeschränkt, und der Westen ist in der Lage, ohne das Risiko einer ernsthaften Konfrontation seine alten Ansprüche maximal zu verwirklichen.
1177 Notwendig ist die Umstellung von der seit 1989 neu geschaffenen Konfrontation hin zur europäischen Friedensordnung, in Internet: https://www.spd.de/fileadmin/ Dokumente/Beschluesse/Grundsatzprogramme/berliner_programm.pdf. 1178 Bob Zoellick und Raymond Seitz (USA), John Weston (Großbritannien), Bertrand Dufourcq (Frankreich). 1179 Die Einheit, Dok Nr. 81; Zelikow / Rice, S. 327. 1180 Zelikow / Rice, S. 327.
Gegenkräfte in Moskau
271
Das Ziel ist mit bloßem Auge erkennbar: Die UdSSR zu isolieren, sie ins Abseits zu stellen.“ 1181 Falin machte verschiedene Vorschläge, um das Gewicht der UdSSR wieder zu festigen. Zur NATO-Frage beschwor er Gorbatschow: „Allem Anschein nach hat der Westen beschlossen, in dieser Hinsicht eine Entscheidungsschlacht zu führen. Woche für Woche lässt sich eine Verschärfung des Vorgehens der USA und BRD beobachten. Genscher denkt weiterhin ab und an über ein Forcieren der Entwicklung in Richtung einer europäischen kollektiven Sicherheit nach, in der NATO und Warschauer Pakt aufgehen würden. Aber auf Genscher hört außer den westdeutschen Sozialdemokraten und linken Parteien kaum jemand.“ 1182 Satz für Satz erklärte Falin dem Generalsekretär der KPdSU, was auf die Sowjetunion zukommen könnte, wenn die Gespräche weiter so verliefen, wie sie begonnen hätten. Er sah sein Land auf der Verliererseite. Es war eine schonungslose Analyse. So meinte er u. a.: „Seit dem Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR ist die Europapolitik der UdSSR in eine Phase des Grübelns und der Selbstanalyse, um nicht zu sagen, der Depression gestürzt. Der Westen spielt uns aus, indem er Versprechen macht, die Interessen der UdSSR zu respektieren, in der Praxis jedoch unser Land Schritt für Schritt vom traditionellen Europa abtrennt. Man muss feststellen, dass sich das ‚gesamteuropäische Haus‘ in eine Fata Morgana verwandelt.“ 1183 Herber konnte die Kritik an der Politik Gorbatschows nicht ausfallen. Doch Falin war noch nicht am Ende und schlug ein Referendum in Deutschland vor. Die Frage sollte lauten: Zugehörigkeit zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem oder Mitgliedschaft in der NATO? Sollte das nicht realisiert werden können, sollte ein Friedensvertrag abgeschlossen werden. Bis zum Abschluss eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems sollte Deutschland keine uneingeschränkte Souveränität erhalten. Bis dahin sollten auch die sowjetischen Truppen in der DDR stationiert bleiben. Weitere Forderungen Falins: – Kein Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz – Sicherstellung der sowjetischen Rechte in Berlin als „unerschütterliche Realität“ – Ersatz des Grundgesetzes als eine „Verfassung des Revanchismus und kalten Krieges“ durch eine neue Verfassung
1181 Galkin / Tschernjajew, S. 368. 1182 Ebda., S. 372. 1183 Ebda., S. 374 und Falin, Konflikte, S. 170 ff.
272
Kapitel 8
Falin wollte offenbar die 2 + 4-Gespräche torpedieren. Er präferierte eine Friedenskonferenz mit dem Ziel eines Friedensvertrages. Eine solche Konferenz hätte Jahre gedauert und das Ende wäre offen gewesen Die DDR hätte so lange – mit der sowjetischen Armee auf ihrem Territorium – eine Art „Bestandsschutz“ gehabt. Hätte Falin sich durchgesetzt, wäre es wohl zur Wiedervereinigung nicht gekommen. Hätte Gorbatschow allerdings daraus ein Junktim konstruiert, dann hätte er womöglich die NATO-Frage anders lösen können. Vielleicht wäre es dann doch zu einem Referendum und einem Ausscheiden Deutschlands aus der NATO gekommen. Als Portugalow wieder in Bonn eintraf, um Teltschik diese Ideen von Falin vorzutragen, stieß er auf wenig Gegenliebe. Später urteilte Tschernjajew über Portugalow: „Der machte immer die Politik Falins, nie die Politik von Gorbatschow. Er hatte nie einen Auftrag. Er war kein Bote von Gorbatschow.“ 1184 Gorbatschow reagierte nicht auf Falin. Er reagierte auf keine Seite. Es war nicht klar, was er in diesem Frühjahr 1990 dachte und wollte. Seine Gegner waren – zumindest, was die Zahl der öffentlichen Erklärungen anging – zahlreich. Seine Interessen waren anders gelagert als die Falins. Er wollte die Sowjetunion nicht mit alter Machtherrschaft reformieren, sondern mit der Hilfe des Westens. Dafür brauchte er dessen Unterstützung und nicht Maßnahmen aus alten Zeiten. Am 3. Mai 1990 tagte das Politbüro. Diese Sitzung musste Gorbatschow unbeschadet überstehen. Noch wurde in Moskau um den politischen Kurs gerungen. Gorbatschow musste seine Gegner in Partei und Regierung überzeugen. Primär bedeutete das: Er musste für das bis jetzt absolute Tabuthema „Vereintes Deutschland in der NATO“ ein Argument finden, welches das bisherige feste „Nein“ in ein ebenso klares Ja wandelte. Gorbatschows Unterstützer wagten sich vor. So publizierte Wjatscheslaw Daschitschew in der „Welt“ 1185 einen Artikel mit der Aussage, alles andere als eine NATO-Mitgliedschaft sei unrealistisch. Ab März / April erschienen in allen großen sowjetischen Zeitungen Artikel mit diesem Tenor. 1186 Politisch begann man in Moskau auch darüber nachzudenken, ob nicht auch die Sowjetunion selbst der NATO beitreten sollte. Gorbatschow trug das wenige Wochen später persönlich in Washington gegenüber Bush vor. Der Grundgedanke, den Gorbatschow schon in seiner Politik des „Gemeinsamen Hauses“ angelegt hatte, wurde nun auf die NATO übertragen: „Wenn wir alle in einem europäischen Haus leben, dann ist es egal, wel1184 Biermann, S. 554. 1185 Schell, in: WamS, 20. März 1990, Nr. 67/90, S. 1. 1186 Vgl. Biermann, S. 556.
Sowjetisches Militär gegen NATO-Ausdehnung
273
chem Block wir angehören. Die neuen gesamteuropäischen Strukturen machen NATO wie WTO 1187 überflüssig.“ 1188 Der erste sowjetische Politiker, der öffentlich über diese Vorstellung sprach, war Außenminister Schewardnadse. Er suchte in den 2 + 4-Verhandlungen stets einen Lösungsweg und vermied jede „Sackgassenpolitik“. 1189 Er hatte erkannt: Würde die Sowjetunion in der Deutschlandfrage beim Nein zur NATO bleiben, steuerte sie in eine Sackgasse. Er begann, eine „neue europäische Sicherheitsstruktur“ zu entwickeln und seine Politik daran auszurichten. Die Bündnisfrage sollte dabei an Bedeutung verlieren. Nicht zuletzt näherte er sich hier den Ideen Genschers an, den er aus den Herbsttagen 1989 freundschaftlich kannte. 1190 Ob es „nicht doch ein Unglück für die Welt sei“, diskutierte am 3. Mai 1990 parallel eine Gruppe von Fachleuten in der von Falin geleiteten ZK-Abteilung, die für die internationalen Beziehungen der Partei zuständig war. Er und sein Stellvertreter Rafael Fjodorow galten als entschiedene Gegner einer wie auch immer gearteten Ausdehnung bzw. Erweiterung der NATO nach Osten. Fünf Stunden redete man „sehr hitzig“ über die deutsche Zukunft. Einige sagten deutlich, dass im Interesse der Sowjetunion die „Teilung Deutschlands bestehen bleiben müsse“. 1191 Lediglich drei der zwanzig Beratungsteilnehmer waren vorbehaltlos für die Wiedervereinigung und auch für die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands.
Sowjetisches Militär gegen NATO-Ausdehnung Die Militärs lehnten ausnahmslos eine Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der DDR ab. „Deutschland muss neutralisiert werden“, verlangten sie, was auch bedeutete, dass alle westlichen Streitkräfte abgezogen werden müssten. Auch im Politbüro war die Mehrheit, Gorbatschow inklusive, Anfang Mai 1990 gegen eine NATO-Erweiterung. Um die 2 + 4-Gespräche zum Abschluss zu bringen, schlug Schewardnadse vor, man solle anbieten, dass Deutschland in Gänze NATO-Gebiet werden könne. 1192 Es gebe, so seine Begründung für das Abgehen von 1187 1188 1189 1190
WTO – World Trade Organization. Biermann, S. 557. Ebda., S. 558. Genscher hatte mit Schewardnadse im Herbst 1989 über die Lösung der Flüchtlingskrise in der deutschen Botschaft von Prag gesprochen. Beide fanden dann eine humane Lösung. So konnten die DDR-Flüchtlinge alle aus der Botschaft von Prag mit Sonderzügen via Dresden in die Bundesrepublik gebracht werden. 1191 Biermann, S. 561. 1192 Ebda., S. 562.
274
Kapitel 8
der bislang geltenden Linie, auf westlicher Seite keine Verhandlungsbereitschaft. Es sei sinnlos, gegen die deutsche NATO-Mitgliedschaft kämpfen zu wollen. Damit brachte er einen Großteil der Politbüro-Mitglieder gegen sich auf. Zwar gelang es Schewardnadse im Laufe der Politbürositzung, KGB-Chef Wladimir Krutschkow und Verteidigungsminister Dimitri Jasow für seine Position zu gewinnen, doch Gorbatschow blieb in diesem Punkte hart. Er soll Schewardnadse sogar lautstark zurechtgewiesen haben: „Eher nehme ich das Scheitern der Wiener KSZE-Verhandlungen und des START-Vertrages 1193 in Kauf, aber das lasse ich nicht zu.“ 1194 Gorbatschow schien bereit zu sein, „eine schwere Konfrontation mit dem Westen über die deutsche NATO-Mitgliedschaft zu riskieren“. 1195 Schewardnadse stand isoliert da, berichtete Tschernjajew. Er formulierte noch am selben Tag ein Memorandum für seinen Chef, in dem auch er für die deutsche NATO-Mitgliedschaft plädierte. Sein Hauptargument: Alle Politbüro-Mitglieder seien in der Deutschlandpolitik auf dem Stand von 1945. Nach Tschernjajews Überzeugung würde Deutschland – egal, was „wir“ denken oder tun – in der NATO bleiben. „Das Politbüro hat es versäumt, dafür klare Bedingungen zu stellen.“ 1196 Erstmals sprach ein Angehöriger der sowjetischen Führungsriege den fundamentalen Fehler an, den man vor Monaten begangen hatte. Nun jedoch war die Entwicklung offensichtlich so weit vorangeschritten, dass Korrekturen kaum noch möglich waren. Die offenkundige Ratlosigkeit in Moskau, die Uneinigkeit in der Führung, wurde im Westen durchaus bemerkt und mit Sorge quittiert. Der Tenor in Moskau im Frühjahr 1990 war unverändert wie in den Monaten zuvor: Keine NATO-Mitgliedschaft für ein vereintes Deutschland. Dies wurde oft mit der Forderung nach einer Friedenskonferenz ergänzt. Lediglich Sergej Tarassenko, Schewardnadses Berater, schrieb am 4. Mai 1990 in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“: 1197 „Die Zukunft für Deutschland, die Sowjetunion und alle anderen Länder des alten Kontinents liegt in der Schaffung gesamteuropäischer Strukturen. Das müssen wir fest verankern. Dann wird es im Grunde keine Rolle spielen, ob Deutschland der NATO angehört.“
1193 START = Strategic Arms Reduction Talks. Gespräche über die Reduzierung strategischer Waffensysteme. Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR/Russland, die 1991 zum START I und 1993 zum START II-Vertrag führten. 1194 Biermann, S. 563. 1195 Ebda. 1196 Ebda. 1197 Schmidt-Häuer, Christian: Poker zum Beginn. Gespräch mit Tarassenko, in: Zeit, Nr. 19 vom 4. Mai 1990, S. 8.
Sowjetisches Militär gegen NATO-Ausdehnung
275
Schewardnadse selbst zeigt sich im Mai 1990 anders als Gorbatschow ebenfalls flexibel. 1198 Er „jonglierte“ mit einer Vielzahl von Ideen zum Bündnisstatus, von denen jedoch keine Akzeptanz im Westen fand. 1199 Im Mai 1990 war die Stimmung im ZK, im Politbüro der KPdSU, im KGB, bei den Militärs 1200 eindeutig: Nein zu NATO-Mitgliedschaft Deutschlands. Man stellte sich auf langwierige Verhandlungen ein und niemand war zu einem substanziellen Nachgeben bereit. Ziel war eine möglichst lange Erhaltung des Status quo. Die Erwartungen an den Beginn der 2 + 4-Verhandlungen auf Ministerebene am 5. Mai 1990 in Bonn waren daher eher gering. Außenminister Baker schickte im Mai 1990 Bush kurz vor Beginn der 2 + 4-Gespräche eine Lagebeurteilung. Er kam zu dem Schluss: „Obwohl die Sowjets nicht auf gleicher Wellenlänge mit uns liegen, glaube ich doch, dass unser Konzept der 2 + 4 als Lenkungsgruppe einige Attraktivität für sie besitzt. Sie dazu zu bewegen, ein Deutschland in der NATO zu akzeptieren, wird vermutlich schwieriger sein. [. . . ] Deutlich wurde, dass die Sowjets kein Rezept für die Quadratur des Kreises haben. Sie quälen sich damit herum. Ich vermute, Gorbatschow will sich eines derart emotional aufgeladenen Themas nicht gerade jetzt annehmen, höchstwahrscheinlich vor dem Parteitag (Anfang Juli 1990) überhaupt nicht mehr. Zwischenzeitlich werden kaum Fortschritte zu erzielen sein.“ 1201 Am 5. Mai 1990 begann das erste Außenministertreffen der 2 + 4-Staaten in Bonn. Schewardnadse hielt eine ernüchternde Rede 1202 und lehnte eine NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland strikt ab. 1203 Damit hatte niemand gerechnet. Nichts hatte sich in Moskau offenbar bewegt, die Bündnisfrage war nicht einen Millimeter vorangekommen. Da aber der Einheitsprozess schneller als gedacht voranging, machte Schewardnadse diese Vorschläge: – Die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland sollte auch nach der Wiedervereinigung bestehen. – Die „Großen Vier“ sollten den Aufbau eines neuen europäischen Sicherheitssystems „überwachen“ helfen. – Über Zeit und Dauer einer „Übergangsperiode“ müsse jetzt verhandelt werden. – Ausländische Truppen bleiben so lange in Deutschland stationiert
1198 Biermann, S. 558. 1199 Ebda., S. 561. 1200 Der Generalstab argumentierte: Keinesfalls darf es ein Vordringen der NATO gen Osten geben. 1201 Baker, S. 217 ff. 1202 Weidenfeld: S. 430 ff. 1203 Ebda. S. 433; Zelikow / Rice, S. 341 ff.
276
Kapitel 8
Schewardnadse schlug damit nichts Anderes vor als eine Überwachung der Deutschen durch die Siegermächte, selbst nach der Vereinigung von BRD und DDR. 1204 Deutschland sollte dabei neutral und demilitarisiert sein. Der Prozess der deutschen Vereinigung steckte am 5. Mai 1990 erkennbar in einer Sackgasse. Es gab allerdings in der Rede des sowjetischen Außenministers einen Funken Hoffnung: Wenn die NATO sich reformieren, sich „transformieren“ würde, dann könnte sich die Politik Moskaus gegenüber der NATO und der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands verändern. Die NATO müsse dazu aber ihren „mehr als bedrohlichen Charakter“ ändern. 1205 Bundeskanzler Kohl lehnte die „Entkopplungsvorschläge“ von Schewardnadse strikt ab. Sein Kalkül war es, die Sowjets durch den schnellen Vereinigungsprozess unter Druck zu setzen. Kohl sah Moskau in der Position der Schwäche (Stichwort: Kredite) und wollte die „Gunst der Stunde“ nutzen. 1206 Sowohl Washington wie Bonn erkannten, dass mit dem Entkoppelungsvorschlag aus Moskau der einzige Vorteil, den der Westen beim Einigungsprozess der beiden deutschen Staaten hatte, die Geschwindigkeit war. Dadurch gerieten die Sowjets von Beginn an unter Druck. Hinzu kam die Krise in der Sowjetunion. Auch hier saß die Bundesregierung am längeren Hebel. Am 3. Mai 1990 tagte in Moskau das Politbüro, um die politische Richtung vorzugeben. Schewardnadse hatte seine Gedanken in einem Vertragsentwurf 1207 niedergelegt Er sah eine Reihe von Konzessionen vor. Vor allem aber gab er Deutschland das Recht, Vollmitglied der NATO sein zu dürfen. Die Mehrheit im Politbüro lehnte sein Papier allerdings ab. Gorbatschow erteilte seinem Außenminister Schewardnadse sogar die Weisung, bei den 2 + 4-Gesprächen darauf zu bestehen, dass Gesamt-Deutschland nicht NATO-Mitglied werden dürfe. Was aber wie eine Niederlage aussah, stellte sich schließlich als Sieg heraus. Schewardnadse konnte in den 2 + 4-Runden Kompromisse durchsetzen, die näher an der Sowjetposition lagen. So führte diese Politik weg von einer Forderung nach Blockauflösung zu einer Politik der Blockannäherung. 1208 Um Deutschland in der NATO zu halten, musste der Westen wesentlich mehr Kompromisse eingehen als bisher gedacht, z. B. bei der künftigen Stärke der Bundeswehr. Das Nein vom 3. Mai 1990 blockierte
1204 1205 1206 1207
Ebda., S. 347. Biermann, S. 572. Ebda., S. 584. Dieser Entwurf wie auch das Protokoll der Sitzung sind bis heute unter Verschluss in Moskau. 1208 Biermann, S. 565.
Sowjetisches Militär gegen NATO-Ausdehnung
277
daher nicht, sondern eröffnete neue Möglichkeiten. Gorbatschow begann darüber nachzudenken, ob es nicht Zeit für eine Revision seiner Außenpolitik wäre. Er brauchte Hilfe, doch die gab es nicht umsonst. Ministerialrat Johannes Ludewig fertigte unterdessen für den Kanzler diese Zusammenfassung: 1209 Die UdSSR erwarte zusätzliche Impulse für die sowjetische Wirtschaft, die über die bisherige Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland und mit der DDR noch hinausgingen. Das gelte sowohl für den Handel als auch für die Kooperation bis hin zu Joint-ventures. Auch die UdSSR wolle möglichst schnell in ihrem internationalen Handel auf konvertible Währungen übergehen, spätestens ab 1991. Hier stelle sich dann die schwierige Frage der künftigen Preise. Das gelte auch gerade im Verhältnis zur DDR. Für die UdSSR vordringlich sei die Preisgestaltung bei den umfangreichen Öl- und Gaslieferungen in die DDR. Im Übrigen gehe die UdSSR generell davon aus, dass die DDR die übernommenen Verpflichtungen auf der Export- und Importseite einhalten werde, ggf. mit Hilfe der Bundesregierung, falls sie selbst dazu nicht in der Lage sei. 1210
Jetzt waren die beiden Staaten Bundesrepublik und Sowjetunion an einem Punkt angelangt, an dem es um den „Preis“ für die NATO-Zustimmung und damit für die Einheit ging. Ohne einen solchen stand Gorbatschow mit leeren Händen da. Also musste der Vertrag mit seinen Leistungen möglichst schnell, möglichst genau und möglichst gut ausgestattet sein. Um Gorbatschow „milde“ zu stimmen, sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Dem Kreml ging es bei den 2 + 4-Verhandlungen vor allem um eine deutliche Verringerung der Bundeswehr-Stärke. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden. Über das alles ließ sich nach sowjetischer Auffassung Einvernehmen erzielen. Wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden bilateralen Vertrages einen Vorschlag unterbreitet hatte, der in Moskau die Vertrauensbasis für eine Regelung der Einzelfragen schuf. Kohl-Berater Teltschik notierte deshalb am 23. April 1990, offenbar habe die sowjetische Führung nur auf einen derartigen „weiterführenden Vorschlag von uns gewartet“. 1211 Schon beim Treffen mit dem US-Präsidenten in Camp David am 25. Februar 1990 gab es zwischen Kohl und Bush Einvernehmen darüber, dass Gorbatschow sicherlich besser gestimmt werden könne, wenn ihm auch
1209 Deutsche Einheit, Dok Nr. 252, S. 1025. 1210 Teltschik, S. 141. 1211 Ebda., S. 203.
278
Kapitel 8
mit Geld geholfen werden würde. Den Notizen zu dem Treffen ist dieser Dialog zu entnehmen: Kohl: Ich könnte mir vorstellen, dass den Sowjets in Sachen deutscher Mitgliedschaft in der NATO etwas nachgeholfen werden kann. Das ist alles eine Frage von cash. Sie brauchen Geld. Am Ende ist es nur eine Frage von Geld. Wir müssen einig und hart bleiben bei der NATO-Frage. Nur wenn Moskau versteht, dass es eine totale Übereinstimmung zwischen der Bundesrepublik und den USA in dieser Frage gibt, werden sie bereit sein, eines Tages ihr Preisschild zu zeigen. („the real price tag for their Agreement“) Bush: Moskau will etwas dafür haben. Helmut, Sie haben tiefe Taschen. Gorbatschow will dabei sein Gesicht wahren. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Das ist eine Schlüsselfrage. 1212
Kohl nutzte die schwierige Situation von Gorbatschow aus und bot ihm am 22. Mai 1990 in einem Brief einen ungebundenen Finanzkredit von fünf Milliarden DM an, also drei Milliarden DM mehr als von Ryschkow erbeten. Er hatte keine Scheu oder gar Skrupel zu erklären, dass er damit die Erwartung verbinde, „dass die Regierung der UdSSR im Rahmen des 2 + 4-Prozesses im gleichen Geiste alles unternimmt, um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglichen“. 1213 Das hatte Teltschik auch schon in Moskau im Beisein von Kopper und Röller erklärt, sie mussten schließlich die fünf Milliarden übergeben. Die Bundesregierung bürgte nur für diese Summe. 1214 Botschafter Kwizinski ging das zu weit und er sprach es auch an. „Wir sollten in Bonn nicht um Geld betteln“, schrieb er seinem Chef Schewardnadse. Ihm war bewusst, dass nunmehr endgültig ein Junktim zwischen der Lösung der deutschen Frage und dem Kredit hergestellt worden war. 1215 Ökonomische Erwägungen sollten Gorbatschows Verhalten im 2 + 4-Prozess – neben den europa- und sicherheitspolitischen Motiven – fortan maßgeblich prägen. Dies wollte Kohl nutzen und die deutsche Finanzkraft wirkungsvoll für die Wiedervereinigung einsetzen. Dazu musste er die Finanzhilfe für Gorbatschow deutlich erhöhen. 1216 Hierfür reichte die finanzielle Kapazität Deutschlands allein nicht, sondern Kohl hoffte auch auf Milliarden-Unterstützung von den USA und den Partnern in Europa. Sie blieb aus.
1212 1213 1214 1215 1216
Bush / Scowcroft, S. 253; Deutsche Einheit, Dok Nr. 192, S. 868 f.; Baker, S. 199. Brief Kohl an Gorbatschow, 22. Mai 1990; in: Deutsche Einheit, Dok Nr. 284, S. 1136. Biermann, S. 649 und Sarotte: Perpetuating U.S. Preeminence, S. 159. Vgl. Bierling, S. 73 ff. Biermann, S. 647.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
279
Ein Entgegenkommen von Gorbatschow war trotz der Kreditzusage vom 13. Mai 1990 in Moskau noch nicht erkennbar, was wiederum US-Präsidenten Bush aufbrachte. „2 + 4 dürfe nicht über das Recht Deutschlands, volles Mitglied der NATO zu bleiben, verhandeln.“ Die sowjetische Zeitung „Pravda“ schrieb zur gleichen Zeit, dass eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands kein „Unglück“ sei. 1217 Eine Arbeitsgruppe im US-Außenministerium beobachtete für Außenminister Baker und Präsident Bush jede kleine Veränderung in Moskau. In einem „Themenpapier Deutsche Einheit“ vom 23. Mai 1990 fassten die Analytiker die Mai-Ereignisse noch einmal zusammen und kamen u. a. zu diesem Schluss: „Noch ist die Position von Gorbatschow in Sachen NATOMitgliedschaft verhärtet, aber wir dürfen die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion nicht aus den Augen lassen. Das könnte die große ‚Wildcard‘ (in Deutsch: Joker beim Kartenspiel) werden, um die Sowjets auf unseren Kurs zu bringen. Die Bundesrepublik hat bereits Angebote gemacht und das könnte ein Weg zur Hilfe sein, die Gorbatschow für seine Reformen braucht.“
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau Am 17. Mai 1990 flogen Kohl, Genscher und Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg nach Washington. 1218 Mit dabei war auch Teltschik. Die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland stand im Zentrum der Diskussionen. Mit Entschiedenheit sagte Kohl, die NATO bleibe unentbehrlich und das wiedervereinigte Deutschland müsse Mitglied der NATO sein. 1219 Bush stimmte dem zu und ergänzte, man bleibe bei der „gemeinsamen Ansicht über die Unerlässlichkeit der NATO“. Präsident Gorbatschow müsse überzeugt werden, dass US-Truppen in Europa keine Bedrohung für die Sowjetunion darstellen. 1220 Genscher warf ein, er habe das Gefühl, dass die sowjetische Regierung bemüht sei, die NATO zu entdämonisieren. „Man könne jetzt darüber reden, wie diese NATO-Mitgliedschaft (des vereinten Deutschland) für die Sowjetunion erträglich gestaltet werden könne.“ 1221 Kohl versicherte dem US-Präsidenten, dass „die NATO- Mitgliedschaft kein Preis sei, den er für die deutsche Einheit bezahlen werde“. 1222 Für 1217 1218 1219 1220 1221 1222
Pravda, 3. Mai 1990. Deutsche Einheit, Dok Nr. 281, S. 1126. Ebda., S. 1127. Ebda., S. 1128. Ebda., S. 1130. Ebda.
280
Kapitel 8
Bush und Kohl war damit ein erneutes Mal die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO bekräftigt worden. Doch Gorbatschows Haltung war weiterhin ablehnend. Nach dem amerikanisch-deutschen Gipfel reiste US-Außenminister Baker vom 15. bis 19. Mai 1990 nach Moskau. Er versuchte erneut, einen Stimmungsumschwung zu bewirken. Er hatte alle bisher einzeln gemachten Vorschläge aus den vielen Gesprächen und Verhandlungen zu einem Neun-Punkte-Plan gebündelt, 1223 die er „Assurances“-Garantien nannte. „Dazu waren wir bereit, um die sowjetischen Sicherheitsbedenken in Rechnung zu stellen“, so Baker. 1224 Er zog alle Register seines juristischen Könnens. 1225 Im Einzelnen waren dies: – Reduzierung der Truppenstärke der Bundeswehr durch die VKSE 1226 – Beschleunigung der SNF – Verhandlungen 1227 – Absicherung, dass Deutschland atomare, biologische oder chemische Waffen niemals herstellen, besitzen oder erwerben wird – Zusicherung, dass während einer Übergangsperiode keine NATOStreitkräfte auf dem Boden der DDR stationiert werden – Festlegung einer Übergangsperiode, während derer die sowjetischen Truppen aus der DDR abziehen können – Politische und militärische Anpassung der NATO – Vereinbarung in Bezug auf die polnisch-deutsche Grenze – Institutionalisierung und Weiterentwicklung der KSZE 1228 – Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen mit den Deutschen, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Erfüllung aller Wirtschaftsobligationen der DDR gegenüber der Sowjetunion 1229 1223 Bei Kiessler / Elbe liest sich das so: „Diese Entwicklung [gemeint ist der Washingtoner Gipfel] war allerdings nicht aus heiterem Himmel gefallen, sondern bereits beim Besuch von Außenminister Baker vom 15. bis 19. Mai in Moskau vorbereitet worden. Sein Vertrauter Zoellick hatte abends in seinem Moskauer Hotel einen genialen Einfall. Er konfrontierte Planungsstabschef Denis Ross, den politischen Direktor Ray Seitz und die Sowjetexpertin Condoleezza Rice aus dem Weißen Haus mit einem ebenso einfachen wie wirksamen Projekt: ‚Es gibt nichts‘, begann er, ‚was wir nicht schon mit einem unter den Direktoren im Zwei-plus-Vier-Prozeß behandelt hätten. Lasst es uns in Punkte fassen und den Sowjets zeigen. Es hat dann eine andere Wirkung.‘“, S. 148. 1224 Baker, S. 223. 1225 Siehe Protokoll vom 18. Mai 1990 in: Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 91, S. 406. 1226 VKSE = Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. 1227 SNF = Short Range Nuclear Forces, Kurzstrecken-Nuklearwaffen. 1228 Dies hatte US-Präsident Bush in einer Rede am 7. Mai 1990 in Oklahoma bereits vorgeschlagen; (1990) President George Bush, Oklahoma State University Commencement Address (excerpts) 4 May 1990, Survival, 32:4, 364–365, DOI: 10.1080/00396339008442546 (letzter Zugriff: 7. 2. 2017). 1229 Baker, S. 223; Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 91, S. 407 f.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
281
Gorbatschow „schrieb eifrig mit und signalisierte deutlich sein Einverständnis“ zu einer Reihe von Punkten. 1230 Doch so ganz überzeugt war er (noch) nicht. „Ein vereintes Deutschland in der NATO ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ 1231 Weiter sagte er: „Ihr – die USA – habt alles auf der Prämisse aufgebaut, dass Deutschland Mitglied der NATO bleiben wolle. Was aber, wenn ein vereintes Deutschland eines Tages sagt, wir wollen nicht mehr in der NATO sein? Was werden Sie dann tun?“ Baker fragte Gorbatschow, ob Deutschland aus der NATO austreten müsse? „Ja“, sagt er. „Es ist draußen, und es sollte auch keinem anderen militärischen Bündnis angehören.“ 1232 Baker: „Sprechen Sie von einem neutralen Deutschland?“ Gorbatschow: „Vielleicht würde ich es blockfrei nennen. Ich will darüber noch einmal nachdenken. Aber lassen Sie mich eines sagen: Wenn wir Sie am Ende nicht von unserem Argument überzeugen können, werde ich Präsident Bush sagen, dass wir in die NATO eintreten wollen.“ 1233 Baker verließ Moskau am 19. Mai 1990 mit dem Gefühl, „das Thema Deutschland ist Gorbatschow über den Kopf gewachsen. [. . . ] Vermutlich waren sie oft nahe dran, Deutschlands NATO-Mitgliedschaft zu akzeptieren, wurden dann aber von ihren politischen Vorstellungen oder der Erinnerung an die Geschichte wieder davon abgebracht.“ 1234 Gorbatschow selbst sagte dazu: „Ich kann die Einstellung meines eigenen Volkes nicht außer Acht lassen.“ 1235 Dennoch war der Boden für das Treffen mit US-Präsident Bush Ende Mai vorbereitet. Gorbatschow hatte jetzt zugestanden: – Deutschland hat die freie Wahl des Bündnisses – entweder NATO bzw. Warschauer Pakt oder Neutralität. – Sowohl die USA wie auch die Sowjetunion werden sich an die Entscheidung der Deutschen halten. Außenminister Schewardnadse legte derweil immer neue Ideen und Vorschläge vor. Dabei war die Kernfrage mit dem Treffen von Baker mit Gorbatschow am 18. Mai 1990 in Moskau eigentlich gelöst: Deutschland soll allein über seine Zugehörigkeit zu einem Bündnis entscheiden. Aus
1230 Baker, S. 223. 1231 Ebda. 1232 Das ganze Gespräch im (englischen) Wortlaut: in Internet: https://www.documentcloud.org/public/search/Title:Document-16-Gorbachev-Baker (letzter Zugriff: 4. 4. 2017). 1233 Baker, S. 224. 1234 Ebda., S. 225. 1235 Ebda.
282
Kapitel 8
den Gesprächen musste allerdings ein offizielles Papier mit verbindlichem Charakter werden. Mit seinen Vorschlägen und Ideen versuchte Schewardnadse, Bewegung in die Diskussion zu bringen. Er half dem Westen, eine goldene Brücke zu bauen, mit deren Hilfe die sowjetische Führung gesichtswahrend einlenken konnte. 1236 Am 30. Mai 1990 traf Gorbatschow mit einer großen Delegation in Washington ein. Doch bis dahin schoss der Kreml-Chef noch quer. Er hatte am 22. Mai 1990 zum zweiten Mal 1237 durch den Einsatz von Kanzler Kohl eine Milliardenhilfe durch deutsche Banken bekommen. Kohl und Teltschik warteten jetzt auf ein Entgegenkommen in der Bündnisfrage. Die harte Haltung von Schewardnadse bei der Eröffnung der 2 + 4-Gespräche am 5. Mai 1990 lag drei Wochen zurück. Seither bemühte sich der sowjetische Außenminister, das Bild vom „nicht verhandlungsfähigen und starrsinnigen Außenminister“ aufzuweichen. Das fiel schwer, denn Gorbatschow selbst betonte in mehreren Interviews im Mai, dass er noch immer gegen eine deutsche NATO-Mitgliedschaft war. 1238 Man benötige eine neue Sicherheitsstruktur in Europa. Und um auch dem Letzten bewusst zu machen, was er meinte, fügte er an: „Sollten die USA der Bildung dieser neuen Sicherheitsinteressen nicht zustimmen, werden wir den Einigungsprozess Deutschlands so eng wie möglich an die Verhandlungen über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa koppeln.“ Bush und Baker schrieb er ins Stammbuch: „Ich kann ja nur lächeln, wenn ich verschiedene Leute über verschiedene Modelle und Zeitpläne reden höre, als ob dies alles nach einem Eisenbahn-Fahrplan abläuft.“ 1239 Auch Schewardnadse konnte nicht von diesem Kurs abweichen. Gorbatschow gab die Richtung vor und sein Außenminister hatte dem zu folgen. Zumindest galt dies bis zum Gipfeltreffen mit US-Präsident Bush Ende Mai in Washington. Der Neun-Punkte-Plan von US-Außenminister Baker hatte Gorbatschows Meinung zweifellos beeinflusst. 1240 Es bedurfte keiner Drohungen und keiner Lockmittel, sondern der (nochmaligen) Erkenntnis, dass die Deutschen selbst entscheiden müssten, zu welchem Bündnis sie gehören wollten. Vor Gorbatschow flogen Kohl und Genscher mit einer Delegation nach Washington. Alle kannten den Neun-Punkte-Plan. Denn Baker hatte die-
1236 1237 1238 1239 1240
Biermann, S. 596. Das erste Mal im Januar / Februar 1990 durch eine Lebensmittel-Hilfe. Biermann, S. 591. Nelan, Bruce W.: Playing for Keeps, Time, Nr. 22 vom 28. Mai 1990, S. 10/11. Adomeit, S. 11.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
283
sen am 22. Mai an Genscher übermittelt. 1241 Am 16. und 17. Mai 1990 führten sie in Washington Gespräche, um sich über den bevorstehenden Gipfel zwischen Bush und Gorbatschow abzustimmen. Sie drängten auf eine Reform der NATO, um Schewardnadse und Gorbatschow entgegenzukommen. Kohl warb bei Bush nachdrücklich um eine deutliche Reform von Strategie und Struktur des Bündnisses. Das war eher schwierig, weil die übrigen NATO-Partner daran nicht vorrangig interessiert waren. 1242 Einig war man sich aber in der NATO-Frage. Deutschland solle volles NATO-Mitglied werden. Der „Genscher-Plan“ sowie der „Entkoppelungsvorschlag“ der Sowjets waren damit obsolet. Sowjetische Truppen sollten für eine Zeit noch auf dem Gebiet der früheren DDR bleiben. Das entsprach dem Neun-Punkte-Plan. Auf wenig Widerhall stieß Kohl bei den USA mit der Bitte um Unterstützung bei der koordinierten Wirtschaftshilfe für Moskau. So musste er das Bittgesuch vertagen und verlagerte jetzt seine Bemühungen auf den EG-Gipfel in Dublin am 25. und 26. Juni 1990. Niemand in Washington und in Bonn erwartete von Gorbatschow aufgrund seiner Äußerungen im Mai eine deutliche Veränderung der Positionen. Dazu stand Gorbatschow in Moskau unter zu schwerem innenpolitischem Druck. Die Lage im Lande selbst war überaus kritisch. Die CIA warnte Bush vor einem Putsch in Moskau. 1243 In dieser Situation Deutschland in die Einheit unter Obhut der NATO zu entlassen, war ihm zu riskant. Das hatten die Diskussionen der letzten Wochen in den Parteigremien gezeigt. Gorbatschow war in der Zwickmühle: Hielt er an seinem strikten „Nein“ in der NATO-Frage fest, würde er aus dem Westen keine Hilfe mehr bekommen. Schwenkte er dagegen um, riskierte er seinen Sturz. 1244 In den ersten Gesprächen mit Bush in Washington am 30. Mai 1990 wurde klar, dass Gorbatschow seine Meinung in der NATO-Frage nicht geändert hatte. Entweder Neutralisierung Deutschlands oder Doppelmitgliedschaft in NATO und Warschauer Pakt. Das war die Linie, die am 3. Mai im Politbüro gezogen wurde. Aber Gorbatschow sagte auch: „Ich bringe neue Ideen mit nach Washington.“ 1245 Niemand ahnte, dass diese „Ideen“ auf dem Neun-Punkte-Plan von Baker beruhten. 1246 Die Ideen, die er Bush zunächst vortrug, waren nicht neu: Bündnisauflösung oder allmähliche Transformation der Bündnisse plus Stärkung 1241 1242 1243 1244 1245
Kiessler / Elbe, S. 150. Biermann, S. 597. Biermann, Anm. 720, S. 598. Ebda., S. 600. Wieland, Leo: Differenzen über Deutschland und Litauen, in: FAZ, Nr. 126 vom 1. 6. 1990, S. 1. 1246 Adomeit, S. 11.
284
Kapitel 8
der KSZE oder eine Verflechtung der Bündnissysteme. Am Ende sollte dann ein neues Sicherheitssystem entstehen. Neu daran war, dass dieses neue System nicht mehr parallel und zeitgleich zum deutschen Vereinigungsprozess errichtet werden sollte. Das aber könnte bedeuten, dass Deutschland nach der Vereinigung doch noch im alten Bündnissystem NATO verbleiben dürfte. 1247 Bush antwortete klar und unmissverständlich: „Deutschland bleibt in der NATO, die Bündnisse bleiben bestehen und US-Truppen bleiben in Europa.“ Eine Lösung schien weiter entfernt denn je. Auch wenn es zunächst nicht danach aussah, dass Gorbatschow von seinen Positionen zur NATO abrücken würde – bei der ersten Runde geriet man aneinander („sehr heftig“, wie Gorbatschow bekundete 1248) –, ging am Ende das Kalkül der Amerikaner auf. Bush erinnerte wie beiläufig an den KSZE – Prozess von Helsinki 1249 und erkundigte sich, ob die Prinzipien der Selbstbestimmung, die man seinerzeit beschlossen habe, noch gelten würden. Selbstverständlich, erwiderte Gorbatschow, er habe das auch in jüngster Vergangenheit immer wieder bekundet. Das deutsche Volk, so habe er erklärt, könne und müsse selbst entscheiden, ob es in einem Staate leben wollte oder nicht und fügte an: „Ihr Amerikaner gebt den Deutschen keine Chance, ihr Schicksal nach der endgültigen Regelung selbst zu bestimmen. Lassen wir Deutschland selbst entscheiden, in welchem Bündnis es sein möchte.“ 1250 Gorbatschow hatte sich in Rage geredet, aber Bush und seine Begleitung hatten sehr wohl den doppelten Boden des letzten Satzes erkannt. Da man sich nicht sicher war, ob Gorbatschow sich der Bedeutung seiner Aussage bewusst war, fragte der überraschte US-Präsident nach, ob er das richtig verstanden habe. Gorbatschow bestätigte: „Ja, die Deutschen sollten selbst entscheiden, ob sie in der NATO bleiben oder das Bündnis verlassen wollten.“ Von Bush wollte Gorbatschow darauf wissen, ob die USA es respektieren würden, wenn die Deutschen gegen eine Mitgliedschaft in der NATO stimmen würden. „Ja“, lautete die Antwort. Gorbatschow war der Überzeugung, mit dieser Aussage einen Sieg errungen zu haben, mit dem die Versäumnisse der letzten Monate revidiert werden könnten. Er schlug vor, diese Feststellung schriftlich und verbindlich zu fixieren. „Wir formulieren also wie folgt: Die USA und die UdSSR
1247 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 96, S. 433. 1248 Gorbatschow: Wie es war, S. 137 f. 1249 Schlussakte von Helsinki, 1. August 1975; in Internet: www.osce.org/de/mc/ 39503?download=true (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1250 Galkin / Tschernjajew, Dok Nr. 96, S. 440.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
285
sprechen sich dafür aus, dem vereinten Deutschland selbst die Entscheidung zu überlassen, zu welchem Bündnis es gehören will.“ 1251 Bush modifizierte: „Die USA sprechen sich eindeutig für eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO aus, allerdings werden wir, falls es sich anders entscheiden sollte, die Entscheidung nicht anfechten, sondern respektieren.“ Auch damit war Gorbatschow einverstanden. „Wir übernehmen Ihre Formulierung.“ 1252 Seine Berater, allen voran Valentin Falin, waren „entsetzt“. 1253 Außenminister Schewardnadse redete auf Gorbatschow ein. 1254 Er blieb standhaft. Selbst Condoleezza Rice, die an der Runde im Weißen Haus beteiligt war, fand auch später noch Gorbatschows Verhalten „merkwürdig“. „Es kommt in der Diplomatie selten vor, dass jemand direkt am Verhandlungstisch seine Meinung ändert.“ 1255 Gorbatschow hatte am 30. Mai 1990 in den USA seine Zustimmung zum Beitritt des bald vereinten Deutschland zum Nordatlantikpakt mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen erteilt. Um die Gäste aus Moskau bei Laune zu halten, fuhr man zum Picknick nach Camp David, dem Sommersitz der US-Präsidenten. Bis zur Pressekonferenz am 3. Juni 1990 waren es noch drei Tage. Bis dahin musste das Wort von Gorbatschow Bestand haben. Man war sich nicht sicher, denn der Kreml-Chef wiederholte sein Angebot vorerst nicht. Falin 1256 berichtet später, dass sich Gorbatschow nur darüber beklagt habe, dass sein Außenminister Schewardnadse ihm nicht ausreichende Alternativ-Vorschläge zum Thema NATO erarbeitet habe. Falin empört: „Wie ein Ertrinkender klammerte sich Gorbatschow an den Strohhalm einer rhetorischen Floskel des amerikanischen Präsidenten: Wenn Deutschland nicht in der NATO bleiben will, steht es ihm frei, einen anderen Weg zu wählen.“ Die ihn begleitenden Berater rätselten, warum Gorbatschow entgegen aller vorher festgelegten Absichten „umgefallen“ war. Falin hatte sofort erkannt, was Gorbatschows neue Ansicht bedeuten würde: „Das lief praktisch darauf hinaus, dass die NATO ihren Geltungsbereich über die Elbe ausdehnte.“ George Bush überlegte derweil, welche „Belohnung“ der Westen dem sowjetischen Präsidenten und seinem Außenminister „bieten“ könne, denn zu Hause würde man ihnen beileibe nicht nur Lorbeerkränze flechten.
1251 1252 1253 1254 1255 1256
Ebda., Dok Nr. 96, S. 441. Ebda. Elbe, S. 151; Baker, S. 226. Biermann, S. 604. Zelikow / Rice, S. 386. Falin, Konflikte, S. 180 ff.
286
Kapitel 8
Bush hatte Kohl umgehend über diese Wendung informiert, der aber darauf nicht reagiert haben soll. Bush nahm an, dass seine Mitteilung den Kanzler „sprachlos“ gemacht habe. Nun wollte Bush diesen Satz, dieses Zugeständnis, diese wesentliche Änderung der NATO-Position bei Gorbatschow auch möglichst schnell öffentlich machen und Gorbatschow so öffentlich darauf „festnageln“. Dazu wurde eine Pressekonferenz für den 3. Juni 1990 angesetzt. Es gab keine Überraschungen. Gorbatschow sagte dazu nichts. Es fragte ihn auch keiner der Journalisten, obwohl diese Aussage, Deutschland könne sein Bündnis selbst wählen, im verteilten Pressetext stand. 1257 Die Journalisten lasen zwar den Text, den die Berater beider Seiten formuliert hatten, reagierten aber nicht. Sie hatten erstaunlicherweise gar nicht gemerkt, welch eine Sensation (Teltschik) 1258 sie vor sich hatten. Bush selbst wollte sie auch nicht explizit darauf aufmerksam machen. Allein wichtig war: Das Nachgeben Gorbatschows war nunmehr „aktenkundig“. Die Sowjets waren festgelegt. Bush informierte Kohl, Thatcher und Mitterrand. Gorbatschow kam nie wieder auf diese Frage zu sprechen. Der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière sagte dazu am 17. Juni 2015 gegenüber dem Autor: „Für uns entscheidend in dieser Hinsicht war die Pressekonferenz von Bush und Gorbatschow in Camp David Anfang Juni. Der US-Präsident sagte, das vereinte Deutschland werde in der NATO sein, und Gorbatschow stand dabei und widersprach nicht. Sein Schweigen an dieser Stelle nahmen wir als Zustimmung der Sowjetunion. Ich verfolgte das mit anderen vor dem Fernseher und sagte: ‚Das ist es!‘“ 1259 Eine gewisse Unsicherheit war jedoch weiterhin nicht ausgeräumt. Bush gestand sich ein: „Ich war mir nicht sicher, warum Gorbatschow das getan hatte, was er getan hatte.“ 1260 Intern war nur die Frage zu klären: Was galt jetzt?
1257 Zelikow / Rice, S. 389. Hier der Wortlaut: „Präsident Gorbatschow teilt diese Ansicht [Deutschland bekommt die volle Mitgliedschaft mit der Einheit; US-Forderung] offen gesagt nicht. Aber wir stimmen voll darin überein, dass die Frage der Bündnis-Mitgliedschaft, entsprechend der Schlussakte von Helsinki, eine Sache ist, die die Deutschen entscheiden müssen.“ Camp David war deswegen der NATODurchbruch, weil Gorbatschow – obwohl von allen Beratern bedrängt – seine Position danach nicht mehr veränderte. 1258 Teltschik, S. 256. 1259 Interview des Autors mit Lothar de Maizière am 17. Juni 2015 in Berlin. 1260 Bush / Scowcroft, S. 282. Hier auch die detaillierte Darstellung des Treffens aus der Feder von Bush selbst.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
287
Die Nicht-Erwähnung in der Pressekonferenz oder die interne Zusage im Bush-Gespräch? Bush selbst war skeptisch 1261 und schickte Kohl am 4. Juni 1990 dieses Fernschreiben: Was die deutsche Vereinigung angeht, so lassen Sie mich lediglich meinen nachhaltigen Eindruck bestätigen, dass sich Gorbatschow mit dieser Frage immer noch abmüht und versucht, Verständnis für die sowjetische Position in Europa nach der Vereinigung zu erlangen. Es war ein Schritt nach vorne, dass er keine Einwände gegen meine Erklärung auf unserer Pressekonferenz am Sonntag erhob, als ich sagte, dass er und ich uns zwar nicht darüber einig seien, dass das vereinte Deutschland volles Mitglied der NATO sein solle, wir jedoch darin übereinstimmten, dass die Frage der Bündniszugehörigkeit in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki von den Deutschen entschieden werden müsse. (In dem Maße, wie wir den sowjetischen Sicherheitsinteressen außerhalb der 2 + 4-Gespräche Rechnung tragen können – in unseren bilateralen Beziehungen, in Wien und auf dem NATOGipfeltreffen –, werden unsere Chancen steigen, dass wir Gorbatschow dazu bewegen können, ein vereinigtes Deutschland als volles Mitglied der NATO zu akzeptieren. Er muss wissen, dass die volle NATO-Mitgliedschaft nicht zur Disposition steht, wir ihm aber in anderer Weise helfen können.) Der NATOGipfel wird von entscheidender Bedeutung sein: Wir müssen den Sowjets und den Osteuropäern und der Öffentlichkeit in unseren eigenen Ländern in diesem Zusammenhang zeigen, dass das Bündnis in einem neuen Europa ein verändertes Gesicht haben wird. Ich glaube, dass unsere Auffassungen dazu sehr dicht beieinanderliegen und wir müssen im Vorfeld des 5. Juli zusammenarbeiten. 1262
Zoellick gestand später: „Ich kann weder mit reinem Gewissen ja noch nein sagen, ob Gorbatschow in Washington der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland zugestimmt hat.“ 1263 Für Gates war der KremlChef „über die intern vereinbarten Positionen hinausgegangen“. 1264 Den Beratern von Bush war es daher nahezu unverständlich, dass Gorbatschow gegenüber Bush die NATO-Frage im Sinne der USA und Kohls löste. Warum, so fragten sich die Amerikaner, wies er die westlichen Positionen nicht als „unannehmbar“ zurück, warum drohte er nicht damit, die 2 + 4-Gespräche scheitern zu lassen? Gorbatschow rang US-Präsident Bush keinerlei Gegenleistung ab. Er gab das „NATO-Pfand“ aus der Hand – nur gegen die Hoffnung auf „Hilfe“ und eine Änderung der NATO-Doktrin.
1261 Biermann, S. 605. 1262 Fernschreiben des Präsidenten Bush an Bundeskanzler Kohl, 4. Juni 1990, in Internet: https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/fernschreiben-despraesidenten-bush-an-bundeskanzler-kohl-4.-juni-1990 71.4589/ (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1263 Kiessler / Elbe, S. 151. 1264 Ebda.
288
Kapitel 8
Dagegen stand offenbar die Frage, was er mit einer starren Haltung aufs Spiel setzen könnte. Es würde mit Sicherheit keinerlei westliche Hilfe für die Perestroika mehr geben. Sein Lebenswerk wäre somit gefährdet. Aber gerade diese Politik stand ganz oben auf Gorbatschows Prioritätenliste. 1265 Baker kam zu dem Schluss: Ich nehme an, ihm war ganz genau bewusst, welche Konzession er gerade gemacht hatte. Rückblickend sehe ich mehrere Gründe für Gorbatschows Sinneswandel: Die Realität der deutschen Vereinigung entfaltete ihre eigene Dynamik. Moskau fiel immer weiter zurück. Gorbatschow war ein zu legalistisch und logisch denkender Mensch, um seine eigenen Argumentationslücken noch übersehen zu können. Die KSZE war seit langem die vom Kreml bevorzugte Sicherheitsinstitution, und als sich der US-Präsident auf KSZE-Prinzipien berief, um die Entscheidung eines vereinten Deutschlands für die NATO zu begründen, war er in die Klemme geraten: Ein Argument, das auf KSZE-Prinzipien beruhte, konnte er kaum widerlegen. 1266
Baker erkannte klar, dass Gorbatschow jetzt „mit greifbaren, wirtschaftlichen Zugeständnissen nach Moskau zurückkehren musste. Und damit war der Handelsvertrag gemeint“. Biermann formulierte es so: „Gorbatschows eigene wachsende Verunsicherung traf mit Bushs Festigkeit zusammen, der auch eine Konfrontation mit der Sowjetunion in Kauf zu nehmen bereit war. Dies jedoch wollte Gorbatschow unter allen Umständen vermeiden. Als Realpolitiker spürte er die Vergeblichkeit eines weiteren Opponierens gegen die deutsche NATO-Mitgliedschaft und gab ein deutliches Signal des Einlenkens, indem er die Presseerklärung Bushs akzeptierte.“ 1267 An dieser Wende sowjetischer Politik durch Michail Gorbatschow als dem Ersten Mann des Staates und der Partei änderten auch die ständigen Wiederholungen – insbesondere von Schewardnadse – bis zum Treffen im Kaukasus nichts, die da immer wieder hießen: Wir lehnen eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO ab. Gorbatschow hatte wieder einmal 1268 völlig überraschend und im Alleingang eine Entscheidung zur Zukunft Deutschlands getroffen. Die „freie Wahl“ als Prinzip wurde von ihm höher gehalten als lang gehütete Prinzipien in Moskaus Regierungsstuben.
1265 1266 1267 1268
Ebda., S. 378. Baker, S. 226 ff. Biermann, S. 609. Das erste Mal entschied er mit seinen Beratern am 25./26. Januar 1990, der deutschen Vereinigung zuzustimmen. Dies war für alle eine Überraschung. Es ging dieser Entscheidung keine Forderung vorweg bzw. es wurde kein Junktim geknüpft.
Kohl nach Washington, Baker nach Moskau
289
Doch zum ersten Mal hatte er gegenüber US-Präsident Bush vorsichtig eine Bitte ausgesprochen, die er aber mehr und mehr – je näher das Ende des Gipfels rückte – als Forderung formulierte. Es ging um das Handelsabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion. Dieses enthielt eine Meistbegünstigungsklausel (MFN 1269), die eine Behandlung nach den gleichen Zollvorschriften, die auch für alle anderen Länder galten, mit denen normale Handelsbeziehungen unterhalten wurden, festschreiben sollte. Der US-Kongress weigerte sich, diesem Vertrag zuzustimmen. Denn Gorbatschow hatte über Litauen ein Embargo verhängt, weil es sich aus dem Verbund der „Sozialistischen Sowjetrepubliken“ lösen und für unabhängig erklären wollte. Gorbatschow drohte mit Gewalt und setzte diese auch später ein. Im Januar 1991 töteten sowjetische Soldaten am „Blutsonntag von Wilna“ 14 Demonstranten und verletzten mehr als 600. Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow wollte Litauen in die Knie zwingen. Ferner lehnte der US-Kongress den Vertrag mit der Begründung ab, Moskau unterstütze mit Milliarden Dollar jährlich Kuba, das als „Feind“ der USA galt. 1270 Auch mit der „sowjetischen Position in der deutschen Frage“ sei Bush noch nicht zufrieden. 1271 Gorbatschow selbst bat bei einem Frühstück mit Kongressabgeordneten diese, „dem Abschluss des Handelsabkommens zuzustimmen“. „Ich brauche das Abkommen“ (I need this). „Ich bitte um eine Geste der Gewogenheit des amerikanischen Kongresses in der Handelsfrage“, so Gorbatschow gegenüber den US-Volksvertretern. 1272 Anschließend brachte Gorbatschow seine Bitte gegenüber Präsident Bush vor, der inzwischen Rat bei seinen Experten eingeholt hatte. Ein Teil war gegen ein „Geschenk“ für Gorbatschow in Form eines Vertragsabschlusses, doch der wichtigste Berater von Bush, Außenminister Baker, war dafür. „Wir sollten den Reformkurs in Moskau abstützen und nicht abstürzen lassen“, so sein Argument. Bush gab grünes Licht. Gorbatschows Zugeständnis in Bezug auf Deutschland dürfte ihm die Entscheidung, dem bedrängten sowjetischen Staatschef zu helfen, sehr erleichtert haben. 1273 Die US-amerikanische Deutschlandexpertin Prof. Dr. Mary Sarotte subsumierte diesen Deal unter dem Begriff „Bribe“, was auf Deutsch „Bestechung“ bedeutet. 1274
1269 1270 1271 1272 1273 1274
Most favoured Nation, MFN-Prinzip. Vgl. Bierling, S. 79 ff. Beschloss / Talbott, S. 288. Ebda., S. 80. Zelikow / Rice, S. 387. Sarotte, Perpetuating U.S. Preeminence.
290
Kapitel 8
Bush war in der Bewertung zurückhaltend. Eine gewisse Unsicherheit war deutlich zu spüren. Denn zwei Erkenntnisse ergaben sich aus dem Treffen mit Gorbatschow: Er schwankte immer noch in seiner Haltung zur vollen deutschen Mitgliedschaft in der NATO. Er wollte die Entscheidung den Deutschen überlassen. 1275 Gorbatschow hatte noch keine definitive Entscheidung getroffen, aber dem Prinzip der freien Bündniswahl zugestimmt („kind of agreed“). 1276
1275 Biermann, S. 605. 1276 Ebda., S. 606.
Kapitel 9 Der Weg zum Durchbruch im Kaukasus und die Zeit danach Gorbatschow schilderte in den USA in allen Details seine Lage. Aber niemals stellte er ein Junktim zwischen Hilfe und NATO-Deutschland-Frage. Dabei stand er in Moskau unter erheblichem Druck. Die NATO drohte zudem, die letzte Bastion sowjetischer Herrschaft in Europa – die DDR – zu übernehmen. Das Politbüro drängte Gorbatschow, hart zu bleiben. 1277 Gorbatschow war zwischen der Politbürositzung am 3. Mai 1990 (Striktes Nein zur NATO-Mitgliedschaft) und dem Gipfel in den USA Ende Mai zu der Überzeugung gekommen, dass seine Argumente gegenüber denen der westlichen Seite nicht standhalten konnten. So beschrieb er es selbst in seinen Memoiren 1278 und Tschernjajew erklärte dazu 1279: „Ein Weiterbestehen auf der Formel ‚Nein zur NATO Mitgliedschaft‘ wäre einfach unvernünftig gewesen.“ 1280 Andererseits waren in den 2 + 4-Verhandlungen noch viele Fragen ungeklärt. Das war der Grund, warum die sowjetische Delegation in Washington so „entsetzt“ war. 1281 Es waren noch sehr viele Punkte offen (z. B. Ende der Vier-Mächte-Rechte, Anzahl der Streitkräfte u. a. mehr). Der Sowjetunion fehlten dadurch, dass die Bündnisfrage jetzt erledigt zu sein schien, „Druckmittel“. Es gab keinen „Tauschhandel“ mehr. Weil weder die USA noch die Sowjetunion das Einvernehmen an die öffentliche Glocke hingen bzw. es darüber so gut wie keinerlei Berichterstattung in der Sowjetunion gab, war auch jede Diskussion weitgehend unterbunden. Dies war besonders wichtig, weil Anfang Juli der 28. Parteitag der KPdSU bevorstand. Wenn bekannt gewesen wäre, was Gorbatschow schon vereinbart hatte, hätte es möglicherweise zu seinem Sturz geführt. Da die US-Presse die Aussagen von Gorbatschow in Washington ähnlich wie Bush als „nicht sensationell“ einstuften, Bush selbst gar kein Interesse daran hatte, dies als „großen Erfolg“ in die Welt zu rufen, um nicht die Gespräche insgesamt zu gefährden, 1282 war das Echo auch in Moskau eher verhalten. Die Pressekonferenz wurde in den sowjetischen Medien, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt, auch Gorbatschow selbst kam nie wieder auf die bewusste Aussage zu sprechen. In seinen „Erinnerungen“ bemerkte er – nach der Wiedergabe des Protokolls von diesem Gespräch 1277 Ebda., S. 376. 1278 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 723. Dort heißt es: „Die dramatische Auseinandersetzung endete schließlich doch mit Einvernehmen.“ 1279 Biermann, S. 608, Anm. 767. 1280 Ebda. 1281 Ebda. 1282 Karner, S. 260.
292
Kapitel 9
mit Bush – vergleichsweise nebulös: „Man kann davon ausgehen, dass von diesem Augenblick an die durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges entstandene deutsche Frage zu existieren aufhörte.“ 1283 Dass er der NATO den Weg bis zu Oder und Neiße freigemacht hatte, erwähnte er nicht. In den politischen Gremien wurde aber erkannt, was Gorbatschow in den USA erreicht hatte. Zur selben Zeit des Gipfels fand in Moskau eine Landwirtschaftskonferenz statt. Jegor Ligatschow, einer der schärfsten Gegner und Kritiker von Gorbatschow, hielt eine Rede. Darin beschuldigte er Gorbatschow, „eine Konzession nach der anderen und endlos Kompromisse zu machen“. 1284 Vor dem Obersten Sowjet, dem höchsten Legislativorgan der Sowjetunion, musste Gorbatschow über seinen Besuch in den USA am 12. Juni 1990 einen Bericht ablegen. Zuvor hatte er bereits eine fast identische Rede am 7. Juni 1990 vor der Tagung des „Pol. Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages“ 1285 gehalten. In beiden Reden ging er auf die Bündnisfrage ein. Hier die Kernpunkte: [. . . ] Dieses große deutsche Volk, besitzt das heilige Recht, sein Schicksal eigenständig zu entscheiden. [. . . ] Anstatt an der Mitgliedschaft des künftigen vereinten Deutschlands in der NATO festzuhalten, sollten wir darüber nachdenken, wie wir die Blöcke einander annähern können. [. . . ] Wenn diese Veränderungen Realität werden, dann könnte auch die Frage der Sicherheit des vereinigten Deutschlands auf neue Weise gelöst werden. [. . . ] Letztendlich wird der Warschauer Vertrag wie auch die NATO eher im gesamteuropäischen Sicherheitssystem aufgehen. 1286
Hier sind die Handschriften der beiden Berater Schewardnadse und Tschernjajew deutlich zu erkennen. Sie waren schon seit April für eine veränderte Position in der NATO-Frage zugunsten Deutschlands eingetreten. Sie fürchteten aber auch, dass sich die NATO in Europa und darüber hinaus noch mehr erweitern könnte. Im Westen wurden diese Signale des Einlenkens erkannt. Die Sowjetunion wollte: Hilfe jeder Art, eine deutliche NATOReform, Truppenbegrenzungen. 1287 Schewardnadse sprach von „berechtigten Hoffnungen“ 1288 und einer „Überwindung der Blockkonfrontation“. Das hieß aber auch ein Entgegenkommen in der Bündnisfrage. 1283 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 722 ff. 1284 Karner, S. 262, Anm. 5. 1285 Ebda. Dok Nr. 27, S. 269. Siehe auch Rede von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière auf dieser Tagung. http:/ /www.argus.bstu.bundesarchiv.de/ DC20-I-3-20614/mets/DC20I3_3000/index.htm?target=midosaFraContent&back link=/DC20-I-3-20614/index.htm-kid-37b77cd5-7cf3-4667-9149-31cae3021a31& sign=DC%2020-I/3/3000#99 1286 Karner, S. 269 ff. 1287 Biermann, S. 614. 1288 Ebda., S. 615.
Der Weg zum Durchbruch im Kaukasus und die Zeit danach
293
In der Rede des DDR-Ministerpräsidenten de Maizière 1289 am 7. Juni 1990 auf der Tagung der Warschauer-Pakt Staaten in Moskau, gab es zwei bemerkenswerte Abschnitte, die sich mit der Bündnisfrage beschäftigten. Er sprach davon, dass alle Staaten des Warschauer Vertrages in freier Selbstbestimmung den Weg zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft eingeschlagen hätten. Es gebe nun Voraussetzungen dafür, „dass sich nicht nur die Vertragsgemeinschaft unserer Staaten auf einer völlig neuen Grundlage verändern kann und muss, sondern dass wir heute auch den Dialog über europäische Sicherheit, über die Ablösung der konfrontativen Militärbündnisse mittels bündnisüberwölbender Strukturen auf neue Weise führen können, sich Wege für die Überwindung in Europa eröffnen, die es bisher in der Geschichte unseres Kontinents nicht gegeben hat“. Die neue Regierung der DDR trete dafür ein, den Prozess der deutschen Einigung in die gesamteuropäischen Einigungsbestrebungen einzubetten. Die deutsche Vereinigung solle dem Prozess der Überwindung der Blockkonfrontation weitere Substanz hinzufügen. Damit war der DDR-Regierungschef auf die Linie von Bush und Kohl eingeschwenkt, nachdem er lange gezögert hatte, sich dem anzuschließen. Bis zum Juni wollten de Maizière und auch sein SPD-Außenminister Meckel keine NATO-Zugehörigkeit. 1290 Kohl kam jetzt zum dritten Mal in diesem Jahr nach Washington – ohne großen Tross und ohne Genscher. Der deutsche Außenminister war bei Bush etwas in Ungnade gefallen, weil er zu viele eigene Gedanken in Fragen der Einheit und der NATOZugehörigkeit Deutschlands entwickelt hatte. Bush wollte jetzt allein mit Kohl die Strategie für die erfolgreiche Vollendung der Einheit besprechen. 1291 Am Abend des 8. Juni 1990 war Kohl zu einem Abendessen mit Bush, Baker und Scowcroft ins Weiße Haus eingeladen und hielt eine kurze Rede. Seine wesentliche Botschaft war: Die deutsche NATO-Mitgliedschaft war unverzichtbar und stand nicht zur Disposition. Aber die NATO musste zeigen, dass sie bereit war, sich zu wandeln. Kohl wollte bei der Vorbereitung des NATO-Gipfels am 5. Juli 1990 in London behilflich sein und bot an, seinen Berater Teltschik zu vertraulichen Gesprächen nach Washington zu schicken. Geheimhaltung sei absolut notwendig. Erwähnenswert fand der Bundeskanzler die Idee eines Nichtangriffspakts zwischen 1289 Nakath, Detlef und Stephan, Gerd-Rüdiger: Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen 1987–1990, Berlin 1996, Dok Nr. 71 und 72, S. 342–347. Eine Zusammenfassung aus Sicht der DDR-Delegation findet sich in „Die Einheit“, Dok Nr. 108, S. 540. 1290 U. a. „Bild“, 28. April 1990, S. 1, und ausführlich Biermann, S. 511 ff. 1291 Beschloss / Talbott, S. 253.
294
Kapitel 9
NATO und Warschauer Pakt, allerdings war Bush daran nicht interessiert. Verträge mit dem Warschauer Pakt würden seiner Ansicht nach nur eine Stütze des zerfallenden Ostblockbündnisses sein. In Moskau war soeben ein Gipfeltreffen der Warschauer-Vertrags-Staaten zu Ende gegangen, bei dem Ungarn und Polen offen die Absicht geäußert hatten, die militärische Zusammenarbeit mit dem Ostblock aufzukündigen. Der Warschauer Vertrag war bestenfalls dabei, zu einer politischen Organisation zu mutieren. Gorbatschow schien einen Vertrag zwischen NATO und Warschauer Pakt allerdings als wichtiges Zeichen dafür anzusehen, dass die Tür zur Entwicklung neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen, die an die Stelle der bestehenden Bündnisse treten sollten, offengehalten wurde. Auch in London hatte es mittlerweile einen Stimmungsumschwung gegeben. Aus dem „No“ zur Einheit wurde jetzt ein „Yes“ von Frau Thatcher. Als sie am 7. Juni 1990 in Moskau bei Gorbatschow zum Tee eintraf, versuchte sie, den Kreml-Chef zu überzeugen, dass für die Sowjetunion ein vereintes Deutschland in der NATO besser wäre, „denn andernfalls gäbe es keine Rechtfertigung für die weitere Stationierung amerikanischer Truppen in Europa. Deren Anwesenheit sei für den Frieden und die Stabilität in Europa aber von grundlegender Bedeutung“. Thatcher stellt erstaunt fest, dass Gorbatschow nicht widersprach. Allerdings stellte sich Verteidigungsminister Jasow weiter strikt gegen ein Verbleiben Deutschlands in der NATO. Im Anschluss an die Tagung des Warschauer Paktes reiste DDR-Ministerpräsident de Maizière vom 9. bis zum 12. Juni 1990 in die USA. Am 11. Juni traf er in Washington mit US-Präsident Bush zusammen. De Maizière nahm nun eine leicht modifizierte Position gegenüber der US-Position – und der von Kanzler Kohl – in der NATO-Frage ein. Er habe Bush gesagt, dass es dauerhafte, stabile Sicherheitsstrukturen in Europa nur geben könne, wenn auch die Sowjetunion eingebunden sei. Die Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands in der NATO sei für die osteuropäischen Nachbarn nur hinnehmbar, wenn die NATO sich „deutlich verändert“. Dem habe Bush unter Hinweis auf den Neun-Punkte-Plan von US-Außenminister James Baker zugestimmt. De Maizière wies Bush auch auf den NATO-Gipfel Anfang Juli in London hin. Dort könnten sich „noch sehr viel weitergehende Veränderungen hin zu einem politischen NATO-Bündnis“ ergeben. Der DDR-Ministerpräsident wiederholte außerdem seine Auffassung, dass die sowjetischen Truppen vorläufig auf dem Gebiet der DDR bleiben müssten. Gorbatschow hatte über de Maizière seinen neuen Plan Präsident Bush mitteilen lassen. Darin schlug der Kreml-Chef vor, die NATO in ein politisches Bündnis umzuwandeln. Dies sollte dann quasi „Bedingung für die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO“ sein. In dieser
Der Weg zum Durchbruch im Kaukasus und die Zeit danach
295
Atmosphäre ständiger Verbesserungen und entspannter Diskussionen traf am 9. Juni 1990 ein Brief von Gorbatschow bei Kanzler Kohl ein. Er dankte für bereits geleistete Kredite und bat um neue. Teltschik nahm den „Boten“, den neuen sowjetischen Botschafter Wladislaw Terechow, in Empfang. 1292 Er sei sicher, so Gorbatschow, dass eine Regelung der äußeren Aspekte der Vereinigung vor dem KSZE-Gipfel möglich sei. Damit könne die Einigung im Einvernehmen zwischen beiden deutschen Staaten und im Einklang mit den Interessen der Vier Mächte und der anderen europäischen Länder praktisch vollzogen werden. Gleichzeitig bekräftigte er sein Interesse an einer neuen Perspektive für die sowjetisch-deutsche Zusammenarbeit. Der Abschluss eines politisch maßgeblichen und in jeder Hinsicht gewichtigen Vertrages zwischen der Sowjetunion und dem künftigen Deutschland würde einen qualitativen Wandel herbeiführen. Abschließend lud Gorbatschow Kohl zu einem vertiefenden Dialog über die Zukunft der beiderseitigen Beziehungen für die zweite Julihälfte ein. Teltschiks Folgerung: „Wir sind sicher, dass dieser Brief eine positive, wenn auch verklausulierte Antwort auf Kohls Hinweis enthält, er hoffe, dass die Gewährung des Kredits auch die Lösung der deutschen Frage erleichtern werde.“ 1293 Terechow übergab Teltschik das Schluss-Kommuniqué der Warschauer-Pakt-Tagung in Moskau und fügte hinzu, dass die Teilnehmer einen Aufruf an die NATO-Staaten gerichtet hätten, ihr Bündnis zu reformieren. Der Warschauer Pakt sei bereit, mit der NATO im Interesse der europäischen Stabilität konstruktiv zusammenzuarbeiten. Terechow berichtete außerdem kommentarlos, Ungarn sei dafür eingetreten, dass ein geeintes Deutschland Mitglied der NATO bleibe. Am späten Nachmittag desselben Tages informierte der britische Botschafter Christopher Mallaby im Auftrag von Margaret Thatcher den Kanzler-Berater über ihre Gespräche am 8. Juni 1990 in Moskau. Der Eindruck der britischen Delegation sei gewesen, dass Gorbatschow Herr der Lage sei, Thatcher habe ihm Unterstützung für seine Reformpolitik zugesagt. Zur Frage der deutschen NATO-Mitgliedschaft habe Gorbatschow vorgeschlagen, dass die Bündnisse zusammenwachsen sollten. Der Erklärung Margaret Thatchers, dass die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Europa auch zukünftig wichtig sei, habe er nicht widersprochen, er habe jedoch darauf hingewiesen, dass USA und Sowjetunion in Europa zusammenarbeiten müssten. Gorbatschow setze große Hoffnungen auf den bevorstehenden NATOSondergipfel in London und habe angeregt, eine gemeinsame Erklärung
1292 Teltschik, S. 265. 1293 Ebda.
296
Kapitel 9
von Warschauer Pakt und NATO zu erarbeiten. Er habe seinen Vorschlag wiederholt, Deutschland solle in der NATO einen Status wie Frankreich erhalten. Dagegen habe Margaret Thatcher dem Präsidenten erläutert, dass sie keine Lösung unterstützen könne, bei der Deutschland nicht Vollmitglied der NATO bleibe. Aus ihrer Sicht könne dieser Konflikt durch Fortschritte in allen Bereichen gelöst werden, bei der KSZE, den 2 + 4-Gesprächen, den Wiener Verhandlungen und im Rahmen einer Vereinbarung zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und der NATO. Es war nun offenkundig, wie sehr Gorbatschow Hilfe brauchte und dafür bereit war, seine letzten Bastionen aufzugeben. 1294 Er hatte erkannt, dass sich das Dogma „Keine NATO-Mitgliedschaft“ nicht länger halten ließ, zumal er über keinerlei gewichtige Gegenargumente verfügte. 1295 Er hatte die Alternative: An seiner starren Haltung festhalten und alles verlieren oder noch gerade rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkennen, um eine geänderte, auf „Freundschaft“ eingestellte NATO zu bekommen und dazu Wirtschaftshilfe in jeder Form zum Nutzen der Sowjetunion. Er entschied sich – auch zu seinem Vorteil – zugunsten der Sowjetunion. 1296 Im Schlusssatz seines Briefes lud er konsequenterweise Kohl nach Moskau ein. Der antwortete am 12. Juni 1990 und zeigte sich besonders dankbar für die Bestätigung, „dass auch Ihr Land dafür eintritt, im Rahmen der laufenden Gespräche eine umfassende Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung noch vor dem Gipfeltreffen der KSZE im Herbst dieses Jahres auszuarbeiten“. Und weiter: „Ich verstehe dies in dem Sinne, dass damit auch die Frage der Bündniszugehörigkeit des künftigen geeinten Deutschlands in konstruktivem Geist und in einer Weise, die den Wünschen nicht nur der Deutschen, sondern auch den Interessen ihrer unmittelbaren Nachbarn entspreche, gelöst werden wird.“ 1297 Weiter schrieb Kohl: „Hinsichtlich der kurzfristigen Gewährung eines ungebundenen Finanzkredits seien Vertreter der beteiligten Banken bereit, sofort nach Moskau zu reisen oder Vertreter der Sowjetunion in Bonn zu empfangen, um die konkreten Vereinbarungen vorzubereiten.“ 1298 Unmissverständlich wurde hier der Zusammenhang zwischen Geld und Einheit beschrieben. Denn noch war eine Zusage Gorbatschows, das vereinte Deutschland dürfe in der NATO bleiben, vertraglich nicht fixiert.
1294 1295 1296 1297 1298
Bush / Scowcroft, S. 287. Baker, S. 226. Adomeit, S. 17. Deutsche Einheit, Dok Nr. 309, S. 1207. Ebda.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990
297
Umgekehrt gab es aber auch keine Versprechen an Moskau, die NATO nicht auszudehnen. Dabei war die Lage in der Sowjetunion dramatisch. 1299 Bereits am 15. Juni 1990 wurde Botschafter Terechow erneut im Bundeskanzleramt vorstellig, um das Antwortschreiben Gorbatschows 1300 auf den jüngsten Brief von Kohl 1301 zu übergeben. Gorbatschow zeigte sich ungewöhnlich freundlich. „Diesmal war der Tonfall geradezu herzlich“, berichtete Kohl. 1302 Der Kreml-Chef wollte schnell neues Geld und schlug vor, dass die Gespräche über die konkreten Kreditvereinbarungen „binnen zweitägiger Frist“ beginnen sollten. In der noch immer offenen NATOFrage versprach Gorbatschow, dass man sich bei dem geplanten Treffen in der Sowjetunion „offen und auch konstruktiv“ damit auseinandersetzen werde. Von erheblicher Bedeutung würden hierfür auch die Ergebnisse des NATO-Gipfeltreffens in London sein. Der Generalsekretär habe bereits die Zusammenarbeit des wiedervereinten Deutschland mit seinem Land im Auge gehabt, wenn er formuliert habe, dass der wichtigste Punkt der Begegnung die anvisierten neuen Beziehungen sei.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990 Der Vereinigungsprozess der beiden Staaten in Deutschland war inzwischen unumkehrbar und an der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland schien es keine Zweifel mehr zu geben. US-Außenminister Baker traf am 22. Juni 1990 anlässlich der Sitzung der Zwei-plus-Vier-Außenminister in Berlin zunächst mit de Maizière zusammen, um ihn, an dessen Begegnung mit Bush anknüpfend, aufzufordern, sich bei der Unterstützung der sowjetischen Position in den 2 + 4-Verhandlungen zurückzuhalten. Der Erfolg ließ zu wünschen übrig, denn die Besorgnis über den sowjetischen Widerstand in der NATO-Frage überwog. Er sei soeben aus Paris zurückgekehrt, erklärte de Maizière, und Staatspräsident Mitterrand habe die Frage der deutschen Bündniszugehörigkeit nur „beiläufig“ behandelt. Was Mitterrand vor allem interessiere, sei die Schaffung neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen auf dem
1299 1989 war die Lage in der Landwirtschaft katastrophal. Gorbatschow schlug dem Politbüro der KPdSU am 2. März 1989 eine durchgreifende Landreform mit Privatisierung vor und begründete dies mit Lenin, der Ähnliches bereits nach 1920 geplant hatte. Zusammen mit den fallenden Ölpreisen verschärfte sich die Krise. Die Sowjetunion stand vor dem Kollaps. Vgl. Savranskaya, Masterpieces, S. 26; Baker, S. 221. 1300 Deutsche Einheit, Dok Nr. 315, S. 1224. 1301 Ebda., Dok Nr. 309, S. 1207. 1302 Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, S. 356.
298
Kapitel 9
KSZE-Gipfel im Herbst. Ob der französische Staatspräsident wirklich gesagt habe, dass diese neuen Strukturen die bestehenden ablösen sollten, fragte Baker nach. So weit war Mitterrand nicht gegangen, räumte Lothar de Maizière ein. Er selbst glaube jedoch, dass der Westen sich darauf vorbereiten sollte, das gegenwärtige NATO-System abzulösen. Als Baker widersprach, kam de Maizière schließlich auf den Kern des Problems zu sprechen: Die Sowjetunion hatte begonnen, ihre Gangart zu verschärfen. Während es bei nahezu allen übrigen Aspekten der Vereinigung rasche Fortschritte gab und die ostdeutsche Bevölkerung mit ihrem baldigen Vollzug rechnete, hatten die Sowjets die DDR-Regierung darauf hingewiesen, dass die Vereinigung ohne eine Regelung der äußeren Aspekte „problematisch“ wäre. Dmitri Jasow, der sich zu einer Tagung der Verteidigungsminister des Warschauer Pakts in Ost-Berlin aufhielt, hatte diese Position im Gespräch mit de Maizière ausdrücklich bekräftigt. Eine von Misstönen begleitete Vereinigung wäre nicht gut für Deutschland, sagte de Maizière. Die UdSSR würde bereits hinter den Zeitplan für den Abzug ihrer Truppen aus der DDR zurückfallen, und es sei nicht auszuschließen, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Soldaten und DDR-Bürgern kommen würde. Amerikanischer Standpunkt sei, erwiderte Baker, dass die Entscheidung über die Stationierung ausländischer Truppen, abgesehen von einer Übergangszeit für die sowjetischen Streitkräfte, beim souveränen deutschen Staat liege. Genau dies jedoch, entgegnete de Maizière, sei das Dilemma. Für Moskau sei dies undenkbar. Der Kreml könnte sich nicht eingestehen, dass er die Gewinne aus dem Zweiten Weltkrieg nun endgültig verloren habe. Die Vier Mächte sollten einen Kompromiss finden. 1303 DDR-Außenminister Markus Meckel hielt am 22. Juni 1990 auf der Außenministerkonferenz in Berlin eine Rede zu den Vereinigungs- und 2 + 4-Gesprächen. Teltschik analysierte für den Kanzler und kam zu folgenden Ergebnissen: 1304 „Die DDR wolle nicht eher vom Zwei-plus-Vier-Tisch aufstehen“, bis „solides Einvernehmen über Grundsätze und Fahrplan“ zu einer europäischen Sicherheitsorganisation (nicht nur „Struktur“ oder „System“) erreicht sei. Konkret schlug der DDR-Außenminister folgendes vor: – „Selbstbestimmter Verzicht Deutschlands auf Herstellung, Besitz, Weitergabe und Stationierung von ABC-Waffen. 1305 Dies würde eine Denuklearisierung und Singularisierung Deutschlands sowie eine Schwächung des Bündnisses bedeuten. 1303 Zelikow / Rice, S. 405 f. 1304 Deutsche Einheit, Dok Nr. 331., S. 1281. 1305 Atomwaffen, Biologische und Chemische Waffen.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990
299
– Freiwillige einseitige deutsche Erklärung bei den 2 + 4-Gesprächen, die Personalstärke von NVA 1306 und Bundeswehr zu halbieren und dies anschließend in die Wiener Verhandlungen einzubringen. – Sicherheitspolitische Sonderregelungen für das Gebiet der DDR („Genscher-Formel“). – Erklärung der Mitgliedstaaten beider Bündnissysteme (ohne Einzelheiten zum Inhalt)“. DDR-Außenminister Meckel schloss Übergangsregelungen nicht aus, wenn deren Dauer klar sei und keine offenen Fragen blieben. 1307 Teltschik kam zu dieser Bewertung: „Außenminister Meckels Äußerungen lagen den sowjetischen Positionen näher als den unsrigen. Alle von Meckel vorgetragenen konkreten Vorschläge gehörten in andere Verhandlungsforen. Eine Behandlung im Zwei-plus-Vier-Rahmen würde trotz der von Meckel hervorgehobenen ‚selbstbestimmten‘ Komponente zu einer Singularisierung Deutschlands führen. Durch dieses Verhalten wurde die sowjetische Haltung, die andernfalls in die Isolation zu drohen geriet, tendenziell gestärkt.“ Durch die bedingungslose – auch zeitliche – Unterordnung des Einigungsprozesses unter den Aufbau einer europäischen Sicherheitsorganisation riskiere die DDR eine Verzögerung des Vollzugs der deutschen Einheit. In dieser Hinsicht ging Meckel weiter als sein Amtskollege Schewardnadse, der immerhin nur von einer „optimalen Synchronisierung“ beider Prozesse sprach. 1308 Weil das geplante Gipfeltreffen der NATO im Juli zeitgleich mit dem 28. Parteitag der KPdSU in Moskau stattfand, mussten vorab entsprechende Beschlüsse zur Veränderung der NATO-Doktrin schon auf dem Außenministertreffen der NATO am 7. und 8. Juni 1990 im schottischen Turnberry fallen bzw. für den Gipfel vorbereitet werden. So konnte Gorbatschow bei entsprechender Änderung des militärischen Charakters der NATO hin zu einer mehr politischen Organisation ohne „Feindbild“ noch davon profitieren und auf die NATO als neuen „Partner“ zeigen. Daher hatten die USA den bisher vertraulichen „Neun-Punkte-Plan“ von Baker zum Gipfelbeginn öffentlich gemacht. 1309 Diese Schlussfolgerung ergab sich aus den beiden Reden von Gorbatschow im Juni 1990 und aus seinen Gesprächen mit Bush, Kohl, Thatcher und Mitterrand der letzten Wochen. Das Ziel also war es, den „Sowjets
1306 1307 1308 1309
Nationale Volksarmee der DDR. Deutsche Einheit, Dok Nr. 331, S. 1281. Ebda. Kiessler / Elbe, S. 153.
300
Kapitel 9
auch für ihre innenpolitischen Bedürfnisse die Angst vor dem Gespenst NATO zu nehmen, dass sie selber 40 Jahre an die Wand gemalt hatten“. 1310 Gerade das stellte sich als immense Aufgabe heraus, denn die NATO-Mitglieder waren sich in der Beurteilung der sowjetischen Politik keineswegs einig. 1311 Vor dem Ministerrat des Nordatlantikrates erläuterte US-Außenminister James Baker die aktuelle Position. Die wesentlichen Aussagen lauteten: – Deutschland wird seine Verpflichtung bekräftigen, nukleare, biologische und chemische Waffen weder herzustellen noch zu besitzen. – NATO-Streitkräfte werden während einer Übergangszeit nicht auf das frühere Territorium der DDR ausgeweitet. – Das Territorium eines vereinigten Deutschland wird ausschließlich die jetzige Bundesrepublik Deutschland, die DDR und das Gebiet von Berlin umfassen. – Der KSZE-Prozess wird gestärkt. – Die Bundesrepublik Deutschland hat klargemacht, dass sie sich bemühen wird, wirtschaftliche Fragen in einer Weise zu lösen, die zur Unterstützung der Perestroika dienen kann. Damit war nahezu alles bereits so festgelegt, wie es später vereinbart werden sollte. Allerdings: Die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO sowie die sowjetische Stellung in Europa nach der Vereinigung blieb für Gorbatschow weiter ein noch zu lösendes, gravierendes Problem. US-Präsident Bush erklärte zwar, dass Deutschland – wie es in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben war – Bündnis und die Sicherheitsvorkehrungen für sich selbst frei wählen dürfe. Auch wenn Gorbatschow diesem Punkt in Camp David zugestimmt hatte, war dieser Passus noch nicht in Vertragsform gegossen. Nach der Baker-Rede gelang es mit Blick auf Moskaus Erwartungen, die „Botschaft von Turnberry“ zu formulieren. Darin bot die NATO der Sowjetunion die „Hand zur Freundschaft und Zusammenarbeit“, wollte die „Chance zum Aufbau einer neuen Friedensordnung nutzen“, den KSZEProzess stärken und so ihren Reformwillen unter Beweis stellen. 1312 Damit war eine erste Botschaft des guten Willens formuliert. Nach Turnberry entspannte sich das Klima zunehmend. Noch war das Ergebnis von Camp David vom Mai / Juni nicht öffentlich kommuniziert,
1310 Dieter Kastrup, zit n.: Biermann, S. 616. 1311 Näheres bei Biermann, S. 618. 1312 Ebda.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990
301
aber der Geist der Veränderung war deutlich zu spüren. 1313 Dazu zählten auch die Treffen des sowjetischen Außenministers Schewardnadse mit seinem deutschen Kollegen Genscher am 11. Juni 1990 in Brest und am 19. Juni 1990 in Münster. Beide gingen in ihren Erklärungen vor Ort davon aus, dass „Probleme schnell zu lösen seien“. 1314 Die Sowjetunion legte jetzt ein Papier vor, das einen Vertrag zwischen NATO und Warschauer Pakt vorsah – einschließlich eines gegenseitigen Gewaltverzichtes. 1315 In seinen „Erinnerungen“ fasste Genscher die KSZE-Gespräche von Kopenhagen am 15. Juni 1990 zusammen. Hier nahm er auch Bezug auf die Pressekonferenz mit Bush und Gorbatschow in Camp David am 3. Juni 1990. Er verwies auf die Unterredungen mit Baker und Schewardnadse, der über den amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Washington berichtete. Schewardnadse erzählte von einem „eindrucksvollen Strauß bilateraler Vereinbarungen“. Natürlich habe man sich auch über Deutschland unterhalten. Dazu hätten sich aber beide Seiten nicht festlegen wollen, wüssten sie doch sehr wohl, dass sie, wenn sie auch beteiligte Regierungen seien, nicht allein zu entscheiden hätten. Man habe sich gefragt, ob man das erzielte Einvernehmen veröffentlichen solle. Schließlich habe man davon abgesehen; es seien noch Differenzen offengeblieben. Genscher dann wörtlich: „Auf meine Frage, worin dieses Einvernehmen bestanden habe, meinte Schewardnadse, die jetzt eingeschlagene Richtung sei wichtig: Es handle sich um die Transformation der Bündnisse. Zur Regelung der Beziehungen zwischen ihnen könne man Übereinkünfte treffen, sich auf Grundprinzipien einigen, Abkommen schließen. Das sei der aussichtsreichste Weg. Viel werde davon abhängen, in welchem Ausmaß die Bündnisse bereit seien, sich tatsächlich zu transformieren. Wenn hierfür eine gemeinsame völkerrechtliche Grundlage geschaffen werde, dann sei dies sicher ein neues, hochpolitisches Ereignis. Mir erschien der Begriff ‚Transformation der Bündnisse‘ missverständlich, ja nicht ungefährlich. Es war schwer vorstellbar, dass Bush und Baker sich so geäußert hatten; andererseits zweifelte ich nicht an Schewardnadses Aufrichtigkeit. Auch mit den besten Dolmetschern aber können Missverständnisse entstehen, vor allem, wenn man Neuland betritt.“ Der Frage des deutschen Status sei man ausgewichen, habe Schewardnadse berichtet. Wenn sich das Verhältnis zwischen den beiden Bündnissen wandle, habe man es mit einer völlig veränderten Situation zu tun.
1313 TASS vom 12. Juni 1990, wo „von einem Höchstmaß an Vertrauen geprägten Atmosphäre“ geschrieben ist. 1314 TASS und dpa vom 11. Juni 1990. 1315 Biermann, S. 624.
302
Kapitel 9
Man müsse jetzt die Gestaltung der Sicherheitsstrukturen in Europa forcieren; eine Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit werde dann nicht sonderlich schwierig sein. Allenfalls komme es auf die Frage des Übergangs an. Diesen Ausführungen habe er, Genscher, entnommen, „dass meine Erläuterungen in Genf, man müsse die Lage in Europa grundlegend umgestalten, in Moskau durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Offensichtlich suchte man dort die Lösung für das deutsche Problem nunmehr in solch neuen Umständen“. Die sowjetische Erklärung in der Washingtoner Pressekonferenz, es sei Sache der Deutschen selbst, ob sie einem Bündnis angehörten oder nicht, habe in Deutschland positives Aufsehen erregt, stellte Genscher fest. Das habe er schon in Genf gefordert. Schewardnadse antwortete mit den Worten, die Genscher selbst benutzt hatte: Das Recht der Deutschen, einem Bündnis anzugehören, ergebe sich aus der Schlussakte von Helsinki. Spät abends bat Baker Genscher noch zu sich, um ihn über die Einlassungen des sowjetischen Kollegen zu informieren. Genscher in seinen „Erinnerungen“: „Wir waren uns einig: Moskau hatte seine Entscheidung getroffen, die Würfel waren gefallen. Von meinem Hotelzimmer aus rief ich sofort Helmut Kohl in New York an. Verklausuliert, aber für ihn klar verständlich, signalisierte ich ihm: Moskau kommt über.“ 1316 Genscher hatte Recht. Wo andere zögerten, vom „Durchbruch“ zu sprechen, sprach Genscher den alten – Caesar zugeschriebenen – lateinischen Satz aus: „Alea iacta est“, zu Deutsch: „Die Würfel sind gefallen“. Das hieß hier: Das Problem ist gelöst. Aber es musste jetzt in einen Vertrag gegossen werden. Noch einmal zeigte sich: Moskau hatte keinerlei Bedingungen erhoben. Am 22. Juni 1990 sollte sich auf dem 2 + 4-Ministertreffen in Ost-Berlin zeigen, ob dieser Optimismus begründet war. Schewardnadse übergab zum ersten Mal einen sowjetischen Vertragsentwurf mit dem Titel „Grundprinzipien einer endgültigen völkerrechtlichen Regelung mit Deutschland“. Dieses Papier war bereits vor dem Gipfel in den USA erarbeitet worden, konnte also die neueste Entwicklung in der Bündnisfrage gar nicht berücksichtigt haben. Insofern war es eigentlich wertlos. Entsprechend war die Reaktion der übrigen fünf Außenminister. „Total enttäuschend“, so das einhellige Urteil. 1317 Besonders US-Außenminister Baker war erbost und sprach das auch aus: 1318
1316 Genscher: Erinnerungen, S. 817 f. 1317 Ebda., S. 824 f. 1318 Baker, S. 229 ff.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990
303
Noch am selben Abend fuhr ich zur Residenz des sowjetischen Botschafters, um mich mit Schewardnadse zu treffen. „Was ist zwischen Kopenhagen und hier geschehen?“, fragte ich ihn. „Das Papier, das Sie verlesen haben, will Deutschland eindeutig aussondern. Es wird den ganzen Prozess hinauszögern, es wird die Souveränität unmöglich machen. Ich muss sagen, dass dies eine derart dramatische Abkehr von allem ist, was ich in Kopenhagen verstanden habe, dass ich von Ihnen wirklich gerne hören würde, was eigentlich los ist [. . . ] Ich kann mit der Wahrheit umgehen, aber ich muss wissen, wie sie lautet.“
Schewardnadse gestand ein, dass die innenpolitischen Lage eine wesentliche Rolle bei der Ausarbeitung des Dokuments gespielt hatte und begründete dies so: „‚Die Stimmung im Land entwickelt sich nicht zu unseren Gunsten. Und das nicht zu berücksichtigen wäre nicht nur unvernünftig, es wäre unverantwortlich.‘ Es gebe ‚moralische, psychologische, politische Faktoren‘, die beachtet werden müssten. ‚Wir müssen imstande sein, unserem Volk zu sagen, dass wir vor keiner Bedrohung stehen, nicht durch Deutschland, nicht durch die USA, nicht durch die NATO. Ihr Verteidigungsminister hat jüngst eine Bemerkung über die Kürzungen Ihres Verteidigungshaushalts in diesem Jahrzehnt gemacht. Solche Aussagen sind wirklich hilfreich, um zu zeigen, dass auch wir uns nicht mehr im gleichen Maße wie bisher auf eine militärische Konfrontation mit den Vereinigten Staaten einstellen müssen.‘“ Baker kündigte gegenüber Schewardnadse an, dass die USA auf dem Londoner Gipfeltreffen die Verabschiedung einer Erklärung vorschlagen wollten, mit der die Anpassung des Bündnisses an eine neue und radikal veränderte Welt deutlich zum Ausdruck komme. Er berichtete ihm von jüngsten Entscheidungen des Präsidenten hinsichtlich der KSZE, darunter seine Zustimmung zu einem Sekretariat und einem Zentrum für Konfliktvermeidung. All das zeige doch, wie ernsthaft wir daran arbeiteten, die KSZE in eine wirksame Institution zu verwandeln und uns für ein neues, integratives Europa einzusetzen. Die USA seien schon immer besorgt gewesen, fuhr Baker fort, der Kreml könne versuchen, den Deutschen eine Entscheidung zwischen Einheit und NATO abzunötigen. Deshalb beschloss er einmal ein klares Wort zu sprechen: „‚Deutschland wird sich vereinigen, und wir sind wie alle anderen bereit, Deutschland die Souveränität zuzugestehen, die ihm zukommt – und das ist jetzt fällig.‘ Ich wollte nicht, dass er sich irgendwelchen Illusionen hingab. ‚Sollte aus dem Drängeln der Sowjets ein Schubsen werden, fuhr ich fort, würden wir ein vereintes Deutschland gegen all ihre Einwände in die NATO aufnehmen‘“. 1319 1319 Baker, S. 231.
304
Kapitel 9
Und es ging noch weiter. Baker schreibt: „Schewardnadse wiederholte viermal, dass sich die Londoner Deklaration entscheidend auf die Möglichkeiten der Reformer auswirken könnte, ihre Position in Bezug auf Deutschland zu rechtfertigen. Ich war mir sicher, weil diese Deklaration noch während des KPdSU-Parteitags veröffentlicht werden sollte und nicht nur die sowjetische Einstellung zu Deutschland, sondern auch Gorbatschows politische Position beeinflussen konnte.“ 1320 Schewardnadse wirkte erschöpft wie nie zuvor. „Die innenpolitische Lage schien ihn zu erdrücken. Als Baker ihn nach Gorbatschows Status als Generalsekretär fragte, sagte er, dass er darüber keine Vorhersagen machen könne. Zwar sei er sicher, dass Gorbatschow bleiben könne, wenn er wollte, aber er wisse nicht, was tatsächlich geschehen werde. Ständig wies er auf die Krisenstimmung in Moskau hin. Ich konnte Anzeichen großer Müdigkeit in seinem Gesicht erkennen.“ 1321 Nach dieser Reaktion erklärte Schewardnadse das Papier zum „Entwurf“ 1322 Damit war eine der letzten Chancen der Sowjetunion vertan, noch einmal die Diskussion in die Bahnen Moskaus zu lenken. Wäre z. B. die bereits erwähnte Erklärung Gorbatschows jetzt noch einmal wiederholt worden, aber mit dem Zusatz „die Details haben die jeweiligen Außenminister zu beraten“, wäre der ganze Prozess wieder nach Moskaus Wunsch verlaufen. In Camp David hatte Gorbatschow mehrfach den (widerwilligen) Außenminister Schewardnadse angewiesen, dieses Thema mit Baker zu verhandeln. Schewardnadse wies das mit den Worten zurück, das sei „Sache der Chefs“. 1323 Er wusste in Camp David nicht genau, was Gorbatschow gemeint hatte und wie das Prozedere aussehen sollte. 1324 Nun musste das in Camp David „Gesagte“ in schriftliche Vertragsform gegossen werden. Dabei konnte niemand Anfang / Mitte Juni wissen, ob Gorbatschow nach dem Parteitag (er dauerte bis zum 13. Juli) überhaupt noch an der Macht sein würde 1325 und wenn ja, mit welchen Befugnissen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Denn die DDR-Volkskammer hatte mit Mühe einen Antrag der DSU (Deutsche Sozial Union) auf „sofortigen Beitritt“ nach Artikel 23 GG abgelehnt. Kanzler Kohl beobachtete das Geschehen von der Diplomatentribüne aus. Hätte es eine Mehrheit schon am 17. Juni 1990 gegeben, dann wäre die DDR, ohne dass die o. g. Fragen 1326
1320 1321 1322 1323 1324 1325
Baker, S. 231 Baker: S. 231 Interview Schewardnadse, Neues Deutschland, Nr. 128/90 vom 27. Juni 1990, S. 3. Bush / Scowcroft, S. 283. Zelikow / Rice, S. 385 und Bush / Scowcroft. S. 282 ff. Es gab ständig Putschgerüchte aus allen Geheimdienstquellen. Siehe Karner u. a., Dok Nr. 29, S. 294; Zelikow / Rice, S. 454. 1326 Z. B. Stationierung der Roten Armee, Bündniszugehörigkeit.
Stand der deutsch-deutschen Verhandlungen Juni 1990
305
auch nur annähernd gelöst worden wären, Teil der neuen Bundesrepublik Deutschland geworden. Das politische Risiko war unverkennbar. 2 + 4 musste daher vorankommen, die drängenden Fragen mussten beantwortet werden, zumal die Zeichen sich mehrten, dass die Sowjets bereit waren, jetzt konstruktiv daran mitzuarbeiten. Geld spielte jetzt offensichtlich die wesentliche Rolle. Denn Gorbatschow fragte nun sowohl bei Kanzler Kohl wie auch bei Bush nach „finanzieller Hilfe“ nach. 1327 Einig war man sich längst nicht, und Kanzler-Berater Teltschik warnte unmissverständlich: 1328 „Der sowjetische Entwurf beinhaltet einen detaillierten, für uns weitgehend inakzeptablen Forderungskatalog, der die sowjetischen Vorstellungen im Vergleich zum ersten Außenminister-Treffen am 5. Mai 1990 in Bonn konkretisiert, in den Grundfragen allerdings keine Kompromissbereitschaft erkennen lässt. Der Vorschlag einer Übergangsregelung bis zur endgültigen Ablösung der Vier-Mächte-Rechte entkoppelt den Vollzug der Einheit von der Regelung der äußeren Aspekte und belastet die deutsche Einheit mit offenen Fragen. In inakzeptabler Weise wollte der sowjetische Entwurf die Rechtsordnung des geeinten Deutschlands binden bzw. Deutschland gegenüber anderen Staaten singularisieren. An der negativen sowjetischen Haltung zur NATO-Mitgliedschaft hatte sich nichts geändert. Durch die Konkretisierung der sicherheitspolitischen Vorstellungen war sogar eher eine tendenzielle Verhärtung eingetreten, die, wenn die Sowjetunion an ihnen festhalten sollte, die weiteren Gespräche erschwerte. Darüber hinaus warf die Sowjetunion erstmals in konkreter Form wirtschaftlich-finanzielle Forderungen auf, zu deren Erfüllung die BRD weder rechtlich noch politisch in der Lage ist.“ 1329 Teltschiks Fazit: „Insgesamt gesehen, drängt sich der Eindruck eines eilig zusammengetragenen, in sich widersprüchlichen Kataloges sehr unterschiedlicher, in der Tendenz maximalistischer Forderungen auf. Gegenüber dem ersten Zwei-plus-Vier-Außenminister-Treffen in Bonn hat sich die sowjetische Position in Kernfragen – also vor allem hinsichtlich der NATO-Mitgliedschaft – nicht bewegt. [. . . ] Angesichts der Tatsache, dass die innere Dynamik des deutschen Einigungsprozesses nicht aufzuhalten ist, hat die Sowjetunion mit der Präsentation dieses Papieres, dessen wesentlicher Inhalt auch öffentlich vertreten wurde, einen taktischen Fehler begangen. Der Westen jedenfalls ist gut beraten, sich auf eine Einzeldiskussion der sowjetischen Vorschläge erst gar nicht einzulassen.“ 1330
1327 1328 1329 1330
Bush / Scowcroft, S. 285, 287. Deutsche Einheit, Dok Nr. 327, S. 1262. Ebda. S. 1263 Ebda. S. 1264
306
Kapitel 9
Der Westen rätselte: Saß Gorbatschow überhaupt noch fest im Sattel? Jedes veröffentlichte Wort hatte jetzt Bedeutung. Am 1. Juli 1990 sollte die DM in der DDR eingeführt werden. Aber eine sowjetische Zustimmung zur Bündnisfrage lag noch immer nicht in vertraglich bindender Form vor. Dagegen flossen die Milliarden bereits aus der BRD nach Moskau. Unter diesen Umständen war es gut zu wissen, wer was in Moskau dachte. Am 26. Juni 1990 erschien in der „Pravda“ ein Interview mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse. 1331 In diesem Interview zeigte er Wege auf, die eine Lösung der NATO-/Bündnisfrage ermöglichten. Nunmehr hatten sich die „Pragmatiker“ (oder auch „Realisten“) um Gorbatschow offenbar durchgesetzt. Schewardnadse setzte alle Hoffnung auf die Veränderung der NATO-Doktrin auf der Tagung in London am 5. Juli 1990. Mit der Veränderung des militärischen Bündnisses hin zu einer politischen Gemeinschaft würde es die Lösung geben. Dies war Schewardnadse offenbar schon bekannt. Daher konnte er die sowjetische Bevölkerung darauf einstimmen, dass das vereinte Deutschland NATO-Mitglied sein würde. So wie es die BRD auch schon war. Der Weg schien nunmehr geebnet und das Tor geöffnet. Nun mussten Gorbatschow und Kohl nur noch hindurchgehen. Am 1. Juli 1990 wurde in der noch existierenden DDR die DM eingeführt. Durch die Wirtschafts- und Währungsunion war die DDR de facto ein Teil der Bundesrepublik geworden. Damit war der Vereinigungsprozess praktisch unumkehrbar geworden. Immer deutlicher zeigte sich, dass Gorbatschow vom „europäischen Haus“ zwar noch träumte, aber der Gegenwind zu Hause immer stärker wurde. In der Sowjetunion war das Thema „Einheit und NATO“ nicht das drängendste, sondern die schlechte Versorgungslage, die Krise im eigenen Land. Damit hatte Gorbatschow schwer zu schaffen, wie sich auch auf dem Parteitag der KPdSU deutlich zeigte. „Hilfe“ erhoffte er vom NATO-Gipfeltreffen in London. Diese Unterstützung sollte er nach dem Willen von Bush und Kohl bekommen. Entsprechend wurde das Treffen vorbereitet. US-Präsident Bush hatte dem Gipfel u. a. diese Themen (insgesamt 22 Punkte) zur Tagesordnung vorgeschlagen: – – – –
Politische Aufgabenstellung des Bündnisses Erfordernisse für konventionelle Verteidigung Zukunft der amerikanischen Nuklearstreitkräfte in Europa Ziele der Alliierten für die Zukunft der KSZE 1332
1331 Beilage zu Sowjetunion heute, Herausgeber: Sowjetische Botschaft, Bonn, Nr. 7, Juli 1990; TASS, 27. 6. 1990. 1332 Bush / Scowcroft, S. 293 ff.
Beste Vorbereitungen für den Gipfel
307
Schon vor Beginn des NATO-Gipfels erklärte Generalsekretär Manfred Wörner vor dem anglo-amerikanischen Presseverband in Paris: „Die NATO wird praktische Möglichkeiten für den Aufbau einer neuen Friedensordnung in Europa erwägen.“ 1333 Das Bündnis habe sich von der Konfrontationsstrategie gegenüber den Ländern des Warschauer Pakts wegbewegt; es strebe nun an, die Sowjetunion als vollberechtigten Partner in die neue Ordnung einzubinden. Innerhalb der bestehenden Organisationen wie NATO und Europäische Gemeinschaft müssten neue Sicherheitsmodelle für Europa entwickelt werden. Weiter sagte Wörner, eine größere Bedeutung müsse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zukommen. Beim Gipfeltreffen würden die Teilnehmer über die Schaffung eines Kontrollzentrums für Abrüstung und über eine Zentrale für Krisenlösung innerhalb der KSZE sprechen. Wörner bezeichnete es als wichtig, dass ein vereinigtes Deutschland Vollmitglied der NATO und ihrer militärischen Struktur bleibe, wobei sowjetischen Sicherheitsbedürfnissen durch besondere Absprachen Rechnung getragen werden solle. Der Sowjetunion sei auch bereits eine Reihe von Sicherheitsgarantien angeboten worden. 1334 Damit war die Richtung vorgegeben. Der Kreml hatte das Empfinden, ihm sei entgegengekommen worden, wenn auch die Forderung der deutschen NATO-Mitgliedschaft nach wie vor unabdingbar war.
Beste Vorbereitungen für den Gipfel Für Helmut Kohl wurde ein kaum noch überschaubares Material zur Vorbereitung auf den NATO-Gipfel in London zusammengestellt. 1335 Die stichwortartige nachfolgende Aufstellung vermittelt einen Eindruck von der Fülle der Dokumente, die Kohl vorgelegt wurden und die er zu „verinnerlichen“ hatte. Ausgangslage: Der Londoner Gipfel wird die Kernfrage zu beantworten haben, ob das Bündnis angesichts des historischen Wandels in Europa selbst wandlungsfähig ist und die Chancen dieses Wandels durch aktive, initiative und zukunftsgewandte Politik zu nutzen und mitzugestalten weiß.
1333 Manfred Wörner: Visionen für die NATO: https://www.nato.int/docu/review/2004/ issue3/german/history.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1334 Wörner wünscht Sowjetunion als Partner, in: SZ, Nr. 142 vom 23. Juni 1990, S. 5 (AP/AFP). 1335 Deutsche Einheit, Dok Nr. 344 und 344 A – H. Die wesentlichen Punkte im Auszug. Sie zeigen, wie präzise der Kanzler vorbereitet wurde. In London ging es um den „Schlüssel“ zur Einheit. Anlage 8.
308
Kapitel 9
Diese Antwort muss in einer Form und mit einer Substanz erfolgen, dass sowohl die Sowjetunion und die anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts überzeugt werden, dass das Bündnis auch in Zukunft unerlässlich ist, und zwar sowohl als Anker der westlichen – und deutschen – Sicherheit und als Grundlage einer bündnisübergreifenden europäischen Sicherheitsarchitektur.
Verhältnis NATO zum Warschauer Pakt Außenminister Schewardnadse hatte gleichzeitig in einem Schreiben an Außenminister Baker vorgeschlagen, dass beide Bündnisse in einem Vertrag oder in einer gemeinsamen Erklärung ihr künftiges Verhältnis zueinander nach den Leitworten Nichtangriff – Gewaltverzicht regeln sollten. Konsens herrschte im Bündnis, dass ein Abschluss „von Block zu Block“ wegen der damit erreichten Stabilisierung des Warschauer Pakts nicht in Frage kam, wohl aber ein Dokument unter den einzelnen Mitgliedstaaten; ferner, dass ein völkerrechtlicher Vertrag wegen der damit verbundenen Ratifikationserfordernisse nicht empfehlenswert war. 1336 Der Westen stand vor der politischen Herausforderung und öffentlichen Erwartung, ein positives Signal zu geben, dass er der Sowjetunion auf ihrem Reformweg in Richtung Marktwirtschaft mit Rat und Tat zur Seite stehen würde. Als Ursachen wurden z. B. genannt: Unzureichende Reformschritte u. a. in der Landwirtschaft sowie nicht genügend durchdachte Reformschritte. Die sowjetische Wirtschafts- und Finanzlage sei nicht durch den Prozess der deutschen Vereinigung ausgelöst worden und deshalb auch kein „deutsches Problem“. Es sei gesamtwestliches Interesse, Politik so fortzusetzen, damit in Moskau ein dem „Neuen Denken“ verpflichteter Partner erhalten bleibe. Kernpunkte seien: – Demokratisierung und Menschenrechte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa – Prozess der deutschen Vereinigung – Zwei-plus-Vier-Hinnahme deutscher NATO-Mitgliedschaft – Weitere Maßnahme der Abrüstung und Rüstungskontrolle (Wien I und START noch in diesem Jahr!) – Europäische Sicherheitsarchitektur – KSZE-Institutionalisierung – Lösung regionaler Konflikte (bisher Afghanistan, Südafrika, Mittelamerika, Zukunftsaufgabe: Kuba) Kaum eine Frage blieb in den Vorbereitungen ausgespart. Die deutschen, europäischen bzw. die US-Positionen und Ziele waren klar beschrieben. 1336 Ebda., Dok Nr. 344A, S. 1310 ff.
Verhältnis NATO zum Warschauer Pakt
309
Alles war darauf ausgerichtet, die Sowjetunion davon zu überzeugen, dass die NATO nunmehr ihr Partner wäre, um so den Frieden durch die NATOMitgliedschaft des vereinten Deutschland sicherer zu machen. Wie bedeutsam diese Vorschläge für die Sowjetunion waren, zeigte sich in dem Verhalten von Schewardnadse. Als Augenzeuge der Gespräche beschrieb Brent Scowcroft seine Eindrücke so: 1337 Seine vertraulichen Gespräche mit Baker klangen wie ein Hilferuf. Schewardnadse sagte mindestens vier Mal, dass die Erklärungen auf dem NATO-Gipfel ganz entscheidend sein würden, um dem sowjetischen Volk die deutsche Souveränität und die NATO-Mitgliedschaft verkaufen zu können. Ich nahm das sehr ernst. Wenn wir auf dem Gipfel keine mutigen Schritte zur Veränderung des Bündnisses unternahmen, würden wir den öffentlichen Eindruck nicht bieten können, den die Sowjets als so entscheidend ansahen. Wir durften uns nicht mit bloßer Rhetorik anstelle echter Substanz zufriedengeben.
Bush hatte seine Ziele für den NATO-Gipfel bereits im Mai in der Oklahoma State University verkündet. Seither war eine kleine Gruppe in der Regierung damit beschäftigt gewesen, die Vorschläge auszuarbeiten, die die USA im Juli vorlegen wollten. Ende Juni war eine kurze Erklärung mit 22 Artikeln fertig. Darunter waren die Vorschläge, das Verhältnis der NATO zum Warschauer Pakt und seinen einzelnen Mitgliedern zu verändern, die militärische Organisation und die alten Doktrinen zu modifizieren und die Bedeutung der KSZE als einer dauerhaften Sicherheitsstruktur zu steigern. Die Erklärung schlug vor, das Bündnis in vier Bereichen zu verändern: 1.
2.
3.
„Der politische Auftrag sollte hervorgehoben und eine Zusammenarbeit und Partnerschaft mit den früheren Gegnern betont werden. Das Bündnis verpflichtete sich, niemals als erstes zur Gewalt zu greifen, schlug einen Nichtangriffspakt mit den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes (nicht mit dem Pakt selbst) vor und lud die entsprechenden Regierungen ein, diplomatische Vertretungen beim NATOHauptquartier in Brüssel einzurichten. Sie rief dazu auf, den Charakter der konventionellen Verteidigung zu verändern – weg von der „Vorwärtsverteidigung“ hin zu mehr mobilen, wirklich multinationalen Truppen. Das Dokument schlug nach Abschluss des KSZE-Vertrages auch weitere Verhandlungen zur konventionellen Rüstungskontrolle vor, um die offensiven Streitkräfte und die Anzahl der Soldaten in Europa weiter zu reduzieren. Sie kündigte eine neue atomare Strategie der NATO an, bei der die „Flexible Response“, die abgestufte Reaktion, modifiziert werden
1337 Bush / Scowcroft, S. 292.
310
4.
Kapitel 9
sollte, um nicht länger Atomwaffen als zentralen Baustein in der Verteidigung zu haben, sondern diese wirklich nur als „Waffen des letzten Auswegs“ zu nutzen. Sie schlug die Stärkung des KSZE-Prozesses vor: ein neues Mandat zur Förderung demokratischer Institutionen, operative Kapazitäten im Bereich der Konfliktverhütung und, erstmalig, eine institutionelle Struktur durch ein neues Sekretariat und andere Organe“. 1338
Obwohl die Erklärung in erster Linie dazu dienen sollte, so Scowcroft, Moskau bei der Wahrung seines Gesichts zu helfen, war sie doch ein zu wichtiges Dokument, um es in der üblichen Weise mit den Verbündeten abzustimmen. Normalerweise nahmen sich die Berufsdiplomaten der einzelnen Länder solche Entwürfe genau vor und erarbeiteten dann ein Kompromiss-Paket, das stark verwässert wurde. Angesichts knapper Zeit wurde dieses Mal das übliche bürokratische Prozedere umgangen. Dieser Ansatz war nicht ohne Risiko: Wenn die Verbündeten der USA nicht mitziehen wollten, konnte der Gipfel in eine Sackgasse laufen und fehlschlagen. Die einzelnen Mitglieder könnten sich auch dagegen verwahren, ohne vorherige Konsultation ein komplettes Paket „Made in America“ zur Abstimmung vorgelegt zu bekommen. Um diesen Eindruck zu vermeiden und sie rechtzeitig zu überzeugen, entschied Bush, die Angelegenheit als Chefsache zu behandeln. Er wollte frühzeitig mit den Regierungschefs der NATO-Partner sprechen und dann den Entwurf der USA auf dem Gipfel selbst nur unter den Außenministern und Staatschefs verhandeln. Er sandte Briefe mit dem Entwurf auf direktem Weg an Wörner, Kohl, Thatcher, Andreotti und Mitterrand. 1339 Die Reaktion der Schlüsselpersonen der Allianz war ambivalent, während ihre Bürokratien einhellig darüber konsterniert waren, dass sie bei dem Vorgehen nicht einbezogen worden waren. Dazu ist bei Scowcroft / Bush zu lesen: 1340 Kohl gefielen die Vorschläge, Wörner und Andreotti waren völlig begeistert. Frau Thatcher war hingegen sehr skeptisch: Sie monierte, dass wir damit die Grundlagen einer gediegenen militärischen Strategie für einige „nur auf den ersten Blick“ geeignete Vorschläge aufgaben. Sie war dafür, die Ausrichtung der NATO zu verändern, aber sie wollte die lang erprobte Strategie der „Flexible Response“ auf keinen Fall modifizieren. Diese Strategie hielt der NATO die Möglichkeit offen, bei einem konventionellen Angriff der Sowjetunion den atomaren Erstschlag auszuführen, wodurch diese vielleicht abgeschreckt werden konnte. Sie sah den Schritt, Atomwaffen zu „Waffen des letzten Auswegs“
1338 Ebda. S. 293 1339 Ebda. 1340 Ebda.
Verhältnis NATO zum Warschauer Pakt
311
zu erklären, als eine andere Formulierung für „Kein atomarer Erstschlag“, an, wodurch unsere konventionellen Streitkräfte verwundbar wurden. Sie fürchtete, der Tonfall der Erklärung würde die Leute dazu bringen, die Sowjetunion nicht länger als Bedrohung zu empfinden. Auch die Idee, direkte Verbindungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten aufzubauen, widerstrebte ihr, denn sie bevorzugte die KSZE und eine gemeinsame Erklärung von NATO und Warschauer Pakt. Sie forderte einen völlig neuen Entwurf, der von den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Westdeutschland und Italien erarbeitet werden sollte.
Mitterrand war laut Scowcroft wohlwollender eingestellt und unterstützte einen Großteil der Erklärung. Aber auch er teilte Thatchers Bedenken über die Sprachregelung des „letzten Auswegs“ bei Atomwaffen. Er räumte aber ein, dass er keine Ratschläge geben wollte, nachdem Frankreich den militärischen Strukturen der NATO nicht angehörte. Dank der fachkundigen Verhandlungen von James Baker und seinen Amtskollegen kam es auf dem Londoner Gipfel zu einem Kompromissvorschlag. Der gemeinsamen Erklärung von NATO und Warschauer Pakt wurde mehr Bedeutung beigemessen, aber sie sollte kein Nichtangriffspakt sein. Die Substanz der US-Vorschläge zu Atomwaffen war enthalten, wurde aber an eine Vereinbarung über die konventionellen Streitkräfte in Europa gebunden – jenes Problem, bei dem Margaret Thatcher Einwände gehabt hatte. Die „Flexible Response“ wurde modifiziert, und das Bündnis sprach sich dafür aus, sich von der Vorwärtsverteidigung „zu entfernen“. Das war ein Wendepunkt für das Bündnis. Auf dem Heimweg von London schickte Bush Gorbatschow eine Nachricht, in der er ihm das Geschehen erklärte und darstellte, wie weitgehend die Erklärung im Einzelnen auf die sowjetischen Bedenken zugeschnitten war. In dem Telegramm hieß es u. a., vor einigen Stunden sei eine Erklärung abgefasst worden, „die eine Transformation des Bündnisses in jedem seiner Tätigkeitsfelder vorsieht, besonders in der Beziehung zur Sowjetunion. Wenn Sie die NATO-Erklärung 1341 lesen, möchte ich, dass Sie wissen, dass dies in erster Linie in Hinblick auf Sie geschrieben wurde. Ich habe das meinen Kollegen in London sehr deutlich gemacht. [. . . .] Ich hoffe, dass die heutige NATO-Erklärung Sie überzeugen wird, dass die NATO den Sicherheitsinteressen von ganz Europa dienen kann und wird.“ 1342 Die NATO-Erklärung und seine – Bushs – persönliche Nachricht hätten den Boden für das bereitet, was die letzte Phase der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung werden sollte. „Der Sowjetunion wurde
1341 Der (deutsche) Wortlaut der Erklärung im Internet unter www.nato.int/docu/ comm/49–95/c900706a.htm (letzter Zugriff: 18. 6. 2020). 1342 Bush / Scowcroft, S. 295.
312
Kapitel 9
ein Beweis für den tiefgreifenden Wunsch des Westens nach einer Veränderung der NATO geliefert.“ 1343 Die von der sowjetischen Führung mit Spannung erwartete „Entfeindungsformel“ fand sich am Schluss des 4. Punktes der „Erklärung von London“: Die Atlantische Gemeinschaft wendet sich den Ländern Mittel- und Osteuropas zu, die im Kalten Krieg unsere Gegner waren, und reicht ihnen die Hand zur Freundschaft 1344.
Unter Punkt 6. wurde eine gemeinsame Erklärung beider Bündnisse vorgeschlagen, „dass wir uns nicht länger als Gegner betrachten“. Ferner wurde die Absicht mitgeteilt, „die politische Komponente unserer Allianz [. . . ] zu stärken“. (Punkt 2). „Neues Denken“ wurde auch für die Militärpolitik angekündigt. So wie Europa sich wandele, müsste der Denkansatz in Verteidigungsfragen grundlegend verändert werden. (Punkt 11). Die Gegner der NATO-Einbindung eines geeinten Deutschland konnten weder dieser Formel noch dem gesamten Text der Londoner Tagung viel abgewinnen. Denn der „Wunsch mit allen Völkern in Frieden zu leben“ stand schon seit 1951 in der Präambel des NATO-Vertrages. 1345 Die DDR-Regierung hatte zwar in ihren Koalitionsvertrag 1346 auf Drängen der SPD einen „Wandel der Allianz“ hineinschreiben lassen. Dort hieß es u. a. es sei Aufgabe der Regierung der DDR, dafür einzutreten, den Prozess der Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu fördern. Es ist davon auszugehen, dass das vereinigte Deutschland für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems Mitglied der sich in ihren militärischen Funktionen verändernden NATO sein wird. „Die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ist den osteuropäischen Staaten nur zumutbar, wenn damit sicher das Aufgeben bisher gültiger NATO-Strategien, wie Vorneverteidigung, Flexible Response und nuklearer Ersteinsatz, verbunden ist“. 1347
1343 Ebda., S. 293 ff. 1344 Internet: https://www.nato.int/docu/comm/49-95/c900706a.htm 1345 Nordatlantikvertrag vom 4. 4. 1949; in Internet: www.staatsvertraege.de/natov49. htm (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1346 Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFP, BFD, F. D. P.) und der SPD vom 12. April 1990; in Internet: www.ddr89.de/ddr89/d/Koalitionsvereinbarung.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1347 Die Einheit, Dok Nr. 90, S. 447; Koalitionsvertrag DDR – Regierung DDR – Maizière im Internet: http://deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/BArch-DA1-19101.pdf (letzter Zugriff: 6. 6. 2020).
Verhältnis NATO zum Warschauer Pakt
313
Doch einige Diplomaten im DDR-Außenministerium waren der Ansicht, die Londoner Formulierungen dienten lediglich einer „Anpassungsmodernisierung“ bzw. einer „Modifikation der Militärstrategie“, nicht aber einer „grundsätzlichen Abkehr von der Doktrin der Abschreckung“. 1348 DDR-Außenminister Meckel monierte: „Wir glauben, dass die NATO sehr viel weitergehende Veränderungen erfahren wird und muss, als jetzt beim Londoner Gipfel angekündigt wurde.“ 1349 Als insgesamt „unzureichend“ bewertete Meckel die Entscheidungen des Londoner NATO-Gipfels. Die Beschlüsse kämen dem Regierungsprogramm und der Koalitionsvereinbarung 1350 der das Kabinett tragenden Parteien „bei weitem nicht nahe genug“. Insbesondere kritisierte er, dass die NATO an Atomwaffen festhalten und ihre Strategie von der flexiblen Antwort nur modifizieren, nicht aber ersetzen wolle. Das Risiko eines Atomkriegs in Europa bleibe dadurch weiter bestehen. „Nach unserer Auffassung benötigt Europa heute keine Atomwaffen für seine Sicherheit. Deshalb lehnen wir für Deutschland die Stationierung, aber auch Herstellung, Weitergabe, Besitz und Transit solcher Massenvernichtungsmittel ab.“ 1351 „Vor allem vermissten wir“, so Meckel, „eine verbindlichere Gestaltung der ‚Entfeindung‘ der beiden Bündnisse über eine bloße Erklärung hinaus, konkretere Schritte hin zu einer wirklich neuen europäischen Sicherheitsstruktur und eine klarere Absage an die Doktrin der ‚flexiblen Antwort‘ mit Kernwaffen.“ 1352 Gorbatschow reagierte dagegen positiv. Der außenpolitische Sprecher der sowjetischen Regierung, Gennadi Gerassimow, begrüßte die Ergebnisse des Londoner Gipfels. Sie würden die Position Gorbatschows erheblich stärken. „Jetzt können wir ihnen [den sowjetischen Generälen] sagen, dass sie sich irren“, meinte er. 1353 Nach Ansicht des Leiters der Internationalen Abteilung im sowjetischen ZK, Valentin Falin, waren die Beschlüsse der NATO eher Versprechungen für die Zukunft. „Von Politikern großzügig abgegeben, aber ohne konkretes Datum.“ Falin erklärte in Moskau, dass es sich um seine persönliche Meinung handle. Gleichzeitig gestand er zu, dass er die von der NATO „in die richtige Richtung unternommenen Schritte nicht unterschätzen“ wolle.
1348 Albrecht, Ulrich: Die Abwicklung der DDR. Die „2 + 4-Verhandlungen“. Ein Insider-Bericht, Opladen 1992, S. 91 f. 1349 Die NATO muss sich weiter verändern. Interview mit DDR-Außenminister Markus Meckel, in: Frankfurter Rundschau (FR), Nr. 166 vom 20. Juli 1990, S. 5. 1350 Regierungserklärung von Ministerpräsident Lothar de Maizière vom 19. 4. 1990 BArch-DA1-19101.pdf. 1351 Ebda. und Münster, Winfried: Allianz reformiert Verteidigungsdoktrin. Freundschaftsangebot an den Osten, in: SZ, Nr. 154 vom 7. Juli 1990, S. 1, 9. 1352 Interview mit DDR-Außenminister Markus Meckel, FR, Nr. 166 vom 20. Juli 1990, S. 5. 1353 SZ, Nr. 154 vom 7. Juli 1990, S. 1, 9.
314
Kapitel 9
Gorbatschow wertete die Veränderungen von London positiv, obwohl ihm der reine Erklärungscharakter der Beschlüsse nicht verborgen geblieben sein dürfte. Und schon gar nicht dürfte er die Warnrufe von Falin und aus der DDR überhört haben. Bei sorgfältiger Prüfung hätte er bemerkt, dass die Vorteile immer noch eindeutig bei der NATO lagen. Aber im Juli hatte er bereits feststellen müssen, dass er keinerlei Argumente mehr gegen eine NATO-Ausdehnung vorzubringen hatte. Er wollte jedoch unbedingt an Perestroika festgehalten, das hieß: Hilfe vom Westen für die Modernisierung der Sowjet-Wirtschaft. Dafür wurde die NATO-Frage im Sinne der USA, der BRD und der Westalliierten gelöst. Dies geschah dann wenige Tage später im Kaukasus. Die vom Londoner Gipfel beschlossenen Aufgaben wurden bis Ende 1991 realisiert. Festgelegt war u. a.: „Im Zusammenhang mit diesen revidierten Plänen für Verteidigung und Rüstungskontrolle und unter Mitwirkung der Militärbehörden der NATO und aller betroffenen Mitgliedstaaten wird die NATO eine neue Militärstrategie des Bündnisses ausarbeiten. Diese führt, wo dies angezeigt ist, von der ‚Vorneverteidigung‘ weg und hin zu verminderter Präsenz im vorderen Bereich; sie verändert die ‚flexible Erwiderung‘, sodass sie eine verminderte Abstützung auf Nuklearwaffen wiederspiegelt. In diesem Zusammenhang wird das Bündnis neue Streitkräftepläne ausarbeiten, die den revolutionären Veränderungen in Europa Rechnung tragen.“ 1354 Auf dem NATO-Gipfel in Rom am 8. November 1991 wurde das neue „Strategische Konzept“ des Bündnisses verabschiedet. 1355 2010 wurde es erneut überarbeitet. 1356
Parteitag in Moskau – Gorbatschow unter Druck Während sich die Staats- und Regierungschefs der NATO in London versammelten, fand in Moskau vom 2. bis 13. Juli 1990 der 28. Parteitag der KPdSU statt, auf dem über das Schicksal Gorbatschows und damit auch über die sowjetische Deutschlandpolitik entschieden wurde. Daher war die Beobachtung dieses Parteikongresses für Bonn besonders wichtig. Kanzlerberater Teltschik legte dem Kanzler am 4. Juli 1990 1354 NATO-Erklärung von London im Juli 1990. In Internet: https://www.nato.int/ docu/comm/49-95/c900706a.htm (letzter Zugriff: 6. 6. 2020). 1355 Das neue Strategische Konzept des Bündnisses. Verabschiedet auf der NATO-Gipfelkonferenz in Rom, 8. November 1991; in Internet: www.ag-friedensforschung. de/themen/NATO/1991-strategie.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1356 Strategisches Konzept für die Verteidigung und Sicherheit der Mitglieder der Nordatlantikvertrags-Organisation, von den Staats- und Regierungschefs in Lissabon am 19. 11. 2010 verabschiedet; in Internet: www.ag-friedensforschung.de/themen/ NATO/strat/strat-konzept-2010.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Parteitag in Moskau – Gorbatschow unter Druck
315
eine Vorab-Analyse 1357 vor. Unter der Überschrift „Innere Lage in der Sowjetunion nach Beginn des 28. KPdSU-Parteitages“ erinnerte Teltschik daran, dass Gorbatschows Haltung gegenüber Partei, KGB und Militär im Vorfeld des 28. KPdSU-Parteitages sowie der missglückte Start in Richtung Marktwirtschaft (Ryschkow-Programm) Zweifel an der Reformwilligkeit und vor allem -fähigkeit der sowjetischen Führung genährt hätten. Der vom Parteiapparat völlig beherrschte Gründungskongress der russischen KP und die Wahl des „farblosen Apparatschiks Poloskow“ zu deren 1. Sekretär habe die Stärke der Konservativen in den russischen Kernlanden unterstrichen. Umfragen zufolge hatten sich lediglich 2 Prozent der Delegierten für den 28. KPdSU-Parteitag zur demokratischen Plattform und damit zur uneingeschränkten Fortführung des Reformkurses bekannt. Von liberaler Seite gestreute Gerüchte über eine Verschiebung des Parteitags gaben zusätzlich Anlass zu Befürchtungen über einen „konservativen Durchmarsch“. Das Ausbleiben einer Reaktion Gorbatschows auf die öffentlichen Ausfälle eines hochrangigen Militärs lasse befürchten, dass Gorbatschow den Konflikt mit der Militärführung, die seiner Außenpolitik kritisch gegenüberstehe, scheue. Die Eröffnung des 28. Parteitages durch Gorbatschows dreistündigen Rechenschaftsbericht 1358 und die Reden weiterer Führungspersönlichkeiten vermittelten zunächst den Eindruck einer guten Regie und einer die innerparteilichen Gegensätze überbrückenden Integrationsbereitschaft. Die Substanz der Führungsaussagen verdeutlichte jedoch, dass ihre Strategie auf eine Auseinandersetzung mit den Konservativen zielte. Dafür sprachen sowohl die der Partei gewidmeten Passagen in Gorbatschows Rechenschaftsbericht als auch die vom Parteitag zu verabschiedenden Entwürfe einer Programmerklärung und eines Parteistatuts. Auch die Tatsache, dass erstmalig auf einem KPdSU-Parteitag ausländische KP-Delegationen nicht eingeladen wurden, spricht für diese These. Gorbatschows Rechenschaftsbericht 1359 war eine angesichts der Kräfteverhältnisse mutige und selbstbewusste Kriegserklärung an die konservativen Kritiker. Dies werde vor allem an folgenden Stellen deutlich: – „rückhaltloses Bekenntnis zur Marktwirtschaft ohne jedes einschränkende Adjektiv („regulierte“, „geregelte“ etc.),
1357 Deutsche Einheit, Dok Nr. 340, S. 1297. 1358 ZDF/TASS/russ./2.7.90/8.00, in: BPA / Ostinformationen. Nr. 124. 3. Juli 1990. BPA / PA, F 1/22. 1359 Ebda.
316
Kapitel 9
– in offenem Gegensatz zu Ligatschow klare Aussage, dass in der Landwirtschaft die Produktionsverhältnisse geändert werden müssen (Klartext: Privateigentum), – in der Nationalitätenpolitik Forderung nach einer „Union souveräner Staaten“ und Vorbereitung eines neuen Unionsvertrages 1360, – offensive Verteidigung der Osteuropapolitik („Freiheit der Wahl“), dabei keine Erwähnung Deutschlands“. 1361 Teltschik prophezeite, dass es auf dem Parteitag zu einer erheblichen personellen Erneuerung kommen werde. So dürften einige Politbüromitglieder als Sündenböcke für die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung in Pension geschickt werden. Dies könnte auch Ministerpräsident Ryschkow treffen. Die progressiven Gallionsfiguren Schewardnadse und Jakowlew hatten bereits selbst angekündigt, dass sie nicht mehr für die Parteiführung kandidieren wollten. Der Kanzler-Berater abschließend: Wie immer der Parteitag auch ausgehen mag, er wird die Verlagerung der Macht auf die staatlichen Institutionen beschleunigen. Gorbatschows Stellung und seine Durchsetzungskraft für eine konsequente Reformpolitik nach innen und eine dem „Neuen Denken“ verpflichtete Außenpolitik werden auf absehbare Zeit durch strukturelle Hemmnisse eingeschränkt bleiben. 1362
Gorbatschows politische Karriere war auf dem Parteitag höchst gefährdet. Nie war die Auseinandersetzung innerhalb der KPdSU so offen wie im Juli 1990. Gorbatschow hatte den Parteitag mit einer langen Rede eröffnet, in der er die vergangenen fünf Jahre Perestroika verteidigte. 1363 Er hob warnend hervor, dass die Sowjetunion gegenwärtig vor eine wichtige Entscheidung gestellt sei: Entweder den 1985 eingeschlagenen Weg weiterzugehen, dann sei diesem „großen multinationalen Staat“ eine würdige Zukunft gewiss; oder die Anti-Perestroika-Kräfte gewännen die Oberhand, dann stünden dem Land und seiner Bevölkerung „dunkle Zeiten“ bevor. Er bezeichnete den Vorwurf als „Unsinn“, dass die Perestroika für die derzeitigen Schwierigkeiten verantwortlich sei. Die Versorgungskrise als Folge einer falschen Industriepolitik, die Schädigung der Umwelt, Tschernobyl, die „Militarisierung der Wirtschaft“ und die Verluste des Krieges in Afghanistan seien Folgen einer über Jahrzehnte falschen Politik, deren Anfänge in die Dreißigerjahre zurückreichten. Schon lange sei die Sowjetunion auf dem Weg gewesen, eine „zweitrangige Macht“ zu werden. Gorbatschow gestand ein, dass einige Fehler der Perestroika-Politik hätten vorausge-
1360 1361 1362 1363
Gemeint: die Verfassung der UdSSR vom 7. Oktober 1977. Deutsche Einheit, Dok Nr. 340, S. 1297. Deutsche Einheit, Dok Nr. 340, S. 1299. BPA/Ostinformationen Nr. 124 vom 3. 7. 1990.
Parteitag in Moskau – Gorbatschow unter Druck
317
sehen werden müssen; er machte das ZK und das Politbüro für Irrtümer mitverantwortlich. Er kritisierte die Regierung, die es versäumt habe, ein geschlossenes Konzept der Wirtschaftsreform vorzulegen und zu sehr dem Druck derjenigen nachgegeben habe, die das alte Kommandosystem hätten erhalten wollen. Scharf richtete sich der Parteichef gegen Kräfte im Parteiapparat, die Veränderungen bremsten oder ganz verhinderten, weil dadurch ihre eigene Stellung berührt werde, die zugleich aber behaupteten, sie handelten im Interesse des Volkes. Die Wirtschaftskrise nahm breiten Raum in der Rede des Staatschefs ein. Durch die unbefriedigende Versorgungslage breiteten sich Nervosität und „negative Erscheinungen“ aus. Er wandte sich gegen die Ansicht, seine Außenpolitik habe in den Staaten Osteuropas zum Scheitern des Sozialismus geführt und bedeute den „Ausverkauf“ der sowjetischen Sicherheitsinteressen. Es stelle sich nun die Frage, welchen Weg die „jetzt befreiten Völker einschlagen“. Die Sowjetunion lasse sich vom Prinzip der freien Wahl leiten. Das neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik habe das internationale Klima bereits gesünder gemacht; noch nie in der Geschichte des Landes habe es so gute Beziehungen zu den Staaten Europas gegeben, das Verhältnis zu den USA sei inzwischen von Partnerschaft geprägt. Die Debatten waren durch harte Auseinandersetzungen zwischen Reformanhängern und -gegnern charakterisiert. 1364 Für Politbüromitglied Alexander Jakowlew nahmen sie schließlich „widerliche Formen“ an. Die Politbüromitglieder waren vom Parteichef aufgefordert worden, einzeln Rechenschaft über ihre Tätigkeit abzulegen. In seinem Beitrag plädierte Außenminister Schewardnadse mit Nachdruck für einen Ausbau der Zusammenarbeit mit den USA, Europa und insbesondere einem vereinigten Deutschland. Die ideologische Konfrontation mit dem Westen habe die Sowjetunion „ruiniert“. Die Entwicklungen in Osteuropa seien von Moskau „im Prinzip“ vorausgesehen worden. Hier habe sich bald die Überzeugung eingestellt, dass ein Mangel an Reformbereitschaft „tragische Folgen“ haben müsse. Heute basiere die Außenpolitik auf dem Grundsatz der Gleichheit und der Wahlfreiheit. Hinsichtlich der deutschen Einigung meinte der sowjetische Außenminister, die Sowjetunion sei nach der Erfahrung mit Hitler-Deutschland sensibel, wenn es um diese Entwicklung gehe. Sie werde nicht ohne die Zustimmung Moskaus und des Parlaments zu regeln sein. Er wiederholte, dass die Zahl der Streitkräfte Gesamtdeutschlands unter derjenigen der Bundeswehr liegen müsse, und bekräftigte den Wunsch nach einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit. Die lange Teilung Deutsch-
1364 Vgl. Biermann, S. 665–676.
318
Kapitel 9
lands sei „künstlich und unnatürlich“ gewesen. Er widersprach heftig der von Konservativen geäußerten Ansicht, Gorbatschow habe die DDR und Osteuropa als sozialistisches Einflussgebiet verspielt. Ein Bündnis, das durch Gewalt am Auseinanderfallen gehindert werden solle, biete keine Unterstützung. Der für internationale Angelegenheiten zuständige Alexander Jakowlew stellte einen direkten Zusammenhang zwischen dem inneren Zustand der Sowjetunion und der Normalisierung der äußeren Beziehungen her; er bezeichnete es als Ziel der sowjetischen Außenpolitik, dafür Sorge zu tragen, dass auch im eigenen Land die Angst und das „seelische Bedürfnis, einen Feind zu suchen“, vernichtet würden. Wenn der Sozialismus im Osten Europas nicht standgehalten habe, so sei er nicht die Politik der Völker dort gewesen. Mit „antisozialistischen Kräften“ könne der Zusammenbruch nicht erklärt werden. Ministerpräsident Nikolaj Ryschkow verteidigte den Übergang zur Marktwirtschaft. Als Fehler der Regierung in den letzten Jahren bezeichnete er diesbezüglich mangelnde Entschlossenheit. Die Entscheidung zur Umorientierung sei unumkehrbar; das Land könne mit dem alten Wirtschaftssystem nicht weiterleben. Doch müsse es einen nationalen Konsens dafür geben. Politbüromitglied und Reformgegner Jegor Ligatschow war davon überzeugt, dass nur die Partei eine „sozialistische Erneuerung“ bewirken könne. Er forderte, am Marxismus-Leninismus festzuhalten, und kritisierte, dass das ZK-Sekretariat, dem er bis September 1988 vorgestanden habe, danach immer weniger konsultiert worden sei. Er verteidigte die Generäle, die sich gegen die Reformpolitik und die Abrüstung aussprechen. Die DDR, so erklärte er, sei von der Bundesrepublik annektiert und geschluckt worden. KGB-Chef Krutschkow, ebenfalls Politbüromitglied, meinte, fünf Jahre Perestroika hätten gezeigt, dass „Sozialismus und Demokratie“ vor den „verbrecherischen Aktivitäten von Extremisten“ geschützt werden müssten. Mehrere Generäle traten für die Stärkung des Ansehens der Militärs auf. Sie bezichtigten Gorbatschow des „Ausverkaufs Osteuropas“ und des Sozialismus. 1365 Generalstabschef Michail Moissejew nannte die künftige NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands eine große Kräfteverschiebung in Europa; der Westen versuche, den Wandel in Osteuropa und die Änderung im politisch-militärischen Status Deutschlands auszunutzen und die UdSSR zu einer „mittleren Macht“ zu degradieren. Bisher gebe der
1365 Vgl. Äußerungen von Gorbatschow gegenüber Kohl in Deutsche Einheit, Dok Nr. 350, S. 1344.
Die „Londoner Erklärung“ der NATO
319
Westen nur Erklärungen über eine angebliche Veränderung der militärischen Strategie ab, in der Praxis aber geschehe nichts. Für den Prozess der deutschen Vereinigung hatte der Parteitag eine wichtige Bedeutung: Die konservativen Gegner dieses Prozesses hatten Gorbatschow ermahnt, mehr nicht, Sie konnten sich nicht durchsetzen. Gorbatschow konnte zudem nahezu alle wichtigen Posten im Politbüro und ZK der KPdSU mit seinen Leuten besetzen. 1366
Die „Londoner Erklärung“ der NATO Die „Londoner Erklärung“ der NATO mit ihrem versöhnlichen Ton kam deshalb gerade rechtzeitig am 5. Juli 1990 und war ebenso willkommen wie der schon beschriebene Milliardenkredit aus Bonn, der genau zu diesem Zeitpunkt von der Sowjetunion in Anspruch genommen werden konnte. So schlug das Pendel um. Gorbatschow und Schewardnadse gelang es, gegen schärfsten Wind aus den eigenen Reihen eine Mehrheit für die Einheit Deutschlands zu bekommen. Am überzeugendsten war dieses Argument: Die Menschen in der DDR wollen selbst die Einheit. Niemand zwingt ihnen die Einheit auf. Während Einheitsgegner Ligatschow 1367 von einem „Verschlucken“ der DDR 1368 durch die Bundesrepublik sprach, wandte sich Schewardnadse gegen Vorwürfe, dass Moskau einen „Handel“ gegen westliche Kredithilfe betreibe oder die DDR Bonn zum „Geschenk“ gemacht habe. „Ihr Schicksal entscheiden die DDR-Bürger selber“, sagte er. 1369 Jakowlew unterstützte ihn: „Wenn ein Volk der Partei den Rücken kehrt, so ist das die Sache des Volkes.“ 1370 Vor einem überaus unruhigen Saal wies Schewardnadse Vorwürfe von Militärs und indirekt auch von Ligatschow zurück, denen zufolge es Moskau nicht zur deutschen Vereinigung hätte kommen lassen dürfen. Es habe zwei Möglichkeiten gegeben, sagte der Außenminister. Die eine habe darin bestanden, der Vereinigung zuzustimmen und in den 2 + 4-Gesprächen und in gesamteuropäischem Rahmen eine Regelung anzustreben, die sowjetische Interessen gewährleistet. „Wir hätten auch die halbe Million unserer Truppen in der DDR
1366 Daschitschew in Kuhn, Ekkehard (Hg.): Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten deutschen und russischen Beteiligten, Bonn 1993, S. 143. 1367 Jegor Kusmitsch Ligatschow (geb. 1920) war seit 1944 Mitglied der KPdSU. Ab 1961 im ZK der KPdSU beschäftigt. Von 1985–1990 war er Mitglied des Politbüros der KPdSU und ein entschiedener Gegner der Perestroika, der deutschen Einheit und von Gorbatschow. 1368 TASS, 7. Juli 1990. 1369 2 + 4-Chronik. 1370 Ebda.
320
Kapitel 9
einsetzen können“, sagte er. Dies wäre aber auf eine „Katastrophe“ hinausgelaufen. „Aber“, so Schewardnadse weiter, „wir haben unsere strategischen Verbündeten verloren, als wir 1956 Truppen nach Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei schickten, als wir 1979 in Afghanistan einmarschierten und mit China im Streit lagen.“ 1371 Ligatschow gebrauchte starke Worte, die heute auch wieder von Putin zu hören sind: „Ich akzeptiere das Wort Vereinigung Deutschlands nicht. Es geht um eine Annexion, sogar ein Verschlucken der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik!“ Der Juli 1990 war der Spätsommer der Perestroika. Nach dem Ende des Parteitags und den Besuch Kohls vor Augen, beschloss Gorbatschow, das Problem der deutschen Mitgliedschaft in der NATO vom Tisch zu bringen und mit ihm die Deutsche Frage. Die Londoner Erklärung der NATO wirkte als Katalysator. Schewardnadse war in seinen Gesprächen mit Baker und Genscher wieder und wieder auf sie zurückgekommen. In seinen Memoiren erinnerte er sich an die „glutheiße Atmosphäre des Parteitags“, in der einem das Atmen schwergefallen sei. Auch sein persönliches Schicksal habe auf dem Spiel gestanden. Der Verlauf des Parteitages habe gezeigt, „dass unsere Politik auf eine zunehmende Opposition stieß. Unter diesen Bedingungen war mir ein Entgegenkommen der ‚anderen Seite‘, des Westens, auf außenpolitischer Ebene alles andere als gleichgültig. Widrigenfalls wäre es uns unmöglich gewesen, uns im eigenen Land durchzusetzen. Als die Meldungen über die Beschlüsse der Londoner Tagung der NATO eintrafen, sah ich: Ein Entgegenkommen ist zu verzeichnen. Es sind potentiell bedeutsame Beschlüsse.“ 1372 Tarassenko, der mit Schewardnadse in dessen Büro auf die Übermittlung der Londoner Erklärung gewartet hatte, erzählte später, dass sie den Text „sofort, innerhalb einer Stunde“ analysiert und eine offizielle Erwiderung des Außenministeriums verfasst hätten. Sie wollten damit auch den Gegnern Gorbatschows zuvorkommen, die den Text in ihrer Weise hätten interpretieren wollen. 1373 Am Ende wurde Gorbatschow nach einer Rücktrittsdrohung mit 3441 gegen 1146 Stimmen als Generalsekretär wiedergewählt. 1374 Der Parteitag ging wenige Tage vor dem Besuch von Kohl in Moskau 1375 zu Ende. Die Diskussionen gaben die Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung wieder. Trotz scharfer Kritik an seiner Politik in der DeutschlandFrage konnte Gorbatschow seine Linie fortsetzen. 1371 1372 1373 1374
Ebda. Schewardnadse, S. 250 f. Zelikow / Rice, S. 453. Meissner, Boris: Die KPdSU zwischen Macht und Ohnmacht. In: Osteuropa, Vol. 41, Nr. 1.(Januar 1991), S. 15–45. 1375 Kohl besuchte die Sowjetunion am 15. und 16. Juli 1990.
Die „Londoner Erklärung“ der NATO
321
In einer Parteitagspause hatte Valentin Falin am 6. Juli 1990 der deutschen Presseagentur dpa ein Interview gegeben. 1376 Er bekräftigt die bekannte Position, dass der NATO-Beitritt eines geeinten Deutschland für Moskau nicht in Frage komme. Die DDR dürfe auf „keinen Fall“ das „staatliche und gesellschaftliche System der BRD“ übernehmen. Ein „Anschluss“ der DDR an die BRD müsse daher um jeden Preis verhindert werden. 1377 Es war das erste Mal, dass der Parteichef in geheimer Abstimmung vom Parteitag und nicht wie bisher vom ZK gewählt wurde. Während der kurzen Befragung der Kandidaten beteuerte Gorbatschow, er trage die „größte Verantwortung“ für alles Geschehene und alle begangenen Irrtümer. Die größte Gefahr in der „jetzt entscheidenden Phase der Perestroika“ wäre es jedoch, wenn es in Partei und Gesellschaft zu einer Konfrontation käme, wenn die „demokratischen und fortschrittlichen Kräfte“, die für eine Veränderung der Gesellschaft einträten, zersplittert würden. Nach dem Parteitag, der für Gorbatschow und Schewardnadse trotz der starken Ablehnung und der vielen Gegenstimmen glimpflich ausging, war für sie der Weg frei, das zu tun, was sie für realistisch und notwendig ansahen: Sie gaben den Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland auf. In Bonn schlussfolgerte Teltschik daher in einer Beurteilung für Kohl: „Der Parteitag wird zum Triumph für Gorbatschow. Er hat mit hohem Einsatz gespielt – und am Ende gewonnen.“ 1378 Die USA und Kohl waren sich seit Langem darin einig, Gorbatschow müsse unterstützt werden. Dazu sollte der Besuch von Kanzler Kohl in Moskau nur zwei Tage nach Abschluss des Parteitages dienen. Und auf sowjetischer Seite waren Gorbatschow und Schewardnadse der Ansicht, das Thema „Deutschlands Einheit und die NATO“ müsse „ein für alle Mal abgehakt werden.“ 1379 Das gerade zu Ende gegangene NATO-Treffen mit einer geänderten Charta hatte Gorbatschow letztlich zur Einsicht kommen lassen, dass weder die NATO zu fürchten sei noch ein vereintes Deutschland eine Bedrohung für die Sowjetunion darstellen würde. 1380 Nun warteten alle auf die Einladung aus Moskau für Kohl. Als diese von Gorbatschow eintraf, Kohl möge doch in sein Heimatdorf kommen, war das für die Bonner das Signal „jetzt werden wir uns einigen“. „Wenn jemand einen Gast in sein Heimatdorf und sein Haus einlädt, ist er nicht auf Streit aus“, war die Überzeugung. 1381 1376 1377 1378 1379 1380 1381
Teltschik, S. 297. Ebda., S. 297 ff, 304, 311. Ebda., S. 311. Zelikow / Rice, S. 454. Tschernjajew, Die letzten Jahre, S. 305 und Teltschik, S. 322 f., 326, 342. Zelikow / Rice, S. 455.
322
Kapitel 9
Einigung im Kaukasus Anfang Juli 1990 hatte Gorbatschow eine Entscheidung getroffen, die für ihn noch zu Jahresbeginn völlig ausgeschlossen war: Deutschland zu gestatten, Mitglied der NATO zu bleiben. 1382 Das galt auf der politisch / diplomatischen Ebene in Form von Veränderungen in der NATO-Doktrin, Verbesserung von Handelsabkommen 1383 und anderen Vergünstigungen. Das galt aber nicht zuletzt für die konkrete Hilfe in Form von Bargeld 1384 und Krediten zu besonderen Konditionen. Zudem hatte Kohl Gorbatschow zugesagt, sich für Hilfe bei den übrigen NATO- und EU-Partnern zu verwenden. Kohl hatte die meisten seiner Versprechen erfüllt. Kredite wurden ausgereicht, Geld floss in Milliardenhöhe, Hunderttausende Tonnen von Lebensmitteln wurden in die Sowjetunion gebracht, Partnerschaftsabkommen geschlossen, NATO-Doktrinen geändert. Die NATO-Ausdehnung war aber immer noch nicht fixiert. Das sollte jetzt geschehen – ohne Druck und ohne direkte Gegenleistung. So hofften die Deutschen jedenfalls vor ihrem Besuch in Moskau am 14. Juli 1990. Während Gorbatschow sich auf den Besuch des deutschen Kanzlers vorbereitete, unternahm sein deutschlandpolitischer Berater und Ex-Botschafter in Bonn, Valentin Falin, einen letzten Versuch, ihn zu einer härteren Gangart zu überreden, Dies geschah, indem er ihm in einem „energischen“ Memorandum vor Augen hielt, dass dieses Treffen die letzte und entscheidende Möglichkeit darstelle, die sowjetischen Interessen zu wahren. In seinem Buch „Konflikte im Kreml“ 1385 gab er dies so wieder: „An M. S. (Michail Sergejewitsch) für das Gespräch mit H. Kohl: 1386 Die entscheidende Begegnung: Die Positionen beider Seiten liegen auf dem Tisch. In den beiden Hauptfragen – a) Vereinigung Deutschlands oder Einverleibung der DDR durch die BRD und b) der militärpolitische Status des künftigen Deutschlands – ist kein Kompromiss in Sicht. Die Londoner Deklaration des NATO-Rates hat die härtesten Elemente im Vorgehen des Westens festgeschrieben.“ Falin sah in einem absolut offenen Gespräch mit Helmut Kohl die einzige Chance, „um in der Position der BRD noch Reserven zu erschließen und bei den Verhandlungen einen Fortschritt zu erzielen“. 1387
1382 Das geschah bereits im Rahmen des Staatsbesuches von Gorbatschow in der Bundesrepublik im Juni 1989. Siehe: Deutsche Einheit, Dok Nr. 2–5. 1383 USA-Besuch von Gorbatschow Anfang Juni 1990. 1384 Die ersten drei Milliarden DM als Hilfe wurden im Mai als Verrechnungsscheck übergeben, so DDR-Staatssekretär Günter Krause im Oktober 2016 zum Autor. 1385 Falin, Konflikte im Kreml, S. 190 ff. 1386 Ebda. S. 190 1387 Ebda. S. 191
Einigung im Kaukasus
323
Kohl sei „vom Erfolg berauscht“ – beeindrucken könnte ihn allein der Hinweis, dass eine Vereinbarung, die die Stimmung des Sowjetvolkes ignoriere, vom Obersten Sowjet der UdSSR nicht ratifiziert werde. Die Versuche der BRD und ihrer Freunde, faktisch Entscheidungen durchzusetzen, die eine Herausforderung der sowjetischen Interessen bedeuten, können eine schwere Krise in Europa, ja sogar einen Konflikt heraufbeschwören. Kritik übte Falin am Verlauf der 2 + 4-Verhandlungen. Sie seien zu einem Mechanismus geworden, mit dessen Hilfe sowjetische Zugeständnisse fixiert und originäre Rechte der UdSSR demontiert würden. Der Zeitplan dieser Verhandlungen werde den Vorstellungen Helmut Kohls unterworfen, ohne dass er dafür irgendeine Gegenleistung erbringe. Die Festsetzung gesamtdeutscher Wahlen auf den 2. Dezember 1990 nehme sich aus wie ein Ultimatum an die sowjetische Adresse. 1388 Als Schlüsselpunkte, in denen der Westen die Aufgabe von Prinzipien forderte, nannte Falin u. a.: Der Westen versucht, uns eine Regelung aufzuzwingen, die mit Interessenausgleich wenig zu tun hat. Dabei tritt er das für jede freiwillige Übereinkunft unverzichtbare Prinzip der Gleichheit mit Füßen. Wenn die Vereinigung nach dem jetzigen Schema abläuft, dann verliert die UdSSR alle Grundrechte als Siegermacht, während die USA, England und Frankreich dank dem System von Vereinbarungen mit der BRD, die von der Regelung nicht berührt werden, effektive Kontrollhebel in ihrer Hand behalten. Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD wird herangezogen, um nicht in erster Linie das Verfahren zur Einverleibung der DDR maximal zu vereinfachen, sondern vielmehr die Asymmetrie im Umgang mit den Rechten der UdSSR und der Drei Mächte sowie mit den Verpflichtungen der DDR und Bonns zu legalisieren. Beachtenswert ist, dass man es in der BRD nicht für notwendig hielt, wenigstens aus politischem Taktgefühl gegenüber der sowjetischen Seite aus dem Bonner Grundgesetz die anrüchigsten Bestimmungen rechtzeitig zu entfernen. Es werden vage Versprechungen gemacht, dieses in Zukunft zu tun. Wir könnten das herausfordernde Verhalten der Westdeutschen mit dem Hinweis parieren, dass die DDR sich im Prinzip selbst auflösen könnte. Ein rechtsfreier Raum entstünde dadurch nicht, denn die UdSSR, die die originären Rechte besitzt, würde die entsprechende Verantwortung übernehmen. Eine Variante, bei der ein Staat, der über sein Schicksal entscheidet, damit zugleich den rechtlichen Status eines Gebietes verändert, wo mächtige Verbände ausländischer Truppen stehen, ist absurd. 1389
1388 Falin, S. 191. 1389 Falin, S. 191.
324
Kapitel 9
Weiter schreibt er: b) In diesem Zusammenhang könnte man betonen: – Ohne die Einhaltung des Prinzips der Gleichheit und des Interessenausgleichs ist Stabilität in Europa undenkbar, insbesondere wenn die nationale Sicherheit auf dem Spiel steht. – Wenn die Rechte der einzelnen Mächte nach verschiedenen Kriterien behandelt werden, kann von Gleichheit keine Rede sein. Die BRD sorgt sich um ihre eigenen Rechte, ihre Interessen und ihre Würde, missachtet dabei aber faktisch die Interessen der Sowjetunion, was nicht ohne Folgen für die Zukunft bleiben kann. – Von Gleichheit kann keine Rede sein, wenn vertragliche Verpflichtungen zweier Staaten mit entgegengesetzten Gewichten gemessen werden. Um die Dinge beim Namen zu nennen: Die DDR wird zu einer rechtswidrigen Erscheinung, einer Ausgeburt der Gewalt und so weiter erklärt, was den Weg freimacht, um alle Umgestaltungen auf ihrem Gebiet nach 1945 zu revidieren (Helmut Kohl hat Lothar de Maizière bereits aufgefordert, die Bodenreform rückgängig zu machen). 1390
Falin versuchte, die Furcht vor einer Wiederholung des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu schüren. Wörtlich: „Steht uns eine Neuauflage des Alptraums der Vorkriegszeit ins Haus?“ 1391 So sei die Oder-Neiße-Grenze nicht nur eine deutsch-polnische, sondern eine gesamteuropäische Kategorie. Aber man nehme sie aus der Gesamtregelung heraus und mache sie zum Gegenstand einer bilateralen Vereinbarung. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die BRD und ihre Verbündeten die endgültige Regelung in eine politische Deklaration umwandeln wollen. Sie soll die Rechte der UdSSR aus dem Krieg und der Nachkriegsentwicklung aufheben, andererseits Deutschland von allen Verpflichtungen befreien, die es als Verursacher des Krieges nach der Logik der Dinge tragen müsste. Bei Kriegsereignissen gibt es nicht einmal für Personen eine Verjährungsfrist; hier wendet man sie auf einen ganzen Staat an. 1392
Falins Auffassungen und Erinnerungen in diesem Zusammenhang sind derart umfangreich, dass sie den Umfang dieser Arbeit sprengen würden. 1393 Falin galt seit Jahrzehnten als der beste Deutschlandkenner im KremlMachtgefüge. Zu Beginn der Gorbatschow-Ära war er noch einer der Chefberater des neuen Generalsekretärs. Doch er konnte sich nicht von den Dogmen der Vergangenheit lösen. Ab Frühjahr 1990 verlor er seine 1390 1391 1392 1393
Falin, Konflikte im Kreml, S. 192 f. Ebda., S. 193. Ebda., S. 193 f. Ebda., S. 190 ff.
Einigung im Kaukasus
325
Beraterfunktion bei Gorbatschow. Er las Falins Briefe zwar noch, gab aber keine Antwort mehr. Zu den wichtigen Gesprächen ab Mai 1990 nahm er Falin nicht mehr mit. Dieser Brief war Falins letzte Chance, noch einmal Einfluss auszuüben. Aber Gorbatschow reagierte widerwillig. Er wollte keine Bedingungen stellen. Er wollte nur noch Geld haben. Das sollte sich jetzt zeigen, ganz besonders im September, kurz vor dem Abschluss des 2 + 4-Vertrages in Moskau. 1394 Die Einladung in die Heimat des Kreml-Chefs kam per Fax, und Teltschik nahm sie in seinem Hotelzimmer entgegen. Darin hieß es: „Wie früher abgestimmt wurde, wird der Bundeskanzler von Präsident Gorbatschow eingeladen, während des Aufenthaltes in der Sowjetunion die Stadt Stawropol zu besuchen.“ Seine Freude darüber beschrieb Teltschik später so: Es ist geschafft! Gorbatschow hat Kohl in seine Heimat eingeladen. Damit ist klar, dass der Besuch kein Misserfolg werden wird. Wir sind uns einig, dass Gorbatschow Kohl nicht in den Kaukasus eingeladen hätte, wenn er einen Konflikt austragen wollte. Stawropol ist das Signal dafür, dass weitere Fortschritte zu erwarten sind. Das stimmt, vier Tage vor dem Abflug nach Moskau, hoffnungsvoll. Ich bin mir sicher, dass das entschiedene Eintreten des Kanzlers für eine Unterstützung der sowjetischen Reformen auf dem EG-Gipfel in Dublin und jetzt auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston sowie der Erfolg des NATO-Sondergipfels in London diese Entscheidung Gorbatschows günstig beeinflusst haben. 1395
Am Abend des 14. Juli 1990 traf Bundeskanzler Kohl mit seinem Beraterteam in Moskau ein. Zur Delegation gehörte auch sein Pressesprecher Hans (genannt Johnny) Klein. Dieser veröffentlichte später ein Buch 1396, in dem es u. a. heißt: „Nach Moskau reisten wir gut gerüstet: Die wesentlichen Rahmenbedingungen für den Abschluss der Zwei-plus-Vier-Gespräche waren geschaffen. Zu entscheiden waren der Umfang der deutschen Streitkräfte – zwischen 350.000 und 400.000 Mann –, das Ausmaß der deutschen Finanzhilfen, die Rechtsgrundlage für das zeitweise Verbleiben der sowjetischen Truppen auf deutschem Boden, der Zeitpunkt für ihren endgültigen Abzug sowie die Frage der Stationierung und des Status deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der dann früheren DDR bis zum Abzug des letzten sowjetischen Soldaten.“ 1397
1394 1395 1396 1397
Biermann, S. 777. Teltschik, S. 310. Klein: Es begann im Kaukasus. Ullstein, Berlin Ebda., S. 13 ff.
326
Kapitel 9
Das Ringen um die Bündniszugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschland ging nun in die letzte Runde. 1398 Mit dem Stichwort „Enge wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit“ wurde offenkundig, dass Leistung und Gegenleistung verrechnet werden sollten. 1399 Gorbatschow verstand diese Koppelung zwischen der politischen Forderung, seiner Zustimmung in der NATO-Frage und dem Wirtschaftsund Finanzpaket durchaus. Er reagierte mit einem Satz, der ebenso kurz wie klar war: „Man darf die Zusammenhänge nicht vereinfachen.“ Gorbatschow wollte dies so vereinfacht gesehen haben, weil er bereits jetzt Vorwürfen aus der KPdSU ausgesetzt war, er würde die „Reformpolitik zum Gegenstand eines Geschäftes mit dem Westen machen, der dafür Geld geben würde. Es gebe das Geschrei bei Militärs und Journalisten, dass wir jetzt die Früchte des großen Sieges im Zweiten Weltkrieg gegen DM verkaufen würden.“ 1400 Er mahnte den Kanzler, möglichst einfach, noch besser gar nicht darüber zu reden. 1401 So wurde hinter den Kulissen im Kaukasus heftig um Details gerungen. 1402 Nach außen drang das nicht. Im Gegenteil: Gorbatschow reagierte sehr gereizt, als er in der Pressekonferenz von „Radio DDR“ gefragt wurde, welche politischen Bedingungen er denn erfüllen müsse für die Unterstützung aus dem Westen. Seine Antwort war: „Wir bitten um keine Almosen.“ 1403 Dabei waren die Zusammenhänge zwischen NATO-Beitritt und „Hilfen“ jeder Art nicht zu übersehen. Zu „augenfällig verquickte die Bundesregierung ihre Unterstützung von Nahrungsmittelhilfen bis hin zu Kreditbürgschaften mit Daten und Erzeugnissen, die für die Wiedervereinigung relevant waren; zu offen drängte die sowjetische Führung Bonn, ihr bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Krise beizustehen. Schon die zweistufige Antwort von Teltschik auf die Frage von Journalisten im Kaukasus während einer Gesprächspause, ob es eine Verbindung zwischen Milliardenkredit und deutscher Einheit gebe, ließ wenig Interpretationsspielraum. „Man kann eine Weltmacht nicht kaufen“, wehrte Teltschik zunächst ab, aber nur um fortzufahren: „Hilfst Du mir, helf ich Dir““. 1404
1398 Zeitgleich mit den Gesprächen Kohls mit Gorbatschow traf sich NATO-Generalsekretär Manfred Wörner in Moskau mit dem sowjetischen Generalstabschef Michail Moiseev und auch mit Gorbatschow. Vgl. Karner: Dok Nr. 34, S. 309. 1399 Teltschik, S. 321. 1400 Deutsche Einheit, Dok Nr. 350, S. 1340 ff. 1401 Bierling, S. 93. 1402 Rödder: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, S. 80 f. 1403 Klein, S. 109. 1404 Bierling, S. 93 und Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 176 f.
Einigung im Kaukasus
327
Theo Waigel als Finanzminister verhandelte mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Stepan Sitarjan. „Er war ein schlauer, raffinierter Verhandlungsführer“, so Waigel. 1405 Sitarjan wollte die Sowjetunion so stellen, „dass sie ohne Schaden aus der Wiedervereinigung herauskommt“. 1406 Waigel war sich bewusst, dass noch immer die Truppen der „Roten Armee“ in der DDR standen. So beschrieb er die Lage: „Natürlich hatte ich im Hinterkopf: Die Sowjetunion hatte im Sommer 1990 immer noch die Möglichkeit, ‚Nein‘ zu sagen. Sie konnte sagen: ‚Unsere Truppen bleiben.‘ Sie hätte damit den Vereinigungsprozess verzögern oder verhindern können. Sitarjan wollte immerzu konkrete Hilfen haben. Mir kam es aber zuerst darauf an, von Moskau die grundsätzliche Zusage zur Wiedervereinigung zu bekommen. Ich wollte aber aus dem Gespräch nicht mit definitiven Summenzusagen herauskommen.“ 1407 Dennoch war der Druck deutlich zu spüren, so Waigel, der aus dem „Obersten Sowjet“ kam. Dort hatten die Kritiker Gorbatschow vorgeworfen, er verhandele nicht hart genug, Deutschland sei reich und könne großzügig zahlen. Hier war nun die Koppelung eindeutig ausgesprochen. Wieviel wollen die Sowjets für ihre Zustimmung zur Einheit und zur NATO, ohne dass dies im Sinne einer Bedingung verstanden werden könnte. Allen Beteiligten war klar, dass ein Preis an Moskau entrichtet werden musste. Nur wie hoch er sein würde, wusste niemand. 1408 Kohl traf zum ersten Gespräch mit Gorbatschow am 15. Juli in der „Villa Morosow“ in Moskau zusammen. Kohl war noch Stunden vorher auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston gewesen, Gorbatschow hatte gerade einen zehntägigen Parteitag überstanden. Beim Vier-Augen-Gespräch auf Kohls Seite war der „note taker“ (der, der alles mitschreibt, also eine Art von Protokollant) Horst Teltschik, dabei, Gorbatschow wurde ebenfalls von Protokollanten begleitet, hinzu kamen Dolmetscher. In einem Nachbarraum tagten Finanzminister Waigel und Außenminister Genscher mit ihren Kollegen. In seinen „Erinnerungen“ 1409 beschrieb Kohl das Gespräch mit Gorbatschow, der einen Plan vorgelegt hatte, wonach das vereinte Deutschland keineswegs souverän gewesen wäre. Gorbatschow wollte Deutschland quasi in zwei Bündnishälften aufteilen. Kohl dazu: „Gorbatschow erwiderte, dass das vereinte Deutschland zwar de jure Mitglied der NATO sein durfte, de facto jedoch das Gebiet der ehemaligen DDR nicht in deren Wirkungsbereich eingegliedert werden könne, da
1405 1406 1407 1408 1409
Waigel, S. 28. Ebda. Ebda., S. 30. Bierling, S. 93. Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 169 ff.
328
Kapitel 9
sich dort sowjetischen Truppen aufhielten. Die Souveränität des vereinten Deutschlands werde davon jedoch in keiner Weise berührt. Ich erkannte sofort: Entgegen Gorbatschows Beteuerung wären wir also doch nicht souverän gewesen. Dem konnte ich natürlich nicht zustimmen, und so schienen unsere beiden Standpunkte letztlich doch unvereinbar zu sein. Gorbatschow, der wohl meine Skepsis spürte, fügte begütigend hinzu: ‚Wir haben hier in Moskau unsere Gespräche begonnen und werden sie im kaukasischen Gebirge fortsetzen. In der Bergluft sieht man vieles viel klarer.‘ Wir hatten uns schon von den Plätzen erhoben, als ich ihn, um ganz sicher zu gehen, fragte, ob die Reise in den Kaukasus überhaupt einen Sinn mache. Ich sagte, dass ich nur fahren würde, wenn am Ende unserer Gespräche die volle Souveränität des vereinten Deutschlands und dessen uneingeschränkte NATO-Mitgliedschaft stünden, ansonsten sei es besser, wieder nach Hause zu reisen.“ 1410 Kohl wollte in der Tat die Reise abbrechen. 1411 Dem Kanzler waren die Äußerungen Gorbatschows zu „schwammig“ 1412, und er hatte Recht mit dieser Einschätzung. Denn Gorbatschow sagte nur: „Alles ist im Fluss. Alle Nüsse sind zu knacken.“ 1413 Für Bundesfinanzminister Waigel war dies schon der „Durchbruch“. „Die Gründe dafür bestanden im Realismus von Gorbatschow, der keine Nachhutgefechte führte, der bereit war, das zu tun, was ohnehin kommen würde. Und er sah die Chancen für eine neue Orientierung durch die Marktwirtschaft, durch das Kapital, das nach Lage der Dinge nur aus Deutschland und aus dem Westen kommen konnte.“ 1414 Gorbatschow wandte sich dann mit diesem kurzen, aber wichtigen Satz an Kohl: „Wir sollten fliegen.“ „In diesem Augenblick wusste ich, dass wir es schaffen würden“ – soweit Kohl in seinen „Erinnerungen“. 1415 Am nächsten Morgen ging es in zwei Stunden per Flugzeug in die Heimat von Gorbatschow nach Stawropol im Kaukasus. Kohl überdachte noch einmal die Gespräche von Moskau und war jetzt fest überzeugt, dass Gorbatschow der NATO-Mitgliedschaft zustimmen würde. Kohl hatte seinem Pressesprecher Hans („Johnny“) Klein in Moskau schon zugeflüstert: „Alles ist gelaufen.“ 1416 Horst Teltschik schrieb in sein Tagebuch: „Der
1410 Ebda., S. 169 f. 1411 Kohl drohte Gorbatschow mit Abreise; in Internet: http://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/kanzlererinnerungen-kohl-drohte-gorbatschow-mit-abreise-1492801. html FAZ (letzter Zugriff: 14. 5. 2020); vgl. auch Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 169 f. 1412 Biermann, S. 685. 1413 Waigel, S. 36; Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 170. 1414 Waigel, S. 36. 1415 Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, S. 379. 1416 Klein, S. 72.
Einigung im Kaukasus
329
Durchbruch – Welch eine Sensation!“ Der Kanzler aber war sehr viel zurückhaltender. 1417 Nicht zu Unrecht wie sich zeigen sollte. Zu Beginn der letzten Sitzung in Moskau fiel auf, dass in der Delegation von Gorbatschow dessen wichtigste Deutschland-Berater fehlten: Falin und Tschernjajew. 1418 Mit dabei war aber weiter Schewardnadse. Neben Kohl war auch Genscher dabei. Kohl und Gorbatschow legten jeder dem anderen sein Blatt hin. 1419 Kohl begann, sprach von einem „großen Vertragswerk“, Gorbatschow von einer „langfristigen Perspektive“. Beide verstanden und beide wollten geben, was der andere haben wollte: Moskau die lange Partnerschaft, Deutschland die schnelle Einheit unter dem NATO-Dach. Nun aber wollte Kohl alles zweifelsfrei geregelt und notiert haben. Denn schon bald zeigte sich, dass seine Skepsis berechtigt war, die ihn schon in Moskau befallen hatte. Die Verhandlungen gestalteten sich deutlich angespannter als noch in Moskau. 1420 Das NATO-Thema ließ die Verhandlungen ins Stocken geraten. Kohl wurde unruhig. „Immer noch nicht geklärt war zu diesem Zeitpunkt (ca. 12 Uhr mittags am 16. Juli) die Frage nach dem Geltungsbereich des Atlantischen Bündnisses im vereinten Deutschland.“ 1421 Gorbatschow und Schewardnadse beharrten darauf, dass sich die NATO-Strukturen auch nach einem Abzug der Roten Armee aus Deutschland nicht auf dieses Gebiet erstrecken dürften. Und vor allem dürften keinerlei Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden. Über eine Stunde rangen Genscher und Kohl um Gorbatschows Zustimmung. Kohl erinnerte sich: „So ging es einige Zeit hin und her, ehe Gorbatschow unserem hartnäckigen Drängen Schritt für Schritt nachgab. Am Ende hatten wir Gorbatschow die volle und uneingeschränkte NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands abgerungen.“ 1422 Gorbatschow berichtete in seinen „Erinnerungen“ nur kurz von diesen wichtigen Stunden. So heißt es bei ihm lediglich: „In allen Fragen erzielten wir Übereinkunft. Wir besiegelten, wie man so sagt, die deutsche Einheit.“ 1423 Dann wurde über das 2 + 4-Dokument gesprochen. Es stellte klar, was vereinigt werden sollte: die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und Berlin. Für Gorbatschow hatte der Verzicht des vereinten Deutschland
1417 Biermann, S. 685. 1418 Tschernjajew hatte seine Teilnahme per Brief an Gorbatschow abgesagt, in: Karner u. a.: Dok Nr. 33, S. 307. 1419 Klein, S. 254. 1420 Biermann, S. 688. 1421 Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 175 ff. 1422 Ebda., S. 176. 1423 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 724 f.
330
Kapitel 9
auf ABC-Waffen zudem besondere Bedeutung. Bedingung für seine Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft sei, so Gorbatschow, dass die „militärischen Strukturen der NATO“ nicht auf das Gebiet der DDR ausgedehnt würden. Über den Aufenthalt der sowjetischen Truppen in der DDR sollte ein separater Vertrag abgeschlossen werden. Der Bundeskanzler stellte fest, zentrales Ziel der 2 + 4-Gespräche sei die volle Souveränität ohne jede Einschränkung für das vereinigte Deutschland. Einigkeit müsse darüber bestehen, dass das vereinte Deutschland das Recht auf Zugehörigkeit zu einem Bündnis habe, was für die BRD bedeute: Zugehörigkeit zur NATO. Wichtig für die deutsche Delegation war, dass die Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrags für ganz Deutschland gelten mussten. Deshalb stellte Außenminister Genscher fest, es dürfe keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Deutschland geben, das hieß, die Schutzgarantien der NATO müssten auch für das Gebiet der DDR gelten, was schließlich mit der Zustimmung zur Geltung der Artikel 5 und 6 auch für dieses Gebiet festgelegt werde. Für den Status der neuen Bundesländer wurde festgelegt: Bis zum Abzug der sowjetischen Truppen würden dort Verbände der Bundeswehr stationiert sein, die nicht NATO-integriert waren, nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte auch NATO-integrierte. Gorbatschow stimmte zu, aber nicht ohne festzustellen, dass keine ausländischen Streitkräfte dorthin verlegt werden dürften. Gorbatschow bestand auf unmissverständlicher Genauigkeit: „Souveränes Recht Deutschlands wird die Lösung der Frage der NATO-Zugehörigkeit sein. Aber auch wir haben ein Recht auf volle und nicht eingeschränkte Sicherheit. Deshalb müssen wir die Gewissheit haben, dass nach unserem Abzug keine NATO-Staaten mit Kernwaffen auf das Gebiet der DDR vorrücken.“ 1424 Dies wiederum akzeptierte der Kanzler. Auch Genscher hat diese Diskussion beschrieben. Hier seine Erinnerung: „Damit war Klarheit in den schwierigen Fragen erzielt, der sicherheitspolitische Status festgelegt. Unsererseits war alles für die Sicherheit Notwendige getan, einschließlich der Stationierung NATO-integrierter deutscher Verbände. Andererseits wurden die NATO-Strukturen in der Form, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland bestanden, nicht nach Osten ausgedehnt. Nach meiner Einschätzung hatten wir damit erreicht, Zonen unterschiedlicher Sicherheit zu vermeiden. Mit großem Nachdruck bestand Gorbatschow darauf, dass nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus der früheren DDR dort keine ausländischen Truppen stationiert werden dürften. Um jeden
1424 Gorbatschow: Wie es war, S. 146.
Einigung im Kaukasus
331
Zweifel auszuschließen, stellte ich noch einmal fest, dass nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte auch NATO-integrierte deutsche Streitkräfte dort stationiert werden dürften“. 1425
Kohl und Genscher legten größten Wert darauf, im kaukasischen Archys auf alle deutschen Fragen Antwort zu erhalten. Kohl wies später ausdrücklich darauf hin, Gorbatschow habe verlangt, dass die NATO in dem Abschlussdokument nicht ausdrücklich erwähnt wird. Er brauche Argumente, um der sowjetischen Bevölkerung die Lage zu erklären. Es sei für ihn leichter, in der Sowjetunion Verständnis für die etwas schwammige Formulierung zu finden, das vereinte Deutschland habe das Recht sein Bündnis zu wählen. 1426 Gorbatschow wusste sehr wohl um die Widerstände in der Sowjetunion und suchte nach einer „rhetorischen Verschleierung“, wofür die Deutschen Verständnis zeigten. 1427 Beide Seiten vereinbarten die Form, in der sie der Presse die Ergebnisse mitteilen wollten. Es müsse „der Eindruck vermieden werden, dass wir über die Köpfe der anderen 2 + 4-Teilnehmerstaaten hinweg entschieden hätten, und ebenso gelte es zu vermeiden, dass es heiße, der sowjetische Generalsekretär habe sich die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands abkaufen lassen.“. 1428 In Schelesnowodsk, in einem ehemaligen Lungen-Sanatorium, eröffnete Gorbatschow die gemeinsame Pressekonferenz mit Kohl: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein.“ Ganze 70 Sekunden sprach Gorbatschow, dann überließ er das Mikrofon dem Kanzler. 1429 Kohl fasste zu Beginn seiner Erklärung noch einmal den Ablauf des Besuchs zusammen, beschrieb Schauplätze und Atmosphäre der Begegnung, rühmte die rückhaltlose Offenheit der Gespräche, würdigte die Rolle der Außenund Finanzminister und gab die beiderseitige Absicht bekannt, nach der Vereinigung Deutschlands einen alle Bereiche der deutsch-sowjetischen Beziehungen umfassenden Vertrag zu schließen. Das in acht Punkte gegliederte Gesprächsergebnis leitet er mit dem Satz ein, er könne „heute mit Genugtuung und in Übereinstimmung mit Präsident Gorbatschow“ feststellen: 1430 – Das vereinte Deutschland werde die bisherige Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen. 1425 Genscher, Erinnerungen: S. 840. 1426 Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 175; Biermann, S. 691; Deutsche Einheit, Dok Nr. 350, S. 1340. 1427 Biermann, S. 688. 1428 Biermann, S. 692, Anm. 1089. 1429 Klein, S. 274. 1430 Ebda., S. 275 ff.
332
Kapitel 9
– Nach vollzogener Einigung würden Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte abgelöst und mithin Deutschlands volle Souveränität hergestellt. – Das souveräne vereinte Deutschland könne NATO-Mitglied sein. – Mit der UdSSR werde es einen Vertrag über die Abwicklung des innerhalb von drei bis vier Jahren zu erfolgenden Truppenabzugs und einen Überleitungsvertrag über die Auswirkungen der Währungsumstellung in Deutschland geben. – Bis zum endgültigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland würden die NATO-Strukturen nicht auf das Gebiet der heutigen DDR ausgedehnt, wohl aber würden dort sofort nach der Vereinigung die Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages gelten und eine Stationierung von Bundeswehrverbänden der territorialen Verteidigung möglich sein. (Den sechsten Punkt fügt der Kanzler dem fünften an, ohne die Ziffer zu erwähnen. Doch das fiel angesichts der Bedeutung des Inhalts keinem Journalisten auf.) – Für die verbleibende Stationierungszeit sowjetischer Streitkräfte sollten die Westmächte ersucht werden, ihre Truppen auf der Grundlage neuer vertraglicher Regelungen in Berlin zu belassen. – Noch in den laufenden Wiener Verhandlungen über den Abbau von Nuklearraketen SNF werde die Bundesregierung eine Verpflichtungserklärung abgeben, die Streitkräfte des vereinigten Deutschlands innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Gesamtstärke von 370.000 Mann zu verringern. – Auch das vereinigte Deutschland werde auf Herstellung, Besitz und Verfügung von ABC-Waffen verzichten und Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages bleiben. George Tyler Marshall, Bonner Korrespondent der „Los Angeles Times“ und geschichtsbewusster Amerikaner, brachte seinen Eindruck von dem Verhandlungsergebnis auf den Punkt: „Das ist die Rücknahme von Teheran, Jalta und Potsdam.“ 1431 Der Kanzler schloss seine Erklärung mit dem Hinweis, dass er unmittelbar nach seiner Rückkehr die Regierung der DDR und die Regierungen der drei Westmächte über das Verhandlungsergebnis unterrichten werde. Er dankte Gorbatschow und seiner Frau für die „großherzige Gastfreundschaft“ und lud sie beide zu einem Gegenbesuch in seine pfälzische Heimat ein.
1431 Ebda. Auf den Konferenzen in Teheran 1943, Jalta 1945 und Potsdam 1945 wurde von den Siegermächten die Teilung Deutschlands nach dem Ende des Krieges besprochen und beschlossen.
Einigung im Kaukasus
333
Gorbatschow betonte, dass keine Seite alles bekommen habe. „Noch können wir nicht von einem vereinigten Deutschland sprechen“, sagt er, „im Moment ist es noch ein Gedanke, den ich aber begrüße. Wir haben Realpolitik gemacht.“ Gorbatschow hatte sich mit seinen Zugeständnissen von Archys viele Gegner geschaffen. Bis zum Parteitag vor drei Tagen galt noch die „alte“ Linie gegenüber der NATO. Was also, so fragten sich erfahrene Sowjetexperten unter den Journalisten, hatte diesen Umschwung bewirkt? Archys war der logische Schlusspunkt der Überlegungen von Gorbatschow. Es waren die Überlegungen der beiden Männer Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse, die diesen Kurswechsel der sowjetischen Politik bewirkten. Sie hatten erkannt, dass „ihre“ Sowjetunion total verändert werden musste, um international bestehen zu können. Deshalb brachen sie mit der „Logik der alten Zeit und Ideologie“. 1432 Als beide einsehen mussten, dass niemand mehr ihrer „alten“ Logik folgen wollte (vor allem nicht die USA, die BRD und die übrigen westlichen Regierungen), gaben sie nach. Es war – um mit Hegel zu sprechen – eine „Einsicht in die Notwendigkeit“. Es war auch europäische Politik, die von den Ereignissen in der DDR ab Frühjahr 1989, dann mit dem Mauerfall in Berlin und schließlich mit den Ergebnissen der Wahlen in Ungarn, Polen und der DDR vorangetrieben wurde. In Archys endete vorerst der Kampf um die deutsche Einheit mit einem Agreement zwischen Gorbatschow und Helmut Kohl. Die USA waren sich allerdings nicht sicher, ob dieses Agreement auch Bestand haben würde. Baker war der Ansicht, „das wird eine Pleite“. 1433 Er war davon ausgegangen, dass Gorbatschow aufgrund seiner Schwierigkeiten mit den Gegnern der NATO-Mitgliedschaft im Politbüro nachgeben würde. Diese Gegner – an der Spitze Falin – wurden weder von Gorbatschow noch von Schewardnadse in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Beide glaubten, dass es in einem solchen Fall es zu keiner Entscheidung in Sachen „Einheit und NATO“ aufgrund einer „Patt-Situation“ würde kommen können. Am Ende war es nur Schewardnadse, der Gorbatschow zu seiner Entscheidung riet. 1434 Falin reagierte scharf. Er unterstellte dem Außenminister, „er habe eine finanzielle Gegenleistung von westdeutschen Industriellen bekommen“ und nannte ihn einen „der einflussreichsten Agenten der Amerikaner“. 1435
1432 1433 1434 1435
Gorbatschow: Erinnerungen, S. 353 ff. Beschloss / Talbott, S. 316 ff. Ebda. Ebda., S. 317.
334
Kapitel 9
In den elf Monaten zwischen Mauerfall und Herstellung der deutschen Einheit veränderte sich die Welt dramatisch. Ohne Eduard Schewardnadse und Michail Gorbatschow wäre das nicht geschehen. George Bush, James Baker, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Horst Teltschik waren seit dem Mauerfall am 9. November 1989 immer davon überzeugt gewesen, dass es ein vereintes Deutschland nur in der NATO geben könne. Aber die sowjetischen Politiker hielten noch lange Zeit an ihrem Feindbild NATO fest. Da Gorbatschow diesen „Feind“ nicht mit einem neuen Krieg besiegen konnte, suchte er eine politische Lösung. Dies war das „Europäische Haus“. Der Gedanke war einerseits bestechend, andererseits jedoch noch nicht ausgereift. Vor allem fehlten Gorbatschow die davon überzeugten Mitstreiter. Perestroika und Glasnost stießen auf wenig Akzeptanz bei der sowjetischen Bevölkerung, 1436 und der Gedanke des „Europäischen Hauses“ war nur für wenige Akademiker und europäisch Denkende faszinierend. Gorbatschow gelang es weder seine Partei noch seine Genossen im Politbüro, ZK und Obersten Sowjet davon zu überzeugen. So rannte er gleich gegen drei Hindernisse: In der NATO-Frage folgte ihm die Mehrheit nicht, das „Europäische Haus“ wurde zwar im Westen wohlwollend aufgenommen, aber in der Sowjetunion verstanden es die meisten nicht, und schließlich war die Mehrheit der sowjetischen Diplomaten und Politiker immer noch davon überzeugt, dass die NATO ein Gegner und kein Partner sei und dass die Sowjetunion nicht um die Früchte ihres Sieges von 1945 – also um die DDR – gebracht werden dürfe. Am 16. Juli 1990, exakt um 18.28 Uhr Ortszeit in Schelesnowodsk, wurde der vorläufige Schlusspunkt gesetzt. Gorbatschow bedankte sich, nahm die Einladung von Kohl, in dessen Heimat zu kommen, an, und erhob sich. Sieben Stunden hatten die beiden Männer unter vier Augen gesprochen und Vertrauen zueinander gewonnen. Nur so konnten beide über ihre Schatten springen und ein Ergebnis erzielen, das lange Zeit undenkbar schien. Was am 9. November 1989 noch in weiter Ferne lag, war jetzt zum Greifen nahe. Doch viele Politiker sollten schnell vergessen, dass Gorbatschow diese Zugeständnisse nur machte, um damit die Voraussetzungen für sein „Europäisches Haus“, für eine lang andauernde und stabile Entspannung zwischen Ost und West zu schaffen. Das war die Gegenleistung, die er von Beginn an gefordert hatte. Doch für diese neue Sicherheitsstruktur war bis hierhin noch kein Fundament gelegt worden.
1436 Gorbatschow: Erinnerungen, S. 690.
Einigung im Kaukasus
335
Zwar hatte er zu Beginn der Verhandlungen über die deutsche Einheit eine „Gleichzeitigkeit“ gefordert: Beide Prozesse – die Verhandlungen der beiden deutschen Staaten und der Prozess der 2 + 4-Gespräche über die Sicherheitsfragen – sollten synchron verlaufen. Das hatte er zwar gefordert, aber es nicht zum Junktim erklärt. Als der innerdeutsche Einigungsprozess sich verselbständigte, war es zum Bremsen zu spät. Gorbatschow hatte den Zeitfaktor völlig unterschätzt. Seine realen Einflussmöglichkeiten waren gering, und da er in keinem Gipfel und in keiner Gesprächsrunde Bedingungen hatte, blieb er Bittsteller. Jetzt nach dem Abschluss der Gespräche im Kaukasus, blieb nur noch eines: Mehr Geld einfordern, was jedoch zu erheblichem Unmut führte. Kohl bedankte sich im Flugzeug noch einmal bei seinem Gastgeber: „Ohne Gorbatschow, der die Altlasten vom Tisch haben und mit uns eine neue Zukunft gestalten will, ohne die Menschen vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche und die anderen stillen Demonstranten in der DDR, ohne die Reformbewegungen in Ungarn und Polen wäre dies alles nicht möglich gewesen. Ich habe auch Fortune gehabt.“ Er prostete Genscher und Waigel zu: „Wir waren ein gutes Team.“ 1437 Er verbarg nicht, dass er glücklich war und sich freute, ohne zu triumphieren. Genscher sprach von einem Gefühl, „als könnte man Berge versetzen“. und Waigel kurz und knapp: „Und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.“ 1438 Beide erzählten, wie sie die Stunden im Kaukasus erlebt hatten. Allen im Regierungsflugzeug war bewusst: Dieser Erfolg hatte viele Väter: Begonnen in Leipzig, fortgesetzt in Ungarn und Prag, vollendet am 9. November – politisch organisiert durch Bush, Mitterrand, Thatcher und die Verbündeten, und eine Vielzahl deutscher Spitzenpolitiker. Kohl hatte in seiner politischen Laufbahn nie daran gezweifelt, dass es eines Tages wieder ein vereintes Deutschland geben würde. Er unterrichtete nach der Rückkehr in Bonn in ausführlichen Briefen Mitterrand, Thatcher und Andreotti über die Gesprächsergebnisse in der Sowjetunion. 1439 Genscher informierte Baker und den französischen Außenminister Roland Dumas nur wenige Stunden nach Abschluss des Unternehmens über die Details des Ausfluges in den Kaukasus. Nach Paris, und nicht etwa zu den sowjetischen Parlamentariern, eilte aus Archys auch Eduard Schewardnadse. Er bewog seine neuen Freunde, die Schlussetappe der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen rasch voranzutreiben, damit zum 12. September 1990, beim Treffen in Moskau, alles unter-
1437 Klein, S. 292. 1438 Ebda. 1439 Presseerklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über seine Gespräche mit Michail Gorbatschow, 17. Juli 1990, in: Bulletin, Nr. 93 vom 18. 7. 1990, S. 801 ff.
336
Kapitel 9
schriftsreif sei. Der sowjetische Minister warnte, jede Verzögerung werde den „Gegnern“ 1440 in Moskau in die Hände spielen, die sich bald wieder von ihrem Schock erholen sollten. 1441 Teltschik dazu: „Wir haben im Kanzleramt ständig zusammengesessen und darüber nachgedacht: Was können wir tun? Was können wir anbieten, damit Gorbatschow das alles überlebt? Das war die Sorge aller, von Anfang an.“ Das Angebot hieß schließlich: Neue NATO-Formel und Generalvertrag mit hohen Zusagen.
2 + 4-Gespräche weiter schwierig Die 2 + 4-Gespräche gingen unterdessen unvermindert weiter. Schon am 17. Juli 1990 trafen sich die Außenminister der zwei deutschen Staaten und der vier Siegermächte von 1945 wieder in Paris. Es musste jetzt alles in juristische Formeln gegossen werden, was Kohl und Gorbatschow verabredet hatten. Vor allem musste nun eine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen werden, die die NATO bestehen ließ, aber sie in ihren Inhalten veränderte. Aus dem Bündnis der Gegner musste und sollte jetzt ein Bündnis der Partner werden. So erklärte US-Außenminister Baker zum Abschluss des 2 + 4-Ministertreffens in Paris, dass die Vereinigten Staaten und die anderen drei Mächte „ein vereinigtes, demokratisches und souveränes Deutschland begrüßen werden, das einen wertvollen Beitrag zur Förderung und Erhaltung eines ungeteilten und freien Europas leistet.“ 1442 Ein vereinigtes Deutschland und ein stabiles Sicherheitsumfeld für Europa sind jetzt „in greifbare Nähe gerückt“. Kohl war vorsichtig, was die NATO-Frage anbelangte. Er hatte bemerkt, dass es für die Sowjets vorrangiger war, über die Veränderungen der Gesamtpolitik des Westens im positiven Sinne gegenüber Moskau zu reden als über die NATO-Ausdehnung auf das Gebiet der DDR. Denn Gorbatschow konnte kaum erklären, warum aus der von ihm gedachten, aber nie ausgesprochenen Conditio sine qua non nicht viel geblieben war. Vor allem musste er erklären, warum er zu keinem Zeitpunkt die Zustimmung zur Vereinigung von der Nicht-Ausdehnung der NATO abhängig gemacht hatte. Ganz im Gegenteil hatte Gorbatschow seine Vorstellungen ständig geändert bis hin zum Angebot an Bush, die Sowjetunion selbst als Mitglied in
1440 Die Gegner der deutschen Einheit, an der Spitze Valentin Falin. 1441 Teltschik zum Autor am 17. Juni 2015. 1442 Amerika-Dienst 28/90. „Amerika Dienst“ ist der Informationsdienst der Botschaft der USA in Deutschland.
2 + 4-Gespräche weiter schwierig
337
die NATO einzubringen. Diese konfuse Sicherheitspolitik in Moskau und diese Unentschlossenheit hatten es unmöglich gemacht, dass Gorbatschow überhaupt zu einer klaren Denkweise finden konnte. Die „Germanisten“ hatten ihm geraten, „auf gar keinen Fall“ die DDR preis- und der NATO einen Zentimeter Raum zu geben. Seine Reformer, allen voran Tschernjajew, prägten dagegen die Formel: „Geben wir ihnen alles, was sie wollen einschließlich der NATO-Mitgliedschaft und handeln wir uns dafür eine neue Sicherheitspartnerschaft und bevorzugte wirtschaftliche Beziehungen zum Wohle der Sowjetunion ein.“ 1443 Diese Formel hatte sich am Ende durchgesetzt und führte in der internen Auseinandersetzung in Moskaus politischen Gremien schnell zu der Frage, ob die Deutschen im Kaukasus nicht doch der Sowjetunion die NATO-Mitgliedschaft „abgekauft“ hatten. Selbst Gorbatschow sagte zu Kohl laut Protokoll im Vier-Augen-Gespräch in Moskau am 15. Juli 1990: „Einige unterstellen uns, wir verkauften für Deutsche Mark den Sieg, der doch um einen so hohen Preis, mit solch hohen Opfern errungen wurde. Man darf die Zusammenhänge nicht vereinfachen, aber wir müssen auch diese Realität sehen.“ 1444 Gorbatschows außenpolitischer Berater Anatolij Tschernjajew formulierte es so: „Kohl war entschlossen und energisch. Er spielte ein faires, aber hartes Spiel. Er machte große Zugeständnisse, aber die Hauptsache bekam er: ein vereintes Deutschland in der NATO.“ 1445 In der Tat: Kohl gab nur in zwei Positionen nach: Weder ausländische Truppen noch Nuklearwaffen auf dem Gebiet der DDR. Gorbatschow musste dagegen fast alle seine Positionen räumen. 1446 Die Erklärung ist einfach: Kohl wollte primär die Einheit Deutschlands. Gorbatschow wollte ein verändertes Europa mit einer GesamtsicherheitsStruktur, quasi eine „UNO für Europa“. 1447 Das zeigte sich ganz deutlich am 18. Juli 1990, einen Tag nach dem Kaukasus-Erfolg, in Paris. In der US-Botschaft in Paris trafen sich für zwei Stunden in entspannter Atmosphäre Schewardnadse und Baker. Der sowjetische Außenminister erzählte so detailliert wie nie wieder, wie er und Gorbatschow den Entschluss gefasst hatten, die Deutsche Frage beizulegen. Dabei sagte er besonders Dank an US-Präsident Bush. „Ohne die Veränderungen der NATO auf dem Gipfel in London am 5. und 6. Juli wäre das alles nicht passiert.“ 1448 1443 Tschernjajew, Die letzten Jahre; S. 300 ff. 1444 Gorbatschow, Michail: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993, S. 171. 1445 Tschernjajew, Die letzten Jahre. . . S. 305. 1446 Biermann, S. 693. 1447 Ebda., S. 696 1448 Zelikow / Rice, S. 470.
338
Kapitel 9
Die Initiativen von London hätten es der Sowjetunion ermöglicht, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen: „Wenn Sie das, was wir Ihnen und Kohl jetzt sagen, mit unserem Berliner Dokument vom 22. Juni vergleichen, dann ist es wie Tag und Nacht. Mehr noch, es ist wie Himmel und Erde. [. . . ] Möglich gemacht haben dies die Londoner Tagung und unser Parteitag.“ 1449 Vor dem Parteitag, fuhr Schewardnadse fort, wäre es undenkbar gewesen, von der Aufgabe der Vier-Mächte-Rechte zu sprechen oder die Haltung zur deutschen Bündniszugehörigkeit zu revidieren oder auch nur die Entscheidung zu fällen, die sowjetischen Truppen aus Deutschland abzuziehen. „Sie haben sich wirklich bemüht, unseren Sorgen und Problemen Rechnung zu tragen“, sagte Schewardnadse zu Baker, „und dadurch ist vieles möglich geworden.“ In seinen Memoiren drückt es Schewardnadse noch deutlicher aus: „Ohne die Beschlüsse, die auf der Sitzung des NATO-Rats in London gefasst wurden, wäre die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO für uns inakzeptabel.“ 1450 Baker berichtete, wie es zu dem Stimmungsumschwung auch unter den NATO-Mitgliedern kam: „Wir wollten, dass es ein zugkräftiges Dokument wird, das sie benutzen könnten, und zwar noch während des Parteitags.“ 1451 Die Vereinigten Staaten hätten den Verlauf des Parteitags aufmerksam verfolgt. Dabei sei Präsident Bush ebenso wie ihm selbst insbesondere Schewardnadses bedeutsame Rede aufgefallen. „Der Präsident und ich haben schon seit über einem Jahr den Eindruck“, fügte er hinzu, „dass Sie und Präsident Gorbatschow eine Vision und einen Sinn für Geschichte haben, die unserer Sichtweise entsprechen. Dies ist eine historische Chance, die Versöhnung zwischen Ost und West herbeizuführen – eine Chance, wie sie sich bisher noch nie geboten hat.“ Sie hätten diese Chance bereits ergriffen, und er, Baker, hoffe, dass sie diesen Weg fortsetzen würden. Schewardnadse pflichtete ihm bei und verwies auf die übereinstimmende Vision, die sie im Herbst 1989 in Wyoming entworfen hatten. Anerkennenswert fand er auch das Verständnis, das die Deutschen den sowjetischen Sorgen entgegengebracht hatten.
Empörung in Moskau In der sowjetischen Politik und Presse herrschte dagegen Entrüstung. Der sowjetische Botschafter in den USA, Alexander Bessmertnych, bezeichnet die NATO-Entscheidung von Archys als „eine der meistgehassten Ent1449 Der Parteitag der KPdSU vom 14. bis16. Juli 1990. 1450 Schewardnadse, S. 257. 1451 Baker, S. 234.
Empörung in Moskau
339
wicklungen in der Geschichte der sowjetischen Außenpolitik und sie wird es für die nächsten Jahrzehnte auch bleiben“. 1452 Unverständnis, ja Empörung überwogen. Anhänger der Wende von Gorbatschow gab es kaum. Das Ergebnis des Kohl-Besuches widersprach aufs Schärfste jener sowjetischen Linie, die bis dahin alle politischen Organe und Vertreter vertreten hatten. Sie alle – vom Politbüro angefangen bis hin zu den politischen Abteilungen in ZK und Politbüro – hatten Gorbatschow Analysen vorgelegt, die mit dem Ergebnis von Archys unvereinbar waren. Gorbatschow hatte in ihren Augen, von Schewardnadse beeinflusst, einen Ausverkauf sowjetischer Interessen betrieben. „Leichtfertig“ und viel zu schnell habe Gorbatschow die deutschlandpolitischen Grundpositionen aufgegeben. 1990 lautete die Kritik: Es ist der Beginn des Vordringens der NATO nach Osten. Falin warf Gorbatschow „politischen Masochismus“ 1453 vor. Portugalow sprach von einem „Sommerschlussverkauf“ 1454 in Archys. Schewardnadse trat nur wenige Monate später, im Dezember 1990, zurück. Er ertrug die Kritik nicht mehr und sagte später: „Die Einheit Deutschlands spielte bei meinem Rücktritt eine ganz wesentliche Rolle. Leute, die das ABC der großen Politik nicht beherrschen, haben mir die größten Vorwürfe gemacht, weil wir die Einheit zuließen.“ 1455 Unmittelbar nach Archys, also Mitte Juli, begannen die Attacken gegen Gorbatschow im ZK, im Obersten Sowjet und in den Medien. Ende Juli stellte Rafael Fjodorow für das ZK öffentlich die Frage: „Warum hat die Sowjetunion ihr Sträuben aufgegeben, dass das vereinte Deutschland als Ganzes der NATO beitritt?“ 1456 Genscher warb im August 1990 in einem Interview in der „Literaturnaja Gazeta“ für die Ergebnisse von Archys. Das Wichtigste – die NATOMitgliedschaft – kam darin aber gar nicht vor! 1457 Schriftlich berichtete Kohl dem amerikanischen Präsidenten über die Gespräche im Kaukasus. Besonders ging Kohl auf den Londoner Gipfel vom Juli 1990 ein: Diese Zusammenarbeit hat sich besonders im Vorfeld des Londoner NATOGipfels und in der Abfassung der Londoner Erklärung bewährt. Dass Sie,
1452 Beschloss / Talbott, S. 317. 1453 Thumann, Michael: Der längste Sargnagel; in Internet: http://www.zeit.de/2000/ 33/Der_laengste_Sargnagel/komplettansicht (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1454 Kuhn, Ekkehard (Hg.): Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten deutschen und russischen Beteiligten. Bouvier, Bonn,1993, S. 147. 1455 Weckbach-Mara, Friedemann: Gespräch mit Schewardnadse, in: BamS, Nr. 18 vom 5. Mai 1991, S. 2. 1456 ND Interview, 1. September 1990. 1457 Biermann, S. 704, FN 1140.
340
Kapitel 9
lieber George, persönlich den Anstoß für diese zukunftsweisende Erklärung gegeben haben, ist und bleibt ein historisches Verdienst um unser Bündnis. Denn mit dieser Erklärung haben wir die Tür weit geöffnet für die sicherheitspolitische Einbindung des künftigen geeinten Deutschlands in eine sich verändernde NATO, für die weitere Festigung der transatlantischen Partnerschaft, für ein neues Verhältnis der Freundschaft und Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Pakts und nicht zuletzt für die Festigung des Bündnisses selbst als einer gemeinsamen Werten und solidarischer Politik verpflichteten Allianz der freiheitlichen Demokratien Westeuropas und Nordamerikas. 1458
Markus Meckel, Außenminister der DDR, äußerte sich in einem Interview in der „Tribüne“ zurückhaltend bis ablehnend. „Wir hatten die Position: NATO-Mitgliedschaft nur bei entsprechender Strategieveränderung. Das sagten wir im Interesse unserer östlichen Nachbarn. Es ist ein deutlicher Wandel in Aussicht genommen. In London ist das klargeworden. Die Sowjetunion hat die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands akzeptiert, und damit steht ihr nichts mehr im Wege. Künftig geht es darum, intensiv daran zu arbeiten, dass sich die NATO entsprechend der neuen Situation in Europa verändert. In diesem Rahmen ist uns wichtig zu sagen, wir wollen nicht, dass auf deutschem Boden Nuklearwaffen stationiert werden. Eine Erwartung, die übrigens auch die Norweger und Spanier ausgedrückt haben.“ 1459 Die DDR-Koalitionsregierung unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière verfolgte mit der SPD und deren Außenminister Meckel eine eher neutralistische Haltung. Wie alle Bürgerrechtsbewegungen in Mittelund Osteuropa waren sie der NATO gegenüber skeptisch bis unfreundlich eingestellt. Daher standen sie den Vorschlägen von Gorbatschow – Abrüstung der Blöcke, dann deren Auflösung zeitgleich mit einem neuen europäischen Gesamt-Sicherheitssystem – sehr positiv gegenüber. Erst mit der Änderung der NATO-Doktrin im Juli 1990 in London in ein „Verhältnis der Partnerschaft“ wurde das Feindbild NATO abgebaut. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurden die Anstrengungen aber nicht verstärkt, dieses Sicherheitssystem auch umzusetzen. So blieb die NATO erhalten, der Warschauer Pakt aber löste sich auf. So erklären sich die Vorwürfe der russischen Politik gegenüber der NATO. Versprochen und verhandelt war es, dieses System zu schaffen. Wäre es so gekommen, wäre Russland Partner der europäischen Staaten geworden. Vielleicht wäre die politische Landschaft Europas heute anders und mit weniger Spannungen befrachtet. 1458 Deutsche Einheit, Dok Nr. 361, S. 1401. 1459 Interview mit Marcus Meckel, Tribüne, Nr. 127/90 vom 1. August 1990.
Empörung in Moskau
341
Ministerialdirektor Dieter Kastrup, im Bonner Auswärtigen Amt zuständig für die 2 + 4-Verhandlungen, war ab 13. August 1989 für zwei Tage 1460 in Moskau, um mit dem Vize-Außenminister, dem ehemaligen Botschafter in Bonn, Julij Kwizinski, die bilateralen Verträge vorzubereiten und sich über den Stand der Verhandlungen auszutauschen. Die Sowjetunion strebe zwei Verträge über Stationierung beziehungsweise Abzug an, einen, der die sowjetischen Truppen in der heutigen DDR betreffe, einen anderen für Berlin, berichtete Kastrup. Während Genscher bereit war, diesem sowjetischen Wunsch zu entsprechen, lehnte Teltschik das ab. Noch drei Wochen sollte es bis zur geplanten festlichen Unterzeichnung des 2 + 4-Vertrages in Moskau dauern. Aber noch längst nicht waren alle Einzelheiten geklärt. Immer wieder tauchten neue Probleme auf. Für sechs Stunden flog der Außenminister nach Moskau. Der Kreml hatte offenbar noch Klärungs- und Sprechbedarf. Der „Große Vertrag“, den Kohl mit Gorbatschow im Kaukasus in den Grundzügen vereinbart hatte, musste jetzt im Detail ausgearbeitet werden; eine Aufgabe eigentlich für Fachbeamte, die nun die beiden Außenminister Genscher und Schewardnadse zu erledigen hatten. 1461 Genscher wollte, dass die Vier Mächte vor Ratifizierung der Verträge durch die jeweiligen nationalen Parlamente in einer einseitigen Erklärung ihre besonderen Rechte und Verantwortlichkeiten mit dem Tag der Vereinigung, also am 3. Oktober 1990, suspendieren sollten. Der Kreml widersprach. 1462 Außerdem pochte Schewardnadse darauf – sicherlich auf Druck und im Namen von Gorbatschow –, dass nur „erhebliche Fortschritte bei den verschiedenen bilateralen Verhandlungen – und hier vor allem konkrete Ergebnisse beim Abzugs- und beim Überleitungsvertrag – einen Abschluss der 2 + 4-Gespräche am 12. September 1990 in Moskau sicherstellen konnten.“ 1463 Genscher erkannte, dass es hier ein neues Problem gab, denn jetzt stellten die Sowjets ein Junktim her zwischen dem Zwei-plus-Vier-Prozess und den bilateralen Verhandlungen. Damit waren bei den schon nahezu abgeschlossen geglaubten Verhandlungen plötzlich neue Hürden zu überwinden. Das galt auch für die NATO-Frage. Kwizinski schlug vor, „Deutschland müsse sich jeder Tätigkeit zugunsten Dritter enthalten“. 1464 Das aber hätte
1460 Am 13. und 14. August 1989; Deutsche Einheit, Dok Nr. 381, S. 1462. 1461 Nur die NATO-Frage ist für diese Untersuchung relevant. Daher werden die Einzelheiten der Diskussion hier nur grob erörtert. 1462 Biermann, S. 714 ff. 1463 Ebda. 1464 Ebda., S. 716.
342
Kapitel 9
die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands ausgehöhlt, denn die NATO war ein Kollektivbündnis. Ohne die Garantie-Beistandsformel war die NATOMitgliedschaft wertlos. Genscher und Kohl suchten nach einer Kompromissformel. Erst am 4. September einigten sich Moskau und Bonn. 1465 Darüber hinaus wollte Moskau auch die Enteignungsfrage von 1945–49 in den Vertrag aufgenommen haben. 1466 Dadurch wollten sie die massenhaften Enteignungen in ihrer Besatzungszone, der späteren DDR, festgeschrieben und unumkehrbar machen. Weiter ging es über den Schutz von sowjetischen Denkmälern und die Erwähnung der KSZE-Institutionalisierung bis hin zur ausdrücklich festzuschreibenden „Friedensverpflichtung“ Deutschlands. Schewardnadse gestand zu diesen erheblichen Nachforderungen ein, „wir – die UdSSR – haben bei den bisherigen Verhandlungen wohl Fehler gemacht“. Er drohte sogar damit, den „Friedensvertrag“ wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Das kam einer offenen Drohung gleich, handelte es sich doch um eine der in Bonn am meisten gefürchteten Positionen – die Genscher überdies spätestens seit dem Pariser Zwei-plusVier-Außenministertreffen endgültig überwunden geglaubt hatte. 1467 Jetzt also, in der Schlussphase der Verhandlungen, stellten die Sowjets ihre Bedingungen. Aber es war zu spät, um wesentliche politische Forderungen noch zu verändern. Banal ausgedrückt: Es ging dem Kreml nun nur noch ums Geld. Am 16. und 17. August hielt sich Genscher in Moskau auf. 1468 Teltschik bemerkte in einer abschließenden Notiz dazu: 1469 „Gestern sind die zweitägigen Gespräche Genschers in Moskau zu Ende gegangen. Er äußert sich zuversichtlich, dass für alle Seiten akzeptable Ergebnisse hinsichtlich des Schlussdokuments der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gefunden werden können. In der Sache selbst gebe es keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten mehr. Auch die sofortige Suspension der Viermächterechte habe Schewardnadse nicht ausgeschlossen.“ In der Nacht zum 23. August 1990 beschloss die Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz. Die Vereinigung der beiden Staaten sollte am 3. Oktober 1990 vollzogen werden. Jetzt mussten die 2 + 4-Verhandlungen wie geplant bis zum 12. September beendet werden. Der Vertrag sollte dann in Moskau unterschrieben werden. Die Delegierten der DDR hatten keinerlei Einfluss mehr, auch wenn Lothar de Maizière jetzt zusätzlich als Außenminister agierte.
1465 1466 1467 1468 1469
Teltschik, S. 357; Biermann, S. 717. Genscher: Erinnerungen, S. 856 ff. Weidenfeld, S. 577 ff. Die Einheit, Dok Nr. 140, S. 656; Genscher: Erinnerungen, S. 854 ff. Teltschik, S. 349.
Empörung in Moskau
343
Ein weiteres Hindernis tat sich auf: Moskau legte plötzlich eine Rechnung vor: 3,5 Milliarden D-Mark 1470 für die Stationierungskosten, 3 Milliarden D-Mark für die Transportkosten, 11,5 Milliarden D-Mark für den Bau von 72.000 Wohnungen und der dazugehörenden Infrastruktur wie Kindergärten und Geschäfte, 500 Millionen D-Mark für ein Aus- und Fortbildungsprogramm und 17,5 Milliarden D-Mark für die sowjetischen Liegenschaften in der DDR. Alles in allem verlangte die Sowjetunion also 36 Milliarden D-Mark. Damit hatte niemand in Bonn gerechnet. Maximale Gesamtkosten von 5 Milliarden D-Mark lautete die bisherige Bonner Rechnung. Am 7. September 1990 rief Kohl deshalb Gorbatschow an. 1471 Beide tauschten Höflichkeiten aus. Kohl erinnert an alles, was in Moskau und Archys besprochen und vereinbart worden war. Alles laufe, so der Kanzler. Gorbatschow stimmte der Einschätzung zu. Die Dinge bewegten sich im großen Ganzen nach vorn. Er sei gern bereit, die konkrete Planung näher anzusehen. Als Kohl darauf zu sprechen kam, dass nach seinen Informationen auch die Verhandlungen über den Vertrag über Aufenthalt und Stationierung sowjetischer Streitkräfte vorangingen, und er glaube, dass auch hier alles zu einem guten Ende kommen werde, widersprach Gorbatschow. „Nein“, sagte er, „man habe ihm berichtet, dass nicht alles glatt verlaufe.“ Damit waren beide bei dem heiklen Thema der Kosten im Allgemeinen und im Besonderen für den Wohnungsbau, für die Stationierung bis zum Abzug; Kosten für Umschulung und Rücktransportkosten. Weitgehend, so Kohl, seien sie sich ja einig. Aber der Teufel stecke eben im Detail. Gorbatschow zeigte sich leicht verärgert und konterte: „Wir sind nicht kleinlich, unsere Berechnungen sind alle nachprüfbar. Und ihr Deutschen versteht das auch alles ganz gut.“ 1472 Man könne gemeinsam noch einmal über die Gesamtsumme reden. Nunmehr sei politischer Wille des Bundeskanzlers vonnöten – er hoffe auf die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzler und wünsche sich, mit ihm zu einem angemessenen Beschluss zu kommen. Diplomatisch schlug Kohl vor, dass man am Ende des Jahres, wenn das Reformpaket des Präsidenten deutlich werde, sowohl als Bundesrepublik Deutschland wie auch zusammen mit den westlichen Partnern noch einmal gemeinsame Überlegungen zu den finanziellen Dimensionen anstellen werde. Er habe sich, weil ihm die Wichtigkeit des Wohnungsbaus bewusst sei, die finanziellen Fragen sehr genau angesehen. Er wolle jetzt die gegenseitigen Rechnungen beiseitelassen. Er sei zum Ergebnis gekommen, dass man jetzt über eine Summe reden müsse und dann über ihre Aufteilung, 1470 1 Euro = 1,95 DM. 1471 Deutsche Einheit, Dok Nr. 415, S. 1527. 1472 Ebda., S. 1528.
344
Kapitel 9
wobei es die Entscheidung des Präsidenten sei, wo er den Schwerpunkt setzen wolle: beim Wohnungsbau oder bei Aufenthalts- und Stationierungskosten. Er halte ein Gesamtangebot in einer Größenordnung von 8 Milliarden DM für denkbar. Dabei wolle er – wenn er einen Rat geben dürfe – empfehlen, den Schwerpunkt auf den Wohnungsbau zu legen. Gorbatschow hielt diese Zahl für viel zu niedrig und warf Kohl schließlich vor: „Offen gesagt, Herr Bundeskanzler, Ihr Angebot unterminiert die gemeinsame Arbeit, die bisher geleistet wurde.“ 1473 Wenn er sich die Analysen deutscher Experten zu den Kosten der Integration der DDR in neue Strukturen ansehe, so gingen die Schätzungen von 500 Milliarden DM 1474 für zehn Jahre aus, also 50 Milliarden pro Jahr. Wenn man die Fristen verkürze, würde dies noch höher. Die sowjetischen Kostenanalysen seien keine Bettelei, sondern man rede offen miteinander. Deshalb sei die für vier Jahre genannte Summe nicht zu hoch. Alles sei organisch miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang sei für die sowjetische Seite unantastbar. Kohl antwortete mit einem Vorschlag zur Güte: „Wir überlegen alles noch einmal und telefonieren in ein paar Tagen wieder, und zwar am kommenden Montag 10. September um 14.30 Uhr Bonner Zeit/16.30 Uhr Moskauer Zeit.“ 1475 Beide waren verärgert: Kohl, weil er das Gefühl hatte, jetzt übervorteilt zu werden, Gorbatschow, weil er merkte, dass er zu Beginn der Vereinigungs-Verhandlungen viel zu wenig verlangt hat. Bevor die beiden sich verabschiedeten, schien die Situation zu eskalieren. Gorbatschow klagte, die Situation sei für ihn sehr alarmierend. „Es komme ihm so vor, als sei er in eine Falle geraten.“ 1476 Kohl widersprach – so könne und wolle man nicht miteinander reden. Dies sei nicht seine Absicht, und er wisse, dass dies auch nicht die Absicht des Präsidenten sei. Gerade deshalb rede man über die Realitäten, die es im Übrigen auf beiden Seiten gebe. 1477 Beide stimmten darin überein, dass es entscheidend wichtig sei, den Knoten aufzulösen. Kohl lud Gorbatschow zu den Einheitsfeiern am 3. Oktober 1990 nach Berlin ein, wobei dieser offenließ, ob er die Einladung annehmen würde. Präsident Gorbatschow betonte, die gute Atmosphäre zwischen beiden müsse aufrechterhalten werden. Sie habe es ermöglicht, diesen historischen Prozess auf den Weg zu bringen. 1478 1473 1474 1475 1476 1477 1478
Deutsche Einheit, Dok Nr. 415, S. 1528. Ca. 250 bzw. 25 Mrd. Euro. Deutsche Einheit, Dok Nr. 415, S. 1529. Ebda. S. 1529. Ebda. Ebda., S. 1530.
Empörung in Moskau
345
Deutschland würde die Kosten für die sowjetischen Truppen auf DDR-Gebiet, den Wohnungsbau für rückkehrende Soldaten in der Sowjetunion und eine Pauschalsumme für die Abstützung von Lieferverträgen zwischen der Sowjetunion und der DDR in Höhe von zusammen rund zwölf Milliarden DM (ca. sieben Milliarden Euro) übernehmen. Das Abkommen über die Souveränität Deutschlands nach der Vereinigung würde nach den Worten Kohls „fristgerecht unterzeichnet“ werden. Teltschik beschrieb das Gespräch als „wirklich schwierig“. Es sei deutlich geworden, dass das finanzielle Paket für Gorbatschow ein zentraler Bestandteil des Gesamtergebnisses war, das er zu Hause vorweisen wollte und vermutlich auch musste. 1479 „Wir streiten uns nicht mehr über die Zahlen. Ein prinzipielles Einvernehmen ist erzielt worden“, sagte Schewardnadse in Moskau. „Wir haben einen Kompromiss erreicht, eine vernünftige Lösung“, urteilte der Außenminister, der aber das genaue Verhandlungsergebnis nicht nennen wollte. Schewardnadse: „Das Wichtige ist, dass wir uns geeinigt haben.“ Unabhängig hiervon befand sich Kohl in der Klemme. George Bush wollte 20 Milliarden DM für die Nicht-Beteiligung Deutschlands am 2. Golfkrieg (2. 8. 1990-5. 3. 1991) haben. 1480 Gorbatschow bestand auf weiteren Milliarden. Massiv wie noch nie hatte Gorbatschow gegenüber Kohl seine finanziellen Forderungen vorgetragen und teilweise durchgesetzt. 1481 24 Stunden vor der Unterzeichnung des 2 + 4-Vertrages in Moskau, am 12. September 1990, ergaben sich neue Schwierigkeiten, dieses Mal von den Briten zu verantworten. Sie wollten nun zeitnah auf dem Gebiet der ehemaligen DDR militärische Manöver abhalten. Aufgefallen war das dem ehemaligen Bonner Botschafter der UdSSR, Julij Kwizinski: Der sowjetische Außenminister Schewardnadse hatte daraufhin die Unterzeichnungszeremonie für den nächsten Tag, den 12. September stoppen lassen. Bekanntlich war in Archys vereinbart worden, solange sich sowjetische Truppen in diesem Gebiet aufhielten, sollten dort keine in die NATO integrierten Einheiten der Bundeswehr, sondern lediglich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert werden. Nach dem Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte sollte die Bundeswehr auch in den östlichen Bundesländern stationiert werden können, allerdings ohne Kernwaffenträger. Ausländische Streitkräfte sowie deren Kernwaffen sollte es auf dem Gebiet der DDR nicht geben. 1482 Am Abend des 11. Septem-
1479 1480 1481 1482
Teltschik, S. 362. Teltschik, S. 365 f Weidenfeld, S. 586 f. Auszug aus Artikel 5 des 2 + 4 Vertrages vom 12. 9. 1990:
346
Kapitel 9
ber 1990 aber erklärten die Vertreter der Drei Mächte plötzlich, man würde diese Festlegung eher so verstehen, dass ihre Streitkräfte zumindest berechtigt seien, auf das Gebiet Ostdeutschlands vorzurücken, etwa um dort Manöver abzuhalten. Vor allem Genscher war erfolgreich, den britischen Partner zur Räson zu bringen. 1483 Kwizinski schilderte die Nacht so: „Als Genscher erfuhr, was geschehen war, nahm er diese Angelegenheit sehr ernst, denn er wusste, dass nicht alle Verbündeten Bonns mit der Entwicklung in den letzten Wochen zufrieden gewesen waren. Genscher bat um eine dringende Unterredung mit James Baker, doch man teilte ihm mit, der Secretary of State habe sich bereits zur Ruhe begeben und ein Schlafmittel eingenommen. Einen Mann wie Genscher konnte man damit jedoch nicht aufhalten. Er erklärte, er werde in einer halben Stunde beim amerikanischen Außenminister sein und ihn, wenn nötig, selbst wecken. So fand das Gespräch mit Baker doch noch statt, und man verständigte sich darüber, dass der Vereinbarung keine Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten“. 1484 Da Genscher überzeugt war, diesen Punkt auch mit dem britischen Außenminister einvernehmlich geklärt zu haben, war er umso entsetzter, als er nach Mitternacht vom neuerlich drohenden Scheitern der endgültigen Vertragsformulierung hörte. Er hatte sich nach seinem Gespräch mit Schewardnadse zu einem Abendessen mit Douglas Hurd getroffen, dem er ausführlich berichtet und auch den Text seiner geplanten Erklärung gezeigt hatte. 1485 Hurd versuchte vergeblich, bei Genscher für eine andere Wortwahl in Artikel 5 Absatz 3 des Abschlussdokuments zu werben, in dem bislang davon die Rede war, dass auch nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland ausländische Truppen dort „weder stationiert noch dorthin verlegt“ würden. So habe Hurd vorgeschlagen, statt des Begriffs „deployed“ in der englischen Fassung ein noch weniger verbindliches Wort wie „posted“ zu benutzen. Genscher habe dies abgelehnt, da eine derartige Formulierung hinter den deutsch-sowjetischen
3) Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt. 1483 Kiessler / Elbe: S. 209 ff. 1484 Kwizinski, S. 62 ff. 1485 Ausführlich in Genscher: Erinnerungen, S. 869 ff.
Empörung in Moskau
347
Abmachungen aus dem Kaukasus zurückgeblieben wäre. Auf Bitten Genschers wies Hurd seinen Privatsekretär Richard Gozney an, den britischen 2 + 4-Unterhändler Weston zu informieren, dementsprechend zu verhandeln. Weder Weston noch Zoellick hatten sich aber in der Sitzung der Politischen Direktoren bewegt, weshalb eine Einigung erneut ausgeblieben war. Die Beunruhigung der deutschen Delegation wuchs noch, als sie von einem Mitarbeiter Schewardnadses darüber informiert wurde, dass die sowjetischen Gastgeber auf Veranlassung von Gorbatschow die Unterzeichnung des Vertrages abgesagt hatten. Kwizinski 1486 schrieb, Schewardnadse habe dabei ein „heimliches Vergnügen“ gehabt. Genscher fuhr zu Baker. Es war bereits nach Mitternacht, als Genscher, Kastrup und Elbe im Hotel „International“ eintrafen, wo die amerikanische Delegation untergebracht war. Baker schlug den Deutschen jetzt die Abgabe einer mündlichen Erklärung vor, dass nach westlichem Verständnis damit lediglich Großmanöver ausgeschlossen wären. Genscher habe fast panisch gewirkt, so Condoleezza Rice später, und sei wohl auch zu Zugeständnissen gegenüber Schewardnadse bereit gewesen, die nach amerikanischem Verständnis eine Einschränkung der deutschen Souveränität bedeutet hätten. Baker habe den Bundesaußenminister schließlich beruhigt und gebeten, die Verhandlungen am nächsten Morgen abzuwarten. Genscher und sein Team befürchteten offensichtlich, dass britisches und amerikanisches Beharren in diesem Punkt die letzte Verhandlungsrunde zum Scheitern verurteilen könnte. Dabei sei es doch nur darum gegangen, der sowjetischen Seite, die ihren Heimvorteil in Moskau genutzt und mit harten Bandagen gekämpft habe, auch auf dieser letzten Etappe noch ein wenig entgegenzuhalten und den Prozess damit konstruktiv und insbesondere zu aller Zufriedenheit zu Ende zu führen. Genscher hatte zuvor telefonisch dringlich um einen Gesprächstermin bei Baker gebeten. Er warb bei Baker für eine Verständigung in dem umstrittenen Punkt und wies nachdrücklich darauf hin, dass er selbst und wohl auch Lothar de Maizière sowie Eduard Schewardnadse am nächsten Morgen zur Unterzeichnung erscheinen würden. Er wünsche sich, dass Baker neben ihm am Tisch sitze. Auf die britische Haltung anspielend, warnte Genscher, die Weltöffentlichkeit werde dann sehen, an wem der Vollzug des feierlichen Aktes scheitere. Der amerikanische Außenminister – der im Bademantel erschienen war – versicherte Genscher, dass der Unterzeichnung letztlich keine Hindernisse in den Weg gelegt werden würden. Zugleich bekräftigte er aber die amerikanische Position und diskutierte mit Genscher die Möglichkeit, die umstrittenen Formulierungen zur „Verlegung“ im Ver-
1486 Kwizinski, S. 61 ff.
348
Kapitel 9
trag zu belassen und in einer mündlichen Erklärung darauf hinzuweisen, dass damit lediglich Großmanöver ausländischer Streitkräfte dauerhaft ausgeschlossen seien. Beruhigt kehrte der Bundesaußenminister daraufhin in sein Hotel zurück, wo er noch den amtierenden Außenminister der DDR, Ministerpräsident Lothar de Maizière, und den sowjetischen Außenminister Schewardnadse darüber in Kenntnis setzen ließ, dass die Unterzeichnung nach seiner Überzeugung stattfinden konnte. 1487 Die historischen Stunden schilderte Genscher ausführlich in seinen Erinnerungen. 1488
Ende gut – alles gut! Nach diesen letzten Turbulenzen, in denen sich viele gefragt hatten, warum die russische Führung erst jetzt und mit wenig Aussicht auf Erfolg mit dem Scheitern der Gespräche drohte, saßen alle am langen Tisch und setzten einer nach dem anderen ihre Unterschrift unter das Dokument, das nun endgültig Deutschlands uneingeschränkte Souveränität ab 3. Oktober 1990 besiegeln sollte. Der „Vertrag über die abschließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland“ bedeutete das Ende der Nachkriegszeit. Es unterschrieben Schewardnadse (UdSSR), Baker (USA), Dumas (Frankreich), Hurd (Großbritannien), Genscher (BRD) und de Maizière (DDR) in Gegenwart Gorbatschows. Wichtigster von zehn Artikeln war Artikel 7, in dem es heißt: Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. Das vereinigte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. 1489
Schewardnadse bekam einen von Genscher und de Maizière unterzeichneten und gesiegelten Brief überreicht. Er enthielt vier Punkte, die den
1487 Genscher: Erinnerungen, S. 872. 1488 Genscher: Erinnerungen, S. 865 ff. 1489 2 + 4-Vertrag. Internet: https://www.auswaertiges-amt.de/blob/243466/2851e102b 97772a5772e9fdb8a978663/vertragstextoriginal-data.pdf (letzter Zugriff: 26. 5. 2020).
Ende gut – alles gut!
349
Sowjets essenziell wichtig waren, die aber in dem soeben unterzeichneten Vertrag nichts zu suchen hatten. 1490 Im Völkerrecht gibt es dazu die unterschiedlichsten Auffassungen. Ist ein solcher Brief Vertragsbestandteil oder ist er es nicht? Die vorherrschende Meinung sagt: Wenn er im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zum Vertrag unterzeichnet wird, dann wird er zum wesentlichen Vertragsinhalt, ohne dass er justiziabel würde. Im Brief bezogen sich die beiden Außenminister Genscher und de Maizière auf die Eigentumsfragen, also die Bodenreform, zweitens auf die Pflege der sowjetischen Grab- und Kriegsdenkmäler und drittens auf die Nicht-Duldung von neonazistischen Parteien. Viertens ging es um die Frage, wie die völkerrechtlichen Verträge der DDR insbesondere mit der Sowjetunion im Wege des gegenseitigen Vertrauensschutzes in gesamtdeutsches Recht überführt werden könnten. Die Bundesregierung war bereit, der Sowjetunion bis Ende 1994 für den Aufenthalt ihrer Truppen auf DDR-Gebiet und den Abzug der Soldaten über die bereits vereinbarte Finanzhilfe von zwölf Milliarden Mark hinaus einen für die UdSSR zinslosen Kredit von drei Milliarden Mark mit einer Laufzeit von fünf Jahren einzuräumen, der den Bundeshaushalt zusätzlich mit einer Milliarde Mark für die Bankzinsen belasten würde. Mit dem Kredit werde Bonn zweckgebunden die Finanzierung der sowjetischen Stationierungskosten erleichtern, erläuterte Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU). Diese Finanzhilfen entsprachen einem heutigen Wert von rund ca. 7,4 Milliarden Euro. Zeitgleich paraphierten in Moskau die Außenminister Schewardnadse und Genscher den „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und Deutschland“, der nach dem 3. Oktober, dem für die Vereinigung Deutschlands offiziell festgelegten Datum, unterzeichnet werden sollte. 1491 Der 2 + 4-Vertrag sowie die deutsch-sowjetischen Verträge waren Gegenstand eines Vortrages, den Schewardnadse im Komitee des Obersten Sowjet der UdSSR für Auswärtige Angelegenheiten hielt. Die Teilung der Deutschen sei kein natürlicher Zustand gewesen, erklärte er. 1492 Die Verträge lösten für die sowjetische Politik zwei strategisch wichtige Fragen: Sie begründeten die Stellung des neuen Deutschland in Europa unter gebührender Berücksichtigung der Interessen aller Staaten, auch der der Sowjetunion, und öffneten den Weg für eine besonders aktive Zusammenarbeit 1490 Wurde bereits beim Deutsch-Sowjetischen Grundlagenvertrag 1972 so praktiziert. Der Hinweis auf die „Deutsche Einheit“ wurde auf diese Weise überbracht. 1491 Laut Rödder in „Geschichte der deutschen Wiedervereinigung“ beliefen sich die Kosten der Vereinigung auf zusammen ca. 83,55 Mrd. DM (= 42,72 Mrd. Euro) plus 55 Milliarden DM (= 28,12 Mrd. Euro). Also ca. 71 Mrd. Euro; vgl. Rödder, S. 82. 1492 Schewardnadse, Vortrag Oberster Sowjet.
350
Kapitel 9
zwischen der Sowjetunion und Deutschland als führender europäischer Macht. Schewardnadse behauptete, dass die Sowjetunion seit Herbst 1989 entschlossen die Position vertreten habe, den Deutschen das Recht auf eigene Wahl ihres Weges zuzugestehen. Das sei die einzig richtige und weitsichtige Entscheidung gewesen. Zu Recht wies er darauf hin, die Deutsche Frage und ihre endgültige Lösung seien das zentrale Problem der Weltpolitik gewesen. Das habe zu zugespitzten Situationen geführt, die die Welt an den Rand eines Krieges gebracht hätten. Diese Gefahr sei real gewesen, solange Deutschland geteilt gewesen sei und es im Zentrum Europas eine massive militärische Konfrontation gegeben habe. Eine solche Bedrohung existiere seit dem 12. September 1990 nicht mehr. An diesem Tag habe Moskau einen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen und die äußeren Aspekte der deutschen Einheit endgültig gelöst. Schewardnadse erläuterte die veränderte Sicherheitslage der Sowjetunion. Das neue Deutschland entstehe bereits in einem anderen europäischen politischen und militärischen Koordinatensystem. Es wäre schwierig gewesen, die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO zu akzeptieren, wenn es nicht zu einem neuen Verhältnis zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt gekommen wäre. Er stellte langfristig eine Auflösung der NATO und des Warschauer Vertrages im Rahmen neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen in Aussicht. 1493
1493 Teltschik, S. 370 f.
Kapitel 10 Die Einheit und die Ausdehnung NATO gen Osten Kurz vor der Wiedervereinigung hatte die CDU am 1. Oktober 1990 zu einem Bundesparteitag eingeladen, der Helmut Kohl als „Einheitskanzler“ feierte. Acht Jahre war Kohl jetzt Bundeskanzler und wurde nun mit 98,5 Prozent der Stimmen als CDU-Chef wiedergewählt. Teltschik hielt in seinem Tagebuch fest: „Der verdiente Lohn für eine erfolgreiche Politik der Einigung. Niemand hat so instinktsicher wie er die geschichtliche Chance genutzt und unbeirrt verfolgt.“ 1494 Am 1. Oktober 1990 suspendierten die Alliierten vorzeitig ihre Vier-Mächte-Rechte. Tags darauf beriet der Oberste Sowjet. Dabei kam es zu einer abwegigen Diskussion: Die DDR hatte gebeten, den Freundschaftsvertrag mit der UdSSR von 1975 auszusetzen. Begründung: Die DDR ist zu Ende. Doch der Oberste Sowjet diskutierte plötzlich zwei Tage lang über das Zustandekommen der deutschen Einheit. Als ihr heftigster Gegner entpuppte sich Valentin Falin. Er wurde zur Speerspitze der Attacken gegen die Deutschlandpolitik von Gorbatschow und Schewardnadse. Je näher der Zeitpunkt der Wiedervereinigung rückte, umso emotionaler wurden die Beschreibungen des langen Weges, der zu ihr geführt hatte. In Helmut Kohls „Erinnerungen“ ist zum Beispiel zu lesen: Ich „erlebte“ noch einmal die Stationen auf dem Weg zur Einheit unseres Vaterlandes – meine Gespräche in Schloss Gymnich mit der ungarischen Führung, die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer, die mich in Warschau erreichte, den großartigen Empfang, den man mir in Dresden bereitete, meine Treffen mit George Bush, Michail Gorbatschow und François Mitterrand. 1495
Auch den Vereinigten Staaten von Amerika, allen voran Präsident Bush, und den Freunden in Frankreich und Großbritannien, die in schwierigen Zeiten zu den Deutschen gehalten hätten, sprach er seinen Dank aus sowie den Reformern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, den Ungarn, den Polen und der Tschechoslowakei und auch Gorbatschow, ohne den dieser Tag der deutschen Einheit nicht möglich geworden wäre. Am Abend um 21 Uhr begann ein Festkonzert im Schauspielhaus in Ost-Berlin. Das Gewandhaus-Orchester Leipzig unter Kurt Masur spielte die Neunte Symphonie Ludwig van Beethovens. Ministerpräsident Lothar de Maizière hielt eine eindrucksvolle Ansprache. Nach dem Konzert fuhr ein riesiger Konvoi zum Reichstagsgebäude. Dort hatten sich bereits Hun-
1494 Ebda., S. 373. 1495 Kohl: Erinnerungen 1990–1994, S. 242.
352
Kapitel 10
derttausende versammelt, am Ende wurde die Zahl der Menschen auf zwei Millionen geschätzt. Um Mitternacht wurde die Bundesflagge aufgezogen. Die NATO-Frage war für das vereinte Deutschland einvernehmlich mit den Siegermächten gelöst worden. Doch auf anderer Ebene war sie weiterhin aktuell. Das konnten die Staatsmänner am 3. Oktober 1990 nicht voraussehen. Denn mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und aller von ihr beherrschten Bündnissysteme wie Warschauer Vertrag / Pakt und Comecon / RGW 1991 sollte die NATO in das entstehende Vakuum einrücken. Politisch wie militärisch. Das aber hatte mit den Verhandlungen über die deutsche Einheit nichts zu tun. Michail Gorbatschow hatte zu der Beschuldigung, der Westen habe „Versprechen gebrochen“, seit 1990 immer klar Stellung bezogen. Zuletzt in einem Interview mit der Moskauer Zeitung „Russia beyond the Headlines“ (RBTH). Darin sagte er: „Die Frage einer Erweiterung der NATO gen Osten wurde niemals in den 2 + 4-Gesprächen diskutiert. Weder von uns noch von Kohl bzw. Bush.“ 1496 Diese Erweiterungspolitik begann fast acht Jahre nach dem Mauerfall und drei Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Bildung unabhängiger Staaten aus dem ehemaligen Verbund der Sowjetunion. Ein Großteil dieser Staaten strebte nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit durch freiwilligen Antrag in die NATO. Dieser Beitritt war Folge der deutschen Einheit und Folge des Zerfalls der Sowjetunion und des Warschauer Paktes. 1997 kamen Polen, Tschechien und Ungarn ins Gespräch. Am 12. März 1999 wurden diese dann NATO-Mitgliedsstaaten. Am 29. März 2004 kamen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien dazu. Am 1. April 2009 traten Albanien und Kroatien dem Bündnis bei. Mazedonien und Montenegro sind ebenfalls am Beitritt interessiert. Mit Bosnien und Herzegowina sind Beitrittsverhandlungen geplant. Serbien hat sich selbst 2007 für „neutral“ erklärt, wohingegen Kosovo unbedingt in die NATO möchte. Auch Georgien und die Ukraine streben die NATO-Mitgliedschaft an. In einem Gespräch mit dem Autor am 17. Juni 2015 in Berlin fasste der damalige Vertraute und Berater von Kanzler Kohl, Teltschik, seine Eindrücke über Gorbatschow sehr kurz zusammen: „Ich meine, Gorbatschow ist tief enttäuscht. Die gesamteuropäische Sicherheitsordnung, die er wollte, ist nicht gekommen, die Sowjetunion existiert nicht mehr, die Hoffnung auf eine Partnerschaft mit Deutschland erfüllte sich nicht.“
1496 Wortlaut des RBTH-Interviews vom 16. 10. 2014, siehe Anhang; in Internet: www. rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_am_against_all_walls_ 40673.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Die Einheit und die Ausdehnung NATO gen Osten
353
Teltschik erinnerte dann auch an den 2 + 4-Vertrag und an das Wort von Gorbatschow: „Im 2 + 4-Vertrag ist nahezu alles penibel geregelt. Nur die Frage einer möglichen Osterweiterung der NATO kommt darin nicht vor. Gorbatschows Erklärung, dass jeder souveräne Staat das Recht habe zu entscheiden, zu welchem Bündnis er gehören wolle, galt doch nicht nur für das vereinte, souveräne Deutschland. Da ließ sich wohl kaum postulieren: ausgenommen Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und so weiter. Damit war das NATO-Problem doch grundsätzlich entschieden.“ Allerdings hatten diese Problematik die beiden Außenminister Genscher und Hurd bereits im Februar 1990 erkannt. Beide waren sich einig, dass es eine Erklärung gegenüber der Sowjetunion geben müsse, wonach die „Sowjetunion Sicherheiten brauche, dass Ungarn bei einem Regierungswechsel nicht Teil des westlichen Bündnisses werde“. Doch dieser Gedanke wurde nie wieder öffentlich wiederholt. Denn wie hätte er sich auch mit dem „Selbstbestimmungsrecht“, das gerade die Deutschen in der Bündnisfrage für sich in Anspruch genommen hatten, verstanden, wenn eben dieses Recht den jüngst unabhängig gewordenen Staaten verweigert worden wäre? Auch die Sowjetunion hat nie darauf bestanden, diese Formel in einen Vertrag zu schreiben, geschweige denn, überhaupt zu diskutieren. Gorbatschow hielt dies für „abwegig“, solange es die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag noch gab. Wenn diese Staaten es wollten, können sie auch der NATO beitreten. Das war die Logik der Ausdehnung in das ehemalige Gebiet der DDR und diese Logik à la Gorbatschow galt auch für die Erweiterung der NATO ab 1997. In der ersten Beitrittsrunde 1997 sagte der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel: „Das herausragende Element der Anpassung ist die Öffnung des Bündnisses für neue Mitgliedsstaaten. Die Unterzeichnung der Protokolle über den Beitritt Ungarns, Polens und der Tschechischen Republik heute Nachmittag ist ein historischer Moment von größter Bedeutung. Gegner von gestern werden Bündnispartner für die Zukunft! Der Wunsch, den die überwiegende Bevölkerungsmehrheit dieser Länder immer hatte – freie Bündniswahl und Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft – wird Wirklichkeit.“ 1497 Dabei verwies er auf das Recht der „freien Bündniswahl“. Was Deutschland 1990 gestattet worden war, wurde auch allen anderen Staaten, die es in Anspruch nehmen wollten, zugestanden. Fast gleichzeitig wurde im Mai 1997 in Paris die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und der Russischen Föderation vereinbart, die eine Voraussetzung für die NATO-Osterweiterung war. 1497 Interne und externe Anpassung des Bündnisses; in Internet: http://www.nato.int/ cps/en/natohq/opinions_25536.htm?selectedLocale=en (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
354
Kapitel 10
NATO und Russland bezeichneten sich darin nicht länger als Gegner. Intern wurde beschlossen, die NATO von einer militärischen zu einer meist politischen Organisation umzuwandeln. Hierzu kam auch der NATORussland-Rat (NRR) als Koordinationsforum dazu. Am 19. November 2010 beschloss die Allianz auf dem Gipfeltreffen der NATO in Lissabon ein neues Strategiepapier. Es sieht eine intensive Zusammenarbeit mit Russland vor und enthält Anpassungen im Bereich nukleare Abschreckung, Cyber-War und der Errichtung eines Raketenschildes. 1498 Die NATO selbst sah sich genötigt, im April 2014 ein Statement herauszugeben. Darin ist noch einmal der „Fall“ dargestellt. So heißt es in der Erklärung: 1499 „Immer wieder ist aus russischen offiziellen Kreisen zu hören, dass amerikanische oder deutsche Regierungsmitarbeiter 1990 versprochen hätten, dass die NATO sich nicht nach Ost- und Zentraleuropa erweitern würde und dass sie keine militärische Infrastruktur in der Nähe zu den Grenzen Russlands aufbauen oder ständig Truppen dort stationieren würde. Es wurde kein solches Versprechen gegeben, und es wurde nie irgendein Beweis zur Untermauerung der Behauptungen Russlands vorgelegt. Wenn ein solches Versprechen von der NATO selbst gegeben worden wäre, so hätte dies als formeller, schriftlicher Beschluss alle NATO-Bündnispartner erfolgen müssen. Außerdem wurde eine Erweiterung der NATO erst Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung in Betracht gezogen. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Versprechen Russland zufolge gegeben wurden, stand dieses Thema noch gar nicht zur Debatte. Auch die Unterstellung, die NATO habe versprochen, keine Infrastruktur in der Nähe zu Russland aufzubauen, ist unrichtig. Schließlich wies Gorbatschow in seinen vielen Erklärungen zu den Ereignissen 1989/90 immer wieder darauf hin, dass gegen den ‚Geist der Gespräche‘ verstoßen wurde.“ In dieser Arbeit wurde nachgewiesen, dass die USA, die NATO und die Bundesregierung immer wieder festgestellt hatten, ein vereintes Deutschland werde in der NATO bleiben. Dem war von Gorbatschow bis zum Juni 1990 immer widersprochen worden. Aber dann hatte er sich schließlich damit einverstanden erklärt. Von einem „Geist“ der Nicht-Zugehörigkeit kann daher nicht die Rede sein. Dies ist eindeutig widerlegt. Dies 1498 NATO-Lissabon-Konzept, in Internet: https://www.bpb.de/apuz/32306/das-neuestrategische-konzept-der-nato?p=all und www.johannes-varwick.de/rauf/varwickapuz-nato-strategie.pdf (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1499 NATO-Informationsblatt vom April 2014 „Russlands Anschuldigungen – eine Richtigstellung“; in Internet:. https://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_ 2014_04/20140523_140411-fact_sheet_Russia-ger.pdf f
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
355
bestätigt auch Valentin Falin. Er schrieb: „Die US-Politik unter Präsident Bush sah das Verhältnis der USA zu Europa stets im Rahmen der globalen Konzeption Washingtons. Wenn man das nicht berücksichtigt, kann man dessen Sturheit in der Frage der deutschen NATO-Mitgliedschaft weder verstehen noch erklären.“ 1500
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Die radikalen weltpolitischen Veränderungen Ende der Achtziger-, Anfang der Neunziger Jahre haben innerhalb der sowjetischen / russischen Führung zu einem Trauma geführt. Richtig ist: Es hat eine Ost-Erweiterung der NATO gegeben – aber steht sie im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland? Konnten diejenigen Staaten, die ehemals dem Warschauer Vertrag angehörten, nicht nur deshalb NATO-Mitglieder werden, weil die Sowjetunion aufgrund eigener Schwächen und Fehler implodierte und den Rang einer Weltmacht verloren hatte? Hatte die NATO nicht nur ein durch das Versagen Moskaus entstandenes Vakuum erkannt und gefüllt? Schlüsselfigur zur Beantwortung dieser Frage war Michail Gorbatschow. Mit seinem Amtsantritt am 12. März 1985 hatte ein radikaler Politik- und Ideologiewechsel in der Sowjetunion begonnen. Das Land war bankrott, heruntergewirtschaftet durch kommunistische Ideologen. Gorbatschows Ziel war es, sein Land von Grund auf zu modernisieren: – innenpolitisch durch Abkehr von der kommunistischen Ideologie hin zur freien Gesellschaft, – wirtschaftspolitisch durch Abkehr von der Plan- zur Marktwirtschaft. – handelspolitisch durch Hinwendung zu EG, BRD und USA, – rüstungspolitisch durch radikale Abrüstungsprogramme, – außenpolitisch durch Abkehr von der Breschnew-Doktrin hin zu den Prinzipen der KSZE wie „Freiheit der Wahl“ und „Selbstbestimmung“ in den bisher von der Sowjetunion durch den Warschauer Pakt kontrollierten Staaten, – sicherheitspolitisch durch den Vorschlag, die beiden Blöcke NATO und Warschauer Pakt durch ein „Gesamteuropäisches Sicherheitssystem“ zu ersetzen und die Blöcke darin aufgehen zu lassen. Die Ungarn, die Menschen in Polen und in der DDR waren die ersten, die Gorbatschow beim Wort nahmen und die „Freiheit der Wahl“ in Anspruch
1500 Falin, Konflikte im Kreml, S. 154.
356
Kapitel 10
nahmen. Die Ungarn öffneten ihre Grenzen zum Westen, in Polen kam eine frei gewählte Regierung an die Macht, und in der DDR stürmte das Volk den „antifaschistischen Schutzwall“ in Berlin. Gorbatschow untersagte ausdrücklich die Anwendung von Gewalt und hoffte, dass die reichen Länder des Westens, namentlich die USA und die BRD, sein Verhalten mit immer neuen Hilfsgütern honorierten. Aber: Gorbatschow war immer noch Generalsekretär einer kommunistischen Partei, die den Westen als „Feind“ gesehen hatte. Der Westen traute dem neuen Mann nur sehr zögerlich. Je langsamer in der Sowjetunion der Wandel vor sich ging, umso unruhiger wurden die Völker in der Sowjetunion und umso größer wurde die Hoffnung auf Hilfe von außen. Doch die Bereitschaft dazu war gering. Warum sollte man dem Mann helfen, der die „Freiheit der Wahl“ zwar predigte, aber gerade dabei war, den Litauern diese „Freiheit der Wahl“ wieder zu nehmen, als sie sich von Moskau unabhängig machen wollten. 1501 Warum sollten die USA Gorbatschow mit Milliarden unter die Arme greifen, wenn er fast ebenso viel, wie er vom Westen haben wollte, nach Kuba weiter transferierte? Das konnte ein US-Präsident seinem Volk nicht erklären. Und Reagan und Bush wollten es auch nicht. Warum sollte ein deutscher Bundeskanzler Gorbatschow und dessen Perestroika mit Milliarden und besonderen Verträgen stützen, wenn dieser es strikt ablehnte, über die deutsche Wiedervereinigung und die NATO-Einbindung ganz Deutschlands zu reden? Und warum schließlich sollten sich die ost- und mitteleuropäischen Staaten, die gerade dabei waren, sich aus der Umklammerung von Moskau und aus dem Verbund des „Warschauer Vertrages“ zu lösen, sich in ein neues, von Gorbatschow präferiertes „Gesamteuropäisches Sicherheitsnetz“ begeben, das auch noch von der Sowjetunion dominiert wurde? Solange die Berliner Mauer stand und Symbol für die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas war, waren das noch nicht einmal Gedankenspiele. Obwohl in Ungarn und Polen Regierungen mit Beteiligung von nicht – kommunistischen Ministern an die Macht kamen, gehörten die beiden Staaten weiterhin dem „Warschauer Vertrag“ an. Solange die Mauer in Berlin stand und solange noch Truppen der Sowjetarmee in allen Staaten des „Warschauer Vertrages“ stationiert waren, fehlte Moskaus Statthaltern der Mut, sich vom Kreml zu lösen und den Rückzug der sowjetischen Truppen von ihren Territorien zu fordern. Dies geschah erst, als die Mauer zu wanken begann, weil die Menschen in der DDR gegen die SED-geführte Regierung revoltierten und
1501 Details siehe Anhang.
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
357
auf die Straße gingen. Die Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich ermöglichte den DDR-Bürgern die weitgehend gefahrlose Flucht in den Westen. Die Mauer hatte ihren Zweck verloren. Das Sicherheitssystem des gesamten „Warschauer Vertrages“ war zerbrochen. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 war die DDR am Ende. Dies auch und vor allem, weil Gorbatschow bereits 1985 auf die Breschnew-Doktrin und damit auf den Einsatz von Gewalt verzichtet hatte. Der Mauerfall hatte für Gorbatschow zwangsläufig eine andere Bedeutung als für Bush und Kohl, für die sich das Tor zur Wiedervereinigung zu öffnen schien. Gorbatschow wie auch Krenz als der neue Mann an der Spitze der DDR gingen eine Zeitlang davon aus, dass die Grenze zwar geöffnet wurde, die DDR aber als souveräner Staat weiter Bestand haben würde. Der Gedanke an eine Wiedervereinigung war ihnen fremd. Von daher wurden in Moskau keine neuen Beraterstäbe eingesetzt, die jetzt prüfen sollten, welche Folgen sich aus der Grenzöffnung für die Sowjetunion, den „Warschauer Pakt“ und das Verhältnis zu BRD und USA ergeben würden. Gorbatschow schloss aber sehr bald aus seinen Gesprächen mit Krenz und dann Modrow und Gysi, dass die DDR ohne Hilfe der Sowjetunion nicht bestehen konnte. Er wusste aber auch, dass er für seine Reformen in der UdSSR den Westen brauchte, das System ohne die finanzielle Hilfe des bisherigen „Klassenfeindes“ zusammenbrechen würde. Um das eigene Überleben bemüht, konnte Gorbatschow nicht auch noch das der „Bruderländer“ sicherstellen. Ganz anders die Situation in den USA und in Bonn. Am Rhein wie auch am Potomac begannen die Deutschland-Experten zu eruieren, was zunächst die Öffnungspolitik für Europa und Deutschland und dann der Mauerfall im Hinblick auf eine mögliche Wiedervereinigung bedeuten könnten. Für Bundeskanzler Kohl stand zunächst ein „konföderativer Staatenbund“ im Vordergrund. Die Diskussion um die NATO- bzw. Bündnisfrage, wie sie dann später einsetzte, erübrigte sich zu diesem Zeitpunkt. In den USA war Präsident Bush eher zurückhaltend. 1502 In Moskau ging Gorbatschow davon aus, dass die Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland – wenn überhaupt, ein fernes Ziel wäre. Er setzte auf die neuen Machthaber in Ost-Berlin, die nach den Massenprotesten gegen das SED-Regime die Regierung stellten. Gleichzeitig startete er eine diplomatische Offensive gegen das Aufkommen jedweden Einheitsgedankens. Vor allem richtete sich seine Agitation gegen den ZehnPunkte-Plan von Kanzler Kohl, den dieser am 28. November 1989 im
1502 Bush / Scowcroft, S. 190.
358
Kapitel 10
Bundestag vorlegte. Gorbatschow erkannte, dass West- und Ostdeutsche unisono plötzlich die Einheit als Ziel propagierten. Das genau hatte er nicht erwartet. Denn für die Sowjetunion war die Deutsche Frage primär auch eine Sicherheitsfrage. Was immer Gorbatschow an Visionen wie z. B. das „gemeinsame europäische Haus“ entwickelte: Diese Modelle einer neuen Sicherheitsstruktur funktionierten nur unter Einbindung der beiden deutschen Staaten. Und auch der wirtschaftliche Umbau der Sowjetunion konnte nur mit Hilfe der Deutschen gelingen – und zwar mit der der „reichen“ Bundesrepublik. 1503 Erst als die Machtbasis der SED zerfiel, Alt-Kader wie Krenz und Mielke usw. abgelöst waren und mit Hans Modrow ein neuer „starker Mann“ an die Spitze der DDR gelangte, der sich dann als eher schwach entpuppte, wurde Gorbatschow bewusst, dass der bisher treueste Vasall der UdSSR, die DDR, seinem Ende zuging, nicht mehr zu halten war. 1504 Hinzu kam, dass all seine Bemühungen, eine Front gegen den Einheitsgedanken zu formieren, gescheitert waren. Nun vollzog sich in Gorbatschow etwas, womit niemand gerechnet hatte. Er gestand den Deutschen die Vereinigung von BRD und DDR zu einem Staat zu, und die Frage ist, ob er zu diesem „Opfer“ bereit war, um seine eigentlichen Ziele, nämlich das wirtschaftliche Überleben der Sowjetunion und die Sicherung seiner Machtstellung zu erreichen. Gorbatschows Beraterkreis formulierte im Januar / Februar 1990 im Zusammenhang mit der vom Westen gewünschten Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung eine Reihe von Forderungen, aber keine davon wurde mit einer Conditio sine qua non verknüpft. Es waren Gesprächsgrundlagen, die vorerst auch noch geheim blieben. Der damalige Berater von Gorbatschow, Valentin Falin, fasste die Lage später so zusammen: „Unbedachtsamkeit rächt sich immer. Am 10. Februar wurde die Vereinigung Deutschlands als de facto gelöste Aufgabe verkündet. Ohne jegliche Bedingungen, ohne die Zusammenhänge mit der Regelung der äußeren Aspekte aufgeklärt zu haben. Die Deutschen erhielten damit eine Carte blanche, was, wie und wann zu tun war.“ 1505 In der DDR vollzog die neue (sozialistisch-kommunistische) Regierung diese Wende nach. Nach einem Besuch in Moskau verkündete Ministerpräsident Modrow die neue Parole „Deutschland, einig Vaterland“ und legte einen Plan zur Konföderation der beiden deutschen Staaten vor. Ihm dürfte klar gewesen sein, dass der Westen diesem Plan nicht zustimmen konnte, weil darin der Austritt Deutschlands aus der NATO gefordert 1503 Albrecht, S. 171. 1504 „Die SED zerfällt. Die Vereinigung ist unausweichlich.“, in: Schachnasarow, S. 130. 1505 Falin, Konflikte im Kreml, S. 161.
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
359
wurde. Der Haken dabei: Gorbatschow hatte Modrow genötigt, diesen Passus aufzunehmen, wohl wissend, dass das Modrow-Papier damit als Diskussionsgrundlage nicht mehr in Frage kam. 1506 Der Kreml versäumte es, bewusst oder unbewusst, dem Westen Bedingungen für die deutsche Wiedervereinigung zu stellen. Kein Ultimatum, kein Junktim, kein „Entweder – oder“, nichts dergleichen war aus Moskau zu hören. Dieses war die Idee von Berater Tschernjajew und sollte hinfort als „Tschernjajew-Formel“ die Deutschlandpolitik Moskaus bestimmen. Andererseits blieb vieles damit für Gorbatschow offen, wenn er denn die Zeit für Alternativen gehabt hätte. Im Frühsommer 1990 dachte er aber noch in langen Zeiträumen und langen Übergangsfristen. 1507 Mit dem Kohlbesuch am 10. Februar 1990 in Moskau wurde der erste Eckstein für die Einheit gesetzt. Gorbatschow stimmte den Gesprächen zwischen den beiden deutschen Staaten mit dem Ziel der Erlangung der Einheit zu. Gleichzeitig wurde ihm vom US-Außenminister Baker in Moskau zugesagt (Baker gebrauchte den Begriff „assurance“ = versichern), dass die NATO sich keinen „inch ostwärts“ bewegen werde. Aber Baker übermittelte nur einen Gedanken. Er war nicht Präsident und war gar nicht befugt, verbindliche Zusagen oder auch nur bindende Versprechungen abzugeben. Dasselbe galt für den bundesdeutschen Außenminister Genscher. Dies hätte allein nur durch einen förmlichen Vertrag zwischen der NATO und der Sowjetunion geschehen können. Zudem wäre auch fraglich gewesen, ob dieser Vertrag, der von einem Staat, der Sowjetunion, geschlossen worden wäre, noch Bestand und Bindungswirkung nach dem Völkerrecht gehabt haben könnte, weil dieser Staat ab 1991 nicht mehr existierte. 1508 Niemand, weder Gorbatschow noch seine Berater, wiederholte den Satz von Baker in einer neuen Variante, die hätte heißen müssen: Die deutsche Einheit gestatten wir NUR, wenn die NATO sich um keinen Zentimeter nach Osten bewegt. Gorbatschow glaubte fälschlicherweise noch immer, er habe genügend Zeit, um den Prozess mitzugestalten.
1506 Albrecht, S. 171. 1507 Ebda., S. 172. 1508 In Russland wird dieser „Fehler“ durchaus gesehen. So war in der (sehr polemischen) Sendung Swetlana Kalmykowa, 2. Oktober 2014, Radio Stimme Russlands vom 2.10.2014 um 13.21 Uhr die Sendung mit dem Titel „Nato-Osterweiterung hat das Vertrauen untergraben“ zu hören. Kernsatz: „Die Vertreter der Allianz behaupten, man habe keinerlei Versprechen gebrochen, weil die keiner gegeben habe. Offizielle Dokumente wurden tatsächlich nicht unterzeichnet. Alle Versprechungen wurden nur mündlich gemacht. Die russischen Experten meinen, dass sei Gorbatschows Hauptfehler gewesen. Er habe rechtzeitig keine schriftlichen Garantien von der NATO verlangt.“
360
Kapitel 10
Auch wenn er immer wieder betonte: „Einheit Ja – NATO Nein“ änderte das nichts daran, dass er dafür keine Verbündeten mehr hatte. Mit Beginn der 2 + 4-Verhandlungen ab Mai 1990 wurde die NATO / Bündnisfrage bedeutsam. Es zeigte sich, dass Moskau seine Haltung nicht geändert hatte: Einheit Ja – NATO Nein. Aber es gab immer noch kein Junktim, kein Ultimatum. Nur die reine Aussage: Das vereinte Deutschland soll und darf nicht Mitglied der NATO sein. Jetzt wurde fieberhaft nach einer Formel gesucht, nach der Deutschland in der NATO bleiben konnte bzw. zumindest ein Teil davon. Selbst Kanzler Kohl fand einen Vorschlag Genschers, der auch von Baker kurzfristig übernommen wurde, für eine kurze Zeit praktikabel. Diese Formel hieß: Die BRD bleibt in der NATO, das Territorium der dann nicht mehr existierenden DDR im Warschauer Pakt. Daraus sollte eine Zone mit „besonderem militärischen Status“ werden. Die schließlich annehmbare Formel fanden die Berater von Bush in Washington. Ihr Argument war so einfach wie logisch: Wenn Deutschland wiedervereinigt ist, und zwar über den Weg des Artikel 23 Grundgesetz, dann gelangt die bisherige DDR ganz automatisch unter den Schutzschirm der Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages. Die Alternative wäre gewesen: Deutschland tritt aus der NATO aus. Das aber schied von vornherein aus, weil sich die USA (anders als Moskau) schon Stunden nach dem Mauerfall festgelegt hatten: Der deutschen Einheit würden sie nur bei gleichzeitiger NATO-Mitgliedschaft zustimmen. Der „gordische Knoten“ in der NATO- /Bündnisfrage wurde schließlich am 3. Juni 1990 in Washington durchschlagen. Gorbatschow ließ sich überzeugen, dass sein Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft sinnlos war. Aus der Distanz betrachtet war dies ein Geben und Nehmen: Gorbatschow gab sein Einverständnis zu Wiedervereinigung und zur NATO-Zugehörigkeit Deutschlands und nahm im Gegenzug Milliardenbeträge sowie die Zusagen für deutliche Abrüstungsmaßnahmen durch die USA. 1509 Ein besonderer Vertrag mit einer Reihe von wirtschaftlichen Hilfen, großzügigen Krediten oder Wohnungsbau für rückkehrende Sowjetsoldaten. Mit dem „Koppelgeschäft“ 1510 (Waigel) konnten offensichtlich beide Seiten gut leben. Zwar gab es nie eine direkte Forderung: Geld gegen Einheit und NATO, aber die Erkenntnis bei Gorbatschow war gereift, dies als „Geschäft“ zu erkennen und anzunehmen. Jetzt nannte er Forderungen in DM und war bereit, dafür das zu geben, was Kohl haben wollte: Ein vereintes Deutschland gegen Hilfe beim Umbau seines Landes. Ein Telefonat nur wenige
1509 Siehe Anhang. 1510 Bierling, S. 93 ff.
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
361
Tage vor der Einheit, in dem er geradezu ultimativ mehr Geld verlangte, zeigte, dass Gorbatschow im Kapitalismus angekommen war. Gorbatschows Suche nach Überlebensstrategien für sein marodes Riesenreich hatten sich lange vor dem Amtsantritt herausgebildet und sich in logischen Schritten vollzogen: 1. Erkenntnis: Die Sowjetunion hinkt in allen Bereichen dem Westen hinterher. 1511 Offenlegung der Situation erstmalig auf dem 27. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986. 2. Erkenntnis: Nur MIT und nicht GEGEN den Westen lässt sich die Sowjetunion modernisieren. 3. Erkenntnis: Die Sowjetunion braucht daher Partner und keine Gegner. 4. Erkenntnis: Europa ist unser Nachbar und Partner. 5. Erkenntnis: Zur Sowjetunion gehören eben nicht die westlichen Staaten einschließlich der DDR. 6. Erkenntnis: Europa unter Einbeziehung der Sowjetunion braucht eine neue Struktur, ein „Europäisches Haus“, in dem alle Staaten gleichberechtigt sind. 7. Erkenntnis: Daher müssen alle Staaten selber entscheiden, zu wem sie gehören wollen: Die Staaten in der Sowjetunion müssen ihr Recht wahrnehmen dürfen, gemäß sowjetischer Verfassung über Austritt oder Dabeibleiben zu entscheiden. 8. Erkenntnis: Die westeuropäischen Staaten, die zur NATO gehören, müssen selbst darüber entscheiden, ob sie in der NATO bleiben wollen, und die NATO muss frei sein, zu entscheiden, ob sie sich erweitert, z. B. durch Aufnahme der UdSSR. 1512 9. Erkenntnis: Die Sowjetunion muss daher die Fronten aufbrechen und mit dem Westen ins Geschäft kommen.
1511 Vgl. Analyse von Prof. Theodor Schweissfurth in Internet: https://www.zaoerv.de/ 49_1989/49_1989_4_a_711_777.pdf (letzter Zugriff: 7. 3. 2017). 1512 Gemäß NATO-Vertrag Artikel 10. Dort heißt es: Die vertragschließenden Staaten können auf Grund eines einstimmig getroffenen Übereinkommens jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebietes beizutragen, zum Beitritt zu diesem Vertrag einladen. Jeder auf diese Weise eingeladene Staat kann durch Niederlegung seiner Beitrittserklärung bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ein Partner dieses Vertrages werden. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika wird jedem der vertragschließenden Staaten die Niederlegung einer solcher Beitrittserklärung mitteilen.
362
Kapitel 10
10. Erkenntnis: Durch den Mauerfall war dies plötzlich möglich geworden. Die Berater um Gorbatschow, wie Portugalow, sahen dies sofort. Sie sprachen schon im November 1989 von Einheit und Wiedervereinigung. 11. Erkenntnis: Gorbatschow wurde durch die Besuche von Modrow und Gysi klar, dass die DDR ökonomisch – und politisch – nicht mehr zu retten war. 12. Erkenntnis: Theoretisch bestanden diese Möglichkeiten: Entweder das „Europäische Haus“ bauen mit zwei deutschen Staaten, die zueinander wollten, oder den Deutschen – ohne NATO – die Einheit im „Europäischen Haus“ geben, jedoch innerhalb einer vagen „europäischen Sicherheitsstruktur“. 13. Erkenntnis: USA und BRD lehnten die europäische Sicherheitsstruktur ab, weil es dann keinen Schutzschild mehr gegeben hätte – vorausgesetzt, die Sowjetunion blieb so wie sie ist. Gorbatschows Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“ stieß in den USA auf Widerstand, denn es hätte bedeutet, dass darin kein Platz für die USA wäre. 1513 14. Erkenntnis: Kohl forciert gegen den Wunsch der Sowjets, Thatcher und Mitterrands die Einheit. Gorbatschow erklärt: Einheit Ja, aber nur ohne NATO. Eine größere NATO, die sich nach Osten ausdehnt, lehnt er strikt ab. 15. Erkenntnis: Trotz aller Mahnungen aus Moskau fährt der Einheitszug viel schneller als gedacht. Vergebens versucht Moskau zu stoppen oder doch wenigstens zu verlangsamen. 16. Erkenntnis: Gorbatschow sieht, dass er Kapital aus dem Einheitszug schlagen kann. Es zeichnet sich der Deal ab: Helft ihr uns bei der Einheit, helfen wir euch mit Krediten. 17. Erkenntnis: Gorbatschow erkennt, dass seine Vorstellungen einer neuen europäischen Sicherheitsordnung zeitgleich mit der deutschen Einheit umsetzbar sind. Und er bewegt sich auf USA und BRD zu. Sein Eigeninteresse an einer Modernisierung der Sowjetunion nimmt überhand. 18. Erkenntnis: Gorbatschow ist einer der Gewinner der Einheit: Kreditzusagen und die „Demilitarisierung“ der NATO sind der Lohn für sein Umschwenken. 19. Erkenntnis: Der Westen hält nach 1990 seine Zusagen ein: Die NATO geht eine Partnerschaft mit Russland ein. Die EU hilft Jelzin. Doch Putin dreht das Rad zurück. 2014 erklärte er die NATO wieder zum „Gegner“. 1513 Rede von Bush in Mainz, Rheingoldhalle, 31. Mai 1989; in Internet: www.chronikder-mauer.de/material/178891/rede-von-us-praesident-george-bush-in-mainz31-mai-1989 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
Lehrstück der Diplomatie
363
Lehrstück der Diplomatie Mit der Idee des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ von Gorbatschow wurde die Möglichkeit einer Vereinigung beider deutschen Staaten real. Dies erkannten die Analytiker in Washington sehr früh. Ein gemeinsames Haus, das durch Mauern getrennt wäre, ist kein „gemeinsames“ Haus. Diese Vorstellung musste Gorbatschow nahegebracht werden. Wie sich in den vielen Gesprächen mit ihm herausstellte, waren seine Überlegungen in dieser Hinsicht inkonsequent. Er wollte weder an der DDR noch an den Europa durchschneidenden Grenzanlagen rütteln. Solange die Mauer stand, waren Gedankenspiele zur Vereinigung der deutschen Staaten ohnehin nur Utopie. Ob sie ohne Mauerfall gekommen wäre, darf bezweifelt werden. Möglicherweise wäre eines Tages eine Konföderation über den Artikel 146 GG zustande gekommen. Allein der Fall der Mauer am 9. November 1989 ermöglichte eine Entwicklung, an die am Tag zuvor noch nicht zu denken war. Die USA sahen die Chance, den Kommunismus in Europa zu besiegen und ergriffen sie. In vielen Begegnungen und Telefonaten wurde Gorbatschow deutlich gemacht, dass die NATO sowohl in Europa als auch in Deutschland bleiben würde. 1514 Dies war für den Mann im Kreml nur bedingt nachvollziehbar, aber er reagierte rational und pragmatisch. Seine Pläne eines „Gemeinsamen Hauses“ und einer demokratischen Reform im Land selbst hatten absolute Priorität. Sie waren nur mit dem finanzkräftigen Westen umzusetzen. Dazu musste eine Formel gefunden werden, die die Sowjetunion zufriedenstellen konnte. Die Kunst der Diplomatie bestand darin, aus den Formulierungen feste Zusagen oder Verträge zu machen. Gorbatschow musste dazu erkennen, dass das Feindbild „NATO“ gar nicht existierte, sondern ein Bild der Selbsttäuschung war. Als er bereit war, diese Selbsttäuschung zu erkennen und gleichzeitig die NATO die „Hand der Freundschaft“ ausstreckte, gab es kein Argument mehr, den Veränderungen in Europa und der deutschen Vereinigung die Zustimmung zu verweigern. 1515 Gorbatschow erhielt die Zusage, mit ihm das „Gemeinsame Haus Europa“ aufzubauen. Diese Zusage wurde auch eingehalten. Bis 1994 haben alle verabredeten Institutionen funktioniert. Die Zusammenarbeit mit Russ-
1514 Eine gute Zusammenfassung bei Hutchings, S. 441–449. 1515 Vgl. dazu Interview Dieter Kastrup in Spiegel, Nr. 40/2015. Kastrup sagt dort: „Die Sowjets hatten über Jahrzehnte ihrer Bevölkerung die NATO als die Verkörperung alles Bösen vor Augen geführt. Wir mussten also versuchen, die NATO zu entdämonisieren.“
364
Kapitel 10
land war zufriedenstellend. Erst mit Putin wurden die Feindbilder langsam wiederaufgebaut. Daher sind die Verhandlungen um die deutsche Einheit und die Bündnisfrage ein Lehrstück für gelungene offene und erforderlichenfalls verschwiegene Diplomatie. Sie sind aber vor allem ein Lehrstück für die Tatsache, dass ohne grundlegende Beratung das Festhalten an einem Ziel nicht möglich ist. Gorbatschow hatte einen Wunsch: das „Gemeinsame Europäische Haus“. Er hatte aber keinen Plan, um ihn Wirklichkeit werden zu lassen. 1516 Diesem vagen, nicht näher definierten Ziel waren dennoch alle diplomatischen Aktivitäten untergeordnet. Mit dieser Grundidee wollte Gorbatschow eine völlige neue Grundordnung auf Friedensbasis und Zusammenarbeit in Europa erreichen. Daher spielten Vorstellungen, man könne den Deutschen die „Einheit verkaufen“, keine große Rolle. So erklärt es sich, dass hier – im Vergleich zu den Kosten der Einheit in Deutschland – keine großen Forderungen gestellt wurden. Die „ökonomische Dimension“ der Jahre 1989/90 spielte nur eine kleine Rolle in der sowjetischen Neuordnungspolitik. 1517 Die Basis für alle Verhandlungen und Gespräche war die Überzeugung: Verständnis herstellen – Vertrauen schaffen. Unter Reagan herrschte noch Misstrauen, unter Bush schon Verständnis, bis sich die bisherigen Gegner schließlich im Jahre 1990 vertrauten und einander trauten. 1518 Die Bündnisfrage war das Kernproblem der Verhandlungen 1990. Die Sowjetunion wollte zu Beginn überhaupt nicht darüber reden. „Das ist völlig taktlos“, so Schewardnadse im Frühjahr 1990. 1519 Im Warschauer Vertrag verfolgten alle Verbündeten der Sowjetunion eine andere Linie. Auf dem Außenminister-Treffen des Bündnisses Mitte März 1990 konnte keine Einigung darüber erzielt werden. Die Frage der Bündniszugehörigkeit war sicherlich der schwierigste Streitpunkt. Diese Frage wurde aber deswegen gut gelöst, weil das übergreifende Ziel aller Beteiligten die Einheit Deutschlands war.
1516 Ebda. Kastrup: „Die Position der Sowjetunion 1990 war nicht immer durch Klarheit gekennzeichnet. Im Außenministerium saßen Betonköpfe, die in der deutschen Teilung die endgültige Antwort der Geschichte auf den Zweiten Weltkrieg sahen. Zugleich sind Vorschläge aus Moskau auf den Tisch gekommen, die man schlicht bizarr nennen kann. Was den Ausschlag gegeben hat, dass Gorbatschow in der NATO-Frage nachgegeben hat, kann ich Ihnen nicht sagen. (. . . ) Es war wie in Goethes Zauberlehrling: Gorbatschow wurde die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr los.“ 1517 Rödder: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, S. 82. 1518 So Tschernjajew, in Savranskaya, Masterpieces of History, S. XXI (Vorwort). 1519 International Herald Tribune, 8. März 1990, in: Albrecht, S. 56.
Lehrstück der Diplomatie
365
Jeder der sechs an den 2 + 4-Verhandlungen beteiligten Staaten sah seine Interessen befriedigt: Die Sowjetunion bekam Hilfe für die inneren Reformen. Die USA blieben im Rahmen der NATO in Europa in unveränderter Stärke engagiert. Großbritannien und Frankreich sahen das vereinte Deutschland eingebunden in eine starke politische NATO. Auch die Nachbarn Deutschlands profitierten von der Vereinigung. So wurden Polens Grenzen vom deutschen Staat nunmehr endgültig anerkannt. Polen gebührt zudem der allergrößte Dank der Deutschen. Denn ohne die Demokratisierung beginnend mit der Gewerkschaftsbewegung 1980 wäre in Polen ein demokratischer Wandel innerhalb des kommunistischen Systems gar nicht möglich geworden. Ohne diesen Wandel aber hätte es auch keine Veränderungen im gesamten System des Warschauer Paktes geben können. Die Polen waren es, die durch ihre demokratische Bewegung Gorbatschow dazu bringen konnten, über die notwendigen inneren Reformen in der Sowjetunion nicht nur nachzudenken, sondern sie auch umzusetzen. Ohne Polen wäre also keine demokratische Bewegung in Gang gekommen. Ohne Polen hätte es daher auch keine Vereinigung der deutschen Staaten geben können. Eine weitere Frage muss beantwortet werden: Wäre heute eine Vereinigung, wie sie 1990 vollzogen wurde, ebenso möglich? Die Antwort ist ein klares Nein. 1990 war die Sowjetunion wirtschaftlich am Ende. Daher wurde Hilfe im Westen gesucht. Als Gegenleistung wurde die Idee des europäischen Friedens in Form des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ geboten. Das bedeutete das Ende des Kalten Krieges. Eine weitere Hilfe war die ganz konkrete Unterstützung durch Kredite. Ohne konkretes Feindbild waren die Militärblöcke sinnlos, wurden die Grenzen durchlässig, Die Vereinigung der Teile Europas, die dies wollten, wie die Deutschen, war eine logische Folge. Heute stellt sich die Lage anders dar: Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion hat durch die Politik von Gorbatschow alle seine Bündnisstaaten verloren. Russland hat durch die Besetzung der (ukrainischen) Krim gezeigt, dass es eine expansive Politik gegenüber seinen Nachbarn verfolgt. Dies stellt sich für alle Staaten, vornan Polen, als eine Bedrohung dar. Putin als Präsident verfolgt damit das Ziel, Russland wieder in eine beherrschende Rolle in Europa zu bringen. Dies kann nur die NATO verhindern. Daher war es logisch, dass die NATO sich nach 1991 nicht aus Europa zurückzog, sondern den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten einen Schutzschild anbot. Sie sind diesem freiwillig beigetreten.
366
Kapitel 10
Gäbe es die beiden deutschen Staaten noch, wäre es wohl kaum möglich, diese mit Zustimmung Russlands unter Beibehaltung des NATOSchirmes zu vereinen. Die derzeitige Paranoia russischer Außenpolitik wäre ein nicht zu überwindendes Hindernis für eine dann mögliche Vereinigung der beiden Staaten. Das wäre anders, wenn Putin die Vereinbarungen, die nach 1991 mit Russland getroffen wurden, eingehalten hätte. Das aber ist nicht geschehen. 1520 Andererseits haben weder die USA noch die Mitgliedsstaaten der EU den Plan von 1990, NATO und Warschauer Pakt in einem neuen „Gesamteuropäischen Sicherheitssystem“ aufgehen zu lassen, in dem dann nicht nur die EU-Staaten, sondern auch Russland Mitglied werden sollte, überhaupt umzusetzen begonnen. Dies war ein Versprechen von Bush und Kohl gegenüber Gorbatschow 1990 gewesen. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn die NATO sich aus russischer Sicht wieder zum „Feind“ wandelte. 1521 So weltpolitisch bedeutsam – und wohl auch einzigartig – das „Lehrstück der Diplomatie“ auch war, so sehr es die politische Landkarte verändert hat; es wurde nicht fortgeführt, stattdessen wurden längst überholt geglaubte Verhaltensmuster neu belebt.
1520 Diese Frage wirft auch Tschernjajew in seinem Vorwort zu Savranskayas Masterpieces of History, S. XXII, auf – und schließt resigniert: „Gorbatschow war seiner Zeit voraus. Europa war noch nicht bereit, diese Gedanken in Politik umzusetzen.“ 1521 Shifrinson: Deal or No Deal? S. 43 f.
Anhang Solidarno´s´c 1522 Solidarno´sc´, „Solidarität“, hieß die polnische Gewerkschaft, die 1980 aus der Streikbewegung in den Danziger Werften hervorging. Bereits am 31. August 1980 hatte die kommunistische Regierung Polens mit dem Streikführer und Arbeiter Lech Wałe˛sa in Danzig eine Vereinbarung getroffen, wonach die herrschende Partei PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) erstmals in einem kommunistischen Land unabhängige Gewerkschaften anerkannte, das Streikrecht und den Zugang zu den Massenmedien einräumte. Innerhalb weniger Wochen verlor die Partei die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisierten Arbeiter und damit ihre Legitimationsbasis als „führende Kraft“ beim Aufbau des Sozialismus in Polen. Im November 1980 waren von den 16 Millionen Werktätigen Polens rund 10 Millionen der Solidarno´sc´ beigetreten. Unter den Mitgliedern waren über eine Million Mitglieder der PZPR. Große Konflikte zwischen der Solidarno´sc´ und der PZPR in den zwölf Monaten zwischen der Unterzeichnung der Vereinbarungen in Stettin, Danzig und Jastrz˛ebie und dem ersten Landeskongress der Gewerkschaft im September / Oktober 1981 machten deutlich, dass sich die Staats- und Parteiorgane keineswegs mit einer unabhängigen Gewerkschaft abgefunden hatten. Innerhalb der kommunistischen Partei und Regierung kam es zu Spannungen. Im Februar 1981 übernahm General Wojciech Jaruzelski die Regierung als Ministerpräsident, er blieb Verteidigungsminister und behielt den Oberbefehl über die Streitkräfte. Am 5. Juni 1981 drohte das ZK der KPdSU in Moskau mit Intervention, wenn „die Partei sich nicht in der Lage sähe, die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘ (PZPR – Solidarno´sc´) zu beenden“. 1523 Im Oktober 1981 übernahm Ministerpräsident und Verteidigungsminister Jaruzelski auch das Amt des Ersten Sekretärs des ZK der PZPR. Immer offener wurde von der Parteiführung mit einem gesetzlichen Streikverbot gedroht. Das politische Klima verschärfte sich in den Novemberwochen zusehends. Am 12. Dezember kündigte die Gewerkschaftsführung in Danzig an, sie werde für den Fall, dass in der für den 15. und 16. Dezember einberufenen Parlaments-/Sejmsitzung der Regierung Sondervollmachten
1522 Deutsch-polnische Beziehungen; in Internet: www . bpb . de / geschichte / zeit geschichte / deutsch - polnische - beziehungen / 39757 / polen - als - vorreiter - des - um bruchs?p=all, (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1523 vgl. dazu auch Europa Archiv 17/1981, S. D445-456, Rede von Breschnew auf dem 16. Parteitag der KP der CSSR vom 6.–10. April 1981
368
Anhang
erteilt würden, am 17. Dezember einen nationalen Protesttag durchführen. Gleichzeitig verlangte sie eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung innerhalb der nächsten zwei Monate. Am 13. Dezember 1981 verhängte Ministerpräsident und Parteisekretär General Jaruzelski über Polen das Kriegsrecht und setzte einen von ihm geleiteten „Armeerat der nationalen Errettung“ (WRON) ein. Wałe˛sa und andere Mitglieder der Solidarno´sc´ sowie eine große Zahl von Intellektuellen und Aktivisten der Gewerkschaft und anderer Verbände wurden interniert, aber auch ehemalige Staats- und Parteifunktionäre, u. a. der Ex-Parteisekretär Gierek. In einer in der Sowjetunion gedruckten Proklamation und in einer Rundfunkansprache rechtfertigte Jaruzelski die Verhängung des Kriegsrechts mit Umsturzplänen der Solidarno´sc´, die „Anarchie, Willkür und Chaos“ und einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten. Nach Aufhebung des Kriegsrechts (22. 7. 1983) stabilisierte General Jaruzelski durch die Personalunion von Erstem Sekretär des ZK der PZPR, Regierungschef und Oberbefehlshaber der polnischen Armee seine herausragende Position im Machtgefüge. Der Umfang des politischen „Dialogs“, der von der Jaruzelski-Führung in der Übergangszeit bis zum Beginn von „Glasnost“ und „Perestroika“ in der Sowjetunion angeboten wurde, reichte weit über das hinaus, was die Parteiführungen in den anderen sogenannten „realsozialistischen“ Staaten ihren Gesellschaften zu bieten hatten. Aber er erreichte nicht die wahre Opposition. Die meisten Arbeiter waren von Anfang an skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten einer Wirtschaftspolitik ohne Dialog mit authentischen Gewerkschaften und boykottierten durch ihre Passivität die Umsetzung von angekündigten Wirtschaftsreformen. Darüber hinaus war die Solidarno´sc´ mit der Verabschiedung des Gewerkschaftsgesetzes am 8. Oktober 1982 verboten worden. Seit 1982 auf Betriebsebene von der PZPR initiierte neue Gewerkschaften suchten nach einem unabhängigen Profil, wurden aber von einem Großteil der Arbeiter abgelehnt. Beginnend mit dem 10. Parteitag der PZPR (29.6.-3. 7. 1986) wurde die „sozialistische Erneuerung“ propagiert. Alle politischen Gefangenen wurden entlassen. In einem Referendum im November 1987 verfehlte das von der Regierung vorgestellte Programm einer Wirtschaftsreform und politischer Reformen die erforderliche absolute Mehrheit der Wahlberechtigten. Nach dieser politischen Niederlage, den Streiks im April / Mai 1988, der geringen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und der zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, dass ohne direkte politische Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. Die Gruppe um Jaruzelski befürchtete ganz einfach, in kürzester Frist nicht mehr Herr der Lage zu sein und den chaotischen Verhältnissen nicht mehr Einhalt gebieten zu können. Die
Solidarno´sc´
369
Idee des „Runden Tisches“ wurde geboren. Mit dem „Runden Tisch“ in Polen wurde eine Institutionalisierung des evolutionären Systemwechsels vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie gefunden, die eine Vorbildfunktion für vergleichbare politische Prozesse in den Ländern Mittel- und Südosteuropas, die DDR eingeschlossen, übernehmen sollte. Nach dem grünen Licht des 10. ZK-Plenums der PZPR im Januar 1989 kam es zu den historischen Verhandlungen am „Runden Tisch“ vom 6. Februar bis 5. April 1989 zwischen Vertretern der „Regierungskoalition“-Seite (PZPR, ZSL, SD, drei im Sejm vertretene christliche Gruppierungen, OPZZ) und der „Oppositions-Solidarno´sc´“-Seite über einen „historischen Kompromiss“, der das Machtmonopol der PZPR endgültig beseitigen sollte. Am „Runden Tisch“ wurden Abmachungen getroffen, die das politische und institutionelle System Polens grundlegend verändern sollten. Schon vor der Unterzeichnung der Ergebnisprotokolle wurden dem Sejm am 22. März 1989 Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen zugeleitet: Es handelte sich um die Änderung der Wahlordnung für die vorgezogenen Sejmwahlen im Juni 1989, die Einführung des Senats als zweite Kammer und des Präsidentenamtes, die Einführung des Gewerkschaftspluralismus und ein weitgehend liberalisiertes Vereinsrecht. Es kam zu ersten „freien“ Wahlen. Nach den zwei Runden zu den Parlamentswahlen am 4. und 18. Juni 1989 wurde ein eindrucksvoller Sieg der Opposition verzeichnet. Von den insgesamt 261 Kandidaten des „Bürgerkomitees“, 161 für den Sejm = 35 Prozent der Sitze und 100 für den Senat, war nur ein einziger Senatskandidat durchgefallen. Von 100 Senatoren waren 99 Mitglieder der Liste von Lech Wałe˛sa. Die bisherige Regierungskoalition, der 299 Sitze im Sejm zugefallen waren, zerbrach während der Verhandlungen über die Regierungsbildung. Jaruzelski wurde mit nur einer Stimme Mehrheit am 19. Juli 1989 zum Präsidenten gewählt und der katholische Publizist und Solidarno´sc´-Berater Tadeusz Mazowiecki (1924 bis 2013) mit der Regierungsbildung beauftragt. Mazowiecki, polnischer Politiker, Journalist, Gründer des „Katholischen Klubs der Intelligenz“, Parlamentsabgeordneter der katholischen Partei (ZNAK), Chefredakteur der Zeitung „Solidarität“, war 1981 von der polnischen Militärregierung verhaftet worden. Nach seiner aktiven Teilnahme an den Beratungen des Runden Tisches war er 1989/90 nach der Wende erster Premierminister und von 1992 bis 1995 Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission in Bosnien. Mazowiecki wurde am 24. August 1989 mit überwältigender Mehrheit – auch von zahlreichen PZPR-Abgeordneten – zum Ministerpräsidenten gewählt und stellte am 12. September 1989 ein Koalitionskabinett aus Ministern von „Solidarno´sc´“, ZSL, SD sowie vier Ministern von der PZPR dem Sejm vor. Mit der Wahl des ersten nichtkommunistischen Regierungschefs
370
Anhang
in Polen seit mehr als 40 Jahren und der Etablierung einer Regierung, in der von der PZPR nur noch vier für die Demonstration der Bündnistreue gegenüber dem sozialistischen Lager wichtige Ministerien (Inneres, Verteidigung, Außenhandel, Transport und Kommunikation) geleitet wurden, ging in Polen eine historische Epoche zu Ende; ein neues politisches Zeitalter begann.
Auszüge der Rede von Michail Gorbatschow am 7. 12. 1988 vor der UNO, New York 1524 „Heute darf ich Ihnen folgendes mitteilen: Die Sowjetunion hat den Beschluss gefasst, ihre Streitkräfte zu reduzieren. In den nächsten zwei Jahren wird sich ihre zahlenmäßige Stärke um 500.000 Mann verringern, auch der Umfang der konventionellen Waffen wird wesentlich reduziert. Diese Reduzierungen werden einseitig vorgenommen, ohne Zusammenhang mit den Verhandlungen über das Mandat des Wiener Treffens. Im Einvernehmen mit unseren Verbündeten im Warschauer Pakt beschlossen wir, sechs Panzerdivisionen aus der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn bis 1991 abzuziehen und diese aufzulösen. Aus den Gruppen der sowjetischen Truppen, die sich in diesen Ländern befinden, werden ferner Luftsturmund mehrere andere Verbände und Einheiten abgezogen, einschließlich der Landeübersetztruppen mit Bewaffnung und Kampftechnik. Die in diesen Ländern befindlichen sowjetischen Truppen werden um 50.000 Mann und die Bewaffnung um 5.000 Panzer reduziert. Alle auf dem Territorium unserer Verbündeten vorläufig verbleibenden sowjetischen Divisionen werden umgegliedert. Ihnen wird eine im Vergleich mit heute andere Struktur verliehen, die nach einem wesentlichen Panzerabzug aus diesen Territorien eindeutig defensiv wird. Gleichzeitig werden wir die Truppenstärke und die Waffenmenge auch im europäischen Raum der UdSSR reduzieren. Insgesamt werden die sowjetischen Streitkräfte in diesem Teil unseres Landes auf dem Territorium unserer europäischen Verbündeten um l0.000 Panzer, 8.500 Artilleriesysteme und 800 Kampfflugzeuge reduziert. In diesen zwei Jahren werden wir die Gruppierung der Streitkräfte auch im asiatischen Teil des Landes bedeutend verringern. Im Einvernehmen mit der Regierung der Mongolischen Volksrepublik wird ein wesentlicher Teil der dort zeitweilig befindlichen sowjetischen Truppen in die Heimat zurückkehren.“
1524 Europa-Archiv, Dezember 1988, S. 1–4.
Rede zu „Europa“ von US-Präsident George Bush
371
Rede zu „Europa“ von US-Präsident George Bush am 24. Mai 1989 vor der „Coast Guard Academy“ in New London 1525 „We live in a time when we are witnessing the end of an idea: the final chapter of the Communist experiment. Communism is now recognized, even by many within the Communist world itself, as a failed system, one that promised economic prosperity but failed to deliver the goods, a system that built a wall between the people and their political aspirations. But the eclipse of communism is only one half of the story of our time. The other is the ascendancy of the democratic idea. The U. S. S.R. has said that it is willing to abandon its age-old reliance on offensive strategy. It’s time to begin. This should mean a smaller force, one less reliant on tanks and artillery and personnel carriers that provide the Soviets’ offensive striking power. A restructured Warsaw Pact, one that mirrors the defensive posture of NATO, would make Europe and the world more secure. Peace can also be enhanced by movement towards more openness in military activities. And 2 weeks ago, I proposed an „open skies“ initiative to extend the concept of openness. That plan for territorial overflights would increase our mutual security against sudden and threatening military activities. In the same spirit, let us extend this openness to military expenditures as well. I call on the Soviets to do as we have always done. Let’s open the ledgers: publish an accurate defense budget. But as we move forward we must be realistic. Transformations of this magnitude will not happen overnight. If we are to reach our goals, a great deal is required of us, our allies, and of the Soviet Union. But we can succeed. I began today by speaking about the triumph of a particular, peculiar, very special American ideal: freedom. And I know there are those who may think there’s something presumptuous about that claim, those who will think it’s boastful. But it is not, for one simple reason: Democracy isn’t our creation; it is our inheritance. And we can’t take credit for democracy, but we can take that precious gift of freedom, preserve it, and pass it on, as my generation does to you, and you, too, will do one day. And perhaps, provided we seize the opportunities open to us, we can help others attain the freedom that we cherish.“
1525 In Internet: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/remarks-the-unitedstates-coast-guard-academy-commencement-ceremony-new-london-connecticut (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
372
Anhang
Zur Entwicklung der Europäischen Union – EU 1526 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den nicht-kommunistischen Staaten in Europa zur Gründung von Wirtschafts- und politischen Gemeinschaften. Daraus entwickelte sich die „Europäische Gemeinschaft – EG“ und später die „Europäische Union – EU“. Es begann 1952 mit der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) oder auch „Montanunion“ genannt. Mitglieder waren zunächst Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Diese „Montanunion“ ebnete den Weg zu den sogenannten Römischen Verträgen vom 27. März 1957. Darin vereinbarten die sechs Mitgliedsstaaten der Montanunion die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Die EWG wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 in „Europäische Union“ umbenannt. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde aus der EG die Europäische Union. Sie ist eine wirtschaftliche und politische Vereinigung von heute 28 europäischen Ländern, die zusammen einen großen Teil des europäischen Kontinents ausmachen. Sie beruht auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Ihr gesamtes Handeln stützt sich auf freiwillig und demokratisch von allen Mitgliedstaaten vereinbarte Verträge. Ferner gilt in der EU der Grundsatz der repräsentativen Demokratie: Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene direkt im Europäischen Parlament vertreten, die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union.
Zur Entwicklung im Comecon 1527 Comecon (Englisch: Council for Mutual Economic Assistance oder „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“) wurde 1949 als Gegenmodell zu westeuropäischen Zusammenschlüssen (OECD, später EWG) mit Sitz in Moskau gegründet und nach der Wende von 1989 im Juni 1991 aufgelöst. Damalige Mitglieder waren Bulgarien, Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Ungarn, DDR und Albanien (inaktiv) sowie Mongolei, Kuba und Vietnam. Er diente u. a. der Koordinierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den planwirtschaftlich organisierten Staatshandelsländern Osteuropas unter Führung der UdSSR. Im Vergleich zur Europäischen Gemeinschaft fehlten eine Gemeinschaftspolitik sowie supranationale Insti1526 In Internet: http://www.europa.eu/european-union/about-eu/eu-in-brief_de (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1527 Das Europalexikon, 2013.
Bundestagsrede von Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem 10-Punkte-Plan
373
tutionen und Verfahren. Nachdem Anläufe zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen EG und RGW in den Siebzigerjahren gescheitert waren, kam es am 25. Juni 1988 zur gemeinsamen Erklärung zwischen den ungleichen Organisationen. Die Beziehungen blieben jedoch auf Sparflamme, da die meisten Mitglieder des RGW zu diesem Zeitpunkt bereits ihre bilateralen und direkten Handels- und Kooperationsbeziehungen mit der EG bis hin zum Abschluss von Assoziierungsabkommen verfolgten.
Bundestagsrede von Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem 10-Punkte-Plan, Bonn, 28. November 1989 1528 „Es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes. Die Deutschen, die jetzt im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden, werden niemals eine Bedrohung sein. Vielmehr werden sie – davon bin ich überzeugt – ein Gewinn für das immer mehr zusammenwachsende Europa sein. Der Weg zur deutschen Einheit, das wissen wir alle, ist nicht vom ‚grünen Tisch‘ oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen. Abstrakte Modelle kann man vielleicht polemisch verwenden, aber sie helfen nicht weiter. Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen. Ich möchte diese Ziele an Hand eines Zehn-Punkte-Programms erläutern: Erstens: Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, die sich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, insbesondere durch die Fluchtbewegung und die neue Dimension des Reiseverkehrs. Die Bundesregierung ist zu sofortiger konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. Wir werden im humanitären Bereich und auch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit dies gewünscht wird und auch nützlich ist. Wir wissen auch, dass das Begrüßungsgeld, das wir für jeden Besucher aus der DDR einmal jährlich zahlen, keine Lösung für die Finanzierung von Reisen sein kann. Letztlich muss die DDR selbst ihre Reisenden mit den nötigen Devisen ausstatten. Wir sind aber bereit, für eine Übergangszeit einen Beitrag zu einem Devisenfonds zu leisten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Mindestumtausch bei Reisen in die DDR entfällt, Einreisen dorthin erheblich erleichtert werden und die DDR einen eigenen substantiellen Beitrag zu einem solchen Fonds leistet. Unser Ziel ist und bleibt ein möglichst ungehinderter Reiseverkehr in beide Richtungen. 1528 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 134, 29. 11. 1989.
374
Anhang
Zweitens: Die Bundesregierung wird wie bisher die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugutekommt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenarbeit. Besonders wichtig ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes. Hier kann schon in aller Kürze, wie immer sonst die Entwicklung sein mag, über neue Projekte entschieden werden. Das gleiche gilt – der Bundespostminister hat die entsprechenden Gespräche eingeleitet – für einen möglichst baldigen umfassenden Ausbau der Fernsprechverbindungen mit der DDR und des Telefonnetzes der DDR. Über den Ausbau der Eisenbahnstrecke Hannover – Berlin wird weiterverhandelt. Ich bin allerdings der Auffassung, dass dies zu wenig ist und dass wir angesichts der jetzt eingetretenen Entwicklung uns einmal sehr grundsätzlich über die Verkehrs- und Eisenbahnlinien in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland unterhalten müssen. Vierzig Jahre Trennung bedeuten ja auch, dass sich die Verkehrswege zum Teil erheblich auseinanderentwickelt haben. Das gilt nicht nur für die Grenzübergänge, sondern beispielsweise auch für die traditionelle Linienführung der Verkehrswege in Mitteleuropa, für die Ost-West-Verbindungen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die klassische Route Moskau – Warschau – Berlin – Paris, die ja immer über Köln führte und zu allen Zeiten große Bedeutung hatte, im Zeitalter schneller Züge und am Vorabend des Ausbaus eines entsprechenden europäischen Verkehrswesens nicht mit eingebracht werden sollte. Drittens: Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. „Unumkehrbar“ heißt für uns und vor allem mich, dass sich die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt. Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muss aufgehoben werden. Die geforderte Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse bedeutet vor allem die Abschaffung des politischen Strafrechts und als Konsequenz die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam werden, wenn grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen. Dies zeigen die Erfahrungen mit allen RGW-Staaten – mit Belehrungen von unserer Seite hat das nichts zu tun. Die bürokratische Planwirtschaft muss abgebaut werden.
Bundestagsrede von Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem 10-Punkte-Plan
375
Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Wir wissen: Wirtschaftlichen Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die DDR für westliche Investitionen öffnet, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigungen ermöglicht. Wer in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Bevormundung erhebt, den verstehe ich nicht. In Ungarn und in Polen gibt es jeden Tag Beispiele dafür, an denen sich doch die DDR – ebenfalls Mitgliedstaat des RGW 1529 – ohne weiteres orientieren kann. Unser und mein dringender Wunsch ist es, dass es möglichst rasch zu einer solchen Gesetzgebung kommt. Denn es wäre für uns ein wenig erfreulicher Zustand, wenn – was ich ebenfalls wünsche – Privatkapital aus der Bundesrepublik Deutschland in Polen und noch mehr – die Dinge entwickeln sich sehr erfreulich – in Ungarn investiert würde und mitten in Deutschland diese Investitionen ausbleiben. Wir wollen, dass möglichst viele derartige Investitionen von möglichst zahlreichen Unternehmen getätigt werden. Ich will noch einmal klar unterstreichen: Dies sind keine Vorbedingungen, sondern das ist schlicht und einfach die sachliche Voraussetzung, damit Hilfe überhaupt greifen kann. Im Übrigen kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies auch die Menschen in der DDR wollen. Sie wollen wirtschaftliche Freiheit, und sie wollen damit die Früchte ihrer Arbeit endlich ernten und mehr Wohlstand gewinnen. Wenn ich heute die Diskussion zu diesem Thema – der künftigen Wirtschaftsordnung in der DDR – innerhalb der SED selbst verfolge – wir werden es in ein paar Tagen auf dem Parteitag der SED vor aller Öffentlichkeit erleben können –, dann kann ich beim besten Willen nicht erkennen, dass derjenige, der das hier ausspricht, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischt. Ich finde das ziemlich absurd. Viertens: Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe und der besondere Charakter der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und Ebenen. Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern. Bereits bestehende Kommissionen könnten neue Aufgaben erhalten, weitere könnten gebildet werden. Ich denke dabei insbesondere an die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Kultur. Ich brauche nicht zu betonen, dass bei all dem, was jetzt zu geschehen hat, für uns Berlin voll einbezogen bleiben muss. Das war, ist und bleibt unsere Politik.
1529 RGW = Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, auch Comecon. 1991 aufgelöst.
376
Anhang
Fünftens: Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus. Dabei könnten wir uns nach schon bald freien Wahlen folgende Institutionen vorstellen: – einen gemeinsamen Regierungsausschuss zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, – gemeinsame Fachausschüsse, – ein gemeinsames parlamentarisches Gremium und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung. Die bisherige Politik gegenüber der DDR musste sich angesichts der Verhältnisse im Wesentlichen auf kleine Schritte beschränken, mit denen wir vor allem versuchten, die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und das Bewusstsein für die Einheit der Nation wachzuhalten und zu schärfen. Wenn uns künftig eine demokratisch legitimierte, das heißt frei gewählte Regierung als Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ein solches Zusammenwachsen liegt in der Kontinuität der deutschen Geschichte. Staatliche Organisation in Deutschland hieß in unserer Geschichte fast immer auch Konföderation und Föderation. Wir können doch auf diese historischen Erfahrungen zurückgreifen. Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher. Sechstens: Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozess, das heißt immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet. Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in der gemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres, die ich bereits zitiert habe, von den Bauelementen eines „gemeinsamen europäischen Hauses“. Ich nenne beispielhaft: – Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.
Bundestagsrede von Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem 10-Punkte-Plan
377
– Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. – Die Verwirklichung der Menschenrechte. – Die Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas. Mit alledem wollen wir – so haben es Generalsekretär Gorbatschow und ich festgeschrieben – an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anknüpfen und zur Überwindung der Trennung Europas beitragen. Siebtens: Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen. Dies haben die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten kürzlich bei ihrem Treffen in Paris ja auch so festgestellt. Hierbei ist die DDR selbstverständlich eingeschlossen. Die Bundesregierung befürwortet deshalb den baldigen Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR, das den Zugang der DDR zum Gemeinsamen Markt erweitert, auch was die Perspektive 1992 betrifft. Wir können uns für die Zukunft sehr wohl bestimmte Formen der Assoziierung vorstellen, die die Volkswirtschaften der reformorientierten Staaten Mittel- und Südosteuropas an die EG heranführen und damit das wirtschaftliche und soziale Gefälle auf unserem Kontinent abbauen helfen. Das ist eine der ganz wichtigen Fragen, wenn das Europa von morgen ein gemeinsames Europa sein soll. Herr Präsident, meine Damen und Herren, den Prozess der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als europäisches Anliegen. Er muss deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muss Offenheit auch nach Osten wahren. Nur in diesem Sinne – wir haben das Europa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht als das Ganze verstanden – kann die Europäische Gemeinschaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung werden. Nur in diesem Sinne wahrt, behauptet und entwickelt sie die Identität aller Europäer. Diese Identität, meine Damen und Herren, ist nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung begründet. Soweit die Staaten Mittel- und Südosteuropas die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, würden wir es begrüßen, wenn sie dem Europarat
378
Anhang
und insbesondere auch der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beiträten. Achtens: Der KSZE-Prozess ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen: – die Menschenrechtskonferenzen in Kopenhagen 1990 und in Moskau 1991, – die Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn 1990, – das Symposion über das kulturelle Erbe in Krakau 1991 und nicht zuletzt – das nächste Folgetreffen in Helsinki. Dort sollten wir auch über neue institutionelle Formen der gesamteuropäischen Zusammenarbeit nachdenken. Wir könnten uns eine gemeinsame Institution zur Koordinierung der West-Ost-Wirtschaftszusammenarbeit sowie die Einrichtung eines gesamteuropäischen Umweltrates sehr gut vorstellen. Neuntens: Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen mit der politischen Entwicklung Schritt halten und, wenn notwendig, beschleunigt werden. Dies gilt im Besonderen für die Wiener Verhandlungen über den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa und für die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen ebenso wie für das weltweite Verbot chemischer Waffen, das, wie ich hoffe, 1990 kommen wird. Dies erfordert auch, dass auch die Nuklearpotentiale der Großmächte auf das strategisch erforderliche Minimum reduziert werden können. Das bevorstehende Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow bietet eine gute Gelegenheit, den jetzt laufenden Verhandlungsrunden neue Schubkraft zu geben. Wir bemühen uns, auch in zweiseitigen Gesprächen mit den Staaten des Warschauer Paktes – einschließlich der DDR –, diesen Prozess zu unterstützen. Zehntens: Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung. Wir sind dankbar, dass wir in der Erklärung des Brüsseler NATO-Gipfels vom Mai dieses Jahres dafür erneut die Unterstützung unserer Freunde und Partner gefunden haben. Meine Damen und Herren, wir sind uns bewusst, dass sich auf dem Weg zur deutschen Einheit viele schwierige Fra-
Zusammenfassung: Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl
379
gen stellen, auf die korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort geben kann. Dazu gehört vor allem auch die ebenso schwierige wie entscheidende Frage übergreifender Sicherheitsstrukturen in Europa. Die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-Ost-Beziehungen – wie ich sie eben in zehn Punkten erläuterte – ermöglicht eine organische Entwicklung, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt und – dies ist unser Ziel – einer friedlichen und freiheitlichen Entwicklung in Europa den Weg bahnt“. 1530
Zusammenfassung: Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl, Bonn, Bundestag, 28. November 1989 1531 Punkt 1 – Sofortmaßnahmen humanitärer Art Es muss die Möglichkeit bestehen, frei in die DDR ein- sowie auszureisen. Dies ist eine sachliche Voraussetzung, damit Hilfe im humanitären und medizinischen Bereich wirken kann. Punkt 2 – Umfassende Wirtschaftshilfe Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, wirtschaftlich, wissenschaftlich-technologisch und kulturell eng mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zusammenzuarbeiten. Dazu muss aber eine Angleichung der Verhältnisse geschaffen werden, indem zum Beispiel das marode und spärliche Telefonnetz der DDR und Eisenbahnverbindungen jeglicher Art von Grund auf saniert und erweitert werden. Überregionale Verbindungen wie Hannover – Berlin oder Moskau – Warschau – Berlin – Paris sind wieder aufzunehmen. Punkt 3 – Ausbau der Zusammenarbeit beider Staaten Die Bundesrepublik Deutschland zielt auf eine umfassende Ausweitung der Zusammenarbeit, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR vollzogen wird. Das heißt im Konkreten, dass die Suprematie der SED abgeschafft wird und freie, geheime Wahlen eingeführt werden, das Recht auf Opposition eingeführt wird und der Staat ein demokratisches Antlitz erhält, das politische Strafrecht abgeschafft wird und politische Gefangene freigelassen werden und die bürokratische Planwirtschaft der Vergangenheit angehört.
1530 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 134, 29. 11. 1989; Kohl- Rede in Internet: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2014/kw47_kalenderblatt_kohl/341782 (letzter Zugriff: 14. 5. 2020). 1531 In Internet: www.hdg.de/lemo/kapitel/deutsche-einheit/weg-zur-einheit/zehnpunkte-programm.html (letzter Zugriff: 14. 5. 2020).
380
Anhang
Punkt 4 – Vertragsgemeinschaft Es ist zunächst eine Vertragsgemeinschaft anzustreben. Diese beinhaltet ein dichtes Netz von Vereinbarungen und in naher Zukunft auch gemeinsame Institutionen. Bereits bestehende oder neu gegründete Kommissionen könnten neue Aufgaben in Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit oder Kultur übernehmen. Punkt 5 – Schaffung konföderativer Strukturen Es ist sogar denkbar, konföderative Strukturen zu erschaffen, um in Deutschland eine bundesstaatliche Ordnung zu errichten. Voraussetzung für einen solchen Schritt ist allerdings eine vom Volk legitimierte und demokratisch gewählte Regierung der DDR. Vorstellbar sind in diesem Rahmen ein gemeinsamer Regierungsausschuss zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, gemeinsame Fachausschüsse, ein gemeinsames parlamentarisches Gremium. Sogar eine deutsche Einheit ist greifbar, wenn dies im Sinne der Entwicklung in der DDR ist. Punkt 6 – Einbettung des deutschen Einheitsprozesses in gesamteuropäische Entwicklung Der deutsche Einheitsprozess ist in die gesamteuropäische Entwicklung einzubetten. Ein neues Deutschland muss von seiner Architektur her in den europäischen Kontext passen. Ein vereintes Deutschland ist ein Zeichen für die Vereinigung Europas. Punkt 7 – EG-Beitritt reformorientierter Ostblockstaaten Die reformorientierten Ostblockstaaten sollen der Europäischen Gemeinschaft beitreten und samt der DDR an den westlichen Markt herangeführt werden, damit das wirtschaftliche und soziale Gefälle in Europa abgebaut werden kann. Soweit die Staaten Mittel- und Südosteuropas die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, sind sie auch willkommen, dem Europarat und insbesondere auch der Konvention zum Schutze der Menschenrechte beizutreten. Punkt 8 – Forcierung des KSZE-Prozesses Innerhalb dieses Prozesses sollen sich die jeweiligen Mitgliedstaaten über Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit, kulturelles Erbe und Umweltfragen verständigen. Punkt 9 – Abrüstung und Rüstungskontrolle Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Vor allem die Nuklearpotenziale der beiden Supermächte USA und UdSSR sollten auf ein strategisches Minimum reduziert werden. Konventionelle Streitkräfte in Europa sollen abgebaut und chemische Waffen weltweit verboten werden.
Horst Teltschik legte Helmut Kohl die Reaktionen zu seiner Zehn-Punkte-Rede vor
381
Punkt 10 – Deutsche Einheit Mit dieser Politik wird auf einen Zustand des europäischen Friedens hingewirkt, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.
Horst Teltschik legte Kanzler Helmut Kohl am 30. November 1989 die Reaktionen aus aller Welt zu seiner Zehn-Punkte-Rede vor. 1532 So habe US-Außenminister Baker folgende Grundsätze zur Erlangung der deutschen Einheit aufgestellt: Selbstbestimmung sei vorrangig; „. . . wir sollten wirklich keinerlei bestimmte Vision der Einheit unterstützen oder ausschließen“; Einheit könne Bundesstaat, Konföderation oder „etwas Anderes“ bedeuten; Einheit müsse im Kontext von anhaltenden Bindungen an die NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft erfolgen; „. . . es sollte keinen Handel ‚Neutralismus für Einheit‘ geben . . . keine ‚Illusion‘ über den demokratischen Charakter der Bundesrepublik Deutschland geben; 1533 es müsse im Interesse ‚europäischer Stabilität ein friedlicher, gradueller und schrittweiser Prozess‘ sein;“ 2. Großbritannien Botschafter von Richthofen hat uns über gestriges Gespräch von BM Genscher mit Premierministerin (PM)Thatcher, bei dem Ihre Erklärung wichtige Rolle gespielt habe, wie folgt unterrichtet: Premierministerin Thatcher habe Bundesminister (BM) Genscher eingangs um Erläuterung der Erklärung gebeten, sie sei sich aufgrund der Presseberichte und des Berichts ihres Botschafters nicht „ganz im Klaren“. Nach der Erläuterung durch BM Genscher habe sie darauf verwiesen, dass man in Paris zusammengesessen und festen Grund unter den Füßen gehabt habe. Hieran wollte man doch festhalten – nun sei plötzlich alles in Bewegung.
Zu Frankreich hieß es: Präsident Mitterrand sagte auf einer Pressekonferenz in Athen: „Ich habe volles Verständnis (für die Erklärungen des Bundeskanzlers), und ich würde
1532 Deutsche Einheit, Dok Nr. 102, S. 574. 1533 Scowcroft und Bush zweifelten nach der Zehn-Punkte-Rede von Kohl im Bundestag an der Standfestigkeit des Kanzlers. Würde Kohl die Einheit Deutschlands gegen eine Neutralität eintauschen? fragten sie sich; vgl. Bush / Scowcroft, S. 195.
382
Anhang
mich den Bestrebungen der deutschen Politiker nicht widersetzen. Ich habe stets erklärt, sie seien legitim. Ich weiß, dass die deutschen Politiker verantwortungsbewusst und vernünftig genug sind, um derartige Fragen zur rechten Zeit zu behandeln. Zudem werden sie eine ganze Reihe von Situationen prüfen, die es natürlich notwendig machen werden, dass die übrigen europäischen Völker nicht vor eine vollendete Lage gestellt werden, vor allem jene nicht, die die Funktion von Garanten ausüben.
Außenminister Roland Dumas hat gestern in der Fragestunde der Nationalversammlung zu Ihrer Erklärung im Wesentlichen betont: Die 10 Punkte, die die französische Regierung im Einzelnen genau prüfen werde, stellten in vollständiger und klarer Weise die Haltung der Bundesregierung dar, die der französischen Seite aufgrund des bestehenden ständigen Dialogs voll vertraut sei. Die französische Haltung zur Wiedervereinigung sei bekannt. Jedes Volk und daher auch das deutsche Volk habe das Recht, sein Schicksal zu bestimmen. Daher sei der Wunsch nach Wiedervereinigung völlig legitim. Hierfür sei aber die Zustimmung der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte unerlässlich. Weg dahin könne nur in demokratischer und friedlicher Weise erfolgen. Französische Regierung lege besonderen Wert auf die Erklärung des Bundeskanzlers, dass die Wiedervereinigung im Kontext der europäischen Integration erfolgen müsse. Die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur EG, ihr Wille zur Europäischen Union müsse dazu führen, in Straßburg die notwendigen konkreten Beschlüsse zur sozialen Dimension sowie zur Wirtschafts- und Währungsunion zu fällen. Er sei davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland in Straßburg die Skeptiker Lügen strafen werde, indem sie uns zeigen werde, dass es für sie keine Wahl zwischen EG und der DDR gibt – dass sie auf eine stärkere Gemeinschaft setze, auch gerade, um die Beziehungen zur DDR zu fördern.
Sowjetische Position zum sicherheitspolitischen Status eines vereinten Deutschland
383
Sowjetische Position zum sicherheitspolitischen Status eines vereinten Deutschland, insbesondere zur NATO-Mitgliedschaft“, Horst Teltschik, 23. März 1990. 1534 Kurzfassung: 1. Zum von ihr als Schlüsselfrage des deutschen Einigungsprozesses empfundenen sicherheitspolitischen Status hat sich die Sowjetunion bisher nur negativ – keine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands – geäußert und ihrerseits – als konkrete Alternative – lediglich von der Einfügung Deutschlands in „neue europäische Sicherheitsstrukturen“ gesprochen. 2. Es spricht vieles dafür, dass die endgültige Haltung der Sowjetunion – auch die NATO-Mitgliedschaft betreffend – noch nicht festgelegt ist und sich vorrangig insbesondere an folgenden Kriterien ausrichten wird: keine einseitige Aufgabe der im Zweiten Weltkrieg errungenen Positionen, von der DDR eingeräumten Rechten und Vorteilen; Wahrung der globalen Machtbalance, insbesondere im Vergleich zu den USA; Sorge um die sowjetischen Truppen in der DDR; verhandlungstaktische Überlegungen wie Zeitgewinn, Schaffung von ‚Manövriermasse‘, Kompensationen. 3. Östliche Diplomaten (einschließlich sowjetischer) und prominente Wissenschaftler wie Professor Daschitschew vermitteln den Eindruck, letztlich werde die Sowjetunion (SU) unter bestimmten Bedingungen doch eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands hinnehmen. Die Sowjetunion würde damit dem Beispiel anderer Warschauer PaktMitglieder (insbesondere Polen, CSSR und Ungarn) folgen. 4. Wir sollten auf jeden Fall auf dem bereits beschrittenen Weg fortfahren, die Sowjetunion davon zu überzeugen, dass eine solche Mitgliedschaft auch mit ihren Interessen vereinbar ist. Hierbei gilt es, Bereitschaft zur Aufnahme von Verhandlungen über die Ausgestaltung einer Truppenstationierung in der DDR als Übergangsregelung zu signalisieren und sich darauf einzustellen, evtl. Beitrag zur Finanzierung dieser Stationierung zu leisten; dem Gefühl des „Verlustes“ und des einseitigen Inkaufnehmens von Nachteilen auf Seiten der SU entgegenzuwirken. 5. Fortbestand der NATO und gesamtdeutsche Mitgliedschaft müssen relativiert werden für die SU, indem
1534 Deutsche Einheit, Dok Nr. 228, S. 970.
384
Anhang
im Rahmen des Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozesses die militärischen Potentiale so verringert werden, dass Verlust der NVA und verbleibendes gesamtdeutsches Potential psychologisch verkraftet werden; wir den Aufbau gesamteuropäischer Strukturen der Sicherheit vorantreiben, die die NATO sozusagen „überwölben“. Über den rein sicherheitspolitischen Bereich hinaus müssen wir der Sowjetunion auch im Bereich der Wirtschaft den Eindruck vermitteln, dass wir sie nicht hinausdrängen, sondern im Gegenteil – auch zu ihrem Vorteil – mit ihr kooperieren wollen. II. Im Einzelnen 1. Bisherige Stellungnahmen der Sowjetunion Die sicherheitspolitischen Aspekte bilden für die Sowjetunion die Schlüsselfrage des deutschen Einigungsprozesses. Von einer für die Sowjetunion zufriedenstellenden Lösung dürfte das Gesamtverhalten der Sowjetunion bei den „Zwei-plus-Vier“-Gesprächen abhängen. 1.1. Die Sowjetunion hat ihre Ablehnung einer Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO bisher deutlich und hochrangig artikuliert: Präsident Gorbatschow (ARD-Interview am 6. März 1990): „Nein, da werden wir nicht zustimmen. Das ist absolut ausgeschlossen.“ Außenminister (AM) Schewardnadse (Interview mit Berliner Illustrierten am 8. März 1990): „Die Prognose über eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO entspricht nicht unseren Vorstellungen von den eigenen nationalen Interessen.“ Regierungssprecher Gerassimow am 19. März 1990: „Ein vereintes Deutschland soll nicht Mitglied der NATO sein.“ 1.2. Dennoch haben Diplomaten von WP-Staaten (SU, CSSR, DDR) ihre Überzeugung geäußert, dass die SU letztlich doch eine NATO-Mitgliedschaft akzeptieren werde, sofern gewisse Bedingungen erfüllt seien. Diese Ansicht wird vielfach auch von westlichen Kreisen geteilt. Auch Mitglieder renommierter sowjetischer Forschungsinstitute – oft „Herolde“ neuer Entwicklungen in der SU – scheinen ebenfalls entweder die Frage der NATO-Mitgliedschaft in ihrer Bedeutung zu relativieren oder sie gar wie Professor Daschitschew als hinnehmbar anzusehen (Interview Bild am Sonntag, 18. März 1990: „. . . wenn das Volk Deutschlands den Wunsch äußert, das Land solle Mitglied der NATO sein, wird sich diesem Wunsch niemand widersetzen können“). 1.3. Nach dem „Doppel-Fiasko von Berlin und Prag“ (so ein sowjetischer Wissenschaftler in Anspielung auf die Wahlen in der DDR und das Warschauer Pakt-Außenministertreffen in Prag am 17. März, bei dem Moskau
Vorabbericht von Kanzlerberater Horst Teltschik zum 28. Parteitag der KPdSU
385
mit der Forderung nach deutscher Neutralisierung alleinstand) könnte sich eventuell auch in offiziellen Äußerungen eine Relativierung der bisherigen harten Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft ergeben. 1535
Vorabbericht von Kanzlerberater Horst Teltschik zum 28. Parteitag der KPdSU 1536 Innere Lage in der Sowjetunion nach Beginn des 28. KPdSU-Parteitages. 1. Ausgangslage: konservative Bugwelle Gorbatschows Haltung gegenüber Partei, KGB und Militär im Vorfeld des 28. KPdSU-Parteitages sowie der missglückte Start in Richtung Marktwirtschaft (Ryschkow-Programm) hatten Zweifel an der Reformwilligkeit und vor allem -fähigkeit der sowjetischen Führung genährt. Der vom Parteiapparat völlig beherrschte Gründungskongress der russischen KP und die Wahl des farblosen Apparatschiks Poloskow zu deren 1. Sekretär [Auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei der RSFSR vom 20.–23. Juni 1990 in Moskau wurde am letzten Tag Iwan Poloskow zum Ersten Sekretär der Partei gewählt.] hatte die Stärke der Konservativen in den russischen Kernlanden unterstrichen. Umfragen zufolge hatten sich lediglich 2 % der Delegierten für den 28. KPdSU-Parteitag zur demokratischen Plattform und damit zur uneingeschränkten Fortführung des Reformkurses bekannt. Von liberaler Seite gestreute Gerüchte über eine Verschiebung des Parteitags gaben zusätzlich Anlass zu Befürchtungen über einen „konservativen Durchmarsch“. Das Ausbleiben einer Reaktion Gorbatschows auf die öffentlichen Ausfälle eines hochrangigen Militärs, die zu früheren Zeiten disziplinarisch geahndet worden wären, jetzt jedoch ungesühnt blieben, ließ befürchten, dass Gorbatschow den Konflikt mit der Militärführung, die seiner Außenpolitik kritisch gegenübersteht, scheut. Andererseits ging er gegen einen ranghohen KGB-Funktionär, der die KGB-Praktiken einer deutlichen Kritik unterzog, mit aller Härte vor. 2. Ziel der Führung: Auseinandersetzung mit den Konservativen Die Eröffnung des 28. Parteitages durch Gorbatschows dreistündigen Rechenschaftsbericht 1537 Rohübersetzung des Berichts, – er war vorher vom
1535 Deutsche Einheit, Dok Nr. 228, S. 970 ff. 1536 Deutsche Einheit, Dok Nr. 340, S. 1297. 1537 ZSF/TASS/russ./2.7.90/8.00, in: Ostinformationen. Nr. 124, 3. Juli 1990. Anhang, 38 S.; BPA/PA, F 1/22.
386
Anhang
ZK-Plenum gebilligt worden – und die Reden weiterer Führungspersönlichkeiten vermittelten zunächst den Eindruck einer guten Regie und einer die innerparteilichen Gegensätze überbrückenden Integrationsbereitschaft. Die Substanz der Führungsaussagen verdeutlicht jedoch, dass ihre Strategie auf eine Auseinandersetzung mit den Konservativen zielt. Dafür sprechen sowohl die der Partei gewidmeten Passagen in Gorbatschows Rechenschaftsbericht als auch die vom Parteitag zu verabschiedenden Entwürfe einer Programmerklärung und eines Parteistatuts. Auch die Tatsache, dass erstmalig auf einem KPdSU-Parteitag ausländische KP-Delegationen nicht eingeladen wurden, spricht für diese These. Gorbatschows Rechenschaftsbericht ist eine angesichts der Kräfteverhältnisse mutige und selbstbewusste Kriegserklärung an die konservativen Kritiker. Dies wird vor allem an folgenden Stellen deutlich: – rückhaltloses Bekenntnis zur Marktwirtschaft ohne jedes einschränkende Adjektiv („regulierte“, „geregelte“ etc.), – in offenem Gegensatz zu Ligatschow klare Aussage, dass in der Landwirtschaft die Produktionsverhältnisse geändert werden müssen (Klartext: Privateigentum), – in der Nationalitätenpolitik Forderung nach einer „Union souveräner Staaten“ und Vorbereitung eines neuen Unionsvertrages 1538. (Regelung eines „bedeutenden Teils“ der Probleme in Zukunft auf Republiksebene), – offensive Verteidigung der Osteuropapolitik („Freiheit der Wahl“), dabei keine Erwähnung Deutschlands. Gorbatschow sucht offenbar in populistischer Manier über die Köpfe der Parteitagsdelegierten hinweg die Allianz mit der progressiveren Basis. Dementsprechend apathisch bis feindselig war die Reaktion des Parteitagsplenums, das erst ab heute – 4. Juli – mit Kurzbeiträgen zu Wort kam. Gorbatschows Formulierungen zur Partei sind – wohl bewusst – schwammiger. Zwar setzt er sich in der Ideologiediskussion nicht nur von Marx und Engels, sondern auch von Lenin ab („historische Bedingtheit jeder Theorie“, „gesamtmenschliche“ anstatt „sozialistische“ Ideale). Zu Konfliktbegriffen in der sich verändernden KPdSU wie „Fraktionsbildung“ und „demokratischer Zentralismus“ äußert er sich jedoch bewusst ambivalent und provoziert so geradezu eine Diskussion in einem Bereich, in dem die Partei unter dem Druck der Basis de facto schon auf dem Rückzug ist.
1538 Gemeint ist die Verfassung der UdSSR vom 7. Oktober 1977.
Vorabbericht von Kanzlerberater Horst Teltschik zum 28. Parteitag der KPdSU
387
Die vom ZK-Plenum am 29. Juni nur im Prinzip gebilligte Programmerklärung und der Statutenentwurf, die beide in wesentlichen Passagen progressiver ausgefallen sind als ihre Vorgänger, tragen die deutliche Handschrift Gorbatschows und müssen eigentlich den entschiedenen Widerspruch der Konservativen hervorrufen. 3. Absehbare Personaländerungen Bereits jetzt ist absehbar, dass es auf dem Parteitag zu einer erheblichen personellen Erneuerung kommen wird. So dürften einige Politbüromitglieder als Sündenböcke für die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung in Pension geschickt werden. Dies könnte auch Ministerpräsident Ryschkow treffen. Die progressiven „Gallionsfiguren“ Schewardnadse und Jakowlew haben bereits selbst angekündigt, dass sie nicht mehr für die Parteiführung kandidieren wollen. Wer ihnen nachfolgen wird und ob es überhaupt ein neues Politbüro oder – wie im Statut gefordert – ein Parteipräsidium geben wird, ist derzeit völlig offen. Zumindest den bevorstehenden Abgang von AM Schewardnadse aus der Parteiführung wird man wohl als Versuch werten müssen, die Außenpolitik stärker dem Parteiapparat zu entziehen und sie unter staatliche Kontrolle zu bringen. 4. Wertung Es spricht einiges dafür, dass die Reformmannschaft um Präsident Gorbatschow den Parteitag jetzt vor die Entscheidung stellen will, entweder die notwendigen Reformen aktiv mitzugestalten oder jeden Anspruch auf eine führende Rolle in der Gesellschaft in der näheren Zukunft zu verwirken. Nach dem Verzicht Ligatschows auf eine Gegenkandidatur stehen Gorbatschows Chancen auf eine Wiederwahl gut. Selbst wenn kluge Regie und populistischer Appell an die Parteimitglieder die konservative Grundstimmung des Parteitages nicht durchbrechen können, wird Gorbatschow kaum die Parteiführung bereits jetzt abgeben wollen. Denn die staatlichen Räte werden auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, entweder selbst die notwendigen Entscheidungen zu treffen oder als „Transmissionsriemen“ die Partei zu ersetzen. Ein Machtvakuum wäre die Folge. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse auf dem Parteitag stellt die Abspaltung der progressiven Kräfte eine reale Gefahr dar. Die Parteiführung möchte diese Kräfte – dies hat der Rechenschaftsbericht Gorbatschows klar erwiesen – in der Partei halten. Ob die Parteitagsdelegierten ähnlich denken, wird sich erst am Ende des auf 10 Arbeitstage angesetzten Parteitages erweisen. Wie immer der Parteitag auch ausgehen mag, er wird die Verlagerung der Macht auf die staatlichen Institutionen beschleunigen. Gorbatschows
388
Anhang
Stellung und seine Durchsetzungskraft für eine konsequente Reformpolitik nach innen und eine dem „Neuen Denken“ verpflichtete Außenpolitik werden auf absehbare Zeit durch strukturelle Hemmnisse eingeschränkt bleiben. 1539
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990 Für Helmut Kohl wurde umfangreiches Material zur Vorbereitung auf den NATO-Gipfel im Juli 1990 in London zusammengestellt. 1540 Hier Auszüge: Die nachfolgende Aufstellung vermittelt einen Eindruck von der Fülle der Dokumente – Schreiben, Mitschriften, Reden, Protokolle, Notizen usw. –, die Kohl vorgelegt wurden und die er zu „verinnerlichen“ hatte. „Ausgangslage: Der Londoner Gipfel wird die Kernfrage zu beantworten haben, ob das Bündnis angesichts des historischen Wandels in Europa selbst wandlungsfähig ist und die Chancen dieses Wandels durch aktive, initiative und zukunftsgewandte Politik zu nutzen und mitzugestalten weiß. Diese Antwort muss in einer Form und mit einer Substanz erfolgen, dass sowohl die Sowjetunion und die anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts überzeugt werden, dass das Bündnis auch in Zukunft unerlässlich ist, und zwar sowohl als Anker der westlichen – und deutschen – Sicherheit und als Grundlage einer bündnisübergreifenden europäischen Sicherheitsarchitektur. Die Londoner Beratungen sollten sich auf folgende Eckpunkte konzentrieren: Verhältnis NATO – Warschauer Pakt Außenminister Schewardnadse hatte in einem Schreiben an Außenminister Baker vorgeschlagen, dass beide Bündnisse in einem Vertrag oder in einer Gemeinsamen Erklärung ihr künftiges Verhältnis zueinander nach den Leitworten Nichtangriff – Gewaltverzicht regeln sollten. Konsens herrschte im Bündnis, dass ein Abschluss „von Block zu Block“ wegen der damit erreichten Stabilisierung des Warschauer Pakts nicht in Frage kam, wohl aber ein Dokument unter den einzelnen Mitgliedstaaten; ferner, dass ein völkerrechtlicher Vertrag wegen der damit verbundenen Ratifikationserfordernisse nicht empfehlenswert war. 1539 Deutsche Einheit, Dok Nr. 340, S. 1297–1299. 1540 Deutsche Einheit, Dok Nr. 344 A – H, S. 1309–1321.
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990
389
Unterhalb dieser Schwelle teilten sich die Meinungen: Die USA zogen Austausch von Erklärungen vor, d. h. keine Verhandlungen mit den Staaten des Warschauer Pakts. Wir und wohl die Mehrheit der anderen Partner hielten eine „Gemeinsame Erklärung“ für erreichbar. Personalobergrenzen im Rahmen der Wiener VKSE Als bedeutsames amerikanisches Entgegenkommen war die Bereitschaft zu werten, vom operativen Konzept der Vorneverteidigung abzugehen und eine neue Bündnisstrategie – gerade auch für die Nuklearfragen – auszuarbeiten. Nuklearartillerie: Für die USA kam der Abzug der nuklearen Artillerie erst in Frage, wenn alle in Europa stationierten sowjetischen Streitkräfte heimgekehrt waren; KSZE: Der gesamtwestliche Konsens hatte sich erfreulicherweise soweit bewegt, dass gewisse Formen der KSZE-Institutionalisierung durchsetzbar waren, wie regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Außen- und Verteidigungsminister, der Generalstabschefs. Dazu kleines ständiges Sekretariat und modernes Kommunikationsnetz. Zusätzlich Zentren (oder US: Zentrum) für Verifikation und Konfliktverhütung. Der Westen stand vor politischer Herausforderung und öffentlicher Erwartung, positives Signal zu geben, dass er der Sowjetunion auf ihrem Reformweg in Richtung Marktwirtschaft mit Rat und Tat zur Seite stehen würde. Gründe wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Liquiditätsengpässe der SU sind vielfältig. Erbschaft eines ineffizienten Zentralplansystems, das Ressourcen fehlgeleitet und Privatinitiative gelähmt hat. Unzureichende Reformschritte u. a. in der Landwirtschaft: deshalb anhaltend hoher Getreideimportbedarf (insb. aus USA und Kanada!). Nicht genügend durchdachte Reformschritte: Dezentralisierung der Unternehmensentscheidungen im Außenhandel, deshalb zunehmende Importe ohne ausreichende Devisendeckung. Einbruch der Rohöl- und Erdgaspreise praktisch mit Amtsantritt, Einnahmenausfälle durch Kredite überbrückt. Daraus folgt: derzeitige sowjetische Wirtschafts- und Finanzlage nicht etwa ausgelöst durch Prozess der deutschen Vereinigung, deshalb kein „deutsches Problem“. Unsere jetzige Initiative – gemeinsam mit Frankreich – bedeutet deshalb nicht, dass wir Kosten der deutschen Vereinigung
390
Anhang
auf andere Partner abwälzen. (Exkurs: Selbstverständlich stehen wir gerade für Lieferverpflichtungen der DDR gegenüber RGW-Partnern und Unterhalt sowjetischer Streitkräfte in DDR.) Allerdings ist unser und gesamtwestliches Interesse, dass Politik so fortgesetzt wird und uns ein dem „Neuen Denken“ verpflichteter Partner in der SU erhalten bleibt. Demokratisierung und Menschenrechte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Prozess der deutschen Vereinigung Zwei-plus-Vier-Hinnahme deutscher NATO-Mitgliedschaft Weitere Maßnahme der Abrüstung und Rüstungskontrolle (Wien I und START noch in diesem Jahr!) Europäische Sicherheitsarchitektur – KSZE-Institutionalisierung Lösung regionaler Konflikte (bisher Afghanistan, Südafrika, Mittelamerika, Zukunftsaufgabe: Kuba). Angesichts Kumulierung sowjetischer Rückzahlungsverpflichtungen Ende Juni hat sowjetische Führung um sofortige Gewährung eines ungebundenen Finanzkredits eines deutschen Bankenkonsortiums mit Bundesbürgschaft gebeten. Wir dazu bereit – unter Vorab-Information unserer westlichen Partner. Kreditgewährung angesichts bisheriger Hartwährungsverschuldung (lt. OECD Ende 1989: 49 Mrd. $, zum Vergleich: Polen 42 Mrd.) und langfristiger Bonität der SU (Rohstoffexporteur!) gerechtfertigt – keine Wiederholung Polen / Gierek. Kreditmittel werden nicht in „Fass ohne Boden“ fließen, sondern für fällige Rückzahlungen verwandt: Sie kommen damit im Endeffekt den Aktionären von Banken und Firmen westlicher Länder zugute. Bei Nicht-Rückzahlung dieser Fälligkeiten Ende Juni wären Schadensfälle bei staatlichen Exportkreditversicherungen (bei uns Hermes) nicht ausgeschlossen gewesen: Diese hätten aus Haushaltsmitteln abgedeckt werden müssen. Demgegenüber vorzuziehen Bundesbürgschaft, die jetzt den Steuerzahler nichts kostet und ihn künftig nicht zu belasten braucht. Derartige „Feuerwehraktion“ aber nicht beliebig wiederholbar. Deshalb langfristige Hilfe des Westens erforderlich. Dabei angesichts der Größe der Aufgaben und Hilfsnotwendigkeiten Zusammenwirken aller westlichen Partner der Sowjetunion gefordert. Selbstverständliche Voraussetzung: Fortsetzung des sowjetischen Reformprozesses in Richtung Marktwirtschaft: Dazu kürzlicher Grundsatzbeschluss des Obersten Sowjets, verbunden mit Auftrag an Regierung, Reformprogramm bis September entscheidend zu verbessern. Zu dem von
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990
391
Ministerpräsident Ryschkow am 24. Mai 1990 vorgestellten Wirtschaftsprogramm der Regierung („Bericht über die wirtschaftliche Lage des Landes und die Konzeption für den Übergang zur regulierten Marktwirtschaft“ fasste der Oberste Sowjet der UdSSR am 13. Juni einen Beschluss, in dem der Übergang zur geregelten Marktwirtschaft als wichtigster Inhalt der Wirtschaftsreform bezeichnet wurde. Zugleich forderte er die Regierung der UdSSR auf, zum 1. September 1990 ein konkretes Programm zur Bildung der Struktur und des Mechanismus des geregelten Marktes vorzulegen. Auftrag des Europarates ER Dublin: Kommission soll zusammen mit Weltbank, IWF, OECD usw. mit SU konkrete Hilfsnotwendigkeiten sondieren. Der Auftrag lautete, „Konsultationen mit der Regierung der Sowjetunion aufzunehmen, um umgehend Vorschläge für kurzfristige Kredite und eine längerfristige Unterstützung für Strukturreformen auszuarbeiten“ Wirtschaftsgipfel sollte sich diesen Auftrag zu eigen machen (Vorbild: EG-Koordinierung der Gruppe der 24). Zusätzlich erforderlich – und zwar in Houston – politische Grundsatzentscheidungen. Keine lange Forderungsliste sowjetischer Reformschritte, bevor Westen überhaupt reagiert, sondern Begleitung konkreter Reformen durch wirksame Hilfen (stufenweises Vorgehen). Keine bloßen Summen (die in Medien zirkulierenden Summen nicht von uns genannt!), sondern Verbindung mit vernünftiger Konditionalität in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht sowie Beachtung sozialer Faktoren (Versorgung der Bevölkerung / Streikgefahr). Entwicklung in Mittel- und Osteuropa, westliche Hilfsmaßnahmen. 1. Allgemeine Aspekte Friedliche Freiheitsrevolutionen haben politisch-wirtschaftliche Reformprozesse in Gang gesetzt, die angesichts struktureller Probleme westlicher Abstützung bedürfen („Hilfe zur Selbsthilfe“). Gemeinsame Strategie: Stabilisierung der Reformprozesse, Einbeziehung aller Reformstaaten auf der Basis konkreter Reformzusagen und Unterstützungswünsche („maßgeschneiderte Unterstützungsprogramme“). Notwendigkeit, mit IWF vereinbarte Anpassungsprogramme trotz Schwierigkeiten konsequent fortzusetzen. 24er-Gruppe: zentrale Koordinierungsinstanz, Ministertreffen 4. Juli. EG-Kommission: wichtiger Beitrag, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
392
Anhang
Einbeziehung der Reformstaaten in europäische Institutionen: EG: Stabilitätsanker, Handels- und Kooperationsabkommen, Assoziierung, Europäische Ausbildungsstiftung, auch Sowjetunion muss in Überlegungen einbezogen werden. Europarat: Unterstützung von Gast-Status und Anträgen auf Mitgliedschaft, Zugehörigkeit zum demokratischen Europa, Abstützung der politischen Reformen, Nutzung für KSZE-Prozess; keine Verwässerung des hohen Standards. COCOM: Einschränkung der Kontrollen auf sicherheitsrelevanten Kernbereich. 2. Sowjetunion Innere Lage für Präsident Gorbatschow zunehmend schwierig: katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage (negatives Wirtschaftswachstum, Kaufkraftüberhang etc.), konservative und Militärkritik an Reform- und Außenpolitik (Ligatschow-Rede vom 20.6.) Einer TASS-Meldung zufolge kritisierte Ligatschow, Mitglied des Politbüros der KPdSU, in einer Rede auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei der RSFSR, „viele äußerst wichtige Fragen – darunter „die deutsche Frage“ – würden weder im Politbüro noch auf den Plenarsitzungen des ZK erörtert. Es drohe die Schwächung und letztendlich Zerstörung der Kommunistischen Partei und der sozialistischen Union der Republiken von innen heraus“. 1541 Entspannung im Baltikum (Aussetzung litauischer Unabhängigkeitserklärung, Aufhebung der Wirtschaftsblockade), Abspaltungsgefahr auf 28. KPdSU-Parteitag (ab 2. Juli). Wirtschaftsprogramm der Regierung Ryschkow vom Obersten Sowjet hart kritisiert; Liquiditätsengpässe (Dezentralisierung der Außenhandelsbefugnisse, Häufung von Importen ohne Devisendeckung, staatliche Importe zur Nahrungsmittelversorgung) offenbar geworden; deshalb kurzfristiger Überbrückungskredit durch Privatbanken, angesichts langfristiger Bonität der Sowjetunion (Rohstoffexporteur) trotz Bedenken gerechtfertigt. Bürgschaft für Bankenkredit in Höhe von 5 Mrd. DM; darüber hinaus 1,25 Mrd. DM für sowjetische Streitkräfte in der DDR (2. Halbjahr 1990) nach Vollzug der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Notwendigkeit gemeinsamer westlicher Aktion; Studie der EG-Kommission; Bitte um Unterstützung deutsch-französischer Initiative auch für Weltwirtschaftsgipfel. 1541 Deutsche Einheit, Dok Nr. 344 C, Anm. 21, S. 1315.
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990
393
Langfristige allseitig vorteilhafte Zusammenarbeit; Investitionen in Strukturveränderungsprojekte; (EG-Strukturhilfe: Europabank, EG-Haushalt); wirtschaftspolitische Beratung, Marktöffnung („Assoziierung besonderen Typs“). Flankierend: stärkere Einbeziehung der SU in die internationale Arbeitsteilung; SU näher an internationale Wirtschafts- (GATT) und Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank), an G7 („Dialog“, Brief Gorbatschow an Weltwirtschaftsgipfel Paris 1989. In einem an Staatspräsident Mitterrand, den Gastgeber des Gipfeltreffens der G7-Staaten vom 14. bis 16. Juli 1989 in Paris, gerichteten Schreiben sprach sich Generalsekretär Gorbatschow für eine „konstruktive und von Vorurteilen freie Zusammenarbeit“ bei weltwirtschaftlichen Problemen aus und bot an, „einen konstruktiven Dialog“ aufzunehmen (französischer Wortlaut und deutsche Übersetzung, 14. Juli 1989; sowie an G 24 („Sonderbereich“, sofern SU darum bittet) heranführen. Perspektiven des KSZE-Prozesses Nach Erfolg der Freiheitsrevolutionen in Mittel- und Osteuropa KSZEProzess als zentrales Instrument der Einheit Europas -politisch, wirtschaftlich, rechtlich, kulturell ausbauen. Sicherheit: Schaffung übergreifender Sicherheitsstrukturen, komplementär zum Bündnis, Stärkung der politischen Rolle des Bündnisses (Botschaft von Turnberry, WP-Gipfel Moskau). KSZE-Sondergipfel (Paris, 19. November 1990) Europäischer Rat, Dublin: KSZE ist entscheidender Beitrag zur Stärkung der Stabilität und der Zusammenarbeit in Europa sowie Abrüstung. Zentrale Elemente (breite Tagesordnung): Bekräftigung der zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki als Grundelemente europäischer Friedensordnung („Gemeinsamer Rechtsraum“: Ziel europäischer Rechtsstaat; Europa der Demokratie; soziale Marktwirtschaft; kulturelle Identität). Unterzeichnung des ersten Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (Wien I); möglichst erstes Ergebnis zu vertrauensbildenden Maßnahmen; koordinierte Fortführung beider Verhandlungen aufgrund jetziger Mandate. Einbettung deutscher Einheit in gesamteuropäischen Rahmen; Präsentation der Ergebnisse („abschließende völkerrechtliche Regelung“) der bis dahin abgeschlossenen „Zwei-plus-Vier“-Gespräche. Klare Perspektiven für Struktur des künftigen Europas („gesamteuropäische Friedensordnung“); Stabilitätsrahmen für neue europäische Sicher-
394
Anhang
heitsarchitektur als Ergänzung – nicht Ersatz – vorhandener Strukturen; Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Staaten. Deutlicher Einstieg in schrittweisen Aufbau permanenter gemeinsamer Institutionen. 3. KSZE-Institutionalisierung Eigene Vorschläge in Rede vor der Interparlamentarischen Union in Bonn am 25. Mai unterbreitet; vom Europäischen Rat teilweise indossiert (Hinweis: Überzeugungsarbeit notwendig für Konflikt- und Verifikationszentrum); Europäischer Rat in Dublin: aktive Rolle, verstärkte Koordinierung der Gemeinschaft. Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der KSZE-Teilnehmerstaaten alle zwei Jahre, regelmäßige Treffen der Außenminister, der Verteidigungsminister und der Generalstabschefs. Ständiger Rat der Delegationsleiter am Ort des letzten KSZE-Folgetreffens („Wahrung der Kontinuität“) – wir auch offen für kleines ständiges Sekretariat („Steuerungsmechanismus“). Schrittweise Entwicklung eines Verifikationszentrums für Rüstungskontrollvereinbarungen. Europäisches Konfliktverhütungszentrum (Konsultation und Streitschlichtung). Aufbau eines hochmodernen Kommunikationsnetzes. Bereitschaft zur Übernahme von weitgehenden Verpflichtungen, aber keine Singularisierung des vereinten Deutschlands. 4. Weitere Felder der Zusammenarbeit im gesamteuropäischen Rahmen Wirtschaftliche Kooperation („weitere Säule europäischer Sicherheitsarchitektur“) Mein Vorschlag auf Bonner Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (19. März bis 11. April): Institutionalisierung wirtschaftlicher Kooperation Bonner Konferenz periodisch wiederholen; Abstützung des Übergangs von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft. Menschenrechte Zentrale Rolle des Europarates; hoher Standard darf nicht verwässert werden; Zweites Treffen der Konferenz über menschliche Dimension in Kopenhagen, 5. bis 29. Juni d.J.: Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen, „freie Wahlen“, Schutz nationaler Minderheiten. Gemeinsame Erklärung der Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990
395
Außenminister Schewardnadse hat Bundesminister Genscher in Brest und Münster und Außenminister Baker in Kopenhagen „vertragliche Grundlage“ für neue Beziehungen NATO/Warschauer Pakt bzw. ihrer Mitglieder vorgeschlagen. Wir für gemeinsame Erklärung (nicht Abkommen) der Mitgliedstaaten (nicht der Bündnisse) mit politischer Bindungswirkung; Verabschiedung zusammen mit erstem KSE-Abkommen. Erklärung hat für sowjetische Führung bedeutende innen- und außenpolitische Funktion; Schlüsselelement für sowjetische Akzeptanz der NATOMitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Formfrage für Sowjetunion offenbar sekundär (keine Ratifikationsprobleme in Teilnehmerstaaten); Sowjetunion würde auch Erklärung(en) der Mitgliedstaaten (statt Abkommen zwischen Bündnissen) akzeptieren. Wichtig: Wie Sowjetunion bereits akzeptiert hat, „Beitritt“ für andere KSZE-Teilnehmerstaaten offen. Kein WP-Austritt Keine Verewigung des Warschauer Paktes, keine Gleichwertigkeit oder Gleichberechtigung der Bündnisse. Keine Gleichstellung zwischen NATO und künftiger gesamt-europäischer KSZE-Sicherheitsordnung. Vorzügliches Instrument zur Bekräftigung und Vertiefung der KSZE-Prinzipien einschließlich des Rechts auf Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in einem Bündnis. Auch von Interesse für Staaten, die mit dem Gedanken eines WP-Austritts (Ungarn!) spielen. 5. Zwei-plus-Vier-Gespräche Übereinstimmung unter allen Beteiligten, dass deutsches Volk Anspruch auf Herstellung der deutschen Einheit und auf Klärung der äußeren Aspekte ohne Verzögerung hat. Tagesordnungspunkte: Grenzfragen; politisch-militärische Fragen unter Berücksichtigung von Ansätzen geeigneter Sicherheitsstrukturen in Europa; Berlin-Probleme; abschließende völkerrechtliche Regelung und Ablösung der Vier-MächteRechte und -Verantwortlichkeiten. Ziele aus unserer Sicht: „Abschließende völkerrechtliche Regelung“; ersatzlose Ablösung aller noch bestehenden Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten für Deutschland als Ganzes und Berlin.
396
Anhang
Uneingeschränkte Souveränität; keine offenen Fragen; keine Singularisierung oder Diskriminierung. Deutschland hat wie jeder andere KSZE-Staat Recht, Bündnis anzugehören oder nicht. Hierüber entscheidet es allein. Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten (insbesondere auch Sowjetunion). „Zwei-plus-Vier“-Gespräche: kein Verhandlungsgremium, in dem Fragen entschieden werden, die in anderen Formen, z. B. VKSE oder KSZE, angesiedelt sind; Erörterung möglich. Zeitlicher Rahmen Abschluss bis zum KSZE-Gipfel 19. November d.J. in Paris und Präsentation der Ergebnisse („abschließende völkerrechtliche Regelung“) auf dem Gipfel. Bisher zwei Ministertreffen (5.5. und 22. 6. 1990). Nächstes Ministertreffen 17. Juli in Paris mit polnischer Beteiligung („Grenzfrage“). Bundestags-/Volkskammer-Entschließung vom 21. Juni von Vier Mächten einhellig begrüßt, polnische Haltung zunächst hart: „Vereinbarung eines Vertragstextes vor Vereinigung“, nach jüngstem Gespräch Bundeskanzler / Ministerpräsident Mazowiecki kompromissbereit. Außenminister-Treffen am 22.6. Berlin (Ost): harter sowjetischer Vorschlag; stark innenpolitisch motiviert (konservative Kritik, KPdSU-Parteitag); noch keine Bewegung bei NATO-Zugehörigkeit des vereinigten Deutschland; feste westliche Haltung weiterhin notwendig. Unsere Haltung klar: keine Sonderwege, keine Alleingänge; souveränes Vollmitglied in der NATO, ggf. durch souverän vereinbarte Abwicklungsfristen bzw. Selbstbeschränkungen; keine Singularisierung / Diskriminierung. Rüstungskontrolle und Abrüstung. 6. Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) KSZE-Gipfel hat für uns höchste Priorität (so auch Bush/Gorbatschow). Abschluss KSE-Abkommens von zentraler Bedeutung, um den politischen Wandel in Europa abzusichern und Grundstein für europäische Sicherheitsarchitektur zu legen. jetzt Kompromissbereitschaft auf allen Seiten nötig, um noch offene Fragen fristgerecht vor KSZE-Gipfel zu lösen. Wir wollen KSE-Abkommen für alle 5 Waffenkategorien (Panzer, Artillerie, gepanzerte Kampffahrzeuge, Hubschrauber und Flugzeuge); Flugzeug-
Vorbereitung für Kohl zum NATO-Gipfel in London Juli 1990
397
frage ist besonders wichtig angesichts der starken Überlegenheit des WP (ca. 2:1). Wir sind bereit, über Personal-Höchststärken – nicht nur der US- und SU-, sondern auch der einheimischen Streitkräfte, einschließlich der künftigen deutschen – zu verhandeln; wir streben eine solche Aussage in Gipfelerklärung an, um sie dann in Wien einzubringen; Reaktion der Partner ist noch offen. Verhandlungen sollen nach Unterzeichnung von Wien I aufgrund bisherigen Mandats ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. KSZE-Gipfel sollte Weiterführung von VKSE und VVSBM beschließen. 7. Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VVSBM) Konzeptionelle Übereinstimmung in wichtigen Punkten, jedoch noch viele Grundsatzfragen offen; nicht von Mandat gedecktes Bestreben der SU, Seestreitkräfte einzubeziehen, wird immer deutlicher, ist aber eher taktisch zu sehen („Warteposition“). Wir streben an, bis zum KSZE-Gipfel ein substantielles Ergebnis vorzulegen; noch offen, ob dies gelingen wird. 8. NATO-Militärstrategie Ausfertigung: 2. Juli 1990. A. Sachstand 1. Der NATO-Gipfel soll Zielrichtung und Rahmen für die Überprüfung der Militärstrategie setzen, die die Verteidigungsminister im Mai bereits eingeleitet haben. Kommuniqué der Ministertagung des VerteidigungsPlanungsausschusses in Brüssel, 22./23. Mai 1990 2. Wesentliche militärische Bezugsgrößen dafür sind die Erosion des Warschauer Paktes als operationsfähiges Militärbündnis, der einseitige Abzug der SU-Truppen aus dem westlichen Vorfeld sowie der bevorstehende Abschluss eines VKSE-Vertrages. Nach der Implementierung eines KSE-Abkommens – so die Auffassung des Militärausschusses der NATO – wird ein Überraschungsangriff mit überlegenen Kräften nicht mehr möglich sein, eine großangelegte Offensive nur nach einer mehrere Monate dauernden Warnzeit. Bei der Revision der Militärstrategie ist darüber hinaus einzubeziehen, dass Sicherheit in Europa zukünftig verstärkt auf politischen und wirtschaftlichen Strukturen beruhen soll. Folgende Prinzipien der Strategie sollen unverändert fortgelten: Kriegsverhinderung als oberstes Ziel des Bündnisses
398
Anhang
Schutz der territorialen Integrität der Bündnismitglieder Erhaltung des transatlantischen Verbundes geeignete Zusammensetzung konventioneller und nuklearer Streitkräfte multinationale Verteidigung. Folgende korrespondierende Veränderungen in Militärstrategie und Verteidigungsstrukturen sollten nach unserer Auffassung auf dem Gipfel festgeschrieben werden: B. Militärstrategie Abgehen von dem operativen Konzept der Vorneverteidigung; Zuwendung zu einer „Verteidigung an den Grenzen“ und einer deutlich verringerten Präsenz aktiver Streitkräfte. flexibleres und wirksameres Handeln des Bündnisses in einer Krise. noch stärkere Verdeutlichung des politischen Charakters von Nuklearwaffen im Sinne einer politischen Rückversicherung. 1. Die ebenfalls auf dem Gipfel zu verabschiedenden Eckdaten eines Rüstungskontrollrahmens für substrategische Systeme setzen bereits ein deutliches Zeichen. 2. Ein Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen sollte nicht festgeschrieben werden. Andernfalls könnte ein Aggressor das mit einem Nuklearwaffeneinsatz verbundene Risiko für seine eigene Existenz ausschließen. Konventionelle Kriege erschienen wieder denk- und führbar. C. Verteidigungsstrukturen Umstrukturierung der Streitkräfte mit dem Ziel höherer Mobilität und Vielseitigkeit, um auch in einer Krise größtmögliche Flexibilität zu gewährleisten. Aufgabe der derzeitigen Struktur nationaler Korps-Sektoren; vermehrter Rückgriff auf multinationale Korps unter Anpassung der Führungsstrukturen. Verringerung des Bereitschaftsstandes der aktiven Einheiten, Anpassung der Ausbildungserfordernisse und der Zahl der Übungen. Erhaltung der Fähigkeit, größere Streitkräfte wiederaufzubauen, sofern und wann erforderlich. Diese Strukturen sollen schrittweise, auch in Abhängigkeit von der weiteren politischen und militärischen Entwicklung in Europa, eingenommen werden. 5. Diese Zielvorstellungen stimmen in vieler Hinsicht mit denen der USA überein.
Wortlaut des RBTH-Interviews vom 16. Oktober 2014 mit Michail Gorbatschow
399
Derzeit nicht absehbar ist die Haltung der übrigen Bündnismitglieder. Widerstand könnte vor allem von Großbritannien sowie den Flankenstaaten Norwegen und Türkei kommen, die das verbleibende Risiko aufgrund einer konservativen Einstellung bzw. ihrer geografischen Lage gegenüber der Sowjetunion höher bewerten. Dieser Widerstand könnte sich an der veränderten Rolle von Nuklearwaffen bzw. der Aufgabe der Vorneverteidigung in Verbindung mit einer Verringerung der aktiven Einheiten kristallisieren. 9. Gesprächsführungsvorschlag Sie sollten als Ausgangspunkt hervorheben, dass die neue Risikoanalyse des Bündnisses, insbesondere aufgrund eines KSE-Abkommens, eine neue Militärstrategie mit neuen Verteidigungsstrukturen möglich macht; verdeutlichen, dass sich diese Änderungen sowohl bei den nuklearen als auch bei den konventionellen Streitkräften reflektieren müssen. Eine noch stärkere Hervorhebung der politischen Rolle von Nuklearwaffen bei stark vermindertem Umfang sowie eine Aufgabe der Vorneverteidigung mit einer Verringerung der präsenten Streitkräfte entsprechen dem; darauf hinweisen, dass die neuen Strukturen schrittweise eingenommen werden sollten und dass die neuen Streitkräftegrundsätze (Mobilität, Vielseitigkeit, Flexibilität) in Verbindung mit den bewährten, aufrechtzuerhaltenden Prinzipien der Allianz (u. a. Kriegsverhinderung, Solidarität, transatlantischer Verbund, Multinationalität) die Sicherheit aller Bündnispartner weiterhin gewährleisten werden; Verständnis dafür wecken, dass die neue Strategie und der Weg dorthin Raum für eine zügige Vollendung der deutschen Einigung lassen müssen.“
Wortlaut des RBTH-Interviews vom 16. Oktober 2014 mit Michail Gorbatschow 1542 Michail Gorbatschow (M.G.): The topic of „NATO expansion“ was not discussed at all, and it wasn’t brought up in those years. I say this with full responsibility. Not a single Eastern European country raised the issue, not even after the Warsaw Pact ceased to exist in 1991. Western leaders didn’t bring it up, either. Another issue we brought up was discussed: 1542 Internet: https://www.rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_ am_against_all_walls_40673.html. (letzter Zugriff: 10.5. 2020).
400
Anhang
making sure that NATO’s military structures would not advance and that additional armed forces from the alliance would not be deployed on the territory of the then-GDR after German reunification. Baker’s statement, mentioned in your question, was made in that context. Kohl and [German Vice Chancellor Hans-Dietrich] Genscher talked about it. Everything that could have been and needed to be done to solidify that political obligation was done. And fulfilled. The agreement on a final settlement with Germany said that no new military structures would be created in the eastern part of the country; no additional troops would be deployed; no weapons of mass destruction would be placed there. It has been observed all these years. So don’t portray Gorbachev and the thenSoviet authorities as naïve people who were wrapped around the West’s finger. If there was naïveté, it was later, when the issue arose.
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9
Abb. 10
Abb. 11
Abb. 12
Abb. 13
Abb. 14
Abb. 15
Abb. 16
Abbildungen Abb. 1: Große Feiern am 7. Oktober 1989 mit Militärparade in Ost-Berlin zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 mit den Staats- und Parteichefs aus dem „sozialistischen Lager“, u. a. KPdSU-Chef Michail Gorbatschow (Foto: Bundesarchiv, Bundesarchiv 183-1989-1023-024, Rainer Mittelstädt). Abb. 2: Am 23. Oktober 1989 zogen mit der „Montagsdemonstration“ über 300.000 (nach Polizeiangaben 100.000) Menschen in Leipzig durch die Innenstadt. Nach Friedensgebeten in sechs Gotteshäusern der Messestadt formierte sich der Zug an der Nikolaikirche. Es war die bis dahin größte Demonstration in der DDR (Foto: Bundesarchiv 183-1989-1023-022, Friedrich Gahlbeck). Abb. 3: Am 1. November 1989 fand das erste Treffen zwischen den Generalsekretären des ZK der SED und der KPdSU, Egon Krenz und Michail Gorbatschow (r.) im Hause des ZK der KPdSU in Moskau statt. (Foto: Bundesarchiv 183-19891101-019, Rainer Mittelstädt). Abb. 4: 9. November 1989: Politbüromitglied Günter Schabowski (2.v.r. auf dem Podium) stellt sich im Berliner „Pressezentrum der DDR“ in der Mohrenstrasse (heute: Bundesministerium Justiz und Verbraucherschutz) den Fragen der internationalen Presse. Bild Korrespondent Peter Brinkmann (stehend) stellt einige Fragen, u. a. die wichtigste, ob die angekündigte Reiseregelung „Ab sofort?“ gelte und „auch für West-Berlin?“ (Foto: Screenshot DDR-Fernsehen). Abb. 5: Peter Brinkmann sitzt in der ersten Reihe links vom Gang und dreht sich gerade um. (Bundesarchiv 183-1989-1109-030, Thomas Lehmann). Abb. 6: Nach der Vereidigung des Ministerrates der DDR am 18. November 1989 bestürmten Journalisten den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, mit Fragen. 2.v.l. Autor Peter Brinkmann. (Foto: Bundesarchiv 183-1989-1118401, Klaus Oberst). Abb. 7: DDR-Ministerpräsident Dr. Hans Modrow (l.) und USA-Außenminister James Baker sind in Potsdam zu einem Gespräch zusammengetroffen. Es ist der erste Besuch eine US-Außenministers überhaupt in der DDR. Das rund einstündige Gespräch der Politiker verlief, wie der DDR-Regierungschef anschließend mitteilte, in aufgeschlossener Atmosphäre (Foto: Bundesarchiv 183-1989-1212028, Klaus Oberst). Abb. 8: Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) im Flugzeug auf dem Flug nach Rom, links daneben Horst Teltschik, Leiter der Abteilung II (Ausland) im Bundeskanzleramt. 18. November 1982 (Foto: Bundesarchiv BPA 145 00086229, Ulrich Wienke). Abb. 9: Bundeskanzler Helmut Kohl (5.v.l.) am 10. Februar 1990 im Kreml im Gespräch mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU (4.v.r.), über die Wiedervereinigung Deutschlands (4.v.l.: Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Auswärtigen) (Foto: Bundesarchiv BPA 145-00259358, Engelbrecht Reineke).
410
Abbildungen
Abb. 10: Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Margaret Thatcher, Premierministerin von Großbritannien (l.), am 29. März 1990 vor Masters Lodge im St. Catherine’s College Oxford Universität (Foto: Bundesarchiv BPA 145 00109687, Engelbrecht Reineke). Abb. 11: Markus Meckel, Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, am 24. April 1990 während einer Pressekonferenz im Auswärtigen Amt in Bonn. Im Hintergrund Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Auswärtigen (Foto: Bundesarchiv BPA 145 00111187, Lothar Schaak). Abb. 12: Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) im Gespräch mit Journalisten beim Rückflug aus den USA am 11. Juli 1990 (Foto: Bundesarchiv BPA 145-00102238, Lothar Schaak). Abb. 13: Bundeskanzler Helmut Kohl (M.) und KPdSU-Chef Michail Gorbatschow (l.) sowie Eduard Schewardnadse (r.), Außenminister der UdSSR am 14. Juli 1990 auf dem Flughafen von Moskau. Mit den Gesprächen in Moskau und im Kaukasus wurden die deutsche Einheit und die Mitgliedschaft in der NATO abgeschlossen (Foto: Bundesarchiv BPA 145-00014311, Christian Stutterheim). Abb. 14: Die Teilung Deutschlands ist mit diesen Unterschriften unter das 2 + 4-Abkommen = „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ im Hotel Oktjabrskaja in Moskau beendet: Hier unterschreibt DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière das Dokument. Rechts von ihm Roland Dumas (Außenminister Frankreich), links dahinter Michail Gorbatschow. Links von de Maizière Hans-Dietrich Genscher (Bundesaußenminister). Hinter Genscher steht Thilo Steinbach, Berater von Lothar de Maizière (Foto: Bundesarchiv BPA 14500322317, Engelbrecht Reineke). Abb. 15: Ehrentribüne am Reichstagsgebäude am 3. Oktober 1990, dem „Tag der Deutschen Einheit“ (v.l.: Oskar Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes; Heinz Riesenhuber, Bundesminister für Wissenschaft und Forschung; Altbundeskanzler Willy Brandt; Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Auswärtigen; Hannelore Kohl; Bundeskanzler Helmut Kohl; Bundespräsident Richard von Weizsäcker; Marianne von Weizsäcker; Lothar de Maizière, Ministerpräsident der DDR; Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen) (Foto: Bundesarchiv BPA 145 00073098, Christian Stutterheim). Abb. 16: Autor Dr. Peter Brinkmann (r.) am 17. Juni 2015 im Gespräch mit Horst Teltschik (l.) und Ex-Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere (Foto: Privat, Frank Schumann).
Abkürzungsverzeichnis AA ABC-Waffen ABM a. D. ADN AFP ALCM AM AP ARD BArch BK BM BPA BRD BReg BStU BT BVerfG CARDOC CDU Chef CFE COMECON CSFR CSU DDR DA DLF dpa Drs. DSU EG EVG EWG
Auswärtiges Amt Atomare, biologische und chemische Waffen Anti-Ballistic-Missile = Abwehrflugkörper außer Dienst Allgemeiner Deutschen Nachrichtendienst Agence France Presse Air-Launched Cruise Missile (Marschflugkörper) Außenminister Associated Press Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland Bundesarchiv Bundeskanzler Bundesminister Bundespresseamt / Presse- und Informationsamt Bundesrepublik Deutschland Bundesregierung Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bundestag Bundesverfassungsgericht Zentralarchiv des Europäischen Parlaments Christlich Demokratische Union BK Chef Bundeskanzleramt Conventional Forces in Europe Coordinating Committee for East-West Trade Policy (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) Tschechische und Slowakische Föderative Republik Christlich Soziale Union Deutsche Demokratische Republik Demokratischer Aufbruch Deutschlandfunk Deutsche Presseagentur Drucksache Deutsche Soziale Union Europäische Gemeinschaft Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
412
F FAZ FDP FR G7 GB GS ICBM INF IWF KfW KGB KPdSU KSE KSZE KVAE LKB MD MdB MDg(T) MfAA MFN MfS MinDir MP NATO ND NSC NVA NTS PDS PK PM PVAP RBM RD RGW RSFSR SBZ SDI
Abkürzungsverzeichnis
Frankreich Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Frankfurter Rundschau Gruppe der sieben stärksten Wirtschaftsnationen Großbritannien Generalsekretär Inter-Continental Ballistic Missile Intermediate-Range Nuclear Forces (Nukleare Mittelstreckenraketen) Internationaler Währungsfonds Kreditanstalt für Wiederaufbau Komitee für Staatssicherheit Kommunistische Partei der Sowjetunion Konventionelle Streitkräfte in Europa Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa Leiter Kanzlerbüro Ministerialdirektor Mitglied des Bundestages Ministerialdirigent Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR Most favoured Nation=Meistbegünstigungszollsatz Ministerium für Staatsicherheit Ministerialdirektor Ministerpräsident North Atlantic Treaty Organization Neues Deutschland National Security Council Nationale Volksarmee NATO-Truppenstatut Partei des demokratischen Sozialismus Pressekonferenz Premierminister Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Regierender Bürgermeister Regierungsdirektor Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Sowjetische Besatzungszone Strategic Defense Initiative
Abkürzungsverzeichnis
SED SNF
413
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Short Range Nuclear Forces (Nukleare Kurzstreckenwaffen) SU Sowjetunion SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands START Strategic Arms Reduction Treaty SZ Süddeutsche Zeitung TASS Telegrafenagentur der Sowjetunion TNS Theater Nuclear Systems UdSSR Union der sozialistischen Sowjetrepubliken USAP Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei VKSE Verhandlungen über konvent. Streitkräfte in Europa WEU Western European Union WP/WV/WTO Warschauer Vertrag / Warschauer Pakt ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe ZK Zentralkomitee
Bibliografie 1. Quellen- und Literaturverzeichnis Amerika-Dienst, Jahrgänge 1989/1990; hrsg. v. Botschaft der USA, in Internet https://de.usembassy.gov/de/die-botschaft-und-die-konsulate/us-botschaft-berlin/ Die Akten und Unterlagen der Sitzungen des Politbüros und des ZK der SED zum Reisegesetz (kurz „Mauerfall“ genannt) befinden sich z. T. mit den handschriftlichen Änderungen von Egon Krenz im Bundesarchiv unter DY 30/J IV 2/2/2359. Protokoll Nr. 50/89, Sitzung des Politbüros vom 8. bis 11. November 1989. Reinschrift: DY 30/J IV 2/2/2359. Arbeitsprotokoll: DY 30/J IV 2/2A/3256. Beschlussauszüge: DY 30/5196 Bulletin der Bundesregierung 47/1952 vom 26. 4. 1952. Bulletin des Presse – und Informationsamtes der Bundesregierung 1989/1990, in Internet: https://www . bundesregierung . de / breg - de / service / bulletin / bulletin - 1987 - bis 1989 Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Die Bemühungen der Bundesrepublik um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durch gesamtdeutsche Wahlen. Dokumente und Akten. II. Teil: November 1953 bis Dezember 1955, Bonn 1958. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Bd. 5, Bonn 1988. Europa-Archiv: Zeitschrift für internationale Politik. Dokumente. In Internet: www.econbiz.de/Record/europa-archiv-zeitschrift-für-internationale-politik - halbmonatsschrift - der - deutschen - gesellschaft - für - auswaertige - politik / 10000362145 Galkin, Alexandr und Tschernjajew, Anatolij (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München 2011. Gorbatschow, Michail: Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei. Bericht und Schlusswort des Generalsekretärs des ZK der KPdSU Generalsekretärs des ZK der KPdSU auf dem Plenum am 27.–28. Januar 1987. Hilger, Andreas: Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90, München 2011. Karner, Stefan u. a.; Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen. Dokumente, Berlin 2015. Küsters, Hanns Jürgen und Hoffmann, Daniel (Bearbeiter): Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 1998. Laufer Jochen P.; Kynin, Georgij P.: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949. Dokumente aus russischen Archiven. Band 4, Berlin 2012. Lenin, Wladimir I.: Werke, Bd. 21 „Die Oktoberrevolution als Auftakt zur Weltrevolution“ und Band 33. Möller, Horst u. a.: Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, Göttingen 2015.
2. Erinnerungen / Memoiren
415
Nakath, Detlef und Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen 1987–1990, Berlin, 1996. Pulte, Peter: Aktuelle Dokumente. Regierungserklärungen 1949–1973. Walter de Gruyter Verlag, 1973, Berlin Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Deutsche Einheit, Textdokumentation. Bonn 1991. Savranskaya, Svetlana: Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe. 1989, Budapest und New York 2010.
2. Erinnerungen / Memoiren Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996. Baker, James: Drei Jahre, die die Welt veränderten: Erinnerungen, Berlin,1996. Brandt, Willy: Erinnerungen, Berlin 2013. Brinkmann, Peter: Zeuge vor Ort, Berlin 2014. Falin, Valentin: Konflikte im Kreml, Der Untergang der Sowjetunion, Berlin, 2015. Falin, Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993. Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995. Gorbatschow, Michail: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hamburg 2013. Gorbatschow, Michail: Die Perestroika. Die zweite russische Revolution – Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987. Gorbatschow, Michail: Erinnerungen, Berlin 1995. Gorbatschow, Michail: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993. Gorbatschow, Michail: Meine Vision. Die Perestroika in den neunziger Jahren, München 1991. Gorbatschow, Michail: Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung, Berlin, 1999. Horn, Gyula: Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete. Hamburg 1991. Hutchings, Robert L.: Als der kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht. Berlin 1998. Kiessler, Richard; Elbe, Frank: Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1996. Klein, Hans: Es begann im Kaukasus, Berlin, 1991. Kohl, Helmut: Erinnerungen, 1982–1990, München 2005. Kohl, Helmut: Erinnerungen, 1990–1994, München, 2007. Kohl, Helmut: Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996. Kotschemassow, Wjatscheslaw: Meine letzte Mission, Fakten, Erinnerungen, Überlegungen, Berlin 1994. König, Gerd: Fiasko eines Bruderbundes, Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau. Berlin 2011. Krenz, Egon: Herbst ’89. Neues Leben, Berlin 1999.
416
Bibliografie
Krenz, Egon: Wenn Mauern fallen, Wien 1990. Kuhn, Ekkehard (Hg.): Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten deutschen und russischen Beteiligten, Bonn1993. Kwizinski, Julij: Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993. de Maizière, Lothar: Anwalt der Einheit, Berlin 1996. Modrow, Hans: Aufbruch und Ende, Hamburg 1991. Modrow, Hans: Ich wollte ein neues Deutschland, Berlin 1998. Schachnasarow, Georgi: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, Bonn 1996. Schewardnadse, Eduard: Die Zukunft gehört der Freiheit, Reinbek 1993. Teltschik, Horst: 329 Tage, Innenansichten der Einigung, Berlin 1993. Thatcher, Margaret: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993. Tschernjajew, Anatolij: Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, München 1993. Tschernjajew (Chernyaev), Anatolij: The Diary of Anatoly S. Chernyaev 1989 und 1990; in Internet: https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB275/1989% 20for%20posting.pdf Waigel, Theo: Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, München 1994. Walters Vernon A.: Die Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres. Die Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters, Berlin 1994. Weidenfeld, Werner: Außenpolitik für die deutsche Einheit, Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998. Zelikow, Philip und Rice, Condoleezza: Sternstunde der Diplomatie: Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1999.
3. Sekundärquellen Aufsätze Eppler, Erhard: Neues Denken in der Sicherheitspolitik. Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 8/87 vom 13. 7. 1987, S. 456 ff: Isensee, Josef: Der Beitritt vor 25 Jahren: Deutschlands Wiedervereinigung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Die politische Meinung. Nr. 60 /2015, S. 118–122. Langguth, Gerd: Die deutsche Frage und die Europäische Gemeinschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1990), B 29, S. 13–23. Lappenküper, Ulrich: „Le plus germanophile des chefs d’Etat français“?: François Mitterrand und Deutschland 1916–1996, in: Historische Zeitschrift: Nr. 297 (2013), S. 390–416. Ostermann, Christian F.: The United States and German Unification, in: Gehler, Michael und Graf, Maximilian (Hg.): Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017. Rödder, Andreas: Die deutsche Frage vor dem Einigungsvertrag: Parteien, Intellektuelle, Massenmedien in der Bundesrepublik, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Band 15, Heft 1, Seiten 295–310.
4. Wissenschaftliche Abhandlungen
417
Sarotte, Mary: Perpetuating U.S. Preeminence. The 1990 Deals to Bribe the Soviets Out and Move NATO, in: Internationale Security, Vol. 35, No. 1, 2010. Schweisfurth, Theodor: Perestroika durch Staatsrecht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 49/1989, S. 711. Shifrinson, Joshua R.: Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion, in: International Security, Vol. 40, Nr. 4, Herbst 2016, S. 7–44. Spohr, Kristina: Precluded or Precedent Setting? The ‚NATO Enlargement Question‘ in the Triangular Bonn – Washington – Moscow Diplomacy of 1990–1991, in: Journal of Cold War Studies 14, no. 4 (Herbst 2012), S. 33–35. Zoellick, Robert B.: Two Plus Four. The Lessons of German Unification, in: The National Interest, 2000, S. 17–28. Zubok, Vladislav: With his back against the Wall: Gorbachev, Soviet demise, and German reunification. In: Cold War History, Volume 14, 2014, S. 619–645.
4. Wissenschaftliche Abhandlungen Adomeit, Hannes: Gorbachev and the German Unification, Baden-Baden 1990. Albrecht, Ulrich: Die Abwicklung der DDR: Die „2 + 4-Verhandlungen“. Ein Insider-Bericht, Opladen 1992. Beschloss Michael R., Talbott, Strobe: Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989–1991, Düsseldorf 1993. Bierling Stephan G.: Wirtschaftshilfe für Moskau. Motive und Strategien der BRD und der USA 1990–1996, Paderborn 1998. Biermann, Rafael: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn 1997. Bock, Siegfried; Muth, Ingrid; Schwiesau, Hermann (Hg): DDR-Außenpolitik: Ein Überblick. Daten, Fakten, Personen (III), Berlin 2010. Buczylowski, Ulrich: Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951 (Zeitpolitische Schriftenreihe 13), Stuttgart 1973. Bush, George und Scowcroft, Brent: A World Transformed. The Collapse of the Soviet Empire. The Unification of Germany. Tiananmen Square. The Gulf War, New York 1998. Cornwell, Bernard: Waterloo – Eine Schlacht verändert Europa, Berlin 2015. Gehler, Michael und Graf, Maximilian (Hg.): Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017. Geiger, Rudolf: Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht, München 2009. Görtemaker, Manfred u. a.: Das Ende des Ost-West-Konflikts? Berlin 1990 (Landeszentrale für politische Bildungsarbeit), Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 245, 2004. Grabowsky, Volker. Zwei-Nationen-Lehre oder Wiedervereinigung. Die Einstellung der Partei der Arbeit Koreas und der Sozialistischen Einheitspartei
418
Bibliografie
Deutschlands zur nationalen Frage ihrer Länder seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich, Bochum 1987. Greiner, Bernd; Müller, Christian; Weber, Claudia (Hg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010. Helmig, Jan: Metaphern in geopolitischen Diskursen. Raumrepräsentationen in der Debatte um die amerikanische Raketenabwehr, Berlin 2008. Hertle, Hans-Hermann: Die Berliner Mauer, Bonn 2007. Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls, Berlin 2009. Heumann, Hans-Dieter: Hans-Dietrich Genscher: Die Biografie, Paderborn 2012. Hoßfeld, Uwe: Hochschule im Sozialismus, Studien zur Geschichte der FriedrichSchiller-Universität Jena (1945–1990), Köln 2007. Köhler, Henning: Adenauer. Eine politische Biographie. Bd. 2, Berlin 1997. Koop, Volker: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, München 2003. Küsters, Hanns-Jürgen: Der Zerfall des Sowjetimperiums und Deutschlands Wiedervereinigung. The Decline of the Soviet Empire and Germany’s Reunification. Wien 2016. Lappenküper, Ulrich: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011. Lehmann, Ines: Die Außenpolitik der DDR 1989/1990, Baden-Baden 2010. Oldenburg, Fred: Deutsche Einheit und Öffnung der NATO. Köln 1996. Plato, Alexander von: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2003. Rödder, Andreas: Deutschland Einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2011. Saal, Yulia von: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion, Berlin 2014. Sarotte, Mary: 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009. Sarotte, Mary: The Collapse, New York 2014. Schabert, Tilo: Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, Stuttgart 2002. Schlott, René: Die Frage der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in den internationalen Verhandlungen zur deutschen Einheit, München 2007. Schmidt, Jan-Henrik: Der unterschätzte Krieg. Europa und der deutsch-französische Krieg von 1870/1871, Hamburg 2014. Scholtyseck, Joachim: Die Außenpolitik der DDR, München 2003. Stent, Angela: Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Russland im neuen Europa, Berlin 2000. Sturm, Daniel F.: Uneinig in die Einheit: Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006. Thamer, Hans-Ulrich: Die Völkerschlacht bei Leipzig, München, 2013. Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei? München 2008. Wettig, Gerhard: The Soviet Union and the German Unification, Berlin 1990. Winkler, Heinrich-August: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014.
5. Zeitzeugengespräche zwischen 1989–2017
419
Zarusky, Jürgen: Die Stalin-Note vom 10. März 1952: Neue Quellen und Analysen, Göttingen, 2010.
5. Zeitzeugengespräche zwischen 1989–2017 Egon Bahr: SPD-Politiker Brandt, Willy: Bundeskanzler BRD, SPD Eppelmann, Rainer: Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR, Partei Demokratischer Aufbruch DDR Genscher, Hans-Dietrich: BRD-Außenminister, FDP Kohl, Helmut: Bundeskanzler der BRD, CDU Krenz, Egon: SED-Generalsekretär, Staatsratsvorsitzender der DDR Lafontaine, Oskar: von 1985 bis 9. 11. 1998 Ministerpräsident des Saarlandes, ab 1995 SPD-Vorsitzender; ab September 1998–1999 Bundesfinanzminister Maizière, Lothar de: Ministerpräsident der DDR, CDU Meckel, Markus: Außenminister der DDR, SPD Modrow, Hans: Ministerpräsident der DDR, SED/PDS Momper, Walter: Regierender Bürgermeister in Berlin (West), SPD Schabowski, Günter: SED-Politbüromitglied Sudhoff, Jürgen: Staatssekretär der Bundesregierung mit Zuständigkeit für die 2 + 4-Verhandlungen, FDP Teltschik, Horst: Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU Voigt, Carsten: Außenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag — Tonbandaufnahmen und -abschriften der Gespräche im Besitz des Autors
6. Presseartikel Berliner Kurier, 22. 10. 1999, Nr. 284/99, S. 2/3. Interview mit Egon Krenz. Autor: Peter Brinkmann BamS, 5. 5. 1991, Nr. 18 /91, S. 2. Gespräch mit Eduard Schewardnadse. Autor: Friedemann Weckbach-Mara. Bild am Sonntag, 28. 1. 1990, Nr. 4/90, S. 1, Interview mit Hans-Dietrich Genscher. Bild, 15. 4. 2017, Nr. 105/17, S. 2/3. Interview mit Michail Gorbatschow, Autor: Kai Diekmann. Bild, 28. 4. 1990, Nr. 99/90, S. 1, Titel: „Wir erwarten keine starken Widerstände in Moskau“. Autor: Peter Brinkmann. Interview mit DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière. Das Blättchen, Nr. 5/16 vom 29. 2. 2016, Aufsatz von Karsten Voigt. FAZ, 1. 6. 1990, Nr. 126/90, S. 1. Autor: Leo Wieland: Differenzen über Deutschland und Litauen. FAZ 12. 11. 1989: Sonderausgabe im Internet unter www. www.faz.net/extrablatt
420
Bibliografie
FAZ, 6. 4. 1988, Nr. 80/88, S. 1. Autor: Ernst Otto Maetzek: Heißer Sommer in Moskau. FAZ, 19. 4. 2014, Nr. 16/2014, S. 5. Autorin: Marie Katharina Wagner: „Was versprach Genscher?“ FAZ, 10. 1. 1989, Nr. 8/89, S. 10; Autor: Leo Wieland: Ein Globetrotter. FAZ, 6. 4. 1989, Nr. 80/89, S. 13; Autor: Klaus Broichhausen, Mehr kleine Projekte statt Milliardenaufträge. Frankfurter Rundschau (FR), 20. 7. 1990, Nr. 166/90, S. 7; Interview mit DDR-Außenminister Markus Meckel. Los Angeles Times, 2. 11. 1986, Autor: William Tuohy. Meldung Radio DDR, 11. 11. 1989/12.30 Uhr / Politik am Mittag, Egon Krenz am Mikrofon. Neues Deutschland, 26. 10. 1976, Nr. 255/76, S. 3. Neues Deutschland, 7. 7. 1989, Nr. 158, 44 Jahrgang, S. 3. Rede von Gorbatschow in Straßburg. Neues Deutschland, 27. 6. 1990. S. 3. Interview Schewardnadse. Neues Deutschland, 13./14. 2. 1988: Erich Honecker. Spiegel, 17. 7. 1989, Nr. 29/89, S. 126 f.; „Großer Führer“. Spiegel, 2.10.1995, Nr. 40/95, S. 66; Interview von Stefan Aust, Jörg R. Mettke, Andreej Batrak mit Michail Gorbatschow. Überschrift: „Schön, ich gab die DDR weg“. Spiegel, Nr. 7/81 vom 9. 2. 1981, S. 100 ff. Titel: „Reagan: Wir dürfen nicht zimperlich sein“. Ohne Autorenangabe Spiegel, Nr. 51/1989 vom 18. 12. 1989, S. 17 ff. Titel: „Aus Angst vor der Einheit“. Spiegel Nr. 48/2009, S. 46 ff. Titel: „Absurde Vorstellung“. Autoren: Uwe Klussmann, Matthias Schepp, Klaus Wiegrefe. Ohne Autorenangabe. Stuttgarter Zeitung, 14. 2. 1990 Süddeutsche Zeitung, 2. 2. 1990, Nr. 27/99, S. 2; Titel: „Deutschland muss in der NATO bleiben“. Süddeutsche Zeitung: Kohl, Helmut: Bei deutscher Einheit soll der NATO-Bereich nicht nach Osten ausgedehnt werden. SZ 9. 2. 1990. Time, 28. 5. 1990. Nr. 22/90, S. 10 f.; Playing for Keeps. Autor: Bruce W. Nelan Tribüne, 1. 8. 1990. Gespräch mit DDR-Außenminister Markus Meckel. Wall Street Journal, 26. 1. 1990. Nr. 24/90; S. A 12; Titel: „Thatcher sees East European Progress as more urgent than Germans Unity“. Autor: Robert Keatly u. a. WamS, 27. 9. 1992, Nr. 39/1992; S. 1, 25–27, Interview Kanzler Kohl mit Siegmar Schelling und Heinz Vielain. WamS, 20. 3. 1990. Nr. 67/90; S. 1. Gespräch mit Gorbatschow Berater Daschitschew. Autor: Manfred Schell (ms). WamS, 18. 3. 1990, Nr. 11/89; S. 1,7. Titel: „SPD machte auch Samstag noch Wahlkampf“.
7. Sekundärquellen im Internet / Letzter Zugriff:
421
7. Sekundärquellen im Internet / Letzter Zugriff: Baker Treffen mit Schewardnadse am 4. Mai 1990 in Bonn: https://assets.documentcloud.org/documents/4325694/Document-17-JamesA-Baker-III-Memorandum-for-the.pdf/7.6.2020 Bush: Bushs unbemerkte Rede gegen die „brutale Mauer“: www.welt.de/politik/article3829464/Bushs-unbemerkte-Rede-gegen-die-brutale-Mauer.html / 7.6.20 Daschitschew: Aufsatz über Gorbatschow Berater Daschitschew: www.deutschlandjournal.de/Deutschland_Journal_-_Jahresau/Deutschland_ Journal_-_Jahresau/Bemuhen_um_eine_sittliche_Staatsraison.pdf / 7.6.20 Europa und die deutsche Einheit. Perzeptionen – Reaktionen – Entscheidungen: Konferenz 1./2. Oktober 2015. Staatsarchiv Wien. www.hsozkult.de/event/id/termine-28750 / 7.6.2020 Genscher, Hans-Dietrich: „Weltspiegel“ / ZDF: Abmachung 1990: Keine Osterweiterung der NATO – Außenminister Genscher & Baker vom Februar 1990. www.youtube.com/watch?v=dW3DWgMAwz0 / 28.10.17 Grundzüge deutscher Außenpolitik 1949–1990: www.bpb.de/izpb/7892/grundzuege-deutscher-aussenpolitik-1949-1990?p=all / 7.6.20 Gorbatschow, Michail: RBTH Interview mit Gorbatschow 16. Oktober 2014 www.rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_am_against_ all_walls_40673.html Horsmann, Thomas: Zwei Staaten – eine Nation: http://www.vorwaerts.de/artikel/zwei-staaten-nation 7.6.2020 Italien und die deutsche Einheit: Deborah Cuccia, Italien und die deutsche Einigung 1989/1990 www . berlinerkolleg . com / de / blog / italien - und - die - deutsche - einigung 19891990 / 7.6.2020 Klussmann, Uwe u. a.: Absurde Vorstellung. Spiegel Artikel 23.11.2009: web . archive . org / web / 20141110132304 / www . spiegel . de / spiegel / print / d 67871653.html / 14.8.17 Kohl im Kaukasus: www . bayernkurier . de / inland / 4122 - kohl - gorbatschow - und - eine - planetarische-revolution / 7.6.20 Kriegsziele 1945: www . bpb . de / geschichte / nationalsozialismus / dossier - nationalsozialismus / 39583/kriegsziele-der-alliierten?p=all) / 7.6.20 NATO-Osterweiterung Mythos. ZDF 9.11.2014. Gorbatschow zum „Versprechen“ NATO-Erweiterung: www.youtube.com/watch?v=vzkszMavbiE. 7.6.20
422
Bibliografie
NATO: Russlands Anschuldigungen – eine Richtigstellung: chrome-extension://oemmndcbldboiebfnladdacbdfmadadm/ https://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2014_04/20140523_140411-fact_sheet_Russia-ger.pdf Pifer, Steven: Did NATO Promise Not to Enlarge? Gorbachev Says „No“ 6.11. 2014. Brookings: www.brookings.edu/blog/up-front/2014/11/06/did-NATO-promise-not-toenlarge-gorbachev-says-no/ (Putin Feb 2007 München) / 5.1.17 Rogozin, Dmitry Olegovich: Vertreter Russlands bei der NATO (2008–2011) über die NATO – Osterweiterung: www.e-reading.club/bookreader.php/1022727/Rogozin_-_NATO_tochka_Ru. html / 7.6.20 Sestanovich, Stephen: Could It Have Been Otherwise? In: The American Interest. Nr. 5, 14.4.2015 www.the-american-interest.com/2015/04/14/could-it-have-been-otherwise/ 9.8.16 Shifrinson, Joshua: Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion. https://www.mitpressjournals.org/doi/full/10.1162/ISEC_a_00236?mobileUi= 0 /7.6.2020 Stern Magazin: Das dachten Thatcher & Co. wirklich. 4.9.2009 www.stern.de/politik/deutschland/mauerfall/20-jahre-mauerfall-reaktionendas-dachten-thatcher-co--wirklich-3445312.html /4.12.16 Sowjetunion: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit: www.bpb.de/apuz/59638/von-der-sowjetunion-in-die-unabhaengigkeit?p=all. Die am 7. November 1917 gegründete „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ erklärte sich bereits am 12. Juni 1990 für „souverän“ (Nicht für „unabhängig“!) von der Sowjetunion. Die Sowjetunion löste sich zum 31. Dezember 1991 auf. Russland erklärte sich zum Nachfolgestaat der Sowjetunion und übernahm auch in der UNO den Sitz, den bisher die Sowjetunion innehatte. 4.4.2017 Schröder, Gerhard: zur Einheit: www.wallstreet-online.de/diskussion/500-beitraege/660752-1-500/gerhardschroeder-zur-wiedervereinigung / 7.6.20 Tantzscher, Monika: Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von „Republikflucht“: Reihe B: Analysen und Berichte Nr. 1/1998). Hg. BStU. Berlin 1998. / 3.10.16 Vogel, Thomas: Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit www.bpb.de/apuz/59638/von-der-sowjetunion-in-die-unabhaengigkeit?p=all /8.12.16
7. Sekundärquellen im Internet / Letzter Zugriff:
423
Versprechen: http://foreignpolicy.com/2009/08/22/a-diplomatic-mystery/./7.6.2020 Wenger Andreas und Jeronim Perovic: Russland und die Osterweiterung der Nato – Herausforderung für die russische Außen- und Sicherheitspolitik 1997) www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/ZB_43.pdf / 3.12.17 Wiegold, Thomas: Russlands neue Militärdoktrin: Neue Bedrohungen, NATO als Gegner, hybride Kriegführung. 26.12.2014: augengeradeaus . net / 2014 / 12 / russlands - neue - militaerdoktrin - neue - bedrohungen-NATO-als-gegner-hybride-kriegfuehrung/comment-page-1/ 28.10. 2017 ZDF-Bericht: Wurde Russland in der NATO-Frage getäuscht? www.phoenix.de/content/phoenix/die_sendungen/977930/4.5.17 Zeit: Der Kampf um Europa: www.zeit.de/2000/33/Der_laengste_Sargnagel/komplettansicht /2.6.16
Kurzbiografien ausgewählter handelnder Politiker Egon Bahr Deutscher SPD-Politiker und Journalist, u. a. Bundesminister für besondere Aufgaben (1972–1974) und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1974–1976), der die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt unter dem Leitgedanken „Wandel durch Annäherung“ entscheidend prägte. Er wurde am 18. März 1922 in Treffurt geboren und starb am 20. August 2015. Leonid Iljitsch Breschnew Sowjetischer Politiker und langjähriger Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU (1964–1983). Er wurde am 1. Januar 1907 in Kamenskoje (heute Dniprodserschynsk) im Russischen Kaiserreich (heute Ukraine) geboren und verstarb am 10. November 1982 mit 75 Jahren in Moskau. James A. Baker US-amerikanischer Anwalt und Politiker. Der am 28. April 1930 Geborene war im Weißen Haus Chief of Staff und Schatzmeister unter Präsident Ronald Reagan. Unter Präsident George Bush war er Chief of Staff und Außenminister. Er war wesentlich am Zustandekommen der deutschen Wiedervereinigung beteiligt. George H. W. Bush US-amerikanischer Politiker der Republikanischen Partei und der ehemalige 41. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1989–1993). Er war wesentlich an der deutschen Einheit beteiligt. Er wurde am 12. Juni 1924 in Milton geboren. Gestorben 30. November 2018. Wjatscheslaw Daschitschew Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme im Rahmen der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats im sowjetischen Außenministerium. Er setzte sich für die Überwindung des Stalinismus und der Herrschaftspolitik des Kremls ein. Seine Ideen trugen wesentlich zur Aufhebung der sowjetischen Dominanz über Ostmitteleuropa, zur Einstellung des Kalten Krieges und zur Wiedervereinigung Deutschlands bei. Hans-Dietrich] Genscher FDP-Politiker, der als langjähriger Außenminister Deutschlands (1974–1992, mit kurzer Unterbrechung beim Koalitionswechsel 1982) über viele Jahre maßgeblich die außenpolitischen Geschicke der Bundesrepublik lenkte
Kurzbiografien ausgewählter handelnder Politiker
425
und u. a. die deutsche Wiedervereinigung mitgestaltete. Er wurde am 21. März 1927 in Reideburg (gehört heute zu Halle an der Saale) geboren und verstarb am 31. März 2016 mit 89 Jahren in Wachtberg-Pech. Michail Gorbatschow Russischer Politiker und Staatsmann, der als Generalsekretär der KPdSU ab 1985 die Perestroika gestaltet und die Wende sowie das Ende des Kalten Krieges mit einläutete und für seine führende Rolle mit dem Friedensnobelpreis 1990 ausgezeichnet wurde. Er wurde am 2. März 1931 in Priwolnoje, Stawropol in der Russischen SFSR, Sowjetunion (heute Russland) geboren. Erich Honecker Deutscher kommunistischer Politiker, langjähriger Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (1971–1989) sowie Staatsratsvorsitzender und damit Staatsoberhaupt (1976–1989) der als realsozialistische Parteidiktatur geführten „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR). Er wurde am 25. August 1912 in Neunkirchen geboren und verstarb mit 81 Jahren am 29. Mai 1994 in Santiago de Chile in Chile. Douglas Hurd Britischer Politiker. War Staatsminister, Nordirlandminister, Innenminister und als Außenminister von Großbritannien Teilnehmer an der Zweiplus-Vier-Konferenz, die die deutsche Einheit aushandelte. 1995 beendete er seine politische Karriere. Geboren 8. März 1930 in London. Helmut Kohl Deutscher CDU-Politiker, der als sechster Bundeskanzler die Bundesrepublik über die Rekordzeit von 16 Jahren (1982–1998) regierte und als „Kanzler der Einheit“ vor allem als einer der Architekten der deutschen Wiedervereinigung sowie des Zusammenwachsens Europas in Erinnerung bleibt. Er wurde am 3. April 1930 in Friesenheim, Ludwigshafen am Rhein geboren und starb mit 87 Jahren am 16. Juni 2017 in Oggersheim, Ludwigshafen am Rhein. Günther Krause Deutscher Politiker aus der DDR, studierte Bauingenieurwesen und Informatik in Weimar, Eintritt in die CDU der DDR 1975. Nach der friedlichen Revolution 1990 CDU-Vorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern. Ab März Abgeordneter der Volkskammer, Staatssekretär in der DDR-Regierung unter Lothar de Maizière (CDU). Verhandelte mit der Bundesregierung die Details der deutschen Einheit aus. Ab Dezember 1990 Mitglied im Bundestag. Bundesminister für besondere Aufgaben und dann für Verkehr. Rücktritt am 6. Mai 1993. Seither in der freien Wirtschaft tätig. Geboren am 13. 9. 1953 in Halle (Saale).
426
Kurzbiografien ausgewählter handelnder Politiker
Egon Krenz Ehemaliger deutscher Politiker der SED, der lange Zeit der „zweite Mann“ hinter Erich Honecker war und nach dessen Flucht im letzten Jahr der DDR für einige Monate das Amt des SED-Generalsekretärs und des Staatsratsvorsitzenden der DDR (1989) bekleidete. Er wurde am 19. März 1937 in Kolberg (heute Kołobrzeg, heute Polen) geboren. François Mitterrand Französischer Politiker und Staatspräsident der Französischen Republik (1981–1995). Er wurde in den 1910er-Jahren am 26. Oktober 1916 in Jarnac, Charente in Frankreich geboren und verstarb am 8. Januar 1996 mit 79 Jahren in Paris. Wladimir Putin Russischer Politiker, der als aktueller Präsident Russlands (2000–2008, seit 2012) und zuvor als Ministerpräsident Russlands (1999–2000, 2008–2012) die Geschicke seines Landes lenkt. Er wurde am 7. Oktober 1952 in Leningrad (heute Sankt Petersburg) in der Russischen SFSR, Sowjetunion (heute Russland) geboren. Ronald Reagan US-amerikanischer Schauspieler und Politiker der Republikanischen Partei, Gouverneur von Kalifornien (1967–1975) und 40. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1981–1989), dessen Amtszeiten durch seine „Reaganomics“-Wirtschaftspolitik und das Ende des Kalten Krieges geprägt waren. Er wurde am 6. Februar 1911 in Tampico, Illinois in den Vereinigten Staaten geboren und starb mit 93 Jahren am 5. Juni 2004 in Bel Air, Los Angeles, Kalifornien. Günter Schabowski Deutscher Politiker der SED und Mitglied des Politbüros, der mit der Verlesung einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989 die Öffnung der Berliner Mauer herbeiführte. Er wurde am 4. Januar 1929 in Anklam geboren und verstarb mit 86 Jahren am 1. November 2015 in Berlin Eduard Schewardnadse Georgischer Politiker, der als letzter sowjetischer Außenminister (1985–1990, kurz 1991) unter Gorbatschow das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einheit mitgestaltete und später wenig erfolgreich als Staatsratsvorsitzender (1992–1995) und Präsident (1995–2003) Georgien regierte. Er wurde am 25. Januar 1928 in Mamati in der Georgischen SSR, Sowjetunion (heute Georgien) geboren und verstarb mit 86 Jahren am 7. Juli 2014 in Tiflis in Georgien.
Kurzbiografien ausgewählter handelnder Politiker
427
Horst Teltschik Deutscher Politologe und Wirtschaftsmanager. Er war enger Vertrauter Helmut Kohls und als politischer Beamter im Bundeskanzleramt tätig. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz. Margaret Thatcher Britische Politikerin und erste weibliche Premierministerin des Vereinigten Königreichs (1979–1990), die sich in ihrer langjährigen Amtszeit u. a. mit einschneidenden Wirtschafts- und Sozialreformen sowie ihrem Eingreifen im Falkland-Krieg den Spitznamen der „Eisernen Lady“ erwarb. Sie wurde am 13. Oktober 1925 in Grantham, Lincolnshire in England geboren und starb am 8. April 2013 mit 87 Jahren in London. Vernon Anthony Walters Nachrichtendienstler und Diplomat. Er diente über fünf Jahrzehnte lang acht verschiedenen US-Präsidenten als antikommunistischer Kämpfer im Kalten Krieg, zunächst in ausführender Rolle, später als Planer von offenen und verdeckten Aktionen und Verhandlungen in aller Welt. In die öffentliche Wahrnehmung geriet Walters erst im letzten Drittel seiner Karriere, vor allem 1972–1976 als stellvertretender Direktor der Central Intelligence Agency (CIA), 1985–1989 als Botschafter bei den Vereinten Nationen und 1989–1991 als Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland.
Dank Vor acht Jahren bewog mich Dr. Dr. Gerhard Beil dazu, über die Hintergründe der Entscheidungen von 1989/90, die zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 führten, eine Recherchearbeit zu beginnen. Wir hatten gerade mit dem Verleger Frank Schumann ein Buchprojekt über das Leben des ehemaligen Außenhandels-Minister der DDR abgeschlossen. Aus diesen Begegnungen und Gesprächen mit Dr. Dr. Beil und aus meiner aktiven Tätigkeit als Korrespondent der „Bild“-Zeitung in der DDR während der Revolution / Wendejahre 1989/90 entstand dann die Idee, das Thema „Deutsche Einheit und NATO“ eingehender zu prüfen. Dr. Dr. Beil stellte auch den Kontakt zur Universität Zielona Góra her. Leider verstarb er kurz nach dem ersten Besuch in der polnischen Universitätsstadt. Herrn Dr. Dr. Beil bin ich als Initiator zu ganz großem Dank verpflichtet. Dieser Dank gebührt auch der unendlichen Geduld meiner Partnerin Prof. Dr. Gudrun Kammasch. Dank auch meinen Kollegen und Freunden Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann, Dr. Norbert Seitz, Prof. Dr. Martin Pätzold, Prof. Dr. Hans-Joachim Funke und Volker Koop. Sie haben mich auf Nachlässigkeiten, Fehler und Unterlassungen immer wieder aufmerksam gemacht. Ohne die Unterstützung der Beteiligten im Jahr 1989/90 wäre alle Mühe vergeblich gewesen. An erster Stelle habe ich für Anregungen, Gespräche, Korrekturen und Hinweise den Herren Lothar de Maizière, Horst Teltschik, Hans Modrow, Frank Schumann, Günther Krause, den fleißigen Helfern im Bundesarchiv, in der Pressedokumentation des Deutschen Bundestages und in diversen Verlagshäusern zu danken. Und ohne die Professoren in Zielona Góra und Berlin, Herrn Prof. Dr. Leszek Belzyt und Prof. Dr. Klaus Schröder von der FU Berlin, wäre dieses Projekt nie entstanden. Dafür ganz besonderen Dank. Schließlich bedanke ich mich bei meinen drei Söhnen Leo, Jan und Felix, die mit viel Neugier und wachem Interesse dieses Projekt begleitet haben. Berlin 2020, Peter Brinkmann
Personenregister
Adenauer, Konrad 42, 46, 47, 49, 113 Adomeit, Hannes 30 Baker, James 20, 22, 26, 30, 54, 63, 69–71, 74, 76–79, 84, 93, 97, 103, 105, 114–116, 119, 129–131, 137, 142, 170–173, 175, 181, 182, 191, 192, 194, 198–201, 204, 205, 213, 214, 220, 232, 233, 238–243, 249, 250, 265, 268, 270, 275, 279–283, 288, 289, 293, 294, 297–304, 308, 309, 311, 320, 333–338, 346–348, 359, 360, 381, 388, 395, 400 Beil, Gerhard 133 Bismarck, Otto von 35, 225 Blackwill, Robert 195, 196, 206, 239 Brandt, Willy 42, 50, 51, 59, 60, 147, 160, 198, 209, 210, 260 Brinkmann, Peter 89 Bush, H.W. 9, 17, 20, 22, 23, 26, 54, 64–72, 74–77, 79–84, 87, 93, 95–99, 105, 106, 114, 120–122, 137–144, 146, 147, 165–175, 178, 180–186, 188, 191, 195, 198, 200, 204, 206, 211–214, 216–220, 223, 227, 228, 231, 239–241, 249, 251, 255, 263, 272, 275, 277–287, 289–294, 297, 299–301, 305, 306, 309–311, 334–338, 345, 351, 352, 355–357, 360, 364, 366, 371, 378, 396 Churchill, Winston
38
Dulles, John Foster
70
Eisenhower, Dwight D. 70 Eppelmann, Rainer 248 Falin, Valentin 27, 92, 106, 135, 151, 161, 200, 201, 206, 234, 237, 244–246, 252, 253, 261, 270–273, 285, 313, 314, 321–325, 329, 333, 339, 351, 355, 358 Fischer, Oskar 91 Fitzwater, Marlin 93 Fjodorow, Rafael 151, 273, 339 Genscher, Hans-Dietrich 16, 21–23, 29, 30, 43, 55, 84, 85, 94, 95, 99, 101, 105, 106, 110–112, 116, 119–125, 128, 129, 153, 177, 182, 186–194, 197, 199, 200, 203–206, 215, 218, 228, 238–241,
243, 249, 260, 264–271, 279, 282, 283, 293, 299, 301, 302, 320, 327, 329–331, 334, 335, 339, 341, 342, 346–349, 353, 359, 381, 395, 400 Goebbels, Joseph 62 Gorbatschow, Michail 9, 16, 19, 20, 24, 26, 27, 29–33, 54, 60–87, 90–95, 98, 101–105, 107, 109, 113–116, 119–126, 129, 132–139, 141–146, 148–173, 175–178, 180–184, 189, 191, 193, 199–201, 204, 206, 207, 210–214, 217, 219–246, 249–257, 259–263, 265, 267, 268, 270–279, 281–292, 294–297, 299–301, 304–306, 311, 313–316, 318–322, 324–341, 343–345, 347, 351–366, 370, 376–378, 384–387, 392, 393, 396, 399 Honecker, Erich 25, 51, 52, 57, 69, 87, 104, 107, 150, 160–162, 175, 177 Horn, Gyula 84, 176 Hurd, Douglas 22, 98, 203, 204, 249, 346–348, 353 Jakowlew, Alexander 135, 149, 150, 158, 201, 231, 237, 316–319, 387 Kastrup, Dieter 213, 266, 270, 341, 347 Kissinger, Henry 96, 97 Klein, Hans 22, 325, 328 Kohl, Helmut 16, 20–22, 26, 30, 32, 52, 55, 61, 62, 66, 68, 69, 72, 81, 83, 84, 87, 92–95, 99–105, 107–114, 116–118, 120–126, 128, 129, 131–135, 137, 141, 143–146, 149, 152, 154, 174, 178–180, 182–188, 190–193, 198–201, 203, 204, 206, 207, 210–216, 218–221, 223–229, 233, 236, 237, 240–249, 252–254, 256, 260–263, 265, 269, 276–280, 282, 283, 286, 287, 293–297, 299, 302, 304–307, 310, 320–325, 327–329, 331, 333–339, 341–345, 351, 352, 357, 359, 360, 362, 366, 373, 379, 381, 388, 400 Kotschemassow, Wjatscheslaw 27, 90, 91, 150, 252 Kramer, Mark 30 Krenz, Egon 22, 25, 69, 87, 89–91, 99, 101, 113, 176–178, 182, 208, 211, 218 Kwizinski, Juli Alexandrowitsch 27,
430
Personenregister
62, 150, 224, 225, 227, 237, 252–254, 261, 278, 341, 345–347 Lafontaine, Oskar
46, 109, 197, 253
Maizière, Lothar de 22 Mallaby, Christopher 68, 204, 295 Maximytschew, Igor Fjodorowitsch 234 Mielke, Erich 90, 358 Modrow, Hans 16, 22, 24, 104, 105, 110, 127, 132, 134–136, 183, 184, 200, 201, 204, 208, 209, 211, 215, 222, 228–237, 241, 242, 245, 357–359, 362, 375 Napoleon Bonaparte 34 Naumann, Klaus Dieter 30 Németh, Miklós 84–86 Oldenburg, Fred
30
Pieck, Wilhelm 50 Plato, Alexander von 138, 256 Portugalow, Nikolaj 106–108, 134, 151, 217, 242, 252, 261, 267, 272, 339, 362 Putin, Wladimir W. 9, 28, 29, 54, 320, 362, 364–366 Rice, Condoleezza 71, 72, 119, 132, 142, 180, 181, 285, 347 Rödder, Andreas 30 Roosevelt, Franklin D. 38, 114 Sarotte, Mary 29, 289 Schabowski, Günter 88–92, 178, 179 Schachnasarow, Georgi 27, 86, 149, 237 Schalck-Golodkowski, Alexander 209
Schäuble, Wolfgang 146 Scheel, Walter 42, 160 Schröder, Gerhard 45 Seiters, Rudolf 68, 208, 209, 211, 212 Shifrinson, Joshua R. 30 Skubiszewski, Krysztof 43, 215 Snyder, Sarah B. 30 Spohr, Kristina 24, 30 Stalin, Josef W. 38, 40–42, 47, 93, 105, 113, 114, 160 Stepanow, Tejmuras G. 115, 150 Strauß, Franz-Josef 61, 301 Tarassenko, Sergej 150, 262, 274, 320 Teltschik, Horst 22, 54, 69, 72, 95, 97, 98, 106, 108, 111, 116–118, 126–128, 181, 185, 202, 209, 217, 218, 223–227, 235, 237, 245, 246, 256, 262–264, 267, 272, 277–279, 282, 286, 293, 295, 298, 299, 305, 314–316, 321, 325–328, 334, 336, 341, 342, 345, 351–353, 381, 383, 385 Tschernjajew, Anatoli S. 71, 92, 107, 115, 135, 136, 149, 151, 182, 231, 237, 260, 268, 272, 274, 291, 292, 329, 337, 359 Ulbricht, Walter
50, 51, 113
Wałe˛sa, Lech 74, 176, 367–369 Waigel, Theo 22, 210, 214, 327, 328, 335, 349, 360 Walters, Vernon A. 70–72, 147, 194 Weizsäcker, Richard von 60, 83, 93 Wettig, Gerhard 30 Wörner, Manfred 93, 200, 204–206, 239, 249, 307, 310 Zelikow, Philip
23, 142, 206, 239