Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel: Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik [Reprint 2012 ed.] 9783110948189, 9783484680050

Die Studie beschreibt die Validierung der Rhetorik durch die Philosophie des deutschen Idealismus am Beispiel dreier ihr

262 106 5MB

German Pages 179 [180] Year 1993

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Table of contents :
Einleitung
1. Kant - Pathologie der Rhetorik
1.1 Katharsis - Fragmente rhetorisch-dialektischer Tradition in der “Kritik der reinen Vernunft”
1.2 Die Rhetorikkritik der “Kritik der Urteilskraft”
1.3 Die Stimme der Vernunft: Das Problem der Darstellung
2. Fichte - Assimilation der Rhetorik
2.1 Schulrhetorik
2.2 Philosophie und Rhetorik
3. Hegel - Theorie der Rhetorik
3.1 Zwischen Historiographie und Poesie: Rhetorik als “Prosa praktischer Zwecke”
3.2 Rhetorik als Gestalt des Geistes
3.3 Rhetorik in Preußen - Die öffentliche Meinung und der weise Monarch
3.4 Ausblick: Hegels Begriff der Rhetorik im Licht heutiger Rhetorikforschung
4. Zusammenfassung
5. Bibliographie
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Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel: Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik [Reprint 2012 ed.]
 9783110948189, 9783484680050

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RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band 5

Tobia Bezzola

Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bezzola, Tobia : Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel : ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik / Tobia Bezzola. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Rhetorik-Forschungen ; Bd. 5) NE: GT ISBN 3-484-68005-9

ISSN 0939-6462

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Inhalt

Einleitung

1

1. Kant - Pathologie der Rhetorik

6

1.1 Katharsis - Fragmente rhetorisch-dialektischer Tradition in der "Kritik der reinen Vernunft"

6

1.1.1 Angewandte Logik" als transzendentale Rhetorik

8

1.1.2 Transzendentalisierung von "Dialektik" und "Topik"

12

Die "Dialektik der Alten" und die "transzendentale Dialektik"

14

"Transzendentale Topik"

17

Anmerkung: Geschichtsphilosophie als Aufklärungstopik

19

1.2 Die Rhetorikkritik der "Kritik der Urteilskraft"

20

1.2.1 Definition und Kritik der "Beredsamkeit"

21

Definition der Beredsamkeit

21

Genie versus Regel

25

Autonomie

29

Schema des Rhetorischen

31

Das (pseudo)ciceronische Rednerideal

32

Parasitismus und Amoral

35

Überflüssigkeit der Rhetorik

37

1.2.2 Die Differenz von Wohlredenheit und Beredsamkeit

41

Historischer Kontext: Ablehnung einer "philosophischen Oratorie"

42

Ästhetische Gründe für die Differenzierung

46

Die Differenz von überreden und überzeugen

47

Anmerkung: Universalkonsens als Differenzierungskriterium von "überreden" und "überzeugen" 1.2.3 Politische Rhetorik als Sabotage der Aufklärung 1.3 Die Stimme der Vernunft: Das Problem der Darstellung

48 50 54

Historischer Kontext: Rhetorische Popularphilosophie

54

Scholastischer und populärer Vortrag bei Kant

56 ν

Kants literarische Selbstqualifikationen

58

Dictamen rationis: Das bescheidene Stilideal

61

2. Fichte - Assimilation der Rhetorik 2.1 Schulrhetorik

64 66

2.1.1 Rhetorik als Poetik - Fichtes Valediktionsrede "De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu"

66

Vorbemerkung: lateinische Sprache und klassische Norm

66

"De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu"

70

Die Regeldiskussion in der deutschen Rezeption der Querelle - Die Vorbilder Geliert und Herder

72

Historisierung des Kanons

74

Der Ursprung der Regeln

77

Rhetorische Pädagogik

78

Der Exkurs über Überzeugung

80

Geschmack

82

Genie

84

2.1.2 Beiträge zur Schulrhetorik a)

"Versuch über die Beredsamkeit"

88

Geistliche Beredsamkeit

89

Rhetorik und Staatsform

91

b) "Plan anzustellender Redeübungen"

93

"Praktische Erlernung der Logik"

95

Bildung zum Weltmann

98

2.2 Philosophie und Rhetorik 2.2.1 Der Philosoph als Redner

101 103

Fichte als Redner

103

Rhetorische Kompetenz als Gelehrtenpflicht

106

2.2.2 Rhetorik der Philosophie

108

Geniale Philosophie

108

Die Kontroverse mit Schiller

113

Populäre und wissenschaftliche Darstellung

115

"Wissenschaft" als Spezialrhetorik

116

3. Hegel - Theorie der Rhetorik vi

88

120

3.1 Zwischen Historiographie und Poesie: Rhetorik als "Prosa praktischer Zwecke"

122

3.1.1 Vorzüge vor der Historiographie

123

Inhaltliche Freiheit

123

Formale Freiheit

124

Universalität 3.1.2 Defizite der Rhetorik gegenüber der Poesie

125 126

Prosaisches Bewußtsein

126

Prosaische Darstellung

128

Begriff der Beredsamkeit

130

3.2 Rhetorik als Gestalt des Geistes

131

3.2.1 Charakter der Sophistik

132

Geist und Politik: Die Genese der Rhetorik

132

Logik und Politik: Die rhetorische Methode

134

Zwischen gesundem Menschenverstand und Spekulation: Notwendigkeit der Rhetorik 3.2.2 Räsonnierende und spekulative Dialektik - Rhetorik und Philosophie 3.3 Rhetorik in Preußen - Die öffentliche Meinung und der weise Monarch Exkurs: Rhetorische Bildung als französische Bildung

137 141 145 148

3.4 Ausblick: Hegels Begriff der Rhetorik im Licht heutiger Rhetorikforschung.... 150 3.4.1 Literarisierung der Philosophie. Ontologisierung der Rhetorik

151

Nietzsche und die Folgen

152

Literatur und Philosophie

153

Ontologische Rhetorik

154

3.4.2 Aktualisierungen von Hegels Rhetorikbegriff

155

Technokratie, Wissen und Information

155

Rhetorik und Topik als Methoden vernünftiger Politik?

158

4. Zusammenfassung

161

5. Bibliographie

163

a) Quellen

163

b) Forschungsliteratur

166

vn

Einleitung

Der Untertitel dieser Arbeit bedarf der Erläuterung. Indem er die historischen Interferenzen zweier Disziplinen anspricht, kann der Ausdruck "Philosophiegeschichte der Rhetorik" zweierlei aktuelle historische Forschungsinteressen bezeichnen.1 Was Philosophie und Rhetorik einander vorgeworfen und voneinander übernommen haben, läßt sich heute sowohl aus der Sicht der Rhetorikgeschichte als auch aus der Sicht der Philosophiegeschichte betrachten. Es gibt so eine Geschichte der Philosophie als Gegenstand der Rhetorik, welche untersucht, wie philosophische Ethik, philosophische Rhetorikreflexion und Rhetorikkritik in Rhetoriktheorie selbst integriert worden sind. Die Geschichte der Rhetorik als Problem der Philosophie auf der anderen Seite zeichnet die Geschichte cter Kritik und Instrumentalisierung der theoretischen Gehalte jeweiliger Gestalten rhetorischer Doktrin seitens der Philosophie. Philosophiegeschichte der Rhetorik ist damit zum einen Geschichte der Rhetorik. Deren wissenschaftshistorische Erforschung vollzieht sich heute im wesentlichen in philologischer, in sozialgeschichtlicher sowie in philosophiegeschichtlicher Orientierung. Die philologische Forschung verfolgt die Rezeptionsgeschichte einzelner Rhetoriklehrbücher und -theorien oder einzelner Theoreme, betreibt Quellenkritik, weist Einflüsse, Traditionen und Traditionsbrüche nach und interessiert sich vornehmlich für Einflüsse der Rhetorik auf die Literaturgeschichte, ihre historische Funktion als produktionsästhetisches literarisches (poetisches, homiletisches, epistolographisches und historiographisches) Normensystem.2 Die sozialgeschichtlich orientierte historische Rhetorikforschung betrachtet unter dem Aspekt rhetorischer Praxisgebundenheit theoretische Veränderungen der Rhetorik als Ausdruck veränderter Kommunikationsbedingungen: Die Anpassung der Rhetorik an den sozio-politisch bedingten Wandel ihrer legitimen Gebrauchsweisen wird als Ursache des Wandels der Gestalten rhetorischer Theorie interpretiert und untersucht.3 Rhetorikgeschichte als Philosophiegeschichte der Rhetorik schließlich geht von der Tatsache aus, daß die philosophische Kritik der Rhetorik in die Rhetoriktheorie selbst einfließt; exemplarisch belegt dies etwa Aristoteles' Versuch der Überwindung der platonischen Kritik der sophistischen Rhetorik. Die von der Philosophie erzwungene Re1 2

3

Der Ausdruck "Philosophiegeschichte der Rhetorik" stammt von Michael Cahn (Cahn 1986). Dieser bezeichnet damit jedoch lediglich einen Teilbereich der Rhetorikgeschichte. Diese Ausrichtung findet sich, der Natur der Sache entsprechend, in den verschiedenen breiten Darstellungen der Geschichte der Rhetorik, z.B. Barilli 1983, Clarke 1980, Eisenhut 1982, Fuhrmann 1984, Murphy 1974. Vgl. die diesbezüglich Maßstäbe setzenden Arbeiten von Barner 1970 und Gabler 1982. 1

flexion ihres ethisch-politischen Selbstverständnisses und ihres epistemologischen Status verändert die Rhetorik und führt, nach Meinung einiger Autoren, letztlich ihren Untergang herbei.4 Diese Auseinandersetzung der Philosophen mit der Rhetorik ist zugleich ein philosophiehistorischer Tatbestand. Für die Philosophiegeschichte ist Philosophiegeschichte der Rhetorik zunächst Problemgeschichte in einem ganz allgemeinen Sinn: Geschichte des Problems, das die Disziplin der Rhetorik für die Philosophie gewesen ist. Interessant ist dabei die Tatsache, daß die Rhetorik der Philosophie nicht, wie andere Wissenschaften, bloß äußeres Reflexionsobjekt gewesen ist; Rhetorik ist als philosophieimmanentes Phänomen auch Anlaß philosophischer Selbstreflexion. Der thematische Horizont philosophischer Problematisierung der Rhetorik wird bereits von Piaton umgrenzt; es lassen sich bei ihm vier "externe" Kritikpunkte sowie drei philosophiemmanent relevante Problemkomplexe unterscheiden, die, in mannigfaltigen Variationen, das Problemfeld für die folgenden zweitausend Jahre strukturieren. Piaton kritisiert zunächst den Anspruch der Konkurrenzdisziplin auf Wahrheit, Schönheit, Tugend und auf politischen Nutzen. Die platonische Wahrheitskritik steht unter der folgenreichen Antithese von Wissen und Meinung, episteme und doxa. Mit der Verdammung rhetorischen Wissens als subjektives Meinen werden die Technizität der Rhetorik, ihr epistemologischer Status, und damit ihre intersubjektive Tradierbarkeit angezweifelt.5 Die platonische Schönheitskritik gibt die formalästhetischen Errungenschaften und Gepflogenheiten der Rhetoren der Lächerlichkeit preis.6 Historisch ist dieser Kritikpunkt ohne unmittelbare Folgen geblieben. Im Gegenteil: Vom Hellenismus bis ins Zeitalter der Aufklärung vermag sich die Rhetorik als produktionsästhetischer Kanon literarischer Normen zu etablieren. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts rückt unter den neuen Vorzeichen philosophischer Ästhetik die ästhetische Kritik der Rhetorik ins Zentrum des Interesses der Philosophie. Die Tugendkritik Piatons bekämpft die sophistische Behauptung der technologischen Neutralität der Rhetorik.7 Piaton fordert eine ethische Fundierung der Rhetorik in metaphysischer Erkenntnis des Guten. Der Verdacht, der Unmoral so sehr zu dienen als dem Guten, begleitet die Rhetorik durch ihre ganze Geschichte. Pariert wird der Vorwurf in der Regel durch die von Quintilian exemplarisch in eine wirkungsmächtige Formel gebrachte Beteuerung, nur der moralisch Gute könne ein nach den Maßstäben rhetorischer Kunst auch technisch guter Redner sein.8 Mit der ethischen Kritik zusammen hängt die Kritik des politischen Nutzens der Rhetorik. Wer bloß durchzusetzen weiß, was der Menge gut scheint, oder ihr gut erscheinen lassen kann, was ihm selbst angenehm ist, ohne um das Gute zu wissen, korrumpiert, 4 5 6 7 8 2

Zu den Hypothesen Uber die Ursachen des Untergangs der Rhetorik vgl. unten, p. 3f. Vgl. Gorg., 454e ff.; Phaidr., 259e ff. Vgl. Phaidr., 267a ff. Vgl. Gorg., 456a ff.; 499b fï. "cum bene dicere non [potest] nisi bonus". Quint., 11,15,34.

nach Platon, das Gemeinwesen. 9 Demokratie erscheint dabei als diejenige Staatsform, in welcher vermittels der Macht der Rhetorik dem Bewußtsein der Menge schmeichelnde, philosophisch defiziente Meinungen politische Relevanz und Geltungskraft erlangen. Diese Kritik begründet eine neuzeitliche Tradition der Verbindung von Rhetorikkritik und Demokratiekritik. Dies die seitens der Philosophie erhobenen "externen" Vorwürfe an die Rhetorik. Dazu tritt schon bei Piaton die erwähnte philosophieimmanente Rhetorikreflexion. Durch ihre Bindung an die Sprache findet sich die Philosophie selbst innerhalb des von der Rhetorik thematisierten Problembereichs. Die transzendentale Rhetorizität der Philosophie hat zur Folge, daß mit der Rhetorikreflexion eine Reflexion ihrer eigenen Darstellungs- und Vermittlungspraxis verbunden ist. Argumentation, Disposition und Formulierung des philosophischen Texts orientieren sich, nicht anders als die einer beliebigen persuasiven Rede, an einem Adressaten. 10 Der Philosoph, der nicht gerade, wie Hegel, behauptet, es sei die Sache selbst, die sich in seinen Werken selbst darstellt, kommt nicht um die reflektierte, situativ modifizierte Adaption der Darstellungsform philosophischer Erkenntnis herum und bedient sich mithin rhetorischer Kriterien und Überlegungen. Insbesondere gilt dies für zwei Fälle: Zunächst für die pädagogische Vermittlung der Philosophie; in protreptischen, propädeutischen und popularisierenden Zusammenhängen sieht sich die Philosophie am ehesten zur elementaren rhetorischen Operation gezwungfen: sich dem Bildungsgrad und der Auffassungsgabe ihrer Adressaten anzupassen. 11 Weiter gilt dies für die politische Praxis der Philosophie, für philosophisches Bewußtsein, das sich als die Morgenröte des Geistes versteht und praktisch werden, politische Geltung der philosophischen Erkenntnis beanspruchen will. Um nicht zum verschrobenen und verstohlenen "Winkelgeflüster"12, das die harte Konfrontation der Meinungen auf der Agora scheuen muß, zu verkommen, hat die Philosophie ihren Ausdruck an die Gepflogenheiten des politischen Forums anzupassen und die Form ihrer Rede hinsichtlich von deren agonaler Durchsetzungsfähigkeit zu reflektieren. 13 Soweit der von Piaton umrissene Problembereich der Philosophiegeschichte der Rhetorik. Diese Geschichte ist in gewisser Weise abgeschlossen. Sie endet zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Rhetorik "untergeht", ihren institutionellen akademischen Status 9 10

11

12 13

Vgl. Gorg., 466a ff. Piatons Antwort auf dieses Problem besteht darin, in der Philosophie, den "rhetorischen" Monolog durch den sokratischen Dialog zu ersetzen, welcher Wahrheitskontrolle durch dialektischen Widerspruch garantieren soll. Zur Weiterentwicklung dieses Gedankens bei Kant und in der Gegenwart vgl. unten, p. 47f.; 157. "Semper oratorum eloquentiae moderatrix fuit auditorum prudentia", Cie., Orator, VIII,24. Piatons Substitution der sophistischen Bildungskonzeption durch die sokratische läßt sich als Antwort auf die pädagogische Herausforderung der Philosophie durch die Rhetorik verstehen. Gorg., 485d Selbst Piaton fordert deshalb, die Redekunst zur Hilfsdisziplin einer philosophisch fundierten Staatskunst zu machen. Vgl. Politikos, 304c f. 3

verliert und sich von der Lehre zur Forschung wandelt. Seither ist sie als Anweisungsdisziplin wissenssoziologisch untergeordneten, praktisch-ökonomisch orientierten außeruniversitäten Institutionen überlassen; auf der anderen Seite wird der Wissensfundus der historischen Rhetorik von zahllosen Disziplinen und Forschungsinteressen der legitimen Wissenschaft beerbt und reaktualisiert. 14 Der Konsens der Forschung bezüglich der Datierung des 'Todes der Rhetorik" auf die Zeit zwischen 1750 und 1850 könnte eine besondere Dramatik der vorliegenden Thematik insinuieren. Man könnte erwarten, die Totengräber der Rhetorik vorgestellt zu bekommen. Eine solcher Nachweis wird nicht angestrebt, und dies aus verschiedenen Gründen. Zuerst: Was die Rhetorik hat "untergehen" lassen, ist heute kontrovers. Der Zahl der Obduktionen entspricht in etwa die Zahl der Diagnosen der Todesursache. Waren es äußere Gründe wie die aufkommende Lesekultur 15 , der Untergang des Lateins als paneuropäischer Bildungskomplex16 oder der politische Absentismus und Eskapismus des deutschen Bürgertums 17 ? Waren es in der Rhetorik selbst angelegte Voraussetzungen, welche dem modernen Wissenschaftsbegriff nicht mehr standhielten, wie etwa ein falsches sprachphilosophisches Konzept 18 , ein überholtes ästhetisches19, epistemologisches20 oder methodologisches 21 Konzept? Der Vielzahl der Hypothesen steht das Fehlen einer wissenschaftshistorischen Untersuchung gegenüber, welche den in Frage stehenden Prozeß anhand von bildungspolitischen Quellen zu rekonstruieren suchte. Übersehen wird in dieser Diskussion zudem oft die bereits von Tacitus diagnostizierte Tatsache, daß die Rhetorik im Grunde mit der römischen Republik untergeht. Die humanistischen und revolutionsklassizistischen Renaissancen der Rhetorik müssen bei kritischer Betrachtung, was die Prätention einer politischen Relevanz angeht, als antikisierende Pose erscheinen. Neuzeitlich kommt die Rhetorik über eine pädagogische und literarästhetische Existenz kaum je hinaus: Sie transportiert klassische literarische Bildung; es gibt in der europäischen Neuzeit keinen Protagoras oder Cicero, welcher rhetorica docens und rhetorica utens in Personalunion verkörpert hätte, Rhetorik ist im neuzeitlichen Europa nie eine politische Methode und eine politische Macht in dem eminenten Sinne, wie sie es in der athenischen Polis oder der römischen Republik gewesen war. Aufgrund dieser Tatsache muß der 'Tod der Rhetorik" als die akademische Relegation eines Traditionskomplexes humanistischer Philologie betrachtet werden; weder die Verleumdung durch die Philosophie (die Rhetorik war der Philosophie neuzeitlich nie 14

15 16 17 18 19 20 21

4

Zum Beispiel: Linguistik, Literaturwissenschaft, Sprechwissenschaft, Stiltheorie, Argumentationstheorie, Semiotik, Kommunikationsforschung, Hermeneutik, Psychologie, Soziologie, Jurisprudenz, Theologie, Ideologiekritik, Medienforschung, Persuasionsforschung, Pädagogik. Zum heutigen Interesse an Rhetorik vgl. die zwei Bände von Kopperschmidt (Hg.) 1990. Schanze 1982. Fuhrmann 1983. Jens 1969. Ricoeur 1977. Titzmann 1978. Cahn 1986. Gadamer 1960.

eine ernste Konkurrentin im "Kampf um die Jugendbildung"22) noch praktisch-politische Verhältnisse haben dem frühen 19. Jahrhundert die Rhetorik als obsoleten Bildungsschutt erscheinen lassen: Wer annimmt, die Philosophie hätte die Rhetorik nach langem Kampf endlich besiegt, überschätzt die Philosophie. Diese Untersuchung geht aus von den philologisch-pädagogischen (Verdrängung des lateinisch-rhetorischen Bildungskomplexes durch den Aufstieg der Nationalsprachen) und ästhetischen (Genieästhetik) Untergangshypothesen. Kants, Fichtes und Hegels Einschätzungen der Rhetorik erwirken, sowenig wie die Kritik anderer Philosophen, deren Exilation; sie stehen aber, wie zu zeigen versucht wird, in dem viel weiteren kulturellen Kontext, der diese Exilation mit sich brachte. Die Thematik des 'Todes der Rhetorik" weist so auf die Tatsache, daß für Kant, Fichte und Hegel die Rhetorik nicht ein historisches Phänomen ist, sondern in ihrer Gegenwart als akademische Disziplin in allen Ehren steht. Dem muß die Untersuchung gerecht werden. Es soll deshalb nicht ein Rhetorikbegriff a priori definiert werden, um Kants, Fichtes und Hegels Meinungen zur Rhetorik daran zu messen. Es geht vielmehr darum, den Rhetorikbegriff der untersuchten Autoren im Zusammenhang mit dem Rhetorikbegriff ihrer Zeit zu verstehen. Die Arbeit interpretiert deshalb die expliziten Äußerungen zu Rhetorik, Topik und Dialektik sowie zu den philosophieimmanenten Rhetorizitätsproblemen Darstellung, Vermittlung und Praxis vor dem Hintergrund des Traditionszusammenhangs, in dem sie stehen; herangezogen wurden dazu: Das Korpus klassischer Rhetorik·. Piaton, Aristoteles, Cicero und Quintilian. Nicht nur ist das Reflexions- und Systematisierungsniveau der Antike unerreicht: die neuzeitliche, insbesondere auch die deutsche Rhetorik ist von ihr völlig abhängig, und zudem lassen sich direkte Einflüsse der Klassiker auf Kant, Fichte und Hegel mancherorts unschwer nachweisen. Deutsche Rhetoriken des 17. und 18. Jahrhunderts; die "politische" und "philosophische Oratorie" ihrer Zeitgenossen prägen besonders Kants und Fichtes Rhetorikbegriff. Beigezogen wurden außerdem Forschungen zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik23, Arbeiten zur philologischen und sozialgeschichtlichen historischen Rhetorikforschung sowie philosophiehistorische Darstellungen und Einzeluntersuchungen.

22 23

v. Arnim 1898. Es liegt eine Arbeit vor, welche das hier behandelte Thema näher berührt: Adelheid Ehrlich, Fichte als Redner, Diss. München 1977. Bei Ehrlichs Dissertation handelt es sich aber um eine sprachwissenschaftliche Arbeit. Die Autorin untersucht mit den Mitteln quantitativer Stilanalyse die Eigenarten von Fichtes Sprache. Silbenzahl, Satzbaupläne, Tropen- und Figurengebrauch werden statistisch vermessen und belegen so quantitativ den appellativen Charakter von Fichtes Stil. In der knappen Einführung gibt Ehrlich eine interessante Übersicht über die Zeugnisse von Zeitgenossen bezüglich Fichtes Wirkung als Redner und spricht gewisse geistes-, bildungs- und sozialgeschichtliche Hintergründe seines Rhetorentums an. 5

1. Kant - Pathologie der Rhetorik

Bei Kant findet sich das ganze thematische Spektrum traditioneller philosophischer Rhetorikreflexion abgedeckt. Die folgende Darstellung gliedert sich dem gemäß in drei Unterkapitel. Das erste schildert Kants logische, epistemologische und methodologische Kritik der traditionellen Funktion der Rhetorik als einer Wahrscheinlichkeitslogik. Die für Kant zentrale ästhetische Kritik der Rhetorik nach Maßgabe des in der "Kritik der Urteilskraft" entwickelten Begriffs der schönen Kunst, in deren Zusammenhang aber auch Kants ethische und politische Ablehnung der Rhetorik stattfindet, schildert das zweite Unterkapitel. Die Rhetorik als philosophieimmanentes Problem behandelt das dritte Unterkapitel. Die Thematik wird von Kant im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Diskussion um die "populäre" und "scholastische" Darstellung der Philosophie abgehandelt. Kants Selbstqualifikationen in diesem Kontext können als Reflexion über die der philosophischen Darstellung angemessene Form der Rhetorik betrachtet werden.

1.1

Katharsis - Fragmente rhetorisch-dialektischer Tradition in der "Kritik der reinen Vernunft"

In der Historisierung der mit der Rhetorik als Disziplin eng verbundenen Termini "Dialektik" und "Topik" sowie mit dem Ausschluß einer angewandten, empirischen Überzeugungslogik legt Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" das logische Fundament, auf dem die explizite ethische und ästhetische Rhetorikkritik der "Kritik der Urteilskraft" ruht. Der Anspruch der klassischen Rhetorik, neben Kunst und gelebter Tugend auch "scientia"1 zu sein, wird darin, so blaß er im philosophischen Bewußtsein der Zeit auch nur noch präsent ist, abgewiesen. Bereits in der Antike unterlag das aristotelische Modell der Rhetorik als einer Theorie des Nichtexakten oder einer Methode des richtigen Mutmaßens 2 in der Konkurrenz mit der (im Text von Aristoteles' Rhetorikvorlesung ebenfalls angelegten) Auffassung der Rhetorik als einem Regelsystem zur kunstgerechten Redeproduktion, als einem

1 2

6

M. Fabii Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri XII, herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2 1988,11,17,36, p. 261. Zur aristotelischen Rhetorik als einer Theorie der Bewältigung des Kontingenten durch "konjekturale Vernunft" vgl. Gonsalv K. Mainberger, Rhetorica, Band 1, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987.

Kanon technisch-praktischer Regeln und Beispiele zur Vermittlung der Kunst des Überzeugens durch Affektenmanipulation und die Mittel der "ars ornandi orationem".3 Bei Aristoteles ist die Rhetorik nicht nur eine Kunst, sondern sie hat einen theoretischen Aspekt, insofern sie ihren Kompetenzanspruch, die Bedingungen ihrer Bewährung und Verlässlichkeit als Anweisungslehre, ihren epistemologischen Status untersucht. Sie reflektiert nebst dem Gegenstand der Beredsamkeit auch noch den methodischen Zugang zu ihm. Sie ist damit nicht bloß Technik der Rhetorik, Darstellung eines Aggregats von Regeln, Beispielen und Übungen, sondern ebenso eine Wissenstheorie der Rhetorik, welche die Eigenarten, Möglichkeiten und Grenzen dieses technischen Wissens untersucht. Diese theoretische Absicht stellt Aristoteles' Rhetorik in den Zusammenhang des logischen Organon als der allgemeinen Theorie der Wissenschaft, und als Gegenstück der Dialektik ("antistrophon te dialektike"4), das sich wie diese mit Gegenständen befaßt, deren Erkenntnis allen und nicht einer besonderen Wissenschaft obliegt, hat sie mit ihr in der Lehre von den dialektischen Schlüssen einen Wissensbereich, der zugleich ein methodisches Instrumentarium ist, gemeinsam: die Topik. Das von Aristoteles vor allem in den ersten zwei Büchern der "Rhetorik" untersuchte Logische in der Rhetorik wurde in der aristotelischen und in der ramistischen Tradition der neuzeitlichen Logik nicht mehr innerhalb der Disziplin "Rhetorik", sondern unter dem Namen "Dialektik" gemeinsam mit der Syllogistik abgehandelt. In der ciceronischen Tradition hingegen, welche die Topik als das Kernstück des Organons betrachtete, wurde die Dialektik als "ratio diligens disserendi"5 der Rhetorik untergeordnet; als "Dialektik" gelten dort die ersten beiden Teile der rhetorischen Doktrin, "inventio" und "dispositio".6 Kant zermalmt nebst vielem anderen auch die über tausend Jahre alte Geschichte der ständig wechselnden Zuordnung von Lehrinhalten zu den "artes" des Trivium.7 Da3

4

5

6 7

Dies mag mit der Rezeptionsgeschichte zusammenhängen. Aristoteles' Rhetorik wurde in der Antike wenig gelesen (vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 91978, p. 74). Die Rhetorik der Neuzeit orientierte sich an Quintilian, woraus sich eine Verkürzung des Rhetorikverständnisses ergeben mußte, da die Integration in ein wissenschaftliches Ganzes bei Quintilian nicht ernsthaft durchdacht ist. Eine wenig folgenreiche Etablierung der Rhetorik als Wissenschaft unternahmen im Anschluß an Cicero die sogenannten Ciceronianer des 16. Jahrhunderts, die bekanntesten sind Valla und Agricola. Vgl. dazu Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, Band 1, p. 14ff. Ar., Rhet., 1354a. Der griechische Text wird im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Aristotelis Ars Rhetorica, ed. W.D. Ross, Oxford 61986. Für die deutsche Übersetzung wurde, wo nicht anders vermerkt, benutzt: Aristoteles, Rhetorik, übersetzt mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz Sievke, München 21987. Cicero, Topik, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Hans-Günter Zekl, Hamburg 1983, p. 4 (der lateinische Text dieser Ausgabe folgt der Ausgabe "M. Tulli Ciceronis Topica", hg. von A.S. Wilkins, Oxford 1902). Vgl. dazu Wilhelm Risse, Logik der Neuzeit, a.a.O., Bd. 1, p. 14ff, p. 122ff. Eine zusammenfassende Darstellung der verworrenen Verschiebungen von Lehrinhalten, der gegenseitigen Inanspruchnahmen und Kompetenzdementis von Logik (Dialektik) und Rhetorik in der abendländischen Wissenschaftsgeschichte liegt nicht vor. Nützliche Hinweise finden sich u.a. bei: H.W. Arndt, Einführung in C. Wolffs "Vernünftige Gedanken", in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Abt.l, Deutsche Schriften. Band 1, Hildesheim 1965; Manfred Beetz, Rhetorische Logik, Tübingen 7

mit werden auch bei ihm, dem die Rhetorik bloß - um soviel pauschal vorwegzunehmen - eine von der philosophischen Ästhetik zu untersuchende dubiose Scheinkunst ist, innerhalb der theoretischen Philosophie Themen und Problembereiche behandelt, deren Reflexion auf die aristotelische und ciceronische Tradition von Rhetorik und Dialektik zurückgeht; die traditionell-rhetorischen Termini werden dabei transzendentalphilosophisch umgedeutet. Im folgenden soll gezeigt werden, in welcher Weise drei ursprünglich rhetorische Problembereiche in der "Kritik der reinen Vernunft" unter den Titeln "angewandte Logik", "Dialektik der Alten" und 'Topik" zur Sprache kommen. Im Modus der Abgrenzung, des Ausschlusses aus der theoretischen Philosophie, kommt indirekt ein Aspekt von Kants Begriff von "Rhetorik" zum Ausdruck.

1.1.1 "Angewandte Logik" als transzendentale Rhetorik Kants Verhältnis zum traditionell-aristotelischen Verständnis der Rhetorik als einer im weitesten Sinn der allgemeinen Theorie der Wahrheit zugehörigen Theorie des Wahrscheinlichen zeigt sich beispielhaft in seiner Umprägung der Begriffe "Dialektik" und "Topik".8 Was den Titel "Rhetorik" selbst betrifft, so kommt dieser in der "Kritik der reinen Vernunft" überhaupt nicht vor. - Rhetorik spielt bei der Feststellung der Bedingungen der Möglichkeit sicherer Erkenntnis keine Rolle. Ein zentraler rhetorischer Problembereich indessen - die Untersuchung der Produktionsbedingungen subjektiver Überzeugung - wird behandelt. Unter dem Titel "angewandte Logik" wird eine empirisch-pathische Überzeugungs- und Wahrscheinlichkeitslogik zu Beginn der 'Transzendentalen Logik", in der Einleitung, die "von der Logik überhaupt" handelt, skizziert und, als bloßes "Kathartikon des Verstandes", aus der transzendentalen Wissenschaft ausgeschlossen.9 Unter der Leitung des Dichotomienpaars von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand, entwickelt der Anfang der "Transzendentalen Logik" zunächst die Trennung der Wissenschaften von der Sinnlichkeit (Ästhetik) von denjenigen des Verstandes (Logik). Die Logik wird weiter gespalten in diejenige des allgemeinen und diejenige des besonderen Verstandesgebrauches: "Elementarlogik" und "Organon einer besonderen Wissenschaft". Sodann teilt Kant die als Wissenschaft vom allgemeinen Verstandesgebrauch bestimmte allgemeine Logik ein weiteres Mal auf, und zwar in eine "reine" und eine "angewandte" Logik.

8 9

8

1980; Wilbur Samuel Howell, Eighteenth Century British Logic and Rhetoric, Princeton/New Jersey 1971; Rainer Klassen, Logik und Rhetorik der frühen deutschen Aufklärung, Diss. München 1974; Walter J. Ong, "Introduction", in: Petrus Ramus, Scholae in liberales artes, Hildesheim/New York 1970; Wilhelm Risse, "Einleitung", in: Petrus Ramus, Dialecticae institutiones, Aristotelicae animadversiones, Stuttgart/Bad Cannstatt 1964; ders., Die Logik der Neuzeit, a.a.O. Vgl. unten, p. 22. Kritik der reinen Vernunft, Β 74-79; zitiert wird nach der Ausgabe: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg, Philosophische Bibliothek Meiner, 1956.

Diese beiden unterscheiden sich ihrem Inhalt nach: Die reine Logik hat zu ihrem Inhalt Prinzipien a priori und ist ein "Kanon des Verstandes und der Vernunft in Ansehung des Formalen ihres Gebrauches." 10 Anders die allgemeine angewandte Logik: Sie ist gerichtet auf die "Regeln des Gebrauchs des Verstandes unter subjektiven, empirischen Bedingungen", deren Lehre die Psychologie bieten soll.11 Es handelt sich also um eine Logik unter Berücksichtigung der Psychologie. Sie hat zwar empirisch gewonnene Prinzipien, ist aber allgemein, denn sie untersucht den "Verstandesgebrauch ohne Unterschied der Gegenstände". Sie ist, so Kant weiter, demnach weder "Kanon der Vernunft" noch "Organon einer besonderen Wissenschaft", sondern ein "Kathartikon des gemeinen Verstandes".12 Was berechtigt nun zu der Behauptung, der Sache nach stecke in Kants "angewandter Logik" eine recht genaue Entsprechung dessen, was Aristoteles unter "Rhetorik", betrachtet in ihrer Eigenschaft als "Gegenstück der Dialektik", versteht? Der Nachweis dieser sachlichen Übereinstimmung ergibt sich aus der Analyse der negativen Bestimmung der reinen Logik und - ergänzend - der Interpretation der positiven Bestimmung der angewandten Logik: Die reine Logik wird von Kant negativ bestimmt. Sie ist dadurch charakterisiert, daß sie von einem ganzen Bündel von Faktoren abstrahiert, welche geeignet sein könnten, ein Urteil zu beeinflussen. Es sind dies: der "Einfluß der Sinne", das "Spiel der Einbildung", die "Gesetze des Gedächtnisses", die "Macht der Gewohnheit", die "Neigung", die "Quellen der Vorurteile", die "Ursachen der Erkenntnisse".13 Die angewandte Logik wiederum, in ihrer positiven Bestimmung als "Vorstellung des Verstandes und den Regeln seines Gebrauchs in concreto", das heißt "unter den zufälligen Bedingungen des Subjekts, die dessen Gebrauch fördern oder hindern", handelt nach Kant von der "Aufmerksamkeit (und deren Hindernis und Folgen), dem Ursprung des Irrtums, dem Zustande des Zweifels, Skrupels, Überzeugung usw."14 Als eine Theorie der Konstitution des als wahr Akzeptierten, welche die "subjektiven, empirischen Bedingungen des Verstandesgebrauchs" untersucht, d.h., welche die Akzeptanz einer jeden Argumentation, insofern diese von subjektiven empirischen Bedingungen beeinflußt wird, untersucht, läßt sich nun durchaus auch die klassische Rhetorik verstehen. Einer ihrer theoretischen Aspekte besteht darin, daß sie die Durchsetzung des Logos unter dem Gesichtspunkt seiner Abhängigkeit von der zufälligen empirischen Beschaffenheit der oder des zu Überzeugenden zum Gegenstand hat. Als pathopragmatische Überzeugungslogik verfügt die Rhetorik insofern genau über die eigentümlichen Züge, die Kant für eine angewandte Logik fordert: Sie hat die empirische Beschaffenheit, die Psychologie, der zu Überzeugenden zum zentralen Gegenstand, und sie hat deshalb in der Absicht, mittels der Kenntnis der Psychologie ver10 11 12 13 14

KrV, Β 77. a.a.O. ebd., Β 78. ebd., Β 77. ebd., Β 79. 9

schiedener Zuhörerschaften diese zu überzeugen, die Lehre von den Affekten und damit auch die wissenschaftliche Psychologie begründet.15 Die These von der inhaltlichen Entsprechung von Kants Begriff einer "allgemeinen angewandten Logik" und der klassischen Rhetorik als einer allgemeinen Überzeugungstheorie bestätigt sich durch die Betrachtung einiger inhaltlicher Titel, welche die Phänomenbereiche angeben, mit welchen sich gemäß Kant eine angewandte Logik zu befassen hätte. Die Faktoren, von welchen eine reine Logik zu abstrahieren hat, sind, als Bedingungen der Zuhörerschaft, nach welchen sich der Überzeugung anstrebende Redner zu richten hat, allesamt ebenfalls Kategorien und Themen der klassischen Rhetorik. Zum Teil leiten sich selbst die Termini direkt aus der rhetorischen Tradition her: Die Einbildung (phantasia/visio, imaginatio) wird von dieser in Zusammenhang mit der Frage untersucht, wie es der Redner zustande bringen kann, geistige Bilder der von ihm geschilderten Gegenstände bei seinen Zuhörern in der Vorstellung hervorzurufen. Das zugrundegelegte Modell: Um bei der Zuhörerschaft einen bestimmten Affekt zu entfachen, muß der Redner sich selbst affizieren; dies tut er kraft seiner imaginatio.16 Diese Selbstaffektion soll der Rede eine Bildhaftigkeit verleihen, welche auch bei den Zuhörern die gewünschten Vorstellungen und damit ineins die angezielten Affekte provoziert.17 Gedächtnis (mneme, memoria) ist in der Rhetorik nicht nur unter dem Aspekt der geforderten mnemotechnischen Übung des Redners zwecks vollständiger auswendiger Erinnerung seiner Rede18, sondern auch unter dem Aspekt der Notwendigkeit der Rücksichtnahme des Redners auf die Kurzzeitgedächtniskapazitätsgrenzen seiner Zuhörerschaft thematisch. Die zu beachtende Begrenztheit des Aufnahmevolumens eines Auditoriums wurde thematisiert hinsichtlich des Gesamtinhalts der Rede19, hinsichtlich der notwendigen Tugend der "brevitas" der "narratio"20, hinsichtlich der Gedächtnisauffrischung in der "recapitulatio"21 und hinsichtlich der Länge einer einzelnen Periode22; nicht zuletzt wurde gefordert, bei der Verwendung historischer Exempel ("res gesta ab 15 Vgl. Ar., Rhet., Buch II. Auf das wissenschaftshistorische Faktum, daß die erste Theorie der Affekte nicht im Rahmen einer Seelenlehre, einer "Psychologie'', sondern eben innerhalb der aristotelischen "Rhetorik" entwickelt wurde, hat, im Hinblick auf eine rhetorik-archäologische Umbestimmung der Rhetorik, Heidegger hingewiesen. Heidegger versteht die aristotelische Rhetorik als eine Analyse der "Rede" als dem ursprünglichen Ausdruck von Befindlichkeit und Stimmungen, den ursprünglichen Seinsweisen des Daseins. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen I61986, p. 138. Vgl. dazu unten, p. 182. 16 "... quas 'phantasiai' Graeci vocant, per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesenta habere videamur. has quisquís bene conciperit, is erit in adfecitbus potentissimus." Quint., VI,2. Vgl. auch Longinus, Peri Hypsous, On the Sublime, Cambridge/Mass./London 1982, Kapitel XV, p. 171f. 17 "... insequitur "enargeia" (...) quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus sequentur." Quint., VI,2,32. 18 Sehr ausführlich Quintilian, XI,2,1-51. 19 Aristoteles (Poet. 7,10) fordert eine überblickbare Länge ("megethos eusynopton"). 20 Quint., IV,2,33. 21 "memoriam reficit et totam simul causam ponit ante oculos", a.a.O., VI,1,1. 22 ebd., IX,4,124. 10

aetatis nostrae memoria remota") die Grenzen der historischen Erinnerung eines Richters oder einer Hörerschaft zu beachten. 23 Die Gewohnheit (consuetudo) war für die Rhetorik zum einen im Hinblick auf die Gewohntheit des sprachlichen Ausdrucks als notwendiger Bedingung für die "puritas" und Überzeugungskraft desselben interessant.24 Zum andern galt die Gewohnheit, als die Gewohntheit von Sitten, Gebräuchen eines sozialen Milieus, als notwendiges Moment des rednerischen Überzeugungskalküls.25 Neigung26 und Vorurteil27 sind als Momente der Doxa des Richters oder eines Publikums zentrale Punkte, die es innerhalb der Lehre von den Beweisgründen (probationes) einer Rede zu untersuchen galt. Der Zweifel hieß im technischen Sinn der antiken Rhetorik "dubitatio" (aporia). Bei der Untersuchung der Frage, welche Argumente, Indizien, Beweise "ad tollendam dubitationem"28 in welchem Maße taugen, diente der Eliminierungsgrad des Zweifels als Maß der Kraft eines Beweisgrunds (probatio). Die "addubitatio" (diaporesis) sodann ist eine rhetorische Figur: der fingierte Zweifel an der vertretenen Position ist eine Form der affektierten Bescheidenheit und dient der emotionalen Aufbereitung des Publikums oder des Richters vor der Präsentation der Argumente und Beweisgründe. 29 Oie Aufmerksamkeit (attentio) des Richters oder Publikums zu gewinnen, dienten die in der Lehre vom "exordium", der packenden Redeeröffnung behandelten technischen Kunstgriffe. Das "iudicem attentum parare" bezweckt die Vermittlung zwischen der Sache und dem Adressaten der Rede. Hindernisse der Aufmerksamkeit sah die alte Rhe-

23

Rhetorica ad Herennium, 1,8,13. Zitiert nach: Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, p. 165. 24 Als relevante Norm für den Orator wurde indessen nicht die Umgangssprache, sondern die Sprache der Gebildeten erachtet: "... consuetudinem sermonis vocabo consensum eruditorum, sicut vivendi, consensus bonorum." Quint., 1,6,45. 25 "... deinde ut id quod agimus, a populi more non abhorreat, scilicet ne contra consuetudinem audientium loquaris." Cie., de inv., 1,21. 26 Begriffsgeschichtlich geht die deutsche "Neigung" nicht auf einen antiken Terminus, sondern auf die mittelalterliche "inclinatio" zurück, vgl. K.H. Nusser/W.Schirmacher, Artikel "Neigung" in: Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, p. 707. Der Sache nach ist es aber dieselbe spezifische "habituelle sinnliche Begierde" (Kant) seiner Zuhörerschaft, welche der antike Redner in Rechnung zu stellen hatte. Quintilian verweist auf das zweite Buch der aristotelischen "Rhetorik" (denn ein und dasselbe erscheint nicht in gleicher Weise den Liebenden und den Hassenden, den Zornigen und den Sanften. Rhet. 1377a) und fordert vom Redner, zu beachten, "welchen Dingen und welchen Menschen die Natur selbst Zu- oder Abneigung (vel conciliasset vel alienasset ipse natura) verliehen hat, z.B. " ... welche Folgen der Reichtum hat, der Ehrgeiz, der Aberglaube, was anständige Menschen loben, was schlechte Menschen suchen, was Soldaten, was Bauern gerne wollen, und wie man gewöhnlich etwas meidet oder erstrebt." Quint., V,10,17, a.a.O., p. 555. 27 Das "praeiudicium" ist allerdings noch im wörtlichen, juristischen, und nicht in einem psychologischen Sinn gemeint. Die Entkräftung der Autorität früherer Urteile zum gleichen oder zu ähnlichen Fällen hat sich über den Nachweis von Verfahrensfehlern oder von Differenzen des Präzedenzfalls zum vorliegenden Fall zu vollziehen. Vgl. Quint., V,2,l-4. 28 Quint., V,9,8. 29 "Wenn wir so tun, als suchten wir, wo wir anfangen, wo aufhören sollten, was wir vor allem sagen, und ob wir überhaupt reden sollen." Quint., IX,2,19, a.a.O. p. 277. 11

torik im Bagatellcharakter der Sache einerseits, in der Übersättigung des Publikums andererseits.30 Die Überzeugung schließlich, von der - gemäß Kant - eine angewandte Logik zu handeln hätte, ist überhaupt der allgemeinste Begriff des Gegenstands der Rhetorik.31 Es zeigt sich also, daß die Inhalte der von Kant geschilderten "allgemeinen angewandten Logik" allesamt traditionellen Inhalten der Rhetorik entsprechen. Damit stellt sich die Frage, was die hier konjektural und ex negativo skizzierte "angewandte allgemeine Logik" in ihrer ausgeführten Form dargestellt hätte - wäre Kant denn daran gelegen gewesen, sie auszuführen.32 Eine Aufgabe, die ihn unter der leitenden Absicht einer Kritik der reinen Vernunft nicht interessieren konnte, denn qua Kathartikon hat angewandte Logik hier lediglich eine negative Funktion: Die Legitimation der Beschäftigung mit den empirisch-psychologischen Störquellen der reinen Logik ergibt sich allenfalls dadurch, daß man durch ihre Kenntnis und ihre dadurch ermöglichte Eliminierung die Logik als "wahre und demonstrierte Wissenschaft" gewinnt.33

1.1.2 Transzendentalisierung von "Dialektik" und "Topik" Zunächst: Weshalb interessieren Kants Neuinterpretationen der traditionellen philosophischen Termini "Dialektik" und "Topik" im Zusammenhang einer Untersuchung seiner Stellung zur Rhetorik? Der Grund liegt im engen Verhältnis, das für die aristotelische Tradition zwischen Rhetorik, Topik und Dialektik besteht. Rhetorik und Dialektik haben ein gemeinsames Genus: beider Gegenstand ist das Wahrscheinliche und Kontingente. Sie sind je eigenständige Spezies, indem sie sich in ihrer Funktion unterscheiden. Die Dialektik befaßt sich mit dem Wahrscheinlichen in der Absicht zu untersuchen und Rechenschaft abzulegen (exetazein kai hypechein logon), die Rhetorik,

30 Quintilian (IV, 1,48) gibt ausführlich Auskunft über alle möglichen Aufmerksamkeitseffekte. Der berühmteste ist vielleicht der auch von Curtius beschriebene Topos von der Unerhörtheit des Gegenstands der Rede; vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a.a.O., p. 95f. 31 Zu Kants Begriff der Überzeugung vgl. unten, p. 47ff. 32 Gewisse Ansätze zur Untersuchung der subjektiven Erkenntnis- und Überzeugungsfaktoren finden sich in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", wo z.B. die Phänomene der Aufmerksamkeit und Gedächtnisses zur Sprache kommen. Werke, Band 10, p. 489,521. 33 Ein ebenfalls kathartisches, allerdings praktisch-politisch kathartisches Interesse an der Beschäftigung mit der Rhetorik hat die moderne Ideologiekritik entwickelt; es prägt etwa die Rhetorikforschung im Umfeld der Frankfurter Schule. Vgl. z.B. die frühen Arbeiten zur Rhetorik von Josef Kopperschmidt, gesammelt in: Josef Kopperschmidt, Rhetorica, Philosophische Texte und Studien, Hildesheim/Zürich/New York 1985, vgl auch H.-G. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik, Ideologiekritik, in: ders., Kleine Schriften I, Tübingen 1976, p. 113ff., sowie Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, zwei Bände, Frankfurt a.M. 1981. Zur Kritik von Habermas' Rhetorikbegriff vgl. Gerhard Gamm, Eindimensionale Kommunikation. Vernunft und Rhetorik in Jürgen Habermas' Deutung der Moderne, Würzburg 1987.

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um zu verteidigen und anzuklagen (apologeisthai kai kategorein). 34 Beiden schließlich ist die Topik als Verfahren zur Gewinnung von Argumenten gemeinsam. 35 Der begriffsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Aristoteles' und Kants Verwendung dieser Termini ist kompliziert, vielfach vermittelt und kann hier nicht umfassend dargestellt werden. 36 Die Termini "Dialektik", 'Topik" und auch "Analytik" scheinen von Kant in der Absicht der Abgrenzung von seinen Vorgängern Thomasius und Wolff einer älteren Tradition entnommen und neu besetzt worden zu sein: "Die Thomasianer sowie Wolff und seine Schule sind ihrer Fragestellung nach der Dialektik als Methode und der Beschäftigung mit diesem Begriff ferngeblieben." 37 Kant hat diese Titel aber deshalb nicht in der Absicht, an eine historische Form des Aristotelismus anzuknüpfen, übernommen. Nach Ansicht von Tonelli vereinigt diese Terminologie in sich die Vorteile, "zu Kants Zeit nicht allzu gewöhnlich zu sein und dabei doch durch eine glänzende Vergangenheit geadelt und allgemeinverständlich geworden zu sein. Der Unterschied der kantischen Begriffe von ihren aristotelischen Entsprechungen war dabei auffallend genug, daß eine Gefahr der Verwechslung nicht bestand."38 Aber auch Kant konnte die traditionelle Verwendung der Begriffsnamen "Dialektik" und 'Topik" nicht glattweg ignorieren. Dadurch ergibt es sich, daß er sich in der Abgrenzung vom aristotelischen Sprachgebrauch mit den aristotelischen Begriffsinhalten und damit mit der rhetorischen Tradition im weiteren Sinne auseinanderzusetzen hat. Vorauszuschicken ist hier, daß die in der Historisierung der klassischen Terminologie vollzogene Ablehnung jeglicher positiver Wahrscheinlichkeitslogik nicht nur die einer solchen noch verpflichteten logischen Theorien des 18. Jahrhunderts trifft. Die Kritik, die darin enthalten ist, richtet sich nicht weniger gegen die zeittypischen Bemühungen, im Anschluß an Wolffs Postulat einer "Rhetorica philosophica"39, eine "Philosophische Redekunst oder eine auf die Gründe der Weltweisheit gebaute Anweisung zur gelehrten und jezo üblichen Beredsamkeit, In unstreitig erwiesenen Regeln" 40 auszuarbeiten. Diese mit den Namen Gottfried Polycarp Müller, Friedrich August Hallbauer, Johann Andreas Fabricius und nicht zuletzt Johann Christoph Gottsched

34 Ar., Rhet., 1345a, 7f. 35 Zum Verhältnis von Dialektik und Rhetorik bei Aristoteles vgl. Manfred Joachim Lossau, Pros krisin tina politiken. Untersuchungen zur aristotelischen Rhetorik, Wiesbaden 1981, bes. p. 5-20; sowie Eugene E. Ryan, Aristoteles' Theory of Rhetorical Argumentation, Montreal 1984. 36 Vgl. dazu Giorgio Tonelli, Der historische Ursprung der kantischen Termini "Analytik" und "Dialektik", in: Archiv für Begriffsgeschichte, 7, 1962, p. 120ff. sowie: diverse Autoren, Artikel "Dialektik", in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, p. 164 ff. 37 Giorgio Tonelli, Der Ursprung der kantischen Termini "Analytik" und "Dialektik", a.a.O., p. 138. 38 a.a.O., p. 139. 39 "Grammatica philosophica ex Ontologia, Logica & Psychologie; Rhetorica philosophica ex iisdem & philosophie practica mutuatur." Christian Wolff, Gesammelte Werke, II. Abteilung Band 1.1., Philosophie Rationalis sive Logica Pars Prima, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1740, Hildesheim/Zürich/New York, 1983, p. 34. 40 So der Titel des Werks von Johann Andreas Fabricius, Leipzig 1739. 13

verbundenen Bemühungen 41 sollten der Rhetorik durch Logifizierung und Rationalisierung sowie durch Integration der neuen mathematisch-naturwissenschaftlich inspirierten Inventionskonzeption (mit den Hauptinhalten Meditation und Experiment) die Anpassung an das neue, durch philosophische Fundierung aus Prinzipienerkenntis gekennzeichnete Wissenschaftsideal sichern. Kants völlige Ablehnung der Dialektik und Topik als Organon muß sich also auch gegen die Rhetoriker richten, denn diese bedeutet natürlich, daß es nach den Maßstäben der kritischen Philosophie keine vernunftgereinigte Topik und Dialektik als Organon einer philosophischen Rhetorik, einer vernunftfundierten Überzeugung aus Wahrscheinlichkeitsgründen geben kann. Die "Dialektik der Alten" und die "transzendentale Dialektik" Kants in selbstbewußter Abgrenzung von einer langen Tradition vollzogene Taufe eines neuen transzendentalphilosophischen Begriffs auf den bis anhin einer logischen Disziplin vorbehaltenen Namen "Dialektik" geht aus von seiner vorangehenden Bestimmung der Eigentümlichkeit und Leistungsfähigkeit dessen, was er den analytischen Teil der allgemeinen Logik nennt, zeitgemäß ausgedrückt: seiner Bestimmung der Kompetenz der formalen Logik. Diese ist kein Organon zur Gewinnung materialer Erkenntnisse, sondern gibt "als Kriterium der Form jeder Wahrheit" einen Bestand "notwendiger Regeln des Verstandes und der Vernunft", welchen keine Wahrheit widersprechen darf: 42 "Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit.

Kant bricht mit der Tradition, indem er die Missachtung obiger Erkenntnis der bloß negativen Erkenntnisleistung der formalen Logik, ihren daraus resultierenden Mißbrauch als Organon, mit dem herkömmlicherweise völlig anders definierten Ausdruck "Dialektik" bezeichnet: "Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhalts derselben noch sehr leer und arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin und in der Tat dadurch gemißbraucht worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik.

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Vgl. dazu Gunter E. Grimm, Von der 'politischen Oratorie* zur 'philosophischen Redekunst'. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung, in: Joachim Dyck et al. (Hg.), Jahrbuch Rhetorik, Band 3/1983, Die Rhetorik des 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, p. 65ff. KrV, Β 84. a.a.O., Β 85. ebd.

Kant konstatiert und rechtfertigt die Differenz dieser Bestimmung zum traditionellen Begriff von "Dialektik", indem er behauptet, "die Alten" hätten zwar sehr wohl für sich die Dialektik anders verstanden, aus dem "wirklichen Gebrauch derselben" bei ihnen sei hingegen klar ersichtlich, daß sie in der Tat genau seiner Bestimmung entspreche: Dialektik ist demnach eine "Logik des Scheins", eine "... sophistische Kunst, seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, [dadurch] daß man die Methode der Gründlichkeit, welche die Logik überhaupt vorschreibt, nachahmte und ihre Topik zur Beschönigung jedes leeren Vorgebens benützte."

Kant identifiziert demnach als Dialektik (der Funktion, nicht dem Wesen nach), was der aristotelischen Tradition "Sophistik" oder, diese in ihrem polemischen Gebrauch, "Eristik" hieß.46 Nach dieser Diffamierung der traditionellen Dialektik, welche ein verkürztes Verständnis der aristotelischen Philosophie offenbart, ist der Boden bereitet für die Einführung der "transzendentalen Dialektik". Sie wird entsprechend zu einer "medicina mentis", zum "Kathartikon", welches der Gefahr wehren soll, die sich aus dem fatalen Hang der Vernunft ergibt, sich der Inhalte der transzendentalen Analytik - der Elemente der reinen Verstandeserkenntnis - über die nötigen Grenzen hinaus als Organon zu bedienen: Das Wissen um die transzendentale Dialektik bewahrt vor der vernunftimmanenten Gefahr, "von den formalen Prinzipien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen" und "über Gegenstände ohne Unterschied zu urteilen, die uns doch nicht gegeben sind, ja vielleicht auf keinerlei Weise gegeben werden können."47 'Transzendentale Dialektik" heißt also die Kritik des dialektischen Scheins, der aus der Missachtung des Rechts der Erfahrung in bezug auf die Erkenntnis entsteht. Sie ist damit für Kant nicht eine Kunst logischen Schein "dogmatisch zu erregen", wie es die antike Dialektik - ohne eigenes Wissen - gewesen sein soll, sondern "eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs", sie ist "bloße Beurteilung und Verwahrung des Verstandes vor sophistischem Blendwerk."48 Der antiken Dialektik wird in der Absicht, ihre Leistungen transzendentalphilosophisch umdeuten zu können oder um die Bedrohung der sicheren Wissenschaft durch das Wahrscheinliche zu bannen, eine Funktion als Irreführungsmethode unterschoben. 45 46

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ebd. "Auch hier ist das eine wahres Silber oder Gold, das andere ist es nicht, scheint aber so. So sieht Zinnernes und Bleiernes aus wie Silber, und was gelb gefärbt ist, sieht aus wie Gold. Auf gleiche Weise sind der eine Schluß und die eine Widerlegung wirklich solche, die anderen sind es nicht, müssen aber der Unerfahrenheit so erscheinen (...). Da es aber Leute gibt, denen es besser erscheint, weise zu scheinen als zu sein, ohne es zu scheinen - die Sophistik ist nämlich scheinbare, keine wirkliche Weisheit, und der Sophist ein Mensch, der mit scheinbarer nicht wirklicher Weisheit Geschäfte macht -, so müssen die Gedachten offenbar auch die Aufgabe des Weisen nur zum Schein erfüllen, statt sie wirklich zu erfüllen, ohne es zu scheinen. Ar., Soph, el., 164b, resp. 165a., zitiert nach: Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1968 p. 1,2. KrV, Β 88. a.a.O. 15

Aus der angeblich klassischen Kunst, Schein zu erzeugen, soll ein transzendentalphilosophisches Instrument zur Bewahrung vor demselben werden, statt Mittel der Fremdtäuschung wird Dialektik zum Präventiv der Selbsttäuschung oder, in kantischer Terminologie ausgedrückt, nicht die Sophismen der Opponenten, sondern Paralogismen der eigenen Vernunft gilt es abzuwehren. 49 Es zeigt sich dieselbe Struktur im Umgang mit der logisch-rhetorischen Tradition wie schon im Falle der "angewandten Logik": Die Lehre zur Gewinnung von subjektiver Überzeugung durch Wahrscheinlichkeit wird zur Kunst der Bewahrung vor demselben Phänomenbereich; in analoger Weise vollzieht sich die transzendentalphilsophische Neuinterpretation der Topik. 50 Den Hintergrund dieser Begriffsumprägung und damit den Hintergrund von Kants reduziertem Verständnis der Intention von Aristoteles' Dialektik bildet ein ausschließlich negatives, rationalistisches Konzept der Wahrscheinlichkeit. War die Lehre von den dialektischen Schlüssen (entwickelt in der Topik) für Aristoteles eine Lehre des adäquaten Umgangs mit dem Wahrscheinlichen, ein Leitfaden zur Suche nach dem Vernünftigen im Bereich der nicht apodiktisch-wahrheitsfähigen doxa, so ist diese Kant bloß noch eine "Logik des Scheins". Der cartesianischen Maxime gemäß, alles bloß Wahrscheinliche als so gut wie falsch zu betrachten 51 , hat dieses für Kant keinen eigenen Geltungsbereich. - Es ist bestenfalls eine unzureichend erkannte Wahrheit, ein Noch-nicht-Wahres. Kant verwirft die aristotelische Scheidung zweier selbständiger Bereiche, demjenigen des apodiktisch Wahren und Evidenten (mit der Analytik als zugehöriger Wissenschaft) und dem des Wahrscheinlichen (dessen methodische Bewältigung der Dialektik obliegt). Es gibt im Horizont des Erkenntnisinteresses der "Kritik der reinen Vernunft" keinen Bereich des prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsfähigen, mit dem als solchem in einer spezifischen Weise positiv und adäquat umgegangen werden müßte, die Feststellung der Bedingungen der Möglichkeit sicherer, d.h. apodiktischer Erkenntnis schließt ein eigenständiges positives Interesse am Wahrscheinlichen aus. Kant versteht unter Wahrscheinlichkeit, wie noch ausdrücklicher in der "Logik" gesagt wird, den "Schein der Wahrheit", und die Dialektik ist die "Kultur gewisser geschwätziger Köpfe, jeden Schein zu erkünsteln." Nichts kann aber eines Philosophen unwürdiger sein, und die tradierte Dialektik muß daher "völlig wegfallen" und als eine "Kritik des Scheins in die Logik eingeführt werden."52 Auffällig ist, wie sich zeigen wird, die fast identische Charakterisierung der antiken Dialektik in der "Kritik der reinen Vernunft" und der klassischen Rhetorik in der "Kritik der Urteilskraft". Beide werden als Scheinkünste gebrandmarkt, beide betrügen den Verstand mit ihrem "Blendwerk", beide kümmern sich nicht um Wahrheit, sondern ha-

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Kant unterscheidet unfreiwillige Fehlschlüsse, Paralogismen, von den absichtlichen Trugschlüssen, Sophismen (KrV, A 402). Vgl. unten. "... je réputais presque pour faux, tout ce qui n'était que vraisemblable." René Descartes, Discours de la méthode, Hamburg 1969, p. 14. Werke, Band 5, p. 438f.

ben die Erzeugung subjektiven Fürwahrhaltens zum Ziel. Das bedeutet: der von Kant ignorierte traditionelle Nexus von Dialektik als Wahrscheinlichkeitslogik und Rhetorik besteht bei ihm durchaus auch - in ihrer transzendentalphilosophischen Relegation als Scheinkünste sehen sich die beiden Disziplinen wieder vereint. 'Transzendentale Topik" Seine "Idee einer transzendentalen Topik" entwickelt Kant in einer Anmerkung zu einem Anhang ("Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe") zum dritten Hauptstück ("Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena") des zweiten Buches ("Die Analytik der Grundsätze") der Transzendentalen Analytik.53 Erneut erfolgt zuerst eine energische Abgrenzung vom traditionell-aristotelischen Sprachgebrauch: Die herkömmliche Topik diene bestenfalls Schullehrern und Rednern dazu, 54 "... mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen."

Im Verdikt der Oberflächlichkeit, der Vernunfttravestie und der Inhaltsdefizienz kommt ein zu Kants Zeit längst kanonischer, polemischer Minimalbegriff von 'Topik" zum tragen. War die aristotelische Topik eine Typologie von Wahrscheinlichkeitsschlüssen, ja konnten sogar gewisse Topoi für apodiktische Schlüsse taugen 55 , so ist für Kant die von Bacon lancierte, von der Logik von Port Royal ratifizierte Ächtung der Topik als einer wissenschaftlichen Methode längst vollzogen und bedarf keiner langen Erläuterung mehr. Das philosophische Topikverbot hatte dazu geführt, daß selbst die rationalistische und um philosophische Legitimierung bemühte Rhetoriktheorie der Aufklärung die Topik als eine "falschberühmte Kunst, die bey allen rechtschaffen Leuten in Verachtung gewesen" verdammte. 56 Ein weiteres Moment des Topikbegriffs, das in Kants Charakterisierung angesprochen wird, bezieht sich auf die poetische und rhetorische Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts. Deutlicher noch kommt dieser Aspekt in der Schilderung der Topik in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" zum Ausdruck: "... die Topik, d.i. ein Fachwerk für allgemeine Begriffe, Gemeinplätze genannt, welches durch Klasseneinteilung, wie wenn man in einer Bibliothek die Bücher in Schränke mit verschiedenen Aufschriften verteilt, die Erinnerung erleichtert."

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KrV, Β 324 ff. a.a.O., Β 325. Z.B. derjenige von der Art auf die Gattung (Top. 11,4, l i l a ) . Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst (nach der fünften Auflage, Leipzig 1759, in: Ausgewählte Werke, hg. von P.M. Mitchell, Siebenter Band, erster Teil, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin/New York 1975, p. 94. Werke, Band 10, p. 489.

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Kant spricht hier die mnemotechnische und inventorische Funktion der Topik an. Vor allem im 17. Jahrhundert waren aus der Topik etliche literarisch-rhetorische Inventionshilfen entstanden: Lexika, Register von loci communi, Promptuarien, Florilegien, Kollektaneen, Miszellaneensammlungen usf. Daraus ergab es sich, daß man unter den Topoi schließlich die loci comunes, d.i. die Titelüberschriften von zu gewissen Themen passenden Sprüchen, Redewendungen, historischen Exempeln etc. verstand. Die Topik war dann nicht mehr als das Sachregister zu einem poetisch-rhetorischen Materialienkatalog. 58 Von diesem Begriff wird nun die transzendentale Topik abgehoben. Sie hat eine kathartische Funktion im Erkenntnisprozeß: Sie liefert einen "Kanon" anweisender Regeln zu der im Kapitel über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe zur Irrtumsvermeidung empfohlenen Operation der "transzendentalen Reflexion". Diese besteht darin, "einem Begriff einen Ort entweder in der Sinnlichkeit oder im Verstand" 59 zu erteilen. "Auf eine solche Weise wäre die Beurteilung der Stelle, die jedem Begriff nach Verschiedenheit seines Gebrauchs zukommt, und die Anweisung nach Regeln, diesen Ort allen Begriffen zu bestimmen, die transzendentale Topik.

Durch ihre regelgeleitete Anweisung zur Begriffstopographie im phänomenalnoumenalen Feld soll die transzendentale Topik vor den "Erschleichungen des reinen Verstandes und dem daraus entstehenden Blendwerk"61 bewahren. Sie bestimmt die transzendentale Perspektive der Begriffe, ob diese nämlich vom reinen Verstand gedacht werden, oder ob die Sinnlichkeit sie als Erscheinung gibt. Es geht aus Kants Ausführungen nicht eindeutig hervor, welches denn eigentlich die Topoi der transzendentalen Topik sein sollen. Sind es nur die "Begriffs-Orte" Sinnlichkeit und Verstand, oder sind es - nach Analogie mit der herkömmlichen Topik - die Kriterien zur Beurteilung dieser Orte, die Reflexionsbegriffe Einerleiheit/Verschiedenheit, Einstimmung/Widerstreit, Inneres/Äusseres, Materie/Form als die vier Titel aller Vergleichung und Unterscheidung"? 62 Klarheit besteht indessen über den Zweck der transzendentalen Topik; er ist - gerade im Gegensatz zur Funktion der traditionellen Topik als einer systematischen argumentativen Heuristik im Dienst der rhetorischen und dialektischen "inventio" - ein bloß negativer: Nicht mehr Invention, sondern Prävention soll die Topik in der Transzendentalphilosophie leisten; die transzendentale Topik liefert dem erkennenden Verstand das Bewußtsein über den jeweiligen Status seines Gebrauchs, ob er rein oder empirisch sei. Sie schützt so vor Irrtümern, deren Quelle die Behandlung von Sinnendingen nach Gesetzen ist, die für Verstandesdinge gelten - oder umgekehrt. 58 59 60 61 62 18

Vgl. dazu Manfred Beetz, Rhetorische Logik, a.a.O., p. 127. KrV, Β 324. a.a.O. ebd. ebd.

Eine beiläufig erwähnte zusätzliche Funktion der transzendentalen Topik ist dadurch diejenige als philosophiehistorisches Erklärungsprinzip: die Vernachlässigung der Operation der transzendentalen Reflexion nach Maßgabe der transzendentalen Topik soll erklären, wie die dogmatische Metaphysik hat entstehen können. Durch sie würden nämlich sämtliche pathologischen Formen des Philosophierens, sowohl Schwärmerei als auch Verstandesmetaphysik und Intellektualphilosophie, vermieden.63 Anmerkung: Geschichtsphilosophie als Aufklärungstopik Einen Blick auf die Stellung der Topik bei Kant wirft Armin Müller64, dessen These lautet, ihre traditionelle Rolle werde in der kantischen Philosophie von der Geschichtsphilosophie besetzt; es ergibt sich ihm daraus eine Hypothese über die Methode der aufklärerischen Publizistik. Im Rahmen seiner Untersuchung der Frage der "Vermittlung von Philosophie und Politik in der Topik des Aristoteles"65 spricht Müller ausgerechnet Kant das Verdienst zu, im Rahmen des geistesgeschichtlichen Prozesses der "Entpolitisierung der Dialektik" derjenige Philosoph gewesen zu sein, der die Bedeutung der aristotelischen Topik erkannt und ihr wieder die ihr "lang verweigerte Anerkennung"66 verschafft hätte. Erstens nämlich, so Müller, verdanke sich die kantische und die aristotelische Separierung der Sphären analytikgeregelter philosophischer Methodik einer gemeinsamen Intention: In derselben Absicht, in der Aristoteles zwischen Diskursen, die durch die Analytik und solchen, die durch die Dialektik methodisch regiert werden, unterscheide, werde die Dialektik als Pseudoanalytik von Kant aus der theoretischen Philosophie ausgeschlossen. Das in der "Kritik der reinen Vernunft" indes fehlende funktionale Äquivalent zur aristotelischen Topik als der positiven Heuristik für die Sphäre nicht apodiktischer Wahrheit fähiger Probleme, erblickt Müller bei Kant in der Geschichtsphilosophie: "Wie die Dialektik umsetzende Rhetorik zu bürgerlichem Gutleben rät (...), so appelliert Aufklärung um des 'Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit' willen an ihr Publikum, seitdem die Hermeneutik des geschichtlich Fälligen, eben Geschichtsphilosophie, dies Ziel als unaufschiebbar erwiesen hat."67

Müller nährt seine These aus Kants Ausführungen im Aufsatz über den "Streit der Fakultäten", inbesondere im Kapitel über den Streit der philosophischen mit der juristischen Fakultät. Kant nennt dort als Aufgabe der Aufklärung, die Machthabenden durch öffentlich vorgetragene, vernünftige Argumente von der Identität ihrer eigenen Interes63 64 65 66 67

ebd., Β 327 f. Armin Müller, Autonome Theorie und Interessedenken. Studien zur politischen Philosophie bei Piaton, Aristoteles und Cicero, Wiesbaden, 1971. a.a.O., p. 67-94. ebd., p. 98. ebd., p. 99. 19

sen mit den von der Geschichtsphilosophie als richtig erkannten Zielen - dem weltbürgerlichen Zustand - zu überzeugen. Im Rahmen solcher Raisonnements vermöge es die Geschichtsphilosophie, die welthistorische Relevanz bestimmter Einzelereignisse zu bestimmen, indem sie deren Rang an ihrem Wissen um das allgemeine Interesse messe. Das Gemeinsame von aristotelischer Topik und kantischer Geschichtsphilosophie besteht also in ihrer Funktion als Instanzen zur Indizierung der Vernünftigkeit politischer Argumentation. 68 Gewiß kann man, so betrachtet, sagen, daß die Geschichtsphilosophie in diesem speziellen Zusammenhang eine traditionellerweise der Topik übertragene Aufgabe wahrnimmt. Die Speisung einer Argumentation aus einem vorgeblichen Wissen um die Fälligkeiten des Geschichtsverlaufs impliziert ein topisches Vorgehen, und auch der von Kant geforderte Aufklärer argumentiert somit topisch. Aber Kant deswegen zum Wiederentdecker der Bedeutung topischer Argumentation zu machen, scheint stark übertrieben. Kant hat nicht in methodologisch reflektierter Weise der Geschichtsphilosophie die methodische Rolle der Topik übertragen wollen. Es handelt sich bei ihm nicht um "Geschichtsphilosophie als Topik", sondern ganz einfach um die Empfehlung der Anwendung geschichtsphilosophischer Topoi, philosophisch interpretierter "loci ab historia", und damit handelt es sich auch um ein ganz traditionelles Verfahren: In der Lehre von der Argumentation nennt die klassische Rhetorik unter den Überzeugungsmitteln auch die "res gesta", Tatsachenberichte. Darunter fällt als "Fundort" von Argumenten u.a. auch das "exemplum"; zu den Quellen des exemplum wiederum gehört unter anderem die "historia".69 Was Kant also fordert, ist, historische "exempla" in der Topik aufklärerischer Argumentation zu nutzen. 70

1.2 Die Rhetorikkritik der "Kritik der Urteilskraft" Eine implizite Auseinandersetzung mit gewissen traditionell-rhetorischen Problembereichen findet bei Kant, wie gezeigt, im Rahmen der transzendentalphilosophischen Historisierung der aristotelischen Terminologie in der "Kritik der reinen Vernunft" statt. Die explizite Abhandlung der Rhetorik als kodifizierter und institutionell verankerter Disziplin aber fällt in die Kompetenz der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft". Diese prinzipielle Voraussetzung des primär ästhetischen Charakters der Rhetorik, die Vorentscheidung ihrer Situierung innerhalb eines Systems der schönen 68

"Wie Aristoteles in theoretischem Zusehen Topoi doxahaften Argumentierens auf deren zugrunde liegende Vernünftigkeit hin untersucht, so fragt Geschichtsphilosophie nach der vernünftigen Naturabsicht in diesem Widersinnigen menschlicher Dinge; und wie Dialektik, am Moment der Auseinandersetzung festhaltend, den eristisch geführten Streit der Meinungen auf der offenen Agora zu Sachgerechtigkeit zwingt, so setzt Kant darauf, daß unter den Bedingungen der Publizität durch fortgesetzte Aufklärung eine pathologisch abgerungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandelt werden kann." a.a O., p. 106. 69 Vgl. dazu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., p. 228. 70 Das "exemplarische exemplum" in diesem Zusammenhang ist natürlich die Französische Revolution. 20

Künste, bestimmt Kants Analyse und Kritik der Rhetorik, aber auch deren spezifische Probleme. Die Betrachtung der Rhetorik im Rahmen der schönen Künste ist bereits eine Entwicklung der Spätantike und wird neuzeitlich bekräftigt durch Petrus Ramus' folgenreiche Neuverteilung verschiedener rhetorisch-dialektischer Problembereiche unter die artes des Trivium. Ramus schlägt die zwei rhetorischen Teildisziplinen inventio und dispositio zur Dialektik. Der Rhetorik bleibt damit nur noch der Redeschmuck, die elocutio, der Teil, den sie mit der Poesie gemeinsam hat. 71 Die systematische Eingliederung der Rhetorik in die Philosophie der Kunst vollzieht Christian Wolff. Die Philosophie der Künste umfaßt bei ihm neben der Technologie (Pflanzenbau, Zivilarchitektur und Metallurgie) und der Philosophie der Medizin auch die Philosophie der artes liberales, neu umgrenzt als Grammatik, Rhetorik und Poetik. 72 Davon ausgehend hatte vor Kant schon Baumgarten die Rhetorik innerhalb einer systematischen Ästhetik als der Philosophie der schönen Künste abgehandelt. 73

1.2.1 Definition und Kritik der "Beredsamkeit" Definition der Beredsamkeit Definiert wird die Beredsamkeit von Kant im Rahmen einer Einteilung der schönen Künste. 74 Diese nimmt ihren Ausgang von der Trennung von Natur- und Kunstschönheit. Prinzip dieser Unterscheidung ist die generelle Bestimmung der Schönheit als "Ausdruck ästhetischer Ideen". Eine ästhetische Idee ist eine einem "gegebenen Begriff beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft."75 Eigentümlich ist ihr als Vorstellung, daß sie von einer "Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen" begleitet wird. Dadurch ist kein Ausdruck zur Bezeichnung des Begriffs den damit verbundenen Vorstellungen adäquat. Dies hat, gemäß Kant, zur Folge, daß zum Begriff viel "Unnennbares" hinzugedacht wird, dessen "Gefühl" das Erkenntnisvermögen "belebt."76 Während nun im Falle der Naturschönheit diese Ideen vermittels der "bloßen Reflexion über eine gegebene Anschauung"77 ausgedrückt werden sollen, wird im Falle der

71 72 73 74 75 76 77

Vgl. Petrus Ramus, Scholae in liberales artes, a.a.O. Vgl. das Schema des Herausgebers Jean Ecole in: Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., p. XXVIII. Vgl. Marie-Luise Linn, A.G. Baumgartens 'Aesthetica' und die antike Rhetorik, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik, Band 2, Wirkungsgeschichte der Rhetorik, Darmstadt, 1990, p. 81ff. Kritik der Urteilskraft, Paragraph 51. Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Philosophische Bibliothek Meiner, Hamburg 1974. KU, Paragraph 49. a.a.O. KU, Paragraph 51. 21

Kunstschönheit die ästhetische Idee durch einen "Begriff vom Objekt" 78 veranlaßt. Das schöne Kunstwerk stellt außer sich selbst auch noch etwas anderes dar, es gibt einen Begriff "von dem, was der Gegenstand sein soll" und wird durch die Insuffizienz des Ausdrucks zur Darstellung der den Begriff begleitenden Vorstellungen zum Ausdruck einer ästhetischen Idee. 79 Sodann teilt Kant die schönheitsfähigen Künste "zum Versuche"80 nach dem Paradigma der menschlichen Rede ein. Das tertium comparationis ist dabei die Empfindung - sie ist (als Gefühl der Lust und Unlust) der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils, und die Rede ist für Kant diejenige Ausdrucksform, derer sich die Menschen bedienen, "um sich, so vollkommen als möglich ist, einander, d.i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach mitzuteilen."81 Die Komponenten der mündlichen Rede, Wort, Gebärdung und Ton - Artikulation, Gestikulation, Modulation kommunizieren je die drei Bewußtseinsinhalte Gedanke, Anschauung und Empfindung. Per Analogie nach Maßgabe der gemeinsamen Inhalte ergibt sich eine Dreiteilung der ästhetischen Ausdrucksformen in eine redende Kunst, eine bildende Kunst und in die "Kunst des Spiels der Empfindungen als äußerer Sinneneindrücke" (die Musik).82 Die somit isolierte "redende Kunst" wird zweigeteilt in "Beredsamkeit" und "Dichtkunst". Die beiden werden von Kant in wechselseitiger Abhängigkeit in einer chiastischen Doppeldefinition bestimmt: "Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen."83

Dieses aphoristisch schimmernde Satzgebilde läßt sich nach schulrhetorischer Terminologie der Tropen und Figuren beschreiben als ein syntaktisch gleichrangiges Isokolon, welches zwei Definitionen parallelisiert, wobei durch einen syntaktischen Chiasmus (permutatio/antimetabole) die jeweils das Definfiens tragenden Satzteile antithetisch in Opposition gesetzt werden. Die technische Beschreibung zeigt, um welch artifizielle, "rhetorische" Rhetorikdefinition es sich hier handelt, die ihren verblüffenden Effekt denn auch nicht verfehlt. Die Präsentation der Definition der redenden Künste in Form einer Talentprobe der Beredsamkeit des Autors verfolgt wohl unbewußt den Zweck der Legitimierung des Urteils: hier definiert kein kunstfremder Theoretiker, sondern ein durch seine eigene Sprachkunst autorisierter Philosoph. 78 79

80 81 82 83 22

a.a.O. Der Begriff dient also nicht der Erkenntnis, denn im Unterschied zum logischen Urteil wird im ästhetischen Urteil ja nichts erkannt. Die Vorstellung wird nicht "unter Begriffe vom Objekt subsummiert" (Paragraph 35). Der Begriff ist durch das Unvermögen des sprachlichen Ausdrucks, eine ihm adäquate Vorstellung zu geben, bloßer Auslöser des ästhetisch empfundenen Spiels der Vermögen. KU, Paragraph 51. a.a.O. ebd. ebd.

Inhaltlich vollzieht sich die Bestimmung innerhalb der Differenzen von Geschäft und Spiel und den diesen zugeordneten Bewußtseinsinstanzen Verstand und Einbildungskraft. Die rhetorische bzw. dichterische Tätigkeit besteht nun darin, jeweils eine dieser Tätigkeiten "als" die gerade andere zu betreiben. Es fragt sich, was dieses "etwas als etwas betreiben" heißt. Kants weitere Ausführungen machen deutlich, daß die Bewertung dieser Umkehrungen auf ihrer Interpretation als der Ursache einer Diskrepanz von Versprechen und Leistung beruht: "Der Redner kündigt also ein Geschäft an und führt es so aus, als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei, um die Zuschauer zu unterhalten. Der Dichter kündigt bloß ein unterhaltendes Spiel an, und es kommt doch soviel für den Verstand heraus, als ob er dessen Geschäft zu treiben die Absicht gehabt hätte."

Bei der Beurteilung des jeweiligen Verhältnisses von versprochener und tatsächlich erbrachter Leistung liegt das Verdienst bei der Dichtung; die Beredsamkeit hingegen wird des Betruges für schuldig erklärt. Der Redner gibt nicht, was er verspricht - der Dichter gibt mehr, als er je versprochen hätte. Wie dieser Unterschied moralisch zu bewerten sei, ergibt sich von selbst. Grundlage dieses moralischen Gegeneinanderausspielens von Rhetorik und Dichtung ist die vorausgesetzte Wertdifferenz von 'otium' und 'negotium', von Geschäft und Spiel, denn genau betrachtet würde sich ja der Dichter ebenderselben Nichterfüllung eines Versprechens schuldig machen, wie dies der Redner tut. Der Redner tut der "Würde" seines Geschäfts Abbruch, indem er es als eine Verstandesangelegenheit zu seinem erhofften Vorteil mit dem Spiel der Einbildungskraft anreichert; der Dichter wertet sein Spiel auf, indem er es zum Verstandesgeschäft erhebt. "Ernst ist das Leben, heiter die Kunst."85 - Dahinter steht eine traditionelle Norm der Validierung der Kunst in ihrer Beziehung zur Sphäre der ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Notwendigkeiten: Im Bereich des Ernstes der Geschäfte des Verstandes, der Erkenntnis und Belehrung, hat das Spiel der Einbildungskraft, haben Belustigung und Unterhaltung nichts verloren. Wer sich durch angenehme spielerische Reize gar Vorteile in geschäftsmäßigen Angelegenheiten zu verschaffen versucht, verfällt dem moralischen Tadel. Dies aus zwei Gründen: er verfehlt sein rednerisches Geschäft und setzt sich in Widerspruch zu seiner Intention, indem die unstatthafte ästhetische Stilisierung eben den Anspruch, sich in ernsthafter Weise in ernsten Dingen zu äussern, kompromittiert. Hinter dem von Kant so selbstverständlich unterstellten Nexus von Spiel und Betrug, von moralischer Verurteilung aufgrund spielerischen Tuns, steht eine im wesentlichen platonisch-aristotelische philosophische Tradition 86 , die den Ernst (spoude) einerseits dem Spiel (paidia) und Scherz (gelos) gegenüberstellt, im ernsten Menschen aber ande84 ebd. 85 Friedrich Schiller, Prolog zu "Wallensteins Lager". 86 Vgl. M. Theunissen, Artikel "Ernst" in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, p. 720. 23

rerseits auch den sittlich Guten erblickt, den "agathos" im Unterschied zum unernsten "phaulos". Die Rhetorik missachtet als Spiel den der Geschäftssphäre gebührenden sachlichen Ernst; geschlossen wird aber daraus auch auf einen sittlichen Unernst des Redners, dieser ist der Grund der Verurteilung. Das Geschäft nun, das bei Kant im Blick steht, ist offenbar kein politisches oder ökonomisches, sondern das Verstandesgeschäft der Wissenschaft.87 Es ist daher hier vorerst ein gewisses Pathos des Ernstes der Wissenschaften, das die Rhetorik als sachfremde Spielerei disqualifiziert.88 Die Frage, ob die somit aus der Sphäre des Verstandesernstes der Philosophie ausgeschlossene und als Kunst zunächst moralisch disqualifizierte Beredsamkeit überhaupt als schöne Kunst gelten könne, wird von Kant an dieser Stelle zwar nicht ausdrücklich gestellt: Ein in die wechselseitigen Definitionen von Dichtung und Beredsamkeit eingeschobener Exkurs über das "Eigentümliche der schönen Kunst"89 liest sich indessen wie eine heimliche Reflexion über die Möglichkeit, Rhetorik überhaupt als Kunst gelten zu lassen. Zwei Momente machen das Eigentümliche des schönen Kunstwerks aus: einmal, daß die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand bei der schönen Kunst nicht gesucht wird, sondern "unabsichtlich" ist; der poetische Erfolg ist nicht intendiert, kalkuliert und aus Regeln gezogen. Damit scheidet die Rhetorik natürlich sofort aus dem Kreis der kunstfähigen Beschäftigungen aus, ist sie doch immer von praktischen Zielen und Absichten geleitet und kalkuliert die Mittel, die diese Ziele zu verwirklichen helfen. In der Kunst hingegen herrscht "Zwangsfreiheit von Zwecken"90, und die Rhetorik ist gerade der Bereich (prätendiert) künstlerischer Sprachproduktion, in welchem das "interesselose Wohlgefallen" einem kalkulierten Rekurs auf einen Kanon der Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke untergeordnet wird. Da die praktischen Zwecke der Rhetorik eben gerade durch "absichtliche", d.h. bewußte und wirkungsbezogen intendierte Anwendung künstlerischer Mittel erreicht werden, kann sie nicht als schöne Kunst gelten. Auch das zweite Kunstkriterium erfüllt die Beredsamkeit nicht: Schöne Kunst, so Kant, muß freie Kunst sein, und dies in doppelter Hinsicht: frei von einem menschlichen Handlungszweck überhaupt, frei aber auch von materiellem Interesse. Es ist evident, daß auch dieses zweite Kriterium der Kunstwürdigkeit geradezu maßgeschneidert zur Ausgrenzung der Rhetorik paßt. Es ist eine elementare Erkenntnis der Rhetoriktheorie, daß jeder Redner, besonders natürlich im Fall der dikanischen und symbouleutischen Rede, nicht nur immer im Namen eines Interesses und praktischer Zwecke spricht; daß er sich dafür bezahlen läßt, oder besser, dies letztlich aus materi87 88

89 90

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Die "Kritik der reinen Vernunft" hat das "Geschäft" der Vernunft zum Gegenstand (Vorrede zur 1 Auflage, A VII). Einen Höhepunkt erreicht dieses Pathos in Hegels Lehre von der "Anstrengung des Begriffs." (Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, Werke, Band 3, Frankfurt a.M. 1986, p. 56), vgl. dazu unten, p. 139f. KU, Paragraph 51. So könnte man in Abwandlung von Kants Forderung der "Zwangsfreiheit von Regeln" der Kunst (KU, Paragraph 49) formulieren.

eilen Interessen unternimmt, ist seit den Sophisten konstitutiver Bestandteil des Selbstverständnisses der Rhetorik als soziopolitischer Dienstleistung und bereits bei Piaton ein häufiger Vorwurf an die Adresse der Rhetoren. 91 Auch Quintilian läßt in seinem Standardwerk zur römischen Rednerausbildung keine Zweifel darüber offen, daß der Rhetor einen Lohnberuf ausübt. 92 Als bezahlte Kunst wird die Rhetorik dadurch aber für Kant zu "einem Lohngeschäft, einer Arbeit, deren Größe sich nach einem bestehenden Maßstab beurteilen, erzwingen oder bezahlen läßt"93, somit kann sie aber keine schöne Kunst sein. Genie versus Regel Kants berühmt-berüchtigte Radikalkritik der Beredsamkeit 94 vollzieht sich im Rahmen einer "Vergleichung des ästhetischen Werts der verschiedenen Künste untereinander". Nach der Art eines Paragone 95 , eines Wettstreits der Künste, stipuliert diese eine Rangordnung der Künste, welche den redenden Künsten den Vorzug vor der Tonkunst und dieser wiederum den Vorzug vor der bildenden Kunst gibt. Wie schon bei der Definition der beiden redenden Künste, Dichtkunst und Beredsamkeit, dient auch bei der Hervorhebung des absoluten Vorrangs der Dichtkunst die Beredsamkeit als negative Kontrastfolie: Die Vorzüge der Dichtkunst sind die entsprechenden Defizite der Beredsamkeit, die Mängel der Beredsamkeit bestehen in ihrem Unvermögen, den von der Dichtung gesetzten Maßstäben zu genügen. Bereits Kants erste Begründung des Vorrangs der Dichtkunst betont einen ihrer Vorzüge gegenüber der Rhetorik: Sie verdankt ihren Ursprung dem Genie und "will am wenigsten durch Vorschriften oder Beispiele geleitet sein"96: "Vorschriften", als Kunstregeln (praecepta) des richtigen Gebrauchs der rhetorischen Mittel, und "Beispiele" 91

Bekannt ist der der Spott des platonischen Sokrates über die Geschäftstüchtigkeit der Sophisten (Apol. 19e, Hipp, mai 282c, Prot. 328b, Menon 91a). Für Sokrates verkörpert indessen natürlich nicht die Kunst, sondern die Philosophie das interesselose und freie Gegenstück der Rhetorik. Zur sophistischen Geschäftspraxis vgl. Jacqueline de Romilly, Les grands Sophistes dans Γ Athènes de Péricles, Paris 1988, p. 22f. 92 Unter dem Konkurrenzdruck des materiell interesselosen Ideals der griechischen Philosophie sieht sich allerdings auch Quintilian gezwungen, die Lohnforderungen des Rhetors zu rechtfertigen: Er behauptet zu diesem Zweck, auch Sokrates und die stoischen Schulhäupter hätten Geld von ihren Schülern angenommen. Wichtig sei, daß der Redner bei seinen Honorarforderungen Maß halte und nichts annehme, was über das zur Sicherung der materiellen Existenz nötige Minimum hinausgehe. Institutio oratoria, XII,8,If. 93 KU, Paragraph 51. 94 Berühmt bei illustren Zeitgenossen, so z. B. bei Goethe, der Eckermann die "Kritik der Urteilskraft" mit der Bemerkimg empfiehlt, Kant habe die Rhetorik darin "vortrefflich" abgehandelt. Vgl. E. Beutler (Hg.), Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren, Zürich 1948, p. 248; eher berüchtigt in der modernen Rhetorikforschung, vgl. dazu z.B. Joachim Goth, Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen 1970, p. 6f.; Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie, Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, p. 124 f.; Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, Hamburg 1990, p. 95f. 95 Im traditionellen Paragone der Kunstliteratur der italienischen Renaissance wurde der Wert der verschiedenen bildenden Künste gewogen. 96 KU, Paragraph 52. 25

(exempla), als Vorlagen der unentbehrlichen Kunstübung der "imitatio", sind natürlich zentrale Inhalte der klassischen schulrhetorischen Pädagogik.97 Der angesprochene Gegensatz von Genie und Regel nimmt die bereits in der antiken Rhetoriktheorie beginnende Diskussion auf, ob sich die Redekunst einer schulgerechten Ausbildung (ars) oder naturgegebener Begabung (ingenium) verdanke. Die Neuzeit überträgt das Problem auf den ganzen Bereich der Künste, und das Thema bildet eine Grundfrage der Kunstschriftstellerei des 17. und der sich entwickelnden philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Die Thematik entstammt ursprünglich der Rhetorikreflexion - sie dient in der Neuzeit der Ausgrenzung der Rhetorik aus dem Bereich der schönen Kunst. Der Geniebegriff ist zentral für Kants Negation des Status einer schönen Kunst für die Rhetorik. Daher sei dessen Transformation über die antike Rhetoriktheorie, die Poetik und Rhetorik des Barock und der Aufklärung bis zu Kant knapp dargestellt. Die Frage nach dem "ingenium" taucht zuerst im Zusammenhang der antiken Diskussion um die Lehrbarkeit der Rhetorik auf. Cicero 98 differenziert zwischen eingeborenem "ingenium" und erworbener, theoretisch fundierter Sprachkraft (eloquentia doctrinae). Die rednerischen Übungen sollen helfen, naturgegebene Begabungsdefizite zu kompensieren. Cicero diskutiert das Problem aus der Sicht des Redelehrers, der sich fragen muß, ob es vertretbar sei, einen offensichtlich absolut Unbegabten gegen Bezahlung zu unterrichten, wenn feststeht, daß es dieser als Redner nie zu etwas bringen werde.99 Quintilian fühlt sich durch die Frage eher belästigt 100 und hält sie kaum einer Erörterung für wert. Dennoch sieht er sich gezwungen, die Argumente zu erwähnen, welche zur Leugnung der Fähigkeit der Rhetoriklehrer, Kunstfertigkeit zu vermitteln, angeführt werden. Er zitiert zwei angeblich auf Lysias zurückgehende Einwände: Erstens ergebe sich aus der Tatsache der intuitiven Verwendung rhetorischer Kunstmittel durch Ungebildete, Sklaven und Barbaren, daß Rhetorik eine Naturgabe sei und sich Unterricht demnach erübrige. Zweitens seien gewiß vor der Entwicklung der Rhetorik schon Reden gehalten worden, rednerisches Können existiere demnach unabhängig von der kodifizierten und pädagogisch institutionalisierten Redekunst. Quintilian hält dergleichen für Sophistereien und stellt knapp fest: "... wir begnügen uns mit dem Hinweis, daß idles, was durch Kunst zur Vollendung gebracht ist, seine Ansätze in der Natur genommen hat.

97 98 99 100

Vgl. Quint., X,l,2f. Cie., de or., 1,5. a.a.O., 1,28. "Ich gestehe, auch selbst im Zweifel gewesen zu sein, ob ich es für nötig erachten sollte, diesen Teil der Untersuchung zu behandeln; denn wer ist so weit nicht nur von der Bildung, sondern vom elementarsten menschlichen Empfinden entfernt, daß er es zwar für eine Kunst hält, zu bauen, zu weben und aus Lehm Gefäße zu machen, es aber glauben könnte, die größte und schönste Leistung des Menschen, (...) sei ohne Kunst zu solcher Höhe gelangt." Quint., 11,17,5, a.a.O., p. 251. 101 a.a.O., p. 253.

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Für ihn ist klar: "... ein vollkommener Redner kann nur aus beiden Voraussetzungen zustande kommen." 102 Er gesteht zu, daß wohl Naturanlage ohne Kunst viel leisten könne, umgekehrt aber bloße Kunst ohne Naturanlage so gut wie nichts vermöge - aber: auf einem von Natur fruchtbaren Boden "wird der Bebauer mehr erzielen als die Güte des Bodens für sich allein hervorbringt."103 Die deutsche Dichtungs- und Rhetoriktheorie des Barockzeitalters steht ganz im Zeichen der klassischen Autoritäten und übernimmt folglich auch diese Position; selbst der sprichwörtlich gewordene "poetische Trichter" gesteht zu, "ingenium" und "ars" müssten zusammenwirken, wenn ein gelehrtes Kunstwerk entstehen soll: "Die Natur ist eine Meisterin / den hurtigen Feuergeist anzubrennen / die Kunst aber gleichsam das fette Öl / durch welches solcher Geist weitstrahlend erhellet / und himmelhoch aufflammet."

Das gelehrte Kunstideal der Barockzeit besteht zwar darauf, daß sowohl in der Poesie als auch in der Rhetorik ohne "doctrina" kein Kunstwerk zu schaffen sei, nimmt jedoch die von den Alten zugestandene Modifikation und Relativierung der Macht vernünftiger produktionsästhetischer Anleitung hin. Dieselbe, wie gezeigt ursprünglich rhetorikkritische, Frage erlangt innerhalb der allgemeinen Diskussion über die Nützlichkeit von Regeln zur Herstellung von Kunst in der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts zentrale Bedeutung. 105 Im Namen des Genies entfaltet das Jahrhundert eine progressive Regelkritik. Schon Baumgarten ist vom Nutzen der Regeln nicht mehr recht überzeugt und empfiehlt Skepsis gegenüber Anweisungen und Vorschriften. Regeln könnten allenfalls helfen, Irrtümer zu vermeiden, umgekehrt sei aktive Befreiung vom Regelzwang konstitutiv für das echte Kunstwerk. Einen wichtigen Einfluss auf Kant gewinnt die Behandlung des Problems bei Lessing. Hatte dieser in der frühen "Abhandlung über die Fabel" noch die Auffassung vertreten, Genie werde durch Erziehung vermittelt, so ändert sich diese Einschätzung in der Folge, ausgelöst durch Shakespeare, grundlegend. Lessing erteilt dem Ideal des "poeta doctus", wie ihn Gottscheds einflußreiche "Critische Dichtkunst" gefordert hatte, eine Absage, und es erfolgt damit auch eine Absage an die Regeln. Lessing greift dabei manche Gesichtspunkte der französischen und englischen Geniediskussion auf (Addison, Young, du Bos) und katalysiert die deutsche Geniebewegung des Sturm und Drang. 102 ebd., 11,19,1, p. 265. 103 ebd., 11,19,2, p. 267. 104 Georg Philip Harsdörffer, Poetischer Trichter, 1. Teil, Vorrede, fol. VIb. Zitiert nach: Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 237. 105 Vgl. dazu Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Reprographischer Nachdruck der 1. Auflage Halle an der Saale 1923, Tübingen 1967. Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin/New York 1971; Hermann Wolf, Versuch einer Geschichte des Geniebegriffs in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1923; Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, Band 1, Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1988. 27

Wichtig für Kant ist insbesondere Lessings Bestimmung des Verhältnisses von Genie und Regeln. Dieses Verhältnis ist ein genetisches: die Regeln sind demnach aus der Reflexion über die Werke des Genies entstanden. Sie stehen damit auch nicht ein für allemal fest, sondern sie "vermehren sich, so oft ein Genie, welches niemals seinen Vorgängern ganz folgt, einen neuen Weg einschlägt, oder den schon bekannten über die Grenzen hinaus bähnet." 106 Für die Beurteilung des Werks bedeutet dies, daß auch sie sich nicht mehr auf den Wert der Regeln verlaßen darf. Wie Lessing am Beispiel der Forderung nach regelgerechter Gattungsreinheit erläutert, steht es dem Genie frei, durch seine Willkür auch den "Kunstrichter" zu zwingen, seine Normen zu revidieren. Der "höheren Absicht" des Genies hat sich die Schule zu fügen. "In den Lehrbüchern sondere man die Gattungen so genau voneinander ab als möglich, aber wenn ein Genie höherer Absichten wegen mehrere derselben in einem und ebendemselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch und untersuche bloß, ob es diese höhere Absicht erreicht hat."

Kant teilt nicht die radikalen Ansichten des Sturm und Drang, von der Hinfälligkeit jeden Regelwerks, obschon die hier zur Diskussion stehende Charakterisierung eines Vorzugs der Dichtung vor der Beredsamkeit dies vermuten lassen könnte. Er besteht auf der Notwendigkeit der Kenntnis der Vorschriften, welche das Technische und Handwerkliche einer Kunst betreffen und lehnt die völlige Befreiung von jedem Zwang ab. "Daß aber in allen freien Künsten dennoch etwas Zwangsmäßiges, oder, wie man es nennt, ein Mechanismus erforderlich sei, ohne welchen der Geist, der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt, gar keinen Körper haben und gänzlich verdunsten würde, ist nicht unratsam zu erinnern (z.B. in der Dichtkunst die Sprachrichtigkeit und der Sprachreichtum, ungleichen die Prosodie und das Silbenmaß), da manche neuere Erzieher, eine freie Kunst am besten zu befördern dauben, wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen und sie aus Arbeit in ein bloßes Spiel verwandeln."

Der Stoff muß gemäß den Regeln bearbeitet werden, was es hingegen für Kant nicht gibt, sind objektive Regeln des Geschmacks, nach welchen "ein Beweis a priori das Urteil über Schönheit" zu bestimmen vermöchte. 109 Die Regeln sind empirisch und werden aus den exemplarischen Werken des Genies abgeleitet. Jedes Kunstwerk muß zwar eine Zweckmäßigkeit in der Form aufweisen, es darf aber keine Absichtlichkeit durchscheinen lassen und muß vielmehr wie ein Naturprodukt erscheinen 110 - die Regeln müssen daher zwar "pünktlich", nicht aber "peinlich" eingehalten werden, sie spielen bei

106 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Band 3, München 1972, p. 113. 107 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburger Dramaturgie, 48. Stück, zitiert nach: Armand Nivelle, Dichtungstheorien, a.a.O., p. 130. 108 KU, Paragraph 43. 109 KU, Paragraph 33. 110 "Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint." KU, Paragraph 45. 28

der Produktion ihre Rolle, aus dem fertigen Werk muß aber jede Spur von ihnen verschwunden sein. 111 Wie schon Lessing meint also Kant, Regeln müßten aus dem Werk des Genies abgeleitet werden, sie sind demnach immer empirisch und nie a priori, und jede Regel kann durch das Werk des Genies jederzeit widerlegt werden; neu ist der Gedanke, daß sich durch das Medium des Genies die "höheren Absichten" der Natur kundtäten: "Da nun ohne vorhergehende Regeln ein Produkt niemals Kunst heissen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich."

Kants Kompromiß zwischen Genie und Regel vermittelt zwischen dem Geniebegriff individuell-subjektiver Originalität und dem aufgeklärt-humanistischen Anspruch, im Kunstwerk müßten dennoch allgemein wertvolle, historisch tradierbare und vermehrbare Leistungen erbracht werden. Die Ansprüche der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit sichert dabei der Geschmacksbegriff: das geniale Moment ist nur was die Kunstproduktion anbetrifft maßgebend. In der Beurteilung der Werke erhält der mit dem Allgemeinen vermittelnde Geschmack sein Recht. In der Dichtkunst gibt folglich die Natur durch das Genie der Kunst die Regeln; explizite Regeln gibt es erst nach dem Genie und ihr Gebrauch ist ein bloß kritischer - der Redner bezieht die Regeln bereits in der Produktion aus seinen Schulbüchern und richtet sich danach. Daraus ergibt sich die (unausgesprochene) Folgerung, daß Beredsamkeit nie im eminenten Sinn schöne Kunst sein kann. Noch eine zweite Disqualifizierung der Beredsamkeit bringt das Geniekonzept mit sich: Die Kunst des Genies ist zweckfrei. Genie ist Ausdruck der Natur des Subjekts, welche die "ungesuchte, unabsichtliche, subjektive Zweckmäßigkeit in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit des Verstandes" hervorbringt. 113 Damit wird durch das Geniekriterium noch einmal die zentrale ästhetische Defizienz der rhetorischen Rede als zweckgebundener Rede angesprochen. Autonomie Ein nächster Vorzug der Dichtung vor der Beredsamkeit besteht sodann in ihrer intimen Beziehung zur Freiheit: Erstere "erweitert das Gemüt", indem sie "die Einbildungskraft in Freiheit versetzt"114; dies dadurch, daß sie "innerhalb der Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusam111 "Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe." KU, Paragraph 45. 112 KU, Paragraph 46. 113 KU, Paragraph 49. 114 KU, Paragraph 53. 29

menstimmender Formen diejenige darbietet", welche die Darstellung des Begriffs mit "einer Gedankenfülle, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist" verknüpft. 115 Kants Beschreibung der Wirkung der Dichtkunst ist als eine Applikation und Explikation seines Begriffs des ästhetischen reflektierenden Urteils zu verstehen. In ihm wird das Subjekt von einer Vorstellung affiziert, und das dabei empfundene Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand erzeugt das Gefühl des Schönen. Weder Begriff noch Zweck des Gegenstandes interessieren das ästhetische Urteil, nur seine Form, und die Vorstellung wird nur aufs Subjekt, dessen Gefühl, bezogen. 116 Die vom Gegenstand affizierten Sinne lösen die Tätigkeit der Einbildungskraft aus, welche den Verstand auffordert, den sinnlichen Gegebenheiten mittels seiner Begriffe Einheit zu verschaffen. Das Verhältnis der Seelenkräfte Einbildungskraft und Verstand im ästhetischen Urteil erzeugt ein freies Spiel zwischen den Vermögen. 117 Dieses Spiel erweckt das Gefühl der Lust oder Unlust, das der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteil ist. 118 Die Selbsterfahrung der Freiheit ist letztlich das eigentliche Wesen der ästhetischen Erfahrung, interpretiert wird sie von Kant als die "Erhebung zu ästhetischen Ideen". 119 Der Vorzug der Dichtkunst vor der Rhetorik liegt darin, daß letztere dieses Freiheitsbezugs ermangelt. Der Grund, einmal mehr: Die Beredsamkeit präsentiert ihre Erzeugnisse nicht dem reinen ästhetischen Urteil, denn sie ist nicht interesselos: ihre Darstellung dient immer auch der Erkenntnis durch Begriffe oder der Bestimmung des Willens durch Zwecke. Der zweite Effekt der Dichtung auf das Gemüt, den die Rhetorik nicht zu erwirken vermag, wird von Kant als "Stärkung" beschrieben: Auch er beruhe auf einer Freiheitserfahrung, hier der Erfahrung der Freiheit, die Natur "zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen" 120 , eine Ansicht, welche sie in der Erfahrung nicht biete. Die dichterische Naturdarstellung - die Explikation des Begriff des "Schemas" macht dies klar 121 - kann indes "gleichsam" als Darstellung des Übersinnlichen fungieren. Die Freiheitserfahrung, sich angesichts der Darstellung sinnlicher Naturgegebenheiten von deren Beurteilung nach Zwecken lösen zu können, stärke das Gemüt. Angesprochen ist damit die neben der Darstellung der Schönheit zweite exklu115 a.a.O. 116 "Was an der Vorstellung eines Objekts bloß subjektiv ist, d.i. ihre Beziehung auf das Subjekt, nicht auf den Gegenstand, ausmacht, ist die ästhetische Beschaffenheit derselben." KU, Einleitung, Abschnitt VII. 117 "... so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmässigkeit, also auf einem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmässigkeit der Vorstellung (...) auf die Beförderung der Erkenntnisvermögen in ihrem freien Spiele beurteilen läßt." KU, Paragraph 35. 118 "Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Also muß der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein." KU, Paragraph 9. 119 KU, Paragraph 53. 120 a.a.O. 121 "Alle Anschauungen die man Begriffen a priori unterlegt, sind also Schemate oder Symbole, wovon die ersteren direkte, die zweiteren indirekte Darstellungen des Begriffs enthalten." KU, Paragraph 59. 30

sive Kompetenz der Dichtung: die Vermittlung des Gefühls des ErhabenenP2 In ihm wird die Natur als ein Schema für Ideen betrachtet. 123 Die dichterisch besungene Natur gerät der Einbildungskraft des poetisch rezipierenden oder schaffenden Gemüts "gleichsam" zum Ausdruck des Übersinnlichen. Der Ausdruck des Erhabenen der Natur kann also auch dichterisch vermittelt werden; dies illustriert Kants Beispiel erhabener Dichtung, die Hochgebirgsschilderungen des Alpinisten und Forschers Horace Bénédicte de Saussure; dieser, so Kant, belehrte die Menschen nicht nur, "... die seelenerhebende Empfindung gab der vortreffliche Mann den Lesern seiner Reisen (...) obenein." 124

Die Dichtung triumphiert demnach über die Rhetorik im Namen ihrer Freiheit; sie ist nicht nur selbst frei, sie verschafft dem menschlichen Gemüt eine doppelte Freiheitserfahrung: Die Freiheitserfahrung des ästhetischen Urteils (Schönheit) und die Erfahrung der Freiheit gegenüber der Natur als Erscheinung (das Erhabene). Schema des Rhetorischen Der dritte Vorzug der Dichtkunst ist ein moralischer und leitet zur Kritik der Beredsamkeit über; im Gegensatz zu dieser beweise die Dichtung die Integrität, ihr Spiel mit dem Schein als ein solches zu deklarieren, was indessen nicht ausschließe, daß dieses Spiel vom "Verstände zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden" könne.125 Kritisiert wird hier die klassisch-rhetorische Dissimulationsstrategie, zum Zweck der Überzeugung die Überzeugungsabsicht und -mittel zu verbergen: "ars est artem celare".126 Auf dieses Lob der Dichtkunst hin wird der Beredsamkeit explizit ihr Platz zugewiesen. Zuerst wird die "Kunst zu überreden", "durch den schönen Schein zu hintergehen" von Kant identifiziert mit dem tradierten Korpus der "ars oratoria" - unterschieden von der "bloßen Wohlredenheit" (Eloquenz und Stil). In der Fußnote zu Paragraph 53 wird diese Differenz schematisch komplettiert: Beredtheit und Wohlredenheit faßt Kant zusammen unter dem Gattungsbegriff "Rhetorik"; diese wird unterschieden von "Beredsamkeit" und "Rednerkunst", beide Arten der "ars oratoria". Rhetorik gehört zur schönen Kunst, während die ars oratoria aus dieser ausgeschlossen wird; einen gemeinsamen Oberbegriff gibt Kant nicht.

122 "Man kann das Erhabene so beschreiben: es ist ein Gegenstand der Natur, dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken." KU, Paragraph 29, Anmerkung. 123 "Die Stimmung des Gemüts zum Gefühl des Erhabenen erfordert eine Empfänglichkeit desselben für Ideen: denn eben in der Unangemessenheit der Natur zu letzteren, mithin nur unter der Voraussetzung derselben, und der Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema für die letztem zu behandeln, besteht das Abschreckende für die Sinnlichkeit." KU, Paragraph 29. 124 ebd. 125 ebd. 126 Quint., 11,2,4. 31

Rhetorik Beredtheit Wohlredenheit Eloquenz, Stil

ars oratoria Rednerkunst Beredsamkeit

Das Schema erinnert vielleicht zuerst vage an die traditionelle Einteilung der Rhetorik in theoretische rhetorica docens (ars rhetorica /"Redekunst") und praktische rhetorica utens (oratoria/eloquentia/"Beredsamkeit") 127 , man erkennt aber rasch, daß Kant daraus zwar gewisse Termini entlehnt, sonst aber damit nichts im Sinn hat. Es fällt vielmehr auf, daß die Differenz der beiden Spezies des Rhetorischen zunächst in der "Kunstfertigkeit" zu bestehen scheint: Die legitimen Formen, das Genus "Rhetorik" mit den beiden Spezies "Beredtheit" und "Wohlredenheit" (letztere zerfällt in mündliche Eloquenz und schriftlichen Stil) welche als Kunst gelten dürfen, werden von Kant unter Berufung auf das angeblich entsprechende ciceronische Ideal des "vir bonus, dicendi peritus" eben gerade nicht als das Resultat einer Kunst, sondern einer ursprünglichen Naturgabe gefaßt: klare Einsicht, Sprachkompetenz, tüchtige Einbildungskraft und gute Gesinnung machen den einzig legitimen Redner: "Wer, bei klarer Einsicht in die Sachen, die Sprache nach deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat und, bei einer fruchtbaren, zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft, lebhaften Anteil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi peritus, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immer treu gewesen zu sein."

Einsicht, Reichtum und Reinheit der Sprache, Einbildungskraft und Moral - dies alles sind klassische Forderungen an den Orator. Bloß werden für Kant dies Eigenschaften nicht durch rhetorische Ausbildung erworben, sondern es sind Naturgaben, welche die Rhetorik als Disziplin überflüssig machen. Die Differenzierung zweier Arten der Kunst der Rede in eine natürliche und legitime sowie eine illegitime, erkünstelte, macht das Kernstück von Kants Ausführungen aus und soll weiter unten genauer betrachtet werden. 129 Vorerst soll die Frage der Berechtigung der Inanspruchnahme der Autorität Ciceros kurz beleuchtet werden. Das (pseudo)ciceronische Rednerideal Der Hinweis auf Cicero in der Fußnote zu Paragraph 53 macht das historische Vorbild namhaft, auf welches Kants Unterscheidung von "Rhetorik" und "ars oratoria" sich berufen will. Es tut dabei vorerst wenig zur Sache, daß Kant ein doppelter Irrtum unterläuft, indem die Formel vom "vir bonus dicendi peritus" auf den alten Cato zurückgeht und auch nicht von Cicero, sondern von Quintilian im Zusammenhang der Charakterisierung des idealen Redners zitiert wird. 130 Die Bemühung, eine ethisch fundierte Rheto127 Vgl. dazu Ludwig Fischer, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968, p. 24. 128 KU, Paragraph 53, Fußnote. 129 Vgl. unten, p. 41ff. 130 Quint., XII,1,1. 32

rik von einer sittlich und moralisch unverantwortlichen zu trennen, geht ihrerseits einmal mehr auf den grundlegenden Text philosophischer Rhetorikkritik, Piatons Dialog "Gorgias", zurück: "... das war also wahr, (.. J daß, wer ein rechter Redner werden wolle, notwendig gerecht und des Rechts kundig sein müsse (...)"

Cicero unterscheidet im Dialog "De oratore" 132 zwei Arten, die Redekunst zu praktizieren, welchen zwei Typen von Rednern entsprechen. Der Sache nach weist Ciceros Unterscheidung mit derjenigen Kants durchaus Berührungspunkte auf, zu beachten ist aber vorerst, daß Ciceros einschlägige terminologische Regelung von Kant auf den Kopf gestellt wird. Die legitime Redekunst, welche auf Einsicht in den zu behandelnden Sachverhalt beruht - da es in der Regel um Rechtsfälle geht, auf Einsicht in die Gerechtigkeit -, tauft Cicero auf den Namen "ars oratoria". Für Kant ist dies, wie obiges Schema 133 zeigt, der Name der perhorreszierten Scheinkunst. Umgekehrt nennt Kant die legitime, zur schönen Kunst gehörige Disziplin "Rhetorik" - für Cicero ist "ars rhetorica" der Name für eitle schulfuchserische Virtuosität in der Beherrschung der technisch-formalen Mittel, die dazu dienen, eine Rede zu schmücken. Diese terminologische Rochade ändert aber nichts an der Tatsache, daß zwei ähnliche Kriterien bei Kant und bei Cicero die Unterscheidung begründen: eine natürliche Intelligenz und eine ebenso naturgegebene Anteilnahme am Guten und Gerechten. Voll Zustimmung zitiert Kant das topische Dik'tum, der Redner müsse "ein Ehrenmann mit Erfahrung im Reden sein": Bloße technische Virtuosität macht keinen guten Redner. Ciceros Unterscheidung ist als Verurteilung der Auffassung von Rhetorik zu verstehen, die dem zeitgenössischen römischen Schulbetrieb zugrunde lag; er sieht darin im wesentlichen die Anleitung, sich mit der bloßen Form einer Rede zu befassen, ohne sich mit der - juristischen oder moralphilosophischen - sachlichen Fundierung der Thematik abzugeben: "rem tene, verba sequentur", lautet eine weitere bekannte Formel, die dieser Praxis entgegengehalten wird. Die Sachhaltigkeit einer Rede ist in bezug auf das Werk Ciceros wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen "ars oratoria" und "rhetorica". In Orientierung am im platonischen Dialog "Phaidros" entwickelten Rednerideal zeichnet er das Idealbild einer "oratorischen Psychagogie", die sich von jeder "rhetorischen Demagogie" dadurch unterscheidet, daß sie sich durch philosophische Reflexion Klarheit über den Gegensatz von Recht und Unrecht verschafft hat und diese Erkenntnisse praktisch anwendet: zur Durchsetzung des Rechts auf dem Wege der Abwehr des Unrechts. 134 Die Einheit von Wort und Sache, soll dabei den Sieg der gerechten Sache garantieren; in der erfolgreich überzeugenden Rede ist es für Cicero letztlich 131 Piaton, Gorg. 508c; zitiert nach: Piaton, Werke in 8 Bänden, Übersetzung Friedrich Schleiermacher, Sonderausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, Band 2, p. 451. 132 Cie., de or., III,19,If. 133 Vgl. das Schema oben. 134 Vgl. Rudolf Schottlaender, Die ethische Überordnung der oratorischen über die rhetorische Redekunst. Zum theoretischen Gehalt von Ciceros "de oratore", in: Jahrbuch Rhetorik, Band 7, Tübingen 1988, p. 4.f. 33

nicht die persuasive Kunst, sondern die Wahrheit der Sache, die Zustimmung erzeugt. Ihr ontologisches Fundament hat diese Auffassung in der von Aristoteles am Anfang seiner "Rhetorik" formulierten Überzeugung, das Wahre und das Gerechte seien von Natur aus stärker als ihr Gegenteil: "... das Wahre und das der Natur nach Bessere sind immer das besser zu Beweisende und (...) das Glaubhaftere". 135 Ciceros Rednerideal wird auch von Quintilian näher erläutert und begründet: " ... cum bene dicere non possit nisi bonus" 136 lautet bei ihm die tautologische Formel, die zum Ausdruck bringt, daß Rhetorik nicht nur technisches Wissen (die scientia der eloquentia), sondern eine Tugend (virtus) ist. Diese bewährt sich "in dicendis ac non dicendis"137, darin, daß der gute Redner weiß, für welche Sache man einzutreten hat und für welche nicht: er weiß, was man sagen darf und was nicht. Notwendige Teilbedingung einer (ästhetisch) guten Rede ist, daß sie die Rede eines (moralisch) Guten ist. Rhetorik darf keine wertindifferente ästhetisch-politische Technologie sein, wie es die Sophisten und Aristoteles wollten, sondern sie muß sich immer auch an ethischen Ansprüchen messen lassen. Quintilian prägt damit eine Tradition eines normativen Rednerideals, das besagt, nur als die ästhetisch kunstgerechte Rede eines moralisch guten Redners, der im Wissen um das Wahre und Gerechte dessen Sache vertritt, könne die Rhetorik ihren Anspruch auf öffentliche Nützlichkeit einlösen. 138 Man sieht, daß Kant die antike Thematik aufnimmt, sie aber in einer Weise radikalisiert, welche die bei den Alten die Unterscheidung begründende Intention unterläuft. Sind bei Cicero und Quintilian der gute Charakter und die Einsicht in das Gerechte in Ergänzung zur technischen Kunst eine notwendige Bedingung für den guten Redner, so werden sie bei Kant zur hinreichenden: Nicht ein "Ehrenmann" als ein von Natur aus guter Charakter mit gesunder Urteilskraft und einer breiten juristischen und einer gründlichen rednerischen Ausbildung wird gefordert. Verlangt wird ein Ehrenmann, dessen natürliche, inartifizielle Eloquenz allein zur Durchsetzung seines Interesses am Guten zureicht; dazu genügt ihm - nebst seinen kognitiven und ethischen Naturgaben -, was die Antike eine grammatische Elementarbildung genannt hätte: "die Sprache nach deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt" zu haben. 139 135 Ar. Rhet. 1355a. Vgl. auch die unmittelbar vorangehende Stelle: "Nützlich aber ist die Theorie der Beredsamkeit, weil von Natur aus das Wahre und das Gerechte stärker sind als ihr Gegenteil (dia de to phusei einai kreitto talethe kai ta dikaia ton enantion), so daß sie notwendig durch sich selbst unterliegen, wenn die Urteile nicht so ausfallen, wie sie sollten". 1355a 24, a.a.O., p. 10. 136 "Diesem Wesen der Rhetorik wird am meisten die Definition gerecht: 'Die Rhetorik sei die Wissenschaft, gut zu reden' (rhetoricen esse bene dicendi scientiam); denn sie umfaßt mit einem Wort alle Vorzüge der Rede und zugleich auch die sittliche Lebensgrundsätze des Redners, denn gut reden kann nur ein guter Mensch (cum bene dicere non possit nisi bonus)." Quint., 11,15,34, a.a.O., p. 240/241. 137 "Wenn das Tugend heißt, bei dem was man tun und nicht tun darf, mit sich selbst in Einklang zu stehen, (...) so wird sie ebenfalls auch bei dem sein, was man sagen darf und was nicht." Quint. 11,20,5, a.a.O., p. 268f. 138 Vgl. dazu auch Josef Kopperschmidt, Gibt es Kriterien politischer Rhetorik? Versuch einer Antwort, in: Diskussion Deutsch. Zeitschrift für Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer aller Schulformen in Ausbildung und Praxis, Heft 115 (Oktober 1990), p. 479-499, bes. p. 490. 139 Nach der klassischen Differenzierung von "bene dicendi scientia" (Rhetorik) und "recte loquendi scientia" (Grammatik). Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., p. 40. 34

Parasitismus und Amoral Kants erste explizite Charakterisierung der Beredsamkeit in der Absicht der Bestimmung ihres ästhetischen Werts im Vergleich mit den anderen Künsten lautet: Sie ist "eine Dialektik".140 Es fällt hier der unbestimmte Artikel auf, "eine" Dialektik, nicht "die" Dialektik. "Die Dialektik" ist für Kant die in der "Kritik der reinen Vernunft" abgehandelte "Dialektik der Alten"141, der dortigen Bestimmung gemäß eine "Logik des Scheins", die Kunst, "vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben." 142 Nun kann für die Beredsamkeit nicht gelten, was für die Dialektik behauptet wird, daß sie ihr unwürdiges Ziel nämlich erreiche, indem sie die "Methode der Gründlichkeit, welche die Logik überhaupt vorschreibt" nachahmt. 143 Es besteht aber eine Parallele: Die Beredsamkeit, als eine andere Art der Dialektik, beutet in entsprechend parasitärer Weise eine andere Kunst aus: die Dichtkunst. Sie nämlich "entlehnt" von dieser gerade soviel "als nötig ist, die Gemüter vor der Beurteilung für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen und dieser die Freiheit zu benehmen." 144 Zwei Momente fallen an diesem Verständnis der Herkunft der persuasiven Kraft der Beredsamkeit auf: Erstens verdankt sie sich Geborgtem, die Beredsamkeit ist in ihrer zentralen Kompetenzdomäne von der Dichtung abkünftig und abhängig. 145 Zweitens instrumentalisiert die Rhetorik diese Leihgabe in einer Absicht, welche der ursprünglichen der Dichtung gerade konträr entgegengesetzt ist. Benutzt letztere ihre Kraft, um den Menschen in Freiheit zu setzen, so hat die Beredsamkeit das entgegengesetzte Ziel: den Gemütern ihre Freiheit zu rauben. Ihr Endzweck liegt nicht im Rezipienten, dem ästhetischer Selbstgenuß in der Erfahrung seiner Freiheit verschafft werden soll; er liegt auch nicht in einer Sache, die in wissenschaftlich-distanzierter Interesselosigkeit entwickelt und dargelegt werden will: der Zweck liegt in der Person des Redners und seinem privaten Interesse, "zu dessen Vorteil" 146 die Zuhörer gewonnen werden sollen. 147

140 141 142 143 144 145

KU, Paragraph 53. vgl. oben, p. 19f. KrV, Β 86. a.a.O. KU, Paragraph 53. Diese Einschätzung des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses von Dichtkunst und Rhetorik steht im diametralen Gegensatz zur Auffassung etwa des Barock über dies Frage. Im Rahmen des gelehrten Dichtungsideals wurde die gründliche Kenntnis der rhetorischen Figuren und Tropen als das Fundament der ganzen redenden Künste betrachtet (vgl. dazu Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 236). Für die antike Rhetoriktheorie war die Dichtung als "Magd der Rhetorik" vor allem als Fundus von Exempeln, Anekdoten, Sentenzen und originellen Formulierungen interessant, vgl. Quint., 1,8,1 ff. 146 KU, Paragraph 53. 147 Beinahe wörtlich übernommen hat Goethe Kants Einschätzung der Rhetorik als einer parasitären Kunst, welche sich der Mittel der Dichtkunst zu zweifelhaften Zwecken bedient: "Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um gewisse Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen." Johann Wolfgang von Goethe, Für junge Dichter. Wohlgemeinte Erwiderung, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 12, Hamburg 41960, p. 359. Vgl. auch Helmut Schanze, Goethes Rhetorik, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991, p. 139f. 35

Es erstaunt nach diesen Ausführungen nicht, daß die Beredsamkeit "weder für die Gerichtsschranken noch für die Kanzeln angeraten" werden kann, wo der Zweck der Sache nämlich entweder "die bürgerlichen Gesetze oder das Recht einzelner Personen" oder aber "die Bestimmung der Menschen zur Kenntnis und Beobachtung ihrer Pflicht" ist. 148 Für das Rhetorikverbot in Gerichtssaal und Kirche gibt Kant drei Begründungen: Die erste basiert auf der "Würde" solcher Geschäfte; diese verbiete eine absichtslose, künstlerische Behandlung, "Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft." 149 Kunst hat, wie schon in der Definition der Rhetorik zum Ausdruck kam 150 , in diesen Sphären nichts zu suchen. Warum aber erst recht nicht Rednerkunst, die doch zu anderen Zeiten gerühmt und bewundert wurde für eben ihre Fähigkeit, die Menschen im Sinne einer bestimmten Meinung, eines Gesetzes, einer Regel, einer bestimmten Moral zu beeinflussen? Kants Ausführungen zeigen, daß das Spielerische und Künstlerische nicht der wahre Grund ist, weshalb er die Rednerkunst aus Kirche und Gerichtsaal verbannt sehen möchte; der eigentliche Vorwurf ist ein vernünftig-moralischer: Rednerkunst sei nämlich selbst dann verboten, wenn sich ihre Ziele mit dem objektiv Rechtmäßigen decken sollten. Die Frage, ob Rhetorik moralisch gut sein könne, wenn sie auch zum Schlechten bestimmen kann, beschäftigt die philosophische Rhetorikkritik seit dem platonischen Dialog "Gorgias". Der Sophist und Redner Gorgias vergleicht dort den Rhetoriklehrer mit einem Boxtrainer, der nicht zur Verantwortung gezogen werden könne, wenn seine Schüler ihre durch ihn vermittelte Kampftüchtigkeit im Rahmen außersportlicher Aktivitäten zu nutzen wüßten. Gorgias besteht auf der moralischen Indifferenz der Rhetorik als einem bloßen Mittel, das zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden könne, über deren Légitimât zu entscheiden, der Rhetor weder berufen noch verpflichtet sei. 151 Aus der platonischen Kritik dieser Position entwickeln sich zwei Modelle rhetorischer Apologie: Das historisch wenig erfolgreiche Modell der Sophisten und des Aristoteles beharrt auf der technologischen Neutralität der Rhetorik; die wirkungsgeschichtlich einflußreichere Lösung formulieren Cicero und Quintilian: die Legitimität der Rhetorik als einer Kunst muß durch die ausgewiesene Moralität des Anwenders oder Lehrers dieser Kunst garantiert werden. Kant beantwortet die alte Frage, wie die Rhetorik, insofern sie zum Guten wie zum Schlechten überreden kann, moralisch zu bewerten sei, auf rigoroseste Weise. Die Legitimität der Rhetorik als eines Mittels mißt sich nicht an der Legitimität des Zwecks: Die Rhetorik ist selbst dann illegitim, wenn sie Handlungen oder Gesinnungen der Menschen zum objektiv Guten bestimmen sollte. Das Argument zur Begründung dieser totalen Ablehnung der Rhetorik als eines Mittels, überhaupt irgendeinen Gesinnungswandel zu veranlassen, rekurriert auf die Prinzipien vernünftiger Moral und erinnert in seiner Struktur an Kants Bestimmung der pflichtgemäßen Handlung in der 148 149 150 151 36

KU, Paragraph 53. ebd. vgl. oben, p. 22. Piaton, Gorg., 456a ff.

"Grundlegung der Metaphysik der Sitten".152 Wohl gesteht Kant zu, daß die Beredsamkeit durchaus zu "rechtmäßigen und lobenswürdigen"153 Zwecken eingesetzt werden könne. Aber als Überzeugungsmittel bleibe sie dennoch immer verwerflich, weil "... auf diese Art die Maximen und Gesinnungen subjektiv verderbt werden, wenngleich die Tat objektiv gesetzmäßig ist; indem es nicht gemu: ist, das, was Recht ist zu tun, sondern es auch aus dem Grund allein, weil es Recht ist, auszuüben.

Die durch Überredung 155 erreichte Übereinstimmung der subjektiven Maximen und Gesinnungen mit dem objektiven Gesetz hat demnach keinerlei moralischen Wert. Im Gegenteil, sie ist "verwerflich", selbst wenn die aus den Maximen folgende Tat objektiv gesetzmäßig ist, weil nämlich die Übereinstimmung von Handlung und Sittengesetz nicht durch vernünftige Einsicht in das Recht, sondern durch Überredung zustande gekommen ist. Also - frei nach Schiller - auch aus Gründen der Überredung dem Freunde zu dienen, verdient Selbsttadel. Die Argumentation entspricht derjenigen, mit welcher Kant in der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" die Pflichterfüllung aus Neigung disqualifiziert. Aus der Opposition "Handeln aus Vernunfteinsicht in die Pflicht" versus "Handeln aus Neigung" wird die Opposition "Handeln aus Vernunfteinsicht" versus "Handeln aus Überredung". Überflüssigkeit der Rhetorik Auf dieses moraltheoretische Argument zur Verdammung der Beredsamkeit folgt ein wesentlich anders geartetes. Die Differenz von (natürlicher) Wohlredenheit und (künstlicher) Beredsamkeit wird darin entfaltet, und letztere wird dadurch für schlichtweg überflüssig erklärt: "Auch hat der bloße deutliche Begriff dieser Arten von menschlicher Angelegenheit, mit einer lebhaften Darstellung in Beispielen verbunden und ohne Verstoß wider die Regeln des Wohllauts der Sprache oder der Wohlanständigkeit des Ausdrucks für Ideen der Vernunft (welches zusammen die Wohlredenheit ausmacht) schon an sich hinreichenden Einfluß auf menschliche Gemüter, als daß es notwendig wäre, noch die Maschinen der Überredung hierbei anzulegen, welche, da sie ebensowohl auch zur Beschönigung oder Verdeckung des Lasters und Irrtums gebraucht werden können, den geheimen Verdacht wegen einer künstlichen Überlistung nicht ganz vertilgen können."

Hier wird die oben schon angetönte Differenz von Rhetorik (Beredtheit und Wohlredenheit) und ars oratoria (Beredsamkeit und Rednerkunst) zum ersten Mal inhaltlich entwikkelt. Konstitutiv für die Wohlredenheit sind - als positives Moment - "der deutliche Begriff, mit einer lebhaften Darstellung in Beispielen verbunden" und - als negatives Moment - das Fehlen von Verstößen gegen zwei Sätze von Regeln: die

152 153 154 155 156

Werke, Band 6, p. 22f. KU, Paragraph 53. a.a.O. Vorausgesetzt wird von Kant hier die Differenz von Überredung und Überzeugung, vgl. unten, p. 47ff. KU, Paragraph 53. 37

"Regeln des Wohllauts der Sprache" und die Regeln der "Wohlanständigkeit des Ausdrucks für Ideen der Vernunft". Im ersten Punkt knüpft Kant an eine cartesianische Tradition an. Wie schon erwähnt ist der wissenschaftstheoretische Status der Rhetorik als Anweisungslehre seit jeher prekär. Die Antike formulierte die diesbezügliche Kritik im Zusammenhang des Gegensatzes von Naturgabe und technischer Ausbildung. Die Neuzeit variiert das Motiv rationalistisch. Descartes hatte im "Discours de la méthode" den Nutzen der Rhetorik bestritten und behauptet, wer klar denken könne, überzeuge mit seinen Ideen selbst dann, wenn er sie in "niederbretonisch" vortrage. 157 - "Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor", lautet der Gedanke in Goethes bekannter Fassung. 158 Kant teilt mit Descartes und Goethe den Glauben an die dieser Auffassung zugrundeliegende Prämisse, es bestehe für jeden Sprecher oder Autor jederzeit die Möglichkeit der Wahl zwischen einem Ausdruck, der den "clare" und "distincte" gedachten Begriff reinvernünftig, nackt und arhetorisch geben kann - "niederbretonisch" ist Descartes' Inbegriff für diese unverbildete, ungekünstelte und natürliche Sprache - und einem. Ausdruck, welcher geeignet ist, das Gedachte wahlweise rhetorisch zu verhüllen oder aufzutakeln. 159 Kant gesteht dabei immerhin zu, daß der "nackte" Begriff im Anschluß an seine unverhüllte Präsentation durch Beispiele 160 veranschaulicht und proliferiert werden dürfe. 161 Zu den zwei negativen Bestimmungen der Wohlredenheit: Die erste lautet, sie verstoße nicht gegen den Wohllaut. Man merkt, was hier gemeint ist, wenn man die Forderung ihrem konträren Gegensatz gegenüberstellt: Die Formulierung insinuiert, in der gängigen Beredsamkeit werde nicht nur nicht gegen den Wohllaut verstoßen, sondern es werde um des Wohllauts willen formuliert und der sachliche Gehalt des Ausdrucks 157 "Ceux qui ont le raisonnement le plus fort et qui digèrent le mieux leurs pensées, afín de les rendre clairs et intelligibes peuvent toujours le mieux persuader ce qu'ils proposent, encore qu'ils ne parlassent que bas breton et qu'ils n'eussent jamais appris de rhétorique." René Descartes, Discours de la méthode, Hamburg 1969, p. 12. 158 Faust. Der Tragödie erster Teil, 550f. 159 Die erste radikale Kritik an dieser Auffassung übt Nietzsche, vgl. dazu Paul de Man, Rhetorik der Tropen, in: ders., Allegorien des Lesens, Franfurt a.M. 1988, p. 118f. Zu heutigen Formen der Kritik der philosophischen Tradition des Postulats der Möglichkeit eines absolut arhetorischen Ausdrucks vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Hinsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Piaton und in der Phänomenologie, a.a.O., sowie Jacques Derrida, La mythologie blanche, in: ders., Marges de la philosophie, Paris 1972, p. 247ff. 160 Kant fordert also, was moderne Logiker einen "illustrativen" im Gegensatz zu einem "begründenden" Gebrauch der Beispiele nennen, vgl. dazu Jürgen Walther, Philosophisches Argumentieren, Freiburg/ München 1990, p. 152ff. 161 Die Funktionszuweisung als pädagogisches Hilfsmittel im Dienst der Wissenschaft ist ein Topos der rationalistischen Philosophie: "Deshalb ist immer wieder von neuem behauptet worden, daß den rhetorischen Mitteln vor allem eine pädagogische Bedeutung zukommt und daß sie im Horizont des wissenschaftlichen Lebens höchstens dazu dienen, die strenge und Trockenheit der rationalen Überlegung zu "versüßen" und sie leichter faßlich zu machen; solcherart wäre die wissenschaftliche Realität angeblich wirksamer und eher zu einer weiteren Verbreitung geeignet. Bilder, Metaphern würden das Verständnis der rationalen Wahrheit erleichtern." Ernesto Grassi, G.B. Vico und das Problem des Beginns des modernen Denkens, Zeitschrift für Philosophische Forschung 22/4 (1968) p. 491. 38

werde seinen euphonischen Qualitäten geopfert. Dies bedeutet einen doppelten Vorwurf: nebst der Missachtung der Sache der Vernunft (der "deutliche Begriff) wird deren Grund benannt. Er liegt darin, daß das ästhetisch minderwertige "Angenehme" von der Beredsamkeit zu einem Endzweck gemacht wird. Die zweite negative Charakterisierung der Wohlredenheit besagt, sie verstoße nicht gegen die "Regeln der Wohlanständigkeit des Ausdrucks für Ideen der Vernunft". Kant variiert hier in rhetorikkritischer Absicht die grundlegende Kategorie der antiken rhetorischen Wirkungsästhetik. Die geforderte "Wohlanständigkeit des Ausdrucks" wird darin im Begriff des "aptum" (to prepon) zum Ausdruck gebracht. Für die klassische Theorie der Rhetorik handelt es sich beim äusseren aptum um die Übereinstimmung der "utilitas causae" und der "opinio" des Publikums, die Anpassung der Rede an die sozialen Umstände, unter denen sie gehalten wird. 162 Problematisch kann das äussere aptum deshalb werden, weil die Erfüllung der ciceronischen Forderung, der Redner müsse seinen Ausdruck an "tempus, locus, personae, auditores" anzupassen wissen, umso schwieriger wird, je mehr sich die rhetorische Theorie von der forensisch-politischen Praxis zu isolieren beginnt. Eine solche Entwicklung zeichnet sich bereits in der Spätantike ab, und sie ist charakteristisch für die Situation im (aufgeklärtabsolutistischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts, wo kein öffentliches "genus deliberativum" möglich oder gar vonnöten ist. Das Fehlen forensischer und politischer rhetorischer Praxis förderte in der Rhetoriktheorie die Ausdifferenzierung eines hochartifiziellen, epideiktischen, "rhetorischen" Stils, der sich, vor die Bedürfnisse und die sprachliche Norm der vita communis gebracht, selbstredend einer Verletzung des aptum schuldig machen mußte. 163 Einem solchen Redner, der sich eines in Angelegenheiten der Vernunft erst recht inadäquaten, gekünstelten Stils befleissigt, scheint Kant hier die natürliche Wohlredenheit entgegenzusetzen. Man sieht, daß die Bestimmung der geforderten Wohlredenheit das traditionell sozial definierte Kriterium des "aptum" in einer rationalistischen Wendung beibehält: Über das "Wohl-anstehen" entscheidet nicht die "opinio" des Publikums, sondern die Autorität der Vernunft. Für das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik bedeutet dies natürlich: zum Zwecke des Ausdrucks der Ideen der Vernunft ist herkömmliche Beredsamkeit, die sich nicht an der Wahrheit, sondern am Publikum orientiert, nie passend, sondern jederzeit verfehlt; dahinter steht wieder die Vorstellung eines reinen, arhetorischen Vernunftausdrucks. Kants Rhetorikkritik holt für die deutsche Philosophie Bacons Forderung nach einem wissenschaftlichen "piain style" nach. Die somit provisorisch per negationem umrissene naturgegebene "Wohlredenheit" soll nunmehr die "Beredsamkeit" durch ihre hinlängliche Wirkung auf das menschliche Gemüt überflüssig machen. Sie reiche aus, um die Gemüter der Menschen zu beeinflus-

162 Vgl. dazu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., p. 464. 163 Zur häufigen Blindheit sozial und politisch isolierter deutscher Rhetoriktheoretiker bereits des Humanismus und des Barock, aber auch der frühen Aufklärung, für die Notwendigkeit der Berücksichtigung des äusseren aptum vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 154f. 39

sen, ohne daß die "Maschinen der Überredung" noch anzulegen wären. 164 Diese Metapher rückt die Rhetorik nicht nur in die Nähe von Daumenschrauben und ähnlicher Mittel der Geständniserzwingung, die - wie sie - ebenfalls dazu benutzt werden, den Willen von Menschen zu beeinflussen. Noch in einer zweiten Hinsicht stellt die Metapher der Maschine ("machina", "mechane") die Rhetorik in einen Kontext, der sie disqualifiziert. Sie fällt dadurch aus dem Bereich der schönen Kunst in denjenigen der niederen, nicht ästhetischer Schönheit fähigen "bloßen Kunst des Fleisses und der Erlernung"165, in die Nähe der mechanischen Künste, der billigen Tricks und Machinationen des Theaters. 166 Die Beredsamkeit ist also durch Wohlredenheit überflüssig gemacht, kommt hinzu, daß sie immer mit einem "geheimen Verdacht" belastet bleibt: dem der "künstlichen Überlistung", der sich nährt aus der bereits angesprochenen moralischen Indifferenz der Rhetorik als Technik: dieselben Mittel, die ehrbaren Zwecken dienen können, werden ebensogut "zur Beschönigung oder Verdeckung des Lasters und des Irrtums" in Anspruch genommen. 167 Anschließend spielt Kant die Beredsamkeit ein letztes Mal gegen die Dichtkunst aus: ist diese ehrlich und erklärt ihr Spiel als solches, so versucht die Beredsamkeit "den Verstand durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken".168 Der Vorwurf liegt also wiederum im in der Definition der Beredsamkeit angesprochenen Punkt, daß die Beredsamkeit sich als getarnte Kunst an den Verstand wendet, wo sie als manifeste Kunst eben nichts zu suchen hätte. Neben den Vorwürfen der gewaltsamen Manipulation vernünftiger Subjekte ("Maschine") und des Betrugs ("Überlistung") treten hier zwei weitere traditionsreiche Motive der Rhetorikkritik hervor: Die erotischen Konnotationen machen deutlich, daß die Beredsamkeit sich in der Gestalt der Kirke zeigen kann, welche den keuschen und redlichen Verstand durch sinnliche Reize auf unheilvolle Weise zu "verstricken" droht. 169 Die Sache hat durchaus einen historischen Hintergrund: Die "Peitho" ist bei Hesiod und in der griechischen Lyrik die Göttin der erotischen Überredung und Verführung, "die Wendung zur Bedeutung einer stärker rhetorischen Überredung findet bereits im attischen Drama statt".170 Der direkte Zusammenhang von Rhetorik und Erotik dürfte Kant vertraut gewesen 164 Der Vergleich der Rhetorik mit einer Maschine taucht bereits auf in Vicos Antwort auf die Einwände seiner rhetorikkritischen Zeitgenossen, welche ihm entgegenhalten, der Geist solle besser durch Vernunftgründe als durch rhetorische Feuerwerke beeinflußt werden. Vicos Antwort lautet: "mens quidem tenuis istis veri retibus capitur, sed animus non nisi his corpulentioribus machinis contorquetur et expugnatur." Giambattista Vico, De nostri temporis studiorum ratione, Darmstadt 1984, p. 66. 165 KU, Paragraph 47. 166 Das Stichwort der "mechane" hat einmal mehr Piaton geliefert: die Rhetorik brauche von der Sache selbst, über die sie rede, nichts zu wissen, zu ihrem Zweck genügten gewisse Tricks der Überredung (mechane tina peithous). Piaton, Gorg., 459b f. 167 KU, Paragraph 53. 168 a.a.O. 169 Zum Thema "Rhetorik und Erotik" vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, a.a.O., p. 152 ff., sowie Peter L. Österreich, Fundamentalrhetorik, a.a.O., p. 49. 170 Walter Pötscher, Artikel "Peitho", in: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike in 5 Bänden, München 1979, Bd.4, p. 591. 40

sein; er selbst bringt zwar die "Schönheiten der Schreibart und die feinen Bezauberungen der Liebe" nur einmal in beiläufiger Weise in Verbindung 171 , das Thema aber war der Zeit geläufig, Spekulationen darüber finden sich etwa bei Kants Zeitgenossen und Freund Moses Mendelssohn.172 Das zweite Motiv antiker Rhetoriktheorie, das an dieser Stelle anklingt, ist die Analogie zwischen Zauberer und Rhetor. 173 Der Zusammenhang von Sprache und Magie taucht im Umkreis der Sophistik auf, und zwar in positivem Sinne, als der Selbstanspruch der Sophisten, Sprach- und Überzeugungsmagier zu sein. Im Rahmen einer philosophischen Kritik der Rhetorik kann dieses Eigenlob natürlich zum Vorwurf werden: Piaton nutzt das Etikett der Zauberei gern zur Diskreditierung der sophistischen Methode. 174 Auch bei Kant dient die Anspielung wohl der Unterminierung des rhetorischen Anspruchs technischer Rationalität: das "Überschleichen" durch das Irrationale verweist auf den Mangel vernünftiger Begründbarkeit rhetorischer Psychagogie.

1.2.2 Die Differenz von Wohlredenheit und Beredsamkeit Der

Grund

der

Notwendigkeit

von

Kants sorgsamer

Differenzierung

zwischen

Beredsamkeit und Wohlredenheit liegt auf der Hand: "das Rhetorische" 175 muß nach seiner Ächtung qua "Beredsamkeit" irgendwie erklärt werden, und zwar als ästhetisches, pädagogisches und als politisch-öffentliches Phänomen. Als ein Faktum, dessen Existenz vernünftigerweise nicht schlichtweg geleugnet werden kann, wird es im Namen des Postulats einer idealtypischen Rednernorm zweigeteilt, Kant bedient sich mithin eines klassischen Verfahrens der philosophischen Rhetorikkritik.176 Die Verdammung der existierenden schulrhetorischen Beredsamkeit fordert das Komplement einer schönheits- und wahrheitsfähigen Redekunst; die Verdammung der Parlaments-, Kanzel- und Advokatenrhetorik verlangt eine vernunftgeleitete Rhetorik, wenn auch nicht für die Plädoyers vor dem Gerichtshof der Vernunft, so doch für das öffentliche aufklärerische Räsonnement.177 Im folgenden soll, im Anschluß an die Darstellung des historischen Hintergrunds der Differenzierung von Beredsamkeit und Wohlredenheit in der deutschen rhetorischen 171 In der frühen Abhandlung "Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", Werke, Band 2, p. 846. 172 "Die göttliche Beredsamkeit verwandelt alle Triebfedern in durchdringende Pfeile und taucht sie in den bezaubernden Nektar, den die Göttin Suada, wenn ich mich so poetisch ausdrücken darf, von ihrer Mutter, der Venus, empfangen." Moses Mendelssohn, Schriften, Band 2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1974, p. 139. 173 Vgl. Jacqueline de Romilly, Magic and Rhetoric in Ancient Greece, Cambridge/Mass. 1975; Carlo Viano, Retorica, magia e natura in Platone, Rivista di filosofia 56 (1965), p. 411ff. 174 Euthyd. 288b; Soph. 235a; Symp. 203d. 175 Kant gibt, wie erwähnt, keinen gemeinsamen Oberbegriff von Beredsamkeit und Wohlredenheit; ich werde in der Folge den Ausdruck "das Rhetorische" verwenden. 176 Eine philosophisch fundierte Rhetorik postuliert Piaton in den beiden Dialogen "Gorgias" und "Phaidros". Die Forderung wird bei den römischen Autoren in abgeschwächter Form in die Rhetorikpädagogik selbst integriert (vgl. oben, "Das (pseudo)ciceronische Rednerideal", p. 41ff.). 177 Vgl. unten, p. 61f. 41

Tradition, noch einmal zusammengefaßt werden, welche der transzendentalphilosophischen Ästhetik der "Kritik der Urteilskraft" immanenten Gründe diese Differenz erzwingen und konstituieren. Dann soll kurz deren argumentationslogischer Hintergrund beleuchtet werden. Es handelt sich um eine bis heute nicht zu Ende gekommene Diskussion um zwei - kantisch ausgedrückt - "Weisen des Fürwahrhaltens": Überredung und Überzeugung. Historischer Kontext: Ablehnung einer "philosophischen Oratorie" Die Unterscheidung von Wohlredenheit und Beredsamkeit ist, was vorerst die Terminologie anbetrifft, keine Eigenleistung Kants, sondern in der Rhetorik und Poetologie der Zeit vorgeprägt. Kants Neuinterpretation dieser Terminologie bringt seine Ablehnung der von Hallbauer, Fabricius, Gottfried Polycarp Müller, Gottsched und anderen seit der frühen Aufklärung vorgetragenen Versuche der Etablierung einer philosophisch fundierten Rhetorik zum Ausdruck. 178 Nach Auskunft des "Deutschen Wörterbuches" von Jacob und Wilhelm Grimm 179 wird der Ausdruck "Wohlredenheit" bis zum Ende des 17. Jahrhunderts synonym mit "Beredsamkeit", im Sinne von "sprachliche Überzeugungskraft", verwendet; ein "vortrefflicher Redner sive Wohlredner" ist demnach ein "homo incredibili eloquentia".180 Vom Humanismus bis zum Spätbarock ist diese Gleichsetzung fundiert in einem terminologischen Schema, welches das Begriffsfeld des Rhetorischen folgendermaßen einteilt: Der Gattungsbegriff "Wohlredenheit" umfaßt die zwei Disziplinen "Rhetorik" (Beredsamkeit) und "Poesie" (Dichtkunst). Die Differenz der beiden ist eine bloß formale, die metrische Gebundenheit resp. Ungebundenheit. Dieses Schema entspricht der für die Barockzeit so typischen Praxis einer rhetorischen Dichtung und einer rein epideiktischen Gelegenheitsrhetorik, welche keine praktischen Zwecke verfolgt. Anfang des 18. Jahrhunderts wird dieses Schema durch das Aufkommen der von Christian Weise und seinen Schülern lancierten "politischen Oratorie" gesprengt. In diesem Zusammenhang wird in der Folge zwischen "Wohlredenheit" und "Beredsamkeit" unterschieden. Der Hintergrund der Differenz soll kurz am Beispiel Gottscheds skizziert werden. Voraussetzung für sie ist, daß das Schema, welches Beredsamkeit und Dichtkunst als Unterarten der Wohlredenheit versteht, aufgehoben wird: "Die Beredsamkeit und Dichtkunst sind längst einigen Gelehrten so nahe verwandt vorgekommen, daß sie die letztere nur eine gebundene Wohlredenheit, die erste aber eine ungebundene Dichtkunst genen-

178 Vgl. dazu Gunter E. Grimm, Von der 'politischen Oratorie' zur 'philosophischen Redekunst'. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung, a.a.O., p. 65ff., sowie Rainer Klassen, Logik und Rhetorik der frühen deutschen Aufklärung, Diss. München 1974. 179 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, bearbeitet von Ludwig Sütterlin, Vierzehnter Band, II. Abteilung, Leipzig 1960, p. 1174f. 180 Stieler, 1691, a.a.O., p. 1175. 42

net. Aristoteles (...) hat beide dem Wesen nach unterschieden, und dem Dichter die Nachahmung, dem Redner aber die Überredung zum Eigenthume und Zweck angewiesen."^

Durch die unter Rekurs auf Aristoteles reaktualisierte Bestimmung der Beredsamkeit durch ihre persuasive Funktion ergibt sich bei Gottsched folgendes Stemma der redenden Künste: redende Künste

Wohlredenheit

Beredsamkeit wahre B. falsche B.

Der Unterschied zwischen Beredsamkeit und Wohlredenheit besteht in der Persuasionsgebundenheit der ersteren. Genau wie Kant, der, wie man sieht, dieses Schema, was die äußere Einteilung anbetrifft, übernommen hat, ist auch für Gottsched die Wohlredenheit im wesentlichen bloße Eloquenz, Stil des Prosaausdrucks. "Die Wohlredenheit drückt nichts weiter aus, als eine Fertigkeit wohl, das ist zierlich und anmuthig zu reden oder zu schreiben. Sie besteht also fast gänzlich in einer guten Schreibart, oder in vernünftigen und wohl ausgedrückten Gedanken. Die Beredsamkeit (...) [ist] eine Geschicklichkeit, seine Zuhörer von allem, was man will, zu überreden und zu allem, was man will, zu bewegen. Das ganze Hauptwerk der Beredsamkeit ist der Zweck derselben; nämlich die Überredung. Auf diese muß die ganze Bemühung des Redners abzielen. Sie schließt die Bewegung der Gemüther mit in sich, weil diese oft ein nothwendiges Mittel ist, jene zu erlangen."

Gottsched sieht sich, da er die Traditionslast der philosophischen Rhetorikächtung nicht einfach abschütteln kann, gezwungen, zwischen einer wahren und einer falschen Beredsamkeit zu unterscheiden. Genau in diesem Punkt widerspricht Kant, indem er von der von Gottsched postulierten Existenz einer wahren, philosophisch fundierten Beredsamkeit nichts wissen will und die Funktion einer solchen der inartifiziellen Wohlredenheit des idealen Redners überträgt. Die Unterscheidung einer wahren und einer falschen Beredsamkeit ruht bei Gottsched auf einem doppelten Kriterium der Mittel und der Absichten. Bezüglich ihrer Mittel ist die wahre Beredsamkeit

181 Johann Christoph Gottsched, Das neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Band 7 (1757), p. 514, zitiert nach: Gunter E. Grimm, Von der 'politischen Oratorie' zur 'philosophischen Redekunst', a.a.O., p. 66 (Hervorhebung von mir). 182 Johann Christoph Gottsched, "Ausführliche Redekunst, nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neueren Ausländer, in zweenen Teilen verfaßt; und itzo mit den Exempla der größten deutschen Redner erläutert", Leipzig, 41750, p. 76f, zitiert nach: Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 327. 43

"... wohl gegründet und aus guten Quellen hergeleitet, wie sie die Vernunftlehre fordert."

Mit dieser philosophischen Fundierung der Beredsamkeit geht auch eine Betonung der Wichtigkeit des Beweises einher, der von Gottsched als das "Hauptwerk" der Beredsamkeit betrachtet wird: "Alles übrige, was man in einer Rede sagen kann, gehört entweder zu den Zierrathen und Nebendingen, oder es ist eine Vorbereitung zum Beweise oder auch eine Folgerung aus demselben."^

Die zweite Unterscheidung von wahrer und falscher Beredsamkeit richtet sich nach deren jeweiligen Absichten. Während die falsche Beredsamkeit von Gottsched als "Unwissenheit, Unverschämtheit und prahlerische Windmacherei (...) zur Verdunkelung der Wahrheit und Ausbreitung der Unwahrheit" verdammt wird, so hat die wahre Beredsamkeit "... bloß allein die Wahrheit und ihre Ausbreitung und Fortpflanzung zum Zwecke (...)"

1RS

Daß Gottscheds Modell der Differenzierung von bloß unterhaltender und gefälliger, nicht praxisorientierter Wohlredenheit und persuasiver Beredsamkeit bis Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitet ist, zeigt z.B. dessen Übernahme in Johann Georg Sulzers einflußreicher "Allgemeiner Theorie der schönen Künste". Auch für Sulzer will die Wohlredenheit "bloß gefallen oder ergötzen", die Beredsamkeit hingegen "unterrichten, überzeugen oder (...) rühren." 186 Hier zeigt sich, daß die ästhetischen Theoretiker die beiden Teildisziplinen im Vergleich mit Kant gerade umgekehrt bewerten: die Beredsamkeit hat dank ihres philosophischen Charakters die höhere Würde; sie geht "tief in die Betrachtung der Dinge", die Wohlredenheit hält sich ans Äusserliche und erfordert nicht viel Verstand: "Ohne durchdringenden Verstand kann man nicht beredt seyn; aber die bloße Wohlredenheit besitzen auch Menschen, die selten die wahre innere Beschaffenheit der Dinge einsehen."

Die Differenz zwischen Beredsamkeit und Wohlredenheit wird der veränderten Theorie der Rhetorik in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert gerecht. Hatte bereits Quintilian ausdrücklich vor einer Rhetorik gewarnt, welche die technischen Kunstmittel von der forensischen und politischen Praxis abzulösen beginnt und sich in literarischen 183 Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. von P.M. Mitchell, Siebenter Band, erster Teil, Ausführliche Redekunst (nach der fünften Auflage, Leipzig 1759) bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin/New York 1975,1. Hauptstück, Paragraph 7, p. 92. 184 Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Paragraph 11, Reprint der Auflage Leipzig 1736, Hildesheim/New York 1973, p. 106. Es muß angemerkt werden, daß die späteren Auflagen die Wichtigkeit der apodiktischen Demonstrationen, treu nach Aristoteles, zugunsten der wahrscheinlichen Beweisgründe relativieren. 185 Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Berlin/New York 1975, 1. Hauptstück, Paragraph 8, p. 93. 186 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli, Reprint Hildesheim 1970, p. 365. 187 a.a.O. 44

Spielereien ergeht 188 , so ist diese später vielbeklagte Situation zu Gottscheds und Kants Zeiten durch das "politische" und später ins "philosophische" transformierte neue Rhetorikideal des Jahrhunderts - zumindest in der Theorie - überwunden. Gottsched stellt die beiden Arten, die rein formalästhetisch intentionale Wohlredenheit und die politisch-praktisch orientierte, pathisch-persuasive Beredsamkeit einander noch ohne Wertung gegenüber; bei Sulzer ist dann sogar die philosophische Überlegenheit der Beredsamkeit postuliert. Kants Differenzierung paßt sich äusserlich in Gottscheds Schema ein. Bloß: Kant bestreitet die Möglichkeit der Existenz einer "wahren Beredsamkeit", er fordert ihre vollkommene Eliminierung, d.h. die Reduktion der Rhetorik auf den Bereich des naturgegebenen Talents elokutionären Redeschmucks: Was damit bleibt ist, "Wohlredenheit" als natürliches Talent zu gefälliger Prosa. Die Persuasion leisten die Vernunft oder der gesunde Menschenverstand. Dadurch, daß die Kompetenz zur Wohlredenheit jeglicher technischen Kunstfertigkeit entzogen und einzig dem guten Willen und der Minimalbedingung der sprachlichen Korrektheit überantwortet wird, £eht der ganze Bereich des Rhetorischen der Kunstfähigkeit verlustig. - Die Rhetorik wird als Disziplin dementiert. Somit stellt sich Kant mit seiner Bestimmung des wahren Redners ausdrücklich der Gottschedschen Doktrin entgegen, daß der Redner ein gelehrter Mann und kein Ungelehrter ein Redner sei. 189 Für Gottsched begreift zwar die Beredsamkeit die Wohlredenheit in sich, aber nicht umgekehrt. Kants Formulierung des kunstlosen Rednerideals scheint demgegenüber beinahe wörtlich auf Gottscheds Ausschluß des Ungebildeten von der Redekunst Bezug zu nehmen: "Zwar wollen wir auch einigen Unstudierten es gerne einräumen, daß sie in gewissen Dingen, die zu ihrer Lebensart gehören, eine ziemliche Geschicklichkeit und Fertigkeit im Reden besitzen; allein, das ist eine bloße Wohlredenheit; dazu eine natürliche Lebhaftigkeit des Geistes, ein Reichtum in Worten und Gedanken und ein öfter Umgang mit Leuten schon zulanget."1

Gottscheds apersuasiver, nicht praktisch intentionaler "bloßer Wohlredenheit" teilt Kant also die politischen Aufgaben der Rhetorik zu. Kants "ars oratoria" oder "Beredsamkeit" ihrerseits entspricht Gottscheds "falscher Beredsamkeit"; wie man sieht, fällt eine Disziplin bei Kant weg: die vernunftlegitimierte Persuasionstechnik.

188 "Denn wenn die Deklamation nicht für das Forum vorbereitet ist, ist sie wie der Erguß eines Wahnsinnigen. Denn was soll das: einen Richter vorzubereiten, wo gar keiner ist? Etwas zu erzählen, wovon alle wissen, das es gar nicht stimmt? Beweise auf eine Sache zu verwenden, über die niemand reden würde?" Quint., II,10,7f., a.a.O., p. 213. 189 Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Berlin/New York 1975, 2. Hauptstück, Paragraph II, p. 103. 190 a.a.O. 45

Ästhetische Gründe für die Differenzierung Kants Definition macht die "Beredsamkeit", als schulmäßige Disziplin, zu einer Kunst, die im Grunde überhaupt keine mehr ist. Die Definitionen des schönen Kunstwerks zum einen, der Beredsamkeit zum anderen, machen eine neue Antwort auf die alte Frage, "an rhetorice ars sit"191, die vom für die Schulphilosophie der Zeit maßgeblichen Autor, Christian Wolff, grundsätzlich positiv beantwortet worden war 192 , nötig. Als schöne Kunst kann die Rhetorik nur gelten, wenn sie spezifiziert wird. Der Traditionsdruck nötigt Kant, Rhetorik als Teil der schönen Kunst abzuhandeln, die transzendentalästhetische Bestimmung des schönen Kunstwerks schließt jedoch die existierende Redekunst aus dem Bereich der kunstfähigen Praktiken aus. Als doppelt heteronome, nämlich Zwecken verpflichtete Lohnkunst 193 , deren Verfahren dem mechanischen der nicht-ästhetischen Künste verglichen werden kann, erscheint die Beredsamkeit als eine Art Handwerk: In Paragraph 43 der "Kritik der Urteilskraft" weist Kant denn auch darauf hin, daß unter den "sogenannten sieben freien Künsten" manche eher mit den Handwerken zu vergleichen seien. Zwar will die Redekunst nicht - wie die mechanischen Künste - bloß die "erforderlichen Handlungen verrichten, um einen Gegenstand wirklich zu machen", sie ist nicht poietisch, aber in analogem Sinn praktisch, indem sie Handlungen der Zuhörer erwirken will 194 und ganz zuletzt, wie die schöne Kunst, das Gefühl der Lust und Unlust zum einzigen Ziel hat. Die Beredsamkeit ermangelt ob ihrer Unterwerfung unter das Diktat praktischer Regeln nicht nur der Autonomie 195 - wer ein "Geschäft" des Verstandes betreibt 196 , befindet sich eo ipso außerhalb der Domäne des Schönen, welche durch das Kriterium der intentionsfreien Intention zum freien "Spiel" (der Einbildungskraft) begrenzt wird. Bereits durch ihre Funktion verliert die Beredsamkeit die Schönheitsfähigkeit; das Schöne an ihr ist ein bloßer Schein, den sie in der Absicht, durch ihn zu hintergehen, den Menschen die Freiheit zu nehmen und sich ihrer Schwächen zu ihrem persönlichen Vorteil zu bedienen, hervorruft. 197 Es stellt sich natürlich die Frage, warum Kant die Beredsamkeit nicht ganz zu Beginn der Definition der schönheitsfähigen Künste abweist und ausgrenzt und sie stattdessen durch den ganzen Prozeß der Definition und Validierung der schönen Künste mitnimmt, um dabei doch nur immer wieder direkt oder indirekt darauf aufmerksam zu machen, daß im Grunde die Beredsamkeit überhaupt keine schöne Kunst sei und keinerlei ästhetischen Wert habe. Um so mehr als, wie oben angetönt, die Differenzierung von Beredsamkeit und Wohlredenheit das Problem nicht löst, indem die Wohlredenheit das Rhetorische einzig in ethischer Hinsicht retten kann - auch Kants "Wohlredenheit" ist aber keine ästhetische Kunst. Seine scheinbar künstlerischen 191 192 193 194 195 196 197

46

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu Quint., II,20ff. Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., Paragraph 72, p. 33. KU, Paragraph 43. KU, Paragraph 44. KU, Paragraph 46. KU, Paragraph 51. KU, Paragraph 53.

Verdienste verdankt der "Redner ohne Kunst" einzig seiner grammatischen Sprachkompetenz, seinem gesunden Menschenverstand und seiner guten Gesinnung. Erst Hegel wird die systematische Konsequenz aus der im Rahmen einer idealistischen Autonomieästhetik unumgänglichen Ächtung der Rhetorik ziehen und die Rhetorik aus der Kunst ausdrücklich ausschließen. Die Differenz von Überreden und Überzeugen Das theoretische Fundament von Kants Trennung der beiden Arten des Rhetorischen bildet die komplementäre Differenzierung zweier "Weisen des Fürwahrhaltens": Überredung und Überzeugung. Die Beredsamkeit überredet, die Wohlredenheit überzeugt. In der Methodenlehre der "Kritik der reinen Vernunft" 198 unterscheidet Kant zwei Weisen des Fürwahrhaltens, als einer "Begebenheit in unserem Verstände". Ist dieses allgemein gültig ("für jedermann, sofern er nur Vernunft hat"), so verfügt es über einen objektiv hinreichenden Grund und heißt sodann "Überzeugung". Liegt der Grund der Geltung hingegen allein in der "besonderen Beschaffenheit des Subjekts" des Fürwahrhaltens, so heißt dieses "Überredung".199 Überredung ist "ein Schein", weil der subjektive Grund für objektiv gehalten wird. Ein Urteil aus Überredung hat nur Privatgültigkeit, das Fürwahrhalten läßt sich nicht mitteilen: Die Möglichkeit der Mitteilung, die Möglichkeit, die Zustimmung anderer vernünftiger Wesen zu erlangen, ist für Kant denn auch der "Probierstein des Fürwahrhaltens".200 Stimmen diese nämlich alle überein, so muß nach Kant der Grund des Fürwahrhaltens im Objekt liegen und nicht im Subjekt; folglich handelt es sich um Überzeugung. Subjektiv können die beiden Modi nicht unterschieden werden; der Schein der Überredung wird entblößt, indem die subjektiven Gründe des Fürwahrhaltens entwickelt und auf dem Prüfstand der universalen Vernunft untersucht werden. Auf dieser Unterscheidung von Überreden und Überzeugen basiert die Verdammung der ars oratoria. Sie produziert bloß Überredung, subjektives Fürwahrhalten, die natürliche Wohlredenheit soll dagegen Überzeugung vermitteln. Kants Anwendung dieser Unterscheidung als zentrales Kriterium der vernünftigen Rhetorikkritik zeigt, wie gründlich er - im Unterschied etwa zu Hegel - die Intention der antiken Rhetorik verkennt, spricht der Rhetor nach einer klassischen Formulierung Ciceros doch über Dinge, die er nicht weiß, vor Zuhörern, die darüber auch nicht Be-

198 KrV, Β 848f. 199 a.a.O. 200 Die Metapher des "Probiersteins" geht wohl nicht zufälligerweise zurück auf eine rhetorikkritische Diskussion: Sokrates vergleicht seinen Gesprächspartner Kallikles mit einem "von jenen Steinen, an denen sie das Gold prüfen" (tina ton lithon e basanizousin ton chryson). Der Grund ist auch hier die intersubjektive Verifizierung von Meinungen im philosophischen Dialog: "Ich weiß nämlich, daß, was du mir zugibst von meinen Meinungen, dieses dann gewiß die Wahrheit selbst ist." Piaton, Gorg. 486 d/e, Übers. F. Schleiermacher, a.a.O., p. 387. 47

scheid wissen.201 Die Forderung nach philosophischer Fundierung der Redekunst wird in der Antike einzig in bezug auf die ethische Lauterkeit und die Rechtskenntnis des Rhetors erhoben. Nichts liegt ihr dagegen ferner als die Meinung, der Redner müsse sich der wissenschaftlichen Wahrheit der von ihm verfochtenen Meinungen versichert haben. Gerichtsfälle und politische Deliberation stehen wie schon für Aristoteles auch für die römischen Theoretiker außerhalb des Bereichs apodiktischer Wahrheit fähiger Phänomene; wer somit von einem Redner wissenschaftliche Wahrheit fordert, ermangelt der Einsicht des Gebildeten, daß der Grad der Exaktheit einer Untersuchung sich an der behandelten Materie messen muß. 202 Daß Kants Kritik damit vielmehr auf die zeitgenössische, rationalistische als auf die klassische Rhetorik gemünzt ist, macht auch seine Umfunktionierung von deren Terminologie klar: Gottsched unterscheidet, nach dem Vorbild von Aristoteles und in der Terminologie Wolffs, die "Überführung", die für Redner wenig geeignete analytische und apodiktische Demonstration, von der "Überredung", dem dialektisch-rhetorischen Beweis. Die "Überzeugung" hingegen ist für Gottsched, in Übereinstimmung mit der Etymologie des Wortes, bloß eine untergeordnete Art des rhetorischen Beweises, nämlich einer der schon von Aristoteles vom eigentlich rhetorischen Beweisverfahren unterschiedenen kunstlosen Beweise: der autoptische Beweis durch das Beibringen von Zeugen. Kant greift hingegen eher auf die ältere Unterscheidung zwischen Überredung und Überzeugung zurück, welche auf dem Unterschied zwischen rhetorischen (an Gefühl und Willen appellierenden) "Bewegungsgründen" und logischen (an die Verstandeseinsicht appellierenden) "Beweisgründen" beruht; diese Unterscheidung findet sich z.B. bei Thomasius. 203 Auch Wolff erklärt, anders als sein Schüler Gottsched, so die Überredung für einen "leeren Wahn", entstanden aus mangelnder Denkübung, Vorurteilen, übermäßigem Selbstvertrauen und Übereilung, und grenzt sie von dem "Überführung" genannten apodiktischen Beweis, dem gültigen Modus der Persuasion, ab. 204 Anmerkung: Universalkonsens als Differenzierungskriterium von "überreden" und "überzeugen" Die Differenzierung von "überreden" und "überzeugen", Kants logischer Grund der Unterscheidung zweier Arten der Persuasion, ist eines der wenigen seiner rhetorischen Theoriestücke, welche die heutige argumentations-, wahrheits- und kommunikationstheoretische Diskussion, wenn auch in gründlich veränderter Form, weiterhin beschäftigen. Das Nachleben des logischen Fundaments von Kants Rhetorikkritik besteht dabei vor allem in modernen Transformationen des darin enthaltenen Wahrheitskriteriums: des Universalkonsensus.

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Cie., De or., 2,30; ganz ähnlich 1,108. Nach Aristoteles' berühmter Formulierung, Eth. Nie., 1094b. Vgl. dazu Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 111. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken, a.a.O., p. 235.

Kant unterscheidet, wie gezeigt, zwischen intersubjektiv gesicherter gültiger Wahrheit und bloßer Privatgültigkeit von Sätzen. Im Fall der Akzeptanz eines gültigen Satzes "hat" ein Subjekt Überzeugung, bei Akzeptanz eines ungültigen befindet es sich im Zustand der Überredung. Um zwischen episteme und doxa, Wissen und Meinung, zu unterschieden - denn darum handelt es sich hier -, wurden in der philosophischen Tradition verschiedene Methoden entwickelt, der sokratische Dialog und die cartesianische Meditation sind zwei der bekanntesten davon. Der sokratische Dialog versucht in kritischem Zwiegespräch das Unwissen zu zwingen, sich zu verraten und so dem Wissen Platz zu machen 205 ; die stille Selbstprüfung der Vernunft in der Meditation setzt voraus, die Vernunft könne nicht sich selber täuschen und vermöge daher in der einsamen geistigen Selbstbefragung das eigene Unwissen zu entdecken. Eine weitere Lösung dieses Problems ist nun die Prüfung des Wahrheitsgehalts einer Behauptung durch den universalen Konsens der vernünftigen Wesen, den Kant vorschlägt. Hier knüpft der Begründer der "Nouvelle rhétorique", Chaim Perelman, an Kant an. 206 Perelman verwirft zwar sowohl Pascals Auffassung vom Korrespondenzverhältnis von Überredung und Überzeugung mit den Vermögen Vernunft und Gefühl als auch Kants Lösung, daß der in intersubjektiver Prüfung objektivierte Wahrheitsgehalt zwischen Wirkung und Gültigkeit separieren könne. Trotzdem behält Perelman Kants Modell in gewissem Sinne bei: Der Unterscheidung von überreden und überzeugen entspricht bei ihm diejenige von "convaincre" - die Rede ist "valable", gültig - und "persuader" - die Rede ist "efficace", wirksam. Auch hier schaltet die Divergenz von Wahrheit und Wirkung das bloße Faktum der Akzeptanz einer These durch ein Publikum als Geltungskriterium aus. Dieses Kriterium ist aber auch bei Perelmann in gewisser Weise die Universalierbarkeit. "Nous vous proposons d'appeler persuasive une argumentation qui ne prétend valoir que pour un auditoire^g^rtîculier et d'appeler convaicante celle qui est censée obtenir l'adhésion de tout être de rai-

Selbstredend soll und kann die faktische Akzeptanz durch die Mitglieder der universalen Öffentlichkeit nicht empirisch nachgewiesen werden. 208 Daher entdeckt Perelman als eigentliches, weil praktikables, Kriterium die Bereitschaft des Redenden, die prätendierte Wahrheit seiner Behauptung den Bedingungen eines Konsensfindungsprozesses zu unterwerfen, welcher im Prinzip universalisierbar ist. Das tatsächliche Vorge205 ... und denunziert deshalb die Rhetorik, weil sich der rhetorische Monolog dem prüfenden Zwiegespräch nicht stellen will und die Zustimmung seiner Hörer als Beweis der Wahrheit seiner Rede anführt - nur die Behauptung, die sich sokratischer Befragung stellt, kann sich, besteht sie im Dialog, legitimieren. Auch der platonische Sokrates führt indessen neben dem dialogisch gewonnenen Konsens das Mit-sich-selbst-Übereinstimmen der Vernunft als allerwichtigstes Kriterium an (vgl. Piaton, Gorg., 461d). 206 Chaim Perelman, Lucie Olbrechts-Tyteca, Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique, Brüssel 1970. 207 a.a.O., p. 36. 208 "L'accord universel n'est donc pas une question de fait, mais de droit." a.a.O., p. 41. 49

hen bei der Konsensbildung offenbart die Intention des Redenden, seine Absicht scheidet die Überredung von der Überzeugung. Die Frage muß lauten, ob er prinzipiell nur die Zustimmung einiger weniger, oder aber diejenige jedes Vernunftwesens anstrebt. 209 Die überredende Rede ist also eine Rede an wenige, sie will es vermeiden, sich dem Prüfstand der universalen Kritik auszusetzen; die überzeugende Rede hat diese Probe dank ihrer lauteren Absichten nicht zu fürchten: Eine Art Tatbeweis durch Nachweis prinzipieller Universalisierbarkeitsprüfungsbereitschaft des Vertreters einer These bildet das Kriterium zur Unterscheidung von Überredung und Überzeugung. Eine weitere moderne Variante der Transformation von Kants Unterscheidungskriterium zwischen objektivem Wahrheitsgehalt und subjektiver Überzeugungskraft, zwischen erfolgreicher und wahrer Rede, ist - im Rahmen einer konsensualen Wahrheitskonzeption - Jürgen Habermas' Forderung der Prüfung von Geltungsansprüchen unter den Bedingungen herrschaftsfreier Kommunikation. Strukturell uneingeschränkte Kommunikationsbedingungen sichern die Wahrheit von redeerzeugtem Konsens: Kriterium ist, ob sich dieser unter ebendiesen Bedingungen bewähren kann. Nicht die Wahrheit verschafft der Rede ihre Gültigkeit, sondern die Wahrheit konstituiert sich im Zug der Bewährung ihrer Gültigkeit in der uneingeschränkten Prüfung im idealtypischen herrschaftsfreien Diskurs. 210

1.2.3 Politische Rhetorik als Sabotage der Aufklärung Kants Verständnis des Philosophen als eines Agenten der Aufklärung ist mit der zentralen Forderung nach einem öffentlichen politischen Räsonnement als der Bedingung der Beförderung der Aufklärung und damit auch der Entwicklung der Menschheit zum Besseren verbunden: "Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heissen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.

Die Forderung nach Publizität als "Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral" 212 sieht die Funktion des öffentlichen politischen Räsonnements der Gebildeten einerseits in der Unterrichtung der Regierenden, welchen die Forderungen des aufklärenden Denkens zur Prüfung vorgelegt werden, andererseits in der Anleitung des gesamten Publikums zum Gebrauch seiner eigenen Vernunft. 213 Angesichts der seit dem frühen 17. Jahrhundert sich erhebenden Klagen der Theoretiker der Rhetorik über die Unmöglichkeit der freien politischen Rede in Deutschland, 209 Chaim Perelman, Das Reich der Rhetorik, München 1980, p. 27. 210 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt 1981, p. 25ff., vgl. auch Josef Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, p. 118f. 211 Beantwortung der Frage; Was ist Aufklärung, Werke, Band 9, p. 55. 212 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M., Neuauflage 1990, p. 178. 213 Werke, Band 9, p. 363. 50

könnte man meinen, die Aufklärung würde auch eine Rehabilitierung des öffentlichen "genus deliberativum" mit sich bringen, den deutschen Rhetorikern damit die seit Jahrhunderten entbehrte Möglichkeit verschaffen, ihre Fähigkeiten in realen Überzeugungssituationen, und sei es auch nur durch schriftliche Vermittlung, zu erproben. Nach Kants Einschätzung der Rhetorik erstaunt es nicht, daß beim größten deutschen Aufklärer dies mitnichten der Fall ist; die Aufklärung ruft nicht nach politischer Rhetorik - im Gegenteil, die Rhetorik wird als Mittel der autoritären Bevormundung verstanden und verboten. Kant verweist in der Fußnote zu Paragraph 53 ausdrücklich auf die politische Verwendung der Rhetorik. Das "unangenehme Gefühl", das ihm sowohl die überlieferten Reden römischer Redner als auch die "Lesung" der Reden zeitgenössischer Kanzel- und Parlamentsredner verursacht hätten, führt er auf die "Mißbilligung " zurück, welche die Rhetorik durch ihre manifeste Hinterlist hervorrufe. Hinterlistig sei sie deshalb, weil sie "... die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteil zu bewegen versteht, welches bei ruhigem Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß." 214

Der Persuasionserfolg der Beredsamkeit wird durch die spezifische Qualität des Urteilsaktes, den sie zu veranlassen versteht, erklärt. Zu dessen Beschreibung verwendet Kant zum zweiten Mal das Bild der Maschine. Nur: jetzt sind es die Hörer einer Rede, welche vom Redner mittels seiner hinterlistigen Kunst "als Maschinen" bewegt werden, das heißt der Freiheit des Selbstdenkens'absichtlich und methodischerweise beraubt. Im aufgeklärten Staat aber sollen die Bürger eben gerade "mehr als Maschinen" sein.215 Der rhetorische öffentliche Gebrauch der Vernunft widerspricht für Kant dem obersten Prinzip der Aufklärung: Selbstdenken. Der Redner ernennt sich zum Vor-mund und maßt sich an, für andere zu sprechen. Rhetorik manipuliert somit das politische Publikum, sie "benimmt den Gemütern die Freiheit" 216 und sabotiert die Aufklärung. Sie ist dadurch prinzipiell als Mittel der Politik illegitim, die Absichten des Redners "mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich so gut sein, als sie wollen." 217 Ein historisches Argument soll die These, daß Rhetorik zum politischen Fortschritt der Menschheit aber auch gar nichts beizutragen habe, stützen. Es handelt sich um eine Dekadenzgeschichte, eine seltsame Umkehrung eines altehrwürdigen rhetoriktheoretischen Topos: Die Rhetorik soll sich nämlich, so Kant, "... sowohl in Athen als auch in Rom zur höchsten Stufe zu einer Zeit" erhoben haben, "da der Staat sei218 nem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war."

- Mit der politischen Dekadenz geht die Blüte der Unkunst Hand in Hand. Kant stellt so das von Tacitus bis Christian Weise, von der Antike, über den Humanismus bis zur 214 KU, Paragraph 53. 215 216 217 218

Werke, Band 9, p. 61. KU, Paragraph 53. a.a.O. KU, Paragraph 53, Fußnote. 51

frühen Aufklärung stets wiederholte Muster der Parallelisierung der Blüte der Rhetorik und der Blüte echt republikanischer Gesinnung 219 auf den Kopf. Es bleibt unklar und verhindert die Beantwortung der Frage nach der historischen Triftigkeit der Einschätzung, was Kant damit überhaupt meint, welche historischen Situationen angesprochen sein sollen. Bewegt er sich im erprobten Schema, das die Blüte der Rhetorik von demokratischer oder republikanischer Staatsform abhängig macht, und identifiziert er somit diese Staatsform mit einer "erloschenen patriotischen Denkungsart"? Oder meint er die Blüte einer hochartifiziellen, apolitischen Rhetorik zu Zeiten Alexanders des Großen und der römischen Kaiser und verwirft er somit die Diktatur, da sie zur Blüte der apolitischen Kunstrhetorik führt? Der Verdacht stellt sich ein, der historische Gehalt sei hier völlig egal, kann sich doch jeder unter der Dekadenz die Staatsform, vorstellen, die er will; stehen bleibt die Aussage, die Rhetorik sei eine politische Sumpfblüte, die an Einfluß gewinnt, wenn sich das Staatswesen im Niedergang befindet. Obschon die Rhetorik von Kant zunächst im Namen individueller Freiheit verworfen wird, paßt sich seine Argumentation, die die Rhetorik verboten haben will, da sie den Urteilen manipulierter Subjekte politische Relevanz verschafft, damit inhaltlich in eine Tradition der Verknüpfung von Rhetorikkritik und Demokratiekritik ein. Ansätze zur Ablehnung der Demokratie als rhetorikdependenter Regierungsform finden sich bereits bei Piaton, wo es heißt, der Pöbel tyrannisiere in Wahrheit seine Demagogen, die sich bloß einbildeten, sie seien es, die ihn tyrannisierten. In Wahrheit seien es aber die beschränkten Ansichten der Menge, denen sich der Rhetor unterwerfe, um dem Volk gefällig zu sein, die sodann vermittels des Einflusses großer Rhetoren die Geschicke des Staates bestimmten. 220 In der Neuzeit hat Thomas Hobbes die einflußreichste Kritik der Demokratie als einer Staatsform, in der mittels der Rhetorik die "herrschenden Meinungen, die größtenteils falsch sind" anstelle der Wahrheit entscheiden, formuliert: "Der Redner versucht auch nicht, seine Rede der Natur der besprochenen Dinge, als vielmehr den Leidenschaften seiner Zuhörer anzupassen. Deshalb werden die Beschlüsse nicht nach der rechten Vernunft (recta ratione), sondern impulsiv (ímpetu animi) gefaßt. Dies ist nicht der Fehler der Menschen, sondern der Beredsamkeit, deren Zweck (...) nicht die Wahrheit (...), sondern der Sieg ist, und deren Aufgabe nicht Belehrung, sondern Überredung ist.

Dem entspricht Kants Argumentation, die Staatsformen verwirft, in denen nicht die Vernunft des Selbstdenkens, sondern kraft rhetorischer Affektenmanipulation durchgesetzte Meinungen regieren. Was aber hat das sich aufklärende Zeitalter an positivem Ersatz für die inkriminierte Rhetorik zu bieten? Welche sprachliche Disziplin kodifiziert die Modi der öffentlichen 219 Eine Fülle historischer Belege zu diesem Topos gibt Walter Jens, Von deutscher Rede, München 1969. Vgl. auch unten, p. 109f. 220 Piaton, Gorg., 466f., 502d f., 513a; Rep 492. 221 Thomas Hobbes, De Cive, Vom Menschen und Bürger, übers, und hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1959, p. 183. 52

politischen Belehrung? Hier klafft eine Lücke in Kants Konzeption der Aufklärung via öffentlichen Diskurs. Wie gezeigt, fehlt in seinem Schema der redenden Künste ein legitimes Genus der praktischen Persuasion. Der aufklärerische Diskurs soll rein von Rhetorik stattfinden. Möglich, daß Kants diesbezügliche erstaunliche Naivität 222 der mangelnden praktischen Erfahrung mit der tatsächlichen Realität öffentlicher politischer Auseinandersetzung zugute zu halten ist - in der konsolidierten Demokratie wird sich kaum ein Politiker scheuen, sich rhetorisch zu schulen, aus Furcht, deswegen für einen Betrüger gehalten zu werden. Kant hingegen, da er den Rhetor einzig als hinterlistigen Demagogen sehen kann, stellt die gelingende öffentliche politische Aufklärung der kunstlosen Kunst der blassen Fiktion des "vir bonus" anheim: der Gutartige, der korrektes Deutsch spricht, soll im Namen der Vernunft seine und deren Ansprüche politisch durchsetzen können. Der vir bonus genügt den intellektuellen Minimalforderungen, befolgt die Maximen der gesunden Denkungsart, denkt also selbst, versetzt sich in die Situation der andern und denkt mit sich selbst einstimmig223, er verfügt zudem über gesunden Menschenverstand, der sich, wenn es "auf Urteile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden", bewähren kann. 224 Seinen tieferen Grund hat das Verwerfen jeder Rhetorik für den aufklärerischen Diskurs möglicherweise in der restringierten Konzeption des aufklärungsfähigen Publikums. Ausdrücklich schreibt Kant, den öffentlichen Gebrauch mache jemand "als Gelehrter" von seiner Vernunft 225 , und das ganze "Publikum der Leserwelt" ist offensichtlich ein gebildetes Publikum. Die Meinung, es sei eine Beleidigung der Wahrheit, sie "über ihre unvermittelte Publikation hinaus noch der Sorge für ihre Durchsetzung für bedürftig zu halten", identifiziert offensichtlich die Republik mit der Gelehrtenrepublik 226 und glaubt somit auf eine "Rhetorik der Aufklärung" verzichten zu können. Gewisse Überlegungen zum Thema der adäquaten Weise der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntis, stellt Kant in Zusammenhang mit seinen Reflexionen über die Form und Verständlichkeit der "Kritik der reinen Vernunft" an. Diese Überlegungen lassen sich zwar durchaus in Zusammenhang mit der Problematik einer legitimen Aufklärungsrhetorik betrachten: von Kant selbst wird dieser Zusammenhang, das sei der Darstellung dieser Thematik vorausgeschickt, indessen nicht hergestellt.

222 Walter Jens bringt die deutsche Spezialität der naiven rigorosen Leugnung der Rhetorik mit einer entsprechenden Anfälligkeit für politische Demagogie in Verbindung, vgl. Walter Jens, Von deutscher Rede, a.a.O., p. 31. - Zur Tradition der Rhetorikverachtung in Deutschland vgl. auch Joachim Goth, Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen 1971, p. 5ff. 223 KU, Paragraph 40. 224 Werke, Band 5, p. 118. 225 Werke, Band 9, p. 55. 226 Hermann Lübbe, Der Streit um Worte. Sprache und Politik, in: ders., Bewußtsein in Geschichten, Freiburg 1972, p. 141 (Fußnote). 53

1.3 Die Stimme der Vernunft: Das Problem der Darstellung "Die Klage über Kants Stil ist so alt wie die kantische Philosophie", schreibt Willi Goetschel in dem seine Untersuchung über "Kant als Schriftsteller" beschließenden "bibliographischen Essay".227 Goetschels Aufstellung der diesbezüglichen Urteile zeigt aber auch, daß der bekannten Qualifizierung von Kants Schreibweise als "Packpapierstyl" (Heine) oder "plumper Pedanterie" (Nietzsche) auch eine ganze Reihe lobender Urteile von Bewunderern von Kants Prosa gegenübersteht. Die Stilproblematik ist nun aber keine ausschließliche Sache der Rezeption, die Diskussion ist bei Kant selbst schon angelegt. Die Eigenart des Stils wird als Verzicht auf ästhetische Deutlichkeit zugunsten logischer Prägnanz von ihm selbst diagnostiziert und gerechtfertigt. Kants eigene Reflexionen zu dieser Problematik sowie deren Situierung in ihrem historischen Kontext sollen im folgenden deutlich machen, was oft übersehen wird: Das Stilproblem ist nicht so sehr eine Frage des Verhältnisses von Literatur (Dichtkunst) und Philosophie als vielmehr des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik (Beredsamkeit) 228 , steht dahinter doch letztlich die Frage nach der überzeugenden Vermittlung der philosophischen Erkenntnis. 229 Historischer Kontext: Rhetorische Popularphilosophie Die Frage, wie Kant überhaupt dazu kommt, sich derart eindringlich um die Darstellungsweise seiner Philosophie zu sorgen, wie er es tut, und sich eine ausführliche Rechtfertigung der Dunkelheit und Trockenheit seines philosophischen Werks zurechtzulegen, muß im Zusammenhang mit zwei Diskussionen des 18. Jahrhunderts über das Problem der adäquaten philosophischen Darstellungsform betrachtet werden. Die eine Diskussion beginnt mit der Kontroverse um die Wölfische Philosophie in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts, und ihre Nachwirkungen lassen sich bis zum Ende des Jahrhunderts verfolgen. Der Streit um die richtige philosophische Darstellungsform ist in diesem Zusammenhang eng verknüpft mit der Ablehnung der geometrischen Methode und dem damit assoziierten philosophischen Inhalt: Die pietistische Kritik an Wolff identifizierte die systematische Demonstration more geometrico mit dem Ausdruck einer spinozistischen und somit fatalistischen, materialistischen und atheistischen Gesinnung. 230 Der in diesem Zusammenhang erwachsende Legitimationsdruck auf schulmäßig-analytische (statt der geforderten eklektisch-eingängigen) 227 Willi Goetschel, Kant als Schriftsteller, Wien 1990. Der erwähnte "Bibliographische Essay" gibt über die Kommentare zu Kants Stil erschöpfend Auskunft, weshalb hier auf eine weitere Ausführung dieses Aspekts der Rezeptionsgeschichte verzichtet wird. 228 Goetschels Arbeit thematisiert den Bezug zur Rhetorik leider nur gerade an einer Stelle, vgl. unten, p. 61. 229 Bereits Kants (nicht überlieferte) Promotionsrede vom Jahr 1755 trug den Titel "Vom leichteren und gründlichen Vortrage der Philosophie", vgl. Friedrich Kaulbach, Immanuel Kant, Berlin 1969, p. 9. 230 Zu den näheren Umständen von Wolffs Verbannung vgl. H.W. Arndt, Einleitung zu Christian Wolffs, "Vernünftige Gedanken", a.a.O., p. 95. 54

Darstellungformen mag auch noch bei Kant ein Motiv für das Rechtfertigungsbedürfnis bezüglich der Scholastizität, speziell der "Kritik der reinen Vernunft", darstellen. 231 Weitaus manifester und im vorliegenden Zusammenhang interessanter ist der Einfluß einer anderen geistigen Entwicklung des Jahrhunderts: der Entstehung einer bewußt rhetorischen, d.h. einer reflektiert wirkungsintentionalen Popularphilosophie. Diese inhaltlich kaum definierbare Strömung entstand um die Mitte des Jahrhunderts. Charakteristisch und den unterschiedlichen Vertretern gemeinsam ist die Ablehnung der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie, nicht so sehr dem Inhalt, als vielmehr der Methode und der Darstellungsform nach. Dieses kritische Bewußtsein über die Form erklärt sich vom Ziel der aufklärerischen Popularphilosophie her, nämlich die philosophischen Erkenntnisinhalte in einer Weise zu vermitteln, welche diesen den Eingang in die Praxis eines breiten, gebildeten, aber nicht fachmännischen Publikums ermöglichen sollte. Damit ging aber auch die philosophische Rehabilitierung des Grundaxioms rhetorischen Sprechens einher, der Forderung, die sprachliche Gestalt der Philosophie müsse sich nicht bloß den behandelten Gegenständen, sondern ebensosehr den anzusprechenden Adressaten anpassen. 232 Die gute Sache der Aufklärung legitimiert die kühl kalkulierte Wirkungsintention und die Anpassung des Ausdrucks und der Darstellung an das Publikum in der Absicht, dieses nicht bloß zu belehren, sondern auch sein Gemüt zu bewegen und es in seiner Praxis zu beeinflussen. Typisch für diese Haltung ist etwa Baumgartens Zugeständnis, der Philosoph müsse von seinen Gegenständen nicht bloß logisch korrekt, sondern auch beredt zu schreiben in der Lage sein, "weil er in einer Welt ist, wo er auch mit anderen Leuten zu tun hat, als denen, die abstrahieren können." 233 In diesem Zusammenhang werden verschiedene literarische Gattungen dank ihrer rhetorischen Qualitäten als Medien philosophischer Erkenntnisvermittlung rehabilitiert. Darin treffen sich im 18. Jahrhundert die rationalisierte, den Anspruch philosophischer Fundierung erhebende Rhetoriktheorie und die Popularphilosophie. Gottsched lobt die "mittlere Schreibart" gegenüber der pedantischen; Tagebuch, Dialog und Brief nach dem Vorbild der Franzosen (Fontenelle, Diderot, Fénelon) werden von ihm, ebenso auch von Eschenburg, Sulzer, Garve und Eberhard geschätzt, weil durch eine solche Darstellung die Wahrheiten nicht bloß gelehrt, sondern unmittelbar fühlbar gemacht würden: "Insgesamt bleibt das Ideal der popularphilosophischen Gesprächskultur die ciceronianische "urbanitas", welche Feinheit, Umgänglichkeit, Geselligkeit und Bildung vereint."234 Auch in direkter Hinsicht ist Cicero der Ahnherr der popularphilosophischen Bewegung. Der Leipziger Philologe Ernesti, der den Ausdruck 231 Dies ist die These von Catherine Wilson; vgl. dies., Subjektivität und Darstellungsform, in: Gottfried Gabriel/Christine Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, p. 141f. 232 Exemplarisch formuliert bei Cicero: "Stets ist das ausschlaggebende Moment für die Sprache der Redner die Einsichtskraft ihrer Zuhörer gewesen." Orator, VIII, a.a.O., p. 22. 233 A.G. Baumgarten, Ästhetik (nach einer Handschrift der Vorlesung), hg. von B. Poppe, Bonn/Leipzig 1907. Zitiert nach: Gert Ueding, Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik, Ein internationales Jahrbuch, Band 1, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, p. 128. 234 Gert Ueding, Rhetorik und Popularphilosophie, a.a.O., p. 131. 55

"Popularphilosophie" in Deutschland einführt (im Werk "Prolusio 'de philosophia populari'", 1754), macht als das Fundament der Differenz von populärem und schulmäßigem Vortrag der Philosophie die aus der ciceronischen Rhetorik stammende Unterscheidung zwischen einem "genus subtile et acutum" und einem "genus populare" namhaft. 235 Wesentlich wird also in der popularphilosophischen Bewegung eine rhetorische, in ihrer Darstellung auf den Adressaten zugeschnittene Philosophie postuliert, es wird der Anspruch erhoben - und damit setzt sich Kant in seinen Reflexionen zur Form seines Werks auseinander -, der aufklärende philosophische Schriftsteller müsse sich seinem Leser (und neu auch der Leserin) anpassen, sich zu seinem Publikum herablassen und ihm die Wahrheit in derjenigen Form vermitteln, in welcher dieses sie leichter fassen kann. 236 Er müsse weiter auch dem Gefühl und dem Gemüt etwas bieten, dürfe Reiz und Rührung nicht vernachlässigen, um den trockenen Erkenntnissen Eingang zu verschaffen, kurz: es wird die aristotelische Erkenntnis rehabilitiert, daß die Wissenschaft gewissen Leuten gegenüber sich nicht mit ihrer üblichen Weise der Belehrung zufriedengeben könne, sondern die Kunst der Beredsamkeit in Anspruch nehmen müsse, um zu überzeugen und zu wirken. 237 Scholastischer und populärer Vortrag bei Kant "In einem Buche als Schrift redet der Autor zu seinem Leser"238, schreibt Kant und nimmt damit die typisch popularphilosophische Thematik der persuasiven Unterredung zwischen Leser und Autor auf. In welcher Weise sich seine eigene Rede präsentieren soll, problematisiert er in doppelter Hinsicht: Er entwickelt eine Unterscheidung von populärem und scholastischem Vortrag, und dieses Modell ist die Basis der Bewertung und Rechtfertigung seiner eigenen Vortragsweise. Die Unterscheidung von scholastischem und populärem Vortrag findet sich in der Einleitung zu Kants Logikvorlesung. Generell richtet sich der scholastische Vortrag an die Philosophen von Profession, seine Angemessenheit wird bestimmt von "der Wißbegierde, den Fähigkeiten und der Kultur derer, die das Erkenntnis (...) als eine Wissenschaft behandeln wollen."239 Popular sei dagegen der Vortrag, der sich "herabläßt", und zwar zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen derer, die nicht gründliche Wissenschaft betreiben, sondern lediglich ihren Verstand "aufklären" wollen. 240 Abstraktion und Allgemeinheit kennzeichnen damit den scholastischen Vortrag, Konkretion und Beson-

235 Vgl. Helmut Holzhey, Artikel "Popularphilosophie", in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 7, p. 1095. 236 Vgl. als popularphilosophische Darstellungstheorie exemplarisch Christian Garves Abhandlung "Von der Popularität des Vortrags", in: ders., Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben", Breslau 17%, Reprint Stuttgart 1974, p. 333ff. (1041ff.). 237 Vgl. Ar., Rhet., 1355a. 238 AA, Bd. 8, p. 80. 239 Werke, Band 5, p. 441. 240 a.a.O. 56

derheit den popularen. 241 Entscheidend ist dabei Kants Forderung, der scholastische Vortrag müsse das Fundament des populären bilden: Nur wer etwas schulmässig vortragen kann, ist in der Lage, diese Erkenntnis in angemessener Weise zu popularisieren. Den philosophischen Topos von der nachträglichen Einkleidung der in nacktem Zustande nicht sehr attraktiven Wahrheit dürfte Kant direkt von Wolff kennengelernt haben. 242 Weiter unten wird in derselben Logikvorlesung im Zusammenhang mit den Ausführungen über die logische Vollkommenheit einer Erkenntnis der Übergang von der scholastischen zur popularen Vortragsweise näher erläutert. Die logisch volkommene Erkenntnis muß - sofern möglich - durch die Überführung in eine äquivalente, ästhetisch vollkommene Form popularisiert werden. 243 Kant nennt drei Punkte, die bei dieser Umsetzung zu beachten sind: Die logische muß die Grundlage der ästhetischen Vollkommenheit sein, die ästhetische Vollkommenheit muß in einer formalen Übereinstimmung mit den Gesetzen der Anschauung bestehen, Reiz und Rührung müssen äußerst vorsichtig dosiert werden. Letzteres, weil durch sie zwar die Wirkung einer Erkenntnis auf die Empfindung sichergestellt wird, dadurch aber auch leicht "die Aufmerksamkeit vom Objekt auf das Subjekt gezogen" und damit der logischen Erkenntnis geschadet wird. 244 Zur Verdeutlichung der Unterscheidung führt Kant die vier Hauptmomente an, nach denen eine Erkenntis zu beurteilen sei, zuerst als die die Norm begründende logische Vollkommenheit, danach als die jeweils entsprechende ästhetische Vollkommenheit: Der Quantität nach muß die logische Erkenntnis allgemein sein, als ästhetische ist sie auf viele Beispiele anwendbar. Der Qualität nach entspricht der Deutlichkeit der logisch vollkommenen Erkenntnis die klärende Erläuterung eines Begriffs durch eine korrespondierende Anschauung. Der Relation nach ist die logische Erkenntnis objektiv wahr; hier hat die ästhetische Erkenntis ihr entscheidendes Defizit, indem sie immer nur in einer subjektiv wahren "Übereinstimmung mit dem Sinnenschein" bestehen kann. Der Modalität nach schließlich ist die logische Erkenntnis gewiß. Der Gewißheit entspricht das ästhetische Äquivalent der Bestätigung der von der ästhetischen Darstellung vermittelten Empfindung durch die Erfahrung.

241 Auch das entspricht einer bereits von Aristoteles erhobenen Forderung, vgl. Top., 156a. 242 "Quin potius non inconsultum judicamus, ut veritatem a philosophe erutam, quae nuda fastiditur, pulchro habitu vestitam in scenam producat Poeta vel Orator, ut ejus amore capiantur, quibus nuda sese minime probat." Wolff schränkt ein, diese Möglichkeit sei dem außerphilosophischen Lebensbereich vorbehalten: "Quae a nostro scopo aliena sunt et a foro philosophico abesse jubentur, non ideo vituperantur et ex orbe litterario proscribuntur". Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., Paragraph 149, p. 79. 243 "Da es indessen das Bedürfnis der menschlichen Natur und der Zweck der Popularität des Erkenntnisses erfordert (...), so müssen wir es uns auch angelegen sein lassen, denjenigen Erkenntnissen, die überhaupt einer ästhetischen Vollkommenheit fähig sind, dieselbe zu verschaffen und eine schulgerechte, logisch vollkommene Erkenntnis durch die ästhetische Form populär zu machen." Werke, Band 5, p. 462. 244 a.a.O. 57

Soweit die Bedingungen der adäquaten Transformation einer logisch vollkommenen Erkenntnis in eine ästhetisch vollkommene Darstellungsform. Die entscheidende Abgrenzung von der Popularphilosophie nimmt Kant vor, indem er in der Methodenlehre der Logik keinen Zweifel darüber läßt, daß die Erlaubnis ästhetischer Popularität einzig für die Darstellung, nie für die Methode gelten darf: Die scholastische Methode fordert Gründlichkeit und Grundsätze, die ästhetische Methode sucht Interessantes und Unterhaltung und kann für die Wissenschaft nie tauglich sein. 245 Kants literarische Selbstqualifikationen Dieses Modell bildet den Hintergrund, vor welchem Kants literarische Qualifikationen seiner Schriften beurteilt werden müssen. Diese betreffen ausschließlich die "Kritik der reinen Vernunft" und sind von einer eigenartigen Ambivalenz. Drei verschiedene Gründe sind es, die Kant für die zugestandenermaßen "scholastische" Form seines Hauptwerks gibt. Bemerkenswert ist dabei, daß es nicht etwa erst das ungünstige Urteil des Publikums über die Form der "Kritik" war, das zu Kants Beschäftigung mit der Frage der Darstellung führte. Die wichtigsten Überlegungen zum Thema finden sich in den zum Teil bereits während der Entstehungszeit der "Kritik" notierten "Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft" 246 sowie in der Vorrede zur ersten Auflage. Eine erste Begründung der scholastischen Form wird in der Vorrede zur ersten Auflage der "Kritik" gegeben. Sie ist pragmatisch und hat zwei Momente: einerseits würden die Kenner der Materie, an die das Werk sich richtet, auf populäre Erläuterungen wohl verzichten können. Zum andern hätte eine solche Ausgestaltung das durch "die Größe der Aufgabe und die Menge der Gegenstände" bereits voluminöse Werk unnötig weiter anschwellen lassen. 247 Kant glaubt es deshalb der Nachwelt überlassen zu dürfen, "in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten", und begnügt sich damit, "das Inventar aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet" in wissenschaftlicher Manier geliefert zu haben. 248 Noch ausdrücklicher wird der Appell an andere "gründliche Geister", an "Männer von Unparteilichkeit, Einsicht und wahrer Popularität", den in der "Kritik" gelieferten Erkenntnissen die "erforderliche Eleganz zu verschaffen", in der Vorrede zur zweiten Auflage formuliert: 249

245 "Die szientifische oder scholastische Methode unterscheidet sich von der popularen dadurch, daß jene von Grund- und Elementarsätzen, diese hingegen vom Gewöhnlichen und Interessanten ausgeht. Jene geht auf Gründlichkeit und entfernt daher alles Fremdartige; diese zweckt auf Unterhaltung ab. Die beiden Methoden unterscheiden sich also der Art und nicht dem bloßen Vortrage nach; und Popularität der Methode ist mithin etwas anderes als Popularität im Vortrag." Werke, Band 5, p. 580. 246 Z.B. Reflexion Nr. 4989: "Die Methode meines Vortrage hat eine nachteilige Gestalt. Sie sieht scholastisch aus, mithin grüblerisch, trocken, ja eingeschränkt und weit vom Tone des Genies verschieden." AA, Band 18, p. 53. 247 Vorrede Α,ρ. XVIII. 248 a.a.O., p. XX. 249 Vorrede B, p. XLIV. 58

"Diesen verdienten Männern, die mit der Gründlichkeit der Einsicht noch das Talent einer lichtvollen Darstellung (dessen ich mir nicht bewußt bin) glücklich verbinden, überlasse ich meine in Ansehung des letzteren hin und wieder etwa noch mangelhafte Bearbeitung zu vollenden."

In Kontrast zu dieser praktisch-pragmatischen Entschuldigung der scholastischen Form der "Kritik" finden sich Äußerungen, die deren Popularitätsfähigkeit prinzipiell in Frage stellen. So wird etwa in der Vorrede zur ersten Auflage gesagt, daß "diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte."251 Das Kriterium ist hier der Gebrauch, dies, weil die aufklärerische Forderung natürlich dahin geht, gebrauchsfähige Erkenntnisse dem popularphilosophischen Publikum in angemessener Weise zur Verfügung zu stellen. Insofern Vernunftkritik prinzipiell nicht in den populären Gebrauch übergehen kann, soll die exklusive scholastische Form gerechtfertigt sein. Zudem wird aber an derselben Stelle gesagt, daß eine populäre Darstellung der "Kritik" sogar "etwas zweckwidriges nach sich ziehen könnte."252 Der Grund: in gewissen Fällen könne die Bereicherung durch Beispiele und allgemeine Erklärungen das Gegenteil der bezweckten Verdeutlichung bewirken, so, wenn es um die "Faßlichkeit eines weitläufigen, dennoch aber in einem Prinzip zusammenhängenden Ganzen spekulativer Erkenntnis" gehe.253 In diesem Zusammenhang prägt Kant das Bonmot, die "Kritik der reinen Vernunft" wäre viel deutlicher geworden, wenn sie nicht so deutlich hätte werden sollen.254 Der Witz beruht hier auf der Differenz des rhetorischen und des philosophischen Begriffs der Deutlichkeit: Der Text wäre deutlicher im Sinne der rhetorischen "perspicuitas", d.h. leichter faßbar und eingängiger geworden, wenn er nicht so deutlich, im philosophischen Sinn des "clare et distincte", hätte werden sollen. Deutlichkeit im rhetorischen Sinne könne die "Kritik der reinen Vernunft" nicht bieten; die zur populären Verdeutlichung tauglichen Hilfsmittel würden in ihrem Falle zerstreuen, "... indem sie den Leser nicht schnell genug zur Überschauung des Ganzen gelangen lassen und alle ihre hellen Farben gleichwohl die Artikulation oder den Gliederbau des Systems verkleben und unkenntlich machen, auf den es doch, um über die Einheit und Tüchtigkeit desselben urteilen zu können, am meisten ankommt.

Die spezifische Redegattung "kritische Philosophie" verlangt somit eigene Kriterien der Angemessenheit ihrer Darstellung, systematisch-philosophische Disposition unterscheidet sich von rhetorischer. Kant akzeptiert grundsätzlich das Angemessenheitskriterium; für das spezielle genus dicendi, mit dem er es als kritischer Philosoph zu tun hat, verlangt er aber eine Umkehrung der gängigen Bewertungsmaßstäbe: Hier muß das Zierlichkeitsideal der schulgerechten Verständlichkeit geopfert werden. Der Philosoph muß "wider den Geschmack der guten Schreibart" sündigen, um möglichst große Klarheit zu 250 251 252 253 254 255

a.a.O., p. XLIII. Vorrede A, p. XVIII. a.a.O. a.a.O. a.a.O., p-XIX. a.a.O. 59

erreichen. Mit demselben Argument rechtfertigt Kant denn auch seinen Gebrauch lateinischer Ausdrücke. 256 Auch diese Entschuldigung kann wieder als Tribut an das aufklärerische Ideal populärer Darstellung verstanden werden, denn diese fordert natürlich auch den Verzicht auf eine esoterische und elitäre lateinische Terminologie. Der Philosoph könne darauf nicht verzichten und müsse damit leben können, ob seiner "abgemessenen Erklärungen und schulgerechten Prüfung der Grundsätze" beim Publikum als Stümper zu gelten, denn es sei prinzipiell nicht möglich "in Sachen der sorgfältigsten Vernunftuntersuchung wie ein Genie zu sprechen." 257 Die dritte und rigoroseste Begründung der Ablehnung des populären Vortrags findet sich in einer der "Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft". Kant überlegt, warum er nicht umhin könne, Leser "die die Verbindung mit dem Praktischen suchen", abzuschrecken. Hier sind es nun nicht mehr pragmatische oder gattungsspezifische Gründe, die zur Ablehnung der Popularisierung führen. Es ist die Perhorreszierung des populären Vortrags qua rhetorischer. Schreibt Kant in der "Vorrede" nicht ohne Koketterie, die populäre Darstellung dürfe den in dieser Hinsicht Begabteren überlassen werden, so heißt es hier, wenn er auch selbst "im größten Besitz des Witzes und der SchrifstellerReize gewesen wäre", so hätte er diese vermieden, denn: "... es liegt mir viel daran, keinen Verdacht übrig zu lassen, als wollte ich den Leser einnehmen und überreden, sondern damit ich entweder gar keinen Beitritt von ihnen als bloß durch die Stärke der Einsicht zu erwarten hätte.

Hier findet sich implizit also das ganze Repertoire der Motive zur Ablehnung der Rhetorik wieder angesprochen. Nicht die betrügerische Überredung durch das Spiel der Einbildungskraft, einzig und allein die Selbstdurchsetzungsfähigkeit der Vernunfteinsicht muß der philosophischen Wahrheit zu ihrer Anerkennung verhelfen. Die Betrachtung dieser Auffassung im Zusammenhang mit der popularphilosophischen Thematik macht schlagartig klar, daß Kant mit seiner rigiden antirhetorischen Haltung, was die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts angeht, allein dasteht. Der Leibniz-Wolffschen Tradition liegt eine solche Furcht vor der Rhetorik fern, ja es war gerade Leibniz, der mit seiner positiven Bewertung der exoterischen Philosophie in gewisser Weise als Vorläufer der Popularphilosophen gelten kann. 259 Es gibt aber im 18. Jahrhundert ein Vorbild für Kants radikale Ablehnung der adressatengerechten und somit schmeichlerisch-betrügerischen Darstellung der Philosophie. Es handelt sich um John Locke. Ohne den direkten Einfluß Lockes auf Kant weiter belegen zu wollen oder zu können, möchte ich nicht darauf verzichten zum Abschluß dieses Abschnitts eine längere Passage aus dem "Essay Concerning Human Understanding" zu zitieren. Im Rückblick auf das bis hierher über Kants Rhetorik256 257 258 259

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Vgl. Β 403, Fußnote. KU, Paragraph 47. Reflexion 5031, AA, Band 18, p. 67. Vgl. Helmut Holzhey, Artikel "Popularphilosophie", in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 7, p. 1095.

feindlichkeit Ausgeführte ergeben sich die Parallelen von selbst. Locke verwirft prinzipiell die Mittel der Rhetorik für alle Untersuchungen, in denen Wissen und Erkenntnisfortschritt das Ziel ist. Locke betont dabei besonders das auch für Kant zentrale, wohl ursprünglich stoische Motiv, die Rhetorik verderbe die Vernunft durch falsche Vorstellungen und Leidenschaften, welche das Urteil irreführten, sie sei daher in der Wissenschaft "ein vollkommener Betrug": "Since Wit and Fancy finds easier entertainment in the World, than dry Truth and real Knowledge, figurative Speeches and Allusion in Language will hardly be admitted as an imperfection or abuse of it. I confess, in Discourses where we seek rather Pleasure and Delight, than Information and Improvement, such ornaments as are borrowed from them, can scarce pass for Faults. But yet, if we would speak of things as they are, we must allow, that all the Art of Rhetorick, besides Order and Clearness, all the artificial and figurative application of Words Eloquence hath invented, are for nothing else, than to insinuate wrong Ideas, move the Pasions and thereby mislead the Judgment; and so indeed are perfect cheat: And therefore however laudable or allowable Oratory may render them in Harangues and Popular adresses, they are certainly in all Discourses that pretend to inform and instruct, wholly to be avoided; and where Truth and Knowledge are concerned, can not but be thought a great fault, either of the Language or Person that makes use of them."

Dictamen rationis: Das bescheidene Stilideal Die Theorie von der logisch vollkommenen Erkenntnis und deren adäquater ästhetischer Abbildung kann als Kants Bestimmung der legitimen Verwendung rhetorischer Elemente in der philosophischen Darstellung betrachtet werden. Es handelt sich indes um eine völlig von der Logik kontrollierte und regierte Rhetorik: Die logische Erkenntnis ist das Fundament, die rhetorische Anpassung an ein breiteres Publikum wird in allen ihren Elementen von der logischen Erkenntnis her bestimmt, letztere hat den sekundären Status eines zur Not erlaubten Hilfsmittels. Gerade die angeführten Reflexionen über den Stil der "Kritik der reinen Vernunft" zeigen aber, wie Kant sich sträubt, die Konzession an das aufklärerisch-rhetorische Popularitätsideal auch auf den Bereich der neuen, transzendentalen "prima philosophia" auszudehnen. Heißt es einmal konziliant, er selbst hätte bloß aus Mangel an Zeit und Talent die ästhetisch befriedigende Darstellung unterlassen und andere möchten sich gerne daran versuchen, so wird im gleichen Satz behauptet, der spezifische Inhalt der "Kritik" verbiete eine populäre Darstellung. Schließlich gipfelt diese Einschränkung im Verbot der populären Darstellung als einer mit Überredungsverdacht belasteten. Die Frage, wie es sich denn mit der nicht im eminenten und technischen Sinne philosophischen Aufklärungspublizistik verhalte, kann nur mit einer Vermutung beantwortet werden. Es scheint nahezuliegen, daß Kant gerade diesen Bereich als denjenigen ansieht, wo das von ihm entworfene Modell der nachträglichen Ästhetisierung logischer Erkenntisse zum Tragen kommen kann.

260 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, London 1690, p. 251; zitiert nach: Wilbur Samuel Howell, 18th Century British Logic and Rhetoric, Princeton/New Jersey 1971, p. 490. 61

Einen anderen Vorschlag macht zur Frage nach der rhetorisch-stilistischen Norm der aufklärerischen Schriften Willi Goetschel. An einer der leider wenigen Stellen seiner bereits erwähnten Untersuchung über "Kant als Schriftsteller", wo er auf die Relevanz der Rhetorik zu sprechen kommt, meint er, Kants Einsicht in die zentrale Rolle der rhetorischen Qualität der aufklärungspublizistischen Schriften komme im Stilideal des "bescheidenen Tons" zum Ausdruck. Die zahlreichen Belege der Polemik gegen den "hohen" und "vornehmen" Ton und das diesem gegenüber verfochtene Stilideal des 'Tons der Mäßigung und Bescheidenheit" interpretiert Goetschel als Ausdruck einer "genuin demokratischen Klassenbewußtheit"261: Der vornehme Ton werde von Kant verworfen als der Ton der Vornehmen, derjenigen, welche Geltungsansprüche, die von der Vernunft geprüft werden müßten, kraft ihrer in sprachlichen Ausdruck umgesetzten Standesprivilegien durchzusetzen versuchen. Ich halte die Zuschreibung einer ideologiekritischen, soziologischen Rhetorikkritik an Kant für eine anachronistische Fehlinterpretation; die explizite Ächtung der Rhetorik zeigt keinerlei Spuren einer solchen Betrachtungsweise. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß ein anderer zeitgenössischer Autor, gerade im Gegensatz zu Goetschel, in der Nachfolge von Heinrich Heine 262 in Kants Stil die Verteidigung ideologischer Machtansprüche ortet. 263 Meines Erachtens ist der Grund dieses bescheidenen Stilideals einmal mehr ein innerrhetorisch-antirhetorischer. Was soll das heissen? In der Philosophie kann es bekanntlich für Kant keine Geschmacksurteile geben (worauf Goetschel auch hinweist). 264 Es kann damit auch keine vorbildlichen Klassiker geben, die Imitation des Tons eines Piaton gehört zur "Kultur des Geschmacks", hat aber zum philosophischen Wert einer Schrift nichts beizutragen. 265 Anders ist das für Kant in der Literatur: dort gibt es einen hohen Ton, ein legitimes "genus grande", weil es dort Klassiker gibt, die stilistische Normen festlegen und durch deren Nachahmung der Künstler sich schulen muß. 266 Der bescheidene Ton ist demgegenüber derjenige, der dort herrscht, wo es nur Erkenntnisurteile geben darf. Er ist an-ästhetisch, und er hütet sich vor allen Dingen, "ein Geschäft des Verstandes als ein Spiel der Einbildungskraft zu betreiben". Der geforderte bescheidene Stil wird somit zwar nach einer äusserlichen terminologischen Analogie mit dem traditionellen "genus humile dicendi" (auch: "subtile" oder "tenue") so genannt, er ist völlig rein von Rhetorik, der Ton der reinen Stimme der Vernunft: "dictamen rationis".267 261 Willi Goetschel, Kant als Schriftsteller, a.a.O, p. 143. 262 "Er wollte sich von den damaligen Popularphilosphen, die nach bürgerlichster Deutlichkeit strebten, absondern und kleidete seine Gedanken in eine hofmännisch abgekaltete Kanzleisprache"; Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heinrich Heine, Schriften über Deutschland, Hg. von Helmut Schanze, Frankfurt a.M., 1968, p. 125. 263 Vgl. Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie, Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, p. 132. 264 Werke, Band 6, p. 393f. 265 ebd. 266 Vgl. KU, Paragraph 32. 267 Werke, Band 6, p. 392.

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Dieses Stilideal bringt noch einmal die grundsätzliche Schwäche von Kants Rhetorikbegriff zum Ausdruck, die irrtümliche Annahme nämlich, ein schlichter Stil sei per se arhetorisch, nicht suggestiv, nicht appellativ, nicht manipulativ.

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2. Fichte - Assimilation der Rhetorik

"Ich h a b e nur e i n e L e i d e n s c h a f t u n d e i n Bedürfnis, nur e i n v o l l e s G e f ü h l m e i n e r selbst, das: außer mir zu wirken." 1 F i c h t e s A n s p r u c h , s e i n D e n k e n in der Praxis w i r k s a m zu m a c h e n , bleibt in k a u m einer D a r s t e l l u n g s e i n e r P h i l o s o p h i e u n e r w ä h n t 2 , u n d s e l t e n fehlt der H i n w e i s , er bilde e i n e n w i c h t i g e n Schlüssel z u m V e r s t ä n d n i s v o n F i c h t e s L e b e n und der W i r k u n g und N a c h w i r k u n g s e i n e r P h i l o s o p h i e . 3 D a d i e R h e t o r i k d i e j e n i g e Disziplin ist, w e l c h e w e s e n t l i c h d i e U m s e t z u n g v o n M e i n u n g e n u n d Ü b e r z e u g u n g e n in die L e b e n s p r a x i s z u m G e g e n s t a n d hat, erstaunt e s nicht, d a ß e b e n f a l l s F i c h t e s redneris c h e s T a l e n t , s e i n e r e d n e r i s c h e Praxis, e i n e n T o p o s der Fichte-Literatur b i l d e t 4 ; "Fichte als

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konnte

demnach

auch

zum

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einer

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Johann Gottlieb Fichte, Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Hg. von Hans Schulz, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1930 Hildesheim 1967, Band 1, p. 81; im folgenden zitiert als "BW". Vgl. Fritz Medicus, Fichtes Leben, Leipzig 1922, p. 76, p. 233; Max Wundt, Johann Gottlieb Fichte, Stuttgart 1927, p. 4f., p. 60; Joachim Widmann, Johann Gottlieb Fichte, Berlin/New York 1982, p. 21; Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Hamburg 1984. Markantestes Zeugnis von Fichtes unmittelbar praktisch-politischem Sendungsbewußtsein ist das Memorandum "Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg", in welchem er sich dem preußischen Staat als Nationalredner zwecks Anfeuerung der gegen Napoleon im Feld stehenden Truppen empfahl; der Antrag wurde, wie ein zweiter, im April 1813 gestellter, abgelehnt. Vgl. unten, p. lOlf. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Legende von der Entdeckung des neunjährigen "Gänsejungen" Fichte. Bekanntlich war der vorbeireisende Freiherr von Miltitz so beeindruckt von dessen Fähigkeit, eine Predigt aus dem Gedächtnis wiederzugeben, daß er ihm mit einem Stipendium den Besuch der Fürstenschule Pforta bei Naumburg ermöglichte. Zu Fichtes rhetorischem Naturtalent vgl. Fritz Medicus, Fichte, a.a.O., p. 10f.; Max Wundt, Fichte, a.a.O., p. 7; Wilhelm G. Jacobs, Fichte, a.a.O., p. 10; Joachim Widmann, Fichte, a.a.O., p. 21. Adelheid Ehrlich, Fichte als Redner. München 1977; vgl. oben p. 5, Fußnote. Vgl. Reinhard Lauth, Übersicht über noch unbearbeitete Probleme der Fichteschen Philosophie, in: Klaus Hammacher (Hg.), Der transzendentale Gedanke, Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, p. 571. Lauth verbindet seine "Erinnerung daran, daß Fichte einer der größten Redner seiner Zeit war und daß nach seinen eigenen Aussagen sein geschriebenes Wort als gesprochenes gelesen werden sollte" mit der Forderung, Fichtes "sprachliche Meisterschaft" und seine sprachschöpferischen Leistungen endlich gebührend zu würdigen. In vorliegender Arbeit geht es nicht darum, vielmehr soll der Einfluß rhetorischer Tradition auf Fichtes Philosophie nachgewiesen werden.

der seltenen Fälle eines Philosophen mit einem ungebrochenen Verhältnis zur Rhetorik darstellt: Nichts lag Fichte ferner als der Gedanke, Rhetorik könnte eine Konkurrenz oder eine Gefährdung der Philosophie darstellen. Es gibt durchaus Schriften Fichtes zur Rhetorik. Bloß handelt es sich dabei nicht um die philosophische Beurteilung und Kritik ihres Wesens und ihrer Verwendung, sondern die vorhandenen, meist kurzen und peripheren Texte stehen im Zusammenhang von Fichtes praktischem Rednertum, seiner Beschäftigung mit dem Studium und der Vermittlung der traditionellen Schulrhetorik. Diese frühen Studien bilden die Grundlage von Fichtes späteren Bemühungen um eine umfassende philosophische Pädagogik, Psychagogik und Demagogik, in welche reichlich rhetorisches Gedankengut integriert wird. Die Darstellung in diesem Kapitel ist chronologisch. Es stellt zunächst die erwähnten frühen Beiträge Fichtes zur Schulrhetorik vor. Dabei handelt es sich zuerst um eine Rede des Pfortenser Abiturienten, in welcher dieser die Abhandlung eines rhetorisch-literarischen Problems zur Darstellung seiner theoretischen und praktischen rhetorischen Souveränität nutzt. Es handelt sich weiter um Kritik der zeitgenössischen Schulrhetorik in Form der Rezension eines Rhetoriklehrbuchs, in welcher Fichte gegen den Verfasser seine eigenen Vorstellungen von den Erfordernissen der geistlichen Beredsamkeit geltend macht. Schließlich handelt es sich um einen Beitrag Fichtes zur rhetorischen Pädagogik, die Skizze eines Projekts zur Gründung einer Rednerschule in Zürich. Das erste Unterkapitel (2.1) behandelt somit Arbeiten des jungen, vorkantischen und "vorphilosophischen" Fichte. Der Abschnitt 2.2 stellt sodann dar, wie Fichte das rhetorische Denken seiner Jugend in seine philosophische Lehre integriert. Betroffen ist hier nicht die theoretische Philosophie, was nicht erstaunt - die Metaphysik zu ersetzen, konnte die Rhetorik während ihrer ganzen Geschichte vernünftigerweise nie beanspruchen. Rhetorikrelevant sind in Fichtes Philosophie vielmehr drei Sphären, innerhalb derer die Rhetorik traditionellermaßen philosophische Kompetenz geltend zu machen versuchte: Es handelt sich um Fichtes Konzeption des Philosophen als eines Erziehers, um den fragmentarischen Entwurf einer philosophischen Ästhetik sowie um Fichtes Ausführungen über die ideale Darstellung der Philosophie.

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2.1 Schulrhetorik 2.1.1 Rhetorik als Poetik - Fichtes Valediktionsrede "De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu" Am 5. Oktober 1780 beendete Fichte seine sechsjährige Schulzeit an der Fürsten- und Land-Schule Pforta. Der Abgang von der Schule war mit der Verpflichtung verbunden, eine Abschiedsrede zu halten. Fichtes Valediktionsrede trug den Titel "De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu"7, "Über den rechten Gebrauch der Regeln der Dicht- und Redekunst".8 Die Wahl des Themas beweist das frühe Interesse Fichtes an der Rhetorik: Zur Demonstration seiner schulisch erworbenen rhetorischen Bildung wählt er ein rhetorisch-poetologisches Thema. Die vor dem versammelten Lehrkörper der Schulpforta gehaltene Abschiedsrede soll praktisches rhetorisches Können und die Beherrschung der Formen lateinischer Eloquenz demonstrieren, sie demonstriert dieses Können anhand einer kritischen Stellungnahme in einer aktuellen rhetorisch-poetologischen Diskussion. Die Tatsache, daß die Rede in Latein verfasst und gehalten wurde, verdankt sich zunächst dem Umstand, daß Fichte lateinischen Rhetorikunterricht erhielt und daher auch in dieser Sprache vorzutragen hatte. Dieser Umstand ist jedoch auch mit dem gestellten Thema verknüpft, steht hinter der Frage nach dem Nutzen der Regeln in der Rhetorik und der Dichtkunst doch die Frage nach dem normativen Wert des klassischhumanistischen Ideals rednerischer Bildung unter den Bedingungen moderner kultureller und politischer Verhältnisse. Von drei Seiten her geriet die lateinische Schulrhetorik im 18. Jahrhundert unter Druck: Ihr Nutzen und ihre Geltungskraft wurden hinsichtlich ihrer politischen, ihrer pädagogischen und hinsichtlich ihrer normativästhetischen praktischen Applikationsmöglichkeiten immer stärker angezweifelt. Alle drei Gesichtspunkte bestimmen auch Fichtes frühe Auseinandersetzung mit der Rhetorik. Vorbemerkung: lateinische Sprache und klassische Norm Da die Frage nach dem Umgang mit den rhetorischen und poetischen Regeln, wie gesagt, neuzeitlich eng mit der Frage nach der Rechtfertigung der sprachlichen und ethischen Vorbildfunktion der römischen Rhetorik verbunden ist, sei der Darstellung und Interpretation von Fichtes lateinischer Rede ein knapper historischer Abriß über das Verhältnis von Muttersprache und Latein in der deutschen Rhetoriktheorie und über

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Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Jacob, Band II/I (Nachlaßband 1), Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, p. 6-29; im folgenden Abschnitt zitiert als "GA". Die einzige, recht unzuverlässige und durch willkürliche Auslassungen oftmals den Sinn entstellende deutsche Übersetzung findet sich in: Maximilian Runze (Hg.), Neue Fichte Funde aus der Heimat und Schweiz, Gotha 1919, p. 31-79, im folgenden zitiert als "FF'.

die in diesem Zusammenhang wachsende Kritik an der Rhetorik als politischem, (sprach)pädagogischem und ästhetischem Bildungskomplex vorangestellt. Zweifel an der ewigen Gültigkeit der klassisch-lateinischen literarischen Normen erheben sich im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen den Geltungsansprüchen von Muttersprache und Latein zuerst in den rhetorikpädagogischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts. Durch die bildungspolitischen Ansprüche der Verfechter der Muttersprache sah sich die Rhetorik von allen Disziplinen am ernsthaftesten bedroht, war sie doch durch Mittelalter und Humanismus nach ihren Themen und Methoden, nach Unterrichtspraxis und nach stilistisch-ästhetischer sowie ethischer Norm als durch und durch römisch-lateinisches Ganzes tradiert worden. 9 Trotz des Durchbruchs zur deutschsprachigen Gelehrtendichtung (Opitz) und trotz reformpädagogischer Bemühungen um muttersprachliche Sprachausbildung blieb die Rhetorik im 17. Jahrhundert lateinisch. Der Ansatz zu einer Reform vollzog sich bei Christian Weise, dem eigentlichen Begründer einer deutschen Rhetorik. 10 Aber auch Weise unterrichtete Rhetorik in Latein, verfaßte seine Rhetoriklehrbücher in dieser Sprache, und muttersprachliche Rhetorik blieb vorerst "extraordinären Stunden" und Privatlektionen vorbehalten. 11 "Lateinische!" Rhetorik- und Poesieunterricht mit einzelnen Konzessionen an die Muttersprache, lateinische Deklamationen, allmähliches Vordringen des Deutschen auf dem Schultheater: so stellt sich die bildungsgeschichtliche Grundlage der deutschen Barockliteratur dar."12 Diese Situation beginnt sich Anfang des 18. Jahrhunderts zu ändern. 13 Getragen vom Wunsch, den Rhetorikunterticht an die aktuellen Erfordernisse anzupassen, intensiviert sich die Diskussion rhetorikpädagogischer Konzepte und damit die Kritik an der lateinischen Schulrhetorik.14 In diesem Zusammenhang taucht zuerst die Forderung auf, die "Teutsche oratorie" zum Unterrichtsfach zu machen. Der absolute normative Anspruch des Latein wird strittig, dieses ist nicht mehr Selbstzweck der Ausbildung, sondern bloßes Mittel, "vehiculum eruditionis " statt "pars eruditionis".15 Weise und auch Thomasius verstehen die Vernachlässigung der muttersprachlichen Rhetorik als den eigentlichen Grund des Niedergangs der Redekunst, hätten doch 9 10

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Vgl. dazu Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 249f. Das erste deutsche Rhetoriklehrbuch verfaßte, inspiriert von Opitz, im Jahr 1634 Johann Matthäus Meyfart: "Teutsche Rhetorica oder Rede-Kunst/Auß den berühmtesten Rednern gezogen/und beydes in Geistlichen und Weltlichen/auch Kriegs-Verrichtungen/so wol zierlich als nützlich zu gebrauchen/in zweyen Büchern abgefaßt", Frankfurt am Main 1634. Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 250. a.a.O., p. 251. Zur Entwicklung des Sprachunterrichts im 18. Jahrhundert vgl. Joachim Gessinger, Sprache und Bürgertum. Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, bes. p. 33-90. Ein Indiz dafür ist die von Barner (a.a.O., p. 167) erwähnte Tatsache, daß von 1677 bis 1707 "mindestens dreimal so viele deutschsprachige Rhetorikhandbücher veröffentlicht werden wie in der ganzen Zeit seit Beginn des 17. Jahrhunderts." Zur Bibliographie vgl. D. Breuer/G.Kopsch, Rhetoriklehrbücher des 16.-20. Jahrhunderts, in: Helmut Schanze (Hg.), Rhetorik, p. 217-355. So bei Christian Weise; vgl. dazu Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie, Frankfurt a.M., 1982, p. 86f.

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selbst die allerbesten lateinischen Rhetoriker zeit ihres Lebens kaum je Gelegenheit, ihr Können fruchtbar zu machen; demgegenüber erscheint nun eine deutsche Rhetorik als das "Mittel alles glücklichen Fortkommens". 16 Die Ablösung des Wohlredenheitsideals durch das Persuasionsideal macht das Latein zum Problem. Eine "politisch" genannte Rhetorik, die praktischen Zwecken dient, höfische und bürgerliche Karrieren fördert, soll eine Rhetorik, welche bloß philologische und literarische Interessen zu befriedigen mag, ablösen. 17 Als Folge dieser Entwicklung tritt im Jahr 1731 der erste Ordinarius für deutsche Beredsamkeit sein Amt in Halle an. 18 Gottsched setzt sich dann für muttersprachlichen Rhetorikunterricht bereits auf der Gymnasialstufe ein und verfaßt zu diesem Zweck die "Vorübungen der Beredsamkeit zum Gebrauche der Gymnasien und größeren Schulen".19 Rasch werden allerorts die Bildungsprogramme überprüft, wobei man grundsätzlich zu bezweifeln beginnt, ob die überlieferte rhetorisch-sprachliche Bildung den Erfordernissen der neuen Zeit noch gerecht zu werden vermöge: "... weil es ganz unnütz und gar schädlich ist, daß die Schüler als Anfänger der Beredsamkeit mit hunderterlei Chrien und dergleichen geplagt werden, woher die besten ingenia Pedanten, aber niemals dazu, ihre Gedanken in einen ordentlichen Vortrag zu verfassen, gebracht werden, so sollen Gymnasiarcha und Prorector unter Directur des Scholarchen vor allen Dingen daran sein, daß die alte sklavische Schuloratorie ausgemerzt, die Schüler mit Elaborationen, worab sie doch wenig oder nichts verstehen, nicht geplagt, sondern ihnen eine gesunde Beredsamkeit in ihrer eigentlichen Gestalt beigebracht werde." 20

Nachdem der traditionellen Rhetorik zuerst ihr "politischer" Nutzen bestritten wurde, gerät sie als allgemeines Bildungsgut unter Beschüß: Die Zeit betrachtet ihre Schüler nun als natürliche "ingenia", die vom rhetorischen Regelwerk zu "Pedanten" verstümmelt zu werden drohen. Um die Bestimmung der "gesunden Beredsamkeit in ihrer eigentlichen Gestalt" dreht sich in der Folge eine breite schulrhetorische und pädagogische Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine in seiner Vorbildfunktion für Fichte wichtige Rolle spielt dabei Herder. Zehn Jahre bevor der Abiturient Fichte seine Abschlußrede hielt, hatte Herder im "Journal meiner Reise im Jahr 1769"21 die Abdankung des alten humanistischen Ideals der "eruditio", der Gelehrsamkeit, und dessen Transformation in authentische Bildung gefordert. Herder skizziert in der genannten Schrift das Ideal einer Schule der Zukunft 16 Johann Riemer, Neu-aufgehender Stern-Redner, Leipzig 1689; zitiert nach: Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 86. 17 Zum frühaufklärerischen Konzept der "politischen Rhetorik" vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 142-190, Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 102-123, Gunter E. Grimm, Von der 'politischen Oratorie' zur 'philosophischen Redekunst', a.a.O. 18 Vgl. dazu Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 87. 19 Johann Christoph Gottsched, Vorübungen der lateinischen und deutschen Beredsamkeit zum Gebrauch der Gymnasien und höheren Schulen. 3. Auflage, Leipzig 1764. 20 Verordnung des Dortmunder Rats vom 31. Oktober 1748, zitiert nach Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 319. 21 Johann Gottfried Herder, "Journal meiner Reise im Jahr 1769", Herders sämmtliche Werke, herausgegeben von Bernhard Suphan, Band IV, Berlin 1878, p. 347. 68

und fordert die grundsätzliche Priorität der Sachhaltigkeit des Denkens vor der formalrhetorischen Gestaltung der Gedanken -"rem tene, verba sequentur", der alte rhetorische Leitsatz wird mit einer neuen pädagogischen Bedeutung erfüllt: die Schule soll die Wörter lehren, indem sie die Kenntnis der Sachen vermittelt, und nicht umgekehrt. Der sprachlich-literarische Unterricht soll dabei ganz im Zeichen der Muttersprache stehen: "... weg also das Latein, um an ihm Grammatik zu lernen; hierzu ist keine andere in der Welt als unsere Muttersprache." 22 Formalrhetorische Übungen ("sachenlose eckle Brieffe, Chrien, Perioden, Reden und Turbatverse machen" 23 ) erübrigen sich, denn die Ausbildung im sachgerechten Denken verspricht auch die Fähigkeit zur sachgerechten Darstellung zu vermitteln. Der Absolvent der Idealschule der Zukunft hat "alle Übungen der Schreibart, weil er alle der Denkart hat."24 Der Stil soll sich durchs Sprechen bilden: "Die ganze erste Klasse der Empfindungen ist Rhetorik, Rhetorik der Sprachenergie: dips lebendige Übung (...). So lernt man Stil aus dem Sprechen, nicht sprechen aus dem künstlichen Stil."

Herder entwirft so auch ein neues ästhetisches Bildungsideal: "Reichthum und Genauigkeit im Vortrage der Wahrheit: Lebhaftigkeit und Evidenz in Bildern und Geschichten und Gemälden: Stärke und unaufgedunsene Empfindung in Situationen der Menschheit."26 Wenn die aus Erlebnis und Empfindung genährte Darstellungsart beherrscht werde, dann könne auch die Lektüre und Diskussion der klassisch-römischen Vorbilder durchaus Nutzen bringen - aber auch hier sind die Alten nicht Vorbilder zur Nachahmung, sondern Quellen authentischer Empfindung: "Hier keine Nacheiferungen; es sei denn, wen die güldne Leier Apolls selbst weckt; aber viel Gefühl, Geschmack, Erklärung."27 Im Anschluß an die barocke und frühaufklärerische, "politisch" inspirierte Rhetorikkritik, die an der Tatsache Anstoß nahm, daß die tradierte artifizielle Rhetorik für die Beamten des absolutistischen Hofes und die bürgerlichen Kaufleute wenig praktischen Nutzen bot, wird der Rhetorik ab Mitte des 18. Jahrhunderts vorgeworfen, sie bilde nicht, lehre nicht denken und hemme ursprüngliches Erleben: aus einer toten Sprache könne kein Leben entstehen. Diese beiden Punkte, die praktisch-politische und die pädagogische Kritik, sind, wie sich zeigen wird, in Fichtes Auseinandersetzung mit der Schulrhetorik allgegenwärtig.28 Der dritte Punkt der Kritik am Korpus tradierter Rhetorik, nämlich daß ihr Regelwerk nicht geeignet sei, über das Schöne zu urteilen und zur Produktion desselben anzuleiten, war im Kontext der deutschen Rezeption der "Querelle des Anciens et des Moder-

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a.a.O., p. 388. ebd., p. 390. ebd., p. 389f. ebd., p. 389. ebd., p. 390. ebd., p. 397. Besonders im "Plan anzustellender Redeübungen", vgl. unten p. U l f . 69

nes" aufgetreten. Diese Diskussion bildet den unmittelbaren Rahmen von Fichtes Valediktionsrede. "De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu" In der Valediktionsrede steht damit vorerst das klassische Korpus in seiner Gültigkeit als Stillehre, als produktionsästhetische Theorie, im Blick. Die formale und inhaltliche Wertabwägung der antiken und der modernen Autoren ist ein zentraler Gegenstand von Fichtes Rede. Daß die lateinische Rhetorikdogmatik eines Cicero und Quintilian auf die modernen ästhetischen Fragen keine Antworten mehr bietet, zeigt sich dabei in einem symptomatischen Detail: Es taucht in Fichtes Rede ein einziges deutsches Wort auf, das Wort "Geschmack". Dafür konnte er keinen adäquaten lateinischen Terminus finden 29 - für die Probleme, vor welche die moderne Geschmackskategorie Ciceros und Quintilians ästhetische Normen stellt, versucht Fichte in seiner Rede eine Lösung zu finden. Dieser Versuch gipfelt in der Konstruktion eines Geschmacksbegriffs, in welchem sich unschwer die traditionell-rhetorische Kategorie des "iudicium" wiedererkennen läßt. Fichte empfindet den Verlust der normativen Geltung der tradierten Schulrhetorik als Maßstab literarischer Kritik im Zeitalter der Geschmacks und der Empfindung, im Zeitalter eines neuen philosophisch-ästhetischen Bildungsideals, welches im Begriff steht, das literarisch-humanistische zu verdrängen. Während indessen Kant und Hegel die alte Rhetorik im Namen einer neuen philosophischen Ästhetik und im Namen der unbeschränkten Selbstdurchsetzungsfähigkeit der Vernunft verwerfen, geht Fichte einen anderen Weg. Die frühen Schriften zur Schulrhetorik zeigen, daß es Fichte um eine Erneuerung der Rhetorik zu tun ist: Eine Erneuerung, die die tradierte Rhetorik durch Integration Rousseauscher Erziehungsideale einerseits, genie- und geschmacksästhetischer Kunstideale andererseits, zum Medium philosophischer und politischer Pädagogik machen soll. Nach einer umständlichen und umfassenden Begrüßung des Auditoriums und einer schulgerechten captatio benevolentiae - Fichte erbittet ob seiner Jugend "gütige Nachsicht"30 für die Mängel seiner Ausführungen - dankt der Redner dem Rektor der Schulpforta, Johann Gottfried Geisler, für den erhaltenen anregenden Unterricht in der Beredsamkeit und merkt an, ebendieser Unterricht habe ihn schon anderweitig veranlaßt, das gewählte Thema "nach allen Seiten" zu untersuchen. 31

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Zur spezifischen Modernität der Geschmackskategorie vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, a.a.O., p. 2f. Baeumler hat gewiß recht, was die Tatsache anbetrifft, daß die Antike sich nicht mit dem individuellen Geschmack auseinandersetzte, er verkennt jedoch die Tatsache, auf der gerade Fichte aufbaut, daß nämlich in der antiken Rhetorik eine wirkungsästhetische Theorie kollektiver ästhetischer Urteile angelegt ist. FF, p. 32. Runze verweist an dieser Stelle auf "zahlreiche Vorstudien dieser Art", welche sich in Fichtes Nachlaß befinden sollen. Die Existenz solcher Aufzeichnungen wird jedoch von den Herausgebern der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften bestritten, vgl. GA, p. 3.

Der inhaltliche Aufbau der Rede stellt sich wie folgt dar: Zuerst setzt sich Fichte mit der "allgemeinen Natur"32 der zur Diskussion stehenden rhetorischen und poetologischen Regeln auseinander. Gemeint ist damit vor allem deren Geltungsanspruch ("liceat mihi ... istarum natura, veritate, et auctoritate disserere"). In einem zweiten Schritt, äussert er sich zur Diskussion über den Ursprung der Regeln, während der abschließende dritte Teil der idealen Methode ihrer pädagogischen Vermittlung gewidmet ist. Fichte beginnt mit einer Bestimmung des gemeinsamen Ziels von Rhetorik und Dichtkunst. Da es der Zweck der dichterischen und rednerischen Regeln sei, "der Menschen Gemüter zu lehren, zu rühren, zu erfreuen" - die klassische Trias von docere, movere und delectare -, setze die Beherrschung der Regeln die "erschöpfendste Kenntnis des menschlichen Gesamtgemütes" (humani animi naturae) voraus. 33 Wie nun ein und dieselbe Natur allen Menschen gemeinsam sei (omnium hominum est natura) 34 , so müßten auch allgemeine Regeln existieren, welche aus der "Naturanlage aller Völker hervorgegangen sind".35 Die Einheit der Menschennatur soll die Universalität poetologischer Normen sichern. Gegenüber diesem Universalismus wird andererseits das Prinzip der Historizität und der kulturellen Relativität geltend gemacht: aufgrund der Verschiedenartigkeit "der Meinungen, der Zeiten, der Sitten und des Himmels" könnten nicht bei allen Völkern dieselben Regeln zur Anwendung kommen, so daß nicht überall und zu jeder Zeit "auf gleiche Weise dem Redner seine Rede fließt".36 Besonders dieser Punkt findet Fichtes Interesse, und zahlreiche Beispiele führen vor, wie Dichter oder Redner durch den Gebrauch obsoleter historischer Formen ihre Ziele zu verfehlen riskieren. 37 Einzig das Wissen um die Grenzen der natürlichen Gemeinsamkeiten und um die Vielfalt der kulturellen und historischen Unterschiede zwischen den Menschen könne vor derartigen Fehlgriffen bewahren. Wie das angeführte Beispiel einer tradierten, aber neuzeitlich sinnentleerten Formel - der homerische Exordialtopos der "invocatio", der Anrufung der Musen - zeigt, gilt Fichtes Kritik insbesondere dem Klassizismus in der Dichtung seiner Zeit; die Valediktionsrede ist auch ein später Beitrag zur deutschen Rezeption der "Querelle des Anciens et des Modernes".

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GA, p. 6. FF, p. 33. Die Ableitung normativer Geschmacksprinzipien aus einer objektiven "common nature" findet sich zuerst bei David Hume. The philosophical works of David Hume. Boston/Edinburgh 1854, Band 3. FF, p. 34. a.a.O. "... so muß es jedoch jedem sonnenklar sein, sich vorzusehen, um nicht mit seinem Urteil in der Nachahmung der Alten gefangen zu bleiben, damit er nicht jenes, was zu deren Sitten paßt, mit den unseren vermenge." ebd., p. 34. 71

Die Regeldiskussion in der deutschen Rezeption der Querelle - Die Vorbilder Geliert und Herder Die Frage nach der Geltung der antiken poetologischen und rhetorischen Normen stellt sich im deutschen Sprachraum zuerst im Rahmen der Rezeption der französischen und englischen "Querelle des anciens et des modernes".38 Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hatten die aus der Autorität der Antike abgeleiteten sogenannten "Kunstregeln" zur Verfertigung poetischer und oratorischer Werke ihre normative Geltungskraft behalten. Zwar war bereits in der italienischen Spätrenaissance und im frühen Barockzeitalter mit der Autorität der Antike auch der Anspruch der Regeln strittig geworden; im Zusammenhang der französischen "Querelle des anciens et des modernes" jedoch hatte man keine ernsthaften Zweifel an ihrem Nutzen geäussert. Eine wichtige Rolle spielt im Zusammenhang der Regeldiskussion des 18. Jahrhunderts die Einschätzung Homers, was auch bei Fichte deutlich wird. Am Beispiel Homers zeigt sich, daß es sich nicht einfach so verhält, daß die Partei der Modernen die Regeln ablehnen würde, während die Antiqui an diesen festhalten wollen: Homer kann auch als Beleg für die Möglichkeit progressiven Fortschritts, der sich eben gerade der Regelkenntnis verdankt, in Anspruch genommen werden: hätte Homer die Regeln gekannt, heißt es dann, dann hätte er besser geschrieben, so wie die Modernen besser schreiben, weil sie sich auf eine vertiefte Kenntnis und auf ein durch eine längere Traditionsgeschichte verfeinertes Regelwerk abstützen können. "Die Exempel der Alten machen nicht allezeit eine Regel, und man darf ihre Vorschriften nicht immer als Gesetze der Vollkommenheit ansehen"; so lautete die homerkritische These einer Dissertation von Johann Georg Bock, erschienen im Jahr 1734. Ein anonymer Autor einer Rezension dieser Arbeit in den "Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit" hatte gegen Bocks These genau den von Fichte auch noch diskutierten Punkt der homerischen "invocatio" ins Feld geführt, und zwar mit der schlichten Behauptung, "daß ein Heldengedicht, in welchem die Regel der Alten wegen dieses Stücks beachtet worden, vollkommener sey, als wo man sie verachtet hat."39 Was sich hier artikuliert, ist der Konflikt, den der Ansatz zu einer Historisierung der Regeln hervorruft: die neue Auffassung geht von einer fortschreitenden Perfektionierung des Regelkorpus aus; die alte beharrt auf der ahistorischen Singularität der klassischen Vorbilder. Eine radikale Absage an die Regeltradition artikulierte sich anschei-

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Vgl. dazu Thomas Pago, Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1989; Hans Robert Jauss, Artikel "Antiqui/moderni" in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 1, p. 410-414; Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem, a.a.O.; Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990; Armand Nivelle, Kunstund Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin/New York, 1971. Die Ausführungen in diesem Abschnitt stützen sich wesentlich auf diese Darstellungen. Anonymus, Rezension zu J.G. Bock "De pulchritudine carminum", in: Critische Beiträge, 10. Stück, Leipzig 1734, zitiert nach: Thomas Pago, Gottsched, a.a.O., p. 89.

nend in Deutschland zuerst in bezug auf die dramatischen Regeln, besonders die drei Einheiten, die Aristoteles gefordert hatte. Auch in diesem Rahmen erhebt sich der Anspruch, aufgrund erweiterter Kenntisse die Regeln perfektionieren und adaptieren zu können: Der Regelkanon soll nicht verworfen, sondern ausgebaut und an die Erfordernisse der neuesten Dichtung angepaßt werden. Man sieht hier auch, daß in der Diskussion des 18. Jahrhunderts die disparatesten Inhalte der antiken Rhetorik und Poetik als "Regeln" bezeichnet werden; "Regeln" sind ganz offensichtlich auch für Fichte nicht bloß die formal-technischen Forderungen expliziter poetologischer und rhetorischer Anweisungsästhetik (Aristoteles, Horaz, Quintilian), sondern ebensogut die als Norm betrachteten klassischen Vorbilder in bezug auf ihren Inhalt. Ja, der Ausdruck die "Regeln" kann zuweilen insgesamt für den ganzen Komplex der antiken Literatur und der sich an der Antike orientierenden gelehrten Dichtung des Barock stehen. Ein zentraler Topos der frühaufklärerischen Diskussion ist der Hinweis auf die Komplementarität von Naturnachahmung und Regelkenntnis. Die sich daran anschließende Frage nach dem Verhältnis von Regelbeherrschung und individueller Begabung wird beantwortet mit der Forderung, die Regelkenntnis habe das Talent zu Vervollkommnung zu bringen, die Kunst müsse das "Naturell erst recht polieren".40 Eine Kontrastierung von individueller Begabung und normativ gesetzten Regeln, ein Geltendmachen individueller Willkür und regelloser Kreativität gegenüber dem Zwang des Regelkorsetts, ist dagegen bis Mitte des Jahrhunderts nicht nachzuweisen.41 Der Ansatz zu einer solchen Integration der Regeldiskussion in die Geniediskussion findet sich in einer Schrift von Geliert, die offensichtlich das unmittelbare Vorbild von Fichtes Valediktionsrede darstellt: "Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke".42 Geliert bestreitet darin nicht die Geltung der Regeln; er leitet sie aber anscheinend als erster Autor in Deutschland nicht mehr aus der Autorität der Klassiker der poetischen und rhetorischen Theorie, Aristoteles und Horaz, ab, sondern er erblickt in ihnen "Vorschriften der gesunden Vernunft, die sich auf die Natur der Sache und auf die Erfahrung gründen." 43 Erstmals innerhalb der Regeldiskussion kommt damit ein Konflikt in den gegenseitigen Ansprüchen von individuellem Schöpfertum und präskriptiver Reglementierung zum Ausdruck, indem die gesunde Vernunft des ästhetischen Selbstdenkers zu Erkenntnissen gelangen kann, welche "den Regeln", d.h. den Vorbildern widersprechen. Die Geltung der Regeln wird aber von 40

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Anonymus, Anleitung zur Poesie/darinnen ihr Ursprung/Wachsthum/Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird, Breslau 1725, zitiert nach: Thomas Pago, Gottsched, a.a.O., p. 91. Vgl. a.a.O., p. 90. Christian Fürchtegott Geliert, Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Poesie und Beredsamkeit erstrecke. Eine Rede bey dem Beschlüsse der öffentlichen rhetorischen Vorlesungen gehalten. C. F. Gellerts sämmtliche Schriften, Siebenter Theil, Reuttiingen, bey Joh. Georg Fleischhauer, 1786, p. 154186. Fichte erwähnt Gellerts Schrift am Schluß seiner Rede mit der weitgehend zutreffenden Versicherung, lediglich die Themenstellung sei identisch, den Vorwurf, ein Plagiator Gellerts zu sein, habe er nicht zu fürchten. Vgl. GA, p. 28. a.a.O., p. 155. 73

Geliert nicht preisgegeben. Das dichterische ingenium solle vielmehr "wie ein muthiges Pferd" durch den Zügel der Regeln gelenkt und regiert werden. 44 Dennoch wird der Gedanke des möglichen Konflikts beibehalten, und die Regeln werden von der hinreichenden zur notwendigen Bedingung produktiven Dichtertums degradiert: "Die Regeln geben uns das Vermögen der Beredsamkeit und Poesie nicht; sie sagen nur. wie wir es anwenden sollen. (...) Unglücklicher Gedanke, wer nach Regeln schreibt, der ist ein Poet."

Nur kurze Zeit später zersetzt Herder die Geltung der Regeln durch ihre völlige Historisierung. Seine Isolierung geographisch wie historisch selbständiger und voneinander unabhängiger literarischer Epochen reduziert die griechisch-römischen Normen zur zufälligen historischen Satzung. Modifiziert wird diese radikale These insofern, als auch die parallele Existenz unveränderlicher, aus der allgemeinen Natur des Menschen ableitbarer Regeln postuliert wird. Diese Abgrenzung bleibt jedoch bei Herder problematisch46, Fichte versucht dafür eine Lösung zu geben. Herders Ansatz bereitet der Auflösung fester Normen und damit der Genieästhetik den Boden. Fichte sieht die Konsequenz aus Gellerts und Herders Neubewertung der antiken Regelpoetik und rhetorik, und er versucht zu vermitteln: einerseits soll der Sturm und Drang-Ästhetik zu ihrem Recht zu verholfen werden, andererseits soll die Geltung der klassischen Poetik und Rhetorik gewahrt bleiben. Historisierung des Kanons Fichtes Begründung der Relativität der Kunstregeln stützt sich auf die fundamentale Kategorie der antiken Rhetorik, den Begriff des äußeren "aptum" (to prepon). Dies ist kein Zufall, denn in der Forderung nach Berücksichtigung des äußeren aptum ist bereits bei Cicero und Quintilian das Bewußtsein von der Historizität und Relativität rhetorisch-poetologischer Normen angelegt. Fichte führt treu gemäß den Autoritäten aus, daß die Überzeugungskraft jeder Rede die Berücksichtigung der jeweiligen "unter uns gebräuchlichen Lebensweise in Maßgabe der Ansichten, wie wir sie von zartester Kindheit an eingesogen haben" 47 voraussetzt. Die klassischen rhetorischen Theoreme von der Zeit- und Ortsgebundenheit, der Abhängigkeit von Alter und sozialem Rang des Publikums der jeweils überzeugenden "endoxa", der ganze thematische Komplex des äußeren "aptum" rechtfertigt hier die Notwendigkeit eines spezifisch modernen Stils in der Literatur und begründet die Kritik der gedankenlosen Nachahmung klassischer Vorbilder und Muster. Den Nachweis der Relativität sämtlicher kulturell vermittelter rhetorischer Regeln und damit der Historizität des "aptum" überträgt Fichte einer ihrerseits historischen

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ebd., p. 161. ebd., p. 163. Fichte übernimmt diese Einschätzung Gellerts vom bloß kritischen Wert der Regeln. Vgl. dazu Klaus R. Schepe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, p. 237. FF, p.43.

Argumentation. Er vollzieht sich im Rahmen einer flüchtigen kulturgeschichtlichen Skizze der für das vorgenommene Beispiel - warum ist ein düsterer Kraftprotz wie Achill kein zeitgemäßer Held mehr? - relevanten Unterschiede zwischen Römern, Griechen, mittelalterlichen und neuzeitlichen Europäern. Motor der Entwicklung von naturnaher Wildheit zu dekadenter Erschlaffung ist für Fichte die Entwicklung der technischen Instrumente der Kriegsführung. Das archaische Prinzip der rohen Gewalt wird im Prozeß der progressiven Technisierung der Mittel zur Behauptung politischer Macht von der Gewalt des Geistes und des Wortes abgelöst. 48 Solange die Kriegstechnik dies nötig macht, bleibt die körperliche Kraft in sozialen Ehren und kommt anlässlich Olympischer Spiele, im Zirkus oder in Ritterturnieren zu ihrem Recht. Die endgültige Zäsur markiert für Fichte die Erfindung des Schießpulvers: Sie entwertet die körperliche Kraft der Soldaten definitiv, der Sieg hängt nunmehr einzig vom "weisen Plan" des Feldherrn ab, und fortan wird kein Mensch mehr für seine physische Kraft gelobt und geehrt. 49 - Es gibt keinen Achill mit Schießpulver und Blei.50 Das historische Exempel erfüllt zwei Funktionen: Zum einen ist es genereller Beleg für die zeit- und ortsabhängige Relativität gesellschaftlicher Wertschätzung; es ist zum andern aber auch ein Beispiel, in dem die Rhetorik selbst vorkommt und in dem sie in ihrer durch die historische Entwicklung gerechtfertigten Wichtigkeit bestätigt wird. Fichte variiert dabei eine antike Vorstellung zum Themenkomplex Rhetorik und Gewalt. Nicht erst anschließend an die Entwertung der rohen Gewalt zum Zuge gekommen zu sein, sondern kraft ihrer Kunst die Gewalt überwunden zu haben, war der Stolz der antiken Rhetorik. Diesen Stolz bringt Ciceros Mythos über die Entstehung der Kultur zum Ausdruck. Durch die rhetorische Persuasionsleistung eines weisen Mannes seien die Menschen überredet worden, aus dem Naturzustand roher physischer Gewalt in den Stand der Zivilisation überzutreten. 51 Fichtes Modell der Historisierung der Regeln hat sein Vorbild höchstwahrscheinlich in Herders Abhandlung "Über die Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei verschie48

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"Danach zogen nun auch die Vornehmen und die hervorragenden Männer, nachdem sie, mit besonderem geistigen Scharfblick begabt, gesehen hatten, daß die größten Ehren den durch Bildung gescheiten Männern zuerkannt werden, es vor, lieber durch diesen Ruhm als durch Körperkraft, durch welche sie, wie sie einsahen, immer noch von den Wilden überwunden würden, vor den anderen sich auszuzeichnen - und zumal erkannten sie, daß eine ganz besonders wichtige dieser Künste bestehe in der Ausübung der Staatsregierung und ebenfalls des Gemeinwesens." FF, p. 38. "Hiermit nun und dadurch, daß das Studium der Wissenschaften (litterarum) größere Ausbildung erreichte, ist es geschehen, daß eine Verfeinerung und gewisse Verzärtelung der Sitten eintrat, so daß man es erleben kann, wie eine große Anzahl für das Studium der Schönen Künste (artium liberalium), für die verfeinerten Sitten (elegantiam morum) und für den Wert der Gestaltung der Rede (formae oris commendationem), niemand für körperliche Stärke gelobt wird." GA, p.9, Ubers. T.B. Ganz ähnlich bekanntlich bei Karl Marx: "Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen [Mythologie] zugrunde liegt, möglich mit Seifaktors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen. (...) Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei?" Karl Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Oekonomie von 1857, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke in 39 Bänden, Berlin 1963 ff. Bd. 13, p. 640 f. Vgl. Cie., de inv., I, 2.; vgl. dazu auch Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, a.a.O., p. llf. 75

denen Völkern, da er geblühet" von 1775.52 Herder hatte in seiner preisgekrönten Schrift die politisch-gesellschaftliche Entwicklung mit der Entwicklung des Geschmacks in Beziehung gesetzt und den Geschmackswandel als Ausdruck gewandelter politischer und sozialer Verhältnisse interpretiert. Für Fichte ist diese Erkenntnis in vorliegendem Zusammenhang vor allem deshalb von Interesse, weil sie ihm als Maßstab der Dichterkritik dienen kann: In der Folge appliziert Fichte nämlich die Erkenntnis der Historizität des aptum auf verschiedene Fälle und taxiert danach eine Reihe von Autoren. Der archaisierende Vergil handelt sich Tadel ein, der Zeitgenosse Wieland dagegen wird gelobt, da er in seiner "Geschichte des Cyrus"53 einen vom "Xenophantischen Salz Somatischer Auffassung durchtränkten" Helden schildere, der dadurch in seinem Wesen in die Nähe des modernen Lesers rücke, damit diesen folglich auch fesseln und belehren könne. 54 Eingeschlossen in die Kritik werden nicht nur die Nachahmer der klassischen Antike, sondern ebenfalls "Bardorum quidam imitatores", gewisse Nachahmer der Barden, und alle diejenigen, welche ihre Gesänge mit biblischen Motiven ausschmücken. Die tradierten Muster, so Fichtes. Lösung, müssen vom Dichter und Redner auf ihre Eignung zur Darstellung zeitgenössischer Stoffe geprüft und zu diesem Zweck allenfalls angepaßt werden. Was außer Diskussion steht, ist indessen die völlige Abkehr von der Tradition: "Toti ab imitatione pendemus, non quidem, quod ingenia nostra veterum ingeniis cédant, vel quod veteres omnes pulcrae fontes exsicaverint (...) nec quisquam nisi rivulos suos nobis relinquerint: sed quod quaedam a majoribus accepta ita anìmis nostris inhaeserunt, a quibus nullo modo avelli possumus et ad quae omnia alia examinamus."

Der Zusammenhang zwischen Antike und neuer Zeit, damit der Geltungsgrund überhistorischer Normen, besteht für Fichte vermittels der literarischen "accepta"; diese ästhetischen "endoxa" bilden die Fixpunkte der poetischen Produktionsästhetik. Es ist evident, daß der rhetoriktheoretische Gedanke des den Persuasionserfolg sichernden Rekurses auf in ihrer Geltungskraft unbestrittene Regeln gesellschaftlicher Urteilskraft hier von Fichte schlicht in die Sphäre der Ästhetik transferiert wird.

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Johann Gottfried Herder, "Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei verschiedenen Völkern, da er geblühet", Herders sämmtliche Werke, herausgegeben von Bernhard Suphan, Band V, Berlin 1891, p. 595-656. Christoph Martin Wieland, Cyrus. Fünf Gesänge, unvollendet. Zürich 1759. FF, p. 42. Dies war Gellerts Erklärung für die Vorzüge der antiken Autoren gewesen: Sie hätten die Naturschönheit schon zur Erschöpfung künstlerisch ausgebeutet, so daß den Modernen nur Nachahmung ihrer Vorbilder bleibe. "Wir hängen insgesamt von der Nachahmung ab, nicht zwar, weil unsere Talente hinter denen der Alten zurückständen (...), sondern weil gewisse von den Vorfahren überkommene literarische Werte so stark im Innern der Gemüter haften geblieben sind, von denen wir unter keinen Umständen gewaltsam losgerissen werden können, und in Gemäßheit derer wir alle andern der Schätzung unterziehen." FF, p. 52.

Der Ursprung der Regeln Auf die Historisierung der poetologisch-rhetorischen Normen folgen Fichtes Erwägungen zur Frage des Ursprungs der Regeln der Dichtkunst und der Beredsamkeit, der Frage, ob die Regeln ex post aus den mustergültigen Werken abstrahiert wurden oder ob sie bekannt sein mußten, damit mustergültige Werke überhaupt erst entstehen konnten. Quintilian hatte die vorherrschende Auffassung formuliert, der Ursprung der Redegabe liege in der Natur. Die Brauchbarkeit (utilitas) habe zur Entwicklung dieser Gabe mittels Vernunft (ratio) und Uebung (exercitatio) geführt. 57 Fichte konfrontiert Quintilians Meinung mit Gellerts 58 Ansicht, daß zumindest im Kopf der ersten Dichter die Regeln vorhanden sein mußten, ansonsten ein exemplarisches Werk gar nicht erst hätte entstehen können. Fichte hebt den Widerspruch zwischen den Autoritäten auf, indem er eine Äquivokation als dessen Ursprung identifiziert. Quintilian und Geliert verstehen nicht dasselbe unter "Regel": Ersterer hat recht, insofern keine "in die Form der Kunst" überführten Regeln bestehen mußten, bevor die ersten Dichter ihre Werke schaffen konnten; Geliert hat recht, insofern der Ausdruck 'die Regel' nicht nur die von der Disziplin vorgeschriebenen und in die Form der Kunst überführten Regeln, sondern jede "Norm und Richtschnur (normam et canonem), "welcher gemäß wir das unsere lenken, sei es in der Literatur, sei es im Geist, bezeichnet."59 Fichtes Lösung des Problems des Ursprungs operiert mit beiden Regelbegriffen komplementär und setzt sie in eine genetische Beziehung: Bereits Homer - als der ursprüngliche Dichter schlechthin - müsse über Vorbilder verfügt haben, selbst wenn von deren Werken nichts überliefert sei.60 Aus den Werken anonymer Vorgänger habe Homer durch intuitive, unreflektierte Befolgung der darin zum Ausdruck gelangenden natürlichen Regeln, kombiniert mit eifriger Beobachtung der Menschen, die Prinzipien seiner Dichtung gewonnen. Erst im Nachhinein hätten dann "weise Männer" wie Aristoteles, durch Besinnung auf das den Einzelfällen zugrunde liegende gemeinsame Allgemeine, die Regeln "in die Kunstform gebracht". 61 Die unreflektierte Traditionsaneignung durch einen Dichter und das Schaffen eines Werks aufgrund der bewußten

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"Den Anfang der Rede lieferte also die Natur, den Anfang der Kunst die Erfahrung. Denn wie in der Heilkunst die Menschen, wenn sie manche Dinge als gesund, andere ab ungesund erkannten, aus deren Beobachtung eine Kunst machten, so merkten sie sich, wenn sie beim Reden manche Dinge als nützlich, andere als unnütz erfuhren, diese, um sie wieder zu gebrauchen oder zu meiden, und fügten auch manches aus Verstandeserwägungen hinzu." Quint., 111,2,3, a.a.O., p. 289. "Man kann also mit Quintilian sicher sagen, daß die Werke der prosaischen und poetischen Beredsamkeit älter sind, als die Regeln dieser Künste, und daß sie, in ihrer Form betrachtet, nur Anleitungen sind, die man aus Meisterstücken gezogen hat. Aber man kann auch von einer anderen Seite behaupten, daß die Regeln älter sind, als die Meisterstücke. Sie waren in dem Geiste großer Männer zugegen, ehe sie redeten und dichteten, wie würden wir sie sonst in ihren Arbeiten antreffen können?" C.F. Geliert, Wie weit sich der Nutzen der Regeln..., a.a.O., p. 164. FF, p. 54., GA, p. 17. Als Begründung dienen Fichte hier die Beobachtungen von Forschungsreisenden, die selbst bei den unkultiviertesten Völkern Frühformen der Poesie gefunden hätten. FF, p. 54. FF, p. 54. 77

Kenntnis expliziter Regeln glaubt Fichte nun deswegen gleichsetzen zu können, weil in beiden ein Urteil immer schon vorhanden sei. Das eine Urteil beziehe sich auf eine natürliche Regel, das andere auf eine Kunstregel. - Quintilian hat also recht, insofern der erste Dichter keine Kunstregeln nötig hatte, Geliert hat recht, insofern er natürliche Regeln befolgen mußte. Dasselbe Muster erklärt dann auch die Geschichte der Rhetorik: Als die Menschen gemerkt hätten, daß manche unter ihnen ihrer Rede größere Überzeugungskraft zu verleihen vermochten als andere, hätten sie versucht, durch "geniale Findigkeit" (proprium ingenium) und durch Erfahrung herauszufinden, wie man es anstellt "in dieser Sache sich hervorzutun".62 Durch mündliche Überlieferung, begründet in der Nachahmung des Vorbilds erfolgreicher Redner, seien so die Rednerschulen entstanden. Schließlich hätten Perikles und andere "durch diese Kunstfertigkeiten und mit eigenem Genie ausgerüstet"63 (his artificiis et proprio ingenio instructum 64 ) den Gipfel der Redekunst erklommen. Zuallerletzt erst seien dann aus den Reden des Perikles und anderer musterhafter Redner die Regeln "zusammengeflickt" (consarcinata) worden. 65 Rhetorische Pädagogik Da das Postulat naturgegebener Regeln die Bemühungen sämtlicher Lehrer der Rhetorik zu kompromittieren droht - und vor solchen spricht Fichte ja unter anderem auch -, sieht er sich zur Diskussion der Frage gezwungen, ob die Regeln, welche die Gesetze beschreiben, nach denen die Gemüter der Menschen bewegt werden können, von Natur eingepflanzt und angeboren seien (a natura nobis insita atque innatae) oder ob sie durch gewisse Lehrer und Übungen (doctoribus et exercitationibus) gelehrt werden müßten - und, wenn ja, wie dieser Unterricht auszusehen hätte. 66 Die Argumentation führt zunächst zwei Gründe an, weshalb es tatsächlich nötig sei, die gemäß der vorangehenden Behauptung im Grunde ja naturgegebenen Regeln zu lehren. Obschon die Keime der Affekte (affectuum semina 67 ) in allen Menschen dieselben seien und daher vom Dichter oder Redner auf dem Wege der Introspektion erfahren werden könne, welche Gemütsbewegungen durch welche sprachlichen Mittel provoziert werden, so könne doch kein Autor über alle Dinge "welche ihm in seinen Gedichten und Reden unumgänglich sind" aus eigener Erfahrung Bescheid wissen, weil eben nicht jeder Mensch alle die Erfahrungen mache und weil zudem keiner sich selbst so gut beobachten könne, daß sichergestellt werde, daß ihm keine Gemütsregung entgeht. Zweitens seien zwar die Keime der Affekte bei allen dieselben, aber die Affekte selber würden nicht in aller Menschen Gemüter auf dieselbe Weise erregt. Die Universalität der Regeln überschreitet also erstens die individuellen Erfahrungsmög62 63 64 65 66 67 78

a.a.O., p. 57, GA, p. 19. FF, p. 57. GA,p. 19. a.a.O. ebd.; Runze liest offenbar "doloribus" und übersetzt "geistige Schmerzen und Übungen"; FF, p. 57. GA,p. 19.

lichkeiten68, und zweitens macht die Transformation der "Keime der Affekte" in Affekte den Einsatz einer reflektierten Disziplin nötig. Indem so die Notwendigkeit der Vermittlung dargetan ist, stellt sich die Frage nach der Methode der poetisch-rhetorischen Pädagogik. Wie müssen die Regeln gelehrt werden, damit sie mit dem Geist eine - wie Runze übersetzt - "freundwillige Verbindung"69 (amicam conjunctionem) eingehen? Damit ist gemeint: wie werden die Regeln gelehrt, damit sie nicht in Opposition zum Geist (ingenium) geraten. 70 Um die Frage zu beantworten, kontrastiert Fichte zwei entgegengesetzte pädagogische Modelle. Das eine ist die klassische Methode der demonstrativen und diskursiven Vermittlung des Lehrstoffs durch vernünftige Erklärung, Vorlesung, Auswendiglernen und andere Übungen. Das andere, offensichtlich von der somatischen Hebammenkunst 71 und von Rousseaus Erziehungsidealen 72 inspirierte Prinzip wirkt darauf hin, daß der Geist "durch gewisse Ursachen soweit zum Ziele geführt wird, als er aus sich selbst heraus jene Gesetze entdeckt zu haben sich bewußt ist" (quibusdam rebus eo perducatur, ut ipse per se ea praeceptas invenisse videatur). 73 Ganz im Sinne der "pädagogischen Aufklärungssokratik"74 schildert Fichte den Fall eines Kindes, dem der Begriff von der Notwendigkeit der Existenz eines höchsten Wesens vermittelt werden soll: während alle vernünftig-metaphysischen Explikationen versagten, könne der Hinweis auf Beispiele in der Natur, die von besagter Existenz zeugen, ein Kind dazu bringen, sich selbsttätig einen Begriff von Gott zu bilden. Erst recht gilt die Nutzlosigkeit der traditionell-demonstrativen Didaktik für die Kunst: Im produktiven Gebrauch sei sie für den großen Geist nutzlos, da dieser rasch merke, wie leicht er sich über die Regeln hinwegsetzen und seinem ingenium allein vertrauen könne. Geringere Geister würden dagegen durch schlecht vermittelte Regeln 68 69 70

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FF, p. 58. a.a.O. Es zeichnet sich hier bereits Fichtes ästhetischer Begriff von "Geist" ab. Dieser wird 1794 im Aufsatz "Über Geist und Buchstab in der Philosophie" definiert als "produktive Einbildungskraft", "freies Schöpfungsvermögen im Gebiet des ästhetischen Triebs" (SW 8, p. 290); vgl. dazu unten, p. 108ff. Vgl. Piaton, Theaitet, 149c ff. Ob Fichte zu dieser Zeit den "Emile" gelesen hatte, steht nicht fest. Erwähnt wird in der Valediktionsrede Johann Georg Federers "Der neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen", 1768 erschienen (GA, p. 16). Da Rousseau selbst davon abgeraten hatte, schon bei Kindern mit der religiösen Erziehung zu beginnen, scheint das Beispiel eher darauf hinzudeuten, daß Fichte den "Emile" noch nicht kannte. Wenig glaubwürdig erscheint indes Fichtes Erstaunen darüber, daß anscheinend niemand in der Welt von den von ihm geschilderten Erziehungsgrundsätzen etwas wisse (GA, p. 21). Zum Einfluß Rousseaus auf den jungen Fichte vgl. Reiner Preul, Reflexion und Gefühl. Die Theologie Fichtes in seiner vorkantischen Zeit, Berlin 1969, p. 28f. FF, p. 64., GA p. 23. "Die Didaktik dieser Zeit [der zweiten Hälfte des 18. Jahrunderts] vor allem die kirchliche Katechetik (der Protestanten aber auch der Katholiken) griff auf die sokratisch-platonische Hebammenkunst zurück und deutete sie im Sinne der Vernunftideale der Aufklärung. Der Schüler solle sich nicht überlieferte Stoffe rein gedächtnismäßig einprägen, sondern der Lehrer solle durch geschickte Führung eines Unterrichtsgesprächs den Schüler veranlassen, die religiösen Wahrheiten selbst zu finden." H. Meinhardt, Artikel "Maieutik", in: Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 5, p. 638. 79

zum Epigonentum und zur Pedanterie angeleitet. Im kritischen Gebrauch führe ein solches äusserliches Regelwissen zu fruchtlosen Querelen zwischen den Machthabern der "Literarischen Republik", indem die einen die bloße Regellosigkeit als Genialität vergötterten, die andern hingegen in schulfuchserischer Borniertheit literarische Werke einzig nach dem Kriterium der schulgerechten Regelapplikation zu beurteilen vermöchten. Damit beschreibt Fichte ganz offenbar die Situation, vor welche er selbst sich gestellt sieht. Wie die maieutische Methode praktisch zu verwirklichen sei, bleibt vage. Anleitung zur Selbstbeobachtung, zur Beobachtung der Mitmenschen sowie "Lektüre des Geschichtlichen" 75 und der klassischen Vorbilder werden als die Wege genannt, die den Schüler die natürlichen rednerischen und dichterischen Regeln selbsttätig entdecken lassen sollen. Dadurch werde aber weit mehr vermittelt als blosse historische Kenntnisse in einem Schulfach: So werde Bildung erzielt, und zwar Bildung der Urteilskraft, was letztlich, so Fichte, nichts anderes heisse als Bildung des Geschmacks: "Facile apparet, eum qui his omnibus rebus ingenium suum subigerit, et, quod familiam ducit, omnia, quae didicerit, longe secum reputaverit, et ex perspectis alia non perspecta concluserit, ea omnia inter se comparant, et sub communia quaedam genera redegerit: eum praecepta artis addicisse. In ejus certe animum ita alte descendet cognitio praeceptorum, ut judicium boni pulcrique, den Geschmack (...) acquirat. Prqepepta enim ita cognita idem sunt, ut aperte tandem dicam, quod judicium (der Geschmack).'

Der Exkurs über Überzeugung Rhetorische Bildung ist also Bildung der Urteilskraft. Wie diese wirksam vermittelt werden kann, schildert Fichte in einem Exkurs zum Thema Überzeugung. Die von Fichte geforderte rhetorische Pädagogik beruht, wie sich darin zeigt, auf der pädagogischen Instrumentalisierung eines seinerseits klassisch-rhetorischen Persuasionsmodells. Die Originalität von Fichtes Beitrag zur Regeldiskussion besteht darin, daß er ein pädagogisches Moment in sie hineinträgt. Nicht ob die Regeln gelehrt werden, vielmehr wie sie gelehrt und gelernt werden, ist entscheidend. Zu diesem Zweck wird im Rahmen des Regelstreits eine Pädagogik entwickelt, welche im Grunde eine Theorie der Überzeugung darstellt. 77 Entscheidend dabei ist für Fichte - das wird deutlich im Beispiel des Kindes, dem ein Begriff von Gott vermittelt werden soll - zum Zustandekommen 75 76

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FF, p. 65. GA, p. 23. "Leicht ist es verständlich, daß der, welcher durch alle diese Dinge seinen Geist bildet und (...) alles, was er gelernt hat, lange bei sich erwogen hat, und aus dem klar Eingesehenen anderes noch nicht klar Durchschautes geschlossen, das alles nun verglichen und unter bestimmte gemeinsame Begriffe gebracht hat: daß eben dieser die Regeln der Kunst sich angeeignet hat. Sicher wird in dessen Seele die Kenntnis der Regeln so tief dringen, daß er sich das Urteil des Guten und Schönen (Geschmack) aneignet (...). Regeln sind daher, in der Bestimmtheit erkannt, dasselbe (...), was die Urteilskraft (der Geschmack)." FF, p. 66. Vgl. dazu Rainer Preul, Reflexion und Gefühl, a.a.O., p,12f. Aufgrund seines theologisch-pädagogischen Interesses übersieht Preul allerdings, daß Fichtes "Überzeugungstheorie in nuce" rhetorischer Herkunft ist.

von Überzeugung die Selbsttätigkeit des Geistes. Die Selbsttätigkeit versteht Fichte aber nun als eine scheinbare Selbsttätigkeit - das zu belehrende Subjekt soll via Induktion so geleitet werden, daß es selbst die von ihm erwartete Überzeugung oder Erkenntnis hervorgebracht zu haben glaubt. Es soll nicht merken, daß es belehrt worden ist. Dahinter steht nun nichts anderes als das pädagogisch verbrämte antike rhetorische Dissimulationsstrategem. Es besagt, der Redner müsse stets bemüht sein, seine Kunstfertigkeit zu verbergen, weil er andernfalls eine kritische Immunität gegenüber seinem Appell provoziere - "man fühlt die Absicht und ist verstimmt". Die antike Rhetorik geht davon aus, sie müsse, um ihre Ziele zu erreichen, ihre formalen technischen Maßnahmen hinter dem Inhalt der Rede verbergen, weil der Hörer durch die Aufmerksamkeit auf diese Maßnahmen gegenüber der angezielten Überzeugung indifferent zu werden drohe: "ars est artem celare", lautet die Formel, die diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. 78 Zur genaueren Klärung der Frage nach der Möglichkeit von Überzeugung fügt Fichte eine Reflexion an, welche sich der Selbstbeobachtung im Akt des ÜberzeugtWerdens verdanken soll: "Saepe enim mihi hoc accidit, ut, cum novae adhuc et inexpertae rei acutissimam et ad philosophicas rationes exactissimam demonstrationem audivissem aut legissem, veritatis viribus coactus illi assentirer, id est, quid illi opponerem, non haberem. Verumtamen vidi, earn necdum satis alte in animum descendisse, ut tarn certe mihi de ea persuasum foret, quam e.g. de axiomatibus Mathematicis mihi persuasum est, neque me ea commoveri, voluntatemque meam dirigi sensi."

Fichte konstruiert einen Dreischritt, der, wenn alle seine Stufen berücksichtigt sind, die vollkommene Überzeugung konstituiert: Auf die rationale Einsicht (nach dem Beispiel der Mathematik) folgt das Gefühl (commoverem) und auf dieses zuletzt die Handlungsbereitschaft des Willens (voluntatem dirigi). Dieses Überzeugungsmodell, das hier an einem religiös-pädagogischen Beispiel im Rahmen einer ästhetischen Diskussion entfaltet wird, bleibt grundlegend für alle späteren Versuche Fichtes, eine Theorie zu entwickeln, wie seine Leser und Hörer zu überzeugen seien, sei es in politischen, religiösen oder philosophischen Angelegenheiten. Wie hier, so ist es später in Fichtes Theorie der populären philosophischen Darstellung die Aufgabe des Erzieherphilosophen, durch Induktion zum spontanen Überzeugungsakt, welcher Verstand, Gefühl und Willen umgreift, zu leiten. Der Lehrer geht dabei (hinter)listig vor wie der antike Rhetor, dessen Stolz es ebenfalls war, anders als der logisch-deduktive Philosoph, nicht nur den Verstand, sondern 78 79

Quint., 111,2,4. GA, p. 21. O f t begegnet es mir nämlich, daß, wenn ich eine sehr scharfsinnige und, nach philosophischen Gründen bemessen, gewisseste Beweisführung über einen neuen und bis dahin unbekannten Gegenstand gehört und gelesen hatte, ich, durch die Gewalt der Wahrheit gezwungen, beistimmte, d.h. nicht wußte, was ich jenem einwenden sollte. Demohnerachtet habe ich gesehen, daß er noch nicht genügend tief in die Geistesanlagen hinabgestiegen ist, daß ich also gewiß hiervon überzeugt wäre, wie ich über die Axiome der Mathematik überzeugt bin, noch auch habe ich empfunden, daß ich dadurch erregt oder mein Wille geleitet würde." FF, p. 60/61. 81

auch Gefühl und Handlung der Menschen beeinflussen zu können. Das zu überzeugende Subjekt muß dazu im Glauben belassen werden, die Wahrheit des Inhalts der Überzeugung selbst entdeckt zu haben: "quibusdam rebus eo perducatur, ut ipse per se ea praecepta invenisse videatur."80 Grundlage dieser Möglichkeit ist eine Konsenstheorie, welche auf der Voraussetzung aufbaut, die rhetorisch-poetologischen Regeln kodifizierten lediglich eine universalanthropologische pathische Grundverfassung; "ex natura humani animi" beziehen sowohl der Redner als der Lehrer per Introspektion und Fremdbeobachtung das Wissen, welches die Regeln lediglich beschreibend in ästhetischer Persuasionsabsicht instrumentalisieren Wie der ciceronische Redner soll für Fichte der moderne Dichter, Pädagoge, Philosoph oder Politiker auf gemeinsame ästhetische, moralische und religiöse Gefühle bauen: "in omnium hominum animis eorundem affectuum semina inclusa jacent"; durch Übung und geschulte Urteilskraft wird deren fallweise relevante Modifikation qua soziale "accepta" erkannt, denn "non apud omnes eodem modo evolvuntur".81 Der Lehrer geht also vor wie ein Dichter, und der Dichter wie ein Lehrer - die Pointe von Fichtes rhetorikpädagogischem Modell besteht darin, daß durch dieselbe Methode, vermittels welcher der Dichter seine Leser rührt, diese dichterische Fähigkeit selbst erst pädagogisch vermittelt wird. Geschmack Mit der Identifizierung der adäquaten Regelbeherrschung mit dem Geschmack verläßt Fichte den Boden der ciceronisch-quintilianischen Tradition. Was anschließend erfolgt, ist eine Prüfung der Ansprüche traditioneller rhetorischer Bildung und rationalistischer Regelpoetik unter den Ansprüchen der modernen Begriffe von "Bildung", "Geschmack" und "Genie". Fichte weist sich dabei als Kenner der zeitgenössischen Diskussionen aus, und er versucht - darin besteht das persuasorische Ziel der Valediktionsrede -, einerseits den Forderungen der Sturm und Drang-Ästhetik im Rahmen des in der gegebenen Redesituation Möglichen bei seinen, die Klassik vertretenden, Lehrern Nachdruck zu verschaffen, und er versucht andererseits, die Inhalte der klassischen rhetorischpoetologischen Theorie dem modernen Literaturbegriff anzupassen. Cicero und Quintilian werden nicht verworfen, die "opiniones" der Klassiker müssen mit den modernen Forderungen in Übereinstimmung gebracht werden. "Geschmack" definiert Fichte als eine "Ausgleichung" und einen "gewissen Mittelweg zwischen allen Vermögen unseres Gemütes (...), darin gewinnen wir Geltung in bezug auf das Urteil des Guten und Schönen": Geschmack sei das "judicium boni pulcrique".82 Dieses judicium bestehe nicht, wie neuerdings behauptet werde, in einem "gewissen 80 GA.p.23. 81 GA, p. 7. 82 GA, p. 23. 82

Vermögen der Seele" (quandam animi nostri facultatem 83 ), nicht in einer facultas, sondern in einer qualitas. "... cum enim acqualitas et temperamentum quoddam inter omnes animi nostri facultates constitutum est: tune boni pulcrique judicio valemus."^

Fichte grenzt sich ab von einer Tradition der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, den Geschmack entweder als eine Eigenschaft eines bestimmten Seelenvermögens, als eine "Fertigkeit des Verstandes85", eine "Funktion des Verstandes"86, eine "disposino ad saporem"87 des Geistes, "ein inneres Gefühl der Seele"88 oder, wie später Kant, als das "Vermögen der ästhetischen Urteilskraft, allgemein zu wählen"89 zu betrachten; und noch weniger darf nach Fichte der Geschmack als ein eigenständiges Vermögen, etwa "das Vermögen, das Schöne anschauend zu erkennen"90, aufgefaßt werden. Indem Fichte die Versuche einer vermögenspsychologischen Fundierung des Geschmacks verwirft, folgt er ganz offensichtlich dem Vorbild Herders, welcher in der Abhandlung "Über die Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei verschiedenen Völkern, da er geblühet"91 zuerst die Auffassung vertreten hatte, Geschmack bestehe in einer bestimmten Ordnung urid Proportion aller Seelenkräfte und Vermögen: "Wie sich Geschmack und Genie feiner brechen mögen, so weiß jeder, daß Genie im allgemeinen eine Menge in- oder extensiv strebender Seelenkräfte sei. Geschmack ist Ordnung in dieser Menge, Proportion also und schöne Qualität jener Größe." 9 ^

In diesem Sinne, aber expliziter, interpretiert Fichte den Geschmack als Harmonie der drei Vermögen "Vernunft", "Affekte" und "Phantasie". Er leitet diese Bestimmung nicht theoretisch her, sondern er verifiziert sie induktiv und exemplarisch. Hermes, Sterne, Ariost, Young und andere Autoren werden kritisiert durch den Nachweis, daß ihre respektiven Fehler (vitia) immer darin bestünden, daß von den drei geschmacksrelevanten Vermögen entweder eines dominiere oder ein anderes völlig unterdrückt werde: es 83 84

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FF, p. 66; GA, p. 23. GA, p. 23; "... denn indem, daß Ausgleichung und ein gewisser Mittelweg zwischen allen Anlagen unseres Gemütes zugrunde gelegt ist: darin gewinnen wir Geltung in bezug auf das Urteil des Guten und Schönen." FF, p. 66. J.U. König, Untersuchung von dem Guten Geschmack als Anhang zu: Des Freiherrn von Caniz Gedichte (1729), zitiert nach: F. Schümmer, Artikel "Geschmack" in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 3, p. 451. J. Chr. Gottsched. Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730), III. Hauptstück, Vom guten Geschmack eines Poeten, zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. A.G. Baumgarten, Aesthetica (1750), Paragraph 29, zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., p. 452. Chr. F. Geliert, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767), zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., p. 452. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Paragraph 41, zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771) I, 462, zitiert nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. Werke, Band V, a.a.O., p. 595ff. a.a.O., p. 600. 83

ergibt sich daraus eine literarische Pathologie; die Symptome der drei Hauptübel sind Vernünftelei, Gefühlsseligkeit, Exzesse der Phantasie. Das Entscheidende an Fichtes Geschmacksbegriff wird aber nicht in dessen Definition zum Ausdruck gebracht, und es zeigt sich nicht direkt in der erklärten Verwendung des Begriffs. Wichtig ist nicht die Frage, ob "qualitas" oder "facultas", darin äussert sich lediglich eine sekundäre legitimierende Abstützung durch Rekurs auf eine gängige philosophische Terminologie. Individuell und originell an Fichtes Geschmacksbegriff ist etwas anderes: Der realisierte Geschmack, identisch mit den "Regeln in ihrer Bestimmtheit erkannt", basiert auf dem und beweist sich durch das Aufgehen eines zweckrationalen pragmatischen Kalküls. Die Geltung des Geschmacksurteils mißt sich für Fichte in keinem Moment an einer objektiven Wahrheit oder Schönheit, die qua Geschmack erkannt werden könnten. 93 Affekte, nämlich die affektive "common nature", garantiert durch die gemeinsamen "semina affectuum" der Menschheit, in Kombination mit der historisch-kulturell relativen affektiven Verfaßtheit eines Auditoriums oder literarischen Publikums, sind das Kriterium, anhand dessen über die Gültigkeit eines Geschmacksurteils entschieden wird. Der Geschmack des Redners oder Autors beweist sich in der Verwirklichung der intendierten Wirkungsabsicht, erreicht durch kluge Anpassung an Erwartungen und Bedürfnisse des Publikums. Fichtes Geschmacksbegriff zeigt sich so wesentlich nicht an den zeitgenössischen Theorien orientiert, sondern es handelt sich um das alte rhetorische "iudicium", welches die Mittel eines Redners in bezug auf ihre Intentionsadäquatheit überprüft. Beweist sich für die Rhetorik das iudicium in der Fähigkeit, überzeugen zu können, so beweist sich für Fichte der Geschmack in der Fähigkeit, vermöge der Kenntnis der die pathische Verfassung des Publikums kodifizierenden Regeln zu rühren, zu erfreuen, zu belehren. Genie Im unmittelbaren Anschluß an diese Bestimmung des Geschmacks kommt Fichte zum zentralen Punkt seiner Abhandlung, zur Beantwortung der Frage nämlich, wieviel die "Regel (Geschmack), wieviel Genie" 94 zu einem vorbildlichen Werk beisteuern. Geschmack versus Genie: die Formel bringt zwei zentrale Kategorien der Ästhetik des 18. Jahrhunderts in Verbindung, sie bildet vielleicht sogar das große Thema der kunstkritischen und ästhetischen Diskussionen der Zeit. 95 Betrachten wir kurz, wie sich die Frage für Fichte stellt: Geschmack ist bis hier die durch erweckenden Unterricht erworbene Kennntis der natürlichen ästhetischen und poetischen Regeln, identisch mit gebildeter Urteilskraft, was sich im Werk in einem

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Exemplarischer Vertreter dieser Auffassung, die bis zu Kants Problemen mit der Objektivität des Geschmacksurteils nachwirkt, ist Shaftesbury, der den Geschmack zum Medium subjektiver Erfahrung objektiver Wahrheit macht. Vgl. dazu Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica, a.a.O., p. 85. FF, p. 70. Vgl. dazu Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica, a.a.O., bes. p. 82-115.

harmonischen Verhältnis von Vernunft, Affekt und Phantasie äussert, das die angestrebte Wirkung garantiert. Im Rahmen dieser Auffassung gilt es nun die Rolle des Genies zu bestimmen, wurde Genie doch ganz generell gerade als das Vermögen der Emanzipation eines Autors oder Künstlers von der Herrschaft der Regeln verstanden. Geht die antike Rhetorik von der Annahme einer Komplementarität von ingenium und Studium aus (natürliche Begabung wird durch Regelbeherrschung ergänzt) so destruiert Perrault im Rahmen der französischen "Querelle" den Nexus von ingenium und Studium. "Mühelos und ohne Studium, aber erleuchtet vom heiligen Feuer schaut das Genie die Urbilder der Schöpfung direkt."96 Das nach Regeln gebildete Genie gilt fortan nur noch als "Bildungsgenie" und steht weit zurück hinter dem "Naturgenie". Anweisungsgeleitete Darstellung nach einem festgefügten Kodex von Regeln und Vorbildern - dies ist in der Folge auch in Deutschland ab der Mitte des 18. Jahrhunderts geradezu der Inbegriff der im Namen des Genies bekämpften Auffassung von den Produktionsbedingungen des schönen Kunstwerks. Wie in England und in Frankreich vertieft man sich in die Untersuchung der subjektiven und psychologischen Bedingungen, die das Schaffen des Künstlers bestimmen.97 Im Anschluß an Addison hatten "die Schweizer", Bodmer und Breitinger98, gegen Gottsched die Unabhängigkeit des "großen Geistes" vom tradierten Regelwerk verkündet. Geliert hatte zuerst die auch von Lessing übernommene genetische Verbindung zwischen Regeln und Genie hergestellt, und zwar mit der Behauptung, die Regeln könnten immer auf die genialen Werke zurückgeführt werden99, sie seien "Anleitungen, die man aus den Meisterstücken gezogen."100 Wichtig für die Herkunftsgeschichte der Fichteschen Auffassung ist zudem Moses Mendelssohn: von ihm stammt der Gedanke einer Art prästabilisierter Harmonie zwischen Genie und Regel; das Genie übe die Regeln schon immer kraft eben seines ingeniums aus (was der intuitiven Kenntis der natürlichen Regeln durch das Genie bei Fichte entspricht) und habe es nicht nötig, sich bewußt von ihnen leiten zu lassen.101 Vorbild für Fichte scheint Mendelssohn aber vor allem mit seiner Bestimmung des Verhältnisses von Genie und Geschmack gewesen zu sein: Das Genie ist demnach das produktive Vermögen, es beherrscht den bloß korrigierenden Geschmack.102 96 97

a.a.O., p. 89. Vgl. dazu Herman Wolf, Versuch einer. Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Band 1: Von Gottsched bis auf Lessing, Heidelberg 1923, sowie Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, Band 1, Von der Aufklärung bis zum Idealismus, a.a.O. 98 Vgl. dazu Angelika Wetterer, Publikumsbezug und Wirkungsästhetik. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern, Tübingen 1981. 99 Diese Auffassung hat Fichte übernommen, vgl. oben p. 78. 100 Christian Fürchtegott Geliert, "Von dem Einflüsse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten", Sämtliche Schriften (1769), V, p. 67 ff., zitiert nach: Joachim Ritter, Artikel "Genie" in: ders. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie a.a.O., Band 3, p. 287. 101 Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., p. 289. 102 Soja auch Geliert, vgl. oben, p. 73. 85

Ebenso scheint Herder hier ein weiteres Mal Fichte beeinflußt zu haben. Er hatte sich sowohl vom dogmatischen Akademismus mit seinem Postulat des Primats der Regeln als auch von der (nach seiner Ansicht unbegründeten) Befürchtung des Sturm und Drang, das Genie könnte durch die Regeln Zwang erleiden, distanziert. 103 Er erkennt vielmehr im Geschmack die Ergänzung und die Emanation des Genies. Der Geschmack ist dabei, wie der oben 104 zitierten Definition zu entnehmen ist, die spezifische Ordnung und das Gleichgewicht zwischen den Seelenkräften, die das Genie ausmachen. Die Regeln können somit nur aus dem genialen Werk abgeleitet werden, weil erst das Genie den Geschmack (die Regeln) erzeugt. Der Geschmack verdankt seine Existenz dem schöpferischen Genie und schafft sodann in deßen Diensten Ausgleich, Ordnung, Gestalt und Gliederung. 105 Fichtes Lösung schließt an Geliert, Lessing, Mendelssohn und Herder an. Zu beachten ist vorerst seine grundsätzliche Intention bei der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Geschmack und Genie; auch er, so sagt er, will vermitteln: Sowohl der dogmatischen Verabsolutierung der Regeln, noch mehr aber einem überbordenden Geniekult 106 soll Einhalt geboten werden. 107 Um nun endlich die gestellte Frage zu beantworten, teilt Fichte das dichterische Werk in die klassischen drei rhetorischen "partes artis", inventio, (Stoff), dispositio (Anordnung) und elocutio (Ausschmückung) ein, um den jeweiligen Anteil von Geschmack und Genie zu bestimmen. In bezug auf den Stoff habe der Geschmack die Aufgabe, aus dem vom Genie produzierten Material dasjenige auszuwählen, was in Rücksicht auf die gegebenen zeitlichen und örtlichen Umstände beim Publikum als Ausdruck eines ausgewogenen Verhältnisses von Affekt, Vernunft und Phantasie gelten könne. Ebenso fungiere der Geschmack bei der Ausschmückung als Urteilskraft. Er bestimme die angemessene Menge an rednerischem ornatus, kontrolliere die Einheit des Stils, vermeide so Stilbrüche, "Dunkelheit", "schwülstigen Stil", "leere Spitzfindigkeit", "verschrobene Wortwendungen".108 Wie bei Mendelssohn und Geliert ist das Genie das produktive, der Geschmack das korrigierende Prinzip. In bezug auf die Anordnung derselbe Fall: Fichte begnügt sich mit der lapidaren Feststellung, auch hier bestehe die Leistung des Geschmacks darin, den vom Genie gefundenen Stoff zweckadäquat zu

103 Dies gilt wohlgemerkt für den reiferen Herder ab 1774. Zum Genieenthusiasmus seiner Jugend vgl. Herman Wolf, Die Genielehre des jungen Herder, in: Manfred Wacker (Hg.), Sturm und Drang, Darmstadt, 1985, p. 184-214. 104 Vgl. oben, p. 83. 105 "Genies schafft der Schöpfer, und aus Genies bildet sich der Geschmack von selbst." Johann Gottfried Herder, Ursachen des gesunkenen Geschmacks, Werke, Band V, a.a.O., p. 648. 106 Es könnte Hamann gemeint sein, der als erster das Genie nicht mehr als Phänomen des "ingenium" analysierte, sondern es zur Offenbarung eines "genius" machte. Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, a.a.O., Band 1, p. 96ff. 107 "... damit offenbar sei, daß die Regeln oder was dasselbe ist, die Geschmackskritik weder so sehr verachtet oder verschmäht werden müssen, wie gewisse große Genies sie heute verachten, noch auch so emporgehoben, wie einige dies tun." FF, p. 70. 108 a.a.O., p. 73. 86

ordnen: "... die Dinge so zu verteilen, daß sie auch in bezug auf ihre Anordnung gefallen."109 Das Fazit schließlich lautet: "Ex his omnibus facile poterit perspici, ñeque judicium, id est praecepta sine ingenio, ñeque ingenium sine judicio vel praeceptis quicquam valere.'

Die Quintessenz von Fichtes Rede ist also, daß er die traditionelle Lehre vom "iudicium", durch welches der Redner oder Künstler während seines Schaffensprozesses seine Kunstmittel der Prüfung unterwirft, das deliberative Korrektiv zum "ingenium", in eine zeitgemäße Terminologie kleidet. Das moderne Genie ist nichts anderes als das alte rhetorische "ingenium", der moderne "Geschmack" entspricht dem traditionellen "iudicium". Auf der Grundlage des skizzierten rhetorischen Geschmacksbegriffes kann die antike rhetorische Wirkungsästhetik in eine moderne Terminologie gekleidet werden. Mit der Versicherung, überzeugt zu sein, im Geist der in Schulpforta erhaltenen Bildung gesprochen zu haben, mit einer Entschuldigung für die Verstöße gegen die Latinitas, der Beteuerung, nicht aus Gellerts demselben Thema gewidmeter Rede abgeschrieben zu haben sowie mit einer ausführlichen Danksagung und Verabschiedung beschließt Fichte seine Valediktionsrede. Er tut dies jedoch nicht, ohne vorher sein eigenes ästhetisches Credo zu offenbaren; zur routinemäßigen Apologie der eigenen Mängel 111 wird nämlich auch gesagt "... partim summa celeritate et uno animi Ímpetu mea scribere consuevi, quod summam ego virtutem orationis puto facilitatem, et verendum esset, ne emendatione laboriosi quid, et quasi aerumnosi illis inferretur."

Dieses so bescheiden anmutende Bekenntnis stellt in Wahrheit nichts weniger dar als die Beanspruchung von Genialität für die eigene Person im Namen einer typischen Figur der Sturm und Drang-Ästhetik. 113 Wiederum Herder hatte in einem Aufsatz über Shakespeare 114 , aber auch im "Briefwechsel über Ossian" - im Gegensatz zu Lessing, der den ersten Gedanken mißtraute - die Auffassung vertreten, der erste Entwurf einer Schrift sei in Gehalt und Form stets der optimale Ausdruck genialen Künstlertums. Die

109 ebd., p. 75. 110 GA, p. 27. "Aus diesem kann leicht ersehen werden, daß weder der Geschmack beziehungsweise die Regeln ohne den Geist, noch der Geist ohne den Geschmack oder die Regeln irgendwelche Geltung haben." FF, p. 75. 111 Zur Topik der affektierten Bescheidenheit vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a.a.O., p. 93ff. 112 GA, p. 28. "... teils habe ich mich gewöhnt, mit größter Schnelligkeit und einem einzigen schnellen Ausflug der Seele das Meine zu schreiben, weil ich für die höchste Tugend der Rede die Leichtigkeit erachte, und zu fürchten wäre, daß durch Verbesserung etwas von Arbeitsplage und gleichsam von Mühseligkeit würde hineingetragen werden." FF, p. 76. 113 vgl. dazu Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien, a.a.O., p. 153. 114 Johann Gottfried Herder, Shakespear, Werke, Band V, a.a.O., p. 208ff. 87

Idee finde darin spontan ihre Form, spätere Korrekturen gefährdeten diese ursprüngliche Einheit. 115 Fünfzehn Jahre später wird Fichte, mit einer anderen Begründung freilich, für sein philosophisches Schaffen erneut Genialität reklamieren.

2.1.2 Beiträge zur Schulrhetorik a) "Versuch über die Beredsamkeit" Von Ende des Jahres 1787 an bis zu seiner Abreise nach Zürich am 28. Juni 1788 hielt sich Fichte unter nicht näher bekannten Umständen, in bedrängter Lage, ohne Examen, ohne Geld und ohne Aussichten 116 , in Leipzig auf. Wahrscheinlich bemühte er sich verschiedentlich um eine Anstellung als Hofmeister. Fest steht, daß er während dieser Leipziger Zeit insgesamt vierzehn Rezensionen für eine vom Leipziger Philosophieprofessor Heinrich Heydenreich herausgegebene Zeitschrift namens "Kritische Übersicht der neuesten schönen Litteratur der Deutschen" verfaßte. 117 Über deren Ziel, eine kritische Darstellung der Neuerscheinungen auf dem Gebiet der schönen deutschsprachigen Literatur zu bieten, gibt ein im ersten Band der Sammelausgabe 118 enthaltener "Vorbericht der Herausgeber" Auskunft. 119 Die rezensierten Werke beschäftigten sich mit Fragen der Literatur und der Pädagogik, aber auch Belletristisches befindet sich darunter.120 Dessen zum Teil offenbar fragwürdige Qualität bringt den Herausgeber Reinhardt Lauth zum Schluß, Fichte

115 "Daher auch, daß unseren meisten neuen Gedichten die Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste Hinwurf verleihet, und den kein späteres Nachzirkeln ertheilen kann." Johann Gottfried Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, Werke, Band V, a.a.O., p. 183. 116 Vgl. Fritz Medicus, Fichtes Leben, a.a.O., p. 7ff. 117 Die Rezensionen wurden, zusammen mit einer erläuternden Hinführung vom Herausgeber der FichteGesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Reinhard Lauth, unter dem Titel "Vierzehn Rezensionen Fichtes aus dem Jahre 1788" publiziert in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, 59. Jahrgang, Heft 1, 1968, p. 5-58, im folgenden zitiert als "Kant-Studien". 118 "Kritische Übersicht der neuesten deutschen Litteratur", 2 Bände, Leipzig 1788. 119 Bemerkenswert ist, daß ausgerechnet der Gegenstand von Fichtes erster Rezension, Abhandlungen zur geistlichen Beredsamkeit nämlich, ausgeschlossen bleiben sollte: "Schon der Titel zeigt zur Genüge, daß unser Absehen auf nichts Geringeres geht, als den Liebhabern eine kritische Übersicht des ganzen Gebiets der neuesten schönen Literatur der Deutschen zu verschaffen. Die sämtlichen Produkte der Dichtkunst und Beredsamkeit, nebst den Theorien die darauf Bezug haben, jedoch mit Ausschluß der Kanzelreden, deren Inhalt gegen das Übrige allzu abstechend sein würde." a.a.O., Ι,Ι p. VVI, zitiert nach: Kant-Studien, a.a.O., p. 15. 120 Es handelt sich um Titel wie "Der Doctor Simio-Midias, oder der Verfasser des Affenlandes. Ein medizinisch-komischer Roman" oder auch "Die Gräfin Nimmersatt aus Wien. Eine sehr wahrscheinliche, komische Geschichte"; ein vollständiges Verzeichnis mit Nachweis der Titel gibt R. Lauth in: Kant-Studien, a.a.O., p. 16. 88

müsse sich in einer derartigen Notlage befunden haben, daß er anzunehmen gezwungen war, was immer er von den Herausgebern zur Rezension zugeteilt bekam. 121 Der "Versuch über die Beredsamkeit nur für meine Zuhörer bestimmt" von Carl Friedrich Bahrdt 122 dürfte indessen nicht zu den Werken gezählt haben, mit denen Fichte sich lediglich aus ökonomischen Gründen kritisch auseinandersetzte; sein persönliches Interesse an Fragen der rhetorischen Pädagogik 123 sowie die Tatsache, daß der in allen sonstigen Rezensionen durchwegs frivol-ironische Ton hier eine Spur bissiger und ernsthafter erscheint, dürften diese Vermutung erlauben. Geistliche Beredsamkeit Fichtes vernichtende Kritik an der generellen Konzeption des rezensierten Werks ist schnell resümiert: Erstens liefere Bahrdt nicht, was der Titel seines Buches verspricht. Anstelle einer umfassenden Abhandlung über "die Erfordernisse der Beredsamkeit überhaupt" offeriere er lediglich "eine Sammlung von Materialien zu Kanzelvorträgen", er lehre seine Leser nicht "wie sie reden", sondern "worüber sie denken sollen."124 Den Nutzen der dabei gegebenen Empfehlungen, worüber zu predigen sei 125 , bestreitet Fichte nicht, sehr wohl aber den Anspruch, damit sei etwas zur Theorie der Beredsamkeit beigetragen. Zweitens kritisiert Fichte die von Bahrdt im Anhang seines Buches, der von "Vortrag", "Ausführung" und "Aussprache" handelt, vertretene Position, der äusserliche Vortrag (die "körperliche Beredsamkeit") sei überhaupt das wichtigste und das Entscheidende in der Redekunst. Seine Auffassung untermauert Bahrdt mit Zitaten aus Demosthenes, Cicero und Quintilian 126 , welchen Fichte prompt gegenteilige Aussagen derselben Autoritäten zum Thema entgegenhält. Diesem falschen Bild von den Erfordernissen der geistlichen Beredsamkeit, welches nach Fichte einerseits auf einem mangelhaften Verständnis der klassischen rhetorischen Autoritäten und andererseits auf einer unzulässigen Vermischung von politischer und geistlicher Rhetorik beruht, stellt Fichte sein eigenes Ideal des geistlichen Redners entgegen:

121 R. Lauth, in: Kant-Studien, a.a.O., p. 16. 122 C.F. Bahrdt, Versuch über die Beredsamkeit, nur für meine Zuhörer bestimmt. Neue Auflage bey Joh. Phil. Haugs Witwe, Leipzig 1787. - Carl (auch: "Karl ") Friedrich Bahrdt hat noch zwei weitere einschlägige Titel publiziert: "Homiletik" (Marburg 1773) und "Rhetorik für geistliche Redner" (Halle 1784), vgl. D. Breuer/G. Kopsch, Rhetoriklehrbücher des 16.-20. Jahrhunderts, in: Helmut Schanze (Hg.) Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland, a.a.O., p. 296. Fichte schätzte zudem Bahrdts anonym erschienene "Briefe über die Bibel im Volkston", in welchen dieser als aufklärerischer Theologe gegen Autoritätsgläubigkeit und dogmatische Religion polemisierte und sich für eine Erneuerung der religiösen Pädagogik einsetzte (vgl. dazu Reiner Preul, Reflexion und Gefühl, a.a.O., p.21). 123 Vgl. unten, p. 93f. 124 Kant-Studien, a.a.O., p.19. 125 "Es ist beinahe kein Gegenstand vergessen, worüber ein Geistlicher zu reden oder auch nicht zu reden hat. Auch sogar der Branntwein, der Rauch- und Schnupftabak sind nicht vergessen." a.a.O., p. 19. 126 Vgl. Quint., XI,3,6. 89

"Es kann aber unmöglich der Beruf eines geistlichen Redners seyn, die Ohren seiner Bauern durch den Reiz einer melodischen Stimme, ihre Augen durch die Grazie eines entzückenden Gebärdenspiels zu bezaubern. Sein Zweck ist weit simpler und weit erhabener: er soll erbauen, und dazu braucht es ganz anderer Dinge als solcher Komödiantenkünste, die die Einbildungskraft einige Augenblicke ergötzen, und Herz und Verstand leer lassen.

Prinzip der Kritik ist wieder die fundamentale Kategorie jeder rhetorischen Ästhetik: Der Begriff des "aptum". An einem bäuerlichen (und entsprechend bäurischen) Publikum sind raffinierte Modulation und elaborierte Gestikulation verloren; das äußere "aptum" wird damit nicht respektiert. 128 Fichte orientiert sich am quintilianischen Modell der "pronuntiatio" (hypokrisis): "vox" und "gestus" sind deren Bestandteile, die vermittels der Sinnesorgane Auge und Ohr auf die Gemüter der Hörer wirken. 129 Dem Zweck der geistlichen Rede, religiöse Erbauung zu vermitteln, ist das antike, am politischen und forensischen Redner orientierte Ideal nicht mehr adäquat. Zur Bestimmung eines normativen Ideals der pronuntiatio beim geistlichen Redner bietet Quintilians Orator - dies übersehen zu haben, wirft Fichte Bahrdt vor - kein Vorbild. "Erbauung" ist dabei der programmatische Schlüsselbegriff, der den spezifischen Zweck und damit auch die spezifische formale Differenz der geistlichen Rede bestimmt: Die Erregung religiöser Gefühle im Individuum, dazu nicht bloße Rührung, sondern Besserung, als "moralische Folge der Andacht auf das Subjekt"130, ist der Endzweck des geistlichen Redners. Welche Weise der pronuntiatio diesem Persuasionsziel angemessen sei, schildert eine Art negativer Rhetorik: "Wenn der Geistliche nur keine undeutliche, unangenehme Stimme, keine widrige Person hat, wenn er nur nicht unrichtig accentuiert und keine abgeschmackten Gestikulationen macht: so werden dann, was das Ausserliche betrifft, Bürger und Bauern vollkommen mit ihm zufrieden seyn können."

Stimme, Person, Akzentuierung und Gestikulation haben lediglich den Ansprüchen eines negativen Minimalprofils zu genügen, und zwar weil Herz und Verstand, als die Adressaten der erbauenden Rede, nicht vom Spiel der Einbildungskraft abgelenkt werden sollen. Die positive Charakterisierung des idealen geistlichen Redners erinnert an Kants Ideal des Redners überhaupt 132 : "Besitzt er überdem noch einen gesunden, und nicht ungebildeten Verstand, einen guten Beobachtungs127 Kant-Studien, a.a.O., p. 20. 128 "Zunächst die Frage, wer den Vortrag zu halten hat, und vor wem und in wessen Gegenwart es geschieht; denn wie bald dies, bald jenes zu sagen je nach dem Sprechenden, dem Angesprochenen und dem Hörerkreis eher gestattet ist, so steht es auch mit der Ausführung. Und es ist nicht einheitlich, was gleichermassen sich in Stimme, Gebärdenspiel und Gang vor dem Herrscher, dem Senat, dem Volk und den Behörden, in einem privaten und in einem öffentlichen Prozeß und bei Beantragung und Vertretung der Klage schickt." Quint., XI,3,150, a.a.O., p. 665. 129 Vgl. a.a.O., XI,3,14. 130 Gemäß Kants Bestimmung des Begriffs der Erbauung (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA, Band 6, p. 196-198), zitiert nach: H.-H Krummacher, Artikel "Erbauung", in: Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Band 2, p. 603. 131 Kant-Studien, a.a.O. p. 21. 132 Vgl. oben, p. 33 90

geist, und vor allen Dingen ein wahrheitsliebendes, wohlwollendes Herz, so sind wir überzeugt, daß ein solcher Mann durch seine simplere Beredsamkeit tausendmal mehr Nutzen stiften wird, als der Deklamateur, der mit der sonorsten Stimme, dem bezauberndsten Gebärdenspiel, flach empfundene Wahrheiten in einem erborgten Affekte daher schwatzt."'^

Dem "nicht ungebildeten Verstand" entspricht bei Kant die "klare Einsicht in die Sachen", dem "wohlwollenden Herz" der "lebhafte Herzensanteil am wahrhaften Guten". 134 Die Gemeinsamkeit ist offenbar, es gilt aber auch die Differenz festzuhalten, die bezeichnend ist für das generelle Verhältnis Kants und Fichtes zur Rhetorik: Fichtes Verdammung der "Kunstrhetorik" und die entsprechende Propagierung der "natürlichen Rhetorik" bezieht sich, anders als Kants generelle Ablehnung, einzig und allein auf den Bereich der Kanzel. Umgekehrt bedeutet dies: Kants inartifizielle Idealrhetorik läßt sich auch verstehen als die Erweiterung einer Tradition eines Ideals protestantischer geistlicher Beredsamkeit auf alle Anwendungsbereiche der Rhetorik überhaupt. Bereits Luther hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur Rhetorik und pries die "einfache Redefähigkeit" als die wahre "eloquentia" gegenüber der "rhetorica" als kunstmäßiger Übung, die er ablehnte und deren Wert für den Prediger er prinzipiell bestritt. Dennoch entwickelte sich die Rhetorik, vor allem dank der Bemühungen Melanchthons, zu einem der Kernfächer des protestantischen Gymnasialunterrichts. 135 Rhetorik und Staatsform Daß Fichte die Kunstrhetorik mit ihren stimmlichen, gestischen und mimischen Möglichkeiten alles andere als prinzipiell verdammen will, zeigt sein die ganze Rezension durchziehendes Kokettieren mit dem aufgrund der Zeitumstände nicht aktualisierbaren Ideal eines politischen Redners. So hält er schon am Anfang fest, daß unter dem "eingeschränkteren Gesichtspunkte unseres Zeitalters" ein Lehrbuch der Rhetorik sich genau genommen nur mit denjenigen "Grundsätzen und Regeln" befassen könne, welche "den beredten Schriftsteller bilden".136 Indem er Bahrdt vorwirft, die Bedürfnisse des Staatsredners mit denjenigen des Kanzelredners verwechselt zu haben, wird mit einem Unterton von Bedauern gesagt, daß dieser "unter uns gar nicht existiert und auch wohl nicht existieren kann". Seine Existenz bleibt dem Wunsch des Rezensenten anheimgestellt:

133 Kant-Studien, a.a.O., p. 21 134 KU, Paragraph 53. 135 Vgl. dazu Wilfried Barner, Barockrhetorik, a.a.O., p. 259 ff., sowie zu Luther: Birgit Stolt, Docere, delectare und movere bei Luther, in: J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik, Band 1, Darmstadt 1990, p. 415 f., sowie dieselbe, Martin Luthers rhetorische Syntax, in: Gert Ueding et al.(Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991, p. 207f. 136 a.a.O., p. 21. 91

"Aber vielleicht lassen sich alle diese Dinge miteinander vereinigen? Vielleicht - ja vielleicht wird das Deutsche Reich wohl auch einmal, über lang oder kurz, in eine römische oder griechische Republik und somit der heutige Kanzelredner in den alten Staatsredner verwandelt, vielleicht."1

Der Zusammenhang von Rhetorik und Staatsform, das topische Junktim von freier Rede und freier Gesellschaftsordnung, wird in der Rhetoriktheorie nicht erst mit Hegels Verbindung von Redekunst, Redefreiheit und Demokratie hergestellt. Die Ambivalenz der Rhetorik, die Tyrannen zu stürzen, aber auch Tyrannen zu inthronisieren und zu legitimieren vermag, ist bereits Thema von Piatons "Gorgias", und nicht umsonst wird dort die Macht der Redner mit derjenigen der Gewaltherrscher verglichen: damit ist das revolutionäre Potential der freien öffentlichen Rede erstmals thematisiert. 138 Das Ende der Möglichkeit der freien öffentlichen Rede im Untergang der griechischen Demokratie und später im Übergang von der römischen Republik zum Kaiserreich ist dann schon für Tacitus Ursache des Verfalls der Redekunst. 139 Gottsched stellt eine Übersetzung von Tacitus' "Dialogus de oratoribus" seiner "Ausführlichen Redekunst"(1739) voran und beklagt selbst, daß sich die Rhetorik seit Ende der römischen Republik mit fiktiven Deklamationsübungen im erfahrungsfreien, artifiziellen Rahmen der Schule abzugeben gezwungen sei. Auch Gottsched erblickt darin die Ursache des Verlusts der wahren Redekunst, welche darin besteht, ein Publikum wirklich überzeugen zu können. 140 Unmittelbares Vorbild für Fichtes Klagen über die Unmöglichkeit politischer Rhetorik und ihre Beschränkung auf die Kanzel könnte abermals Herder sein; er hatte ebenso formuliert, die Beredsamkeit habe nur da gewohnt, "wo Republik war, wo Freiheit herrschte, wo öffentliche Beratschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war" und angesichts der Beschränkung der Beredsamkeit auf die "kalte Luft" der Kanzel die Müßigkeit von rhetoriktheoretischen Betrachtungen behauptet. 141 Die Antwort der Rhetoriktheorie des 17. und des 18. Jahrhunderts auf diese Situation besteht darin, die eigentliche praktische Kompetenz aus dem Bereich der deliberativen Rede vor einem entscheidungsmächtigen Publikum auf das Gebiet des kabinettspolitischen Taktierens in kleinem Kreis oder unter vier Augen zu verlagern. 142 Auch für Fichte herrscht keine Redefreiheit. Schon gar nicht politische, aber auch nicht auf der Kanzel. Das "Wöllnersche Religionsedikt" von 1788 garantierte zwar reli137 ebd. 138 Piaton, Gorg., 466c f. 139 Tacitus, Dialogus de oratoribus. Zur Thematisierung des Zusammenhangs von Rhetorik und Staatsform in der Antike und im Mittelalter vgl. Ernst Robert Curtius. Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, a.a.O., p. 74f. sowie Konrad Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982. 140 Johann Christoph Gottsched , "Ausführliche Redekunst nach Anleitung der alten Griechen und Römer wie auch der neueren Ausländer in zweenen Teilen verfasset; und itzo mit den Zeugnissen der Alten und Exemplen der größten deutschen Redner erläutert. Statt einer Einleitung ist das alte Gespräch von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit vorgesetzet", Leipzig 1739. 141 42. Brief das Studium der Theologie betreffend, zitiert nach: Walter Jens, Art. "Rhetorik", a.a.O., p. 438. 142 So etwa Johann Elias Schlegel, Werke, Bd. 3, p. 318f., Kopenhagen/Leipzig 1761/70. Vgl. dazu HansJürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 93. 92

giöse Toleranz, verschaffte der Obrigkeit aber auch die Rechtsgrundlage, um gegen aufklärerische Geistliche vorzugehen; politische Rhetorik wurde damit auch in der Kirche verunmöglicht. Man konnte das auch so ausdrücken wie der Verfasser eines im Jahr 1789 erschienenen Rhetoriklehrbuchs: "Wir halten sehr selten oder gar nicht mehr politische Reden, unsere Staatsverfassung erfordert dies nicht."143 Bekanntlich hat Fichte im Jahr 1793 eine Rede geschrieben, die nie gehalten werden konnte. 144 Auch die "Reden an die Deutsche Nation" mußten, aus anderen Gründen, in einem Saal vor kleinem Kreis gehalten werden. Den das Jahrhundert prägenden Konflikt zwischen einer einem Persuasionsideal verpflichteten und einer sich als "ars bene dicendi" einzig dem Zierlichkeitsideal der Wohlredenheit verschreibenden Rhetorik löst Fichte, indem er die Kompetenzbereiche verteilt: Das Postulat einer persuasiven Rhetorik wird von ihm, anders als von Kant aufrechterhalten; diese wird aber auf die politische Anwendung beschränkt; in der geistlichen Beredsamkeit hält Fichte dagegen eine spezielle Form der pastoralen Wohlredenheit für angemessen. Fichtes Rezension bringt überdies seine Unzufriedenheit mit der rhetorischen Praxis seiner Zeit zum Ausdruck. Die Kunstmittel der Deklamation liegen brach. In die Kirche gehören sie nicht, und dort, wo sie angebracht wären, verhindert Repression ihren Einsatz. Einen Ausweg aus dieser Situation wird Fichte mit seiner Konzeption des Philosophen als Nationalpädagogen und Nationalredners zu schaffen versuchen. b) "Plan anzustellender Redeübungen" Der "Plan anzustellender Redeübungen" 145 wurde von Fichte während seines ersten Zürcher Aufenthalts zu Beginn des Jahres 1789 abgefaßt. 146 Er hoffte, die darin geschilderte Absicht, "eine Redeübungsschule anzustellen"147, mit Lavaters Unterstützung zu verwirklichen. In einem Brief erbittet er von diesem nicht nur eine kritische Beurteilung des Projekts, sondern auch ein Empfehlungsschreiben und überdies die Vermittlung des Kontakts zu möglichen Schülern: Lavater sollte den "Plan" mit seiner Empfehlung in interessierten Kreisen zirkulieren lassen. 148 Fichtes Sohn Immanuel Hermann, der erste Herausgeber des "Plans", schreibt dazu, sein Vater habe den Plan zur Organisation eines Rhetorikkurses "veranlaßt durch Aufforderungen seiner Freunde, wie durch eigene Neigung" gefaßt. 149 Fichtes Interesse für Rhetorik läßt dies durchaus als plausibel erscheinen. Ein äußerer Anlaß der Unternehmung scheint allerdings auch

143 144 145 146 147 148 149

H.G.B. Franke, Über Declamation, Leipzig 1789, p. 18. "Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas", SW 6, p. 3ff. GA II/I, p. 129-134; im folgenden zitiert als "GA". Vgl. zur Frage der Datierung den Kommentar der Herausgeber in GA, p. 128. GA, p. 127, a.a.O., p. 127. Zitiert nach GA, p. 127 93

die aus Fichtes Zerwürfnis mit der Familie, in deren Diensten er als Hofmeister stand, resultierende Notwendigkeit, sich ein Einkommen zu verschaffen, gewesen zu sein. 150 Nicht zu vernachlässigen ist wohl auch der erwachende politische Wirkungswille Fichtes; die "Zufälligen Gedanken einer schlaflosen Nacht", Zeugnis von Fichtes "revolutionärer Unzufriedenheit mit seiner Zeit" 151 , waren kurz zuvor verfaßt worden, und eine Tätigkeit als Rhetoriklehrer versprach zumindest eine indirekte politische Einflußmöglichkeit. Bald nach seiner Rückkehr aus Zürich faßte Fichte denn auch den Plan, als professioneller Redner Karriere zu machen. Zu diesem Zweck nahm er in 1

Leipzig Unterricht bei einem "Gelehrten", um "der erste in dieser Kunst zu werden". Der "Plan anzustellender Redeübungen " gliedert sich inhaltlich in drei Teile. Auf den Nachweis des Nutzens des Vorhabens folgt eine Skizze des Unterrichtsprogramms; einige Angaben über Organisatorisches beschließen dieses kurze Werbezirkular für einen Rhetorikkurs. Für wen und weshalb ist rednerische Schulung von Nutzen? Fichte nennt drei Zielgruppen seines rhetorischen Schulbetriebs: Studierende "aus den besten Familien", denen die Beredsamkeit angesichts der Zürcher Staatsverfassung im politischen Leben zu Diensten sein könne; dem "eigentlichen Gelehrten" helfe sie bei der Ordnung seiner Gedanken zum Vortrag, und dem Geschäftsmann verspreche sie Erfolg durch souveräne Erledigung seiner Korrespondenz. Jeder von ihnen werde "den ausgebreitesten Nutzen" vom Unterricht haben, da "Ausbildung der Schreibart" (durch das Ausarbeiten der Reden) und "Leichtigkeit des Vortrags" (durch die Deklamations und Rezitationsübungen) alle drei in ihren Geschäften unterstützten. 153 Ähnlich wie bei den Sophisten ist hier der Anspruch der Rhetorik universal: Politik, Wissenschaft und Wirtschaft sollen auf sie angewiesen sein. Auffällig ist besonders die Empfehlung des kommerziellen Profits, den die Rhetorik verspricht. Diese steht im Zusammenhang mit bildungspolitischen Entwicklungen der Zeit. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten Lateinschulen - z.B. in Bremen 1788 - begonnen, kaufmännische Klassen einzurichten, wo die neuen, für die Bildung des Bürgers zum Kaufmann, zum "mercator eruditus", relevanten Fächer wie kaufmännische Korrespondenz, Buchhaltung, Kalkulation etc. unterrichtet wurden. Der Unterricht in den ökonomischen Fächern ging dabei auf Kosten der traditionellen Humaniora. 154 Möglich, daß Fichte hier einen Ausgleich zu schaffen versucht oder schlicht eine "Marktlücke" erspäht. Was er damit unternimmt, steht zwar im Widerspruch zur schulisch-institutionellen Entwicklung der Zeit, ist indessen nichts Neues. Die Rhetorik als kommerzielle Werbetechnik, als "kunst, sich käufflich zu machen und seine waare 150 Vgl. Fritz Medicus, Fichtes Leben, a.a.O., p. 21. 151 Bernard Willms, Die totale Freiheit, a.a.O., p. 15. 152 "Mein ganzer Geist ist darauf gerichtet. Und dann muß mein Ruf gemacht sein (...). Mein Sinn steht auf Weimar gerichtet, wo der Hof für dergleichen Dinge sehr viel Sinn hat." I.H. Fichte (Hg.), Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, Leipzig 1862, Band 1, p. 72. 153 GA, p. 129. 154 Vgl. dazu Joachim Gessinger, Sprache und Bürgertum, a.a.O., p. 70f.

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recht anzubringen" wird bereits in frühen Stadien bürgerlichen Warenhandels entdeckt. 155 "Praktische Erlernung der Logik" Die von Fichte zunächst geschilderten Vorteile des Rhetorikunterrichts beziehen sich auf bestimmte äußere Zwecke Einzelner. Näher ausgeführt wird aber im Anschluß daran ein von der jeweiligen praktischen Verwertung der Kenntnisse unabhängiger genereller Nutzen der rednerischen Ausbildung. Diese Ausbildung soll nämlich die "nützlichste und einzig praktische Erlernung der Logik" darstellen. 156 Nicht nur die Verwertung der rhetorischen Kenntisse in wissenschaftlichen, geschäftlichen oder politischen Beziehungen zu anderen ist von Nutzen: der Lernende selbst ist direktes Referenzsubjekt des rhetorikpädagogischen Profits. Dies, indem die Ausbildung der Fähigkeit, seine Gedanken anderen vorzutragen, auch die Fähigkeit vermitteln soll, "sie sich selbst desto heller und zusammenhängender zu denken". 157 Damit ist der hermeneutische Nutzen der Rhetorikausbildung angesprochen; traditionellerweise lehrte die Rhetorik nicht nur Texte herzustellen, sondern auch Texte zu interpretieren, allegorische und metaphorische Verrätselungen zu entschlüsseln und den "rhetorisch" verblümten verborgenen Sinn zu erfassen. 158 Hier handelt es sich genauer um eine Variation der Vorstellung, nach welcher jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Akts des Redens sein soll.159 Fichte sagt nämlich, wir vermöchten oft in bezug auf die Reden oder Schriften anderer nicht zu erkennen, was davon wir verstanden haben und was nicht. Die Probe bilde der Versuch, die Gedanken Dritten zu erläutern, wobei sich herausstellen könne, daß man sich in der Illusion befindet, verstanden zu haben. Ursache dieser Illusion ist für Fichte die Gewöhnung: die Worte, mit denen uns etwas erklärt wird, sind uns geläufig - das gedankenlose Wiedererkennen durch Bekanntschaft lenkt von der Tatsache ab, daß der Sinn des Gesagten nicht erfaßt wurde. Rhetorik fungiert als Hermeneutik, indem sie in der

155 Einige Hinweise gibt Hans-Jürgen Gabler, Geschmack und Gesellschaft, a.a.O., p. 98. Die Umformung des klassisch-rhetorischen Persuasionsapparats zum Medium kommerzieller Verkaufsförderung, Verhandhings- und Insinuationstechnik ist wenig erforscht. Dies ist umso bedauerlicher, als der Gang in eine einschlägige Buchhandlung zeigt, daß die gern totgesagte Rhetorik sich der Wirtschaft dienstbar gemacht hat und in diesem Bereich blüht wie wohl nie zuvor; sei es, daß Titel wie "Cicero für Manager" die sanktionierte Legitimität der Persuasionsklassiker explizit in Anspruch nehmen, sei es, daß einschlägige Autoren oder Seminarveranstalter klassisch-rhetorisches Basiswissen, kommunikationspsychologisch aufdatiert und in zeitgenössischen Marketingjargon verpackt, verbreiten. 156 a.a. O., p. 130. 157 ebd., p. 129. 158 Vgl. Walter Jens, Art. "Rhetorik", a.a.O., p. 443. 159 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965, p. 177. 95

Anleitung zum Referat fremder Gedanken lehrt, diese zu eigenen zu machen, sie ist das Medium verständiger Lektüre. 160 Aber auch die eigenen Gedanken soll sie klären: rhetorische Bildung lehrt methodisches Denken. In "hellen Augenblicken" möge zwar das Denken in einem "Kopf von glücklichen Anlagen" zufällig eine Wahrheit treffen. Aber: "zusammenhängendes, Schritt für Schritt seinen Gang nach einer bestimmten Richtung gehendes Denken", werde einzig und allein durch praktisch-rhetorische Übung erworben und sei durch passive Aneignung einer Doktrin nicht zu erreichen. 161 Die Rhetorikausbildung sei damit "... die glucklichste und einzige Art, sich in diesem zusammenhängenden Denken zu üben (...). Sie ist die beste und sicherste Übung im Selbstdenken, in der Aufmerksamkeit, im zusammenhängenden Raisonnement.

Höchstens die Mathematik könne Ähnliches bieten, stehe aber hinter der Rhetorik zurück, da sie die Einbildungskraft zu wenig beschäftige. Die Anweisung zur Beredsamkeit wird also hier als Anweisung zum Selbstdenken angepriesen. Ausgerechnet die Rhetorik, die durch den mos geometricus und die cartesianische Methode zu Beginn der Neuzeit aus der Philosophie als der Suche nach der Wahrheit ausgeschlossen worden war 163 , soll gemäß Fichte der Wissenschaft das methodische Rüstzeug liefern. 164 Zwar waren in der Antike Philosophie und Rhetorik als komplementäre Disziplinen betrachtet worden 165 ; trotz gewisser Gemeinsamkeiten empfanden Cicero und Quintilian die beiden als durch ihre Adressaten und Methoden grundsätzlich unterschieden. Nicht wahres Wissen hat die rhetorische Rede zum Gegenstand, ("... denn einmal sprechen wir vor einem Publikum, das nicht Bescheid weiss, und zum andern sprechen wir von Dingen, die wir selbst nicht wissen"166), sondern ihre Sache ist es, kraft der Kenntnis des vom jeweiligen Auditorium als wahrscheinlich Anerkannten durch geeignete 160 Dieser Aspekt ist vor allem in der christlichen Rezeption der römischen Rhetorik herausgearbeitet worden, so in Augustins Predigtlehre oder in Melanchthons Homiletik. Vgl dazu Walter Jens, Von deutscher Rede, München 1969, p. 9f. 161 Schon Quintilian hatte sich mit den Gedankenblitzen der rhetorisch nicht Gebildeten als einem Argument, das gegen den Nutzen des Rhetorikunterrichts sprechen sollte, auseinanderzusetzen. Aber: Quintilian handelt nicht vom Denken, nicht von der Wahrheit. Bei ihm steht der formale, stilistische Aspekt im Blick. Nicht als Methode der Wahrheitsfindung, sondern als methodische Anweisung, den besten Ausdruck zu finden, muß die Rhetorik verteidigt werden. Vgl. Quint., 11,11. 162 GA, p. 30. 163 Vgl. dazu Ernesto Grassi, G.B. Vico und der Beginn des modernen Denkens. Zeitschrift für Philosophische Forschung 22/4 (1968), p. 491-503 sowie H. Gouhier, La résistance du vrai et le problème cartesien d'une philosophie sans rhétorique in: Atti del Congresso Internazionale di Studi Umanistici, (Venezia 1954), Rom 1955. 164 "Übung im Denken" durch einen neuen Sprachunterricht zu vermitteln, war gemeines Gedankengut der reformpädagogischen Bemühungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Denkschulung wurde aber auf den Grammatikunterricht bezogen. Vgl. dazu Joachim Gessinger, Sprache und Bürgertum, a.a.O., p. 80f. 165 Vgl. die schon zitierte Definition der Rhetorik als Gegenstück zur Dialektik (Rhet. 345a) sowie die angeblich auf den Gründer der Stoa, Zenon von Kition, zurückgehende Metapher der geschlossenen Faust (Dialektik) und der offenen Hand (Rhetorik); z.B. bei Cie., Orator, 32,113. 166 Cie., de or., 2,30. 96

emotionale Steuerung die intendierte Wirkung zu erzielen. Die rhetorische Rede hat der philosophischen nach der Meinung der römischen Autoritäten dadurch auch einiges voraus: die dialektisch-deduktive philosophische Manier taugt nur zum Vortrag vor einem beschränkten Kreis interessierter Gebildeter und kann zudem nur den Verstand der Menschen erreichen: die rhetorische Rede erwirkt trotz ihres Wahrheitsdefizits durch Pathos Handlung. 167 Zwar versuchten einige Philosophen der italienischen Renaissance die im antiken Verständnis angelegte Kluft zwischen pathischer und logischer Rede zu überwinden , mit Descartes aber wurde die rhetorische Topik als "méthode pour bien conduire sa raison et chercher les vérités dans les sciences"169 endgültig energisch verworfen. Zum Zweck des Selbstdenkens, der "inventio" neuer Kenntnisse zumal, sei sie unnütz, und zudem wird ihr ihr Status als intersubjektiv tradierbare Wissenschaft abgesprochen: die Entfaltung einer Rednerpersönlichkeit sei ausschließlich der Naturgabe anheimgestellt. 170 Ähnlich hatte bereits Francis Bacon die topisch-rhetorische Argumentationsweise in der Schrift "de augmentis scientiarum" als Methode zur "inventio", zur Gewinnung praxisrelevanter theoretischer Erkenntnis, abgelehnt: sie finde nicht Neues, sondern stelle bloß Bekanntes in einer der jeweiligen Situation angemessenen Weise dar. Damit war die Rhetorik als Methode des Erkenntnisgewinns, als Methode der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, endgültig diskreditiert. 171 Daß die Rhetorik hier philosophischen Anspruch erhebt und daß sich damit ein Rhetorikkurs als Denkschule empfehlen kann, dürfte im Zusammenhang mit der rationalistischen Aufklärungsrhetorik, der "philosophischen Redekunst", welche sich als vernunftregierte diskursive Beweiskunst verstand, zu sehen sein. 172 Zudem ist natürlich der Kontext zu beachten: dieser exorbitante Anspruch wird im Rahmen einer kommerziellen Eigenwerbung erhoben und nicht im Zusammenhang einer Theorie der Rhetorik. Bemerkenswert ist allerdings, daß es nicht bei traditionellen Begründungen des Bildungswerts des Rhetorikunterrichts - Hermeneutik, Topik und angewandte Syllogistik 173 - bleibt: Im Geist der neuen Philosophie wird die Rhetorik von Fichte als Reflexionsmedium empfohlen. Ihr wissenschaftlicher Anspruch wird in Begriffen der Bewußtseinsphilosophie formuliert. Fand die cartesianische Expatriierung der Rhetorik aus der Wissenschaft im Namen der beginnenden Bewußtseins- und Subjektphilosophie statt, so versucht Fichte hier die Formulierung rhetorischer Phänomene mit den be167 Vgl. Quint., XII,10,52. 168 Vgl. dazu Ernesto Grassi, Rhetoric as philosophy. The Humanist Tradition, Pennsylvania State University 1980, sowie Wilhelm Risse, Logik der Neuzeit, Band 1, p. 14 ff. 169 So der vollständige Titel des "Discours de la méthode". 170 René Descartes, Discours de la méthode, a.a.O., p. 12. 171 Vico bildet hier eine Ausnahme: er hält die rhetorische Topik für unerläßlich um - komplementär zur "kritischen Methode" - die Vollständigkeit einer Argumentation zu überprüfen und zu garantieren. Giambattista Vico, De nostri temporis studiorum ratione, IV, a.a.O., p. 29ff. 172 Vgl. oben, p. 42 173 Sie verspricht "Ordnung und richtige Gedankenfolge" durch Kenntnis der jeder Sache "natürlichen und eigentümlichen Gesichtspunkte." GAII/I, p. 132. 97

grifflichen Mitteln dieser Philosophie und mit ihrer Terminologie in den Griff zu bekommen. In der Folge wird nämlich der Rhetorikunterricht als Therapeutikum gegen die Folgen passiver Vielleserei gelobt. Diese spanne ab, ermüde, führe zu "Indolenz" und "Stagnazion". Dagegen gebe "... nichts (...) dem Geist ein angenehmeres und stärkeres Gefühl und Bewußtsein seiner selbst als seine Begriffe aus einer Region der Deutlichkeit in eine andere überzuleiten."^

Bewirkt werde dieses Gefühl vom Prozeß der Verdeutlichung der Begriffe; in ihm sei Bewußtsein, und er konstituiere Reflexion, denn der Geist sehe in ihm "die jedesmalige Bestimmung seiner selbst" sich "in einer wohlgetroffenen Abbildung" "wie von selbst" darstellen. Das von Fichte hier geschilderte Konzept des Prozesses der Verdeutlichung der Begriffe erinnert strukturell an die Bestimmung der produktiven Einbildungskraft in der "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95. 175 Was dort als Theorem der Bewußtseinsphilosophie auftaucht, zeigt im "Plan" seinen rhetorisch-hermeneutischen Kern. Die produktive Einbildungskraft ist in der "Grundlage" das Vermögen, Gefühle zum Bewußtsein zu erheben; an der Schnelligkeit und dem Umfang, womit ein Mensch seine Gefühle zur Vorstellung erhebt, messe sich der Reichtum seines Geistes. Reichtum des Geistes verspricht auch die rhetorische Übung, und zwar durch Anleitung zu einer analogen Operation: Wie er in den qua Einbildungskraft zum Bewußtsein erhobenen Gefühlen sich selbst objektiviert, so objektiviert sich der Geist in den qua sprachlicher Formulierung zu Bewußtsein und Deutlichkeit gebrachten Begriffen. Ganz offensichtlich soll die rhetorische Deutlichkeit als "perspicuitas", Verständlichkeit, hier erweitert und zur philosophischen Deutlichkeit, zur "claritas" der Begriffe erhoben werden. Auf diese im Zusammenhang eines Werberundschreibens für einen Rhetorikkurs recht spekulative These folgt ein altbekannter Topos als zweite Stütze der Notwendigkeit des Selbstformulierens: Man werde dadurch die Dichter "richtiger" verstehen und sie "gründlicher beurteilen" - nur der Produzent ist adäquat urteilsfähiger Rezipient; Rhetorik vermittelt, als Frucht hermeneutischer Kompetenz, kritische Kompetenz. Bildung zum Weltmann Die Übung im äußeren Vortrag, der Deklamation, wird aus zwei völlig verschiedenen Gründen empfohlen: einem praktisch-politischen sowie einem ästhetisch-metaphysischen. Ohne weitere Erläuterung, weshalb dem so sei, erinnert Fichte zuerst daran, durch rhetorische Schulung werde

174 GA, a.a.O., p.130. 175 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, SW 1, p. 234 f. 98

"... jene Leichtigkeit des Weltmanns, in jedem Augenblicke, da er soll, eben das zu sagen, was er soll (...), wo nicht erworben, so doch befördert." 17