Die Revision des Parteiverbots [1 ed.] 9783428584529, 9783428184521

Gegenstand der Arbeit ist die Interpretation des ursprünglich in Art. 21 Abs. 2 GG a.F. – heute in Art. 21 Abs. 2 und Ab

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German Pages 336 [337] Year 2022

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Die Revision des Parteiverbots [1 ed.]
 9783428584529, 9783428184521

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1467

Die Revision des Parteiverbots Von

Dominik Pokora

Duncker & Humblot · Berlin

DOMINIK POKORA

Die Revision des Parteiverbots

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1467

Die Revision des Parteiverbots

Von

Dominik Pokora

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristenfakultät der Universität Leipzig hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18452-1 (Print) ISBN 978-3-428-58452-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Franziska

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Juristenfakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet, dabei wurden Literatur und Rechtsprechung bis Mai 2021 berücksichtigt. Besonderer Dank gilt meinem verehrten Doktorvater Herrn Prof. Dr. Arnd Uhle für die Möglichkeit zur Promotion als externer Doktorand an seinem Lehrstuhl und die im Rahmen der wissenschaftlichen Betreuung der Arbeit mir gelassene Freiheit. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Hubertus Gersdorf für die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens sowie dessen zügige Erstellung. Beiden gemeinsam sei für den – trotz der schwierigen Umstände aufgrund des zeitweisen Lockdowns in der COVID-19-Pandemie – insgesamt raschen Fortgang des Promotionsverfahrens nach Einreichung der Dissertation gedankt. Viele Personen haben mich während der dreieinhalbjährigen Phase der Manuskripterstellung mit Höhen und Tiefen stetig darin bestärkt, das Dissertationsprojekt neben meinem Beruf als Rechtsanwalt fertigzustellen. Diesen sei jeweils an anderer Stelle mit einer persönlichen Widmung gedankt. Dresden, im Mai 2021

Dominik Pokora

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1

Einleitung 

17

A. Einführung in den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Kapitel 2

Grundlagen des Parteiverbots 

26

A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Parteiverbote im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Parteiverbote in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Rechtliche Stellung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Möglichkeiten des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Reichsvereinsgesetz (RVG) von 1908 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 b) Notverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c) Erstes Gesetz zum Schutze der Republik (RepSchG) von 1922 . . 32 3. Übergang zur NS-Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Die Aufnahme des Parteiverbots in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 36 B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratiedes Grundgesetzes . . 38 I. Historischer Hintergrund: Die Demokratiekonzeption in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Erste Vorarbeiten zur streitbaren Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Instrumentarium und Schutzgut der streitbaren Demokratie . . . . . . . . 44 3. Die Wesensmerkmale der streitbaren Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Der Grundkonflikt der streitbaren Demokratie und seine Auflösung  47 5. Streitbare Demokratie als Verfassungsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 C. Der fortbestehende Geltungsanspruch des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 D. Die Einordnung des Parteiverbots im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

10 Inhaltsverzeichnis I. Funktion und verfassungsrechtliche Stellung der Parteien . . . . . . . . . . . . II. Die Freiheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Parteiverbot als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ . . . . . . . . . . . 1. Parteiverbot und politische Freiheit im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Einhegung des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . a) Erhöhter verfassungsrechtlicher Schutz der Parteienfreiheit . . . . . b) Verhältnis zu Art. 9 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahrenssicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gebot restriktiver Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 55 56 56 57 58 59 60 60

E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Kreis der Antragsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Ermessen bei der Antragstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Antragsgegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 III. Voruntersuchung und mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit und ihre Rechtsfolgen  66 1. Konstitutive Wirkung der Feststellungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . 66 2. Auflösung der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Verbot der Schaffung von Ersatzorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Einziehung des Parteivermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5. Mandatsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 V. Vollzug des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 VI. Bindungswirkung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 F. Parteiverbote und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Die Bedeutung der EMRK für die Auslegung des Grundgesetzes . . . . . 73 II. Anwendbarkeit der EMRK bei der Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG . . 76 III. Die Rolle der EMRK im NPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 IV. Parteiverbote unter der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verbot der SRP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Verbot der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. FAP- und NL-Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das erste Verbotsverfahren gegen die NPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 82 85 88 89 93 95

Inhaltsverzeichnis11 Kapitel 3

Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren 

A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung politischer Parteien durch den Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Institutioneller und materieller Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsschutz als grundgesetzlicher Auftrag  . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tätigwerden der Verfassungsschutzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. V-Leute als nachrichtendienstliches Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Rechtsstellung der V-Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besondere Voraussetzungen für den Einsatz von V-Leuten . . . . . . . . III. Die nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien . . . . . . . . .

97

98 98 98 99 101 102 104 105

B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen im Parteiverbotsverfahren . 110 I. Rechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Gebot der Staatsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Entwicklung des Grundsatzes der Staatsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG zur Parteienfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Bedeutung der Staatsfreiheit im Kontext des Parteiverbotsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. „Strikte“ Staatsfreiheit? – Die Anforderungen im Einzelnen . . . . . . . 119 III. Gebot der Quellenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Anforderungen der Quellenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Konstitutionalisierung der Quellenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Grundlagen und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Bedeutung im Parteiverbotsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V. Fehlerfolgen – Abwägung von rechtsstaatlichen Verstößen mit dem Präventionszweck des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 VI. Exkurs: Geltung der Verfahrensanforderungen auch im Finanzierungsausschlussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kapitel 4

Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG 

A. Die Neujustierung des Begriffs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bedeutung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz und einfachen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im Grundgesetz . . . . 2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im einfachen Recht .

147

147 148 148 149

12 Inhaltsverzeichnis II. Das Problem der Unbestimmtheit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Die freiheitliche demokratische Grundordnung in der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Die Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in den Verbotsurteilen gegen SRP und KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) SRP-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) KPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung in der weiteren Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV. Kritik an der bisherigen Rechtsprechung und Streitstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Kritik an der Formel des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Der Streit um die Identität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Alternative Ansätze zur Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im NPD-Urteil des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Das bundesverfassungsgerichtliche Begriffsverständnis . . . . . . . . . . . 167 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) „Reduzierter Ansatz“ wegen Ausnahmecharakter des Parteiverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Keine Identität mit Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 d) „Drei-Elemente-Lehre“ des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Menschenwürde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 cc) Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Die Bedeutung des reduzierten Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Vergleich der zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugehörigen Elemente im SRP- und NPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Die Unterscheidung zwischen Grundprinzip und Ableitung . 176 bb) Gegenüberstellung der Definitionen aus SRP- und NPDUrteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Die freiheitliche demokratische Grundordnung als Teilmenge des Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Schnittmengen und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Einbeziehung des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 cc) Einbeziehung der einzelnen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 191 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis13 B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Störungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 I. Das bisherige Verständnis der Begriffe „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Die Differenzierung des BVerfG im NPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Beseitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 III. „Beeinträchtigen“ als Redaktionsversehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 C. Ziele der Partei oder Verhalten ihrer Anhänger als Erkenntnismittel . . . . . . . I. Ziele der Partei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhalten der Anhänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anhänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgestuftes Zurechnungskonzept nach Anhängergruppen . . . . . . . aa) Leitende Funktionäre der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einfache Parteimitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonstige Anhänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konformität mit Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zurechnung von Straftaten und Parlamentarischen Äußerungen im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Parlamentarische Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhältnis von Parteizielen und Anhängerverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle – Die Neuinterpretation des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verständnis des „Darauf Ausgehens“ vor dem NPD-Urteil . . . . . . . 1. Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) SRP-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) KPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Streitstand im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rezeption des KPD-Urteils im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Spektrum möglicher Eingriffsschwellen in der Literatur . . . . aa) Zustimmung zum Maßstab im KPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitergehender Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Restriktivere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit: Zur Ausgangslage des BVerfG im zweiten NPD-Verfahren . . . II. Das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ im NPD-Urteil . . . . . . . . . . 1. Kursänderung des BVerfG im NPD-Urteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 208 211 211 212 214 214 215 216 216 217 218 219 219 222 225 227 227 229 229 229 230 232 232 234 235 236 237 240 241 241

14 Inhaltsverzeichnis 2. Inhaltliche Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Prognoserisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zur konkreten Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundgesetzautonome Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Methoden der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überprüfung des Potentialitätsmerkmals anhand der Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verfassungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konventionskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anforderungen des EGMR an die Eingriffsschwelle . . . . . . . bb) Berücksichtigung nationaler Besonderheiten durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245 245 248 249 250 250 252 253 254 256 262 266 267 268 268 276 279 280

E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 I. Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Position des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Bedeutung der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus in der Rechtsprechung zu Partei- und Vereinsverboten . . . . . . . . . . . . 285 a) SRP-Urteil des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Rechtsprechung des BVerwG zu Vereinsverboten . . . . . . . . . . . . . 286 3. Antinationalsozialistisches Sonderrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 II. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Diskussionsstand bis zum NPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Argumentation des BVerfG im NPD-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3. Aspekte der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Parteiverbote als Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt..1 GG als gebundene Entscheidung  296 c) Vergleichende Betrachtung mit Art. 9 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . 298 d) Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch den EGMR  . . . . . . . . . . . 302 e) Lösung des BVerfG: Verhältnismäßigkeitsorientierte Auslegung insbesondere des „Darauf Ausgehens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Inhaltsverzeichnis15 Kapitel 5

Gesamtfazit und Ausblick 

306

Kapitel 6

Zusammenfassung 

310

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

Kapitel 1

Einleitung A. Einführung in den Untersuchungsgegenstand „[Das Parteiverbot trägt] das Risiko in sich, die Freiheit der politischen Auseinandersetzung zu verkürzen. Insbesondere ist der Gefahr zu begegnen, dass dieses Instrument im Kampf gegen politische Gegner missbraucht wird. Auf zwei Wegen lässt sich dieser Gefahr entgegenwirken: Zum einen durch eine restriktive Auslegung der Voraussetzungen des Verbots; zum anderen durch ein strenges justizförmiges Verfahren.“1

Lange Zeit schien zum Themenkomplex „Parteiverbote“ alles gesagt und geschrieben worden zu sein, die Materie sowohl aus rechts- als auch politikwissenschaftlicher Perspektive in allen Facetten hinreichend untersucht. Alleine zahlreiche Monographien befassen sich mit dem in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG (vormals nur in Art. 21 Abs. 2 GG) verankerten Parteiverbot. Einer weiteren wissenschaftlichen Ausarbeitung zu diesem Thema hätte es somit wohl nicht bedurft. Bis zur Entscheidung des BVerfG im zweiten NPD-Verbotsverfahren am 17. Januar 2017. Das lange erwartete und mit großer sowohl politischer als auch medialer Aufmerksamkeit aufgenommene Urteil des BVerfG stellt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 und dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956 erst die dritte Entscheidung in einem Parteiverbotsverfahren dar, in welcher sich das Gericht mit den materiellen Anforderungen des Art. 21 Abs. 2 GG auseinanderzusetzen hatte. Zwar hat das BVerfG es als erwiesen erachtet, dass die NPD nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt und auf die Erreichung dieser Ziele auch planvoll und qualifiziert hinarbeitet. Der Verbotsantrag wurde aber im Ergebnis als unbegründet zurückgewiesen, da es im Rahmen des durch das BVerfG neu interpretierten Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht fehle, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln letztlich zum Erfolg führe (sog. „Potentiali-

1  Limbach,

Das BVerfG, S. 62.

18

Kap. 1: Einleitung

tät“). Auf den Punkt gebracht könnte man zusammenfassen: „verfassungsfeindlich, aber zu bedeutungslos“. Während die NPD das Urteil trotz der ihr durch das BVerfG ausdrücklich attestierten mangelnden Durchschlagskraft als Sieg aufnahm, reagierte die politische Öffentlichkeit überwiegend enttäuscht. Gleichzeitig wurde als Erfolg verbucht, dass der Senat erstmals die Verfassungsfeindlichkeit der NPD bescheinigt hat und deren Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bevölkerung so vor Augen geführt werden konnten. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus müsse deshalb in der Gesellschaft weitergeführt werden.2 Das Echo in der Tagespresse fiel erwartungsgemäß unterschiedlich aus. Der ehemalige Richter am Bundesverwaltungsgericht und langjährige Präsident des Verfassungsgerichtshofs in Nordrhein-Westfalen Michael Bertrams attestierte dem BVerfG im Kölner Stadt-Anzeiger „einen substanziellen Schwenk“, mit dem es „seine bisherige Rechtsprechung preisgegeben“ habe.3 Die Welt (Torsten Kraul) kommentierte, das BVerfG habe „seine Rechtsprechung aus den 50er Jahren auf den Kopf gestellt“ und damit „Mut bewiesen – und Leichtsinn“.4 Der Tagesspiegel (Jost Müller-Neuhof) konnte der Entscheidung des BVerfG Positives abgewinnen: „Eine Niederlage für die Politik – aber ein Gewinn für die Demokratie“ sei das Urteil. Das BVerfG habe das Verbotsverfahren dazu genutzt, „umfassend die Maßstäbe zu aktualisieren“, unter denen eine Partei nach dem Grundgesetz verboten werden darf. Deshalb sei es „ein Urteil für die Zukunft, nicht für die Geschichte“.5 Die FAZ (Reinhard Müller) feierte den Ausgang des Parteiverbotsverfahrens gar als „beeindruckend“ und „Urteil für die Freiheit“, obschon ein gewisses Risiko verbleibe, „dass der Schuss auch nach hinten losgehen kann.“6 Ganz anders dagegen die Stuttgarter Zeitung (Armin Käfer): Die Entscheidung sei „ein Debakel für die Demokratie“ und „eine Blamage für die Bundesländer“, über die sich nur Verfassungsfeinde freuen dürften. Weiter noch: Dem Urteil wohne gar ein „selbstzerstörerisches Potenzial inne“.7 Auch die Süddeutsche Zeitung kommentierte in Person von Heribert Prantl, die NPD „hätte verboten werden können und müssen“, gerade auch weil sie klein und unbedeutend sei. Das Parteiverbot sei ein „Akt der Prävention“, dem sich das BVerfG

2  Vgl. die Zusammenstellung verschiedener Reaktionen aus der Politik bei Budrich, GWP 66 (2017), S. 129 (131 ff.). 3  Kölner Stadt-Anzeiger v. 18.01.2017, S. 6: „Ein fataler Schwenk“. 4  Die Welt v. 18.01.2017, S. 1: „Mutig – und leichtsinnig“. 5  Der Tagesspiegel v. 18.01.2017, S. 6: „So sehen Siege aus“. 6  Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.01.2017, S. 1: „Für die Freiheit“. 7  Stuttgarter Zeitung v. 18.01.2017, S. 1: „Stumpfes Schwert“.



A. Einführung in den Untersuchungsgegenstand19

„verweigert“ habe.8 Viele Zeitungen legten die Betonung aber auf die Schwäche der NPD und ihren desolaten Zustand als Grund für das gescheiterte Verbotsverfahren.9 Auch in der juristischen Literatur ist das Urteil über die üblicherweise zu erwartende unterschiedliche Rezeption gerichtlicher Entscheidungen hinaus durchaus kontrovers aufgenommen worden. Laubinger spricht von einer „tollkühnen Konstruktion“ bei der Interpretation des Art. 21 Abs. 2 GG, welche „nur schwer nachzuvollziehen“ sei.10 Hillgruber hält das Urteil weder verfassungsrechtlich noch verfassungspolitisch für überzeugend.11 Nach Ansicht von Ipsen muss das Urteil aufgrund seiner „inneren Widersprüchlichkeit“ bei Politik und Wissenschaft gar „auf Ratlosigkeit stoßen“.12 Mit ­seinem Urteil habe, so Ipsen weiter, das BVerfG „das Ende des Parteiverbotsverfahrens eingeläutet“ und dieses „der Verfassungsgeschichte überant­ wortet“.13 Auch für Linke stellt sich die Frage, welchen Sinn das Parteiverbot nach der durch das BVerfG vorgenommenen interpretatorischen Einengung der Verbotsvoraussetzungen überhaupt noch haben soll.14 Andere Stimmen sehen in dem Urteil des BVerfG dagegen eine überfällige Revision der bisherigen Maßstäbe für Parteiverbote. So habe das BVerfG nach Ansicht von Jacob seine „in den 1950er Jahren getroffenen Kernaussagen zum Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG […] ins 21. Jahrhundert übersetzt und konturiert“.15 Die Anforderungen an ein Parteiverbot seien dadurch der „aktuellen politischen Wirklichkeit“ angepasst worden.16 Höhner/Jürgensen sehen in der Entscheidung des BVerfG „ein[en] Wandel von einer gesinnungs- hin zu einer verhaltensbezogenen Verbotsprüfung“, welcher erforderlich gewesen sei, um den veränderten politischen Realitäten und der neueren Rechtsprechung des EGMR zu Parteiverboten Rechnung zu tragen.17 Für Leggewie/Lichdi/ Meier geht das Urteil dagegen nicht weit genug: „Hohe Hürden sehen anders 8  Süddeutsche

Zeitung v. 18.01.2017, S. 4: „Braun bleibt“. nur Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.01.2017, S. 2: „Erlaubt ist, was schwach ist“; Handelsblatt v. 18.01.2017, S. 6 f.: „Zu schwach für ein Verbot“; Kölner Stadt-Anzeiger v. 18.01.2017, S. 6: „Partei ohne Potenzial“; Die Welt v. 18.01.2017, S. 4: „Die NPD ist eines Verbots unwürdig“; taz v. 18.01.2017, S. 1: „Höchststrafe für die NPD“; Süddeutsche Zeitung v. 18.01.2017, S. 2: „Vom Scheinriesen zum braunen Zwerg“. 10  Laubinger, ZRP 2017, 55 (56). 11  Hillgruber, JA 2017, 398 (400). 12  Ipsen, RuP 2017, 3 (7). 13  Ipsen, RuP 2017, 3 (8); ähnlich Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 221. 14  Linke, DÖV 2017, 483 (493). 15  Jacob, jM 2017, 110 (114). 16  Jacob, jM 2017, 110 (116). 17  Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103. 9  Vgl.

20

Kap. 1: Einleitung

aus“, lautet bereits der Titel ihrer Urteilsbesprechung.18 Sie sehen in der Entscheidung kein wirkliches Abrücken von den Maßstäben der 1950er Jahre und kritisieren die fortdauernde Ideologisierung des Parteiverbots.19 Natürlich finden sich auch weitere differenzierende Stimmen, doch macht diese ausgewählte Kompilation aus im Zusammenhang mit dem zweiten NPDVerbotsverfahren erschienenen Beiträgen deutlich, dass mit dem NPD-Urteil erneut die Tür für juristische Debatten über das Parteiverbot geöffnet wurde und eine Wiederbesichtigung des Parteiverbots als Untersuchungsgegenstand seine Berechtigung findet. Die soeben dargestellte Kritik an dem Urteil bezieht sich überwiegend auf die Einführung des Potentialitätskriteriums im Rahmen der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ und die damit einhergehende Erhöhung der Eingriffsschwelle für Parteiverbote im Vergleich zu den bisherigen Verbotsurteilen. Dies stellt aber nicht die einzige Neuerung im NPD-Urteil dar. Das BVerfG hat sich auch erstmals wieder nach mehr als 60 Jahren mit dem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ auseinandergesetzt, der über seine Funktion als tatbestandliches Schutzgut des Parteiverbots hinaus von Bedeutung im Verfassungsrecht, einfachen Recht sowie in der gesellschaftspolitischen Debatte ist, und sich dabei von seiner lange Zeit maßgeblichen, noch aus dem SRP-Urteil stammenden Definition abgegrenzt. Daneben wurden auch die in der Diskussion weniger beachteten Tatbestandsmerkmale des Beeinträchtigens und Beseitigens sowie des Anhängerverhaltens erstmals präzisiert. Ebenso musste sich das BVerfG auch mit dem in der Literatur seit langem schwelenden Streit um die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen von Parteiverboten auseinandersetzen. Schließlich galt es für das BVerfG, bei seiner Auslegung die zwischenzeitlich erfolgte „Europäisierung“ des Parteiverbots durch die Rechtsprechung des EGMR zur Konventionsmäßigkeit nationaler Parteiverbote zu berücksichtigen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht stellte sich von Anfang an die Frage des Vorliegens von Verfahrenshindernissen im Zusammenhang mit der nachrichtendienstlichen Beobachtung der NPD, die den Antragstellern im ersten NPD-Verbotsverfahren bereits zum Verhängnis geworden war und zu einer Einstellung des Verfahrens ohne Sachentscheidung geführt hatte. Unter den damaligen Richtern des Zweiten Senats gab es jedoch erhebliche Meinungsunterschiede darin, wie mit der Problematik der Präsenz von staatlichen ­V-Leuten in den Führungsgremien der Partei im Verfahren umzugehen sei. Auch hier bezog das BVerfG zu den divergierenden Voten von entscheidungstragender Senatsminderheit und nicht entscheidungstragender Senatsmehrheit im NPD-Einstellungsbeschluss Position, um die rechtsstaatlichen 18  Leggewie/Lichdi/Meier, 19  Leggewie/Lichdi/Meier,

RuP 2017, 145 und 324. RuP 2017, 145 (146).



A. Einführung in den Untersuchungsgegenstand21

Anforderungen an die Durchführung künftiger Verbotsverfahren eindeutig zu klären. Das NPD-Urteil vom 17. Januar 2017 zeichnet damit erstmals ein vollständiges Bild der formellen und materiellen bundesverfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei auf Grundlage von Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG. Die verfassungspolitische Dimension des NPD-Urteils hat sich relativ kurze Zeit später auch unmittelbar im Grundgesetz niedergeschlagen, und zwar in Gestalt einer Änderung des lange Zeit unangetasteten Art. 21 GG über politische Parteien. Durch das Urteil ist die bereits in der Vergangenheit angestoßene Debatte darüber, ob verfassungsfeindliche Parteien möglicherweise finanziell ausgehungert werden könnten, indem ihnen Leistungen aus der staatlichen Parteienfinanzierung entzogen werden, neu aufgeflammt.20 Das BVerfG selbst deutete in seinem Urteil an, dass es dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten sei, Sanktionsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle des Parteiverbots zu prüfen.21 Deutlicher wurde Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle aber bereits in seiner Einleitung zur Urteilsverkündung, als er auf die Möglichkeit des Entzugs der staatlichen Parteienfinanzierung hinwies.22 Bereits kurze Zeit nach dem Urteil sprach sich der Bundesrat für eine entsprechende Gesetzesinitiative aus.23 Am 22. Juni 2017 beschloss der Deutsche Bundestag schließlich auf Grundlage eines Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD24 eine Änderung des Grundgesetzes und einfachgesetzlicher Vorschriften, um verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Finanzierung und von steuerlichen Begünstigungen auszuschließen.25 Der Bundesrat stimmte am 07. Juli 2017 der vom Bundestag beschlossenen Grundgesetzänderung und dem entsprechenden Begleitgesetz einstimmig zu und kündigte gleichzeitig in einer ebenfalls einstimmig gefassten Entschließung an, einen entsprechenden Antrag auf Ausschluss der NPD von 20  Zu dieser Frage wurde im Auftrag des Landes Niedersachsen bereits 2008 ein Gutachten von Epping erstellt, abrufbar unter www.mi.niedersachsen.de/down load/34931, zuletzt abgerufen am 30.04.2021; siehe zu der Diskussion vor der Grundgesetzänderung Schwarz, NVwZ-Beilage 2017, 39; Laubinger, ZRP 2017, 55; Morlok, ZRP 2017, 66; Ferreau, DÖV 2017, 494; van Ooyen, RuP 2013, 84. 21  BVerfGE 144, 20 (202, Rn. 527). 22  Vgl. den abgedruckten Wortlaut des Eingangsstatements bei Kliegel/Roßbach, NPD-Verbotsverfahren, S. 1285. 23  Vgl. die Gesetzesinitiative des Landes Niedersachsen, BR-Drs. 153/17 v. 16.02.2017. Der federführende Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss empfahlen daraufhin, eine geänderte Fassung beim Deutschen Bundestag einzubringen, vgl. Beschlussvorlage BR-Drs. 153/1/17 v. 10.03.2017. 24  BT-Drs. 18/12357 und BT-Drs. 18/12358 v. 16.05.2017. 25  Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/240 v. 22.06.2017, S. 24560.

22

Kap. 1: Einleitung

der staatlichen Parteienfinanzierung vor dem BVerfG zu stellen.26 Die Änderung des Art. 21 GG, der nunmehr in Abs. 3 die Voraussetzungen für einen Ausschluss von der staatlichen Finanzierung enthält, ist am 20. Juli 2017 in Kraft getreten.27 Die materiellen Voraussetzungen an ein Parteiverbot sind dabei unverändert geblieben. Der bisherige Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG, der das Entscheidungsmonopol des BVerfG statuierte, findet sich nunmehr als Teil einer gemeinsamen Kompetenzzuweisung an das BVerfG für beide Verfahrensarten in Art. 21 Abs. 4 GG. Wenn in der vorliegenden Arbeit von „Art. 21 Abs. 2 GG a. F.“ und „Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG“ die Rede ist, soll dies somit keine Änderung in den tatbestandlichen Anforderungen an ein Parteiverbot zum Ausdruck bringen. Diese Differenzierung trägt nur dem Umstand Rechnung, dass Rechtsgrundlage für Parteiverbote bis einschließlich der Entscheidung vom 17. Januar 2017 alleine Art. 21 Abs. 2 GG gewesen ist, der in Satz 1 die Tatbestandsmerkmale der Verfassungswidrigkeit enthielt. Am 19. Juli 2019 stellten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung beim BVerfG einen Antrag auf Ausschluss der NPD von der staatlichen ­Finanzierung, über den bis zum Abschluss des für die Veröffentlichung überarbeiteten Manuskripts der Arbeit im Mai 2021 noch nicht entschieden worden ist.28

B. Ziel der Untersuchung Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel einer Bestandsaufnahme und Analyse des aktuellen bundesverfassungsgerichtlichen Parteiverbotsverständnisses im NPD-Urteil mehr als 60 Jahre nach der letzten Sachentscheidung in einem Parteiverbotsverfahren. Untersucht werden soll, wie sich in der Rechtsprechung des BVerfG unter Berücksichtigung des jeweiligen zeitgeschicht26  BR-Drs. 509/17 v. 07.07.2017. Das neue Finanzierungsausschlussverfahren ist nach Ansicht von von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46a Rn. 3 (Juli 2020), daher „offensichtlich auf die NPD zugeschnitten“; Lechner/ Zuck, BVerfGG, § 46a Rn. 2 sprechen gar von einer „lex NPD“. 27  BGBl. I 2017, S. 2346. 28  Das Verfahren wird beim BVerfG unter dem Aktenzeichen 2 BvB 2/19 geführt. Daneben ist beim BVerfG auch ein von der NPD eingeleitetes Organstreitverfahren anhängig zu der Frage, ob der Deutsche Bundestag durch Beschluss von Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs. 18/12357 und 18/12846) in Form des neu eingefügten Art. 21 Abs. 3 GG, wonach „verfassungsfeindliche“ Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden „sollen“, die Rechte der NPD aus Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 79 Abs. 3 GG verletzt hat (Aktenzeichen 2 BvE 1/17). Mit Entscheidungen in beiden Verfahren ist im Laufe des Jahres 2021 zu rechnen.



B. Ziel der Untersuchung23

lichen Kontextes die Maßstäbe für ein Parteiverbot vom SRP-Urteil über das KPD-Urteil hin zur jüngsten Entscheidung im zweiten NPD-Verbotsverfahren entwickelt und verändert haben und ob mit dem aktuellen Urteil die Verbotsvoraussetzungen für die Zukunft nunmehr präzise und praktisch handhabbar festgelegt worden sind. Die in der Arbeit im Wesentlichen behandelten Aspekte des Parteiverbots und NPD-Urteils sollen nachfolgend in Frageform aufgelistet werden, wobei deren Reihenfolge dem Aufbau der Entscheidung folgt: •• Wie ist das Parteiverbot gem. Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG in einer freiheitlichen Demokratie einzuordnen? Hat das Parteiverbot in der mittlerweile gefestigten Demokratie des Grundgesetzes noch seinen Geltungsanspruch behalten? •• Welche Bedeutung kommt den vom BVerfG direkt aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfahrensgrundsätzen (Gebot der Staats- und Quellenfreiheit, Grundsatz des fairen Verfahrens) für die erfolgreiche Durchführung eines Verbotsverfahrens zu? Liegt darin eine Weiterentwicklung gegenüber den Maßstäben aus dem NPD-Einstellungsbeschluss aus dem Jahr 2003? Bedarf es für die rechtsstaatliche Sicherung des Verbotsverfahrens eines Rückgriffs auf derartige Verfahrensgrundsätze? •• Wie unterscheidet sich das bundesverfassungsgerichtliche Inhaltsverständnis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im NPD-Urteil von der bisherigen, lange Zeit maßgeblichen Definition des BVerfG aus dem SRP-Urteil? •• Wie sind die erstmalige Differenzierung der beiden Störungsalternativen des Beeinträchtigens und Beseitigens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie das Zurechnungskonzept des BVerfG im Rahmen des Anhängerverhaltens als einem der Erkenntnisquellen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zu bewerten? •• Bleibt im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG Raum für die Annahme der nunmehr vom BVerfG geforderten „Potentialität“ im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“? Ist das Potentialitätskriterium erforderlich, um eine Vereinbarkeit der grundgesetzlichen mit den durch den EGMR aufgestellten konventionsrechtlichen Maßstäben für Parteiverbote herzustellen? •• Wie ist die Absage an eine eigenständige Bedeutung der Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus im Rahmen des Tatbestandes des Art. 21 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund des SRP-Urteils und der Rechtsprechung zu einer solchen Wesensverwandtschaft von Vereinigungen bei Vereinsverboten einzuordnen? Liegt darin eine Bestätigung der umstrittenen bundesverfassungsgerichtlichen Linie aus dem Wunsiedel-Beschluss?

24

Kap. 1: Einleitung

•• Kann die Begründung des BVerfG für die Absage an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zu Vereinsverboten nach Art. 9 Abs. 2 GG und der Rechtsprechung des EGMR zur Verhältnismäßigkeit von Parteiverboten, überzeugen? Nicht Gegenstand der Untersuchung ist dagegen die Subsumtion des Sachverhalts bzw. Beweismaterials unter die abstrakten Verbotsvoraussetzungen durch das BVerfG in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall der NPD. Der Verfasser will mit dieser Arbeit demnach keine vom Gericht abweichende Würdigung des Tatsachenmaterials unter den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG vornehmen. Die Frage dieser Arbeit lautet nicht: „Hätte die NPD verboten werden müssen?“ Die Arbeit zielt auch nicht auf eine Untersuchung des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens in Art. 21 Abs. 3 GG oder eine vergleichende Gegenüberstellung der Instrumente des Parteiverbotsverfahrens und Finanzierungsausschlussverfahrens. Da sich Letzteres aber als unmittelbare rechtspolitische Antwort des verfassungsändernden Gesetzgebers auf die veränderte Auslegung des Parteiverbotstatbestandes durch das BVerfG darstellt, wird in dieser Arbeit darauf einzugehen sein, soweit sich daraus Folgen für die Durchführbarkeit und die Anforderungen an künftige Parteiverbotsverfahren ergeben.

C. Gang der Untersuchung Das nachfolgende zweite Kapitel stellt zunächst eine Art „Allgemeiner Teil“ zum Parteiverbot dar, ohne den eine Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkmale nicht auskommt. Beginnend mit einem kurzen historischen Rückblick auf die Rechtsgrundlagen und Praxis von Parteiverboten vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wird der Hintergrund für die Aufnahme der verfassungsrechtlichen Verankerung des Parteiverbotsartikels im Grundgesetz als eines der Schutzinstrumente „streitbarer Demokratie“ und seine nach wie vor fortbestehende Legitimität erläutert. Anschließend wird ein Überblick über den Verfahrensablauf und die Entscheidungswirkungen eines Parteiverbots gegeben sowie auf die mittlerweile bedeutende konventionsrechtliche Relevanz nationaler Parteiverbote eingegangen, die es im Rahmen einer Entscheidung nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG zu berücksichtigen gilt. Zum Ende des Kapitels werden Hintergrund und Bedeutung der bisherigen vor dem BVerfG anhängigen Parteiverbotsverfahren dargestellt. Das dritte und vierte Kapitel folgen sodann weitestgehend dem Aufbau des NPD-Urteils. Im dritten Kapitel werden nach einer Einführung zu den Grundlagen nachrichtendienstlicher Beobachtung politischer Parteien durch



C. Gang der Untersuchung25

V-Leute des Verfassungsschutzes die vom BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfahrensgebote der Staatsfreiheit, Quellenfreiheit und des Fair-trial-Grundsatzes im Einzelnen behandelt. Das vierte Kapitel bildet den Schwerpunkt dieser Arbeit und hat die ­ ntersuchung der bundesverfassungsgerichtlichen Interpretation der einzelU nen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG zum Gegenstand, wobei die Schwerpunkte hier auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Schutzgut des Parteiverbots sowie dem problematischen Merkmal „darauf ausgehen“ als Eingriffsschwelle für ein Parteiverbot liegen. Ausgespart wird nur die bislang nie in einem Parteiverbotsverfahren relevant gewordene Schutzgutsalternative des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland. Schließ­lich wird in diesem Kapitel noch die Absage des BVerfG an die Wesensverwandtschaft der Partei mit dem Nationalsozialismus und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung als in der Diskussion stehende ungeschriebene Tatbestandsmerkmale des Parteiverbots behandelt. Im fünften Kapitel wird eine abschließende Einordnung der verfassungspolitischen Bedeutung des NPD-Urteils vorgenommen, verbunden mit einem Ausblick auf die Zukunft des Parteiverbotsverfahrens. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Befunde dieser Arbeit findet sich im sechsten Kapitel am Ende der Untersuchung.

Kapitel 2

Grundlagen des Parteiverbots Um sich einer Untersuchung des Parteiverbots annehmen zu können, ist es erforderlich, zumindest in Grundzügen ein Verständnis im Hinblick auf die Hintergründe und die rechtliche Einbettung des Parteiverbotsverfahrens in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG zu entwickeln. Beginnend mit einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Parteiverbote in Deutschland und den Entstehungsprozess der Parteiverbotsregelung im Grundgesetz (A.) ist im Anschluss auf die streitbare Demokratie als ihren ideengeschichtlichen Rahmen einzugehen (B.). Weiterhin wird auf die auch im NPD-Urteil thematisierte Frage eingegangen, ob sich das Parteiverbot angesichts inzwischen verfestigter demokratischer Strukturen als Instrument des Demokratieschutzes nicht bereits „überlebt“ hat (C.). Es folgt eine systematische Einordnung des Parteiverbots im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes und sein Verhältnis zu den darin enthaltenen demokratischen Gewährleistungen (D.). Auch der Ablauf des Parteiverbotsverfahrens soll in diesem Kapitel in seinen Grundzügen vorgestellt werden (E.). Eine Untersuchung der deutschen Rechtslage erfordert es mittlerweile ebenso, den Blick auf das internationale Recht der EMRK zu werfen, welche bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist (F.). Eine Darstellung der Hintergründe und der Ergebnisse bisheriger Verbotsverfahren vor dem BVerfG (G.) soll die praktische Bedeutung des Parteiverbots in über 70 Jahren Bundesrepublik aufzeigen und das Kapitel abrunden.

A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland Die geschichtliche Entwicklung des Parteiverbots in Deutschland soll in dieser Arbeit keinen breiten Raum einnehmen.1 Um die verfassungspolitische Bedeutung des Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG besser einordnen zu können, ist es gleichwohl erforderlich, in der gebotenen Kürze auf dessen verfassungsgeschichtliche Hintergründe einzugehen. Neben dem Erlebnis der 1  Dazu ausführlich Grünthaler, Parteiverbote in der Weimarer Republik; Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?; Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien, S.  26 ff.; Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik; dies., ZParl 2001, 536.



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 27

nationalsozialistischen Diktatur, gegen die sich die neue Verfassungsordnung der Bundesrepublik in einen bewussten und gewollten Kontrast setzen musste, waren insbesondere die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik einschließlich der Ursachenforschung für deren Untergang prägend für die Entstehung des Grundgesetzes und wichtig für das Verständnis der Entscheidung des historischen Verfassungsgebers, mit Art. 21 Abs. 2 GG a. F. ein Parteiverbot in die Verfassung aufzunehmen. In der deutschen Verfassungsgeschichte stellt dies ein Novum dar. Die Geschichte der Parteiverbote in Deutschland beginnt aber nicht erst mit der Gründung der Bundesrepublik, sondern reicht bis in die Zeit des Deutschen Kaiserreichs zurück, in dem die Parteien als gesellschafts- und staatspolitische Faktoren zunehmend an Bedeutung gewannen. Der Fokus soll jedoch auf der diesbezüglichen Rechtslage in der Weimarer Republik liegen.

I. Parteiverbote im Kaiserreich Die Bismarck’sche Reichsverfassung vom 16. April 1871 erwähnte politische Parteien nicht ausdrücklich und garantierte auch keine individuelle Vereinigungsfreiheit. Auch in den einfach-gesetzlichen Vorschriften des Kaiserreichs und den Landesverfassungen suchte man den Begriff der politischen Partei vergebens. Dabei waren die Parteien durch ihre parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten im Reichstag zu einem notwendigen Bestandteil der Verfassungswirklichkeit geworden.2 Aufgrund der fehlenden ausdrücklichen Anerkennung der Parteien im Normgefüge des Deutschen Kaiserreiches hat auch das Verbot politischer Parteien keine spezielle gesetzliche Regelung erfahren. Die Reichsverfassung kannte keine Schutzmechanismen gegen „verfassungsfeindliche Organisationen“. Gleichwohl bildeten sich bereits während der Zeit des Deutschen Kaiserreiches erste spezifische normative Beschränkungen mit Präventionscharakter für Vereinigungen heraus. Es handelte sich dabei zum einen um das am 21. Oktober 1878 erlassene Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie3, besser bekannt unter der Kurzbezeichnung „Sozialistengesetz“ (SozG), durch welches die Ziele und Tätigkeiten sozialdemokratischer Vereinigungen von vornherein als staatsfeindlich eingestuft wurden.4 Das Verbot nach § 1 SozG erstreckte sich auf Verbindungen aller Art und war daher insbesondere auf politische Parteien anzuwenden.5 Die Zuständigkeit lag bei den Landes­ 2  Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 782; ders., Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 15 f; Stein, ZParl 2001, 536 (541). 3  RGBl. 1878, S. 351. 4  Zum Sozialistengesetz instruktiv Maaß, JuS 1990, 702. 5  Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 1161.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

polizeibehörden. Die parlamentarische Tätigkeit der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten wie auch die Beteiligung der Sozialdemokraten an Wahlen zum Reichstag blieben davon aber unangetastet. Das SozG lief nach mehreren Verlängerungen zum 30. September 1890 aus, nachdem das von Bismarck beabsichtigte Ziel einer Schwächung der Sozialdemokratie eindeutig verfehlt wurde. Mit dem Reichsvereinsgesetz (RVG) vom 19. April 19086 wurde eine weitere Möglichkeit des Verbots politischer Parteien geschaffen. Nach § 2 Abs. 1 RVG konnte ein Verein, dessen Zweck den Strafgesetzen zuwiderlief, aufgelöst werden. Auch politische Parteien fielen unter diesen Auflösungstatbestand, sofern ihre Organisation vereinsmäßig aufgebaut war.7 Die Auf­ lösung lag im Ermessen der zuständigen Polizeibehörden. Dem aufgelösten Verein stand gegen die Auflösungsverfügung der Verwaltungsrechtsweg offen.

II. Parteiverbote in der Weimarer Republik Auch die Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 ignorierte die politischen Parteien trotz der staatstragenden Rolle, die sie in der Weimarer Republik einnahmen.8 Der Begriff der Partei fand sich einzig in Art. 130 Abs. 1 WRV, wonach die Beamten „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ seien. Die Frage der rechtlichen Eingliederung von Parteien in das künftige Verfassungsgefüge der Weimarer Republik spielte in den Beratungen der verfassunggebenden Nationalversammlung keine Rolle, obwohl es gerade die Parteien waren, welche die WRV in der Nationalversammlung ausgearbeitet hatten.9 Folglich fehlte es auch an einer mit Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Schutzbestimmung gegen die organisierten Feinde der neuen demokratischen Republik. Dies entsprach zugleich dem liberalen Geist der Verfassung, sich nicht gegen bestimmte politische Strömungen alleine aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Ausrichtung zu stellen.10 Es gab während der Zeit der Weimarer Republik gleichwohl ein rechtliches Instrumentarium, welches zur Bekämpfung extremistischer Parteien genutzt werden konnte.

6  RGBl. 1908,

S. 151. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 72 (Januar 2012). 8  Vgl. dazu bereits aus Weimarer Zeit Radbruch, in: Anschütz/Thoma, Handbuch Deutsches StaatsR I, S. 285 (288 ff.). 9  Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 45; Gusy, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 15. 10  Vgl. hierzu unten sub B. I. 7  Klein,



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 29

1. Rechtliche Stellung der Parteien In Ermangelung einer speziellen Rechtsgrundlage fielen die Parteien, wie schon zuvor während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, unter das allgemeine Vereinsrecht. Im Vergleich zur Bismarck’schen Reichsverfassung war die Freiheit der Parteien in der WRV aber zumindest durch das Individualgrundrecht der Vereinigungsfreiheit gem. Art. 124 WRV verfassungsrechtlich festgeschrieben. Der Schutzbereich sowie die Schranken der Vereinigungsfreiheit waren auch auf politische Parteien anwendbar.11 Art. 124 Abs. 1 WRV gewährleistete allen Deutschen das Recht, „zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Einschränkungen der Parteienfreiheit und somit auch Parteiverbote konnten demnach verfassungsgemäß auf Grundlage einer Norm ergehen, welche die Verletzung von Strafgesetzen zur Voraussetzung für ein Verbot machte. 2. Möglichkeiten des Parteiverbots a) Reichsvereinsgesetz (RVG) von 1908 Eine Rechtsgrundlage für den Erlass von Parteiverboten stellte auch in der Weimarer Republik der noch aus der Zeit des Kaiserreichs stammende und gem. Art. 178 Abs. 2 WRV fortgeltende § 2 Abs. 1 RVG dar, wonach ein Verein, dessen Zweck den Strafgesetzen zuwiderlief, aufgelöst werden konnte. Die Regelung des § 2 Abs. 1 RVG füllte damit den in Art. 124 Abs. 1 WRV niedergelegten Vorbehalt der Strafgesetze aus. In der Staatspraxis konnte sich die Verbotsmöglichkeit nach dem RVG allerdings nicht durchsetzen. Auf Grundlage von § 2 Abs. 1 RVG wurden während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nur zwei Auflösungsverfügungen gegen politische Parteien ausgesprochen; in beiden Fällen waren Ortsgruppen der NSDAP betroffen. Beide Verbote wurden wieder aufgehoben.12 b) Notverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV Eine weitere Grundlage für Parteiverbote in der Weimarer Republik waren die Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV. Der 11  Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, S. 576; Poetzsch-Heffter, Handkommentar Reichsverfassung, Art. 124 Anm. 2 c), S. 428; Giese, Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 124 Anm. 2, S. 268. 12  Dazu näher Grünthaler, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 226  ff.; Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 80 ff.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Reichspräsident war nach der Generalklausel des Art. 48 Abs. 2 WRV befugt, bei einer erheblichen Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Deutschen Reich die zu deren Wiederherstellung nötigen Maßnahmen zu treffen. Diese polizeilichen Befugnisse des Reichspräsidenten aufgrund von Art. 48 Abs. 2 WRV werden auch mit dem Begriff „Diktaturgewalt“ bezeichnet.13 Die Vorschrift ermächtigte den Reichspräsidenten, zu diesem Zweck vorübergehend eine Reihe von Grundrechten außer Kraft zu setzen, wozu auch die Vereinigungsfreiheit gehörte. Die Schutzwirkung des Art. 124 Abs. 1 GG für politische Parteien konnte durch die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten damit ausgeschaltet werden.14 Vereinigungs- bzw. Parteiverbote konnten nun dadurch ergehen, dass bestimmte Vereinigungen entweder im Wege der Einzelfallverordnung untersagt15 oder aber durch sog. rechtssetzende oder gesetzesvertretende Notverordnungen weitergehende Ermächtigungstatbestände zum Verbot von Vereinigungen geschaffen wurden.16 An dieser Stelle sollen zwei Notverordnungen des Reichspräsidenten in den von politischen Unruhen geprägten Krisenjahren 1922/1923 erwähnt werden, auf deren Grundlage zeitweise Parteiverbote ergingen. Es handelte sich zum einen um die Verordnung zum Schutze der Republik vom 26. Juni 192217, die als Reaktion auf die Ermordung des damaligen Reichsaußenministers Walther Rathenau erlassen wurde. Nach § 1 dieser Verordnung konnten Vereine und Vereinigungen verboten und aufgelöst werden, die Bestrebungen „zur gesetzwidrigen Beseitigung der republikanischen Staatsform oder zu Gewalttaten gegen Mitglieder der jetzigen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes“ verfolgen oder die „die republikanischen Einrichtungen des Staates in einer den inneren Frieden gefährdenden Weise verächtlich machen“. Schutzgut war demnach die republikanische Staatsform mitsamt ihren Repräsentanten. Gestützt auf diese Verordnung wurden Verbote gegen die rechtsextreme Deutschsoziale Partei sowie die NSDAP in bestimmten Gebieten ausgesprochen.18 Die Verbote 13  Dieser Begriff wurde schon zu Weimarer Zeiten verwendet, siehe etwa die Überschrift der Kommentierung zu Art. 48 Abs. 2 bei Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, S. 275. Näher zur Diktaturgewalt Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, S.  50 ff. 14  Auch die Landesregierungen konnten bei Gefahr in Verzug für ihr Gebiet nach Art. 48 Abs. 4 WRV einstweilige Diktaturmaßnahmen treffen. 15  Wie die Notverordnung des Reichspräsidenten vom 13. April 1932, RGBl. I 1932, S. 175, mit der die paramilitärischen NSDAP-Organisationen SA und SS verboten wurden. 16  Einen prägnanten Überblick über die gesetzesgleichen Notverordnungen des Reichspräsidenten, welche Regeln zu Vereinigungsverboten enthielten, gibt Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 32 ff. 17  RGBl. I 1922, S. 521. 18  Dazu Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 108 ff.



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 31

gegen die Deutschsoziale Partei wurden durch den neu eingerichteten Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik aufgehoben, die Verbote gegen die NSDAP schließlich wieder von den Behörden selbst. Die rechtliche Geltung der Verordnung endete im gesamten Reichsgebiet mit deren Aufhebung durch den Reichspräsidenten am 25. Juli 1922.19 In der Verordnung betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet nötigen Maßnahmen vom 26. September 192320 war keine besondere Ermächtigungsgrundlage für ein Parteiverbot enthalten.21 Nach § 1 der Verordnung wurden unter anderem die Grundrechte der Vereins- und Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Die vollziehende Gewalt wurde nach § 2 auf den Reichswehrminister übertragen, was auch den Erlass von Vereins- und Parteiverboten außerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 124 WRV einschloss, sofern diese zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich waren. Durch Verordnung des Chefs der Heeresleitung General v. Seeckt vom 23. November 192322 wurden auf dieser Grundlage die NSDAP, die DeutschVölkische Freiheitspartei und die KPD im gesamten Reichsgebiet aufgelöst und verboten. Die Notverordnung des Reichspräsidenten wurde durch Verordnung vom 28. Februar 1924 wieder aufgehoben.23 Die Parteiverbote traten damit wieder außer Kraft. Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV und der jeweiligen Landesregierungen gem. Art. 48 Abs. 4 WRV boten aufgrund der generalklauselartigen Fassung rechtlich kaum eingrenzbare und damit auch missbräuchliche Möglichkeiten zum Einschreiten gegen politische Parteien. Die Entscheidung über die Anwendung der Generalklausel des Art. 48 Abs. 2 WRV lag allein in der Kompetenz des Reichspräsidenten.24 Die auf Grundlage der Ausnahmegewalt tatsächlich erlassenen Parteiverbote zum Schutz der Republik waren nur vorübergehender Natur und sollten während innenpolitisch unruhiger Zeiten zu einer zeitweisen Stabilisierung der Verhältnisse in der Weimarer Republik beitragen.25 19  RGBl. I

1922, S. 630. 1923, S. 905. 21  Zum geschichtlichen Hintergrund dieser Verordnung Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 169 ff. 22  Deutsche Allgemeine Zeitung v. 23.11.1923, Nr. 545, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 321, S. 376 f. 23  RGBl. I 1924, S. 152. 24  So weist Maurer, AöR 96 (1971), 203 (209) darauf hin, dass der Verfassungsschutz „letztlich in die Hand einer Person gelegt [war], deren demokratische Einsicht und Verlässlichkeit somit zum entscheidenden Faktor wurden.“ 25  Die Anwendung der als Ausnahmebestimmung gedachten Diktaturgewalt gem. Art. 48 Abs. 2 WRV wurde in der Schlussphase der Weimarer Republik bekanntlich 20  RGBl. I

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

c) Erstes Gesetz zum Schutze der Republik (RepSchG) von 1922 Die meisten Parteiverbote in der Weimarer Zeit wurden auf das Erste Gesetz zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922 – kurz Republikschutzgesetz (RepSchG) – gestützt, welches bis zu seinem Auslaufen am 23. Juli 1929 gültig war.26 Das RepSchG ersetzte die bereits erwähnte Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 26. Juni 1922. Da durch die Bestimmungen des RepSchG die Vereinigungsfreiheit weiter beschnitten wurde, als es nach Art. 124 WRV zulässig gewesen wäre, handelte es sich um ein sog. verfassungsdurchbrechendes Gesetz, welches mit der für Verfassungsänderungen notwendigen Zweidrittelmehrheit des Reichstages verabschiedet wurde. Mit der vom staatsrechtlichen Schrifttum überwiegend für zulässig erachteten Weimarer Staatspraxis der Verfassungsdurchbrechung bestand die Möglichkeit, bei einer qualifizierten Mehrheit im Reichstag mit einfachgesetzlichen Regelungen vom Inhalt der Verfassungsnormen abzuweichen, ohne den Wortlaut der Verfassung selbst zu ändern.27 Rechtsgrundlage für Vereinigungsverbote war § 14 Abs. 2 RepSchG. Danach konnten Vereine und Vereinigungen, in denen Erörterungen stattfanden, die dem Tatbestand einer der in den §§ 1–8 RepSchG bezeichneten strafbaren Handlungen entsprachen, oder die Bestrebungen dieser Art verfolgten oder die Erhebung einer bestimmten Person auf den Thron betrieben, verboten und aufgelöst werden. Die Strafvorschriften, auf die Bezug genommen wurde, sanktionierten unter anderem Angriffe auf Regierungsmitglieder, den Zusammenschluss zu republikfeindlichen Organisationen oder republikfeindliche Äußerungen in Form der Billigung oder Begünstigung republikfeind­ licher Verbrechen oder der Verächtlichmachung von Institutionen der Repu­ blik oder eines Landes.28 Das RepSchG gab den zuständigen Landesbehörden somit eine Reihe von Verbotstatbeständen an die Hand, aufgrund derer sie gegen republikfeindliche Kräfte einschreiten konnten. Das Einschreiten lag im Ermessen der zuständigen Behörden, was in der Praxis dazu führte, dass von der eingeräumten Befugnis je nach Land mit unterschiedlicher Intensität Gebrauch gemacht wurde – so wurden etwa in Bayern und Württemberg gar keine Verbote aufgrund des RepSchG erlassen.29 Die Verbotswirkung erstreckte sich örtlich auf das Gebiet des verbietenden Landes. Gegen die zum Regelfall und ebnete in Gestalt der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (RGBl. I 1933, S. 83) der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft den rechtlichen Weg. 26  RGBl. I 1922, S. 585. 27  Schneider, in: Isensee/Kirchhof, HStR I (2003), § 5 Rn. 81 f. 28  Zu den einzelnen Bestimmungen Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, S.  149 ff. 29  Jasper, Schutz der Republik, S. 130.



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 33

Verbotsverfügung nach § 14 Abs. 2 RepSchG konnte die betroffene Vereinigung gem. § 17 Abs. 3 RepSchG zunächst Beschwerde bei der anordnenden Behörde einlegen. Bei Nichtabhilfe der Beschwerde hatte der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik zu entscheiden. Der in der praktischen Anwendung des RepSchG wichtigste Verbotstatbestand, auf den Parteiverbote gestützt wurden, war § 7 Abs. 1 Nr. 4 RepSchG. In Verbindung mit § 14 Abs. 2 RepSchG konnten Vereine und Vereinigungen verboten und aufgelöst werden, welche die Bestrebung verfolgten, die „verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reichs oder eines Landes zu untergraben“. In einigen Ländern ergingen Verbots- und Auf­ lösungsverfügungen gegen die NSDAP, Deutschsoziale Partei sowie die Deutschvölkische Freiheitspartei.30 Als in ihrer Wirkung besonders effektiv erwiesen sich die ausgesprochenen Verbote jedoch nicht. Neben der bereits erwähnten uneinheitlichen Anwendung des RepSchG in den Ländern folgerte der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik aus dem in Art. 21 WRV niedergelegten Repräsentationsgedanken, dass durch ein Parteiverbot die Parlamentsmandate der für die verbotene Partei gewählten Abgeordneten sowie die Arbeit der Abgeordneten in den innerhalb der Parlamente bestehenden Fraktionen nicht beeinträchtigt werden dürften.31 Damit galt weiterhin der schon aus der Zeit des Sozialistengesetzes stammende Grundsatz der Trennung zwischen der Parteiorganisation als solcher einerseits und den für die Partei gewählten Abgeordneten bzw. deren Zusammenschluss zu parlamentarischen Fraktionen andererseits. Auch das Recht zur Kandidatur von Angehörigen der aufgelösten Partei bei zukünftigen Wahlen unter einer abweichenden Listenbezeichnung wurde der vom Parteiverbot nicht betroffenen staatsrechtlichen Sphäre zugeordnet.32 Die Behörden mussten erkennen, dass ein Verbot einer durch gewählte Abgeordnete im Parlament vertretenen Partei keinen wirklichen Nutzen entfalten konnte. So wurde etwa die NSDAP am 12. Dezember 1924 in Preußen wieder zugelassen, nachdem sie bei den Landtagswahlen einige Tage zuvor trotz Verbots einige Mandate erringen konnte.33 Auch der Reichstag sah angesichts der Beruhigung der innenpolitischen Lage offenbar keine Notwendigkeit für die Fortdauer der in den Ländern verhängten Parteiverbote. In einem am 26. Juli 1924 gefassten, rechtlich unverbindlichen Beschluss forderte der Reichstag die Landesregierungen auf, 30  Der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik bestätigte mit Urteil vom 15. März 1923 das u. a. auf § 7 Abs. 1 Nr. 4 RepSchG gestützte Verbot der NSDAP in Preußen und anderen Ländern. Die Entscheidung ist teilweise abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 252, S. 300 ff. Zu diesem Urteil auch Alter, JZ 2015, 297. 31  Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 153. 32  Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 153, 155; Gusy, in: Möllers/van O ­ oyen, Parteiverbotsverfahren, S. 15 (25 f.). 33  Grünthaler, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 226.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

die zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Parteiverbote aufzuheben.34 Seit dem Jahr 1925 wurden auf Grundlage des RepSchG keine neuen Parteiverbote mehr verhängt; als letztes wurde das Verbot der Deutschvölkischen Freiheitspartei im Raum Braunschweig am 9. Juli 1926 aufgehoben.35 3. Übergang zur NS-Diktatur Mit der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann die Liquidierung aller anderen Parteien mit Ausnahme der ­NSDAP. Das durch die Nationalsozialisten erlassene Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 193336 stellte das umfangreichste Parteiverbot in der deutschen Verfassungsgeschichte dar. Dieses bestand aus nur zwei Paragraphen und lautete schlicht: § 1 In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. § 2 Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird, sofern nicht die Tat nach anderen Vorschriften mit einer höheren Strafe bedroht ist, mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft.

Damit war die Monopolisierung der Macht durch die NSDAP abgeschlossen und das Ende der politischen Parteien besiegelt. 4. Fazit In der Weimarer Republik existierten durchaus rechtliche Mittel, gegen verfassungsfeindliche Parteien und Vereinigungen vorzugehen und diese zu verbieten. Aufgrund des Umstands, dass Parteien in der Weimarer Zeit rechtlich wie alle anderen Vereine behandelt wurden und keine hervorgehobene Stellung in der WRV hatten, bestanden nach der damals geltenden Rechtsordnung tatsächlich sogar mehr Möglichkeiten zum Einschreiten gegen politische Parteien als unter dem heutigen Parteienprivileg des Grundgesetzes. 34  Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 502  f. Der Reichstagsbeschluss ist abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 348, S. 408. 35  Eine komprimierte tabellarische Übersicht über die von Verboten betroffenen Parteien, dem Verbotsgebiet und der jeweiligen Verbotsdauer findet sich bei Stein, ZParl 2001, 536 (546 f.). 36  RGBl. I 1933, S. 479.



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 35

Da die Zuständigkeit für Verbot und Auflösung einer Partei ausschließlich bei der Exekutive lag, waren sie normativ zudem viel leichter durchsetzbar als unter den prozessualen und materiellen Voraussetzungen des heutigen Parteiverbotsverfahrens vor dem BVerfG. Die komplexe Diskussion über die Ursachen für den Aufstieg der Republikfeinde und den Untergang der Weimarer Demokratie ist daher getrennt von der Feststellung, dass es verschiedene Rechtsgrundlagen für Parteiverbote gegeben hat, zu führen.37 So war es nicht in erster Linie die rechtliche Abwehrschwäche der Weimarer Republik gegen ihre organisierten Feinde, die letztlich zu ihrem Ende führte, sondern die fehlende Abwehrbereitschaft und der fehlende politische Wille der Verantwortlichen im Staat, gerade auch außerhalb von Krisenzeiten entschlossen und auf Dauer aufkommende und bereits bestehende republikfeindliche Strömungen mit dem vorhandenen Instrumentarium zu bekämpfen. Die erwähnte Aufhebung sämtlicher, dazu noch regional beschränkter Parteiverbote durch die Behörden und schließlich das Absehen von der Verhängung neuer Parteiverbote trotz des weiteren Erstarkens radikaler Kräfte dürfen als Beleg für die Vollzugsdefizite beim Republikschutz gelten. Sicherlich wird man konstatieren müssen, dass diese Entwicklung auch auf handwerkliche Fehler der Verbotsnormen zurückzuführen ist.38 Auf formeller Ebene begrenzten die Zuweisung der Zuständigkeit für Parteiverbote an die jeweiligen Landesregierungen und deren unterschiedliche Handhabung im Umgang mit verfassungsfeindlichen Parteien die Einflussmöglichkeiten des Reichs. Aufgrund der fehlenden Aberkennung ihrer Mandate konnten die Feinde der Weimarer Republik zudem aus den Parlamenten heraus weiter für die Zersetzung der Republik kämpfen. Schließlich waren die Republikschutzvorschriften inhaltlich nicht auf den dauerhaften Schutz und Erhalt demokratischer Strukturen ausgelegt. Anknüpfungspunkt für ein administratives Einschreiten war nicht die Verfolgung von antidemokratischen Zielen, die es nach der WRV auch gar nicht gab, sondern nur die Wahl strafbewehrter Mittel und Verhaltensweisen. Dadurch konnte eine Aushöhlung der Verfassungsordnung unterhalb der Ebene des Strafrechts auf legalem Wege weiterhin betrieben werden.39 Über alledem stand jedoch der fehlende demokratische Grundkonsens innerhalb der Bevölkerung, der die Entwicklung und Verfestigung demokratischer Gesellschaftsstrukturen als Rahmenbedingung für einen effektiven Kampf gegen republikfeindliche Parteien nicht zuließ und zugleich die Akzeptanz der verhängten Parteiverbote minderte.40 37  Stein,

ZParl 2001, 536 (548). Will, Ephorale Verfassung, S. 66 f. 39  Stein, Parteiverbote in der Weimarer Republik, S. 201 f. 40  Vgl. Bulla, AöR 98 (1973), 340 (344). 38  Vgl.

36

Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

III. Die Aufnahme des Parteiverbots in das Grundgesetz Der von den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder im Auftrag der Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen eingesetzte Verfassungsausschuss, der im August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammentrat, legte in seinem abschließenden „Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee“ einen ersten Entwurf eines Grundgesetzes – bekannt als sog. Herrenchiemsee-Entwurf (HChE) – vor, dem ein darstellender Teil vorausgeht und ein kommentierender Teil folgt.41 Damit wurden bereits wichtige Vorarbeiten für die späteren Beratungen im Parlamentarischen Rat geleistet. Auch hinsichtlich des heute in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG (vormals Art. 21 Abs. 2 GG) geregelten Parteiverbots wurden im HChE erste Weichenstellungen vorgenommen.42 Art. 47 HChE, systematisch im Abschnitt über den Bundestag verortet, traf eine besondere Regelung für politische Parteien und beinhaltete auch die Möglichkeit eines Parteiverbots. Der einschlägige Art. 47 Abs. 4 HChE lautete: „Das Bundesverfassungsgericht kann Parteien, die sich nach der Art ihrer Tätigkeit die Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel gesetzt haben, auf Antrag der Bundesregierung, welcher der Zustimmung des Bundesrats (Senats) bedarf, für verfassungswidrig erklären. Das Gericht kann einstweilige Anordnungen gegen solche Parteien treffen. Ohne verfassungsgerichtliche Entscheidung kann keine Behörde gegen eine Partei wegen verfassungswidriger Betätigung einschreiten.“

Der Vorschlag des Herrenchiemsee-Konvents, die Bedeutung der Parteien im Grundgesetz „als Organe der politischen Willensbildung“43 ausdrücklich anzuerkennen sowie als Korrelat dazu das Instrument des Parteiverbots in die künftige Verfassung aufzunehmen, stellte im Vergleich zur WRV eine verfassungspolitische Neuerung dar. Tatsächlich sahen aber die Landesverfassungen von Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 194744 und die des Landes Baden 41  Abgedruckt

in Parlamentarischer Rat, Bd. 2, Dokument Nr. 14, S. 504 ff. Parteiverbot und demokratische Republik, S. 140. 43  Parlamentarischer Rat, Bd. 2, Dokument Nr. 14, S. 537. 44  Vgl. Art. 133 der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz: (1) Wer darauf ausgeht, die sittlichen oder politischen Grundlagen des Gemeinschaftslebens, besonders die verfassungsmäßigen Freiheiten und Rechte durch Gewaltanwendung oder Mißbrauch formaler Rechtsbefugnisse zu untergraben oder aufzuheben, wird strafrechtlich verfolgt und kann sich auf die Grundrechte nicht berufen. (2) Parteien oder sonstige Vereinigungen, deren Programm oder Bestätigung auf derartige Ziele gerichtet sind oder deren Mitglieder oder Anhänger in beträchtlicher Zahl solchen gemeinschädlichen Bestrebungen nachgehen, sind von der Beteiligung an Wahlen oder Abstimmungen auszuschließen, wenn die Landesregierung und der Landtag dies gemeinsam beantragen. 42  Meier,



A. Historische Grundlagen des Parteiverbots in Deutschland 37

vom 22. Mai 194745 zu diesem Zeitpunkt bereits ähnliche Regelungen vor, die als Vorläufer von Art. 47 Abs. 4 HChE und Art. 21 Abs. 2 GG a. F. angesehen werden können. Nähere Erläuterungen zum Verbotstatbestand gem. Art. 47 Abs. 4 HChE finden sich weder im darstellenden noch im kommentierenden Teil des Berichts über den Verfassungskonvent. Wie die verfassungsrechtliche Verankerung der Gründungs- und Betätigungsfreiheit politischer Parteien schien auf Herrenchiemsee auch die Notwendigkeit eines Verbots verfassungsfeindlicher Parteien zum Schutze der Demokratie dem Grunde nach unbestritten gewesen zu sein.46 In der Kommentierung zur Entscheidungskompetenz des BVerfG über das Verbot einer Partei in Art. 98 Ziffer 6 HChE heißt es dazu lediglich: „Der dieser Ziffer zugrunde liegende Art. 47 Abs. 4 gehört zu den Vorschriften, welche die Gegner der Demokratie von den demokratischen Spielregeln ausschließen. Eine Partei, die sich die Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel setzt, darf sich nicht auf die demokratischen Freiheiten berufen können. Sie ist für verfassungswidrig zu erklären. Das bedeutet, daß sie vom Bundesverfassungsgericht zu verbieten ist.“47

Zusammen mit den weiteren Bestimmungen über das Verbot von Vereinen, die rechts- oder sittenwidrige Zwecke verfolgen oder die Demokratie oder die Völkerverständigung gefährden, in Art. 9 Abs. 2 HChE und der in Art. 20 HChE vorgesehenen Grundrechtsverwirkung im Falle des Missbrauchs von Grundrechten zum Kampf gegen die freiheitliche und demokratische Grundordnung bildete die Parteiverbotsregelung von Herrenchiemsee den Ursprung der grundgesetzlichen Regelungen streitbarer Demokratie.48 Über den Ausschluss gemäß Art. 133 Abs. 2 hatte nach Art. 135 Abs. 1 lit. f) der Verfassungsgerichtshof zu entscheiden. 45  Vgl. Art. 118 der Landesverfassung von Baden: (1) Politische Parteien dürfen sich frei bilden, sofern sie sich in ihrem Programm und durch ihr Verhalten zu den Grundsätzen des demokratischen Staates bekennen. Das Verbot einer politischen Partei ist nicht zulässig, solange die Partei nicht gegen diese Pflicht verstößt. Zweifelsfälle entscheidet auf Antrag der Landesregierung oder der Partei der Staatsgerichtshof. (2) […]. (3) Die Bildung von politischen Parteien, Wahlgruppen oder sonstigen Vereinigungen jeder Art, die das Ziel verfolgen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu vernichten, oder gegen Volk, Staat oder Verfassung Gewalt anzuwenden, ist verboten. An derartigen Bildungen beteiligte Personen werden zu Wahlen oder Abstimmungen nicht zugelassen. Die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen vorliegen, trifft auf Antrag der Landesregierung der Staatsgerichtshof. 46  Will, Ephorale Verfassung, S. 83. 47  Parlamentarischer Rat, Bd. 2, Dokument Nr. 14, S. 621. 48  Hierzu unten sub B. III.

38

Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Auch im Parlamentarischen Rat, dessen Erörterungen Art. 47 HChE zugrunde lag, bestand grundsätzliche Übereinstimmung über die Frage der rechtlichen Eingliederung von politischen Parteien in die neue Verfassungsordnung.49 Dies war die konsequente Folge der Einsicht, dass den Parteien in einer funktionsfähigen parlamentarischen Demokratie eine herausgehobene Stellung zukommen muss, die schon zu Zeiten der Weimarer Republik offensichtlich war, aber verfassungsrechtlich ignoriert wurde. Das Parteiverbot wurde über den gesamten Zeitraum der Beratungen des Parlamentarischen Rates ebenso nicht in Zweifel gezogen.50 Die Erörterungen betrafen daher auch nicht das „Ob“ der Einführung eines Parteiverbots in die künftige Verfassung, sondern nur das „Wie“ der konkreten Ausgestaltung einer Verbotsnorm. Die sichtbaren tatbestandlichen Änderungen, die Art. 47 Abs. 4 HChE im Verlauf der Erörterungen in den verschiedenen Ausschüssen des Parlamentarischen Rates bis hin zu seiner Grundgesetzfassung in Art. 21 Abs. 2 GG a. F. erfahren hat, spielen bei der Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkmale eine Rolle und sollen daher, soweit für die Untersuchung erforderlich, in Kapitel 4 dieser Arbeit behandelt werden.

B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratiedes Grundgesetzes Das Parteiverbot und nunmehr auch der Finanzierungsausschluss nach Art. 21 Abs. 2–4 GG gehören nach allgemeiner Ansicht zu den Verfassungsbestimmungen, in denen die Entscheidung des Grundgesetzes für eine sog. „streitbare“ oder „wehrhafte Demokratie“ ihren Ausdruck findet.51 Die Dimension des Konzepts der streitbaren Demokratie reicht weit über die Möglichkeit von Parteiverboten hinaus und ist selbst Gegenstand zahlreicher rechts- und politikwissenschaftlicher Untersuchungen.52 Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich daher auf die für das bessere Verständnis von 49  Otto, Staatsverständnis, S. 154; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 117 (Januar 2012). 50  Zur Chronologie der Beratungen v. Doemming/Füsslein/Matz, in: JöR N. F. 1 (1951), S. 1 (207 ff.); Will, Ephorale Verfassung, S.  83 ff.; Meier, Parteiverbot und demokratische Republik, S. 151 ff. 51  Weitere in der Literatur anzutreffende Synonyme sind „abwehrbereite“, „verteidigungsbereite“, „wachsame“ oder „militante“ Demokratie, vgl. die Nachweise bei Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 1 (5 f.). Das BVerfG verwendet seit dem KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85 (139)) regelmäßig den Begriff der „streitbaren Demokratie“, spricht aber in einigen Entscheidungen zusätzlich auch von „wehrhafter Demokratie“, vgl. BVerfGE 39, 334 (369); 144, 20 (164, Rn. 418); 149, 160 (194, Rn. 101). 52  An dieser Stelle genannt seien nur Lameyer, Streitbare Demokratie; ders., JöR 30 (1981), S. 147; Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie; Jesse, Streit-



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 39

Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG notwendigen Grundzüge dieser Rechtsfigur.

I. Historischer Hintergrund: Die Demokratiekonzeption in der Weimarer Republik Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes ist als verfassungspolitische Konsequenz aus dem Scheitern von Weimar zu verstehen.53 Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und der Parlamentarische Rat standen unter dem Eindruck des Untergangs der Weimarer Republik und der Etablierung des nationalsozialistischen Unrechtssystems. Im Zuge der rückblickenden Analyse herrschte bei den Beratungen weitgehende Einigkeit darüber, dass der Niedergang der demokratischen Republik seinen Ursprung in der Schwäche der WRV hatte, die mit ihrem ausgeprägten Toleranzgedanken den antidemokratischen Kräften nichts entgegenzusetzen vermochte und ihnen sogar die Freiheiten einräumte, die demokratische Republik auf legalem Wege zu beseitigen.54 Exemplarisch sei hier nur der Abgeordnete Kroll (CSU) im Plenum des Parlamentarischen Rates zitiert: „Eine Demokratie, die die Tyrannis so widerstandslos aus sich heraus entläßt, ist nicht wert, noch einmal geschaffen zu werden.“55

Als Grund für diese „Widerstandslosigkeit“ wurde die der WRV durch die herrschende Weimarer Staatsrechtslehre unterlegte neutrale geistige Haltung gegenüber allen politischen Strömungen bis hin zu ihren erbittertsten Gegnern ausgemacht, welche auch als Wertrelativismus bezeichnet wird.56 Als Beleg für diese wertrelativistische Grundhaltung wird stets die Auslegung des Art. 76 WRV, wonach die Verfassung im Wege der Gesetzgebung geändert werden konnte, durch die damals führenden Verfassungsinterpreten ins Feld geführt. Nach nicht unumstrittener Ansicht der Weimarer Staatsrechtslehre berechtigte diese Bestimmung den verfassungsändernden Gesetzgeber, im Rahmen des formalen Normensystems gegenständlich unbeschränkt über die WRV bis hin zu ihrer teilweisen oder vollständigen Aufhebung zu disponieren.57 Der Abänderbarkeit der Verfassung wurden durch diese Interpretabare Demokratie: Theorie, Praxis und Herausforderungen; Flümann, Streitbare Demokratie in Deutschland und den Vereinigten Staaten. 53  Bulla, AöR 98 (1973), 340 (342 f.); Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (343); Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn. 5. 54  Groh, in: Gusy, Weimars langer Schatten, S. 425 (433 f.). 55  Parlamentarischer Rat, Bd. 9, S. 290. 56  Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, S. 28. 57  Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 76 Anm. 3; Thoma, in: Anschütz/Thoma, Handbuch Deutsches StaatsR I, S. 186 (193 f.); ders., Grundbegriffe

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

tion des Art. 76 WRV inhaltlich keine Grenzen gezogen, so dass im Wege der Verfassungsrevision mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Reichstag selbst eine mit der Abschaffung der Demokratie einhergehende grundlegende Umgestaltung der bestehenden Staats- und Regierungsform des Deutschen Reiches als zulässig angesehen wurde.58 Für den Staats- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen als einen der prominentesten Vertreter einer liberaldemokratischen Verfassungskonzeption in der Zeit der Weimarer Republik war „der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt“.59 Die Demokratie sei, so Kelsen, „diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“. Wolle sie sich nicht selbst verraten, müsse sie auch eine auf ihre Vernichtung gerichtete Bewegung dulden und ihr die gleiche Entwicklungsmöglichkeit wie jeder anderen politischen Überzeugung einräumen.60 Dies bedeutete für Kelsen in der Konsequenz: „Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt.“61

Der im Wertrelativismus angelegte, ausgeprägte Toleranzgedanke der WRV gegenüber sämtlichen politischen Bewegungen wird nach verbreiteter Auffassung als einer der Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik ausgemacht.62 Das in diesem Zusammenhang – offenbar auch vom BVerfG im KPD-Urteil63 – skizzierte Bild von der Wehrlosigkeit der WRV gegenüber und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma, Handbuch Deutsches StaatsR II, S. 108 (153 f.). Eine Befugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers zu einer Totalrevision der WRV wurde insbesondere von Carl Schmitt abgelehnt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sei nur zu Anpassungen oder Änderungen einzelner Verfassungsbestimmungen unter Beibehaltung der bestehenden Verfassungsordnung, nicht aber zur Revision der grundlegenden politischen Entscheidungen ermächtigt, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 26, 102 ff. 58  Dazu anschaulich Dreier, JZ 1994, 741 (747): „Die Weimarer Reichsverfassung erschien wie eine Art Loseblattsammlung, deren Inhalt bis auf den Art. 76 selbst vollständig ausgewechselt werden durfte […] – gleichgültig, für welche Art von Nachlieferungen der Gesetzgeber sorgte.“ 59  Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 101. 60  Kelsen, in: ders., Demokratie und Sozialismus, S. 60 (68). 61  Kelsen, in: ders., Demokratie und Sozialismus, S. 60 (68). Vgl. dazu aus der Perspektive der Demokratiefeinde das Zitat von Joseph Goebbels nach der Machtergreifung: „Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selbst stellte, durch die sie vernichtet wurde“, zitiert nach Volp, NJW 2016, 459 (462). 62  Vgl. Stern, StaatsR I, S. 195, 206; Schmidt, Freiheit verfassungswidriger Parteien, S.  45 f.; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 6 f. (September 2017); Becker, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII (1992), § 167 Rn. 4 f. (nunmehr zurückhaltender Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn. 5); Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (343 f.). 63  BVerfGE 5, 85 (138).



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 41

ihren Feinden dürfte als „monokausale juristische Erklärungsweise“ zumindest in dieser Pauschalität inzwischen als widerlegt gelten und deshalb nur schwerlich aufrechtzuerhalten sein.64 Gerade diese negative Sicht auf die WRV durch die Mütter und Väter des Grundgesetzes war es aber, welche die Weichen für eine Abkehr von einem relativistischen Demokratieverständnis hin zur Wertgebundenheit und Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes gestellt hat.

II. Erste Vorarbeiten zur streitbaren Demokratie Die streitbare Demokratie ist keine „Erfindung“ des Grundgesetzes. Sowohl der Begriff als auch die dahinterstehende Konzeption können auf entsprechende Überlegungen seit den 1930er Jahren zurückgeführt werden, auch wenn es in den Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes an einer Berufung auf Autoritäten durch den Verfassungsgeber fehlt. Angesichts der fortschreitenden Destabilisierung der Weimarer Republik durch extremistische Kräfte kamen bereits in ihrer Spätphase in Abgrenzung zum bis dato vorherrschendenden wertrelativistischen Staats- und Demokratieverständnis erste Forderungen auf, bestimmte grundlegende Verfassungsprinzipien vor einer unter dem Deckmantel der Legalität betriebenen Aushöhlung zu schützen.65 Die ideengeschichtliche Urheberschaft der streitbaren Demokratie wird insbesondere dem Verfassungsrechtler und Politologen Karl Loewenstein zugeschrieben. Dieser äußerte bereits auf der Staatsrechtslehrertagung 1931: „Der Staat hat die Pflicht der Selbsterhaltung, sich dagegen zu wehren, daß gerade den Parteien der parlamentarische Apparat zur Verfügung gestellt wird, die sich zum Programm gemacht haben, diesen Apparat zu zerschlagen.“66

Diesen Ansatz arbeitete der nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in die USA emigrierte Loewenstein in seinem in der renommierten Fachzeitschrift American Political Science Review publizierten Aufsatz „Militant Democracy and Fundamental Rights“ im Jahr 1937 umfassend aus.67 Die Antwort auf den Faschismus, der sich die Demokratie zum Zwecke ihrer 64  Vgl. Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 19 (Zitat); Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, S. 367 ff; ders., in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 15 (30 f.); Seifert, Politische Parteien, S. 452 f.; ders., DÖV 1961, 81; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 32 f.; Alter, Eingriffsschwelle, S. 106; ders., AöR 140 (2015), 571 (576); Bulla, AöR 98 (1973), 340 (344); Maurer, AöR 96 (1971), 203 (207); Klein, Ein neues NPD-Verbotsverfahren?, S. 10 f.; Ridder, in: AK GG, Art. 21 Abs. 2 Rn. 53. 65  Vgl. Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (345 m. w. N.). 66  Loewenstein, in: VVDStRL 7 (1932), 192 (193). 67  Loewenstein, American Political Science Review 1937, S. 417 ff. und 638 ff.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

eigenen Zerstörung nutzbar gemacht habe, müsse eine „militante Demokratie“ sein, die imstande sei, sich um ihrer Selbsterhaltung willen mit bestimmten Schutzmechanismen aktiv gegen ihre Aushöhlung und ihren Missbrauch durch autoritäre Bewegungen zu verteidigen.68 Anhand eines Überblicks über die antifaschistische Gesetzgebung in verschiedenen euro­päischen Ländern zeigte Loewenstein einen Katalog möglicher Abwehrmechanismen zum Schutz der demokratischen Ordnung auf, wie etwa Verbote von Uniformen, politischen Symbolen, demokratiefeindlichen Organisationen und paramili­ tärischen Strukturen sowie Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit.69 Dabei war er sich durchaus bewusst, dass der Gebrauch solcher In­ strumente in einer Demokratie dieser selbst „autoritäre“ Züge verleihen kann.70 Getreu der Devise „Feuer bekämpft man mit Feuer“ müsse das Konzept einer militanten Demokratie die Einschränkung freiheitlicher Gewährleistungen zur Sicherung der Freiheit als Ganzes letztlich in Kauf nehmen.71 Als weiterer Vordenker der Idee einer streitbaren Demokratie gilt der infolge des Nationalsozialismus ebenfalls ins Exil gegangene deutsche Soziologe Karl Mannheim, der in seinem Werk „Diagnose unserer Zeit“ im Jahr 194372 ähnlich wie Loewenstein forderte: „Um zu überleben, muß unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden.“73 Mannheim sah in der streitbaren Demokratie einen „dritten Weg“74 zwischen den beiden politischen Extremen der Diktatur einerseits und dem sich politisch indifferent verhaltenden „Laissez-faire-Liberalismus“ auf der anderen Seite.75 Die Auswahl an zu verteidigenden Grundprinzipien sollte dabei auf das Nötigste beschränkt und auf demokratischer Basis durch Einbindung der Zivilgesellschaft bestimmt werden.76 Vorschläge zur praktischen Umsetzung dieses Konzepts enthält die Ausarbeitung von Mannheim dagegen nicht. 68  Loewenstein,

American Political Science Review 1937, S. 417 (423). American Political Science Review 1937, S. 638 (644 ff.). 70  Loewenstein, American Political Science Review 1937, S. 638 (657). 71  Loewenstein, American Political Science Review 1937, S. 638 (656 f.). 72  Im Original veröffentlicht unter dem Titel „Diagnosis of Our Time“. Die nachfolgend zitierte deutsche Übersetzung erschien erst im Jahr 1951. 73  Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 17. Gelegentlich wird Mannheim somit die Schöpfung des Begriffs der „streitbaren Demokratie“ zugeschrieben, siehe nur Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 13 Fn. 1; Gerlach, Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, S. 58; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (347). Im englischen Originaltext war aber, wie bei Loewenstein zuvor, von „militant democracy“ die Rede. Die Bezeichnung als „streitbare Demokratie“ findet sich nur in der später (nach Mannheims Tod) übersetzten Fassung und dürfte deshalb auf den Übersetzer zurückzuführen sein, vgl. Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 64 Fn. 134. 74  Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 13. 75  Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 17. 76  Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 17 f., 21. 69  Loewenstein,



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 43

III. Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes 1. Begriff „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“ – sucht man nach einer griffigen Kurzformel, um den Kerngedanken der streitbaren Demokratie zu umschreiben, wird man schnell auf diesen häufig zitierten markigen Schlachtruf stoßen.77 Diese Parole ist insofern etwas misslich, als sie vom politischen Denken her in ein „Freund-Feind-Schema“ verfällt und den Eindruck erweckt, als dürfe und müsse jegliche Kritik an demokratischen Freiheiten von vornherein unterbunden werden. Die sog. „Freunde der Freiheit“ zeigen sich damit letztlich selbst intolerant gegenüber anderen politischen Strömungen und entziehen sich dadurch einem offenen Meinungswettstreit um das vorzugswürdigste politische System.78 Das BVerfG formuliert daher wohl auch etwas zurückhaltender: „Keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit.“79 Der Begriff der streitbaren Demokratie taucht im Grundgesetz an keiner Stelle auf, eine allgemeingültige Definition existiert daher nicht. Das BVerfG erklärt den hinter der streitbaren Demokratie stehenden Gedanken wie folgt: „Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG).“80

In ähnlicher Weise beschreibt Thiel den Begriff der streitbaren Demokratie: „Wehrhafte Demokratie bedeutet: Die Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sollen nicht mit allen, sogar von der Verfassung selbst zur Verfügung gestellten Mitteln auf eine Beseitigung dieser Ordnung hinwirken dürfen, sondern sehen sich bei Überschreiten bestimmter Grenzen staatlichen Schutzmechanismen und Abwehrmaßnahmen ausgesetzt.“81

77  Die Urheberschaft dieses Zitats wird Antoine de Saint-Just während der Zeit der Französischen Revolution zugeschrieben; vgl. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 10. 78  Vgl. Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 22 Fn. 4; Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 109 Fn. 205; Maurer, AöR 96 (1971), 203 (215); Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 10 (September 2017); Denninger, in: VVDStRL 37 (1979), 7 (16) spricht gar von einem „Primitivslogan“. 79  BVerfGE 5, 85 (138); 144, 20 (195, Rn. 514) – Hervorhebung durch Verfasser. 80  BVerfGE 134, 141 (179 f.). 81  Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 1. Thrun, DÖV 2019, 65 (67 f.) weist darauf hin, dass nicht die Demokratie selbst abwehrbereit auftrete, sondern der Staat in Anwendung der Verfassung, und zieht deshalb den Begriff der „wehrhaften Verfassung“ vor.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Mit den vom Grundgesetz gewährten Freiheiten bzw. von der Verfassung zur Verfügung gestellten Mitteln sind in erster Linie die politischen Kommunikations- und Organisationsgrundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, Art. 8, Art. 9 Abs. 1 GG) sowie die in Art. 21 Abs. 1 GG niedergelegte Freiheit der Gründung und Betätigung politischer Parteien gemeint, die es den Bürgern ermöglichen sollen, sich eigenverantwortlich im gesellschaftlich-politischen Raum zu verwirklichen. Ohne derartige Gewährleistungen wäre eine funktionierende pluralistische Demokratie nicht denkbar. Auf der anderen Seite ermöglichen insbesondere die Meinungs- und Versammlungsfreiheit es gerade auch den Gegnern der ­Demokratie, ihre politischen Vorstellungen in einem ersten Schritt öffentlichkeitswirksam zu artikulieren, um sie anschließend über das Vehikel der Gründung von Vereinen oder politischen Parteien organisatorisch zu bündeln und in Gesellschaft und Politik hinein zu transportieren. Werden durch Aktivitäten extremistischer Vereine oder politischer Parteien immer mehr Bürger mobilisiert und schlägt sich diese Entwicklung auch konkret in Wahlergebnissen nieder, kann dies schließlich zu einer realen Bedrohung für die Demokratie werden. Aus diesen beiden Definitionsversuchen des Begriffs der streitbaren Demokratie wird bereits deutlich, dass anstelle „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ die Formulierung „Keine Freiheit zur Beseitigung der Freiheit“ treffender wäre, um die Kernbotschaft der streitbaren Demokratie auf den Punkt zu bringen.82 Die Gegner einer freiheitlichen Demokratie sollen gerade nicht rechtlos gestellt werden, sondern sollen die ihnen gewährten politischen Freiheiten lediglich nicht in missbräuchlicher Weise zu deren Abschaffung benutzen dürfen.83 2. Instrumentarium und Schutzgut der streitbaren Demokratie Zu den Instrumenten streitbarer Demokratie im Grundgesetz wurde zuvorderst die sog. Normentrias aus Vereinsverbot (Art. 9 Abs. 2 GG), Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) sowie Parteiverbot (nunmehr Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG) gezählt.84 Durch die Änderung des Art. 21 GG nach dem NPD-Urteil ist mit dem Verfahren zum Ausschluss von Parteien von der staatlichen Finanzierung in Art. 21 Abs. 3 und Abs. 4 Alt. 2 GG ein an das Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 109 Fn. 205. in: VVDStRL 37 (1979), 53 (71 f.). 84  Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 173 (174); Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (348 f.); Sichert, DÖV 2001, 671 f.; Jesse, ZfP 2012, 296 (297); aus der Rechtsprechung BVerfGE 13, 46 (50); 30, 1 (19 f.); 107, 339 (386 – abw. M.); 134, 141 (179 f.); 144, 20 (164, Rn. 418). 82  So

83  Klein,



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 45

Parteiverbot eng angelehnter weiterer Schutzmechanismus hinzugekommen. Die vorstehend genannten Verfahren können als die wichtigsten normativen Grundlagen angesehen werden, in denen die Entscheidung des Verfassungsgebers für eine streitbare Demokratie zum Ausdruck kommt.85 Sie bilden aber nur einen Ausschnitt der verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich verankerten Möglichkeiten des Staates zur Abwehr demokratiegefährdender Tendenzen. Als weitere „wehrhafte“ Bestimmungen des Grundgesetzes nennt das BVerfG auch Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 4, Art. 79 Abs. 3, Art. 91 und Art. 98 Abs. 2 GG sowie die Einrichtung des institutionellen Verfassungsschutzes in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG.86 Auf einfachgesetzlicher Ebene sind als Ausprägungen des Wehrhaftigkeitskonzepts insbesondere die Vorschriften der Verfassungsschutzgesetze des Bundes und der Länder87, die Verfassungstreuepflicht der Beamten (§§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 60 Abs. 1 Satz 3 BBG) sowie die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs aus dem Bereich des politischen Strafrechts in §§ 81 ff. StGB hervorzuheben.88 Die Schutzmechanismen der streitbaren Demokratie sollen gleichermaßen Angriffe „von oben“, d. h. durch die Organe und Institutionen des demokratischen Staates, als auch „von unten“ durch die Gesellschaft abwehren.89 Das Schutzobjekt der streitbaren Demokratie ist nach allgemeiner Ansicht die freiheitliche demokratische Grundordnung.90 Diese bildet den Mittelpunkt vieler der eben genannten Vorschriften, die als Ausdruck des Wehrhaftigkeitskonzepts angesehen werden, und dürfte daher das wichtigste und praxisrelevanteste Schutzgut darstellen.91 Neben der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählt aber auch der Bestand des Bundes oder eines Landes zu den Schutzgütern der streitbaren Demokratie.92 Die Reduzierung der streitbaren Demokratie auf den Schutz der freiheitlichen demokratischen 85  Becker,

in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (1992), § 167 Rn. 15. 39, 334 (349); 146, 1 (49 f., Rn. 110); vgl. auch die Auflistung bei Klausmann, Meinungsfreiheit und Rechtsextremismus, S. 181 m. w. N. 87  Hierzu unten Kapitel 3 sub A. I. 88  Dass Verfassungsfeinde auch in einer wehrhaften Demokratie nach geltender Rechtslage in den Genuss zahlreicher staatlicher Leistungen und Begünstigungen kommen, illustriert Linck, DÖV 2006, 939 (940 ff.). 89  Bulla, AöR 98 (1973), 340 (347); Denninger, in: VVDStRL 37(1979), 7 (15); Becker, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (1992), § 167 Rn. 18. 90  Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 21; Becker, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (1992), § 167 Rn. 17; Klausmann, Meinungsfreiheit und Rechtsextremismus, S. 179. 91  Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausführlich unten Kapitel 4 sub A. 92  Denninger, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch Verfassungsrecht, §  16 Rn. 38. 86  BVerfGE

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Grundordnung als Rechtsbegriff des Grundgesetzes lässt zudem außer Acht, dass in der ebenfalls dem Normenkanon der streitbaren Demokratie zugehörigen wichtigen Bestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG das Schutzgut anders gefasst ist. Allgemein zielen die Instrumente streitbarer Demokratie deshalb darauf, die inneren Strukturen und die äußere Integrität der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat zu sichern. 3. Die Wesensmerkmale der streitbaren Demokratie Nach allgemeiner Ansicht zeichnet sich die streitbare Demokratie durch die drei wesentlichen Merkmale der Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung des Demokratieschutzes aus.93 Von der Wehrhaftigkeit der Verfassung ist zunächst deren Wertgebundenheit zu unterscheiden. Beide Begriffe haben eine eigenständige Bedeutung und stehen in einer Wechselbeziehung zueinander.94 Wertgebundenheit meint dabei das Bekenntnis zu bestimmten Werten innerhalb der Verfassungsordnung, die nach dem Willen des Verfassungsgebers nicht zur Dis­ position gestellt werden dürfen.95 Zentralnorm der Wertbindung des Grundgesetzes ist die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG mit den darin aufgeführten unantastbaren Verfassungsnormen und Staatsstrukturprinzipien.96 Das BVerfG hat bereits früh im SRP-Urteil von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als „wertgebundener Ordnung“ gesprochen.97 Im KPD-Urteil hat es anschließend festgestellt, dass das Grundgesetz „aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung [herausnimmt], die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen […].“98 Die Wertbindung als Gegenpart zum Wertrelativismus Weimarer Prägung stellt deshalb die logische Voraussetzung der streitbaren Demokratie dar. Nur die Festlegung eines unveränderbaren Wertekanons als Minimalkonsens gibt dem demokratischen Staat

93  Jesse, in: ders., Demokratie in Deutschland, S. 333 (342 f.); Flemming, NPDVerbotsverfahren, S. 23; Härtel, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 53 (61 f.). 94  Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 57a (Januar 2010). 95  Wassermann, NJW 2000, 3760 (3762); kritisch zur Wertgebundenheit Preuß, KJ 1999, 263 (268), der darin eine „Verfügbarmachung der verfassungsmäßigen Ordnung für die Stigmatisierung politisch unliebsamer Ideen und ‚Bestrebungen‘ “ sieht. 96  Bulla, AöR 98 (1973), 340 (345); Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (348); Volp, NJW 2016, 459 (463). 97  BVerfGE 2, 1 (12). 98  BVerfGE 5, 85 (139).



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 47

auch das Recht, diese Grundfesten zu verteidigen.99 Damit ist bereits auch der Zusammenhang zwischen Wertbindung und dem zweiten Merkmal streitbarer Demokratie, der Abwehrbereitschaft, deutlich gemacht. Der demokratische Verfassungsstaat muss in der Lage sein, das Wertesystem mittels verschiedener rechtlicher Instrumente gegenüber seinen Feinden zu verteidigen. Eine wertgebundene Demokratie ohne Abwehrmöglichkeiten ist zwar theoretisch denkbar, verkommt alleine aber zum „Papiertiger“ und ist extremistischen Bestrebungen im schlimmsten Fall schutzlos ausgeliefert.100 Entscheidend für einen effektiven Demokratieschutz ist schließlich seine Vorverlagerung in den Bereich der Prävention. Extremistische Bestrebungen sollen bereits deutlich im Vorfeld des gewaltförmigen politischen Handelns oder bei Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr für die Demokratie rechtlich bekämpft werden dürfen. Die Abwehrmechanismen knüpfen damit nicht an die Illegalität der verfassungsfeindlichen Mittel und Methoden, sondern bereits an die Verfassungsfeindlichkeit selbst an.101 4. Der Grundkonflikt der streitbaren Demokratie und seine Auflösung Das Konzept der streitbaren Demokratie ist auf den ersten Blick durch eine „doppelte Paradoxie“102 gekennzeichnet, in der zugleich das oft beschriebene „demokratische Dilemma“103 sichtbar wird: Zum einen kann es als Widerspruch empfunden werden, demokratische Freiheiten gerade durch Einschränkung dieser Freiheiten zu schützen. Auf der anderen Seite gilt es zu bedenken, dass bei Fehlen von Sicherungsmechanismen die in einem freiheitlichen Staat gewährten demokratischen Freiheiten dazu genutzt werden können, um die Demokratie als solche abzuschaffen.

99  Bulla, AöR 98 (1973), 340 (345); Jesse, in: ders., Demokratie in Deutschland, S. 333 (343), nach dem Abwehrbereitschaft sich ohne Wertgebundenheit ad absurdum führt; ähnlich Volp, NJW 2016, 459 (463), der ein rechtliches Instrumentarium zum „Verfassungsschutz“ ohne gleichzeitiges Wertesystem als letztlich wirkungslos betrachtet. 100  Flemming, NPD-Verbotsverfahren, S. 25 (Zitat); Michaelis, KritV 2002, 188 (195). 101  Härtel, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 53 (62 f.). 102  So Morlok, Jura 2013, 317. 103  Erstmals Loewenstein, Verfassungslehre, S. 348 f.: „Bei dem Versuch, der totalitären Bedrohung […] zu begegnen, sieht sich der konstitutionell-demokratische Staat vor das größte Dilemma seit seiner Entstehung gestellt“; Boventer, Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 16; Volkmann, DÖV 2007, 577 (578 f.). Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 9 f., spricht von einer „Wertungsaporie“.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Sogar das BVerfG hat im KPD-Urteil die Frage aufgeworfen, ob das Parteiverbot möglicherweise nicht in einem „unerträglichen Selbstwiderspruch“ zu einer freiheitlich-demokratischen Verfassung stehe und deshalb selbst als „verfassungswidrig“ angesehen werden müsste.104 Dies hat das BVerfG aber sogleich verneint: Die streitbare Demokratie bilde „den Versuch einer Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auf­ fassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung“. Das Parteiverbot sei „Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung, Niederschlag der Erfahrungen eines Verfassungsgebers, der in einer bestimmten historischen Situation das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber politischen Parteien nicht mehr rein verwirklichen zu dürfen glaubte“.105 Damit wird die Legitimität eines Parteiverbots durch das BVerfG im Ergebnis mit der historischen Notwendigkeit der grundgesetzlichen Konzeption der streitbaren Demokratie gerechtfertigt, der in ihr wurzelnde scheinbare demokratietheoretische Widerspruch aber nicht aufgelöst. Nach Ansicht einzelner Literaturstimmen lasse sich dieser Widerspruch auch gar nicht beseitigen.106 Die Freiheitssicherung durch gleichzeitige Freiheitseinschränkung und damit auch die in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG vorgesehene Möglichkeit des Parteiverbots in einer freiheitlichen Demokratie erscheinen aber gar nicht mehr so paradox, wenn man mit der Literatur und dem BVerfG im NPD-Urteil die Selbstbeschränkung der streitbaren Demokratie nicht als von außen gesetztes Korrektiv, sondern als „genuine[n] Bestandteil eines modernen Demokratieverständnisses“ begreift.107 Das Demokratieprinzip gebietet es, dem Volk als Souverän zu jeder Zeit, d. h. auch generationenübergreifend, die Möglichkeit freier politischer Selbstbestimmung zu garantieren.108 Dies folgt bereits aus der Menschenwürde, die nicht disponibel ist und es dem Einzelnen stets ermöglichen muss, 104  BVerfGE

5, 85 (137). 5, 85 (139); bestätigt durch BVerfGE 144, 20 (195, Rn. 516). 106  Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 18; Henke, in: BK GG, Art. 21 Rn. 142 (Vorauflage, November 1991); wohl auch Volkmann, DÖV 2007, 577 (578). 107  Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 1 (20) (Zitat); Dreier, JZ 1994, 741 (751); Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (151); Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot, S. 92 f.; nun auch BVerfGE 144, 20 (196 f., Rn. 517). Vgl. auch Backes, Jahrbuch E&D 29 (2017), 13 (16), der die demokratietheoretische Legitimierung für die streitbaren Demokratie und Parteiverbote im sog. „Konzept der normativen Toleranz“ sieht, demzufolge uneingeschränkte Toleranz nur für diejenigen politischen Kräfte gilt, die diese selbst gegenüber ihren politischen Gegnern zu praktizieren bereit sind. Diese so formulierte Rechtfertigung stellt einen aber wiederum vor ein Dilemma, weil sich die sog. „demokratischen Parteien“ gegenüber verfassungsfeind­ lichen Parteien selbst nicht tolerant zeigen, indem sie ihr Verbot fordern. 108  Dreier, JZ 1994, 741 (751); Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (151). 105  BVerfGE



B. Das Parteiverbot als Instrument streitbarer Demokratie 49

sein Schicksal in Freiheit selbst bestimmen zu können. Entscheidungen sind in einer Demokratie grundsätzlich nach dem Mehrheitsprinzip zu treffen, doch muss der politische Prozess stets offen bleiben und die in der jeweiligen Entscheidung unterlegene Minderheit die Chance haben, künftig selbst Mehrheit werden zu können.109 Die demokratische Ordnung kann deshalb selbst nicht zur Disposition der Mehrheit stehen. Eine Mehrheitsentscheidung für die Errichtung einer Diktatur ist, sofern einmal getroffen, aufgrund der damit einhergehenden dauerhaften Abschaffung demokratischer Rechte (zumindest auf formal-politischem Wege) unumkehrbar und findet damit keine Legitimation im Demokratieprinzip: „Die vorübergehende Mehrheit darf […] nicht die offene Tür, durch die sie eingetreten ist, hinter sich zuschlagen“.110 Das BVerfG stellt im NPD-Urteil klar, dass sich Demokratie und Volkssouveränität jeweils nur in einem freiheitlichen Rahmen entfalten können. Verbote von politischen Parteien, die eine Beseitigung der demokratischen Ordnung anstreben, zielen demnach nicht auf eine Einschränkung von Demokratie und Volkssouveränität, sondern gerade auf deren dauerhaften Erhalt.111 Die verfassungsdogmatische Legitimität des grundgesetzlichen Parteiverbots sollte deshalb inzwischen außer Frage stehen.112 5. Streitbare Demokratie als Verfassungsprinzip? In der Literatur umstritten ist die Frage, ob die streitbare Demokratie lediglich eine Sammelbezeichnung für die im Grundgesetz und einfachen Recht enthaltenen verfassungsschützenden Normen darstellt oder es sich hier­ bei über die Summe der Einzelbestimmungen hinaus um ein Verfassungsprinzip mit eigenständiger rechtlicher Bedeutung handelt. Das BVerfG spricht von der streitbaren Demokratie in seiner Judikatur sowohl als einer „verfassungsrechtlichen Entscheidung“113, „Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers“114, „Grundentscheidung des Grundgeset­ zes“115 als auch einem „Prinzip der streitbaren Demokratie“116, wobei es 109  BVerfGE 144, 20 (196, Rn. 517); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rn. 86; Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 143. 110  BVerfGE 144, 20 (196 f., Rn. 517). 111  BVerfGE 144, 20 (196, Rn. 517). 112  Weiterhin eine „Fehlkonstruktion“ sehen darin aber Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 145 (168), die nach wie vor einen radikal-liberaldemokratischen Ansatz verfolgen. 113  BVerfGE 5, 85 (139). 114  BVerfGE 13, 46 (50). 115  BVerfGE 28, 36 (48); 30,1 (19); 39, 334 (349); 144, 20 (197, Rn. 517; 218, Rn. 569). 116  BVerfGE 28, 36 (48); 134, 141 (180, Rn. 114).

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

diese Begriffe offenbar synonym verwendet. In früheren Entscheidungen des BVerfG kam dieser Grundentscheidung eine unmittelbare Rolle als Auslegungs- und Abwägungskriterium wie auch als Rechtfertigungsgrund bei der Prüfung von Grundrechtsbeschränkungen zu, aus der in verschiedenen Konstellationen grundrechtsverkürzende Rechtsfolgen abgeleitet wurden.117 Die darin zum Ausdruck kommende Verselbstständigung der streitbaren Demokratie über die einzelnen streitbaren Normen des Grundgesetzes hinaus zu einem generalisierten Verfassungsprinzip und seine Anwendung als Abwägungsbelang und allgemeine Grundrechtsschranke sind in der Literatur auf Kritik gestoßen. Die Demokratie des Grundgesetzes sei nur innerhalb der als Ausnahmetatbestände konzipierten verfassungsschützenden Normen streitbar. Eine darüber hinausgehende Charakterisierung als Grundentscheidung, die als Auslegungsmaxime und Legitimation für Grundrechtseinschränkungen herangezogen werden dürfe, könne dem Grundgesetz nicht entnommen werden.118 Dagegen wird auch angeführt, dass die streitbare Demokratie als solche nicht in den Fundamentalsätzen des Art. 20 GG enthalten sei, wo eine Grundentscheidung sonst ihren Ausdruck gefunden hätte.119 Die Gegenansicht geht von einer Qualifizierung der streitbaren Demokratie als einem Prinzip des Grundgesetzes mit eigenständigem verfassungsrechtlichen Gehalt aus, will dieses aber ohne weitergehende Konkretisierung im Einzelfall nicht zur Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen zum Schutz der freiheitlichen Demokratie heranziehen.120 Auch das BVerfG ist mittlerweile in einer jüngeren Entscheidung, möglicherweise auch als Reaktion auf die Kritik aus dem Schrifttum, von seiner früheren Rechtsprechung abgerückt und stellt nunmehr klar, dass „das Prinzip der streitbaren Demokratie nicht als unspezifische, pauschale Eingriffsermächtigung missverstanden werden [darf]“.121 117  Vgl. BVerfGE 13, 46 (50); 28, 36 (48 f.); 28, 51 (54 f.); 30, 1 (21); 39, 334 (349); zur Rolle der streitbaren Demokratie in diesen Entscheidungen des BVerfG ausführlich Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 41 ff.; ders., in: JöR n. F. 30 (1981), S.  147 (158 ff.); Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 11 ff.; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 265 ff. 118  Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 135 f.; ders., in: JöR n. F. 30 (1981), S. 147 (178 f.); Bulla, AöR 98 (1973), 340 (352); Kutscha, Verfassung und streitbare Demokratie, S.  134 f.; Gusy, AöR 105 (1980), 279 (309 f.); Denninger, in: VVDStRL 37 (1979), 7 (17  f.); Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S.  318 f.; Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot, S. 99. 119  Ridder, in: AK GG, Art. 21 Abs. 2 Rn. 55. 120  Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 61; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (365 ff.); Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn.  11 f.; Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 93 f.; Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 1 (20 f.); Michaelis, KritV 2002, 188 (211 f.). 121  BVerfGE 134, 141 (180, Rn. 114).



C. Der fortbestehende Geltungsanspruch des Parteiverbots 51

Da es sich bei Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG unzweifelhaft um eine unmittelbare Ausprägung der streitbaren Demokratie des Grundgesetzes handelt, liefert der Streit um ihre Rechtsnatur zumindest im Hinblick auf das Verständnis der einzelnen Tatbestandsmerkmale keinen interpretatorischen Gewinn. Sieht man in Verfassungsprinzipien eine Qualifizierung von Normen mit grundsätzlicher und besonders hervorgehobener Bedeutung im Grundgesetz und misst dem Prinzipienbegriff einen überwiegend attributiven Charakter bei122, dürfte einer Verdichtung der summarischen Betrachtung einzelner Streitbarkeitsbestimmungen zu einem Prinzip streitbarer Demokratie nichts entgegenstehen. Eine solche Entscheidung des Grundgesetzes für die streitbare Demokratie kann somit aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes abgeleitet werden, welches stets als innere Einheit zu sehen ist und in dem der Wille des Verfassungsgebers zur Verteidigung der Demokratie an verschiedenen Stellen zur Geltung kommt.123 Das Parteiverbot kann damit als Ausprägung eines Prinzips streitbarer Demokratie angesehen werden.

C. Der fortbestehende Geltungsanspruch des Parteiverbots Von der soeben behandelten Problematik der verfassungstheoretischen Legitimation des Parteiverbots ist die Frage zu trennen, ob das Parteiverbotsverfahren in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach nunmehr über 70 Jahren Demokratie noch einen Geltungsanspruch besitzt. Das letzte erfolgreiche Verbotsverfahren gegen die KPD im Jahr 1956 stammt, ebenso wie das SRP-Verbot vier Jahre zuvor, schließlich noch aus der Frühphase der Bundesrepublik. Das Grundgesetz und der nach dem Scheitern von Weimar unternommene zweite Anlauf hin zu einer Etablierung demokratischer Strukturen in Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie als Staatsform noch nicht in der breiten Mehrheit der Bevölkerung fest verankert, und die alliierten Besatzungsmächte erwarteten rechtliche Schutzmechanismen, mit denen ein erneutes Abgleiten in den Totalitarismus verhindert werden sollte.124 Die heutige politisch-gesellschaftliche Situation stellt sich anders dar. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich seit ihrer Gründung im Laufe der Zeit Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Einf. Art. 20, Rn. 12. Sattler, Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 31 f.; Klein, in: VVDStRL 37 (1979), 53 (67 f.); zur Einheit der Verfassung bereits BVerfGE 1, 14 (32). 124  Volp, NJW 2016, 459 (462). 122  So

123  Vgl.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

als gefestigte Demokratie behauptet und ist fest eingebettet in die Europäische Union und weitere wertebasierte internationale Strukturen. Das Instrument des Parteiverbotsverfahrens blieb seit dem KPD-Urteil bis zu den im Jahr 1993 gestellten, im Ergebnis bereits unzulässigen Verbotsanträgen gegen die Nationale Liste (NL) und Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) unangetastet. In den Jahren 2001 und 2013 wurden schließlich noch Verbotsverfahren gegen die NPD eingeleitet.125 Aufgrund seiner seltenen Aktivierung wurde dem Parteiverbot im Schrifttum bereits eine „rostende Klinge“ attestiert.126 Nach Ansicht von Volkmann ist das Parteiverbot „[a]ls Instrument des Staats- und Verfassungsschutzes […] in hohem Maße dysfunktional geworden“ und „wirkt damit heute mehr und mehr wie das Relikt aus einer anderen Zeit“. Der moderne Präventionsstaat arbeite hingegen „geräuschlos“ und zeichne sich unter anderem durch eine auf vorausschauende Verhütung von Krisen ausgelegte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie eine umfassende Strategie politischer Aufklärung aus, welche die Bevölkerung gegen extremistische Anschauungen immunisieren soll. Die Möglichkeit eines Partei­ verbots sei damit „überflüssig“ geworden.127 Auch Kugelmann misst dem Parteiverbot nur noch eine „symbolische Wirkung“ zu und sieht „unter den gegebenen Bedingungen“ in der Bundesrepublik Deutschland für dieses In­ strument streitbarer Demokratie keinen Anwendungsbereich mehr.128 Das BVerfG tritt derartigen Ansichten im NPD-Urteil entgegen und betont den fortbestehenden Geltungsanspruch des Parteiverbots.129 Dieses habe nicht lediglich als bloße Übergangsregelung vom Nationalsozialismus hin zu einer freiheitlichen Demokratie für die Zeit der Konstituierungsphase der Bundesrepublik in das Grundgesetz Eingang gefunden, sondern bezwecke den dauerhaften Schutz demokratischer Strukturen vor totalitären Parteien unter der Geltung des Grundgesetzes.130 Diese Auffassung – oder besser: Klarstellung – verdient Zustimmung und kann durch die anschließenden Überlegungen weiter untermauert werden. Eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die eine Norm trifft, hat alleine nicht den Geltungsverlust der Norm zur Folge, solange und soweit nicht der Regelungsbereich wegfällt, auf den sie sich bezieht.131 Solange den Parteien in der Bundesrepublik eine verfassungsrechtlich exponierte Stellung eingeräumt wird, indem sie in der parlamentarischen Demo125  Zu

den bislang durchgeführten Parteiverbotsverfahren unten sub G. ZRP 2000, 500. 127  Volkmann, DÖV 2007, 577 (584). 128  Kugelmann, EuGRZ 2003, 533 (542). 129  BVerfGE 144, 20 (198, Rn. 519). 130  BVerfGE 144, 20 (198, Rn. 520). 131  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 494 (Januar 2018). 126  Groh,



C. Der fortbestehende Geltungsanspruch des Parteiverbots 53

kratie des Grundgesetzes wesentlich den politischen Kurs des Staates bestimmen, die Regierung tragen und die Opposition bilden, korrespondiert damit nach wie vor das Bedürfnis, verfassungsfeindliche Parteien von den Schaltstellen politscher Gestaltungsmacht fernzuhalten. Auch die zeitweise längere praktische Nichtinanspruchnahme des Parteiverbots führt nicht zum Verlust seiner Legitimation.132 Der Regelung in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG ist vielmehr immanent, dass sie die (seltene) Ausnahme in einer freiheitlichen Demokratie darstellen soll. Der Entschluss zur Durchführung eines zweiten NPD-Verbotsverfahrens hat die fortdauernde Daseinsberechtigung dieses Instruments erneut belegt, ungeachtet der Zurückweisung des Antrags als unbegründet durch das BVerfG. Selbst wenn das Parteiverbot in der heutigen Zeit als untaugliches Mittel im Kampf gegen Extremisten angesehen würde, hätte dies nicht die rechtliche Unanwendbarkeit der Norm zur Folge.133 Der Aspekt des politischen Nutzens eines Parteiverbots ist eine Frage des politischen Ermessens im Rahmen der Antragstellung und kann nur Gegenstand der fortwährend geführten politikwissenschaftlichen „Pro-ContraDebatte“ mit den bekannten Argumenten sein, nicht aber eine solche der rechtlichen Anwendbarkeit der Norm. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die Stabilität der demokratischen Strukturen auch für die Zukunft keinesfalls als sichere Tatsache angesehen werden sollte. In jüngerer Zeit erfährt die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, einem globalen Trend folgend, insbesondere seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 eine zunehmende Polarisierung. Rechtspopulistische und autoritäre Strömungen finden wieder vermehrt Gehör in der Bevölkerung.134 Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass auch extremistische Parteien wieder verstärkt Zulauf bekommen und sich diese Entwicklung in Wahlergebnissen niederschlägt. Erst in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Krisen werden die Instrumente streitbarer Demokratie einer Bewährungsprobe unterzogen. Neben der primären politischen Bekämpfung von Extremisten und der Kraft der Argumente hat sich das Parteiverbot als eines der Schutzmechanismen streitbarer Demokratie deshalb noch nicht überlebt.

132  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 494 (Januar 2018); Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 102 f.; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1187. 133  Vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 496 (Januar 2018): „Es ist ein Missverständnis, in ein Parteiverbot darüber hinausgehende Erwartungen zu setzen, und es ist ein unerlaubter Fehlschluss, aus der Nichterfüllbarkeit überzogener Erwartungen seine Nutzlosigkeit abzuleiten.“ 134  Vgl. Volp, NJW 2016, 459 (464).

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

D. Die Einordnung des Parteiverbots im Grundgesetz Um die Tragweite eines Parteiverbots nachvollziehen zu können, gilt es zunächst, sich die Rolle der politischen Parteien innerhalb des demokratischen Systems des Grundgesetzes vor Augen zu führen. Die Möglichkeit ­eines Parteiverbots ist „Teil der Konstitutionalisierung der politischen Par­ teien“135 in Art. 21 GG, in dem erstmals in einer gesamtdeutschen Verfassung der Status und das Wirken politischer Parteien ausdrücklich geregelt werden.136 Bereits im KPD-Urteil hatte das BVerfG betont, das Parteiverbot sei eine „notwendige Folge dieser verfassungsrechtlichen Garantie der Partei­ en“.137

I. Funktion und verfassungsrechtliche Stellung der Parteien Die weitgehende Ignorierung der politischen Parteien im deutschen Staatsrecht und damit letztlich auch der verfassungspolitischen Wirklichkeit fand mit Art. 21 GG ein Ende. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG stellt nunmehr klar, was bereits zu Zeiten der Weimarer Republik offensichtliche Realität war: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Das BVerfG hatte den Parteien bereits in einer seiner ersten Entscheidungen überhaupt einen besonderen verfassungsrechtlichen Status zuerkannt. Das Grundgesetz habe sie, so die vom BVerfG fortwährend verwendete und von der Literatur übernommene Formel, „in den Rang einer verfassungsmäßigen In­ stitution erhoben“.138 Parteien stellen notwendige Instrumente für die politische Willensbildung in einer parlamentarischen bzw. repräsentativen Demokratie dar und konkretisieren damit das Prinzip der Volkssouveränität nach Art. 20 Abs. 2 GG.139 In den Parteien werden die in der Bevölkerung vorherrschenden pluralistischen politischen Strömungen und Interessen gebün135  BVerfGE

144, 20 (193, Rn. 511). badische Verfassung vom 22.05.1947 enthielt bereits in den Art. 118–121 eine im Vergleich zum Grundgesetz noch ausführlichere Regelung über politische Parteien. 137  BVerfGE 5, 85 (134). 138  St. Rspr. seit BVerfGE 1, 208 (225); 2, 1 (73); 5, 85 (133); 11, 266 (273); 20, 56 (100); 24, 260 (264); 73, 40 (85); 107, 339 (358); 144, 20 (194, Rn. 512); 148, 11 (24, Rn. 41); 154, 320 (334, Rn. 45). 139  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 161 (Dezember 2014). Die von Leibholz, DVBl. 1950, 194 (196) verwendete Bezeichnung der Bundesrepublik als „Parteienstaat“ dürfte hingegen missverständlich sein, weil sie die Rolle des einzelnen Bürgers als Souverän zu sehr in den Hintergrund stellt und die politische Willensbildung des Volkes nicht ausschließlich über Parteien erfolgt, vgl. auch Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 12. 136  Die



D. Die Einordnung des Parteiverbots im Grundgesetz55

delt und durch regelmäßige Wahlen in das Parlament und von dort aus in andere staatliche Organe transferiert. Das BVerfG sieht die Parteien daher als „integrierende Bestandteile des Verfassungsaufbaus“ an140, betont aber gleichzeitig, dass sie keine Staatsorgane sind, sondern eine Vermittlerrolle zwischen Volk und Staat einnehmen.141 Es handelt sich um frei aus dem Volk heraus gebildete Vereinigungen, deren Wurzeln im politisch-gesellschaftlichen Bereich liegen und die über die ihnen zugewiesene Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes in den staatlich-institutionellen Bereich hineinragen, ohne diesem selbst anzugehören.142 Die Aufgaben der Parteien in der Demokratie des Grundgesetzes sowie der Parteibegriff sind darüber hinaus in den §§ 1 und 2 PartG in verfassungsmäßiger Weise näher konkretisiert worden.143

II. Die Freiheit der Parteien Um den ihnen durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zugewiesenen und in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 PartG einfachgesetzlich näher umschriebenen verfassungsrechtlichen Auftrag auszufüllen, können sich die politischen Parteien nach dem Grundgesetz auf besondere Statusrechte berufen.144 Die genaue recht­ liche Einordnung der aus Art. 21 Abs. 1 GG folgenden Gewährleistungen als Grundrechte, (einfache) subjektive Rechte oder Einrichtungsgarantie mit subjektiv-rechtlichen Elementen ist seit langer Zeit umstritten, kann hier aber offen bleiben.145 Insbesondere kann der politische Wille des Volkes nur dann ungehindert und unverfälscht zum Ausdruck kommen, wenn Parteien sich

140  BVerfGE 141  BVerfGE

1, 208 (225); 13, 54 (81 f.). 20, 56 (101); 44, 125 (145); 148, 11 (24, Rn. 41); 154, 320 (334,

Rn. 45). 142  BVerfGE 1, 208 (225); 20, 56 (100 f.); 73, 40 (85); 121, 30 (53 f.); 148, 11 (24, Rn. 41); 154, 320 (334, Rn. 45). 143  Zum einfachgesetzlichen Parteibegriff BVerfGE 24, 300 (361); 47, 198 (222); 91, 262 (266 f.); 91, 276 (284). 144  Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 46 ff. 145  Zum Streitstand Kluth, in: BeckOK GG, Art. 21 Rn. 93 ff. (Stand: 15.02.2021); zum Rechtscharakter des Art. 21 GG eingehend Mauersberger, Freiheit der Parteien, passim. Auch das BVerfG hat sich bislang in dieser Frage nicht festgelegt. Verletzungen des Art. 21 GG können jedenfalls nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde, sondern nur in einem Organstreitverfahren geltend gemacht werden, vgl. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 21 Rn. 4 f. m. w. N. Davon unabhängig sind Parteien aber wie andere Vereinigungen auch grundrechtsfähig und können Verletzungen in ihren Grundrechten, die ihnen unabhängig von ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status zustehen, mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen, vgl. BVerfGE 84, 290 (298 f.); 111, 54 (81); BVerfG NVwZ 2019, 1432 (1433).

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

frei gründen können und auch in ihrer Betätigung frei sind.146 Dieser Grundsatz der Parteienfreiheit ist unverzichtbar für die Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses in einer parlamentarischen Demokratie. Die freie Gründung der Partei wird ausdrücklich von Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet. Eine Parteigründung bedarf deshalb keiner Genehmigung oder Registrierung durch staatliche Behörden. Um an der politischen Willensbildung mitzuwirken, müssen die Parteien weiterhin insbesondere frei darin sein, politische Ziele zu formulieren und für ihre Vorstellungen in der Öffentlichkeit zu werben. Parteienfreiheit im Mehrparteiensystem bedeutet schließlich auch chancengleicher Wettbewerb mit anderen Parteien, die für andere oder gar gegensätzliche politische Überzeugungen eintreten.147

III. Parteiverbot als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ Die verfassungsrechtlich verankerte Freiheit der Parteien findet ihre Grenze in der Möglichkeit des Parteiverbots als deren verfassungsunmittelbarer Schranke. 1. Parteiverbot und politische Freiheit im Grundgesetz Im Rahmen der Darstellung des Prinzips streitbarer Demokratie wurde bereits auf die grundsätzliche Problematik von Parteiverboten in einer freiheitlichen Demokratie hingewiesen. Innerhalb der repräsentativen Demo­ kratie des Grundgesetzes stellt das Verbot politischer Parteien nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG einen schwerwiegenden Eingriff in die Parteienfreiheit und die Freiheit der politischen Willensbildung dar148, weil dem Bürger eine sonst ohne Parteiverbot zur Wahl stehende Alternative durch staatlichen Eingriff genommen wird. Die verbotene Partei hat keine Chance mehr, ihre politischen Konzepte, für die sie von ihren Anhängern ansonsten gewählt würde, in das Parlament einzubringen und dort gegebenenfalls auch zu realisieren.149 Die von der Partei angestrebte Politik wird durch das Parteiverbot von der öffentlichen Gewalt als „unzulässig“ oder „unerwünscht“ betrachtet und das Wahlvolk bei seiner Entscheidung auf die übrigen Parteien verwiesen. Die Einengung des Parteienspektrums bei Wahlen ist deshalb mit 146  Zum umfassenden Gewährleistungsgehalt der Parteienfreiheit siehe nur Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 272 ff. (Januar 2012). 147  Linck, in: FS Schmitt, S. 139 (145); Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 111 ff. 148  So ausdrücklich BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524). 149  Dass dafür bei Wahlen zum Bundestag und den meisten Landtagen ein Stimmenanteil von 5 % erforderlich ist, steht auf einem anderen Blatt.



D. Die Einordnung des Parteiverbots im Grundgesetz57

einer Einschränkung des offenen Wettbewerbs unter den Parteien und damit letztlich auch der Volkssouveränität verbunden.150 Weiterhin steht das Parteiverbot auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zum in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Grundrecht der Meinungsfreiheit.151 Diese ist für die Parteien von besonderer Bedeutung, müssen sie doch in der Lage sein, ihre politischen Vorstellungen gegenüber dem Wahlvolk zu artikulieren.152 Das BVerfG hatte im KPD-Urteil das Spannungsverhältnis nicht aufgelöst, sondern war von der Gleichwertigkeit des Parteiverbots und dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ausgegangen, indem es keiner der beiden Bestimmungen einen höheren Rang zugebilligt hatte.153 In der Literatur wird, soweit das Verhältnis von Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG überhaupt behandelt wird, im Parteiverbot teilweise eine verfassungsunmittelbare Schranke der Meinungsfreiheit gesehen.154 Losgelöst vom genauen systematischen Verhältnis beider Normen wird in jedem Fall die Meinungsfreiheit grundsätzlich tangiert, wenn Äußerungen oder Publikationen aus der Partei zum Anlass genommen werden, rechtlich gegen den Bestand der Partei vorzugehen. Das Parteiverbot berührt somit gleich mehrere für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes essentielle Grundsätze. Aufgrund dieses Eingriffs des Parteiverbots in die politischen Freiheitsrechte des Grundgesetzes stellt das BVerfG im NPD-Urteil deshalb zu Recht den Charakter des Parteiverbots als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ heraus.155 2. Verfassungsrechtliche Einhegung des Parteiverbots Im Rahmen der Frage der verfassungstheoretischen Legitimation des Konzepts der streitbaren Demokratie wurde bereits die grundsätzliche Rechtfer­ tigungsfähigkeit eines Instruments wie dem Parteiverbot zum Schutz und Erhalt der Demokratie festgestellt.156 Da mit einem Parteiverbot, wie gerade gezeigt, in einer funktionsfähigen Demokratie aber stets eine Störung des 150  Alter, Eingriffsschwelle, S. 79; Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 173 (181); Schuster, ZfP 1968, 413 (418 f.); Preuß, in: Leggewie/Meier, Verbot der NPD oder mit Rechtsradikalen leben?, S. 104 (106 f.). 151  Alter, Eingriffsschwelle, S. 203 f.; ders., AöR 140 (2015), 571 (589 f.); Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 47; vgl. auch Perng, Theorie und Praxis des Parteiverbotssystems, S. 130. 152  Mauersberger, Freiheit der Parteien, S. 118. 153  BVerfGE 5, 85 (137). 154  Mauersberger, Freiheit der Parteien, S. 126; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 166. 155  BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524). 156  Hierzu oben sub B. III. 4.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

demokratischen Prozesses einhergeht und dies deshalb immer nur einen Ausnahmefall darstellen kann, bedarf es für seine Rechtfertigung und insbesondere zur Eindämmung der Gefahr der missbräuchlichen Anwendung konkreter verfassungsrechtlicher Hürden. a) Erhöhter verfassungsrechtlicher Schutz der Parteienfreiheit Wegen des in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Auftrags zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung und ihrer exponierten Stellung im Verfassungsleben genießen Parteien im Vergleich zu sonstigen Vereinigungen eine erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie, welche allgemein auch als sog. „Parteienprivileg“ bezeichnet wird.157 Kern dieses Parteienprivilegs ist das Entscheidungsmonopol des BVerfG hinsichtlich der Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach Art. 21 Abs. 4 Alt. 1 GG: Politische Parteien werden insofern „privilegiert“, als dass nur das BVerfG alleine – und nicht wie beim Verbot sonstiger Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 2 GG i. V. m. § 3 VereinsG die Exekutive – über die Verfassungswidrigkeit und damit das Verbot einer Partei entscheiden darf. Solange das BVerfG eine Partei nicht für verfassungswidrig erklärt hat, dürfen an die politische Tätigkeit der Partei und das parteispezifische Verhalten ihrer Repräsentanten und Mitglieder wegen einer nur behaupteten Verfassungswidrigkeit keine rechtlich nachteiligen Folgen geknüpft werden.158 Das Parteienprivileg schützt eine Partei aber nicht vor faktischen Nachteilen, insbesondere ihrer Bezeichnung als „verfassungsfeindlich“ in Verfassungsschutzberichten und in der politischen Debatte.159 Der Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“ ist kein eigenständiger Rechtsbegriff, sondern hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch zur Kennzeichnung für Organisationen etabliert, welche die freiheit­ liche demokratische Grundordnung bekämpfen, aber (noch) nicht verboten

157  Zur Kritik an dem Begriff Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S.  259 f. und Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 149. Auch das BVerfG verwendet den Begriff in seiner Rechtsprechung, siehe etwa BVerfGE 12, 296 (304); 40, 287 (291). In BVerfGE 47, 130 (139) und 107, 339 (362) ist vom „sogenannten Parteienprivileg“ die Rede. 158  BVerfGE 12, 296 (305 f.); 17, 155 (166); 39, 334 (357); 47, 130 (139); 107, 339 (362); 133, 100 (107); 144, 20 (201, Rn. 526); zur Schutzwirkung des Parteienprivilegs Schmidt, Freiheit verfassungswidriger Parteien, S. 191 ff. und Lorenz, AöR 101 (1976), 1 (10 ff.). 159  BVerfGE 39, 334 (360); 40, 287 (292 f.); Alter, Eingriffsschwelle, S. 64; Ipsen/ Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 203. Kritisch Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S.  142 ff.; Kloepfer, NJW 2016, 3003 (3006); Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 218; Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, S.  21 f.



D. Die Einordnung des Parteiverbots im Grundgesetz59

bzw. vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden sind.160 Beruhen derartige Äußerungen oder Einstufungen allerdings auf sachfremden Erwägungen, beeinträchtigen sie das Recht der Partei auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb.161 b) Verhältnis zu Art. 9 Abs. 2 GG Den Vorschriften in Art. 21 Abs. 2, Abs. 4 Alt. 1 GG und Art. 9 Abs. 2 GG ist gemeinsam, dass sie sich beide präventiv gegen verfassungsfeindliches Handeln aus einer Organisation heraus wenden. Aufgrund der im Vergleich zu sonstigen Vereinigungen besonderen Stellung der Parteien im Verfassungsgefüge stellt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und einhelliger Auffassung in der Literatur im Verhältnis der beiden Verbotsregelungen zueinander Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG die uneingeschränkte lex specialis gegenüber Art. 9 Abs. 2 GG dar, wenn es um das Verbot politischer Parteien geht.162 Dies gilt unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Art. 9 und Art. 21 GG im Übrigen zu bewerten ist, insbesondere ob die Parteienfreiheit die Vereinigungsfreiheit in vollem Umfang verdrängt oder nur soweit Art. 21 GG – wie eben in Art. 21 Abs. 2, Abs. 4 Alt. 1 GG – Sonderregelungen trifft.163 160  Henke, in: BK GG, Art. 21 Rn. 366 (November 1991); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 575 (Januar 2018); Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 202, die darin aber auch aufgrund des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens zunehmend eine eigene rechtliche Kategorie sehen. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 158 sieht darin jedoch einen „Quasi-Rechtsbegriff“, weil aus der Verfassungsfeindlichkeit Schlüsse hinsichtlich der Erfüllung von Treuepflichten von Beamten gezogen werden dürfen. Kritisch zum Begriff der Verfassungsfeindlichkeit Müller, DVBl. 2018, 1035 (1037), der darin das alte „Freund-Feind-Schema“ verankert sieht und darauf hinweist, dass der Begriff eine Gleichsetzung von freiheitlicher demokratischer Grundordnung mit der gesamten Verfassungsordnung impliziert. Nach Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 73 soll der Begriff „verfassungsfeindlich“ mit „extremistisch“ gleichzusetzen sein. Unzutreffend ist jedenfalls die Bezeichnung der NPD als „verfassungswidrig, aber nicht verboten“ in den Urteilsbesprechungen von Gusy, NJW 2017, 601 und Ipsen, RuP 2017, 3, weil der NPD vom BVerfG mangels Erfüllung des Tatbestandes von Art. 21 Abs. 2 GG gerade keine Verfassungswidrigkeit attestiert wurde. 161  BVerfGE 40, 287 (293); 136, 323 (334); Grzeszick/Rauber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 21 Rn. 146. 162  BVerfGE 2, 1 (13); 12, 296 (304); 13, 174 (177); 17, 155 (166); zuletzt BVerfGE 144, 20 (228 f., Rn. 595); Seifert, Politische Parteien, S. 475; Mauersberger, Freiheit der Parteien, S. 106; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 66; Redmann, Beschränkung der Parteienfreiheit und -gleichheit, S. 41; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 511 (Dezember 2014); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 166. 163  Dazu Mauersberger, Freiheit der Parteien, S. 70 ff.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

c) Verfahrenssicherungen Anders als das durch die Exekutive verfügte Vereinsverbot steht das Verbot einer Partei am Ende eines besonderen bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens.164 Das Verfahren ist in seinem Ablauf in den §§ 43 ff. BVerfGG geregelt und gibt der Partei die Möglichkeit, im Rahmen ihrer prozessualen Rechte dem ihr anhaftenden Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit entgegenzutreten. Die Schutzwirkung für die betroffene Partei wird im Verfahren nochmals dadurch erhöht, dass eine für sie nachteilige Entscheidung mit ­einer Mehrheit von zwei Dritteln der Richter des Senats getroffen werden muss (§ 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG). Das BVerfG hat zudem aus dem Rechtsstaatsprinzip bestimmte ungeschriebene Verfahrens- und Beweisregeln abgeleitet, welche das Parteiverbotsverfahren zum Schutz der Partei noch weiter reglementieren.165 d) Gebot restriktiver Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG Neben einem erhöhten verfahrensrechtlichen Schutz der Parteien im Parteiverbotsverfahren kommt es in erster Linie darauf an, die Parteien durch strenge inhaltliche Anforderungen an die Verbotsgründe überhaupt erst vor einem Parteiverbotsverfahren zu schützen. Bereits seit jeher wird in der Literatur daher eine restriktive Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG gefordert.166 Dies postuliert nun auch das BVerfG im NPD-Urteil erstmals ausdrücklich, indem es bei der Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG dem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Parteienfreiheit und Parteiverbot, der Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung, der Meinungsfreiheit sowie der Tatsache, dass die Auflösung der Partei sich als zwingende Rechtsfolge der Feststellung der Verfassungswidrigkeit darstellt167, Rechnung tragen will.168 Inwieweit sich das Gebot restriktiver Auslegung bei der Inhaltsbestimmung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG im NPD-Urteil tatsächlich niedergeschlagen hat und den Tatbestandsmerkmalen im Vergleich zur früheren Verbotsrechtsprechung 164  Hierzu

sogleich unten sub E. ausführlich unten Kapitel 3. 166  Seifert, Politische Parteien, S. 456; Lang, Demokratieschutz durch Parteiverbot?, S. 66; Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 715; Perng, Theorie und Praxis des Parteiverbotssystems, S. 109; Linck, in: FS Schmitt, S. 139 (147); Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 100; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 146. 167  Hierzu unten sub E. IV. 2. 168  BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 523 ff.). 165  Hierzu



E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots61

durch das BVerfG ein veränderter Bedeutungsgehalt beigemessen wurde, wird im Rahmen der Untersuchung der materiellen Maßstäbe des Parteiverbots in Kapitel 4 dieser Arbeit behandelt.

E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots Bevor in den Kapiteln 3 und 4 dieser Arbeit ausführlich auf die rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen und die materiellen Voraussetzungen für ein Parteiverbot eingegangen wird, soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über den Ablauf des Parteiverbotsverfahrens sowie die Entscheidungswirkungen eines die Verfassungswidrigkeit feststellenden Urteils gegeben werden. Die prozessualen Grundlagen des Parteiverbotsverfahrens sind in Art. 21 Abs. 4 Alt. 1 GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 GG sowie §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG geregelt. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Partei entscheidet innerhalb der Zuständigkeitsverteilung des BVerfG nach § 14 Abs. 2 BVerfGG der Zweite Senat. Als politische Reaktion auf das Urteil des BVerfG vom 17. Januar 2017 hat der verfassungsändernde Gesetzgeber als weniger einschneidende Maßnahme unterhalb des Parteiverbotsverfahrens in Art. 21 Abs. 3 und Abs. 4 Alt. 2 GG ein Verfahren über den Ausschluss einer Partei von der staatlichen Finanzierung vorgesehen und die Entscheidungskompetenz hierüber ebenfalls alleine beim BVerfG angesiedelt. Der Ablauf beider Verfahren ist identisch. Ein Antrag auf Ausschluss von der staatlichen Par­ teienfinanzierung kann nach § 43 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG deshalb auch hilfsweise zu einem Parteiverbotsantrag gestellt werden.

I. Antrag 1. Kreis der Antragsberechtigten Die Antragsberechtigung für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG der Bundestag, der Bundesrat sowie die Bundesregierung. Daneben kann auch eine Landesregierung den Antrag stellen, aber nur, wenn die Organisation der politischen Partei, gegen die sich der Antrag richtet, auf das Gebiet dieses Landes beschränkt ist (§ 43 Abs. 2 BVerfGG). Die antragsberechtigten Bundesorgane können den Antrag gegen jede Partei richten, auch wenn diese sich nur innerhalb eines Landes betätigt.169 Der Kreis der Antragsberechtigten ist dabei abschließend geregelt. Eine Partei selbst kann daher auch nicht das BVerfG anrufen, um ihre eigene Verfassungsmäßigkeit feststellen zu lassen, weil ein derartiges Verfahren ge169  Lechner/Zuck,

BVerfGG, § 43 Rn. 8.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

setzlich nicht vorgesehen ist und dadurch auch keine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Rechtsschutzlücke entsteht.170 Jedes der aufgeführten Organe kann sein Antragsrecht eigenständig ausüben und den Antrag mit einer eigenen Antragsbegründung versehen. Gegen eine Partei gerichtete, aber formal getrennt gestellte Anträge verschiedener Antragsberechtigter – wie im ersten Verbotsverfahren gegen die NPD im Jahr 2001 die Anträge von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat – kann das BVerfG zur gemeinsamen Entscheidung verbinden.171 Der Antrag ist schriftlich beim BVerfG einzureichen und unter Angabe der erforderlichen Beweismittel mit einer Begründung zu versehen (§ 23 Abs. 1 BVerfGG). Das BVerfG ist allerdings nicht an die vorgebrachten Beweismittel gebunden, sondern erhebt wegen des Untersuchungsgrundsatzes nach § 26 Abs. 1 BVerfGG den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis. 2. Ermessen bei der Antragstellung Bis heute in der Literatur diskutiert wird die Frage, ob die Stellung eines Verbotsantrags im Ermessen der in § 43 BVerfGG genannten antragsberechtigten Staatsorgane liegt oder ob diese unter bestimmten Voraussetzungen, etwa einer besonderen Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder einer evident erscheinenden Verfassungswidrigkeit der Partei, zur Antragstellung verpflichtet sind.172 Dieses Problem dürfte allerdings für die politische Praxis angesichts der Rechtsprechung des BVerfG geklärt sein. Das BVerfG hatte bereits im KPDUrteil mit Blick auf die Antragstellung gem. § 43 BVerfGG einen Ermessensspielraum anerkannt und sowohl von „pflichtgemäßem Ermessen“173 als 170  BVerfGE 133, 100 (106). Mit einem solchen am 08.11.2012 beim BVerfG eingereichten und gegen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung gerichteten Antrag auf Feststellung ihrer Verfassungskonformität wollte die NPD einem Parteiverbotsverfahren zuvorkommen; dazu Windoffer, DÖV 2013, 151 und Sachs, JuS 2013, 669. Gegen die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise auch Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1191; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 4 Rn. 8; von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 43 Rn. 14 (Juli 2020); Hufen/Kumpf, DVBl. 2013, 417 (418); Hettich, Zulässigkeit verschiedener Handlungs­ alternativen, S. 105. 171  BVerfG, Beschl. v. 03.07.2001 – 2 BvB 1/01 –, juris. 172  Dazu ausführlich Heckelmann, Ermessen bei Verbotsanträgen, passim; Ipsen, in: FS Maurer, S. 163; umfangreiche Nachweise zum Streitstand bei Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 242 ff. 173  BVerfGE 5, 85 (113).



E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots63

auch von einer „Frage des politischen Ermessens“174 gesprochen. Auch in späteren Entscheidungen hat das BVerfG klar erkennen lassen, dass die Entscheidung darüber, ob gegen eine Partei ein Verbotsverfahren eingeleitet werden soll, im Ermessen der antragsberechtigten Verfassungsorgane liegt.175 Dieser Sichtweise ist zuzustimmen, denn die antragsbefugten Staatsorgane müssen die Möglichkeit haben, im Vorfeld eines diskutierten Verbotsantrags alle Aspekte eines Für und Wider in ihre Entscheidungsfindung miteinzubeziehen, insbesondere auch die negativen „Nebenwirkungen“ sowohl im Erfolgsfall als auch für den Fall eines Scheiterns des Verbotsverfahrens. Die im Vorfeld des ersten als auch zweiten Verbotsantrags gegen die rechtsextreme NPD sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch im juristischen Schrifttum kontrovers geführte Diskussion um die Sinnhaftigkeit und die Erfolgsaussichten eines Parteiverbotsverfahrens hat gezeigt, dass der Gang nach Karlsruhe für die Verantwortlichen immer mit einem hohen politischen Risiko verbunden bleibt. Den Antragsberechtigten sollte daher in jedem Fall die Option vorbehalten bleiben, auf die Stellung eines Verbotsantrages aus Opportunitätsgründen zu verzichten und die verfassungsfeindliche Partei stattdessen mit den Mitteln der politischen Auseinandersetzung zu bekämpfen.176 Die Annahme einer Pflicht zur Antragstellung hätte zur Konsequenz, dass diese ggf. auch verfassungsprozessual durchgesetzt werden müsste. Unklar bleibt aber, wie das Einreichen eines Verbotsantrages verfahrensrechtlich erzwungen werden soll.177 Zudem haben die antragsberechtigten Organe nun auch die Möglichkeit, anstelle oder hilfsweise zur Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens einen Antrag auf Ausschluss der Partei von der staatlichen Finanzierung zu stellen. 3. Antragsgegner Antragsgegner im Parteiverbotsverfahren ist die politische Partei, deren Verfassungswidrigkeit vom BVerfG festgestellt werden soll. Es kann sich hierbei nur um eine Partei i. S. d. Art. 21 Abs. 1 GG handeln. Der Partei­ begriff in Art. 21 GG wurde durch die Legaldefinition in § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG in verfassungsmäßiger Weise konkretisiert, so dass diese Definition auch für die Bestimmung der Parteieigenschaft im Verbotsverfahren maß­ 174  BVerfGE

5, 85 (129). 39, 334 (360); 40, 287 (291); 133, 100 (110). 176  Für die Einführung einer rechtlichen Verpflichtung in Art. 21 Abs. 2 GG, den Verbotsantrag zu stellen, wenn nach Beurteilung der Antragsberechtigten die Voraussetzungen für ein Parteiverbot mit „hinreichender Sicherheit“ vorliegen jedoch Linck, DÖV 2006, 939 (945). 177  Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1193. 175  BVerfGE

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

geblich ist.178 Anträge gegen Vereinigungen, die keine politischen Parteien sind – wie bei den Verbotsanträgen gegen die Nationale Liste (NL) und die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) – erweisen sich deshalb als unstatthaft und sind unzulässig.179 Ein Verbot kann dann nur auf Grundlage von Art. 9 Abs. 2 GG i. V. m. § 3 VereinsG durch den Bundesminister des Inneren für bundesweit agierende Vereinigungen bzw. die zuständige Landesbehörde für Vereine, deren Organisation oder Tätigkeit auf das Gebiet eines Landes beschränkt sind, erfolgen.

II. Vorverfahren Eine verfahrensrechtliche Besonderheit im Parteiverbotsverfahren ist das Vorverfahren nach § 45 BVerfGG. Dieser Verfahrensabschnitt ist zwingend und soll der betroffenen Partei die Möglichkeit geben, dem unter Umständen unsubstantiierten Vorbringen des Antragstellers entgegenzutreten und sie so vor einer vorschnellen Abqualifizierung als „verfassungswidrig“ zu schützen.180 Bereits die öffentlichkeitswirksame Einreichung des Verbotsantrags beim BVerfG kann die Chancengleichheit der Partei beeinträchtigen. Spätestens mit dem Beschluss zur Durchführung der mündlichen Verhandlung sieht sich die Partei für die Dauer des Verfahrens mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit konfrontiert.181 Daneben soll das Vorverfahren auch der Entlastung des BVerfG dienen und die aufwändige Vorbereitung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie Beweiserhebung im Falle von unzulässigen oder unzureichend begründeten Anträgen vermeiden helfen.182 Der Beschluss des BVerfG, mit dem das Vorverfahren beendet wird, kann entweder auf Zurückweisung des Verbotsantrags oder auf Durchführung der mündlichen Verhandlung lauten. Entscheidet das BVerfG, die mündliche Verhandlung anzuordnen und damit ins Hauptverfahren überzugehen, stellt dies eine Entscheidung zum Nachteil des Antragsgegners dar, die mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Senatsmitglieder gefasst werden muss (§ 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG). Gleiches gilt nach dem BVerfG im NPD-Einstellungsbeschluss auch für die Ablehnung eines von der Partei gestellten Antrags auf Verfahrenseinstellung wegen eines nicht behebbaren Verfahrenshin178  Kliegel,

in: Barczak, BVerfGG, § 43 Rn. 4 ff. 91, 262; 91, 276. 180  Lenz/Hansel, BVerfGG, §  45 Rn. 2; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1197. 181  BVerfGE 107, 339 (359); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 45 Rn. 1. 182  von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 45 Rn. 2 (Juli 2020); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 45 Rn. 1. Lenz/Hansel, BVerfGG, § 45 Rn. 1 sprechen daher von einer „Filterfunktion“. 179  BVerfGE



E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots65

dernisses.183 Unabhängig von der Zulässigkeit des Antrags oder dessen unzureichender Begründung kann das BVerfG das Verfahren in jedem Stadium wegen Vorliegens eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses einstellen, wie im ersten NPD-Verbotsverfahren aufgrund der Durchsetzung der Partei mit V-Leuten des Verfassungsschutzes geschehen.184 Die Zurückweisung des Verbotsantrags stellt eine reine Prozessentscheidung dar, welche nur in formelle, nicht aber materielle Rechtskraft erwächst. Die eine Wiederholung des Verbotsantrags einschränkenden Vorschriften der §§ 47, 41 BVerfGG setzen dagegen eine Entscheidung in der Sache voraus. Ein erneuter Antrag muss deshalb nicht auf neue Tatsachen gestützt werden, sondern es reicht aus, wenn er den gerügten Mangel vermeidet.185

III. Voruntersuchung und mündliche Verhandlung Ist der Antrag weder unzulässig noch unzureichend begründet, ist vor dem BVerfG eine mündliche Verhandlung durchzuführen, auf deren Grundlage der Senat anschließend durch Urteil darüber entscheidet, ob der Verbotsantrag begründet ist (vgl. § 25 BVerfGG). Weil das Parteiverbotsverfahren umfangreiche Ermittlungen tatsächlicher Art erforderlich machen kann, besteht für das BVerfG gem. §§ 47, 38 Abs. 2 BVerfGG die Möglichkeit, zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eine Voruntersuchung durch einen Richter des anderen Senats anzuordnen. Daneben kann der Senat zur Sicherung von Beweismaterial nach §§ 47, 38 Abs. 1 BVerfGG entsprechend den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) Durchsuchungen und Beschlagnahmen anordnen. Wird keine Voruntersuchung durchgeführt, sind sämtliche für die Erfüllung des Verbotstatbestandes relevanten Tatsachen in der mündlichen Verhandlung aufzuklären. Das BVerfG ermittelt als einzige gerichtliche Instanz zur Klärung der Verfassungswidrigkeit den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen und ist nicht auf das Vorbringen des Antragstellers und Antragsgegners beschränkt.186 Sowohl für Fragen der Zulässigkeit als auch der Begründetheit 183  BVerfGE 107, 339 (356 ff.); kritisch Ipsen, JZ 2003, 485 (486 f.) und Volkmann, DVBl. 2003, 605 (606). 184  BVerfGE 107, 339. 185  von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 45 Rn. 16 (Juli 2020); Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 45 Rn. 10; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 41 Rn. 2; a. A. Stern, in: FS 25 Jahre BVerfG I, S. 194 (214 f.), der im Fall des als nicht hinreichend begründet zurückgewiesenen Antrags eine Sachentscheidung des BVerfG annimmt und eine Wiederholung des Antrags nur bei Vorbringen neuer Tatsachen zulassen will. 186  Vgl. Bartmann, Beweisrecht, S. 65 f.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

des Antrags und der etwaigen Aufklärung von Prozesshindernissen gilt das Freibeweisverfahren, so dass alle für die Entscheidung erheblichen Beweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemacht werden können.187

IV. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit und ihre Rechtsfolgen Kommt das BVerfG nach durchgeführter mündlicher Verhandlung zu dem Ergebnis, dass der Antrag begründet ist, stellt es durch Urteil die Verfassungswidrigkeit der Partei fest (§ 46 Abs. 1 BVerfGG) und erklärt zwingend gleichzeitig deren Auflösung sowie das Verbot der Schaffung von Ersatzorganisationen (§ 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG). Das „Parteiverbot“, von welchem im allgemeinen Sprachgebrauch die Rede ist, ergibt sich nicht alleine aus der festgestellten Verfassungswidrigkeit, sondern erst aus der Kumulation dieser Rechtsfolgen. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit kann auf einen rechtlich oder organisatorisch selbständigen Teil der Partei beschränkt werden (§ 46 Abs. 2 BVerfGG). Daneben kann gem. § 46 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG die Einziehung des Parteivermögens zugunsten des Bundes oder des Landes zu gemeinnützigen Zwecken angeordnet werden. Erweist sich der Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit dagegen als unbegründet oder unzulässig, ist dieser zurückzuweisen. Ein auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit lautendes Urteil muss wegen § 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG wiederum von einer Mehrheit von zwei Dritteln der Senatsmitglieder getragen werden. 1. Konstitutive Wirkung der Feststellungsentscheidung Die auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit lautende Urteilsformel hat sowohl deklaratorische als auch konstitutive Wirkung. Deklaratorisch deshalb, weil sie die durch Erfüllung der Tatbestandsmerkmale nach Art. 21 Abs. 2 GG kraft Gesetzes (möglicherweise schon lange) existierende Rechtslage wiedergibt („sind verfassungswidrig“). Das konstitutive Element besteht darin, dass in Bezug auf die verfassungswidrige Partei erst aus der Entscheidung des BVerfG mit Wirkung ex nunc negative Rechtsfolgen abgeleitet werden dürfen, d. h. die Partei erst von diesem Zeitpunkt an ihre Statusrechte aus Art. 21 Abs. 1 GG verliert und davor niemand ihre Verfassungswidrigkeit rechtlich geltend machen kann und die politische Tätigkeit der Partei behindern darf (sog. Parteienprivileg).188 Der konstitutiven Wirkung der verfas187  Kliegel,

in: Barczak, BVerfGG, § 45 Rn. 13. ausdrücklich erstmals BVerfGE 12, 296 (304 f.); danach st. Rspr., vgl. BVerfGE 13, 46 (52); 17, 155 (166); 39, 334 (357); 47, 130 (139); 107, 339 (362); 188  So



E. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Parteiverbots67

sungsgerichtlichen Entscheidung kommt damit die wichtigere Bedeutung zu.189 2. Auflösung der Partei Die Auflösung der Partei ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut zwingend mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit zu verbinden und nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt.190 Unmittelbar in Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG ist die Auflösung der Partei dagegen nicht vorgesehen. In der Literatur wird deswegen die Frage aufgeworfen, ob der in § 46 Abs. 3 BVerfGG vorgeschriebene Rechtsfolgenautomatismus der Parteiauflösung mit der Verfassungsbestimmung überhaupt vereinbar sei.191 Das BVerfG war derartigen Bedenken schon im KPD-Urteil ausdrücklich entgegengetreten. Nach Ansicht des BVerfG ist die Auflösung „keine selbständige Exekutivmaßnahme, sondern eine gesetzlich angeordnete normale, typische und adäquate Folge der Feststellung der Verfassungswidrigkeit“.192 Auch in der neusten Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren hat der Senat nochmals betont, dass vor dem Hintergrund eines effektiven, präventiven Verfassungsschutzes für den Fall der festgestellten Verfassungswidrigkeit nur eine Auflösungsanordnung die weitere Teilnahme der Partei an der politischen Willensbildung tatsächlich zu verhindern vermag.193 Der Gesetzgeber habe mit der Regelung des § 46 Abs. 3 BVerfGG seinen ihm durch Art. 21 GG verfassungsrechtlich übertragenen Gestaltungsauftrag nicht überschritten. Dabei trat der Zweite Senat insbesondere der seitens der NPD vorgebrachten Auffassung entgegen, es obliege dem „mündigen Bürger“, eine entsprechende 133, 100 (107); 144, 20 (201, Rn. 526); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 40; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 247. 189  Der BGH hat in NJW 1960, 97 (98) noch die Ansicht vertreten, die Entscheidung des BVerfG habe nur deklaratorische Wirkung. Nicht mehr vertreten wird auch die Ansicht von der Rückwirkung des Urteils, vgl. Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 58. Kontrovers zur Feststellungswirkung aus jüngerer Zeit Wiegand-Hoffmeister, in: Dalibor (Hrsg.), Perspektiven des Öffentlichen Rechts, S. 415 (424 ff.). 190  von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 59 (Juli 2020); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 558 (Januar 2018). 191  Kritisch etwa Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn.  47 ff. 192  BVerfGE 5, 85 (391). 193  Zur in § 46 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 BVerfGG vorgesehenen Möglichkeit, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Auflösung auf selbständige Teile der Partei zu beschränken, vgl. von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 51 ff. (Juli 2020); zu einer solchen „Minusmaßnahme“ als Option auch Keesen, RuP 2021, 77.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

verfassungsgerichtliche Feststellungsentscheidung durch Nichtwahl der Partei selbst zu „vollstrecken“.194 Mit dem Ausspruch der Auflösung im Tenor des Urteils als Folge der festgestellten Verfassungswidrigkeit endet die rechtliche Existenz der Partei.195 Praktisch bedeutet dies, dass den Behörden für die Vollziehung des Urteils die Zerschlagung der Parteiorganisation mitsamt ihrer Untergliederungen aufgegeben wird.196 3. Verbot der Schaffung von Ersatzorganisationen Weiterhin ist mit der festgestellten Verfassungswidrigkeit das Verbot zu verbinden, Ersatzorganisationen zu schaffen (§ 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG). Damit soll verhindert werden, dass die erstrebte Wirkung des Parteiverbots, die Partei von der politischen Willensbildung auszuschließen, durch die bislang hinter der verbotenen Partei stehenden Personen umgangen wird. ­ Ersatzorganisationen sind nach der Legaldefinition in § 33 Abs. 1 PartG Organisationen, die verfassungswidrige Bestrebungen einer vom BVerfG verbotenen Partei an deren Stelle weiter verfolgen sollen.197 Unerheblich ist, ob es sich bei der Ersatzorganisation der Form nach wiederum um eine politische Partei oder eine sonstige Vereinigung handelt.198 Neben der Bildung von Ersatzorganisationen ist auch die damit gleichzusetzende Fortführung bestehender Organisationen als Ersatzorganisationen nach § 33 Abs. 1 PartG verboten.199 Jede politische Partei hat nur Anspruch auf ein Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1GG. Wird in einem Verbotsverfahren eine Partei für 194  BVerfGE 144, 20 (201 f., Rn. 527); vgl. auch schon Stern, in: FS 25 Jahre BVerfG I, S. 194 (219 f.). 195  Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1204; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 559 (Januar 2018); Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46 Rn. 27; Seifert, Politische Parteien, S. 495. Nach a. A. soll die rechtliche Existenz der Partei bereits durch die Feststellungsentscheidung erlöschen und die Bedeutung der Auflösungsentscheidung alleine darauf beschränkt sein, der Verwaltung die Zerschlagung des Parteiapparates zu ermöglichen, vgl. Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 193. Da Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung ohnehin zwingend miteinander zu verbinden sind, spielt die Abgrenzung in der Praxis keine Rolle. 196  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 559 (Januar 2018); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 46 Rn. 5. 197  Vgl. zur Bestimmung des Vorliegens einer Ersatzorganisation BVerfGE 6, 300 (307); 16, 4 (5). 198  Dies folgt schon aus § 33 Abs. 3 PartG. 199  Vgl. dazu BVerfGE 2, 1 (78) bereits vor Inkrafttreten der Regelung des § 33 Abs. 1 PartG.



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verfassungswidrig erklärt und aufgelöst und gründet sich daraufhin eine Ersatzorganisation anstelle der verbotenen Partei, ist für diese Ersatzorganisation das Privileg aus Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG verbraucht.200 Es bedarf daher keiner weiteren Verbotsentscheidung durch das BVerfG, sondern nach § 33 Abs. 3 PartG i. V. m. § 8 Abs. 2 VereinsG kann gegen die Ersatzorganisation, gleich ob es sich um eine Partei oder sonstige Vereinigung handelt, auf Grundlage einer besonderen Verfügung der zuständigen Behörde vorgegangen werden, in der die Eigenschaft als Ersatzorganisation der verbotenen Partei festgestellt wird. Gegen eine solche Verfügung steht der Vereinigung dann ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg offen.201 Eine erneute Feststellungsentscheidung des BVerfG sieht § 33 Abs. 2 PartG aber vor, wenn es sich bei der Ersatzorganisation um eine Partei handelt und diese bereits vor dem Verbot der ursprünglichen Partei bestanden hat oder die im Bundestag oder in einem Landtag vertreten ist. Hier gilt es dem Umstand Rechnung zu tragen, dass für eine bereits vor dem Verbot bestehende Partei das Privileg nicht verbraucht sein kann bzw. bereits eine Legitimierung der Partei durch das Wahlvolk stattgefunden hat. 4. Einziehung des Parteivermögens Im Gegensatz zum Auflösungsbefehl und dem Verbot von Ersatzorganisationen stellt die Entscheidung über die Einziehung des Vermögens der verbotenen Partei nach § 46 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG eine fakultative Rechtsfolge dar, über die das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat. Das BVerfG geht von der Anordnung der Vermögenseinziehung als Regelfall aus202 und hat in den bisher erfolgreichen Verbotsverfahren gegen SRP und KPD von seiner Kompetenz jeweils Gebrauch gemacht. Die Einziehung des Parteivermögens erfolgt zugunsten des Bundes oder eines Landes, sofern die Organisation der Partei auf das Gebiet eines Landes beschränkt ist. Sie soll der Partei die finanzielle Grundlage für eine weitere verfassungswidrige Verbandstätigkeit entziehen und zugleich verhindern, dass die Parteiorganisation unter dem Vorwand der Vermögensauseinandersetzung weiterhin aufrecht­ erhalten wird.203 § 32 Abs. 5 PartG verweist hinsichtlich der Vollstreckung im Fall der Vermögenseinziehung auf die entsprechenden Vorschriften des VereinsG. 16, 4 (5 f.); Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46 Rn. 31. PartG, § 33 Rn. 12 sowie dies., MIP 2013, 37 (42 f.) erhebt verfassungsrechtlichen Bedenken gegen dieses von Art. 21 Abs. 2 GG losgelöste Verbotsverfahren, sofern es sich bei der Ersatzorganisation wiederum um eine Partei handelt. 202  Vgl. BVerfGE 5, 85 (392 f.). 203  BVerfGE 5, 85 (392 f.); 25, 44 (56). 200  BVerfGE 201  Lenski,

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

5. Mandatsverlust Das BVerfG hatte bereits im SRP-Urteil den ersatzlosen Fortfall der Bundestags- und Landtagsmandate der SRP-Abgeordneten angeordnet. Der Mandatsverlust habe sich als zwingende Folge unmittelbar aus der festgestellten Verfassungswidrigkeit ergeben.204 Zur Begründung führte das BVerfG an, dass die Partei mit der Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit wegen des mit demokratischen Grundprinzipien in Widerspruch stehenden Inhalts ihrer politischen Ziele nicht mehr die Voraussetzung für die Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes erfülle. Neben der Auflösung des organisatorischen Apparates der Partei müssten, um die betreffenden Ideen der Partei aus dem Prozess der politischen Willensbildung auszuscheiden, auch die Abgeordneten als wesentliche Exponenten der Partei ihr Mandat verlieren.205 Mangels gesetzlicher Grundlage206 stützte sich das BVerfG bei der Anordnung des Mandatsverlustes seinerzeit auf die allgemeine Vollstreckungsvorschrift des § 35 BVerfGG.207 Im darauffolgenden Urteil zum KPDVerbot hatte das Gericht an dieser Auffassung festgehalten, von einem Ausspruch über den Mandatsverlust aber unter Hinweis auf die in den beiden Ländern, in deren Parlamenten KPD-Mandatsträger vertreten waren, zwischenzeitlich ergangenen gesetzlichen Regelungen abgesehen.208 Inzwischen ist in §§ 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BWahlG, 22 Abs. 2 Nr. 5 EuWG sowie in entsprechenden Vorschriften in den Wahlgesetzen der Länder209 ausdrücklich geregelt, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei, welcher der Abgeordnete angehört, zum Verlust der Mitgliedschaft im Parlament führt. Auch die Kommunalwahlgesetze der Länder sehen den Mandatsverlust in kommunalen Vertretungsorganen vor.210 Der aufgrund einfachgesetzlicher Regelung mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit zwingend einhergehende Mandatsverlust stößt in Teilen der Literatur auf teils schwere verfassungsrechtliche Bedenken.211 Die wohl 204  BVerfGE

2, 1 (72 ff.). 2, 1 (73 f.). 206  Der Gesetzgeber verzichtete trotz des bereits aus Weimarer Zeit bekannten Folgeproblems zunächst sogar bewusst auf eine gesetzliche Regelung zum Mandatsverlust, vgl. Abendroth, ZfP 1956, 305 (319) m. w. N. 207  BVerfGE 2, 1 (77). Dies wurde überwiegend kritisch gesehen, vgl. Seifert, Politische Parteien, S. 506; ders., DÖV 1961, 1 (7); Abendroth, ZfP 1956, 305 (318 ff.) m. w. N. 208  BVerfGE 5, 85 (392). 209  Nachweise bei Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 196 (Fn. 389). 210  Nachweise bei Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 196 (Fn. 391). 211  Vgl. etwa Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, §  46 Rn. 71; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 156; Streinz, in: v. Mangoldt/ 205  BVerfGE



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h. M. erachtet die Regelungen zum Mandatsverlust im Spannungsverhältnis zwischen dem Parteiverbot gem. Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG einerseits und dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegten Grundsatz des freien Mandats des gewählten Abgeordneten andererseits dennoch als verfassungsgemäß.212 Problematisch ist die gesetzliche Regelung eines automatischen Mandatsverlustes auch mit Blick auf das in Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK garantierte Recht auf freie Wahlen und die Rechtsprechung des EGMR. Der EGMR hält den Mandatsverlust als Folge eines Parteiverbots zwar nicht per se für unzulässig, sieht die Anordnung eines zwingenden Mandatsverlustes ohne Einzelfallprüfung für den jeweils betroffenen Abgeordneten aber als unverhältnismäßig und damit als einen Verstoß gegen Art. 3 ZP an.213 Der Mandatsverlust könne nach Ansicht des EGMR nur bei einem individuellen Fehlverhalten bzw. verfassungswidrigen Aktivitäten des jeweiligen Mandatsträgers gerechtfertigt sein.214 Als rechtmäßig erachtet hat der EGMR daher auch den Mandatsverlust führender Parteifunktionäre nach einem zulässigen Parteiverbot, welches auf Äußerungen und Handlungen eben dieser exponierten Mitglieder gestützt wurde.215 Der in den Wahlgesetzen des Bundes und der Länder vorgesehene zwingende Mandatsverlust aller Abgeordneten der verbotenen Partei, ohne Rücksicht auf deren „Verursachungsbeitrag“ zum Parteiverbot, dürfte daher im Lichte der Rechtsprechung des EGMR unverhältnismäßig sein.216 Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 249; Ridder, in: AK GG, Art. 21 Abs. 2 Rn. 22; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 4 Rn. 20; Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 173 (201 ff.); Lenski, MIP 2013, 37 (45). 212  Lechner/Zuck, BVerfGG, § 46 Rn. 19; von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 88 (Juli 2020); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 568 (Januar 2018); Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 199 ff.; Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 687 f. (Juli 2020); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 46 Rn. 11; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46 Rn. 47; Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S.  84 f.; Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 21 Rn. 24. 213  EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. ./. Türkei, Rn. 29, 37 ff. 214  EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. ./. Türkei, Rn. 36. 215  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u.  a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, Rn. 133. 216  Für Korrekturbedarf Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 71. Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46 Rn. 49 spricht sich für eine konventionskonforme Auslegung der Vorschriften dahingehend aus, dass der Mandatsverlust auf die Abgeordneten beschränkt wird, die mit ihrem Verhalten in zurechenbarer Weise zum Parteiverbot beigetragen haben. Lenz/Hansel, BVerfGG, § 46 Rn. 11 und von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, §  46 Rn.  89 (Juli 2020) weisen dagegen darauf hin, dass der „bedrohte“ Abgeordnete es selbst in der Hand habe, einen Mandatsverlust durch Parteiaustritt vor der absehbaren Verbotsentscheidung zu verhindern.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

V. Vollzug des Urteils Nur die mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach § 46 Abs. 3 BVerfGG verbundenen weiteren Rechtsfolgen können Vollstreckungsmaßnahmen unterliegen, da der Feststellungstenor als solcher weder vollstreckungsfähig noch -bedürftig ist. Das BVerfG hat in den bisherigen Verbotsurteilen gegen SRP und KPD Vollstreckungsanordnungen noch auf Grundlage der allgemeinen Vorschrift des § 35 BVerfGG erlassen. Der Gesetzgeber hat die getroffenen Anordnungen des BVerfG bei Erlass des Parteiengesetzes (PartG) im Jahr1967 dann weitestgehend übernommen und in § 32 PartG geregelt. Die zur Vollstreckung des Urteils erforderlichen Maßnahmen werden durch die von den Landesregierungen bestimmten Behörden getroffen; erstreckt sich die Organisation oder Tätigkeit der verbotenen Partei über das Gebiet eines Landes hinaus, liegt die Zuständigkeit für die Anordnung der erforderlichen Vollzugsmaßnahmen beim Bundesminister des Inneren. In beiden Fällen steht ihnen zur Durchsetzung der notwendigen Vollstreckungsmaßnahmen ein umfassendes Weisungsrecht gegenüber den nachgeordneten Behörden zu. Eine abweichende Vollstreckungsregelung durch das BVerfG nach § 35 BVerfGG bleibt gem. § 32 Abs. 3 PartG weiterhin möglich.

VI. Bindungswirkung des Urteils Das Feststellungsurteil des BVerfG erwächst in Rechtskraft und hat gem. § 31 BVerfGG Bindungswirkung. Entsprechend dem Gedanken des straf­ prozessualen Grundsatzes des Strafklageverbrauchs kann nach §§ 47, 41 BVerfGG ein neuer Antrag gegen denselben Antragsgegner, gleich von welchem Antragsberechtigten er gestellt wird, nur bei Vorbringen neuer Tat­ sachen wiederholt werden. Neue Tatsachen sind nicht nur solche, die sich zeitlich nach der Verkündung der vorherigen Entscheidung ereignet haben, sondern auch Umstände, die dem Gericht erst nach der Entscheidung im ersten Verfahren bekannt geworden, die aber schon vorher eingetreten und nicht vorgetragen worden sind.217 Der Antrag auf ein erneutes Parteiverbotsverfahren kann sich neben den neuen Tatsachen weiterhin auch auf die bereits im alten Verfahren vorgetragenen Tatsachen (z. B. das Parteiprogramm) stützen, wenn diese weiterhin Gültigkeit beanspruchen.218 217  Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 47 Rn. 16; a.  A. Lechner/Zuck, BVerfGG, § 41 Rn. 3. 218  Dass ein „Verbrauch“ alter Tatsachen sinnwidrig wäre, illustriert Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 43 Rn. 7 am Beispiel des Merkmals der „Potentialität“ im zweiten NPD-Verbotsverfahren: Müsste die Potentialität aufgrund von steigenden Umfra-



F. Parteiverbote und EMRK73

Einen Wiederholungsantrag gegen denselben Antragsgegner hat es in der Geschichte der Parteiverbotsverfahren bislang noch nicht gegeben. Insbesondere die Einleitung des zweiten NPD-Verbotsverfahrens im Jahr 2013 stellte keinen neuen Antrag i. S. v. § 41 BVerfGG dar, weil bei der Einstellung des ersten Verbotsverfahrens im Jahr 2003 das BVerfG nicht in der Sache entschieden hat.

F. Parteiverbote und EMRK Durch eine Reihe von Entscheidungen des EGMR zur Vereinbarkeit nationaler Parteiverbote mit der EMRK hat die konventionsrechtliche Dimension von Parteiverboten stark an Bedeutung gewonnen. Spätestens mit der Einleitung des letzten NPD-Verbotsverfahrens galt es daher, den Blick nicht nur auf Karlsruhe zu richten, sondern auch Straßburg im Hinterkopf zu behalten. Die Feststellung der Konventionswidrigkeit eines durch das BVerfG ausgesprochenen Parteiverbots wäre schließlich nicht nur juristisch beachtenswert, sondern auch eine empfindliche politische Niederlage für die antragstellenden Staatsorgane. Das BVerfG nimmt im NPD-Urteil erstmals Stellung zur Vereinbarkeit seines Prüfungsmaßstabs aus Art. 21 Abs. 2 GG mit den Anforderungen der EMRK in Gestalt der Rechtsprechung des EGMR. Im Folgenden sollen die Rolle der Konvention für die Auslegung des Grundgesetzes sowie des Parteiverbots im Besonderen kurz dargelegt und die konventionsrechtlichen Grundlagen für Parteiverbote skizziert werden. Die Frage, ob und inwieweit sich die „Europäisierung“ des Parteiverbots in der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG durch das BVerfG tatsächlich widerspiegelt, wird im Rahmen des jeweils problematischen Tatbestandsmerkmals in Kapitel 4 behandelt.

I. Die Bedeutung der EMRK für die Auslegung des Grundgesetzes In Deutschland steht die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag in Gestalt des Zustimmungsgesetzes von 1952219 nach Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eigewerten und guten Wahlergebnissen der NPD in Zukunft bejaht werden, könnte die NPD nunmehr auf Grundlage der fortbestehenden alten Tatsachen verboten werden, sofern sie ihre inhaltliche Ausrichtung nicht geändert hat. Wäre ein erneuter Rückgriff auf diese bereits vorgetragenen, alten Tatsachen unzulässig, könnte ein erneutes Verbotsverfahren trotz der nun bestehenden Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglicherweise nicht durchgeführt werden. 219  BGBl. II 1952, S. 685 (berichtigt S. 953).

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

nes einfachen Bundesgesetzes.220 Der tatsächliche normative Stellenwert der EMRK in der deutschen Rechtsordnung reicht allerdings über deren formale normhierarchische Position hinaus. Das BVerfG hat in mehreren Leitentscheidungen, die mittlerweile zusammengenommen als ständige Rechtsprechung angesehen werden können, die Ausstrahlung und Wirkungsweise der EMRK für die Auslegung und Anwendung von innerstaatlichem Recht und im Besonderen ihre verfassungsrechtliche Bedeutung dargelegt.221 Demnach sind „[b]ei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will“.222 Das BVerfG leitet aus dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sowie Art. 1 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 59 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Pflicht zur Heranziehung der EMRK als Auslegungshilfe für die Ermittlung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes ab.223 Gleichzeitig setzt es dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit sowie dem Gebot der konventionsfreundlichen Auslegung auch Grenzen. Zum einen entfalte die Völkerrechtsfreundlichkeit „Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes“224, zum anderen „[enden] [d]ie Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint“.225 Die Heranziehung der EMRK im Rahmen einer konventionskonformen Auslegung schließt nach dem BVerfG stets auch die Berücksichtigung der ergangenen Rechtsprechung des EGMR mit ein.226 Der EGMR ist nach Art. 19 EMRK als einziges Organ dazu berufen, autonom den Inhalt der Konvention auszulegen und die gerichtlichen Entscheidungen der Mitgliedsstaaten, einschließlich solcher der nationalen Verfassungsgerichte, am Maß220  BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (315 f.); 128, 326 (367); 148, 296 (350 f., Rn. 127). In der Literatur ist teilweise versucht worden, der EMRK mit unterschiedlichen Begründungen einen Übergesetzes- oder Verfassungsrang einzuräumen, vgl. den Meinungsstand und die Nachweise bei Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rn. 8 f. 221  BVerfGE 74, 358; 111, 307; 128, 326; 148, 296. 222  BVerfGE 74, 358 (370); bestätigt durch BVerfGE 111, 307 (317); 128, 326 (367 f.); 148, 296 (351, Rn. 128). 223  BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (369); 148, 296 (352 f., Rn. 130). 224  BVerfGE 111, 307 (318). 225  BVerfGE 128, 326 (371); 137, 237 (321, Rn. 129); 148, 296 (355, Rn. 133). 226  BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317); 128, 326 (367 f.); 148, 296 (351, Rn. 128).



F. Parteiverbote und EMRK75

stab der EMRK zu überprüfen. Der Weg zum EGMR führt in den allermeisten Fällen über die in Art. 34 EMRK vorgesehene Individualbeschwerde, während der Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) sowie dem Gutachterverfahren (Art. 47 EMRK) eine nur sehr untergeordnete Bedeutung zukommt. Zu unterscheiden ist zwischen EGMR-Urteilen gegen die Bundesrepublik Deutschland und solchen gegen andere Konventionsstaaten. Während für Entscheidungen des EGMR in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 46 Abs. 1 EMRK die konventionsrechtliche Verpflichtung zu deren Befolgung besteht und die Entscheidungen für die Parteien Rechtskraftwirkung entfalten, berücksichtigt das BVerfG im Rahmen der Heranziehung der EMRK als Auslegungshilfe die Entscheidungen des EGMR auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen oder in Verfahren gegen andere Mitgliedsstaaten ergangen sind. Der Rechtsprechung des EGMR kommt insoweit eine „faktische[ ] Orientierungs- und Leitfunktion […] auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus“ zu.227 Eine solche Orientierungswirkung lässt sich auch aus Art. 1 EMRK ableiten, wonach sich die Mitgliedsstaaten zur Beachtung der in der Konvention gewährleisteten Rechte verpflichten. Die Gewährleistungen der EMRK werden erst durch die Rechtsprechung des EGMR näher konkretisiert, so dass die Orientierungswirkung von EGMR-Urteilen einen Bestandteil der allgemeinen Konventionswirkung auf die Vertragsstaaten darstellt.228 Das BVerfG betont aber, dass die Anerkennung einer Leit- und Orientierungsfunktion von EGMRUrteilen stets eine gewisse Vergleichbarkeit der den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte voraussetzt, wobei auch jeweils der rechtskulturelle Hintergrund des Falles sowie die spezifischen Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung zu berücksichtigen sind.229 Eine undifferenzierte Übertragung der Rechtsprechung des EGMR in das nationale Verfassungsrecht im Sinne einer „schematischen Parallelisierung“230 verbiete sich, vielmehr sei im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes die EGMRJudikatur „möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“.231 Bei dieser Einpassung weist das BVerfG dem Verhältnismäßigkeitsprinzip eine hervorgehobene Bedeutung zu, über das Wertungen aus der Abwägung des EGMR in die verfassungsrechtliche Prüfung miteinfließen können.232

227  BVerfGE 128, 326 (368); 148, 296 (351, Rn. 129); vgl. auch schon BVerfGE 111, 307 (320). 228  Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16 Rn. 8. 229  BVerfGE 148, 296 (354, Rn. 132). 230  BVerfGE 137, 273 (320 f., Rn. 128); 148, 296 (353, Rn. 131). 231  BVerfGE 128, 326 (371); 148, 296 (356, Rn. 135). 232  BVerfGE 111, 307 (324); 128, 326 (371 f.); 148, 296 (356, Rn. 135).

76

Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Die eben skizzierten Feststellungen des BVerfG zur Bedeutung der Konvention und der EGMR-Rechtsprechung für die Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts machen deutlich, dass es sich bei der EMRK jedenfalls nicht um ein „normales“ Bundesgesetz wie jedes andere auch handelt. Der formale Rang der EMRK als einfaches Bundesgesetz wird faktisch überlagert und aufgewertet durch die Ausstrahlungswirkung, die ihr für die gesamte deutsche Rechtsordnung einschließlich der Rechtsprechung des BVerfG zukommt. Der EMRK wird dadurch in der Bundesrepublik Deutschland eine umfassende Geltung verschafft.

II. Anwendbarkeit der EMRK bei der Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG Voraussetzung für eine konventionskonforme Auslegung des Parteiverbots­ tatbestands in Art. 21 Abs. 2 GG ist die Anwendbarkeit der soeben dargelegten Grundsätze des BVerfG zur Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auch auf das grundgesetzliche Parteiverbot. In der Antragsschrift des Bundesrates im zweiten NPD-Verbotsverfahren wurde der Konvention für die Prüfung des Art. 21 Abs. 2 GG eine nur geringe Rolle beigemessen, weil es sich hierbei um eine staatsorganisationsrechtliche Norm handele und das BVerfG die Bedeutung der EMRK als Auslegungshilfe für Grundrechte und rechtsstaatliche Grundsätze beschränkt habe.233 Die Verfassungsrichter Sommer, Jentsch, di Fabio und Mellinghoff haben hingegen bereits in ihrem abweichenden Votum zum NPD-Einstellungsbeschluss 2003 deutlich gemacht, dass das BVerfG im Rahmen einer Sachentscheidung, zu der es damals nicht gekommen ist, auch über die Fortentwicklung des Parteiverbots im Hinblick auf die EMRK sowie unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des EGMR zu Parteiverboten zu entscheiden gehabt hätte.234 Im NPD-Urteil geht das BVerfG ohne weiteres von einer Berücksichtigungspflicht der aus der EMRK abgeleiteten Maßstäbe der EGMR-Rechtsprechung zu Parteiverboten als Auslegungshilfe im Parteiverbotsverfahren aus.235 In der Literatur wird diese Frage, soweit ersichtlich, lediglich von Shirvani kurz aufgegriffen: Für eine Anwendbarkeit der Konvention auch auf die Bestimmung des Art. 21 Abs. 2 GG spreche, dass auch Parteien grundrechtsfähig sind und das Verbot einer Partei den schwerstmöglichen Eingriff in die durch Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Parteienfreiheit als verfassungsmäßiges subjektives Recht dar233  Verbotsantrag Bundesrat, abgedruckt bei Kliegel/Roßbach, NPD-Verbotsverfahren, S. 39 (161). 234  BVerfGE 107, 339 (394 f. – abw. M.). 235  BVerfGE 144, 20 (234, Rn. 607).



F. Parteiverbote und EMRK77

stellt. Bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR gehe es zudem um die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als einem rechtsstaatlichen Grundsatz im Parteiverbotsverfahren. Zuletzt weise auch die Verbotsrechtsprechung des EGMR staatsorganisationsrechtliche Bezüge auf, indem sie sich mit der Stellung der Parteien in einem demokratischen Regierungssystem auseinanderzusetzen habe.236 Ein Rückgriff auf die von Shirvani genannten Aspekte, insbesondere die umstrittene Rechtsnatur des Art. 21 Abs. 1 GG237, ist indessen gar nicht notwendig, um die Bedeutung der Konvention und des EGMR im Rahmen der Interpretation des Art. 21 Abs. 2 GG zu begründen.238 Das BVerfG hat deren Anwendbarkeit als Interpretationshilfe nämlich gerade nicht auf die Auslegung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen beschränkt, sondern spricht von der „Auslegung des Grundgesetzes“, in der Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK Berücksichtigung finden müssen.239 Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit gilt für die gesamte Rechtsordnung einschließlich der Ebene des Verfassungsrechts.240 Auch bei der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen als der Grundrechte sind somit stets die Wertungen der EMRK und ihre Konkretisierung durch die Judikatur des EGMR miteinzubeziehen. Freilich kommt in der Praxis Fragen der Auslegung und rechtmäßigen Beschränkung von Grundrechten die größte Relevanz im Hinblick auf die Gewährleistungen der EMRK zu. Die Einbeziehung der EMRK in das Prüfprogramm des Art. 21 Abs. 2 GG ist auch schon alleine vor dem Hintergrund der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde der für verfassungswidrig erklärten Partei vor dem EGMR (Art. 34 EMRK) von Bedeutung, der eine Verletzung der durch die Konvention garantierten Menschenrechte und Grundfreiheiten auch durch die Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts feststellen kann.241 Das BVerfG betont daher auch sein Interesse an einer Rechtsprechungskohärenz auf den Ebenen des Grundgesetzes und der EMRK, „denn das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepu­ 236  Shirvani,

JZ 2014, 1074 (1077). bereits oben sub D. II. 238  Anders offenbar Schaefer, AöR 141 (2016), 593 (605), der die durch Art. 21 Abs. 1 GG gewährleistete Teilnahme der Parteien am politischen Wettbewerb als Grundrecht einstuft und bereits daraus den Zugang zu einer konventionskonformen Auslegung ableitet. 239  BVerfGE 74, 358 (370); vgl. auch BVerfGE 128, 326 (369); 148, 296 (353, Rn. 131). 240  Vgl. Voßkuhle, ZaöRV 2019, 481 (485 f.); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 6 f. (Mai 2016). 241  Theuerkauf, Parteiverbote und EMRK, S. 153; Klein, ZRP 2001, 397 (398). 237  Hierzu

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

blik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden“.242 Die bisher nur gegen Drittstaaten ergangene Parteiverbotsrechtsprechung des EGMR bindet die Bundesrepublik Deutschland zwar nicht unmittelbar, dient jedoch als Orientierungsmaßstab für die Konventionskonformität eines bundesverfassungsgerichtlichen Parteiverbots. Das BVerfG war daher gehalten, die einschlägige Judikatur des Gerichtshofs in seine Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG einzupflegen, ohne dabei gleichzeitig die vom EGMR entwickelte Struktur der Prüfung sowie die von ihm verwendeten Rechtsfiguren spiegelbildlich auf das grundgesetzliche Parteiverbot übertragen zu müssen.

III. Die Rolle der EMRK im NPD-Urteil Eine methodisch saubere konventionskonforme Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei würde nahelegen, die sich aus der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR ergebenden Wertungen an der jeweils relevanten Stelle innerhalb des Tatbestandsaufbaus von Art. 21 Abs. 2 GG zunächst herauszuarbeiten und im Anschluss daran die interpretatorischen Folgen für das betreffende Tatbestandsmerkmal darzulegen. Im NPD-Urteil legt das BVerfG dagegen die Entscheidungsmaßstäbe für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zunächst grundgesetzautonom aus und stellt erst im Anschluss die in der Judikatur des EGMR zu Parteiverboten entwickelten Grundsätze dar. Dabei kommt es zu dem Ergebnis, dass die zuvor aus der Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkmale entnommenen Anforderungen „ohne weiteres“ mit den Vorgaben des EGMR kompatibel sind.243 Das BVerfG formuliert in seiner Bezugnahme auf die EMRK zwar einleitend, die Rechtsprechung des EGMR „als Auslegungshilfe“ berücksichtigt zu haben.244 Zumindest aufbautechnisch überzeugt es dann aber nicht, wenn die konventionsrechtlichen Anforderungen erst nach der bereits zuvor abgeschlossenen Auslegung fast schon nur beiläufig erwähnt werden. Damit dient die Rechtsprechung des EGMR nur der Absicherung des mithilfe anderer Methoden gefundenen Ergebnisses.245 Dass der Einfluss des EGMR tatsächlich aber größer gewesen sein dürfte, als das BVerfG in seinem Urteil selbst suggeriert246, wird im Rahmen der 242  BVerfGE

128, 326 (368 f.). 144, 20 (234, Rn. 607). 244  BVerfGE 144, 20 (234, Rn. 607). 245  Vgl. Sachs, JuS 2017, 377 (380). 246  Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (111); Uhle, NVwZ 2017, 583 (589). 243  BVerfGE



F. Parteiverbote und EMRK79

Auslegung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ deutlich.247 Insgesamt entsteht für den Leser des Urteils so der Eindruck, das BVerfG wollte nicht zugeben, seine Maßstäbe auch mit Rücksicht auf den EGMR und eine mögliche Überprüfung von Verbotsurteilen nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG in Straßburg definiert zu haben.

IV. Parteiverbote unter der EMRK 1. Rechtliche Grundlagen Anders als das Grundgesetz mit Art. 21 GG enthält die EMRK keine ausdrückliche Regelung zur Stellung und Funktion politischer Parteien. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR unterfallen politische Parteien dem Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit in Art. 11 EMRK.248 Der Gerichtshof betont dabei die besondere Bedeutung der Parteien für das Funktionieren der Demokratie und erkennt deshalb ihre im Vergleich zu sonstigen Vereinigungen herausgehobene Rolle im demokratischen Staat an.249 Der konventionsrechtliche Schutz der Parteien wird nach der Rechtsprechung des EGMR darüber hinaus verstärkt durch die Meinungsfreiheit in Art. 10 EMRK, weil die über die Parteien ausgeübte kollektive politische Meinungsbildung essentiell für die Verwirklichung von Pluralismus und Demokratie sei. Art. 11 EMRK sei daher insbesondere bei politischen Parteien auch immer im Lichte der Bedeutung der in Art. 10 EMRK garantierten Freiheit der Meinungsäußerung zu interpretieren.250 Ein Parteiverbot bzw. die damit zusammenhängende Auflösung einer Partei stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit dar251 und bedarf im System der EMRK einer Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK. Danach muss das Partei­ verbot nach nationalem Recht gesetzlich vorgesehen sein, einem in Art. 11 Abs. 2 EMRK aufgeführten legitimen Zweck dienen und „in einer demokra247  Hierzu

unten Kapitel 4 sub D. II. 3. b). Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 25; EGMR, Urt. v. 08.12.1999, Nr. 23885/94, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) ./. Türkei, Rn. 26; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Nr. 22723/93 u. a., Yazar u. a. ./. Türkei, Rn. 32. 249  EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 25; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1491, Rn. 87). 250  Vgl. EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 42 f.; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/ 98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1491, Rn.  88 f.); Löwer, in: FS Sellner, S. 51 (65). 251  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.07.2013, Nr. 35943/10, Vona ./. Ungarn, Rn. 36; Arndt/ Schubert, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 11 Rn. 42. 248  EGMR,

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

tischen Gesellschaft notwendig“ sein. Als legitime Zwecke für ein Parteiverbot kommen insbesondere der Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer in Frage. Ebenso wie dem Grundgesetz liegt auch der Konvention das Modell einer streitbaren Demokratie zugrunde.252 Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung die enge Verbindung zwischen EMRK und Demokratie herausgestellt und betont, dass es niemandem erlaubt sein darf, sich auf die Rechte und Freiheiten der EMRK zu berufen, um die Demokratie zu zerstören. Als mahnendes Beispiel nennt er insbesondere totalitäre Parteien, denen es die Demokratie gerade ermöglicht habe, groß zu werden und die es sich zum politischen Ziel gesetzt haben, das demokratische System abzuschaffen.253 Bei der Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft folgt die Prüfung des EGMR stets demselben zweistufigen Aufbau: Der Gerichtshof prüft zunächst, ob ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („Pressing social need“) für das Parteiverbot bestanden hat und im Anschluss daran die Verhältnismäßigkeit des Verbots im Hinblick auf den angestrebten Zweck („Proportionality of the measure“), d. h. ob die sich aus dem Verbot ergebenden Rechtsfolgen in einem angemessenen Verhältnis zur Intensität der festgestellten Bedrohung für die Demokratie stehen.254 Der EGMR räumt den Mitgliedsstaaten bei der Entscheidung, ob ein Parteiverbot notwendig i. S. v. Art. 11 Abs. 2 EMRK ist, nur einen begrenzten Beurteilungsspielraum ein und führt eine strikte Kontrolle der innerstaatlichen Entscheidung am Maßstab des Art. 11 Abs. 2 EMRK durch, ohne sich dabei mit seiner Argumentation an die Stelle des nationalen Gerichts zu setzen.255 2. Spruchpraxis Den Anfangspunkt der konventionsrechtlichen Spruchpraxis zu Parteiverboten machte im Jahr 1957 die damals noch zuständige Kommission für Menschenrechte (EKMR), welche über eine Beschwerde der KPD zu ent252  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 176  f.; Kugelmann, EuGRZ 2003, 535; Wolter, EuGRZ 2016, 92 (95 f.). 253  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 99). 254  Vgl. exemplarisch EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 106 ff.); EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u.  a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 84 ff. Zu den Anforderungen im Einzelnen unten Kapitel 4 sub D. II. 3. b). 255  EGMR, Urt. v. 25.05.1998, Nr. 21237/93, Sozialistische Partei u. a. ./. Türkei, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 100).



F. Parteiverbote und EMRK81

scheiden hatte, die eine Verletzung ihrer in der EMRK verbürgten Rechte durch das Verbotsurteil des BVerfG gerügt hat. Die Kommission sah die Beschwerde im Ergebnis jedoch bereits als unzulässig an, weil sich die KPD als eine nach ihrer Zielsetzung die Diktatur des Proletariats anstrebende Partei wegen des in Art. 17 EMRK enthaltenen Missbrauchsverbots nicht auf die Rechte der EMRK berufen könne.256 Eine Prüfung der von der KPD gerügten Verletzung der Gedanken-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 9–11 EMRK) fand deswegen nicht statt. In der Folgezeit hatte sich der EGMR erst seit 1998 wieder mit der Konventionskonformität einer Reihe von nationalen Pateiverboten zu befassen.257 Die Mehrheit der Verfahren betraf dabei Verbote politischer Parteien in der Türkei durch Entscheidungen des dortigen Verfassungsgerichts. In bislang nur drei Fällen wurde ein nationales Parteiverbot vom Gerichtshof als mit der EMRK vereinbar angesehen. Es handelte sich dabei um das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi)258 in der Türkei und der baskisch-linksnationalistischen Herri Batasuna259 sowie ihrer Ersatzpartei Eusko Abertzale Ekintza – Acción Nacionalista Vasca (EAE-ANV)260 in Spanien. Der Missbrauchsgedanke des Art. 17 EMRK spielte in der Rechtsprechung des EGMR zu Parteiverboten indes praktisch keine Rolle mehr. Der Gerichtshof hat vielmehr klargestellt, eine Vereinigung sei nicht schon deshalb vom Schutz der Konvention ausgeschlossen, weil ihre Aktivitäten von den nationalen Stellen als verfassungswidrig angesehen werden.261 Im Übrigen behält sich der EGMR eine ergänzende Berücksichtigung von Art. 17 EMRK am Ende seiner Prüfung der Rechtfertigung vor.262 256  EKMR, Entscheidung v. 20.07.1957, KPD ./. Bundesrepublik Deutschland, Yearbook of the European Convention on Human Rights, Bd. 1, S. 222 ff. Missverständlich insoweit Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 211, wonach die Kommission dadurch die Vereinbarkeit von Art. 21 Abs. 2 GG a. F. mit der EMRK festgestellt habe. 257  Eine Zusammenfassung der Parteiverbotsentscheidungen des EGMR bis zum Jahr 2015 findet sich bei Wolter, EuGRZ 2016, 92 (93 f.). 258  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489. 259  EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien. 260  EGMR, Urt. v. 15.01.2013, Nr. 40959/09, Eusko Abertzale Ekintza – Acción Nacionalista Vasca (EAE-ANV) ./. Spanien. 261  EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 27. 262  Vgl. EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 08.12.1999, Nr. 23885/94, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) ./. Türkei, Rn. 47; zur Bedeutung des Missbrauchsverbots nach Art. 17 EMRK in der Spruchpraxis näher Wolter, EuGRZ 2016, 92 (94 f.).

82

Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG In der Geschichte der Bundesrepublik sind einschließlich des zweiten NPD-Verbotsverfahrens bislang sechs Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG anhängig gemacht worden, lediglich zwei davon endeten für die Antragsteller erfolgreich mit dem Ausspruch von Verbotsurteilen durch das BVerfG. Als erste Partei traf das Verbot im Jahr 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP)263, vier Jahre später wurde dann die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt.264 Beide Verbotsentscheidungen ergingen in der Konstituierungsphase der Bundesrepublik Deutschland unter dem erst wenige Jahre geltenden Grundgesetz und waren damit in einen im Vergleich zur heutigen politisch-gesellschaft­ lichen Situation ganz anderen zeitgeschichtlichen Hintergrund eingebettet: der Nachkriegszeit und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einerseits sowie dem gleichzeitigen Kalten Krieg zwischen Ost und West andererseits. Obwohl die Entscheidungen nunmehr über 60 Jahre zurückliegen, waren sie bis zum Urteil des BVerfG vom 17. Januar 2017 für die Interpretation des Art. 21 Abs. 2 a. F. GG maßgebend und stellen noch heute Meilensteine in der Rechtsprechungsgeschichte des BVerfG dar. Zum Verständnis der praktischen Bedeutung des Parteiverbots in der Geschichte der Bundesrepublik sowie um allgemein zu verdeutlichen, auf welche „Vorarbeiten“ das BVerfG bei seiner Interpretation des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. im NPD-Urteil zurückgreifen konnte oder Bezug nehmen musste, ist im Folgenden ein Überblick über die bisherigen, beim BVerfG anhängig gemachten Parteiverbotsverfahren unter Berücksichtigung ihres jeweiligen zeitund verfahrensgeschichtlichen Kontextes zu geben.

I. Das Verbot der SRP Schon früh nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland formierten sich sowohl am rechten als auch am linken Rand des politischen Spek­ trums extreme Parteien. Die neo-nazistische SRP wurde am 2. Oktober 1949 gegründet und konnte in der Folgezeit einige Mandate bei Landtagswahlen erzielen. In Niedersachsen erreichte sie bei der Landtagswahl im Jahr 1951 11,0 % der Stimmen, in Bremen waren es im selben Jahr immerhin 7,7 % der Stimmen. Zudem war die SRP seit 1950 mit zwei Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten, die sich nach der Bundestagswahl 1949 der SRP angeschlossen hatten. Sowohl personell als auch programmatisch wies die 263  BVerfGE 264  BVerfGE

2, 1. 5, 85.



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG83

Partei eine besondere Nähe zur NSDAP auf. Sie stand ideologisch in der Tradition des Nationalsozialismus, bekannte sich offen zum untergegangenen Deutschen Reich und lehnte die entstandene Nachkriegsordnung einschließlich der Gründung der Bundesrepublik als demokratischen, föderalen Staat kategorisch ab. Das oberste Ziel der SRP war damit die Wiederherstellung des Deutschen Reiches und die Beseitigung der gegenwärtigen politischen Ordnung in der Bundesrepublik.265 Die Wahlerfolge der SRP und das aggressive Auftreten der Parteifunktionäre in der Öffentlichkeit alarmierten die Bundesregierung, befürchtete diese durch den wieder aufkeimenden Rechtsextremismus in der Bevölkerung doch einen außenpolitischen Schaden für die Bundesrepublik und ein Tätigwerden der alliierten Besatzungsbehörden gegen die SRP.266 Im Mai 1951 kündigte die Bundesregierung unter Konrad Adenauer deshalb an, einen Verbotsantrag gegen die SRP beim BVerfG zu stellen. Am 19. November 1951 – kurz nach der Konstituierung des BVerfG – stellte die Bundesregierung sodann den entsprechenden Antrag auf gerichtliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Die Bundesregierung begründete dies im Wesentlichen wie folgt: Die SRP sei eine Nachfolgeorganisation der NSDAP und wie diese nach dem Führerprinzip strukturiert. Sie verfolge die gleichen oder ähnliche Ziele wie die NSDAP und gehe darauf aus, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen.267 Mit seinem Urteil vom 23. Oktober 1952 entsprach das BVerfG dem Antrag der Bundesregierung und erklärte die Partei für verfassungswidrig. In seiner Urteilsbegründung führte das BVerfG zusammenfassend aus: „1. Die SRP als politische Partei mißachtet […] die wesentlichen Menschenrechte, besonders die Würde des Menschen […] und den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Vor allem die von ihr betriebene Wiederbelebung des Antisemitismus belegt das nachdrücklich. 2. Die SRP bekämpft die demokratischen Parteien der Bundesrepublik in einer Weise, die erkennen läßt, daß sie […] in ihren politischen Zielen darauf ausgeht, die anderen Parteien aus dem politischen Leben auszuschalten. Sie bekämpft […] das für die freiheitliche Demokratie wesentliche Mehrparteienprinzip. 3. Die innere Organisation der SRP […] ist von oben nach unten im Geiste des Führerprinzips aufgebaut […]. 4. Die SRP ist in ihrem Programm, ihrer Vorstellungswelt und ihrem Gesamtstil der früheren NSDAP wesensverwandt. […] Der Gesamtstil zeigt im Großen und bis in kleinste […] Züge Übereinstimmungen mit dem der NSDAP. […] Daß die SRP sich selbst als Nachfolgeorganisation der NSDAP fühlt, zeigt sich in der per265  Hansen,

SRP, S. 105 f.; Will, Ephorale Verfassung, S. 106 ff. SRP, S. 224 f. 267  Vgl. BVerfGE 2, 1 (6). 266  Hansen,

84

Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

sonellen Zusammensetzung der Führungsschicht […] und in der unverhohlenen Glorifizierung Hitlers.“268

Aufgrund der offensichtlichen Verknüpfung der SRP mit Ideologie und handelnden Personen aus der damals allen noch präsenten Zeit des Nationalsozialismus konnte mit der SRP aus Sicht des BVerfG „kurzer Prozess“ gemacht werden.269 Der überwiegende Teil der Entscheidung widmete sich daher auch der Würdigung der Beweisaufnahme, welche die Kongruenz von SRP und NSDAP in Programmatik, Organisation und Verhalten nachweisen sollte.270 Diese Fokussierung auf den Aspekt der Wesensverwandtschaft der SRP mit dem Nationalsozialismus ging allerdings zulasten einer grundsätz­ lichen Klärung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des erstmals angewendeten Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG a. F. So wurden die Begriffe „nach ihren Zielen“, „darauf ausgehen“, sowie „zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“ im SRP-Urteil überhaupt nicht definiert. Von prägender Bedeutung nicht nur für die nachfolgenden Parteiverbotsverfahren bleiben dagegen die Ausführungen des BVerfG zum Verständnis des Grundgesetzes als „wertgebundene Ordnung“ und die daraus entwickelte Definitionsformel der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“.271 Auch haben das Instrument des Parteiverbotsverfahrens als solches und seine Rechtsfolgen, in erster Linie der vom BVerfG angeordnete Mandatsverlust, durch die Entscheidung überhaupt erst Konturen erhalten. Angesichts der verkürzten Begründung des überwiegend auf das Argument der Wesensverwandtschaft von SRP und NSDAP gestützten Urteils und der unzureichenden abstrakten Herausarbeitung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen für ein Parteiverbot ist das SRP-Urteil aus heutiger Perspektive als ein „Spezialurteil mit beschränkter allgemeiner Klärungswirkung“272 einzuordnen, welches verfassungspolitisch zur damaligen Zeit zwar ein wichtiges Signal gesetzt hat, aus juristischer Sicht aber insgesamt nicht ganz zu überzeugen vermag. Das BVerfG hatte sich somit den überwiegenden Teil seiner Interpretationsaufgabe für künftige Verbotsverfahren aufgehoben.273 268  BVerfGE

2, 1 (68 ff.). in: ZParl 2001, 550 (555). Dies zeigt sich auch in der – gerade im Vergleich zum KPD-Verbotsverfahren – relativ kurzen Verfahrensdauer von zehn mündlichen Verhandlungstagen bzw. elf Monaten von der Antragstellung hin bis zum Verbotsurteil. 270  BVerfGE 2, 1 (23 ff.). 271  BVerfGE 2, 1 (12 f.). 272  So Will, Ephorale Verfassung, S. 356. 273  Erstaunlicherweise wurde das SRP-Urteil in der rechtswissenschaftlichen Literatur zunächst kaum rezipiert. Es findet sich dazu nur eine einzige Urteilsbesprechung, die sich allerdings nur mit der Frage der Einordnung des Parteiverbots als Verbandsstrafe beschäftigt, vgl. von Weber, JZ 1953, 293. 269  Lovens,



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG85

II. Das Verbot der KPD Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die KPD, bereits zu Zeiten der Weimarer Republik in der Parteienlandschaft fest etabliert, als eine der ersten politischen Parteien in den alliierten Besatzungszonen wieder zugelassen. Die Partei konnte zwar nicht an ihre Erfolge aus der Endphase der Weimarer Zeit anknüpfen, war in den ersten Nachkriegsjahren aber in fast allen westdeutschen Landtagen als auch mit einem Ergebnis von 5,7 % im ersten Deutschen Bundestag vertreten. Auch hatten zwei KPD-Vertreter an den verfassunggebenden Beratungen des Parlamentarischen Rates mitgewirkt.274 Programmatisch bekämpfte die KPD die auf eine Westeinbindung gerichtete Deutschlandpolitik der Bundesregierung, welche die Teilung Deutschlands längerfristig zementierte. Sie sprach sich für eine Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Vorbild der sowjetischen Besatzungszone aus und unterwarf sich dabei durchweg dem inhaltlichen und strategischen Kurs der Parteiführungen von KPdSU sowie SED.275 Die politische Loyalität der KPD zur Sowjetunion machte die Partei mit Beginn des Kalten Krieges und der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes aus Sicht der Bundesregierung zu einer Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die zunehmend repressive Haltung der Adenauer-Regierung gegenüber der KPD276 gipfelte schließlich in der Stellung eines Verbotsantrags am 22. November 1951 – und damit fast zeitgleich mit dem SRP-Verbotsantrag – beim BVerfG. Zur Begründung führte die Bundesregierung aus, die KPD als marxistischleninistische Kampfpartei strebe eine Staatsform der Diktatur des Proletariats nach dem Vorbild der Sowjetunion an, welche sie durch gewaltsame Revolution und mittels Aufruf der Massen zum Widerstand gegen die verfassungsmäßige Staatsgewalt der Bundesrepublik zu errichten versuche.277 Bereits der Zeitpunkt der Antragstellung war politisch prekär: Der Kalte Krieg hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem bewaffneten Krieg auf der koreanischen Halbinsel seinen ersten vorläufigen Höhepunkt erreicht. In der Bundesrepublik wuchs die Sorge, dass auch das geteilte Deutschland erneut zum Schauplatz eines Krieges werden könnte. Indessen boten die SED-Führung und die Sow­ jetunion der Bundesregierung im September 1951 an, gemeinsam die Per­ spektive der Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen zu diskutieren, was in der Bundesrepublik Hoffnungen auf eine mögliche Wiedervereinigung nährte.278 274  Meier,

Parteiverbote und demokratische Republik, S. 49. Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten, S. 24; Foschepoth, KPDVerbot, S. 47, 50. 276  Dazu Will, Ephorale Verfassung, S. 446 f. 277  Vgl. BVerfGE 5, 85 (102 f.). Der vollständige Wortlaut des Antrags der Bundesregierung ist abgedruckt in Pfeiffer/Strickert, KPD-Prozess, Bd. I, S. 2 ff. 278  Rensmann, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 59 (60). 275  von

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Nach fast fünfjähriger Verfahrensdauer verkündete der Erste Senat am 17. August 1956 schließlich sein Urteil und stellte die Verfassungswidrigkeit der KPD fest. Anders als das SRP-Verfahren wurde das Verbotsverfahren gegen die KPD von jahrelangen gerichtlichen und politischen Auseinandersetzungen begleitet.279 Der Zuspruch für die KPD in der Bevölkerung nahm zwischenzeitlich rapide ab, zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung war sie nicht mehr im Bundestag vertreten. Den endgültigen Schlusspunkt unter das Verfahren setzte am 20. Juli 1957 schließlich die für die Überwachung und Einhaltung der EMRK damals zuständige Europäische Kommission für Menschenrechte, indem sie die Beschwerde der KPD als unzulässig verwarf.280 Das BVerfG kam in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass die Zielsetzung und politische Betätigung der KPD mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbaren sind: „Es ist das Ziel der KPD, die sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung auf dem Wege über die proletarische (sozialistische) Revolution und die Diktatur des Proletariats herbeizuführen. Sowohl die proletarische Revolution als auch der Staat der Diktatur des Proletariats sind mit der freiheitlichen demokratischen Ordnung unvereinbar […]“.281

Der Erste Senat setzte sich dafür in den Urteilsgründen ausführlich mit der Lehre des Marxismus-Leninismus und dem kommunistischen Staats- und 279  Die zeitliche Verzögerung des KPD-Prozesses hatte weniger mit der juristischen Komplexität des Verfahrens zu tun als mehr mit den Zweifeln aus Kreisen des Ersten Senats an der politischen Opportunität eines solchen Verbotsverfahrens, vgl. Will, Ephorale Verfassung, S. 454 ff.; von Brünneck, Politische Justiz gegen Kom­ munisten, S. 119; Rensmann, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 59 (61) und die rückblickende Einschätzung des damaligen Verfassungsrichters Zweigert, JZ 1959, 677. Die Verzögerungstaktik des BVerfG belegen offenbar auch die mittlerweile vom Bundesarchiv im Jahr 2016 zugänglich gemachten und von Foschepoth ausgewerteten Verfahrensakten über den KPD-Prozess. So soll der Anfang 1954 verstorbene erste Präsident des BVerfG und Vorsitzende des Ersten Senats, Hermann Höpker-Aschoff, ein erklärter Gegner eines KPD-Verbotsverfahrens gewesen sein und jede sich bietende Möglichkeit genutzt haben, den Prozess zu verzögern, vgl. Foschepoth, KPD-Verbot, S. 167 und 194 ff. Der Verzögerungstaktik des BVerfG stand auf der anderen Seite der politische Druck der Bundesregierung auf das Gericht gegenüber, das Verfahren gegen die KPD zu beschleunigen, vgl. Foschepoth, KPDVerbot, S. 142 ff. Weiterhin werfen zahlreiche geheime Absprachen zwischen Bundesregierung und BVerfG betreffend die Durchführung des Verbotsverfahrens aus heutiger Perspektive ein zweifelhaftes Bild auf die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und unterstreichen zugleich die politische Brisanz, die einem Parteiverbotsverfahren zukommen kann, dazu ebenfalls Foschepoth, KPD-Verbot, S. 198 ff. 280  Hierzu bereits oben sub F. IV. 2. Zur Entscheidung der Kommission auch Golsong, NJW 1957, 1349. 281  BVerfGE 5, 85 (147).



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG87

Gesellschaftsbild auseinander, welches der Programmatik der KPD nach der durchgeführten Beweisaufnahme zugrunde lag.282 Die Lehre selbst dagegen sei nicht Gegenstand des Verfahrens, da ihr wissenschaftlicher Wahrheitsgehalt nicht der Beurteilung des Gerichts unterliegen könne.283 Die reale Erfolgsaussicht sowie der Zeitpunkt der Zielverwirklichung der Diktatur des Proletariats spiele für ein Verbot keine Rolle. Die Art und Weise, wie die KPD die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats propagiere, lasse erkennen, dass die Partei auf eine gegenwärtige Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgehe.284 Daneben stützte das BVerfG sein Verdikt der Verfassungswidrigkeit auch noch auf die damalige Politik der KPD auf Grundlage ihres sog. „Programms der nationalen Wiedervereinigung“ aus dem Jahr 1952, das auf eine Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch den Sturz der Adenauer-Regierung ausgerichtet sei.285 Schließlich zeige auch der politische Gesamtstil der Partei, der auf eine planmäßige Herabsetzung und Verächtlichmachung der Bundesrepublik ausgerichtet sei, dass die KPD auf eine Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abziele.286 Die Urteilsbegründung des KPD-Verbots hat den Prüfungsmaßstab des Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG a. F. im Vergleich zum SRP-Urteil weiterentwickelt und das Verständnis des Parteiverbots bis zur Entscheidung in Sachen NPD vom 17. Januar 2017 wesentlich geprägt. Ausgehend vom „Weimar-Argument“ der politisch indifferenten, ihren Feinden wehrlos ausgelieferten Weimarer Reichsverfassung erwähnte das BVerfG erstmals den Terminus der „streitbaren Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung und sieht in der Möglichkeit eines Parteiverbots keinen Widerspruch zu einer freiheitlich-demokratischen Verfassung.287 Das BVerfG hielt sodann an seiner Definitionsformel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus dem SRP-Urteil fest und präzisierte die Tatbestandsmerkmale des „Darauf Ausgehens“ und der „Ziele“ einer Partei.288 Insgesamt fiel die richterliche Auseinandersetzung mit dem Instrument des Parteiverbots im KPD-Urteil damit ausführlicher und wesentlich abstrakter aus als noch im SRP-Urteil. 282  BVerfGE 5, 85 (208). Dazu van Ooyen, in: ders./Möllers, Das BVerfG im politischen System, S. 525 (533): „In weiten Teilen liest sich daher die Begründung wie aus einem politikwissenschaftlichen Hauptseminar mit ausführlicher Textexegese marxistischer Schriften und kommunistischer Parteiquellen“. 283  BVerfGE 5, 85 (145). 284  BVerfGE 5, 85 (236 f.). 285  BVerfGE 5, 85 (268 ff.). 286  BVerfGE 5, 85 (384 ff.). 287  Hierzu oben sub B. III. 4. 288  BVerfGE 5, 85 (140 ff.).

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

III. FAP- und NL-Beschluss Nach dem Verbotsantrag gegen die KPD kam das Instrument des Parteiverbots die nächsten Jahrzehnte nicht mehr zum Einsatz. Im September des Jahres 1993 wurden beim BVerfG dann aber gleich drei Verbotsanträge eingereicht: Zunächst begehrte der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Nationalen Liste (NL)289, wenige Tage später folgten Bundesregierung und Bundesrat mit Verbotsanträgen gegen die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP).290 Die Verbotsanträge erfolgten vor dem Hintergrund zunehmender fremdenfeindlich motivierter Gewalt im wiedervereinten Deutschland. Die Antragsgegner selbst führten indes ein politisches Schattendasein. Sowohl bei der NL als auch bei der FAP handelte es sich um Gruppierungen aus dem rechtsextremen Spek­ trum. Die 1989 gegründete NL beschränkte sich auf das Gebiet der Stadt Hamburg, wo sie bei Wahlen zur Hamburgischen Bürgschaft allerdings nur völlig bedeutungslose Wahlergebnisse erzielen konnte. Zur Bundestagswahl 1990 wurde die NL mangels Parteieigenschaft vom Bundeswahlausschuss nicht zugelassen, zur anschließenden Bundestagswahl 1994 beantragte sie gar keine Wahlzulassung. Die NL verfügte nur über rund 30 Mitglieder. Die FAP war im Vergleich zur NL die mitgliederstärkere und bundesweit agierende Organisation. Sie nahm seit ihrer Gründung im Jahr 1979 an mehreren Landtagswahlen sowie an der Wahl zum Deutschen Bundestag 1987 teil, konnte aber wie die NL dabei nur marginale Ergebnisse erzielen. Die NL argumentierte in ihrer Antragserwiderung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehe bereits der Zulässigkeit des Antrags entgegen, denn im Gegensatz zu den bisher verbotenen „ernst zu nehmende[n]“ Parteien SRP und KPD gehe von der NL keinerlei Gefahr aus.291 Die FAP berief sich gar auf einen Missbrauch des Antragsrechts durch Bundesregierung und Bundesrat, weil sie als „Miniaturpartei […] außerstande sei, eine Gefahr für die Bundesrepublik darzustellen“.292 Das BVerfG wies durch seine beiden Beschlüsse vom 17. November 1994 alle drei Verbotsanträge zeitgleich bereits im Vorverfahren gem. § 45 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung als unzulässig zurück mit der jeweils fast identischen Begründung, dass es sich bei NL und FAP mangels ausreichender Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung um keine Parteien i. S. v. Art. 21 GG und § 2 PartG handele.293 289  BVerfGE

91, 91, 291  BVerfGE 91, 292  BVerfGE 91, 293  BVerfGE 91, 290  BVerfGE

262. 276. 262 (265 f.). 276 (281). 276 (290) – FAP; 91, 262 (272 f.) – NL.



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG89

Der Zweite Senat hatte demnach keinen Anlass dazu, sich über den Parteibegriff hinaus mit den materiellen Anforderungen an ein Parteiverbot auseinanderzusetzen. Dementsprechend ließen sich aus den Verfahren auch keine neuen Erkenntnisse für künftige Parteiverbote gewinnen.294 Das von beiden Vereinigungen im Verfahren selbst vorgebrachte Argument der völligen Bedeutungslosigkeit führte kurioserweise dazu, dass ihnen vom BVerfG die Parteiqualität und damit auch die im Vergleich zu sonstigen Vereinigungen erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie abgesprochen wurde. Im Februar 1995 wurden die NL (durch den Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg) und die FAP (durch den Bundesminister des Inneren) schließlich auf Grundlage des Vereinsgesetzes verboten. Dagegen eingelegte Rechtsmittel blieben erfolglos.295

IV. Das erste Verbotsverfahren gegen die NPD Nachdem bereits Ende der 1960er Jahre nach dem Einzug der im Jahr 1964 neu gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in mehrere Landtage innerhalb der Bundesregierung über ein Verbot der Partei diskutiert, diese Option aber letztlich nicht weiter verfolgt wurde296, erhielt mehr als 30 Jahre später die Debatte um ein Verbot der NPD neuen Antrieb. Eine Reihe von Gewalttaten mit erkennbar fremdenfeindlichem und antisemitischem Hintergrund im Jahr 2000 lenkte den Fokus der Öffentlichkeit und der politischen Debatte verstärkt auf das Problem des offenbar wiederaufkeimenden militanten Rechtsextremismus.297 Die NPD selbst war, gemessen an ihren Wahlergebnissen, als rechtsextreme Splitterpartei zu dieser Zeit weitgehend in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden, wurde jedoch von Politik und Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Aktivitäten als ein entscheidender Teil jenes Umfelds ausgemacht, das Gewalttaten billige und die Täter in ihrem Handeln bestärke.298 Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder sich im Oktober 2000 mit einem Aufruf zum „Aufstand der Anständigen“ an die Öffentlichkeit wandte, entschlossen sich Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, jeweils einen eigenen Ver-

294  Lovens,

ZParl 2001, 550 (563).

295  BVerwG, Beschl. v. 20.10.1995 – 1 VR 1.95 –, juris (FAP); Beschl. v. 15.07.1998 –

1 B 75.98 –, juris (NL). 296  Vgl. den Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1969, Nr. 52/S. 444. Zu den Hintergründen der ersten Verbotsdiskussion Flemming, NPD-Verbotsverfahren, S. 91 ff. sowie Flümann, Streitbare Demokratie in Deutschland und den Vereinigten Staaten, S. 182 ff. 297  Flemming, NPD-Verbotsverfahren, S. 97 ff. 298  Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 40.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

botsantrag gegen die NPD beim BVerfG zu stellen.299 Der Antrag der Bundesregierung ging am 30. Januar 2001 beim BVerfG ein, die Anträge von Bundestag und Bundesregierung folgten am 30. März 2001.300 Zur Begründung führten sie im Wesentlichen an: Die NPD als Sammelbewegung von Neonazis sei nach ihrem Gesamtbild nationalsozialistisch, antisemitisch, rassistisch und antidemokratisch geprägt und versuche, die „Volksgemeinschaft“ wiederherzustellen. Ihre Mitglieder und Anhänger scheuten auch vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück. Mit dem Konzept „national befreiter Zonen“ verfolge die NPD das Ziel, das staatliche Gewaltmonopol zu unterlaufen und rechtsfreie Räume für ihre Anhänger zu schaffen.301 Zu einer Sachentscheidung des Gerichts kam es nicht. Mit Beschluss vom 18. März 2003 stellte das BVerfG das NPD-Verbotsverfahren wegen eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses ein.302 Nach Abschluss des Vorverfahrens gem. § 45 BVerfGG hatte das BVerfG zunächst noch die Durchführung der mündlichen Verhandlung über die Verbotsanträge angeordnet303, diese dann aber kurzfristig wieder aufgehoben.304 Zuvor hatten die Richter durch einen Anruf eines Ministerialbeamten aus dem Bundesinnenministerium erfahren, dass der als Auskunftsperson geladene Funktionär der NPD Wolfgang Frenz, auf dessen besonders extremistische Äußerungen sich alle drei Verbotsanträge maßgeblich stützten, mehr als 30 Jahre lang als sog. „V-Mann“ mit dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz zusammengearbeitet hatte.305 Nach der Enttarnung von Frenz mussten die Antragsteller die gleichzeitige Tätigkeit weiterer Funktionäre der NPD auf Bundes- und Landesebene als V-Leute für das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz einräumen.306 Der Prozessbevollmächtigte der NPD war daraufhin der Ansicht, dass ein Verbotsverfahren bei dieser Sachlage rechtsstaatlich nicht mehr durchführbar sei.307 In seinem Einstellungsbeschluss nahm das BVerfG erstmals zur Proble­ matik der nachrichtendienstlichen Beobachtung einer Partei unmittelbar im von Münch, NJW 2001, 728. Chronologie des Verfahrens Bull, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 117 (119 ff.). 301  Näher zur Begründung der einzelnen Anträge Lang, Demokratieschutz durch Parteiverbot?, S.  34 ff. 302  BVerfGE 107, 339. 303  BVerfGE 104, 63. 304  BVerfGE 104, 370. 305  Zum Begriff der V-Leute unten Kapitel 3 sub A. II. 1. 306  BVerfGE 107, 339 (346 ff). Zur „V-Mann-Affäre“ auch Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 15 ff. 307  BVerfGE 107, 339 (352 ff.). 299  Vgl. 300  Zur



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG91

Vorfeld und während eines Parteiverbotsverfahrens Stellung. Weil sich der Zweite Senat auch im zweiten NPD-Verfahren ausführlich mit dieser Thematik zu befassen hatte, wird ihr im Rahmen dieser Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet.308 An dieser Stelle sei bereits gesagt, dass die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder im Bundes- oder Landesvorstand tätig sind, unmittelbar vor oder während der Durchführung eines Verbotsverfahrens durch das BVerfG als in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren angesehen wurde.309 Das BVerfG betonte dabei erstmals die Bedeutung des Gebots der „Staatsfreiheit“ im Zusammenhang mit der Durchführung des Parteiverbotsverfahrens: „Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar. Dieser Befund ist im Fall besonderer politischer Aktivität eines V-Manns evident, jedoch auch dann unübersehbar, wenn das Führungsmitglied politische Zurückhaltung übt. […] Auch diese ­V-Leute wirken notwendig als Medien staatlicher Einflussnahme […].“310 „Vor diesem Hintergrund gebieten die rechtsstaatlichen Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren […] strikte Staatsfreiheit im Sinne unbeobachteter selbstbestimmter Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei vor dem Bundesverfassungsgericht. Das verfassungsgerichtliche Parteiverbot […] braucht ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfah­ rens.“311

Diesen Anforderungen genügten aus Sicht des Gerichts die Art und Intensität der Beobachtung der NPD sowohl unmittelbar vor als auch nach Eingang des Verbotsantrages nicht, zumal die Antragsbegründungen in nicht unerheblichem Maße auf Äußerungen von V-Leuten gestützt wurden.312 Das BVerfG resümierte deshalb: „Nach allem kann von Staatsfreiheit der Führungsebenen der Antragsgegnerin nach Einleitung des Verbotsverfahrens keine Rede sein.“313

Bemerkenswert ist, dass es sich bei der verkündeten Entscheidung um die Auffassung der Minderheit der Senatsmitglieder gehandelt hat, weil die für eine Fortführung des Verfahrens als für die NPD nachteilige Entscheidung nach § 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln der Senatsmitglieder nicht erreicht wurde. Für eine Ablehnung des (sinn­ gemäß so zu interpretierenden) Antrags der NPD auf Verfahrenseinstellung 308  Hierzu

Kapitel 3 sub B. 107, 339 (365). 310  BVerfGE 107, 339 (366 f.). 311  BVerfGE 107, 339 (369). 312  BVerfGE 107, 339 (372). 313  BVerfGE 107, 339 (375). 309  BVerfGE

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

sprachen sich vier Richter aus, während drei Richter in der Präsenz der ­V-Leute auf den Leitungsebenen der NPD ein nicht behebbares Verfahrenshindernis ausmachten.314 Es zeigte sich deutlich, wie gespalten der Zweite Senat bei der Entscheidungsfindung war. Die nicht entscheidungstragende Mehrheit der Richter legte schließlich in einem Sondervotum ihre abweichende Meinung dar, nach der die Tatsache der nachrichtendienstlichen Beobachtung der NPD einer Fortführung des Verbotsverfahrens nicht entgegenstehe und plädierte für eine Aufklärung und Würdigung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Rahmen einer Sachentscheidung.315 Schließlich bedauerte die Mehrheit der Richter auch, dass durch die Einstellung des Verfahrens erneut keine Schärfung der Dogmatik des Parteiverbotsverfahrens erreicht werden konnte. Im Rahmen einer Sachentscheidung hätte sich dem Senat die Gelegenheit geboten, die inzwischen ergangene Rechtsprechung des EGMR zu nationalen Parteiverboten zu berücksichtigen und so über eine Fortentwicklung des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. entscheiden zu können.316 Die Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens ist in der Literatur als eine absehbare Niederlage der Antragsteller317, als Beschädigung der streitbaren Demokratie318 sowie als „Debakel“, „Desaster“ und „Blamage“ für die antragstellenden Verfassungsorgane319 bewertet worden. Gleichzeitig begann auch der Abgesang auf das Instrument des Parteiverbotsverfahrens, mag dieser sich angesichts des zweiten NPD-Verbotsverfahrens im Jahr 2013 aus heutiger Sicht auch als verfrüht dargestellt haben.320 Ob die Verfahrenseinstellung als Blamage für die Antragsteller gewertet werden kann, soll hier dahingestellt werden. Für die Theorie und Praxis des Parteiverbotsverfahrens ist der Einstellungsbeschluss des BVerfG jedoch von bedeutender Tragweite. Mangels Entscheidung in der Sache konnten zwar die materiell-rechtlichen Maßstäbe für das Verbot politischer Parteien im Vergleich zum KPD-Urteil nicht weiterentwickelt werden. Das BVerfG hatte sich aber erstmals mit der 314  Der Zweite Senat hatte zur Zeit der Entscheidung nur sieben Mitglieder. Das achte Senatsmitglied, die damalige Präsidentin des BVerfG Jutta Limbach, war bereits vor der Entscheidung wegen Beendigung ihrer Amtszeit ausgeschieden. Ihre Nachfolgerin im Richteramt Gertrude Lübbe-Wolff hat trotz ihrer Nennung am Ende der Entscheidung nicht am Verfahren mitgewirkt. 315  BVerfGE 107, 339 (378 ff. – abw. M.). 316  BVerfGE 107, 339 (394 f. – abw. M.). 317  Vgl. Flemming, NPD-Verbotsverfahren, S. 206 – aus dem „Aufstand der Anständigen“ sei der „Aufstand der Unfähigen“ geworden, so bereits der Untertitel seiner politikwissenschaftlichen Dissertation; Fromme, RuP 2003, 178. 318  Vgl. Flemming, NPD-Verbotsverfahren, S. 245; Jesse, PVS 44 (2003), 292 (298). 319  So Volkmann, DVBl. 2003, 605. 320  Vgl. Bull, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 117 (134); Rensmann, GLJ 2003, 1117 (1134); Volkmann, DVBl. 2003, 605 (609).



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG93

verfahrensrechtlichen Frage des Vorliegens von Prozesshindernissen im Parteiverbotsverfahren zu beschäftigen und hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass wie bei jedem anderen Verfahren auch die Durchführung des Parteiverbotsverfahrens nur unter Beachtung rechtsstaatlicher Standards zulässig ist. Mit Blick auf die im Vorfeld der Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens besonders relevante nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien zum Zwecke der Sammlung von Informationsmaterial hat das BVerfG das Staatsfreiheitsgebot entwickelt, welches es fortan für künftige Verbotsanträge zusätzlich zu den tatbestandlichen Hürden zu beachten galt.

V. Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD Schließlich soll noch, der Chronologie bisheriger Parteiverbotsverfahren folgend, kurz der Hintergrund und Verfahrensgang des zweiten NPD-Verbotsverfahrens bis zum Urteil vom 17. Januar 2017 als (vorläufigem) Schluss­­ punkt der Entwicklung des Instruments des Parteiverbots skizziert werden. Nach dem gescheiterten ersten Versuch, vor dem BVerfG ein Verbot der NPD zu erwirken, gab es bereits wenige Jahre später von Seiten einiger Politiker die ersten Anstöße, ein erneutes Verbotsverfahren prüfen zu lassen. Anlass waren, wie schon im Vorfeld des ersten Verbotsverfahrens, jeweils Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund.321 Im Mai 2009 legten die SPD-Innenminister der Länder eine Materialsammlung vor, die aus öffentlich zugänglichen Quellen stammt und die Verfassungsfeindlichkeit der NPD ­belegen sollte.322 Nach Bekanntwerden der Taten des rechtsterroristischen ­Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) und der mutmaßlichen Verstrickung des ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der NPD Thüringen Ralf Wohlleben im November 2011 wurde der Ruf nach einem erneuten Verbot der NPD lauter. Die Konferenz der Landesinnenminister beschloss daraufhin am 9. Dezember 2011, die Aussichten für ein zweites NPD-Verbotsverfahren zu prüfen. Die Zeichen für einen erneuten Anlauf verdichteten sich, als im März 2012 die bis dato einem Verbotsverfahren noch skeptisch gegenüberstehenden CDU/CSU-Innenminister der Länder sich dazu bereitfanden, die noch verbliebenen V-Leute aus den Führungsreihen der NPD abzuziehen und damit die Grundvoraussetzung für einen erneuten Antrag vor dem BVerfG zu erfüllen.323 Am 14. Dezember 2012 beschloss der Bundesrat schließlich fast einstimmig, ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD ein321  Vgl. etwa „SPD-Chef Beck plant neuen Anlauf für NPD-Verbot“, in: Die Welt v. 24.08.2007, S. 4; „Politiker für NPD-Verbot“, in: taz v. 22.12.2008, S. 4. 322  „SPD-Länder gehen gegen NPD vor“, in: Die Welt kompakt v. 05.05.2009, S. 4. 323  Jesse, ZfP 2012, 296.

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

zuleiten. Anders als im ersten Verfahren kündigten die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag an, diesmal keine eigenen Anträge zu stellen. Skepsis an einem erneuten NPD-Verbotsverfahren kam nicht nur weiterhin aus der Politik, sondern auch aus der rechts- und politikwissenschaftlichen Literatur, die angesichts der im Vergleich zu den frühen Verbotsverfahren aus den 1950er Jahren geänderten politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und der Rechtsprechung des EGMR von einer bundesverfassungsgerichtlichen Fortschreibung der materiellen Maßstäbe für ein Parteiverbot ausging, die ein Verbot für die Politik nicht kalkulierbar mache.324 Im Verlauf der öffentlichen Verbotsdebatte reichte die NPD selbst beim BVerfG einen Antrag im Parteiverbotsverfahren ein mit dem Ziel festzustellen, dass sie nicht verfassungswidrig ist. Dieser wurde vom BVerfG am 20. Februar 2013 als unzulässig zurückgewiesen.325 Am 3. Dezember 2013 reichte der Bundesrat die Antragsschrift beim BVerfG ein.326 Die ohnehin schon geringe politische Bedeutung der NPD nahm während des Verfahrens derweil weiter ab. Nach dem gescheiterten ersten Verbotsverfahren konnte sie zwischenzeitlich den Einzug in die Landtage von Sachsen im Jahr 2004 und Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2006 feiern und ihren Fraktionsstatus bei den darauffolgenden Landtagswahlen in den beiden Ländern sogar verteidigen. Seit September 2016 war die NPD in keinem Landtag mehr vertreten, ihr blieb nur noch ein Mandat im Europäischen Parlament. Zum Zeitpunkt der Stellung des Verbotsantrags hatte sie deutschlandweit knapp über 5.000 Mitglieder.327 Die dreitätige mündliche Verhandlung fand vom 1. bis zum 3. März 2016 statt.328 Wie schon im ersten NPD-Verbotsverfahren war die nachrichtendienstliche Beobachtung der Antragsgegnerin durch V-Leute des Verfassungsschutzes Prüfungsgegenstand des Verfahrens. Der Antragsteller konnte durch eine Reihe von Belegen nachweisen, dass auf den Führungsebenen der NPD rechtzeitig vor Einleitung des Verfahrens keine V-Leute mehr für den Verfassungsschutz aktiv waren und keine Ausspähung der Prozessstrategie der NPD stattgefunden hat. Die erste verfassungsprozessuale Hürde im Ver324  Vgl. Hufen, ZRP 2012, 202; Morlok, ZRP 2013, 69; van Ooyen, in: ders./Möllers, Das BVerfG im politischen System, S. 525 (547 ff.); Jesse, ZfP 2012, 296; Petschke, RuP 2009, 11; Oswald, ZParl 2014, 440. 325  BVerfGE 133, 100; vgl. zur Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens oben sub E. I. 1. 326  Der Verbotsantrag des Bundesrates ist abgedruckt bei Kliegel/Roßbach, NPDVerbotsverfahren, S.  39 ff. Dazu kritisch Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2016, 1. 327  BVerfGE 144, 20 (47 f., Rn. 3 ff.). 328  Vgl. dazu Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2016, 86. Das vollständige TonbandWortlautprotokoll der mündlichen Verhandlung ist abgedruckt bei Kliegel/Roßbach, NPD-Verbotsverfahren, S.  877 ff.



G. Bisherige Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG95

botsverfahren wurde dadurch genommen, so dass für den Zweiten Senat der Weg frei war für eine Sachentscheidung. Das Urteil des BVerfG vom 17. Januar 2017 ist mit 349 Druckseiten in der amtlichen Entscheidungssammlung das längste in der Geschichte des BVerfG seit dem KPD-Urteil im Jahr 1956, welches bereits 308 Seiten zählen konnte. Im Unterschied zu den früheren Urteilen geht der Senat mit Ausnahme des Tatbestandsmerkmals „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ auf sämtliche in Art. 21 Abs. 2 GG enthaltenen Tatbestandsmerkmale ein und tut dies insgesamt auch wesentlich ausführlicher und präziser als in der Vergangenheit, insbesondere was das Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie das tätigkeitsbezogene Merkmal des „Darauf Ausgehens“ betrifft.329 Aufgrund der Fülle des durch den Bundesrat vorgelegten Beweismaterials fällt auch der anschließende Subsumtionsteil sehr opulent aus.330 Die umfangreiche Auseinandersetzung des BVerfG mit dem Parteiverbot macht zugleich deutlich, dass für die erfolgreiche Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens in der heutigen Zeit ein erkennbar sorgfältigerer Begründungsaufwand erforderlich ist. Das BVerfG stellt in seinem Urteil zunächst ganz im Sinne des Antragstellers fest, dass die NPD nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt, indem sie eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären „Nationalstaat“ anstrebt. Auf die Erreichung dieses Ziels arbeite die NPD auch planvoll und qualifiziert hin. Jedoch: „Es fehlen hinreichende Anhaltspunkte von Gewicht, die eine Durchsetzung der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele möglich erscheinen lassen.“331

Damit war auch der zweite Anlauf gescheitert, die NPD zu verbieten. In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde bereits deutlich gemacht, wie kontrovers das Urteil in der Öffentlichkeit und Wissenschaft aufgenommen wurde.332 Zugleich dürften sich diejenigen bestätigt fühlen, die vor einem derartigen Szenario gewarnt haben.

VI. Fazit Entscheidungen des BVerfG in Parteiverbotsverfahren haben Seltenheitswert in der Bundesrepublik Deutschland, was auch als Zeichen einer starken 329  BVerfGE

144, 20 (202 ff., Rn. 528 ff.). 144, 20 (246 ff., Rn. 633 ff.). 331  BVerfGE 144, 20 (325, Rn. 896). 332  Vgl. hierzu oben Kapitel 1 sub A. 330  BVerfGE

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Kap. 2: Grundlagen des Parteiverbots

Demokratie gewertet werden kann. Ihnen kommt deshalb sowohl aus verfassungspolitischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht besondere Aufmerksamkeit zu. Jede der vor dem NPD-Urteil 2017 ergangenen Entscheidungen setzte ihren eigenen Stempel, der über die Bedeutung der jeweiligen Entscheidung hinaus nicht nur als Grundlage der (Neu-)Interpretation des Parteiverbotstatbestandes im NPD-Urteil von Relevanz, sondern teils auch für andere Bereiche des Verfassungsrechts prägend war. Aus dem SRP-Urteil bleibt vor allem die dort vorgenommene Herausarbeitung der Definitionsmerkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als einem der Schlüsselbegriffe des Grundgesetzes und in der politisch-gesellschaftlichen Debatte erhalten. Auch die im SRP-Urteil erstmals verwendete Formel der „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ sollte zu einem gängigen Argumentationsmuster bei Vereinsverboten werden und das BVerfG auch mehr als 60 Jahre später im NPD-Urteil erneut beschäftigen. Das KPD-Urteil zeichnete sich durch seine im Vergleich zum SRP-Urteil abstraktere Argumentationsleistung anhand der Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG aus und präzisierte das entscheidende Merkmal „darauf ausgehen“. Im NPD-Einstellungsbeschluss konnten die materiellen Maßstäbe für ein Parteiverbot dagegen nicht weiter geschärft werden. Der Beschluss lenkte das Augenmerk jedoch erstmals auf die rechtsstaatlichen Anforderungen, die bei der Durchführung eines Verbotsverfahrens durch die Antragsteller zu beachten sind. Das jüngste NPD-Urteil konsolidiert die frühere bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Parteiverboten und zeichnet erstmals ein vollstädniges Bild der verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen an die Feststellung der Verfassungswidrigkeit; es wird alleine schon aufgrund der Neujustierung der Eingriffsschwelle für Parteiverbote, die zum Anlass für die Einführung des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens in Art. 21 Abs. 3 GG durch den verfassungsändernden Gesetzgeber genommen wurde, in die Rechtsprechungsgeschichte des BVerfG eingehen.

Kapitel 3

Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren Im Vorfeld des zweiten NPD-Verbotsverfahrens galt es für die Antrag­ steller, eine prozessuale Hürde zu überwinden, die nicht in den verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Durchführung des Parteiverbotsverfahrens im BVerfGG enthalten ist, sondern vom BVerfG direkt aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abgeleitet wird. Das erste NPD-Verbotsverfahren endete im Jahr 2003 mit einem Einstellungsbeschluss, weil die entscheidungstragende Senatsminderheit von drei Richtern in der Präsenz von ­V-Leuten der Verfassungsschutzbehörden auf der Führungsebene der Partei unmittelbar vor und während des Parteiverbotsverfahrens ein unüberwindbares Verfahrenshindernis sah.1 Auch im zweiten Verbotsverfahren gegen die NPD prägte die V-Mann-Problematik den Beginn der Verhandlungen, da die NPD wenig überraschend als erstes Verteidigungsvorbringen gegen den Verbotsantrag eine erneute Einstellung des Verfahrens wegen in der Partei vorhandener V-Leute gefordert hatte.2 Der Zweite Senat hatte in seinem Urteil somit wieder Anlass, vor den eigentlichen Sacherwägungen zum Problem der nachrichtendienstlichen Beobachtung politischer Parteien im Zusammenhang mit der Einleitung eines Verbotsverfahrens Stellung zu beziehen – und tat dies in diesem Fall einstimmig. Bevor auf die vom BVerfG für das Parteiverbotsverfahren entwickelten Gebote der Staats- und Quellenfreiheit, den Grundsatz des fairen Verfahrens und schließlich die Fehlerfolgenlehre bei Verstoß gegen diese rechtsstaat­ lichen Verfahrensanforderungen näher eingegangen wird, sind zunächst die rechtlichen Grundlagen der Beobachtung politischer Parteien durch den Verfassungsschutz zu skizzieren. Der Fokus wird hierbei auf dem für das Verbotsverfahren relevanten Einsatz von V-Leuten liegen.

1  BVerfGE

107, 339 (360 ff.). Hierzu bereits oben Kapitel 2 sub G. IV. zu den Einwänden der NPD den Sachbericht in BVerfGE 144, 20 (69 ff., Rn.  78 ff.; 92 ff., Rn.  155 ff.). 2  Vgl.

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung politischer Parteien durch den Verfassungsschutz Die Praxis der Beobachtung und Infiltration politischer Parteien mit ­ -Leuten und verdeckten Ermittlern des Verfassungsschutzes dürfte der breiV ten Öffentlichkeit überhaupt erst im Zusammenhang mit dem gescheiterten ersten Verbotsverfahren gegen die NPD bekannt geworden sein.

I. Institutioneller und materieller Verfassungsschutz Zunächst sollen der institutionelle und materiell-rechtliche Rahmen für die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden kurz dargestellt werden. 1. Verfassungsschutz als grundgesetzlicher Auftrag Das Grundgesetz verwendet den Begriff des Verfassungsschutzes explizit nur in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG. Den Zugang zum institutionellen Verfassungsschutz eröffnet die Kompetenznorm des Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG. Danach hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Gleichzeitig wird damit der materielle Gehalt des Verfassungsschutzbegriffs grundgesetzlich definiert und der einfachgesetzlich näher auszugestaltende Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes eröffnet und begrenzt.3 Der im Grundgesetz ausdrücklich verankerte institutionelle Verfassungsschutz ist ebenso wie das Parteiverbot Ausdruck der Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie.4 Die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden ist auch von Bedeutung für die Effektivität der grundgesetzlichen Instrumente des Partei- oder Vereinsverbotes, weil ohne belastbare Informationen über gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen und Tätigkeiten diese Instrumente des präventiven Verfassungsschutzes regelmäßig gar nicht zum Einsatz kommen könnten.5 Der Bund ist seinem Gesetzgebungsauftrag zur einfachgesetzlichen Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Verfassungsschutz durch 3  Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 57; Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 58. 4  BVerfGE 144, 20 (164, Rn. 418); 146, 1 (49 f., Rn. 110); Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 73 Rn. 241 (April 2010). 5  Lindner/Unterreitmeier, DVBl. 2019, 819.



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz99

Erlass des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVerfSchG) nachgekommen.6 Die zentrale Verfassungsschutzbehörde des Bundes ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit Sitz in Köln (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG), welches nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG auch als Zentral- und Koordinierungsstelle zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes fungiert.7 Nach § 2 Abs. 2 BVerfSchG werden die Länder verpflichtet, für die Zusammenarbeit mit dem Bund oder der Länder untereinander eigene Verfassungsschutzbehörden zu schaffen. Aufbau und Organisation der Landesämter für Verfassungsschutz bestimmen sich grundsätzlich nach den Landesverfassungsschutzgesetzen der einzelnen Bundesländer. Dem Bund fällt aber weiterhin die Kompetenz zu, Mindeststandards für die Sicherstellung der föderalistischen Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsschutzbehörden untereinander zu setzen.8 Die Landesämter für Verfassungsschutz sind dem BfV nicht untergeordnet, sondern die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Verfassungsschutzbehörden erfolgt grundsätzlich gleichrangig. Das BfV besitzt somit kein allgemeines Weisungsrecht gegenüber den Landesbehörden. Nur im Falle eines „Angriffs auf die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes“ nach § 7 BVerfSchG steht der Bundesregierung gegenüber den obersten Landesbehörden ein Weisungsrecht „für die Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund auf dem Gebiete des Verfassungsschutzes“ zu. Ansonsten darf das BfV gem. § 5 Abs. 1 BVerfSchG nur unter bestimmten Voraussetzungen – z. B. wenn sich die verfassungsfeindlichen Bestrebungen in einem Land gegen den Bund richten oder sich über den Bereich eines Landes hinaus erstrecken – und nur „im Benehmen“ mit der Landesbehörde für Verfassungsschutz in einem Bundesland Informationen, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen sammeln. 2. Tätigwerden der Verfassungsschutzbehörden Nach § 1 Abs. 1 BVerfSchG dient der Verfassungsschutz dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Dieser grundgesetzliche Auftrag aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG wird in § 3 BVerfSchG und in den entsprechenden Regelungen der Landesverfassungsschutzgesetze näher ausgeführt. Die nach­ 6  BGBl. I 1950, S. 682; zuletzt vollständige Neufassung am 20.12.1990, BGBl. I 1990, S. 2954. 7  Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 36. 8  Gusy, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, IV § 1 Rn. 74.

100

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

folgende Darstellung beschränkt sich auf die im Zusammenhang mit der Beobachtung politischer Parteien relevante Regelung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 ­BVerfSchG. Danach ist primäre Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden die Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind. Wichtigstes Schutzgut ist dabei die freiheitliche demokratische Grundordnung, während der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes im Hinblick auf politische Parteien eine zu vernachlässigende Rolle spielen. Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von nachrichtendienstlich relevanten Informationen – sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der behördlichen Praxis unter dem Oberbegriff „Beobachtung“ zusammengefasst9 – ist nach § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Bestrebungen sind nach § 4 Abs. 1 Satz 1 lit. c) BVerfSchG politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in § 4 Abs. 2 BVerfSchG benannten Verfassungsgrundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.10 Unter Personenzusammenschlüsse fallen auch politische Parteien.11 Der Personenzusammenschluss muss durch die Entfaltung von Aktivitäten auf eine Rechtsgutsbeeinträchtigung tatsächlich hinwirken, wobei eine aggressivkämpferische Haltung, wie vom BVerfG im KPD-Urteil im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ für das Parteiverbot vorausgesetzt, nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht erforderlich ist.12 Tatsächliche Anhaltspunkte bedeuten auf der einen Seite zwar mehr als bloße Vermutungen, verlangen aber andererseits keine Gewissheit über das Vorliegen von Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.13 Die Kenntnis der Behörden darüber, ob von einer Organisation verfassungsfeindliche Bestrebungen ausgehen oder nicht, soll schließlich das Ergebnis der Beobachtungsmaßnahmen sein. Eine nähere Konkretisierung des tatbestandlichen Erfordernisses der tatsächlichen Anhaltspunkte gestaltet sich schwie9  Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 62; Lindner/Unterreitmeier, DVBl. 2019, 819 (820). 10  Zur Interpretation der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im NPDUrteil unten Kapitel 4 sub A. V. 11  BVerwGE 137, 275 (281 f.). 12  BVerwGE 137, 275 (299). Zur Frage einer Modifikation der Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 3, 4 BVerfSchG durch Art. 21 Abs. 2 GG ausführlich Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 303 ff. 13  BVerwGE 137, 275 (284); Warg, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, V § 1 Rn. 16.



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz101

rig, da die Annahme von tatsächlichen Anhaltspunkten stets von einer Gesamtbewertung der konkreten Umstände des Einzelfalls abhängt.14 Parallel zu den tatbestandlichen Erkenntnismitteln für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG können sich tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowohl aus den von der Organisation verfolgten Zielen als auch aus den Handlungen und Äußerungen der Anhänger ergeben.15 Die Voraussetzungen für das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegen dabei der vollen gerichtlichen Kontrolle.16 Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen sind die Behörden des Verfassungsschutzes zu einer Beobachtung der politischen Partei verpflichtet. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie begründet die verfassungsrechtliche Pflicht der Sicherheitsbehörden, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen. Dieser Pflicht würde der Verfassungsschutz nicht nachkommen, wenn er trotz Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte für von einer Partei ausgehende Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung von einem Einschreiten absieht.17

II. V-Leute als nachrichtendienstliches Mittel Gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen werden nur in Ausnahmefällen ganz offen zu Tage treten. Das Sammeln und Auswerten von Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen wie etwa Parteiprogrammen, offiziellen Verlautbarungen oder für jedermann offenen Veranstaltungen der zu beobachtenden Organisation wird deshalb regelmäßig kein vollständiges Bild über deren wahre Absichten und Pläne liefern. Die Verfassungsschutzbehörden müssen daher ermächtigt werden, Informationen über nicht in der Öffentlichkeit stattfindende Aktivitäten unter Einsatz eigener geheimer Mittel zu gewinnen. Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG darf das BfV Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observationen, Bild- und Tonaufzeichnungen, Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenden. Im Unterschied zu einigen landesgesetz­ lichen Bestimmungen enthält das BVerfSchG keine abschließende Aufzäh14  VG Berlin NVwZ 2002, 1018 (1020); Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 331. 15  Warg, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, V § 1 Rn. 20. 16  OVG Münster, NVwZ 1994, 588 (589); Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 83 f. 17  BVerfGE 107, 339 (365); Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S.  340 f.

102

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

lung nachrichtendienstlicher Mittel.18 Für die Durchführung der vergangenen beiden Parteiverbotsverfahren gegen die NPD von Bedeutung war der Einsatz der sogenannten V-Leute als nachrichtendienstliches Mittel, auf den sich die nachfolgenden Ausführungen beschränken werden. 1. Begriff und Rechtsstellung der V-Leute V-Leute stellen für die Verfassungsschutzbehörden gerade im Rahmen der Beobachtung größerer Organisationen das wichtigste Mittel heimlicher Informationsgewinnung dar.19 Das Gesetz spricht in § 8 Abs. 2 Satz 1 und § 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG von „Vertrauensleuten“.20 Die Literatur versteht unter V-Leuten natürliche Personen, die hauptberuflich nicht Mitarbeiter der Verfassungsschutzbehörde sind und die unter strikter Geheimhaltung ihrer Tätigkeit und Verbindung mit dem Verfassungsschutz über einen längeren Zeitraum gegen Honorar regelmäßig Informationen an den Nachrichtendienst liefern.21 § 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG definiert V-Leute nunmehr ähnlich als Privatpersonen, deren planmäßige, dauerhafte Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz Dritten nicht bekannt ist. Die Tatsache, dass die V-Person selbst nicht als Mitarbeiter in die dienstlichen Strukturen einer Verfassungsschutzbehörde eingegliedert ist, unterscheidet sie von verdeckten Ermittlern/Mitarbeitern, die hauptberuflich für den Verfassungsschutz tätig sind und die unter einer ihnen verliehenen und auf Dauer angelegten Legende in das Beobachtungsobjekt eingeschleust werden (vgl. § 9a Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG).22 Nachdem bereits einige Landesverfassungsschutzgesetze23 den Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Leuten näher geregelt haben, hat nunmehr auch auf Bundesebene der Einsatzrahmen sol18  Der Begriff „nachrichtendienstliche Mittel“ für Methoden, Gegenstände und In­ strumente zur heimlichen Informationsbeschaffung wird im BVerfSchG nicht verwendet, aber in den meisten Landesverfassungsschutzgesetzen, vgl. etwa § 5 Abs. 1 Satz 1 SächsVSG, § 5 Abs. 2 VSG NRW, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayVSG. Eine enumerative Aufzählung nachrichtendienstlicher Mittel enthalten § 5 Abs. 2 VSG NRW, § 14 Abs. 1 Satz 1 NVerfSchG, § 10 Abs. 1 ThürVerfSchG, § 6 Abs. 3 Satz 1 BbgVerfSchG. 19  Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 94; Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 376. 20  Weitere gängige Bezeichnungen sind „Verbindungsperson“ oder kurz „­V-Mann“, wobei letztere wegen fehlender Geschlechterneutralität nicht mehr zeitgemäß ist. Näher zur Herkunft der Wendung „V-Leute“ und zur Kritik an der gesetzlichen Langfassung „Vertrauensperson“ Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 114. 21  Vgl. Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S.  380; Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 266; Shirvani, AöR 134 (2009), 572 (588); Lisken, ZRP 2003, 45 (46). 22  Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 94. 23  Vgl. § 7 VSG NRW, § 12 ThürVerfSchG.



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz103

cher Personen durch die §§ 9a, 9b BVerfSchG eine gesetzliche Regelung erfahren.24 In den meisten Fällen gehören V-Leute schon vor ihrer Anwerbung durch den Verfassungsschutz der zu beobachtenden Organisation an, sie können aber auch erst durch den Nachrichtendienst in den Personenzusammenschluss eingeführt werden. Die Tätigkeit der V-Leute darf nicht weiter gehen als die Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde selbst und beschränkt sich deshalb auf das Sammeln und die Weiterleitung von internen Informationen des Zielobjektes, um der Behörde die Möglichkeit zu geben, sich ein tatsächliches und umfassendes Lagebild von der beobachteten Organisation zu verschaffen. In keinem Fall dürfen die Verfassungsschutzbehörden ihre V-Leute dazu anweisen, gezielt Einfluss auf die Willensbildung innerhalb des Beobachtungsobjektes zu nehmen, zu Straftaten aufzurufen oder gar selbst Straftaten zu begehen (vgl. auch § 9a Abs. 2 Satz 1 und 4 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG).25 V-Leute unterliegen der Führung und den Weisungen durch einen sog. „V-Mann-Führer“, dessen Aufgabe es unter anderem ist, laufend die charakterliche Eignung der Vertrauensperson zu überprüfen sowie dafür Sorge zu tragen und ggf. mäßigend darauf einzuwirken, dass die Vertrauensperson sich im Rahmen ihrer Aufgabenzuweisung bewegt und keine Straftaten begeht.26 Hinsichtlich der rechtlichen Stellung der V-Person ist zwischen einem Innen- und Außenverhältnis zu unterscheiden. Das Innenverhältnis, d. h. die Beziehung zwischen V-Person und Nachrichtendienst, wird durch einen zivilrechtlichen Vertrag ausgestaltet, der die Beschaffung nachrichtendienstlich relevanter Informationen gegen Honorar zum Gegenstand hat. Das Auftreten der V-Person im Außenverhältnis gegenüber Dritten wird dagegen nach h. M. als öffentlich-rechtliches Handeln qualifiziert und die V-Person selbst als Verwaltungshelfer angesehen, da sie mit der in den Verfassungsschutzgesetzen vorgesehenen Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betraut wird und den Weisungen der Verfassungsschutzbehörde unterliegt.27 näher Marscholleck, NJW 2015, 3611 (3614 ff.). Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 381; Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 270. Zur Problematik der Begehung von Straftaten durch V-Leute zur Verhinderung einer Enttarnung Dietrich, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn. 69 ff. und Soiné, NStZ 2013, 83 (86 f.) jeweils m. w. N. 26  Redler, V-Mann, S. 93; Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 95; Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S.  383 f. 27  BVerwG NVwZ-RR 2010, 682 (683); Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S.  119 f.; Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S.  98 f.; Dietrich, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn.  69 ff.; Shirvani, AöR 134 (2009), 572 (589); Soiné, NStZ 2013, 83 (84 f.); Schmalenbach, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie, S. 415 (440); Redler, V-Mann, S. 93 f., der 24  Dazu

25  Schnieder,

104

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

2. Besondere Voraussetzungen für den Einsatz von V-Leuten Der Einsatz von V-Leuten wird bundesrechtlich beispielhaft in der allgemeinen Befugnisnorm des § 8 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG als ein Mittel heimlicher Informationsbeschaffung erwähnt. Für V-Leute gelten daher die allgemeinen Vorschriften über den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Daneben existieren mit den §§ 9a, 9b BVerfSchG spezielle Regelungen betreffend den Einsatz von V-Leuten, die zusätzliche Verhältnismäßigkeitsanforderungen und Kriterien für das Anforderungsprofil einer V-Person enthalten. Das Infiltrieren von V-Leuten stellt nach der Rechtsprechung einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Personenzusammenschlusses dar.28 In der Präsenz von V-Leuten schwingt nämlich die Gefahr einer (staatlichen) Beeinflussung oder Verfälschung der verbandsinternen Willensbildung mit. Zudem wird zwischen den Mitgliedern des Verbandes ein Klima der Unsicherheit und des Misstrauens geschaffen, wenn jederzeit damit gerechnet werden muss, dass interne Informationen über Vertrauenspersonen des Verfassungsschutzes nach außen gelangen können.29 Schon alleine daraus ergibt sich, dass der Einsatz von Vertrauenspersonen nur res­ triktiv unter strikter Beachtung des rechtsstaatlichen Übermaßverbotes erfolgen kann. § 9 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG (der über § 9b Abs. 1 Satz 1 und § 9a Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG auf Vertrauenspersonen explizit Anwendung findet) präzisiert die Anforderungen an die Erforderlichkeit eines V-Person-Einsatzes. Ein solcher Einsatz ist untersagt, wenn die Erforschung des Sachverhaltes für die betroffene Organisation auf weniger beeinträchtigende Weise möglich ist, etwa durch die Auswertung von öffentlich zugänglichen Quellen oder das Auskunftsersuchen an andere Behörden nach § 18 Abs. 3 BVerfSchG. Weiterhin ist im Rahmen des Einsatzes von V-Leuten die Zweck-Mittel-Relation zu beachten: Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG darf der Einsatz von ­V-Leuten nicht erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Vorteile, die eine Erhebung von Informationen über den betroffenen Personenzusammenschluss für die wirksame Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung bietet, die Nachteile überwiegen, die der betroffene Personen-

nach außen ebenfalls von einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis ausgeht, ­V-Leute aber als „Hoheitsträger sui generis“ bewerten will. 28  BVerfGE 107, 339 (366); 144, 20 (161, Rn. 409); BVerwGE 110, 126 (138 f.). 29  BVerwGE 110, 126 (138 f.); VG Berlin, NJW 1999, 806 (807); Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 392 f.; Shirvani, AöR 134 (2009), 572 (589).



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz105

zusammenschluss durch die Erhebung der Informationen über ihn erleidet.30 § 9a Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG konkretisiert die Verhältnismäßigkeitsanforderungen an einen dauerhaften Einsatz von V-Leuten und lässt solchen nur bei „Bestrebungen von erheblicher Bedeutung“ zu, insbesondere wenn sie darauf gerichtet sind, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung vorzubereiten. Schließlich untersagt § 9 Abs. 1 Satz 4 BVerfSchG den weiteren Einsatz von V-Leuten, wenn der Zweck des Einsatzes erreicht wurde oder sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht oder jedenfalls nicht mittels V-Leuten erreicht werden kann. Für die Verfassungsschutzbehörden resultiert daraus die Pflicht, laufend die Voraussetzungen für den weiteren Einsatz der Vertrauensleute zu prüfen. Das Einschleusen oder Führen von Vertrauenspersonen in Organisationen „auf Vorrat“ ist demnach ausgeschlossen.31 § 9a Abs. 2 Satz 4 BVerfSchG i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG verlangt außerdem einen Abbruch des Einsatzes bei Vorliegen eines Anfangsverdachts, dass V-Leute rechtswidrig eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen haben. §§ 9a Abs. 1 Satz 2, 9b Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG verbieten nunmehr auch expressis verbis einen steuernden Einfluss der Vertrauenspersonen auf den überwachten Personenzusammenschluss. Ein solches Verbot folgt aber schon aus dem Umstand, dass V-Leute nur im Rahmen der Aufgabenwahrnehmung der Verfassungsschutzbehörden zur Aufklärung von Bestrebungen nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG eingesetzt werden dürfen. Der Staat kann der beobachteten Organisation dagegen nicht sein eigenes Verhalten zurechnen.32 Da die V-Person sich im beobachteten Personenzusammenschluss unter Umständen aber auf eine bestimmte Weise betätigen muss, um nicht als Spitzel aufzufliegen, andererseits aber auch aus seinem eigenen Willensentschluss heraus Einfluss auf die Organisation nehmen möchte, kann die Beachtung des Verbots der steuernden Einflussnahme in der Praxis Schwierigkeiten bereiten.

III. Die nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien Weder das BVerfSchG noch die Verfassungsschutzgesetze der Länder enthalten besondere Regelungen über die Zulässigkeit von nachrichtendienstlichen Beobachtungsmaßnahmen gegenüber politischen Parteien. Rechtsgrundlage für die Beobachtung politischer Parteien durch die Verfassungsschutzbehörden sind deshalb die allgemeinen Befugnisnormen der Verfassungsschutz30  Vgl.

BVerwGE 137, 275 (313). Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 395. 32  Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 271. 31  Schnieder,

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

gesetze, so dass der eben dargestellte Einsatzrahmen für V-Leute auch auf die Beobachtung politischer Parteien Anwendung findet.33 Der Problematik der Beobachtung von Parteien durch den Verfassungsschutz wohnt aber mehr noch als bei sonstigen Personenzusammenschlüssen eine besondere verfassungsrechtliche Dimension inne. In der Demokratie des Grundgesetzes wirken die Parteien als verfassungsrechtliche Institutionen bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, sie haben durch die Norm des Art. 21 GG eine Konstitutionalisierung erfahren.34 Die nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien liegt im Spannungsfeld zwischen der in Art. 21 Abs. 1 GG garantierten Parteienfreiheit einerseits und dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als aus der streitbaren Demokratie des Grundgesetzes folgender Auftrag an die staatlichen Stellen andererseits. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Beobachtung einer politischen Partei durch die Verfassungsschutzbehörden grundsätzlich zulässig sein kann. Das BVerfG führt dazu in seinem Beschluss zur Einstellung des ersten NPDVerbotsverfahrens aus: „Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland haben die verfassungsrechtlich begründete Pflicht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen. Sie erfüllen diese Pflicht unter anderem dadurch, dass sie auf gesetzlicher Grundlage bei gegebenem Anlass Gruppen und auch politische Parteien beobachten, um feststellen zu können, ob von ihnen eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgeht.“35

Insbesondere werden Beobachtungsmaßnahmen nicht schon aufgrund einer Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 und 4 GG ausgeschlossen, wonach ausschließlich das BVerfG über die Frage der Verfassungswidrigkeit politischer Parteien entscheidet. Das Parteienprivileg verbietet zwar jegliches administrative Einschreiten gegen den Bestand einer Partei, bevor ihre Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG festgestellt wird. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz stellt jedoch nach der Rechtsprechung gerade keine solche Maßnahme dar, sondern dient der Aufklärung des Verdachts, dass eine Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt und wird vom Grundgesetz zur Entscheidung über einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit als zulässig vorausgesetzt.36 Nicht die Beobachtung der Partei als solche stellt ein Vorgehen gegen den Bestand der Partei dar, sondern allenfalls die aus der Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse können dazu verwendet wer33  Krüper,

in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, III § 1 Rn. 51 f. hierzu bereits oben Kapitel 2 sub D. I. 35  BVerfGE 107, 339 (365). 36  BVerwGE 110, 126 (130 f.); 137, 275 (281). 34  Siehe



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz107

den, von staatlicher Seite gegen den Bestand einer Partei einzuschreiten.37 Soweit die nachrichtendienstliche Observation mit faktischen Nachteilen für die betroffene Partei verbunden ist, wie in erster Linie durch die Veröffent­ lichung im Verfassungsschutzbericht nach § 16 BVerfSchG, ist die Partei dagegen nicht durch das Parteienprivileg des Art. 21 GG geschützt.38 Die Rechtsprechung erteilt in diesem Zusammenhang richtigerweise auch der teilweise in der Literatur vertretenen Ansicht eine Absage, wonach nachrichtendienstliche Überwachungsmaßnahmen vor dem Hintergrund der mit Ausnahme von Art. 21 Abs. 2 GG garantierten Parteienfreiheit nur zulässig sein sollen, um einen Verbotsantrag vorzubereiten oder die Voraussetzungen dafür zu klären.39 Nach Ansicht des BVerwG zielt die Beobachtung politischer Parteien durch die Verfassungsschutzbehörden nicht alleine auf die Vorbereitung eines späteren Verbotsantrages durch die antragsberechtigten Organe ab, sondern bezweckt die Beschaffung von Informationen sowie die Unterrichtung der Regierung und der Öffentlichkeit über Art und Ausmaß möglicher von Parteien oder anderen Personenzusammenschlüssen ausgehenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, um diese bereits frühzeitig zu identifizieren und ihnen politisch entgegenzuwirken.40 Eine zulässige Verwendung nachrichtendienstlicher Mittel ausschließlich mit dem Ziel einer späteren Antragstellung im Parteiverbotsverfahren ließe zudem außer Acht, dass für die Stellung eines Verbotsantrages, d. h. sowohl für die Frage, ob ein Parteiverbotsverfahren überhaupt eingeleitet werden soll und falls ja, zu welchem Zeitpunkt, der Opportunitätsgrundsatz gilt.41 Die Beobachtung einer Partei stellt einen Eingriff in ihr durch Art. 21 Abs. 1 GG gewährleistetes Recht dar, selbstbestimmt und ohne staatliche Einflussnahme oder Überwachung über ihre Ziele, Organisation und Tätigkeiten zu entscheiden, was sowohl die Freiheit der inneren Willensbildung als auch die freie Entfaltung der Tätigkeiten der Partei umfasst.42 Bereits die offene Beobachtung durch Erhebung, Sammlung und Auswertung von Infor37  Schnieder,

Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 317 f. 39, 334 (360); 40, 287 (291 f.); 107, 339 (365 f.); BVerwGE 110, 126 (131); zur Problematik der Aufnahme von Parteien in den Verfassungsschutzbericht näher Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S.  181 ff. und Krüper, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, III § 1 Rn.  56 ff. 39  Dafür Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 205; Michaelis, NVwZ 2003, 943 (947); Redmann, Beschränkung der Parteienfreiheit und -gleichheit, S. 133; wohl auch Volkmann, DVBl. 2003, 605 (608). 40  BVerwGE 110, 126 (134). 41  Vgl. hierzu oben Kapitel 2 sub E. I. 2. 42  BVerwGE 110, 126 (131  f.); 137, 275 (281 f.); Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, S. 20. 38  BVerfGE

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

mationen aus öffentlich zugänglichen Quellen besitzt dabei nach der Rechtsprechung des BVerwG Eingriffsqualität.43 Im Falle einer Beobachtung unter Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln wie V-Leuten liegt jedenfalls ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheitssphäre und den Binnenbereich der betroffenen Partei vor, wobei „namentlich der Einsatz von Vertrauens­ leuten geeignet [ist], den parteiinternen Meinungsaustausch zu verunsichern sowie die Willensbildung nachteilig zu beeinflussen und auf diese Weise auch mittelbar auf die Betätigung und die Erfolgschancen der Partei nach außen einzuwirken“.44 Werden die Beobachtungsmaßnahmen gegen die Partei öffentlich gemacht, kann dieser in die Öffentlichkeit getragene Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit außerdem die Chancengleichheit der Partei im politischen Wettbewerb beeinträchtigen.45 Aufgrund dieser besonderen verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel nach den Vorschriften der Verfassungsschutzgesetze eine besondere Bedeutung zukommen als Ausgleich zwischen den widerstreitenden verfassungsrechtlichen Interessen der Parteienfreiheit einerseits und dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung andererseits.46 Gleichzeitig geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Gesetzgeber mit den Vorschriften über die Aufgaben und Befugnisse für den Ver­ fassungsschutz bereits Regelungen getroffen hat, welche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Parteien auf das zur Selbstverteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zwingend Notwendige beschränken und damit sowohl der Parteienfreiheit als auch dem Prinzip der streitbaren Demokratie hinreichend Rechnung tragen.47 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt in den Ermächtigungsnormen des BVerfSchG zum Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln sowie den speziellen §§ 9a, 9b BVerfSchG betreffend den Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauensleuten bereits zum Ausdruck. Aufgrund der Ausformulierung des Verhält43  BVerwGE 137, 275 (279 f.); am Überschreiten der Eingriffsschwelle im Falle der offenen Informationsbeschaffung zweifelnd und höchstenfalls einen geringfügigen Eingriff annehmend Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 578 (Januar 2018). 44  BVerwGE 110, 126 (138  f.), bestätigt durch BVerfGE 107, 339 (366). Vgl. auch VG Berlin NJW 1999, 806 (807); zustimmend Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 155; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 159; Grzeszick/ Rauber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 21 Rn. 147; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 579 (Januar 2018). 45  VGH Mannheim DÖV 1994, 917 (920); Michaelis, Politische Parteien unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, S. 179; Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S.  156 f. 46  BVerwGE 110, 126 (133 f.); 137, 275 (282 f.); Kluth, in: BeckOK GG, Art. 21 Rn. 209 (Stand: 15.02.2021); vgl. auch BVerfGE 144, 20 (161, Rn. 409). 47  BVerwGE 137, 275 (282 f.).



A. Rechtliche Grundlagen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz109

nismäßigkeitsgedankens im Rahmen der gesetzlichen Anforderungen an nachrichtendienstliches Eingriffshandeln bleibt deshalb für eine eigenständige Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beobachtung von politischen Parteien kein Raum mehr. Für den Einsatz von V-Leuten in politischen Parteien gelten demnach die gleichen rechtlichen Voraussetzungen und Maßstäbe wie in sonstigen Personenzusammenschlüssen auch.48 Insbesondere seit dem ersten NPD-Verbotsverfahren hat das Verbot steuernder Einflussnahme bei dem Einsatz von V-Leuten in politischen Parteien besondere Bedeutung erlangt. Das Verbotsverfahren scheiterte schließlich daran, dass die entscheidungstragende Senatsminderheit in dem Einsatz von V-Leuten auf Vorstandsebene der Partei unmittelbar vor und während des laufenden Verfahrens einen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht sah, der ein nicht behebbares Verfahrenshindernis zur Folge hatte. Die Pro­ blematik der Präsenz von Vertrauensleuten auf der Führungsebene einer Partei hängt damit unmittelbar mit dem vom BVerfG für die Durchführung des Parteiverbotsverfahrens postulierten Gebot der Staatsfreiheit zusammen, auf welches sogleich einzugehen ist. Das Anwerben und Führen von Vertrauensleuten aus dem Kreis der Spitzenfunktionäre einer politischen Partei birgt stets die Gefahr einer lenkenden Einflussnahme der Verfassungsschutzbehörden auf die Willensbildung und Geschicke der beobachteten Partei, auch wenn ihnen dies gesetzlich untersagt ist.49 Von Teilen der Literatur wird der Einsatz von V-Leuten auf der Führungsebene einer Partei daher von vorn­ herein als rechtswidrig abgelehnt.50 Das BVerfG sieht bei staatlicher Präsenz durch V-Leute oder verdeckte Ermittler auf der Führungsebene einer Partei Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit gar als unvermeidbar an.51 Allerdings hat sich der Senat ansonsten nicht zur Frage der Zulässigkeit des Einsatzes solcher Personen innerhalb der Führungsriege der beobachteten Partei geäußert. Die Verfassungsschutzbehörden stehen regelmäßig vor dem Problem, parteiinterne, relevante Informationen über die tatsächlichen Aktivitäten, Methoden und Pläne der Partei nur über eine Zusammen­ arbeit mit Funktionären der Partei erhalten zu können.52 Der gänzliche Aus48  Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 402  f.; Krüper, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, III § 1 Rn. 54 f. 49  Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 271; Morlok, NJW 2001, 2931 (2938). 50  Shirvani, AöR 134 (2009), 572 (589 f.); Schmalenbach, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie, S. 415 (443 f.); für Rechtswidrigkeit nur bei einem „übermäßigen Einsatz“ im Bereich der Führungsebene Junggeburth, Beobachtung politischer Parteien, S. 222. 51  BVerfGE 107, 339 (366); 144, 20 (160, Rn. 407). 52  Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S.  406; Dietrich, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn. 152.

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

schluss solcher Informationsquellen würde dazu führen, dass die Behörden unter Umständen nicht mehr in der Lage sind, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen aufzudecken und damit die ihnen verfassungsrechtlich aufgetragenen Aufgaben nicht effektiv wahrnehmen zu können. Mit der überwiegenden Ansicht im Schrifttum ist deshalb im Rahmen der gesetzlichen Regelungen und unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von einer Zulässigkeit sog. Spitzenquellen auszugehen, wobei für jeden Einzelfall sichergestellt werden muss, dass die V-Person nur abgeschöpft wird und die Behörden sich darüber hinaus jeg­ licher aktiver Verhaltenslenkung enthalten.53

B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen im Parteiverbotsverfahren Die zahlreichen Verweise auf den im Rahmen des ersten NPD-Verbotsverfahrens ergangenen Einstellungsbeschluss machen deutlich, dass der Zweite Senat in seinen Ausführungen zu den Verfahrensvoraussetzungen im prozessual-rechtlichen Teil des NPD-Urteils weitgehend an die Auffassung der damaligen entscheidungstragenden Senatsminderheit anknüpft. Nachfolgend soll auf die vom BVerfG etablierten Verfahrensstandards im Einzelnen eingegangen und deren Bedeutung für das Verbotsverfahren einer kritischen Würdigung unterzogen werden.

I. Rechtliche Ausgangslage Die §§ 43 ff. BVerfGG enthalten nicht sämtliche Vorgaben für die Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens, sondern regeln in erster Linie nur die Zulässigkeitsvoraussetzungen für einen entsprechenden Antrag, die einzelnen Verfahrensabschnitte sowie die Entscheidungsfolgen eines Verbotsurteils.54 Wie das BVerfG selbst betont, enthalten weder Art. 21 GG noch die Vorschriften des BVerfGG spezielle rechtsstaatliche Anforderungen im Hinblick auf das Parteiverbotsverfahren, insbesondere fehlt es an einer Regelung zur Möglichkeit und zu den Voraussetzungen einer Einstellung des Verfahrens wegen des Vorliegens von nicht behebbaren Verfahrenshindernissen.55

53  Vgl. Redler, V-Mann, S. 169; Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 416; Dietrich, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn. 152; Droste, Handbuch Verfassungsschutzrecht, S. 272. 54  Zu den verfahrensrechtlichen Grundlagen und dem Ablauf des Verbotsverfahrens vor dem BVerfG siehe bereits oben Kapitel 2 sub E. 55  BVerfGE 144, 20 (158, Rn. 402) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (363).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen111

Verfahrenshindernisse stellen die Kehrseite der grundsätzlich einfachgesetzlich geregelten Verfahrensvoraussetzungen dar. Bei den Verfahrensvoraussetzungen handelt es sich um Umstände, die vorliegen müssen (sog. positive Verfahrensvoraussetzungen) oder gerade nicht vorliegen dürfen (sog. negative Verfahrensvoraussetzungen), um die Zulässigkeit des weiteren Prozedierens zu begründen.56 Dementsprechend werden unter Verfahrenshindernissen Umstände verstanden, die eine (weitere) Durchführung des Verfahrens mit dem Ziel einer Sachentscheidung nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes ausschließen.57 Bei nicht behebbaren Verfahrenshindernissen, die im Zuge der Durch­ führung des Verfahrens nicht ausgeräumt werden können, ist das Verfahren deshalb ohne Sachentscheidung zum Prozessgegenstand einzustellen. Der Begriff des Verfahrenshindernisses sowie das Vorliegen von Verfahrenshindernissen mit der Folge der Verfahrenseinstellung sind vor allem im Strafprozessrecht von Bedeutung.58 Den Ausgangspunkt für die Entwicklung bestimmter verfassungsrechtlicher Prozessmaximen durch das BVerfG, die während eines laufenden Parteiverbotsverfahrens stets beachtet werden müssen und deren Verletzung ein Verfahrenshindernis begründet, bildet die Annahme, dass kein staatliches Verfahren einseitig nur nach Maßgabe des jeweils rechtlich bestimmten Verfahrenszwecks ohne Rücksicht auf mögliche gegenläufige Verfassungsgebote und auf übermäßige rechtsstaatliche Kosten einseitiger Zielverfolgung durchgeführt werden darf. Das staatliche Interesse an einer Durchführung des Verfahrens bedarf der Abwägung mit gegenläufigen verfassungsrechtlichen Rechten, Grundsätzen und Geboten und muss nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als vorzugswürdig gerechtfertigt sein.59 Weil das Parteiverbotsverfahren beim BVerfG monopolisiert ist, sieht sich der Senat in einer Garantenstellung für die Wahrung der rechtsstaatlichen Anforderungen im Parteiverbotsverfahren. Das Gericht hat deshalb in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen, ob die Durchsetzung des staatlichen Verfahrensinteresses überwiegt oder ob die Fortsetzung des Verfahrens den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Rechte der politi-

56  Creifelds,

Rechtswörterbuch, S. 1003 (Prozessvoraussetzungen). BVerfGE 107, 339 (378 f. – abw. M.); vgl. für das Strafprozessrecht BGHSt 15, 287 (290); 32, 345 (350); 35, 137 (140); 41, 72 (75). 58  Vgl. §§ 170 Abs. 2 Satz 1, 206a Abs. 1, 260 Abs. 3 StPO. Klassische Verfahrenshindernisse in diesem Bereich sind z. B. fehlende deutsche Gerichtsbarkeit, fehlende Strafmündigkeit, Verhandlungsunfähigkeit, Tod des Angeklagten, anderweitige Rechtshängigkeit, entgegenstehende Rechtskraft oder die eingetretene Verjährung. 59  BVerfGE 144, 20 (158, Rn. 403) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (364). 57  Vgl.

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

schen Partei widerspräche.60 Diesen Grundgedanken sowie die Annahme von unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Verfahrenshindernissen im Parteiverbotsverfahren entnimmt der Senat einer Parallele zu seiner Rechtsprechung zu Verfahrenshindernissen im Strafprozess.61 Für diesen Bereich hat das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen anerkannt, dass in besonders gelagerten Ausnahmefällen Verfolgungshindernisse direkt aus dem Grundgesetz hergeleitet werden können. Der staatliche Strafverfolgungsanspruch dürfe nicht ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Beschuldigten durchgesetzt werden und die weitere Durchführung des Strafverfahrens kann sich im Einzelfall als unverhältnismäßig darstellen.62 Auch bei der Frage der strafrechtlichen Verfolgbarkeit von früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der DDR hat das BVerfG ein Verfahrenshindernis unmittelbar aus dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angenommen, dabei aber selbst betont, dass es sich um eine nicht verallgemeinerungsfähige, auf den einmaligen Umständen der deutschen Wiedervereinigung beruhende Einzelfallentscheidung gehandelt hat.63 Gleich mehrere bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen hatten die Frage der Folgen einer überlangen Verfahrensdauer im Strafprozess zum Gegenstand. Nach der ständigen Rechtsprechung kann bei einer überlangen Verfahrensdauer ein Verfahrenshindernis nur in extrem gelagerten Ausnahmefällen, in denen das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegt und die gesetzlich bestehenden Möglichkeiten für eine angemessene Berücksichtigung der Verzögerung zugunsten des Beschuldigten auf Rechtsfolgenseite nicht ausreichen, unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abgeleitet werden.64 Schließlich ist das BVerfG auch in seinen Entscheidungen zu Fällen der rechtswidrigen Tatprovokation durch einen polizeilichen Lockspitzel der Ansicht, dass eine Verfahrenseinstellung wiederum nur in extremen Ausnahmefällen unmittelbar auf das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes gestützt werden kann.65 Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu unmittelbar aus der Verfassung abzuleitenden Verfahrenshindernissen im Strafprozess beschränkt sich somit auf wenige Fallgruppen und 60  BVerfGE 144, 20 (158  f., Rn. 403) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (364 f.). 61  BVerfGE 107, 339 (363 f.). 62  BVerfGE 51, 324 (345  f.). Nach dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt bestand die konkrete Gefahr, dass die Fortsetzung des Strafverfahrens zu einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung des Beschuldigten führen würde. 63  BVerfGE 92, 277 (325 f.). 64  BVerfG NJW 1984, 967; NJW 1993, 3254 (3255); NJW 2003, 2225 (2226); Beschl. v. 21.01.2004 – 2 BvR 1471/03 –, juris. 65  BVerfG NJW 1987, 1874; NJW 1995, 651 (652); Beschl. v. 18.05.2001 – 2 BvR 693/01 –, juris; NJW 2015, 1083 (1084).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen113

betont jeweils entweder die besondere Eigenart des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts oder den besonderen Ausnahmecharakter, den die Annahme eines von Verfassungs wegen bestehenden Verfahrenshindernisses hat. Die Einstellung des Verfahrens aufgrund einer Verletzung von Verfassungsrecht ist somit nur ultima ratio möglicher Rechtsfolgen, wenn das Instrumentarium der verfahrens- und strafzumessungsrechtlichen Reak­ tionsmöglichkeiten im Strafprozessrecht keine Abhilfe schaffen kann. Obwohl das BVerfG bei seiner Entwicklung von Verfassungs wegen begründeten Verfahrenshindernissen somit Anleihen im Strafprozess nimmt, kommt es an dieser Stelle auf die Frage einer Vergleichbarkeit des Strafverfahrens mit dem Parteiverbotsverfahren nicht an, die eine Übertragung der für das Strafverfahren entwickelten Argumente auf das Parteiverbotsverfahren rechtfertigen würde.66 Das BVerfG übernimmt nur den in seinen Entscheidungen zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, dass kein staat­ liches Verfahren ohne Rücksicht auf mögliche widerstreitende Verfassungsprinzipien durchgeführt werden darf und im Falle eines Konfliktes eine ­Abwägung unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stattzufinden hat, wenn der Konflikt nicht schon durch Anwendung des Regelwerks der jeweiligen Prozessordnung aufgelöst werden kann. Dieser Grundgedanke gilt für alle staatlichen Verfahrensregime, auch für den Verfassungsprozess vor dem BVerfG. Der Zweite Senat betont deshalb – unter Zusammenführung der Positionen der damaligen entscheidungstragenden Senatsminderheit und der abweichenden Meinung der Senatsmehrheit im NPD-Einstellungs­ beschluss – nochmals explizit, dass im Parteiverbotsverfahren ein zur Verfahrenseinstellung führendes Verfahrenshindernis nur unter größter Zurückhaltung als ultima ratio möglicher Rechtsfolgen von Verfassungsverstößen in Betracht kommt und nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen angenommen werden kann, in denen die materiellen Ziele des Verfahrens tatsächlich nicht mehr oder nur bei Inkaufnahme unverhältnismäßiger Rechtsverletzungen zu verwirklichen sind.67 In jedem Fall verlangt das BVerfG für die Annahme eines zur Verfahrenseinstellung führenden Verfahrenshindernisses einen nicht behebbaren „Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht“.68 ­ Weniger schwerwiegende oder auf andere Weise behebbare Verfahrensmängel sollen dagegen keine Beendigung des Verfahrens rechtfertigen, sondern durch andere Rechtsfolgen wie etwa erhöhte Anforderungen an die Beweis66  Vgl. dazu Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 94 ff. Nach Bartmann, Beweisrecht, S.  64 f., kann das Parteiverbotsverfahren als „quasi-strafrechtliche“ Verfahrensart vor dem BVerfG angesehen werden. 67  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 403) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (365) und BVerfGE 107, 339 (380 – abw. M.). 68  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 404) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (365).

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

würdigung oder Beweisverwertungsverbote ausgeglichen werden.69 Das BVerfG behält demnach im Hinblick auf die Annahme von zur Verfahrens­ einstellung führenden verfassungsrechtlichen Verfahrenshindernissen seine für den Bereich des Strafprozessrechts formulierte restriktive Linie bei. Für die Möglichkeit der Existenz eines von Verfassungs wegen existierenden Verfahrenshindernisses im Parteiverbotsverfahren spricht bereits der Umstand der Konstitutionalisierung sowohl des Parteiverbotsverfahrens als auch der allgemeinen verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien in Art. 21 GG. Es liegt daher sogar noch mehr als in anderen Verfahrensarten nahe, dass bestimmte Prozessmaxime für die Durchführung des Parteiverbotsverfahrens auch unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden können, zumal das BVerfGG zu möglichen Verfahrenshindernissen und Voraussetzungen für eine Einstellung des Verfahrens schweigt. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG hat gravierende Konsequenzen für die betroffene Partei, weil das Verbotsurteil deren Auflösung anordnet (§ 46 Abs. 3 BVerfGG) und ihre Existenz als Partei beendet. Der Verfassungsgeber hat den präventiven Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dennoch als derart wichtig eingestuft, dass er neben weiteren in der Verfassung enthaltenen Schutzmechanismen die Möglichkeit eines Parteiverbotsverfahrens als erforderlich erachtet hat. Der in einer freiheitlichen Demokratie gerichtlich angeordnete endgültige und dauerhafte Ausschluss einer Partei vom Prozess der politischen Willensbildung gebietet aber neben den mate­ riell-rechtlich hohen Anforderungen an ein Parteiverbot, dass den verfassungsrechtlich garantierten Rechten der betroffenen Partei auch verfahrensrechtlich hinreichend Rechnung getragen wird. Die Etablierung bestimmter Verfahrensstandards und eines Systems der Fehlerfolgen bei Verletzung dieser Standards kann das gesetzlich nur kursorisch geregelte Parteiverbotsverfahren von vornherein transparenter machen sowie zur Herstellung prozes­ sualer Waffengleichheit von Antragsteller und Antragsgegnerin beitragen, zumal das Verfahren vor dem BVerfG die einzige Instanz für die betroffene Partei darstellt, dem Vorwurf ihrer Verfassungswidrigkeit entgegenzutreten.70

II. Gebot der Staatsfreiheit Einen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht sieht das BVerfG unter Bezugnahme auf die Auffassung der entscheidungstragenden Senatsminderheit im ersten NPD-Verbotsverfahren zunächst im Falle der Verletzung 69  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 404) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (379 – abw. M.). 70  Vgl. auch Lisken, ZRP 2003, 45 (46), der ein Verbotsverfahren nur unter strikter Orientierung an rechtsstaatlichen Verfahrensmaximen zulassen will.



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen115

des Gebotes strikter Staatsfreiheit gegeben. Die Tätigkeit von V-Leuten und verdeckten Ermittlern auf den Führungsebenen einer Partei während eines gegen diese laufenden Parteiverbotsverfahrens sei mit dem Gebot der strikten Staatsfreiheit nicht vereinbar.71 1. Entwicklung des Grundsatzes der Staatsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG zur Parteienfinanzierung Der Begriff der Staatsfreiheit der Parteien erlangte in der Rechtsprechung des BVerfG zunächst im Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Fragen der Parteienfinanzierung Bedeutung. In seiner Grundsatzentscheidung zur Parteienfinanzierung aus dem Jahr 1992 heißt es gleich zu Beginn der Entscheidungsgründe: „Der Grundsatz der Freiheit der Parteien vom Staat enthält das Gebot der fortdauernden Verankerung der Parteien in der Gesellschaft und ihrer darauf beruhenden Staatsferne.“72 Das BVerfG knüpft in dieser Entscheidung an seine ältere Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Aspekten der Parteienfinanzierung an.73 Das Staatsfreiheitsverständnis in Bezug auf politische Parteien hat das BVerfG bereits in seiner Entscheidung zur Wahlkampfkostenerstattung im Jahr 1966 aus dem vom Grundgesetz vorausgesetzten freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes heraus entwickelt. Da die politischen Parteien dazu berufen sind, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, stünden insbesondere die Beziehungen zwischen den Verfassungsorganen und den politischen Parteien unter dem Verfassungsgebot der grundsätzlich staatsfreien und offenen Meinungs- und Willensbildung vom Volk zu den Staats­ organen.74 Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Staatsfreiheit untersage deshalb eine Einflussnahme des Staates auf die Willensbildung in den Parteien und damit auf den gesamten Prozess der politischen Willensbildung.75 Neben dieser primär abwehrrechtlichen Funktion gegen Eingriffe aus dem Bereich der Staatsorganisation, welche die Unabhängigkeit der Parteien von der institutionalisierten Staatlichkeit sicherstellen soll, verlange der Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien außerdem, „dass die Parteien sich ihren Charakter als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen bewahren“.76 Dies kann als Appell an die Parteien verstan71  BVerfGE (369). 72  BVerfGE 73  BVerfGE 74  BVerfGE 75  BVerfGE 76  BVerfGE

144, 20 (159 f., Rn. 405 f.) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 85, 20, 20, 73, 85,

264 (283). 56; BVerfGE 73, 40. 56 (99 f.). 40 (87); 85, 264 (287). 264 (287).

116

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

den werden, sich selbständig um die (finanzielle) Unterstützung durch ihre Mitglieder und andere Bürger zu bemühen. Das erfolglose Werben um Zustimmung und Unterstützung durch die Wählerschaft darf nicht durch eine Gewährung staatlicher Mittel ausgeglichen werden. Eine Zuwendung von staatlichen Mitteln in einer Höhe, die es den Parteien entbehrlich macht, sich weiter um die Unterstützung durch die Bürger zu bemühen, würde deshalb einen Verstoß gegen den Grundsatz der Staatsfreiheit darstellen.77 Der Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien wird in den genannten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen demnach in einem materiellrechtlichen Bezugsrahmen verwendet und dient als begrenzender Maßstab dazu, im Hinblick auf den Umfang der staatlichen Parteienfinanzierung und die Kriterien der Mittelverteilung an die Parteien bestimmte Maßgaben zu entwickeln, um eine verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbare finanzielle Abhängigkeit vom Staat zu verhindern.78 2. Bedeutung der Staatsfreiheit im Kontext des Parteiverbotsverfahrens Im NPD-Urteil vom 17. Januar 2017 spricht der Zweite Senat unter Rückgriff auf die Terminologie der entscheidungstragenden Senatsminderheit im NPD-Einstellungsbeschluss von „strikter Staatsfreiheit im Sinne unbeobachteter selbstbestimmter Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei vor dem Bundesverfassungsgericht“.79 Die strikte Staatsfreiheit wird vom BVerfG als rechtsstaatliches Gebot verstanden und aus Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet.80 Sie ergebe sich „spezifisch aus dem Wesen des Parteiverbotsverfahrens“.81 Bereits durch diese Formulierungen werden die Unterschiede zur Rolle der Staatsfreiheit in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung deutlich. Anders als im Kontext der Parteienfinanzierung kommt der Staatsfreiheit der Parteien im Rahmen des Parteiverbotsverfahrens besondere Bedeutung als verfahrensrechtliches Gebot zu. Zudem stellt sie in dieser Funktion auch die Grundlage für das vom BVerfG darüber hi­ 77  Koch,

in: Ipsen, Parteiengesetz, Vor §§ 18 ff. Rn. 42. BVerfGE 85, 264 (288 f.). In der ersten ergangenen Entscheidung zur Parteienfinanzierung ging das BVerfG noch davon aus, eine staatliche Finanzierung führe generell zu einer unzulässigen Verschränkung von Parteien und Staat, vgl. BVerfGE 20, 56 (97 ff.). 79  BVerfGE 144, 20 (160, Rn. 405) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (369) – Hervorhebung durch Verfasser. 80  BVerfGE 144, 20 (157, Rn. 401; 159, Rn. 405). 81  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 405). 78  Vgl.



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen117

naus entwickelte Gebot der Quellenfreiheit dar.82 Während das BVerfG den Grundsatz der Staatsfreiheit in seinen Entscheidungen zur Parteienfinanzierung aus dem vom Grundgesetz vorausgesetzten offenen und staatsfreien Meinungs- und Willensbildungsprozess des Volkes heraus entwickelt hatte, rekurriert es im NPD-Urteil auf die grundgesetzlichen Verankerungen der Parteienfreiheit, des Parteiverbotes und des Rechtsstaatsprinzips. Die Staatsfreiheit der Parteien im Zusammenhang mit dem Parteiverbotsverfahren scheint somit auf den ersten Blick mit der Staatsfreiheit aus der Parteienfinanzierungsrechtsprechung nichts mehr gemein zu haben.83 Dafür spricht zunächst auch, dass sich sowohl im NPD-Einstellungsbeschluss als auch im NPD-Urteil an keiner Stelle ein Verweis auf frühere Entscheidungen des BVerfG findet, in denen der Begriff der Staatsfreiheit in Bezug auf politische Parteien eine Rolle gespielt hat. Shirvani kritisiert deshalb, dass der Begriff durch die „changierende Rechtsprechung“ des BVerfG zu einem „flexibel einsetzbaren Passepartout“ und damit „konturlos“ geworden sei, da er nunmehr sowohl in einem materiell-rechtlichen, verfahrens- wie auch beweisrechtlichen Zusammenhang eingesetzt werden könne. Dadurch sei unklar, ob das Gebot der Staatsfreiheit seine Wurzeln im Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 GG, dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG, der grundgesetzlichen Bestimmung über politische Parteien in Art. 21 GG oder möglicherweise in der Gesamtschau der genannten Verfassungsbestimmungen habe und welche Bedeutung ihm eigentlich noch im Kern zukommen soll.84 Dieser Kritik ist zunächst generell entgegenzuhalten, dass alleine die Tatsache der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs der Staatsfreiheit durch das BVerfG sowohl als verfahrensrechtliche Anforderung als auch materieller Prüfungsmaßstab in verschiedenen Zusammenhängen nicht zwangsläufig seine Konturlosigkeit zur Folge haben muss. Dies wäre nur dann anzunehmen, wenn der Begriff je nach Sachzusammenhang, in dem er gerade Anwendung findet, unterschiedlich definiert oder ausgelegt würde, ihm also jeweils materiell ein anderer Gehalt zugeschrieben würde. Dass dem Gebot der Staatsfreiheit der Parteien im Rahmen der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens inhaltlich eine andere Bedeutung zukommen soll als etwa in den Entscheidungen zur Parteienfinanzierung – wie bereits erwähnt ist die funk­ tionale Bedeutung als Verfahrensvoraussetzung eine andere –, ist den Ausführungen des BVerfG entgegen der Ansicht von Ipsen85 indes nicht zu entnehmen. In beiden Fällen kennzeichnend für die Staatsfreiheit sind die vom 82  Hierzu

sogleich sub III. Ipsen, JZ 2003, 485 (489). 84  Shirvani, DÖV 2017, 477 (478). 85  Ipsen, JZ 2003, 485 (489). 83  So

118

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

BVerfG genannten Kriterien der Staatsferne als Folge der gesellschaftlichen Verankerung der Parteien und des Verbotes der staatlichen Einflussnahme auf die parteiinterne Willensbildung. Die von der Partei verfolgten politischen Ziele sowie ihre Betätigung müssen vom Willen ihrer Mitglieder und ihrer Wählerschaft getragen und dürfen nicht durch staatliche Institutionen vorgegeben oder verfälscht werden. Sowohl im Kontext der Parteienfinanzierung als auch im Rahmen des Parteiverbotsverfahrens geht es demnach um die Freiheit von dem Staat zurechenbaren Einflussnahmen auf die Parteienfreiheit. Aus den unterschiedlichen Funktionen, die das BVerfG dem Staatsfreiheitsbegriff zuweist, leitet das Gericht lediglich verschiedene Rechtsfolgen ab – entweder auf materiell-rechtlicher Ebene als Beschränkung für die Höhe staatlicher Zuwendungen an eine Partei oder als verfahrensrechtliche Vorgaben für die Zulässigkeit der nachrichtendienstlichen Beobachtung einer Partei durch V-Leute im Rahmen der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens. Das Verständnis der Staatsfreiheit fußt letztlich auf der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, die Parteien aufgrund ihrer Konstitutionalisierung und ihrer Rolle in der Demokratie des Grundgesetzes zwar in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben hat, diese aber gleichsam ausdrücklich nicht als Bestandteil des Staatswesens ansieht.86 Fraglich bleibt aber die genaue normative Herleitung des Grundsatzes der Staatsfreiheit. In den genannten Entscheidungen zur Parteienfinanzierung hat das BVerfG, wenn auch nicht ausdrücklich, auf das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegte Demokratieprinzip zurückgegriffen, indem es die Staatsfreiheit aus dem sich frei und offen vollziehenden Meinungs- und Willensbildungsprozess des Volkes heraus abgeleitet hat.87 Nur durch und mit staatsfreien Parteien kann diese Form des politischen Willensbildungsprozesses gewährleistet werden. Im NPD-Urteil fordert der Zweite Senat als Konsequenz aus den nachteiligen Rechtsfolgen, die ein Parteiverbotsverfahren für die betroffene Partei auch schon ohne Feststellung der Verfassungswidrigkeit mit sich bringt, ein „Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit“ im Hinblick auf die Durchführung des Verfahrens.88 Diese sich „spezifisch aus dem Wesen des Parteiverbotsverfahrens gem. Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden rechtsstaat­ lichen Anforderungen“ sieht das Gericht insbesondere in dem Gebot strikter Staatsfreiheit.89 Anders als bei der Parteienfinanzierung sieht der Senat deren Grundlage mitunter in dem in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Rechtsstaats86  Hierzu

oben Kapitel 2 sub D. I. 20, 56 (99 f.). 88  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 405) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (369). 89  BVerfGE 144, 20 (159 f., Rn. 405) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (369). 87  BVerfGE



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen119

prinzip der Verfassung. Aus dem ebenfalls mit in die Normenkette aufgenommenen Art. 21 Abs. 2 GG a. F., der die Regelung zum Parteiverbotsverfahren enthält, lässt sich bei isolierter Betrachtung ein Gebot der Staatsfreiheit der Parteien dagegen nicht ableiten. Die Heranziehung des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. dient somit alleine der Herstellung der Verbindung zwischen der Staatsfreiheit und dem der Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren. Wie soeben festgestellt wurde, erhält der Staatsfreiheitsgrundsatz dadurch jedenfalls inhaltlich keine andere Konnotation. Sollte das Gebot der Staatsfreiheit künftig etwa auch im neuen Finanzierungsausschlussverfahren gem. Art. 21 Abs. 3 und 4 GG eine Rolle spielen90, müsste der Senat in einer Entscheidung hierzu statt auf die normativen Grundlagen des Parteiverbotsverfahrens entsprechend auf diese Regelungen verweisen. Je nach Entscheidungszusammenhang zieht das BVerfG für den inhaltlich identischen Grundsatz der Staatsfreiheit also unterschiedliche Rechtsgrundlagen heran. Überzeugender wäre es deshalb, ein und denselben Grundsatz in allen Anwendungsfeldern unmittelbar aus der Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 GG abzuleiten. „Spezifisch aus dem Parteiverbotsverfahren“ ergibt sich nämlich nicht der Grundsatz der Staatsfreiheit selbst, sondern es ergeben sich lediglich die einzelnen Anforderungen und Rechtsfolgen, die daraus für die Prozessparteien erwachsen und für die Durchführung des Verfahrens zu beachten sind. 3. „Strikte“ Staatsfreiheit? – Die Anforderungen im Einzelnen Im Folgenden sind die sich aus dem Gebot der Staatsfreiheit für das Parteiverbotsverfahren konkret ergebenden verfahrensrechtlichen Anforderungen in den Blick zu nehmen. Von entscheidender Bedeutung insbesondere für die (erfolgreiche) Durchführung künftiger Parteiverbotsverfahren dürfte die einstimmige Bestätigung der Auffassung der damaligen entscheidungstragenden Senatsminderheit des BVerfG sein, dass die Tätigkeit von V-Leuten und verdeckten Ermittlern auf den Führungsebenen einer Partei während eines gegen diese laufenden Verbotsverfahrens mit dem Gebot strikter Staatsfreiheit nicht vereinbar ist.91 Zur Führungsebene einer Partei zählt das BVerfG deren Bundesvorstand, die Landesvorstände sowie die Vorstände von Teilorganisationen wie z. B. der Jugendorganisationen. Durch den Einsatz von V-Leuten oder verdeckten Ermittlern innerhalb dieser Gremien sei die freie und selbstbestimmte Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei nicht mehr gewährleistet. Staatliche 90  Hierzu

unten sub VI. 144, 20 (160, Rn. 406 ff.); zuvor bereits BVerfGE 107, 339 (367).

91  BVerfGE

120

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

Präsenz auf den Führungsebenen der Partei mache Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit gar unvermeidbar.92 Zu dieser Einschätzung gelangt das BVerfG, indem es V-Leute notwendigerweise als „Medien staatlicher Einflussnahme“ betrachtet, deren Tätigkeit durch widersprüchliche Loyalitätsansprüche einerseits als Parteimitglieder und auf der anderen Seite als entgeltlich tätige Informanten gegenüber den Verfassungsschutzbehörden geprägt sei.93 Während die Senatsminderheit im NPD-Einstellungsbeschluss noch von einer Zwangsläufigkeit staatlicher Einflussnahme auf das Erscheinungsbild der Partei bei jedweder politischen Aktivität wie Passivität des als V-Person angeworbenen führenden Parteimitglieds ausging, soll es nunmehr auf die Frage, ob und inwieweit der Einzelne tatsächlich Einfluss genommen hat, nicht mehr ankommen.94 Das Gericht stellt damit eine unwiderlegbare Vermutung dahingehend auf, dass V-Personen in Führungspositionen einer Partei stets zu einer Verfälschung der parteiinternen Willensbildung und damit auch zum äußeren Erscheinungsbild der Partei führen. Die Antragsteller im Verbotsverfahren erhalten auch keine Möglichkeit nachzuweisen, dass die von den Verfassungsschutzbehörden angeworbenen V-Leute keinen Einfluss auf Willensbildung und Tätigkeit der Partei ausgeübt haben bzw. durch die Behörden nicht zu einem bestimmten Verhalten instruiert worden sind. Da es sich hierbei um negative Tatsachen handelt, sind diese einem unmittelbaren Beweis aber ohnehin nicht zugänglich, so dass sich ein entsprechender Nachweis schon in tatsächlicher Hinsicht nicht wird erbringen lassen.95 Auf die abweichende Meinung der damaligen Senatsmehrheit geht der Zweite Senat im NPD-Urteil nicht ein. Diese hatte in dem Umstand der nachrichtendienstlichen Beobachtung der Partei im Hinblick auf den Grundsatz der Staatsfreiheit seinerzeit kein Verfahrenshindernis gesehen. Die Richter verwiesen darauf, dass im Parteiverbotsverfahren der Grundsatz der Amtsermittlung durch das BVerfG gelte. Eine allein aufgrund der Präsenz von V-Leuten mögliche mittelbare staatliche Einflussnahme auf Äußerungen oder Verhaltensweisen in der Partei ohne weitere Sachaufklärung sei nicht ausreichend, um eine Verletzung des Gebotes der Staatsfreiheit anzunehmen. Art und Ausmaß einer staatlichen Einflussnahme auf den Parteiwillen könnten deshalb nur nach vollständiger Aufklärung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Rahmen einer Sachentscheidung berücksichtigt werden.96 Damit erteilte die Senatsmehrheit einem rechtlichen Automatismus dahingehend, dass das Vorhandensein von V-Leuten in der Führungsriege einer Partei 92  BVerfGE

144, 20 (160, Rn. 407) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (366). 144, 20 (160, Rn. 407) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (367). 94  BVerfGE 107, 339 (367); 144, 20 (160, Rn. 407). 95  Vgl. Schnieder, Politische Freiheit und Verfassungsschutz, S. 400. 96  BVerfGE 107, 339 (381 – abw. M.). 93  BVerfGE



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen121

notwendigerweise eine staatliche Einflussnahme auf Willensbildung und Erscheinungsbild der Partei bedeute, eine Absage. Die These der damaligen Senatsminderheit von der Unvermeidbarkeit der Einflussnahme auf Willensbildung und Tätigkeit der Partei bei Präsenz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern auf deren Führungsebene und der sich daraus ergebenden Beeinträchtigung der freien und selbstbestimmten Selbstdarstellung der Partei im Verbotsverfahren vor dem BVerfG ist auch im Schrifttum auf Kritik gestoßen. Volkmann sieht den „wunden Punkt dieser These“ vor allem im fehlenden „Halt im Tatsächlichen“ und damit letztlich in ihrer fehlenden Begründung. Der Verweis der Richter auf die Eigenschaft von V-Leuten als Medien staatlicher Einflussnahme und auf die damit verbundenen widerstreitenden Loyalitätsansprüche, denen V-Leute ausgesetzt sind, seien lediglich „abstrakte Erwägungen“, die Annahme eines Verfahrenshindernisses basiere letztlich auf unaufgeklärten „Vermutungen und Spekulationen“ und nicht auf einer fundierten Tatsachengrundlage.97 Der abweichenden Meinung der nicht entscheidungstragenden Senatsmehrheit sowie der Kritik von Volkmann ist zunächst insoweit zuzustimmen, als dass die Mitwirkung von V-Leuten im Parteivorstand nicht in jedem Fall zwingend zu einer tatsächlichen Einflussnahme auf die Programmatik der Partei sowie deren Selbstinszenierung geführt haben muss. An dieser Stelle wäre die Frage nach dem hypothetischen Kausalverlauf zu stellen, ob sich an den politischen Zielen und der Außendarstellung der Partei etwas geändert hätte, wenn im Vorstand der Partei die angeworbenen Vertrauensleute nicht für den Verfassungsschutz tätig gewesen wären. Eine solche Frage wird sich im Verfahren vor dem BVerfG aber selbst durch Vernehmung der entsprechenden V-Leute nur schwerlich beantworten lassen können. Das Gebot der Staatsfreiheit soll den oder die Antragsteller im Parteiverbotsverfahren bereits in der Vorbereitung des Verfahrens zu einem gewissen Professionalitätsstandard disziplinieren.98 Die vom BVerfG ins Feld geführten Gesichtspunkte der Verlässlichkeit und Transparenz stellen in einem Verfahren, dessen Durchführung aufgrund der Ausnahmestellung des Parteiverbots in einem freiheitlichen demokratischen Staat besondere Sensibilität erfordert und welches von hoher öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet wird, besonders wichtige Maximen dar. Gerade unter diesen Gesichtspunkten ist die Präsenz von V-Leuten innerhalb des Führungszirkels einer Partei, zu dessen Aufgabe auch die Vorbereitung einer Strategie für das Parteiverbotsverfahren gehört, wenig hilfreich. Unabhängig von der konkreten Einflussnahme der V-Leute auf Programmatik und Erscheinungsbild der Partei wäre das Parteiverbotsverfahren in der Öffentlichkeit immer mit einem „faden Beigeschmack“ verbunden. 97  Volkmann, 98  Krüper,

DVBl. 2003, 605 (607). in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, III § 1 Rn. 93.

122

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

Nach Ansicht des BVerfG überwiegen also letztlich Verlässlichkeit und Transparenz des Parteiverbotsverfahrens insgesamt das Interesse an einer (nur schwerlich durchzuführenden) Aufklärung im Einzelfall, ob es durch die Vertrauenspersonen innerhalb der Parteiführung tatsächlich zu einer staat­ lichen Einflussnahme auf die Partei gekommen ist. Es überzeugt deshalb, wenn das BVerfG die Staatsfreiheit der Führungsebene als eine aus der Verfassung abgeleitete prozessuale Voraussetzung für die Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens etabliert. Die Freiheit der Führungsebenen von V-Leuten während des Verbotsverfahrens erfordert nach Ansicht des Gerichts konkret, dass staatliche Stellen „rechtzeitig vor dem Eingang des Verbotsantrags beim Bundesverfassungsgericht“, jedoch „spätestens mit der öffentlichen Bekanntmachung der Absicht, einen derartigen Antrag zu stellen“, die von ihnen geführten V-Leute in den Vorständen der Partei „abgeschaltet“ und eingeschleuste verdeckte Ermittler zurückgezogen haben müssen.99 Bei der öffentlichen Bekanntmachung wird es sich regelmäßig um den Zeitpunkt der Entschließung des jeweiligen Antragstellers handeln.100 Bei mehreren Antragstellern, wie im ersten durch Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung angestrengten Verbotsverfahren, wird man auf den Zeitpunkt der frühesten Entschließung abstellen müssen. Die „Abschaltung“ muss ausdrücklich „spätestens“ zu diesem Zeitpunkt erfolgt sein. Insbesondere wenn die bevorstehende Entschließung eines antragsberechtigten Organs bereits im Vorfeld öffentlichkeitswirksam diskutiert wird und die in der betroffenen Partei eingesetzten Vertrauenspersonen deshalb Gewissheit hinsichtlich der möglichen Relevanz ihres Handelns in der Partei sowie des von ihnen weitergeleiteten Informationsmaterials für die Stellung eines Verbotsantrags haben, sollte die „Abschaltung“ schon früher erfolgen, um der Gefahr zu begegnen, dass die V-Leute in der Führungsriege der Partei die ihnen verbleibende Zeit aus einer Übermotivation heraus dazu nutzen, das Erscheinungsbild der Partei in die eine oder andere Richtung zu modifizieren. Eine „Abschaltung“ erst ab dem Zeitpunkt der Anhängigkeit des Parteiverbotsverfahrens, wie von Redler101 vorgeschlagen, dürfte in jedem Fall zu spät sein. Da eine nachrichtendienstliche Beobachtung sowohl durch Behörden des Bundes als auch der einzelnen Länder erfolgen kann, verlangt das Kriterium der „Abschaltung“ in der Praxis eine gut organisierte und koordinierte Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen von Bund und Ländern, insbesondere auch im Hinblick auf die Dokumentation des

99  BVerfGE 100  Kliegel,

144, 20 (161, Rn. 408) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (369). in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG,

S. 375 (379). 101  Redler, V-Mann, S.  184 ff.



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen123

Vollzugs der „Abschaltung“ der V-Leute und des Rückzugs verdeckter Ermittler.102 Den Begriff der „Abschaltung“ definiert das BVerfG nicht. Dabei handelt es sich um eine in der nachrichtendienstlichen Praxis übliche Bezeichnung für die Beendigung des V-Person-Einsatzes, d. h. die Vertrauensperson wird von den Behörden nicht länger dazu angehalten, weitere Informationen zu sammeln und es erfolgt keine Quellenabschöpfung mehr. Entsprechend den internen Dienstvorschriften der Verfassungsschutzbehörden wird dazu regelmäßig eine sog. Abschalterklärung unterzeichnet, mit der die Parteien das zivilrechtliche V-Person-Verhältnis zum Erlöschen bringen und fortwirkende gegenseitige Rechte und Pflichten regeln.103 Um eine „Abschaltung“ nicht zu umgehen, darf auch keine „Nachsorge“ betrieben werden, welche die Möglichkeit einer weiteren Informationsgewinnung eröffnet.104 Unter „Nachsorge“ sind die sich nach der formellen Beendigung der Zusammenarbeit anschließenden Maßnahmen technischer Abwicklung zu verstehen, mit denen die Behörde z. B. im Falle der Gefährdung von Leib und Leben der ehemaligen Vertrauensperson ihren nachwirkenden Schutz- und Fürsorgepflichten nachkommt und die auch nach erfolgter „Abschaltung“ noch einen Kontakt zwischen Behörde und ehemaliger V-Person erforderlich machen können.105 Das BVerfG will durch diesen Nachsorgeverzicht verhindern, dass die Verfassungsschutzbehörden unter dem Deckmantel der „Nachsorge“ weiterhin Informationen von ihren ehemaligen Quellen abschöpfen. Das Gebot der Staatsfreiheit verlangt damit im Hinblick auf das Parteiverbotsverfahren eine endgültige Beendigung der Beziehung zwischen den staatlichen Stellen und den von ihnen in den Vorständen der Partei geführten V-Leuten.106 Auch nach Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens bzw. der öffentlichen Bekanntmachung, dies zu tun, kann zum effektiven Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung weiterhin das Bedürfnis für eine fortgesetzte nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei bestehen. Schließlich gilt es zu bedenken, dass zwischen dem Zeitpunkt der Entschließung, einen Verbotsantrag zu stellen, bis zur Entscheidung durch das BVerfG in der Regel 102  Vgl.

BVerfGE 107, 339 (369 f.). in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn. 83 f. 104  BVerfGE 144, 20 (161) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (369). 105  Dietrich, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, VI § 2 Rn. 84. 106  Das BVerfG hatte im NPD-Urteil einen Verstoß gegen das Verbot der informationsgewinnenden „Nachsorge“ allerdings nicht schon bei bloß zufälligen Kontakten oder im Falle eines geführten „Betreuungstelefonats“ wegen einer befürchteten psychischen Ausnahmesituation angenommen, die nach dem Vortrag des Antragstellers eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Kontaktperson zur Folge hätte haben können, vgl. BVerfGE 144, 20 (178, Rn. 457). 103  Dietrich,

124

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

mehrere Jahre liegen werden, wenn sich nicht die Verfassungswidrigkeit schon auf den ersten Blick geradezu aufdrängt und das Verfahren deshalb weder mit prozessualen noch materiell- und beweisrechtlichen Hürden verbunden ist. Anhaltspunkte für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen der Partei, deren Vorliegen Voraussetzung für eine nachrichtendienstliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist, werden regelmäßig auch während des Verbotsverfahrens weiterhin gegeben sein. Denkbar ist z. B. auch, dass sich sogar Hinweise auf in diesem Zeitraum durch die Partei geplante konkrete Angriffe auf Rechtsgüter der Verfassung ergeben. Die Demokratie des Grundgesetzes muss auch während eines rechtshängigen Parteiverbotsverfahrens wehrhaft und die Organe des präventiven Verfassungsschutzes müssen handlungsfähig bleiben, um auf Bedrohungen angemessen reagieren zu können. Das BVerfG trägt dem mit einer „Sowohl-als-auch-Lösung“107 Rechnung und beschränkt seine Forderung nach „Abschaltung“ der Vertrauenspersonen zum Zweck der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens deswegen überzeugenderweise auf die Führungsgremien der Partei. Der Einsatz sonstiger nachrichtendienstlicher Mittel, einschließlich des Einsatzes von V-Leuten unterhalb der Vorstands­ ebene der betroffenen Partei, bleibt daher im Rahmen der gesetzlichen Anforderungen weiterhin zulässig, weil Parteitagsdelegierten, Abgeordneten, Fraktionsmitarbeitern oder auch kommunalen Mandatsträgern ein den Vorstandsmitgliedern vergleichbarer Einfluss auf die Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei nicht zukommt.108 Diese Position des Senats stellt eine wichtige Klarstellung gegenüber dem NPD-Einstellungsbeschluss dar und schafft für die Zukunft auch Klarheit im Hinblick auf die Frage des zulässigen Umfangs einer nachrichtendienstlichen Beobachtung während eines laufenden Parteiverbotsverfahrens. Die entscheidungstragende Senatsminderheit hatte sich im NPD-Einstellungsbeschluss seinerzeit nicht ausdrücklich dazu geäußert, auch wenn die Zulässigkeit eines fortdauernden Einsatzes von Vertrauenspersonen unterhalb der Vorstandsebene im Wege des Umkehrschlusses aus der Beschränkung der Staatsfreiheit auf Führungspositionen innerhalb der Partei hätte entnommen werden können. Festzuhalten ist aber, dass das vom BVerfG im Zusammenhang mit der Durchführung des Parteiverbotsverfahrens postulierte „Gebot strikter Staatsfreiheit“ damit in Wirklichkeit ein solches gar nicht ist.109 Der Zusatz „strikt“ – als Synonyme könnten hier die Begriffe „streng“, „kompromisslos“ oder „rigoros“ angeführt werden110 – suggeriert nämlich auf den ersten Blick, Shirvani, DÖV 2017, 477 (478). 144, 20 (161, Rn. 408; 171, Rn. 439 f.). 109  Vgl. Shirvani, DÖV 2017, 477 (478). 110  www.duden.de/synonyme/strikt, zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 107  So

108  BVerfGE



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen125

dass sämtliche Verbindungen zwischen Nachrichtendiensten und Partei im Sinne einer einhundertprozentigen Staatsfreiheit gekappt werden müssen. Das verlangt das BVerfG aber gerade nicht, vielmehr will es ausdrücklich eine Überwachung der Partei auch nach der Entschließung zur Einleitung eines Verbotsverfahrens weiterhin ermöglichen. Die „strikte Staatsfreiheit“ beschränkt sich alleine auf die Vorstandsebene der Partei. Eine „unbeobach­ tet[e] […] Willensbildung“111 der Partei, wie vom BVerfG gefordert, bedeutet dies gleichwohl nicht. Präziser wäre es somit, von einem „Gebot strikter Staatsfreiheit auf den Führungsebenen der Partei“ zu sprechen oder auf das verstärkende Attribut „strikt“ ganz zu verzichten, um so bereits in der Terminologie zum Ausdruck zu bringen, dass ein gänzlicher Verzicht auf nachrichtendienstliche Maßnahmen auch während eines laufenden Parteiverbotsverfahrens nicht erforderlich ist.

III. Gebot der Quellenfreiheit Aus dem Gebot der Staatsfreiheit leitet das BVerfG als zweite im Parteiverbotsverfahren zu beachtende Anforderung das Gebot der Quellenfreiheit ab. Es handelt sich streng genommen hierbei also um keinen eigenständigen Verfahrensgrundsatz, sondern um einen Unterfall des Gebotes der Staatsfreiheit. Das BVerfG misst der Quellenfreiheit aber eine besondere Bedeutung zu und behandelt diese in seinen Urteilsausführungen im Rahmen eines eigenständigen Punktes im Anschluss an die Staatsfreiheit. 1. Anforderungen der Quellenfreiheit Einen Verstoß gegen das Gebot der Quellenfreiheit nimmt das BVerfG an, wenn die Begründung eines Verbotsantrags auf Beweismaterialien gestützt wird, deren Entstehung zumindest teilweise auf das Wirken von V-Leuten oder verdeckten Ermittlern zurückzuführen ist.112 Die Quellenfreiheit der Beweismittel soll sicherstellen, dass Manifestationen der Parteiziele sowie Verhalten und Äußerungen der Parteianhänger im Rahmen der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG im Parteiverbotsverfahren nur dann zugrunde gelegt werden, wenn sie der Partei „als Gegenstand eigenständiger unbeeinflusster Willensbildung zuzurechnen sind“.113 Die vom BVerfG geforderte personelle Staatsfreiheit auf Führungsebene der Partei wird also durch das Erfordernis der Staatsfreiheit im Hinblick auf die für die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit im Parteiverbotsverfahren als Be111  BVerfGE

144, 20 (160, Rn. 405). 144, 20 (162, Rn. 410) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (370). 113  BVerfGE 144, 20 (162, Rn. 411). 112  BVerfGE

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

weismittel heranzuziehenden Materialien ergänzt. Das BVerfG differenziert dabei zwischen drei Konstellationen: In jedem Fall kontaminiert sind nach Ansicht des Senats Beweismittel, welche auf Äußerungen oder Verhaltensweisen von V-Personen abstellen, die während der Tätigkeit der V-Personen für den Verfassungsschutz getätigt worden sind. Diese könnten der Partei aufgrund der mit der Tätigkeit als Vertrauensperson verbundenen unterschiedlichen Loyalitätsansprüchen zu Partei und Staat nicht eindeutig zugerechnet werden. In der Konsequenz statuiert das BVerfG – ohne weitere Sachaufklärung im konkreten Einzelfall – ein Verwertungsverbot für derartige Beweismaterialien.114 Für Äußerungen oder Verhaltensweisen vor oder nach Beendigung der Tätigkeit als V-Person soll ein solches generelles Verwertungsverbot dagegen nicht gelten. Entscheidend sei hier, ob ein „aus­ reichende[r] zeitliche[r] Abstand“ zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit vorliege. Ist dies der Fall, sieht das Gericht im Regelfall keine Bedenken gegen eine Verhaltenszurechnung zu der Partei.115 Schließlich bürdet das BVerfG dem Antragsteller die Darlegungslast für die Quellenfreiheit des von ihm vorgelegten Beweismaterials auf. Bleiben nach der Amtsermittlung Zweifel an der Quellenfreiheit, scheidet eine Zurechnung zur Partei sowie eine Verwendung zu Beweiszwecken aus.116 2. Einzelfragen Diese vom BVerfG vorgenommene Kategorisierung hinsichtlich der Infizierung bzw. Verwertbarkeit von Beweismitteln lässt noch Fragen offen. Ein wichtiger Aspekt, den der Senat im Rahmen seiner Ausführungen zum Gebot der Quellenfreiheit nicht erwähnt und der den Grundsatz der Unverwertbarkeit von Beweismaterialien, die von Vertrauenspersonen während ihrer Tätigkeit für den Verfassungsschutz produziert worden sind, sowohl aus Verhältnismäßigkeits- als auch Praktikabilitätsgründen modifiziert, ist im Subsum­ tionsteil des NPD-Urteils zu finden. Zu den Beweismaterialien gehören mitunter nicht nur Äußerungen oder Verhaltensweisen von V-Leuten selbst, sondern selbstverständlich auch Verlautbarungen von Parteigremien oder anderen Beschlussorganen der Partei. Wirken V-Leute während ihrer Tätigkeit für den Verfassungsschutz an Entscheidungen von Kollegialorganen mit, sind diese nach den oben dargestellten Grundsätzen auch kontaminiert und damit unverwertbar.117 Gerade bei Entscheidungen oder Beschlüssen, an denen eine 114  BVerfGE

144, 20 (162, Rn. 411). 144, 20 (162, Rn. 412). 116  BVerfGE 144, 20 (162, Rn. 413). 117  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (381). 115  BVerfGE



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen127

Vielzahl von Leuten bzw. Entscheidungsträgern beteiligt waren und die von der Partei darüber hinaus auch im Nachhinein bestätigt wurden, kann ein solch strenges Verwertungsverbot aber nicht richtig sein. Dies wird gerade deutlich am Beispiel des Parteiprogramms, welches – obwohl regelmäßig zur Verschleierung der wahren Ziele genutzt – als wichtiges Erkenntnismittel zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit im Parteiverbotsverfahren dient. Das Parteiprogramm wird vom Parteitag beschlossen. Beteiligen sich V-Personen als Parteitagsdelegierte an der Beschlussfassung über das Parteiprogramm118, hat dies nach dem BVerfG nicht sogleich die mangelnde Zurechenbarkeit sowie Unverwertbarkeit des Programms zur Konsequenz. Entscheidend sei, ob die V-Leute prägenden Einfluss auf den Programminhalt genommen haben.119 Dies ist beispielsweise in Fällen denkbar, in denen V-Leute als Mitglieder vorbereitender Programmkommissionen oder als Vorstandsmitglieder von Landesverbänden, die den Inhalt des Parteiprogramms besonders geprägt haben, an der Formulierung des Programms mitgewirkt haben oder aber mit eigenen (Änderungs-)Anträgen auf dem Parteitag selbst erfolgreich waren.120 Ansonsten wird bei Beschlüssen von Parteiorganen auch immer zu berücksichtigen sein, wie hoch der Anteil der mitstimmenden Vertrauensleute im Verhältnis zur Gesamtzahl der Abstimmenden ist. Eine Einflussnahme von V-Personen wird insbesondere dann ausscheiden, wenn der Beschluss auch ohne das Abstimmungsverhalten der V-Personen so zustande gekommen wäre und die V-Person auch nicht im Vorfeld auf eine entsprechende Beschlussfassung hingewirkt oder sonst in den Willensbildungsprozess eingegriffen hat. Die Partei muss ihr Programm, unabhängig von der Frage der tatsäch­ lichen Einflussnahme durch V-Leute, jedenfalls dann gegen sich gelten lassen, wenn es von den Führungspersonen der Partei im Nachhinein inhaltlich bestätigt wird, erkennbar die Grundlage ihrer politischen Arbeit darstellt und die Partei sich während des Parteiverbotsverfahrens wiederholt auf die Richtigkeit des Programms und dessen Übereinstimmung mit den Überzeugungen der Partei beruft.121 Die Partei bringt dadurch zum Ausdruck, dass das Parteiprogramm ein Abbild ihrer politischen Ziele darstellt und als Ergebnis ­eigenständiger, unbeeinflusster Willensbildung der Partei anzusehen ist. In einer derartigen Situation bleibt es der Partei verwehrt, sich auf die Anwe118  Auf dem NPD-Parteitag, der das zur Zeit des Parteiverbotsverfahrens geltende Parteiprogramm beschlossen hat, waren neun Parteitagsdelegierte V-Leute des Verfassungsschutzes, vgl. BVerfGE 144, 20 (250 f., Rn. 647). 119  BVerfGE 144, 20 (251, Rn. 650). 120  BVerfGE 144, 20 (251, Rn. 650); Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (382). 121  BVerfGE 144, 20 (251, Rn. 651).

128

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

senheit von Vertrauensleuten und deren mögliche Einflussnahme auf dem Programmparteitag zu berufen. Die Anforderungen an die Unverwertbarkeit von Verlautbarungen von Parteiorganen, die von mehreren Verantwortlichen mitgetragen wurden, liegen somit höher. Erforderlich ist eine Kausalität zwischen Handeln der Vertrauensperson und dem Inhalt der Verlautbarung dahingehend, dass sich das Verhalten der Vertrauensperson auf den Inhalt der Verlautbarung konkret ausgewirkt haben muss. Die Annahme einer Infizierung des gesamten Beweismittels alleine aufgrund der Tatsache der Mitwirkung von V-Leuten in irgendeinem Stadium des Entscheidungsprozesses wäre unverhältnismäßig und würde, wie das Beispiel des Parteiprogramms zeigt, den Kreis verwertbarer Beweismaterialien im Parteiverbotsverfahren erheblich einschränken. Im Übrigen würde auch die nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei unterhalb der Führungsebene weiter erschwert werden. Neben dem Erfordernis, im Hinblick auf ein angestrebtes Parteiverbotsverfahren rechtzeitig alle V-Leute auf Vorstandsebene der Partei abzuschalten, müssten vor Stellung des Verbotsantrags die verbleibenden V-Leute die Weisung erhalten, sich an keinerlei Entscheidungsprozessen in der Partei zu beteiligen, um eine Zurückweisung des dann infizierten möglichen Beweismaterials zu vermeiden. Dies wäre nicht nur problematisch mit Blick auf die legitime Ausübung von Mitgliedsrechten in der Partei, sondern hätte auch eine Erhöhung des Risikos der Enttarnung als Informant staatlicher Behörden zur Folge. Das allgemeine Verbot der Verwertung von Beweismaterialien, an denen aktive V-Leute mitgewirkt haben, bedarf im Hinblick auf Kollegialentscheidungen innerhalb der Partei daher des gerade aufgezeigten Korrektivs. Die vom BVerfG angenommene grundsätzliche Verwertbarkeit von Äußerungen und Handlungen der Parteianhänger aus dem Zeitraum vor deren Anwerbung als V-Person für den Verfassungsschutz und nach deren Abschaltung oder sonstiger Beendigung der Informantentätigkeit überzeugt. Die Tatsache des zwischenzeitlichen Einsatzes der betreffenden Person als ­V-Person spricht nicht gegen eine Zurechnung ihrer Parteitätigkeit aus der Zeit vor ihrer Anwerbung und nachdem sie behördlicherseits abgeschaltet wurde oder aus freier Überzeugung aufgehört hat, weil ein Loyalitätskonflikt zwischen Partei und staatlichen Behörden in diesen Zeiträumen nicht ohne weiteres angenommen werden kann.122 Dies bedeutet zugleich eine Abmilderung der Position der Senatsminderheit aus dem NPD-Einstellungsbeschluss, nach der selbst solche Äußerungen von Parteimitgliedern nicht für ein Parteiverbotsverfahren verwertbar sein sollten, die nach deren Abschaltung als 122  Im Ergebnis auch Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (383).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen129

­ -Person für den Verfassungsschutz getätigt wurden.123 Dies geht indes zu V weit und könnte in der Praxis einen gänzlichen Verzicht der Anwerbung von V-Leuten durch die Behörden zur Folge haben, wenn feststeht, dass vom Zeitpunkt der Anwerbung an über die Beendigung ihrer Tätigkeit für den Verfassungsschutz hinaus überhaupt keine von ihnen getätigten Äußerungen, Verlautbarungen oder sonstigen Handlungen als Erkenntnismittel für die Frage der Verfassungswidrigkeit in den Prozess eingeführt werden dürfen.124 Das bundesverfassungsgerichtliche Erfordernis des ausreichenden zeitlichen Abstands soll eine Beeinflussung des Verhaltens nach Beendigung der V-Person-Tätigkeit durch eventuell noch nachwirkende Loyalitätskonflikte ­ ausschließen. Das BVerfG äußert sich allerdings nicht dazu, wie groß dieser zeitliche Abstand sein soll und nennt auch keinen Mindestzeitraum. Im Hinblick auf den Aspekt der Rechtssicherheit in künftigen Parteiverbotsverfahren wäre dies wünschenswert gewesen, da im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei gerade auch Äußerungen oder Handlungen einer ehemaligen V-Person entscheidend werden können. Gleichzeitig gilt es jedoch, den im Nachgang zur verdeckten Ermittlungstätigkeit unterschiedlichen Umgang jeder ehemaligen V-Person mit ihrer Vergangenheit als Informant staatlicher Behörden zu bedenken. Der Zeitraum des Bestehens möglicher Loyalitätskonflikte ist deshalb vom Einzelfall abhängig und wird sich im Vorhinein nur schwer allgemein bestimmen lassen. Kliegel etwa sieht einen zeitlichen Abstand von mindestens zwei Jahren als erforderlich, aber auch ausreichend an, um eine Beeinflussung des jeweiligen Agierens durch die zurückliegende Arbeit als V-Person auszuschließen.125 Auch hier gilt es letztlich zu vermeiden, den Einsatz von V-Leuten im Vorfeld eines Parteiverbotsverfahrens durch Festlegung eines zu langen Kontaminationszeitraums der Beweismittel über Gebühr zu erschweren. Auch an dieser Stelle bleibt noch, die Auswirkungen des Karenzzeitgebotes auf Kollegialentscheidungen zu erwähnen. Der vom BVerfG geforderte zeitliche Abstand zwischen der Beendigung der Tätigkeit für den Verfassungsschutz und dem Zeitpunkt, ab dem das von ehemaligen V-Personen produzierte Beweismaterial als verwertbar, d. h. nicht länger kontaminiert, anzusehen ist, muss konsequenterweise auch für Beweismaterialien gelten, die nicht der ehemaligen V-Person als alleinigem Urheber zuzuordnen sind, sondern die von einem Personenkreis stammen, in dem die ehemalige Ver123  Vgl. BVerfGE 107, 339 (370): „[…] die nachrichtendienstliche Kontakte mit staatlichen Behörden unterhalten oder unterhalten haben“ – Hervorhebung durch Verfasser. 124  Kritisch auch Bull, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 117 (131 f.). 125  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (383).

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

trauensperson mitgewirkt hat und nachweislich prägenden Einfluss auf den Inhalt des späteren Beweismittels genommen hat. Daher ist beispielsweise auch bei Dokumenten von Programmkommissionen oder anderen Partei­ gremien stets zu prüfen, ob ein ausreichender zeitlicher Abstand zur voran­ gegangenen Informantentätigkeit für den Verfassungsschutz gegeben ist.126 Ebenso gilt aber, dass eine Bestätigung des jeweils kontaminierten Beweismittels durch die Partei eine Verwertung und Zurechnung desselben zulasten der Partei ermöglicht. 3. Konstitutionalisierung der Quellenfreiheit Der Senat knüpft bei dem Gebot der Quellenfreiheit an die Position der entscheidungstragenden Senatsminderheit im NPD-Einstellungsbeschluss an, welche die Quellenfreiheit der Beweismittel „unabhängig von der grundsätzlichen Frage der Verwertbarkeit der Informationen von V-Leuten“ und „unabhängig davon, ob ‚verfassungsfeindliche‘ Äußerungen von V-Leuten im Ergebnis der Partei zugerechnet werden können“127, als ein aus dem Gebot der Staatsfreiheit folgendes verfahrensrechtliches Gebot etabliert hatte und differenziert diesen Ansatz wie eben dargelegt weiter aus. Die damalige Senatsmehrheit, die zuvor einen verfahrensrechtlichen Grundsatz der Staatsfreiheit im Parteiverbotsverfahren anzuerkennen nicht bereit war, vertrat in ihrem Sondervotum dagegen die Ansicht, dass die Frage, ob und in welchem Umfang vorgelegte Erkenntnismittel für die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit der Partei herangezogen werden dürfen, ausschließlich sachentscheidungserheblicher Natur sei. Im Rahmen der Beweiswürdigung bei der Prüfung der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG sei deshalb auch zu klären, ob das Beweismaterial aufgrund einer mittelbaren staatlichen Einflussnahme durch V-Leute infiziert ist und deswegen der Partei nicht ohne weiteres zugerechnet werden kann.128 Während die Quellenfreiheit im NPD-Einstellungsbeschluss und dem NPD-Urteil durch deren Ableitung aus dem Gebot der Staatsfreiheit zwangsläufig konstitutionalisiert und in den Rang einer eigenständigen Verfahrensmaxime erhoben wurde, erscheint die Lösung der abweichenden Senatsmehrheit, die ganz ohne Rückgriff auf verfassungsrechtliche Grundsätze und verfahrensrechtliche Gebote auskommt, pragmatischer. Shirvani wirft deshalb zu Recht die kritische Frage auf, worin der Mehrwert einer solchen Konsti126  Vgl. Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (383 f.). 127  BVerfGE 107, 339 (370). 128  BVerfGE 107, 339 (382 – abw. M.).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen131

tutionalisierung des Gebotes der Quellenfreiheit liegen soll.129 Das BVerfG spricht im Zusammenhang mit der Quellenfreiheit davon, dass Äußerungen oder Verhaltensweisen von Personen, die in dem relevanten Zeitraum für staatliche Stellen gearbeitet haben, der Partei nicht zurechenbar seien und eine Verwertung derartigen Beweismaterials zu unterbleiben habe.130 Es geht demnach im Kern um Fragen der Zurechnung und Beweisverwertungsverbote. Beide sind im Parteiverbotsverfahren indes solche des materiellen Rechts. Die Frage, ob der Inhalt bestimmter Beweismaterialien der Partei zugerechnet werden kann, ist nicht im Rahmen der Zulässigkeit des Verfahrens zu prüfen, sondern wird erst im Zusammenhang mit dem jeweiligen Tatbestandsmerkmal relevant, für welches der Beweis angetreten wird. Da im Parteiverbotsverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, hat das BVerfG für die Beurteilung der Zurechenbarkeit von Erkenntnismitteln zur Sphäre der Partei alle prozessualen Mittel der Sachaufklärung zu nutzen.131 Stellt sich heraus, dass ein Beweismittel nicht der Partei zugerechnet werden kann, darf es in der Konsequenz nicht zulasten der Partei verwertet werden, d. h. es liegt ein Beweisverwertungsverbot vor, welches eine Berücksichtigung des Beweismittels bei der Urteilsfindung des Gerichts verbietet. Die Problematik rund um Fragen der Zurechnung und der Verwertbarkeit von Erkenntnisquellen erlangt somit erst auf Tatbestandsebene Bedeutung. Das vom BVerfG entwickelte Gebot der Quellenfreiheit enthält hingegen Grundsätze für die Zurechnung, indem es statuiert, in welchen Fällen auf V-Personen gestützte Beweismaterialien als kontaminiert und deshalb der Partei nicht zurechenbar bzw. als unverwertbar anzusehen sind. Das Gebot der Quellenfreiheit bildet im Parteiverbotsverfahren demnach die Rechtsgrundlage für Beweisverwertungsverbote. Es bleibt aber klärungsbedürftig, ob es dafür eines unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten verfahrensrechtlichen Gebotes bedurft hat, denn schließlich hätten diese Grundsätze auch erst im materiellen Teil des Urteils an der jeweils relevanten Stelle der Beweiswürdigung entwickelt werden können. Aus dem NPD-Einstellungsbeschluss wird deutlich, dass die entscheidungstragende Senatsminderheit den Antragsteller über die Ausgestaltung der Quellenfreiheit als verfahrensrechtliches „Gebot“ zu einer sorgfältigen Vorbereitung des Verbotsantrages, insbesondere durch gewissenhafte Auswahl und Aufbereitung des vorzulegenden Beweismaterials anhalten wollte. Anderenfalls sieht sich das Gericht nicht in der Lage, bei der Ermittlung verlässlichen Tatsachenmaterials ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten.132 Das Gebot der Quellenfreiheit kann danach als ein an die 129  Shirvani,

DÖV 2017, 477 (478 f.). 144, 20 (162, Rn. 411). 131  BVerfGE 107, 339 (382 – abw. M.). 132  BVerfGE 107, 339 (370 f.). 130  BVerfGE

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

Adresse der Antragsteller gerichtetes Sorgfaltsgebot verstanden werden, dessen Beachtung zur Voraussetzung für die Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens gemacht wird. Dieser Zweck wird im NPD-Urteil aber bereits wieder dadurch aufgeweicht, dass der Senat unter Verweis auf die damals abweichende Meinung der Senatsmehrheit bei Vorliegen eines auf infiziertes Beweismaterial zurückzuführenden Beweisverwertungsverbotes richtigerweise nicht sogleich von einem unbehebbaren Verfahrensmangel ausgeht. Ist nämlich nur ein Teil des Beweismaterials infiziert, verbiete sich eine Verfahrenseinstellung als prozessuale Rechtsfolge, wenn die restliche Tatsachengrundlage die Durchführung des Verfahrens weiterhin zulässt.133 Verstöße gegen das Gebot der Quellenfreiheit wirken sich deshalb – anders als bei mangelnder Staatsfreiheit der Führungsebenen der Partei – nicht grundsätzlich auf die Fortführung des weiteren Verfahrens aus. Erst wenn der Verbotsantrag „in seinen wesentlichen Teilen“ auf durch staatliche Quellen infiziertes Beweismaterial gestützt wird, geht das BVerfG von einem schwerwiegenden Verfahrensverstoß aus, der zu einer Einstellung des Verfahrens führen kann.134 In einem solchen Fall wäre indes die naheliegende und überdies dogmatisch überzeugendere Lösung, den Verbotsantrag als in der Sache unbegründet zurückzuweisen, weil die durch das vom Antragsteller vorgelegte Beweismaterial zu beweisenden politischen Ziele und Aktivitäten der Partei schlicht nicht zugerechnet werden können und es damit an der Verwirk­ lichung der durch Art. 21 Abs. 2 GG vorgegebenen Tatbestandsvoraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit fehlt.135 Es erscheint deshalb unnötig konstruiert, wenn das BVerfG das Gebot der Quellenfreiheit konstitutionalisiert und ihm eine ausschließlich verfahrensrechtliche Bestimmung als eigenständiges, verfassungsrechtlich aufgeladenes und im Rechtsstaatsprinzip wurzelndes Prozesshindernis beimisst. Die vorgeschlagene unterschiedliche Verortung der Frage der Quellenfreiheit im Vergleich zum Gebot der Staatsfreiheit der Führungsebenen der Partei ist auch systematisch gerechtfertigt: Während das Gebot der Staatsfreiheit der Führungsebenen der Partei auch eine unbeeinflusste Selbstdarstellung der Partei insgesamt im Verfahren vor dem BVerfG sicherstellen soll und somit nicht auf materiellrechtlicher Prüfungsebene berücksichtigt werden kann, ist dies bei der Frage der Verwertbarkeit einzelner Äußerungen, Handlungen oder sonstiger Verhaltensweisen von Mitgliedern zulasten der Partei gerade sehr wohl möglich und im Hinblick auf das Prüfungsprogramm des Art. 21 Abs. 2 GG (insbesondere bei den Tatbestandsmerkmalen der „Ziele“ und dem „Verhalten der Anhänger“) naheliegender. 133  BVerfGE 144, 20 (162 f., Rn. 414) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (379 – abw. M.). 134  BVerfGE 144, 20 (166, Rn. 424). 135  Vgl. Shirvani, DÖV 2017, 477 (479).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen133

IV. Grundsatz des fairen Verfahrens Neben den Geboten der strikten Staatsfreiheit und der Quellenfreiheit betont das BVerfG schließlich noch die Bedeutung, die dem Grundsatz des fairen Verfahrens im Parteiverbotsverfahren zukommt. Auch in der Verletzung des Rechts der politischen Partei auf ein faires Verfahren sieht das BVerfG einen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht. 1. Grundlagen und Inhalt Das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Fair-trial-Grundsatz) ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich verankert, sondern wird vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung aus dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet.136 Daneben ist es auch durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleistet.137 An dem Recht auf ein faires Verfahren sind Beschränkungen von Verfahrensbeteiligten zu messen, die von den speziellen grundrechtlichen Verfahrensgarantien sowie den gesetzlichen Gewährleistungen in den Verfahrensordnungen nicht erfasst werden.138 Rechtsprechung und Literatur haben dazu mittlerweile eine Fülle von Konkretisierungen dieses allgemeinen Verfahrensgrundrechts je nach prozessualen Gegebenheiten herausgearbeitet.139 Eine wesentliche Ausprägung erfährt der Grundsatz des fairen Verfahrens in dem Gebot der „Waffengleichheit“ der Prozessparteien.140 2. Bedeutung im Parteiverbotsverfahren Das BVerfG hat bereits im Zuge des ersten NPD-Verbotsverfahrens den Anspruch der betroffenen politischen Partei auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren betont.141 Im NPD-Urteil bekräftigt das BVerfG die Geltung des Fair-trial-Grundsatzes und misst diesem im Parteiverbotsverfahren besonders im Hinblick auf zwei Aspekte Bedeutung zu: 136  BVerfGE 38, 105 (111); 57, 250 (274 f.); 63, 380 (390); 107, 339 (383 – abw. M.); 110, 339 (342); 144, 20 (163, Rn. 416). 137  Zur konventionsrechtlichen Bedeutung Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  24 Rn.  66 ff. 138  BVerfGE 57, 250 (274 f.). 139  Vgl. die Übersicht bei Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn.  216 ff. m. w. N. 140  Bartmann, Beweisrecht, S. 121 f.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Mey­ er-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 106. 141  BVerfGE 104, 42 (50); 107, 339 (367; 383 – abw. M.).

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

„Er garantiert Schutz vor Maßnahmen, die den freien Kontakt zwischen der Partei und ihrem Verfahrensbevollmächtigten behindern, und steht einer Verwendung von Informationen über die Prozessstrategie der Partei, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, entgegen.“142

Damit stellt das BVerfG diejenigen Gewährleistungen des Fair-trialGrundsatzes heraus, die im Zusammenhang mit einer nachrichtendienstlichen Beobachtung der Partei unmittelbar vor und insbesondere während des Parteiverbotsverfahrens relevant werden können. Der Einsatz von V-Leuten oder verdeckten Ermittlern durch staatliche Behörden im zeitlichen Umfeld eines Parteiverbotsverfahrens birgt stets die Gefahr des Herantragens von Informationen über die Verteidigung der Partei oder ihrer Prozessstrategie an den oder die Antragsteller. Werden diese Informationen für den weiteren Prozessverlauf fruchtbar gemacht, wäre die vom Grundsatz des fairen Verfahrens geforderte Waffengleichheit zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht mehr gegeben. Der Senat betont daher, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens der Partei auch im Parteiverbotsverfahren garantiere, zur Wahrung ihrer Rechte im Rahmen einer selbstgewählten Prozessstrategie Einfluss auf das Verfahren nehmen zu können.143 Dieses Recht der Partei werde verletzt, wenn es zu einer Ausforschung der Verhandlungskonzeption der Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln komme und aufgrund dessen eine angemessene Verteidigung der Partei unmöglich gemacht oder zumindest wesentlich erschwert werde. Dabei spielt es nach dem BVerfG keine Rolle, ob die vertraulichen Informationen über die Prozessstrategie durch gezieltes Ausspähen oder auch nur zufällig erlangt werden und anschließend unter Beeinträchtigung einer effektiven Verteidigung der betroffenen Partei im Parteiverbotsverfahren verwertet werden.144 Wie schon im Zusammenhang mit dem Gebot der Staatsfreiheit stellt der Senat mit Verweis auf den durch die streitbare Demokratie intendierten Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung klar, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens die staatlichen Behörden nicht daran hindern soll, verfassungsfeindliche Bestrebungen der Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln auch während eines laufenden Parteiverbotsverfahrens weiter zu beobachten. Die Beobachtung dürfe aber nicht der Ausspähung der Prozessstrategie der Partei dienen; eine Verwendung von im Rahmen der Beobachtung gleichwohl erlangten Informationen zum Nachteil der politischen Partei im Prozess sei untersagt.145

142  BVerfGE 143  BVerfGE

144, 20 (144, Rn. 415). 144, 20 (163, Rn. 417); zuvor bereits BVerfGE 107, 339 (383 –

abw. M.). 144  BVerfGE 144, 20 (163, Rn. 417). 145  BVerfGE 144, 20 (163, Rn. 418 f.).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen135

Neben dem Verbot der gezielten Erhebung und Verwertung von Informa­ tionen über die Verfahrensstrategie der Partei zielt der Grundsatz des fairen Verfahrens im Besonderen auf den Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen der Partei und ihrem Verfahrensbevollmächtigten im Parteiverbotsverfahren. Der Senat zieht an dieser Stelle Parallelen zu seiner Rechtsprechung für den Bereich des Strafprozessrechts, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Überwachungsmaßnahmen gegenüber einem Strafverteidiger zum Gegenstand hatte, und erklärt die hierfür aus dem Fair-trial-Grundsatz folgenden Grenzen auch im Parteiverbotsverfahren für anwendbar.146 Danach seien Überwachungsmaßnahmen zwar nicht per se ausgeschlossen, der freie und unbeobachtete Kontakt zwischen dem Verfahrensbevollmächtigten und der Partei müsse aber in jedem Fall gewährleistet sein. Im NPD-Verbotsverfahren kam diesem Punkt auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil der Verfahrensbevollmächtigte der Partei Peter Richter zur Zeit des laufenden Verbotsverfahrens selbst aktives NPD-Mitglied war. Das BVerfG verlangt von Seiten der Antragsteller bzw. der für die nachrichtendienstliche Beobachtung zuständigen staatlichen Behörden, dass „hinreichende Vorkehrungen“ getroffen werden, „die eine Beachtung des Grundsatzes des fairen Verfahrens gewährleisten“.147 Dazu, wie diese Vorkehrungen genau auszusehen haben, äußert sich der Senat nicht. Die nachrichtendienstlichen Behörden müssen demnach durch geeignete interne Maßnahmen und Regelungen die Konformität der Beobachtungspraxis politischer Parteien während eines laufenden Parteiverbotsverfahrens mit den vom Bundesverfassungsgericht auferlegten Anforderungen sicherstellen. Wie bereits zuvor bei den Geboten der Staatsfreiheit und Quellenfreiheit bürdet das BVerfG dem Antragsteller im Parteiverbotsverfahren die Darlegungslast hinsichtlich der von ihm getroffenen Vorkehrungen zur Verhinderung einer Ausspähung der Prozessstrategie der Partei oder der Verwertung von im Rahmen der Beobachtung zufällig erlangten Erkenntnissen auf. Im Einklang mit der Auffassung der nicht entscheidungstragenden Senatsmehrheit im NPD-Einstellungsbeschluss sieht das Gericht die mit einer nachrichtendienstlichen Beobachtung stets verbundene abstrakte Gefahr einer Ausforschung als nicht ausreichend an, um eine Verletzung des Rechts der Partei auf ein faires Verfahren annehmen zu können, wenn der Antragsteller die von ihm veranlassten Vorkehrungen in glaubhafter und nachvollziehbarer Weise dargelegt hat.148 Allein der Umstand der nachrichtendienstlichen Beobachtung einer Partei begründet demnach nicht die Vermutung einer Ausforschung der Verhandlungs146  BVerfGE

144, 20 (165, Rn. 421). 144, 20 (164, Rn. 420). 148  BVerfGE 144, 20 (165, Rn. 423) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (384 – abw. M.). 147  BVerfGE

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

konzeption. Für das Vorbringen der Parteien vor dem BVerfG bedeutet dies konkret: Kann der Antragsteller substantiiert darlegen, mit welchen Maßnahmen er der Gefahr einer Ausforschung entgegengesteuert hat und dass diese Maßnahmen auch geeignet dazu waren, kann ein Verstoß gegen den Fairtrial-Grundsatz zunächst nicht angenommen werden. Die vom Verbotsver­ fahren betroffene politische Partei hat aber weiterhin die Möglichkeit, die Glaubhaftigkeit dieses Vortrags durch substantiiertes eigenes Vorbringen zu erschüttern oder darzutun, dass es trotz der vom Antragsteller erläuterten Vorkehrungen zu einer Ausforschung der Prozessstrategie gekommen ist. In diesem Fall müsste das BVerfG im Rahmen des im Parteiverbotsverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes weitere Ermittlungen anstellen, etwa indem es die Anforderungen an die Beweisführung durch den Antragsteller erhöht.149 Bestehen nach dem Vorbringen der Prozessparteien für das Gericht weiterhin Zweifel, ob es zu einer Ausforschung gekommen ist und lassen sich diese Zweifel durch eine weitere Aufklärung in der Sache nicht ausräumen, muss zu Gunsten der Partei von einem Verfahrensmangel ausgegangen werden. Soweit die entscheidungstragende Senatsminderheit im NPD-Einstellungsbeschluss noch betont hatte, dass „es nicht auf tatsächliche Informationen der Antragsteller über die ‚Prozessstrategie‘ der Partei im Verbotsverfahren“150 ankomme, hat sie damit seinerzeit nicht aus der Tatsache der nachrichtendienstlichen Beobachtung auf eine Ausforschung und damit eine Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes geschlossen oder eine dahingehende Vermutung aufgestellt. Der Grundsatz des fairen Verfahrens als selbständige rechtsstaatliche Sicherung im Parteiverbotsverfahren neben dem Gebot der Staatsfreiheit wurde von der entscheidungstragenden Senatsminderheit nicht behandelt. Die soeben zitierte Passage stand vielmehr im Zusammenhang mit dem Gebot strikter Staatsfreiheit auf der Führungsebene der Partei. Eine selbstbestimmte Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei vor dem BVerfG sei bei V-Leuten im Führungszirkel der Partei losgelöst von der Frage, ob es tatsächlich zu einer Ausforschung der Verfahrenskonzeption gekommen ist, nicht gewährleistet.151 An dieser Auffassung hält das BVerfG auch weiterhin fest. Der Grundsatz des fairen Verfahrens als allgemeines Prozessgrundrecht der Partei ergänzt die Gebote der Staats- und Quellenfreiheit und soll sicherstellen, dass die Partei trotz einer im Parteiverbotsverfahren fortgesetzten nachrichtendienstlichen Beobachtung die Hoheit über ihre Verfahrensstrate149  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (410). 150  BVerfGE 107, 339 (368). 151  BVerfGE 107, 339 (368).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen137

gie sowie Verteidigungskonzeption behält und etwaige durch staatliche Behörden erlangte Informationen darüber nicht zu ihren Ungunsten verwertet werden. Die Gefahr der Ausforschung der Prozesstaktik wird zwar bereits durch die vom BVerfG geforderte Staatsfreiheit auf der Führungsebene der Partei eingedämmt, da Kenntnis über die Verfahrensstrategie in erster Linie die mit der Organisation des Verfahrens betrauten Vorstandsmitglieder der Partei haben werden, welche auch im Kontakt mit den Verfahrensbevollmächtigten stehen. Dieser Schutz reicht aber alleine nicht aus, denn regelmäßig werden auch andere Mitglieder oder Funktionsträger in der Partei, die nicht unmittelbar zur Führungsriege zählen und damit als Vertrauensperson des Verfassungsschutzes weiterhin in Frage kommen, in die Verfahrenskonzeption eingeweiht sein. Zu denken ist beispielsweise an Mitarbeiter der Vorstandsmitglieder oder Justiziare in der Partei. Zudem wird sich die Partei oftmals durch ihrer Ideologie nahestehende Verfahrensbevollmächtigte vertreten lassen, die – wie es im NPD-Verbotsverfahren der Fall war – gleichzeitig auch Mitglieder der Partei sein können. Nur über die sich zusätzlich aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren abzuleitenden Anforderungen kann vor dem BVerfG eine annähernde Waffengleichheit zwischen Antragsteller und politischer Partei gewährleistet werden, ohne den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel noch weiter einzuschränken.

V. Fehlerfolgen – Abwägung von rechtsstaatlichen Verstößen mit dem Präventionszweck des Parteiverbots Die bundesverfassungsgerichtliche Einstufung einer Verletzung der soeben erörterten rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen als Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht zieht als Rechtsfolge noch nicht zwangsläufig die Einstellung des Parteiverbotsverfahrens nach sich. Liegt ein Verstoß gegen die Gebote der Staatsfreiheit, der Quellenfreiheit oder des fairen Verfahrens vor, verlangt das BVerfG im Anschluss auf einer zweiten Prüfungsstufe eine Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in die rechtsstaatlichen Verfahrenssicherungen einerseits und den von der Partei ausgehenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, d. h. dem Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens andererseits.152 Der Senat führt auch in diesem Punkt seine Linie aus dem NPD-Einstellungsbeschluss fort. Sowohl die entscheidungstragende Senatsminderheit, noch deutlicher aber das davon abweichende Sondervotum der Mehrheit hatten sich gegen einen rechtlichen Automatismus einer Verfahrenseinstellung bei rechtsstaatlichen Mängeln ausgesprochen.153 152  BVerfGE 153  BVerfGE

144, 20 (166, Rn. 425). 107, 339 (365; 385 – abw. M.).

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

Das BVerfG geht dabei von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis154 aus, indem es in einem Verstoß gegen eine der genannten Verfahrensanforderungen zunächst grundsätzlich einen nicht behebbaren rechtsstaatlichen Mangel sieht, der ein zur Beendigung des Verfahrens ohne Sachentscheidung führendes Verfahrenshindernis darstellt. Überwiegt im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung aber erkennbar das staatliche Interesse an einem wirksamen Schutz gegen die von der Partei ausgehenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, kann die Fortführung des Verfahrens ausnahmsweise mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein.155 Das hinter dem Parteiverbot stehende Prinzip der streitbaren Demokratie kann demnach im konkreten Fall trotz verfahrensbezogener Verfassungsverstöße der Antragsteller eine Fortsetzung des Verfahrens rechtfertigen. Diese Absage an einen rechtlichen Automatismus einer Verfahrenseinstellung gibt dem BVerfG die Möglichkeit, stets auf Basis der Sachlage im konkreten Einzelfall zu entscheiden, ob die vorhandenen Verfahrensmängel eine Beendigung des Verfahrens erforderlich machen oder ob die von der Partei ausgehende Bedrohung der staatlichen Strukturen eine Intensität erreicht hat, die es trotz eines fehlerhaften Verfahrens gebietet, zu einer Sachentscheidung zu gelangen.156 Alleine schon folgende, einfach konstruierte Beispielsüberlegung zeigt die Richtigkeit dieses Ansatzes des BVerfG: Angenommen, eine offen demokratiefeindliche, links- oder rechtsextremistische Partei ist bereits mit zweistelligen Wahlergebnissen in mehreren Landtagen vertreten. Aufgrund der anhaltenden politischen Stimmung im Land und laut den während eines laufenden Verbotsverfahrens gegen die Partei veröffentlichten aktuellen Umfragen ist bei der nächsten Bundestagswahl ebenfalls mit einem starken Wahlergebnis zu rechnen. Im Parteiverbotsverfahren stellt sich heraus, dass noch zur Zeit der Stellung des Verbotsantrages ein Mitglied des Vorstands eines Landesverbandes der Jugendorganisation der Partei157 als V-Mann für die Verfassungsschutzbehörden tätig war. Die Partei beruft sich auf einen rechtsstaatlichen Verfahrensmangel und fordert deshalb die Einstellung des Verfahrens. Die Tätigkeit der Vertrauensperson in dem betreffenden Gremium stellt zunächst einen Verstoß gegen den Grundsatz der Staatsfreiheit auf der Füh154  So Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (378). 155  BVerfGE 144, 20 (167, Rn. 426) unter Verweis auf BVerfGE 107, 339 (365; 385 – abw. M.). 156  Zutreffend insofern Uhle, NVwZ 2017, 583 (585), nach dem die bundesverfassungsgerichtliche Abwägung zwischen der Schwere des Verfassungsverstoßes und dem Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens von „besonderem Augenmaß“ zeuge. 157  Angelehnt an das Beispiel von Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (380).



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen139

rungsebene der Partei dar, weil das BVerfG zur Führungsebene auch die Vorstände der Teilorganisationen zählt. Eine Einstellung des Verfahrens aufgrund dieses Verfahrensmangels ohne Berücksichtigung der aktuellen politischen Lage bzw. der von der Partei ausgehenden Gefahr wäre aber zu kurzsichtig und würde dem Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens zuwiderlaufen. Zum einen wird der Verfahrensmangel im Beispielsfall regelmäßig zu keiner schwerwiegenden Beeinträchtigung der freien Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei geführt haben, weil es sich lediglich um eine Person gehandelt hat, die noch für den Verfassungsschutz tätig war und diese außerdem nur eine Funktion als Vorstandsmitglied eines Landesverbandes einer Teilorganisation der Partei bekleidet hat, welcher nicht alleine repräsentativ für das Gesamterscheinungsbild einer Partei sein wird – höchstens abgesehen von dem Fall, dass es sich bei dieser Person gerade um den maßgeblichen „Chefideologen“ der Partei gehandelt hat. Auf der anderen Seite steht eine offen extremistische Partei, die in der Bevölkerung erkennbar an Zulauf gewinnt und bereits über parlamentarische Gestaltungsmöglichkeiten verfügt, die sie künftig auf Grundlage der Prognosen noch wird ausbauen können. Die von der Partei ausgehende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung überwiegt bei dieser Sachlage erkennbar die Schwere des Verfahrensmangels, so dass eine Fortführung des Verfahrens mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht nur vereinbar, sondern danach sogar geboten ist. Dieses fiktive Beispiel soll auch verdeutlichen, dass der Senat im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung bei der Frage nach dem Vorliegen eines Verfahrenshindernisses wegen einer Verletzung des Gebotes der Staatsfreiheit oder dem Grundsatz des fairen Verfahrens immer die konkreten Umstände des Verstoßes genau in den Blick zu nehmen hat. Im Falle der Präsenz von V-Leuten auf der Führungsebene der Partei wird etwa zu berücksichtigen sein, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt hat, die als Vertrauensperson nach Ankündigung der Stellung eines Verbotsantrages durch den Antragsteller noch für den Verfassungsschutz tätig waren, wie lange diese insgesamt und insbesondere noch nach Ankündigung der Stellung eines Verbotsantrages für den Verfassungsschutz tätig waren, in welchem Gremium die Vertrauensperson genau tätig war, d. h. ob es sich um den Bundesvorstand oder einen Landesvorstand der Partei oder um den Bundes- bzw. Landesvorstand einer Teilorganisation der Partei gehandelt hat, welchen tatsächlichen Einfluss die betreffende Person auf die Arbeit des Gremiums hatte und aus welchen Gründen keine rechtzeitige Abschaltung durch die staat­lichen Behörden erfolgte. Die von Ipsen158 im Anschluss an den NPD-Einstellungsbe158  Ipsen, JZ 2003, 485 (489); sich ihm anschließend Bull, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 117 (131).

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Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

schluss geäußerten Bedenken, auch nur eine einzige V-Person in der Führungsebene der Partei nach Bekanntgabe der Absicht der Antragstellung würde das BVerfG zu einer Verfahrenseinstellung zwingen und allein die Verfassungsschutzbehörden hätten es letztlich in der Hand, durch das Einschleusen oder Belassen einer V-Person in einem Vorstand der Partei ein Parteiverbotsverfahren von vornherein zu verhindern, lassen den bereits seinerzeit von der Senatsminderheit geforderten Prüfungsschritt der Abwägung außer Betracht und können daher nicht überzeugen. Für eine Verletzung des Gebotes der strikten Staatsfreiheit durch die Präsenz von V-Leuten auf Vorstandsebene der Partei war im ersten Prüfungsschritt zunächst nicht relevant, ob und inwieweit V-Leute tatsächlich Einfluss auf die Arbeit der Partei genommen und so das Erscheinungsbild der Partei verzerrt haben.159 Im Rahmen der Abwägung als zweiter Prüfungsstufe ist die Rolle der Vertrauenspersonen durch das BVerfG dann aber doch in tatsächlicher Hinsicht genauer zu beleuchten, um zu einem Abwägungsergebnis zu gelangen. Vor Annahme eines Verfahrenshindernisses muss somit doch eine weitere Sachaufklärung stattfinden. Bei Verstößen gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens wird das BVerfG in Zukunft untersuchen müssen, wie die Informationen über die Verfahrensstrategie erlangt wurden, die der oder die Antragsteller für das Parteiverbotsverfahren fruchtbar gemacht haben, d. h. ob es sich um eine gezielte Ausspähung der Verfahrensstrategie der politischen Partei durch die nachrichtendienstlichen Behörden gehandelt hat oder ob die Erkenntnisse nur zufällig in einem anderen Beobachtungskontext erlangt wurden. Hierbei kann auch von Bedeutung sein, ob möglicherweise der Antragsteller selbst die staatlichen Stellen angewiesen hat, entsprechende Informationen über die Verhandlungskonzeption einzuholen sowie an ihn weiterzuleiten. Daneben wird noch zu berücksichtigen sein, um welche Informationen es sich im konkreten Fall gehandelt hat und inwieweit diese tatsächlich geeignet waren, zum Nachteil der Partei verwendet zu werden bzw. den Antragstellern im Parteiverbotsverfahren einen strategischen Vorteil verschafft haben.160 Das Abwägungserfordernis zwischen der Schwere des Verfassungsverstoßes im Parteiverbotsverfahren und dem staatlichen Interesse an einem wirksamen Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gilt nach dem BVerfG, da es diesbezüglich keine Einschränkungen macht, grundsätzlich 159  BVerfGE

144, 20 (160, Rn. 407). Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (386), der als weiteres Kriterium anführt, ob der Versuch einer Verwendung der erlangten Kenntnisse zu Lasten der Partei gemacht wurde. Das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens setzt aber gerade – darauf weist Kliegel zuvor ebenfalls hin – ein Verwenden der erhobenen Informationen voraus. 160  Unzutreffend



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen141

auch für Verstöße gegen das rechtsstaatliche Gebot der Quellenfreiheit der vorgelegten Beweise, welches Bestandteil des Staatsfreiheitsgebotes ist. Allerdings nimmt der Senat im Falle von durch V-Leute infiziertem Beweismaterial einen nicht ausgleichbaren Verfahrensmangel ohnehin erst dann an, wenn die restliche, d. h. quellenfreie Tatsachengrundlage eine weitere Durchführung des Verfahrens nicht mehr zulässt. Eine Verfahrenseinstellung verbiete sich dagegen, wenn nur ein Teil des Beweismaterials infiziert ist und auf dieser Grundlage eine Entscheidung in der Sache durch das Gericht möglich ist.161 Der Senat hat damit die Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung bereits im Rahmen seiner Ausführungen zur Quellenfreiheit auf Ebene der ersten Prüfungsstufe dargelegt und lässt praktisch keinen Raum mehr für eine nachfolgende, eigenständige Prüfung der Frage, ob der Verfahrensmangel eine Beendigung des Verfahrens ohne Sachentscheidung nach sich zieht oder nicht. Die entscheidende Frage des BVerfG bei Verstößen gegen die Quellenfreiheit lautet deshalb lediglich, ob noch genug quellenfreies Material vorhanden ist, auf dessen Grundlage eine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit der Partei getroffen werden kann. Ist dies nicht möglich, bedarf es auch keiner nachfolgenden Abwägung mehr mit dem Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens. Die Frage, wie mit einer Konstellation umzugehen ist, in der das mehrheitliche Beweismaterial durch das Wirken von Vertrauensleuten infiziert ist und von der Partei gleichzeitig evidente Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen, die für ein eindeutiges Überwiegen des Präventionszwecks und des staatlichen Interesses an einer Durchführung des Verfahrens sprechen, dürfte allenfalls nur ein Problem theoretischer Natur darstellen. Wenn von einer Partei offenkundig Gefahren für die staatlichen Strukturen ausgehen, muss dies im Hinblick auf ein gegen sie gleichzeitig laufendes Parteiverbotsverfahren fast zwangsläufig bedeuten, dass die Beweislage auch ohne Berücksichtigung des kontaminierten Beweismaterials insgesamt eindeutig ist bzw. sich die Partei das von den V-Leuten produzierte, belastende Material offenbar zu Eigen gemacht und damit als Ausdruck des Parteiwillens bestätigt hat. Eine Verwertung des Beweismaterials wäre in letzterem Fall dann ohne Weiteres zulässig, weil es der Partei als solcher zurechenbar ist und es auf die Quellenfreiheit im Ergebnis gar nicht mehr ankommt. Nach Ansicht von Uhle stellt die vom BVerfG vorgenommene Abwägung zwischen der Schwere des Verfassungsverstoßes einerseits und der von der Partei ausgehenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung auf der anderen Seite einen „Meilenstein“ in der Rechtsprechung des BVerfG 161  BVerfGE

144, 20 (162 f., Rn. 414).

142

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

zu Parteiverboten dar.162 Die damit verbundene Klarstellung des BVerfG, dass ein Parteiverbotsverfahren zwar nicht um jeden Preis durchgeführt werden darf, aber eben auch nicht jeder Verfahrensverstoß ohne weiteres die Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes auf formal-rechtliche Weise auszuhebeln vermag, stellt einen wichtigen Aspekt der verfahrensrechtlichen Kautelen dar. Der vom BVerfG vorgenommene Prüfungsschritt der Abwägung unter Berücksichtigung des Präventionszwecks des Parteiverbots ist jedoch nicht ganz neu, sondern war ungeachtet der Spaltung des damaligen Senats bereits im NPD-Einstellungsbeschluss sowohl in der Begründung der entscheidungstragenden Senatsminderheit als auch im Sondervotum der hiervon abweichenden Richter angelegt.163 Eine solche Abwägung stellt zudem keinen spezifisch im Parteiverbotsverfahren vorzunehmenden Prüfungsschritt dar. Es handelt sich hierbei um einen allgemeinen Grundsatz im Prozessrecht, wonach Rechtsbeeinträchtigungen ein Verfahrenshindernis nur dann begründen können, wenn Art und Intensität der Rechtsbeeinträchtigung die Fortführung des Verfahrens unter Berücksichtigung des jeweiligen Verfahrenszwecks und des Interesses an einer Durchführung des Verfahrens im konkreten Einzelfall als unzumutbar erscheinen lassen.164 Die erneute Bestätigung dieses Grundsatzes für das Parteiverbotsverfahren macht aber deutlich, dass dieses im Ernstfall jedenfalls nicht an verfahrensrechtlichen „Kleinigkeiten“ scheitern wird und sich trotz einer strengen rechtsstaatlichen Einzäunung als effektives Instrument streitbarer Demokratie erweisen kann.

VI. Exkurs: Geltung der Verfahrensanforderungen auch im Finanzierungsausschlussverfahren Als rechtspolitische Konsequenz aus dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren hat der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 21 Abs. 3 GG die Möglichkeit geschaffen, verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Die deutlich erkennbare Verwandtschaft des Finanzierungsausschlussverfahrens mit dem Parteiverbotsverfahren wirft die Frage auf, ob die vom BVerfG für die Durchführung des Parteiverbotsverfahrens aus dem Grundgesetz abgeleiteten rechtsstaatlichen Anforderungen auch auf das neue Finanzierungsausschlussverfahren Anwendung finden sollen. Das Verfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG und insbesondere eine vergleichende Untersuchung zum Parteiverbot gem. Art. 21 Abs. 2 GG ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Angesichts des derzeit beim BVerfG anhängigen Verfahrens zum Ausschluss der NPD von der staatlichen Teil­ 162  Uhle,

NVwZ 2017, 583 (585). BVerfGE 107, 339 (365; 385 – abw. M.). 164  Vgl. BGHSt 46, 159 (169); Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2847, 2849). 163  Vgl.



B. Verfassungsrechtliche Verfahrensvoraussetzungen143

finanzierung soll an dieser Stelle jedoch ein kurzer Ausblick auf die mögliche Behandlung dieser Problematik unternommen werden. Der Bundesrat geht in seiner Antragsschrift zum Ausschluss der NPD von der staatlichen Finanzierung von einer Übertragung der verfahrensrechtlichen Maßstäbe des Parteiverbots auf das Verfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG aus und belegt gegenüber dem BVerfG mit Blick auf die bereits in Vorbereitung des NPD-Verbotsverfahrens erfolgte nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei erneut ausführlich die Einhaltung der Gebote der strikten Staatsfreiheit, der Quellenfreiheit und des fairen Verfahrens.165 Auch die Literatur spricht sich, soweit die Fragestellung überhaupt behandelt wird, für eine Geltung der rechtsstaatlichen Verfahrensdirektiven aus dem Parteiverbotsverfahren im Rahmen der Entscheidung über den Ausschluss von Parteien von der staatlichen Finanzierung aus.166 Als entscheidende Argumente hierfür werden die strukturellen Parallelen zwischen beiden Verfahrensarten sowie ihre gemeinsame Zielrichtung angeführt, ein präventives Einschreiten gegen Parteien zu ermöglichen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind.167 Tatsächlich ist der gesamte Ablauf des Finanzierungsausschlussverfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG dem des Parteiverbotsverfahrens nachgebildet, was auch die Möglichkeit der hilfsweisen Stellung eines Antrags auf Aufschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung gegen dieselbe Partei neben einem Parteiverbotsantrag gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG belegt. Auch die Prüfung der materiellen Tatbestandsvoraus­ setzungen ist im Finanzierungsausschlussverfahren, abgesehen vom Wegfall des Potentialitätskriteriums168, identisch mit derjenigen nach Art. 21 Abs. 2 GG. Gegen eine Übertragung der strengen Verfahrensstandards aus dem Parteiverbotsverfahren könnte indes sprechen, dass die Rechtsfolgen des Finanzierungsausschlussverfahrens weniger gravierend sind als bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei. Während letztere die zeitlich unbegrenzte, endgültige Auflösung der betroffenen Partei zur Folge hat, stellt das BVerfG bei einem erfolgreichen Antrag nach Art. 21 Abs. 3 GG den zeitlich befristeten Ausschluss der Partei von der staatlichen Finanzierung fest (§ 46a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Partei kann somit weiterhin am politischen Willens­ bildungsprozess teilnehmen, gleichwohl stellt der Ausschluss von der staatli165  Vgl.

Finanzierungsausschlussantrag Bundesrat, S. 28 ff. GSZ 2018, 97 (102); Shirvani, DÖV 2018, 921 (926 f.); Lichdi, RuP 2017, 456; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46a Rn. 12; offen gelassen von Krüper, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch Nachrichtendienste, III § 1 Rn. 93. 167  Vgl. Drossel, GSZ 2018, 97 (102); Shirvani, DÖV 2018, 921 (926). 168  Vgl. Greszick/Rauber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 21 Rn. 168; Walter/Herrmann, ZG 2017, 306 (309); Müller, DVBl. 2018, 1035 (1038 f.). 166  Drossel,

144

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

chen Teilfinanzierung einen Eingriff in das Recht der Partei auf Chancengleichheit dar.169 Auch wenn teilweise auf die existenzbedrohende Wirkung eines Wegfalls dieser Finanzierungsquelle für die Partei hingewiesen wird, der de facto einem Parteiverbot gleichkomme170, gilt es zu bedenken, dass der Ausschluss von der Staatsfinanzierung anders als ein Verbot gerade nicht mit einem Verlust des Rechtsstatus der betroffenen Partei einhergeht und der Partei anderweitige – und gegenüber der staatlichen Teilfinanzierung ohnehin vorrangige – Finanzierungsmöglichkeiten weiter offen stehen.171 Die mil­ deren Rechtsfolgen eines erfolgreichen Finanzierungsausschlussverfahrens sprechen indes nicht gegen eine Anwendung der ursprünglich für das Parteiverbotsverfahren entwickelten rechtsstaatlichen Anforderungen, sondern können im Rahmen der vom BVerfG in einer zweiten Prüfungsstufe vorzunehmenden Abwägung berücksichtigt werden.172 Ob ein und derselbe Verfassungsverstoß im Parteiverbotsverfahren und im Finanzierungsausschlussverfahren aber tatsächlich zu unterschiedlichen Ergebnissen im Hinblick auf die Annahme eines Verfahrenshindernisses führen wird, ist fraglich. Den mangels endgültiger Auflösung der Partei weniger schwerwiegenden Folgen eines Verfassungsverstoßes steht nämlich auf der anderen Seite regelmäßig auch ein geringeres Präventionsinteresse bzw. eine schwächere von der Partei ausgehende Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung gegenüber, wenn die höhere tatbestandliche Eingriffsschwelle für Parteiverbote nicht erreicht wird oder die Antragsteller von vornherein ein Parteiverbot für nicht notwendig erachten und stattdessen „nur“ ein Verfahren zum Ausschluss von der staatlichen Teilfinanzierung einleiten. Auch der Umstand der Ableitung der rechtsstaatlichen Verfahrensdirek­ tiven „spezifisch aus dem Wesen des Parteiverbotsverfahrens“173 durch das BVerfG, spricht nicht gegen deren Anwendung im Finanzierungsausschlussverfahren. Zum Zeitpunkt der Verkündung des NPD-Urteils existierte Art. 21 Abs. 3 GG noch nicht. Außerdem sieht der Zweite Senat das Gebot der Staatsfreiheit auch in der in Art. 21 Abs. 1 GG enthaltenen allgemeinen Parteienfreiheit verankert. Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist in einem Rechtsstaat hingegen ohnehin in allen Verfahrensarten und damit auch im Finanzierungsausschlussverfahren zu beachten. 169  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 540 d (Januar 2018); Gadinger, KommP Wahlen 2017, 134 (138); Ferreau, DÖV 2017, 494 (495); Shirvani, DÖV 2018, 921 (923). 170  Vgl. Kluth, ZParl 2017, 676 (689); Drossel, GSZ 2018, 97 (102). 171  Shirvani, DÖV 2018, 921 (923). 172  Dafür Drossel, GSZ 2018, 97 (102); vgl. auch Finanzierungsausschlussantrag Bundesrat S. 30. 173  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 405).



C. Fazit145

Es bleibt abzuwarten, wie sich das BVerfG genau zur Frage der Anwendbarkeit der Verfahrensstandards aus dem Parteiverbotsverfahren im neuen Verfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG positionieren wird.

C. Fazit Das BVerfG stand vor der schwierigen Aufgabe, verfahrensrechtliche Maßstäbe zu entwickeln, die auf der einen Seite den verfassungsrechtlich verbürgten Rechten der Partei im Parteiverbotsverfahren Rechnung tragen, andererseits aber die Effektivität des Parteiverbotsverfahrens und den damit bezweckten präventiven Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht schmälern oder das Verfahren in der Praxis nicht sogar als „undurchführbar“ erscheinen lassen. Mit Spannung war insbesondere erwartet worden, ob der Zweite Senat die restriktive Position der entscheidungstragenden Senatsminderheit aus dem NPD-Einstellungsbeschluss weiter beibehält, die davon abweichende Auffassung im Sondervotum der damaligen Richter Sommer, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff aufgreift oder in dieser Frage möglicherweise einen ganz neuen Weg mit eigenen Akzenten einschlagen würde. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Zweite Senat im NPD-Urteil die Linie der entscheidungstragenden Senatsminderheit im Wesentlichen bestätigt, diese aber zugleich im Hinblick auf einige Punkte etwas entschärft und näher präzisiert, um für die künftige Praxis des Parteiverbotsverfahrens eine bessere Handhabung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen zu ermöglichen. Insbesondere konkretisiert das BVerfG die Anforderungen an den Begründungsaufwand sowie die Darlegungspflichten der Antragsteller und schafft damit mehr Rechtsklarheit in Bezug auf die prozessualen Hürden, die es im Parteiverbotsverfahren zu überwinden gilt. Die Vielzahl an Verweisen auf die Ausführungen der nicht entscheidungstragenden Senatsmehrheit kann dabei als Bestreben der Richter gedeutet werden, die unterschiedlichen Positionen des damals tief zerstrittenen Senats anzunähern und nunmehr Einigkeit in dieser Frage zu demonstrieren. Insbesondere die Befürchtung einiger Kommentatoren des NPD-Einstellungsbeschlusses, das Parteiverbotsverfahren sei durch die verfahrensrecht­ lichen Auflagen des BVerfG zu einer „virtuellen Option“ geworden und werde als bereits zweites Instrument aus dem Arsenal der streitbaren Demokratie nach dem Grundrechtsverwirkungsverfahren des Art. 18 GG in der Bedeutungslosigkeit verschwinden174, hat sich nicht bewahrheitet. Das zweite NPD-Verbotsverfahren hat gezeigt, dass bei entsprechender Vorbereitung 174  Rensmann, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 59 (67) (Zitat); Bull, in: Möllers/van Ooyen, Parteiverbotsverfahren, S. 117 (132, 134); Volkmann, DVBl. 2003, 605 (609).

146

Kap. 3: Rechtsstaatliche Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren

durch die Antragsteller zumindest die vom BVerfG auferlegten prozessualen Hürden erfolgreich genommen werden können. Insbesondere existiert auch das von Volkmann beschriebene ausweglose Dilemma nicht, wonach einerseits der Nachweis der Verfassungswidrigkeit einer Partei regelmäßig nur durch Ausforschung mit nachrichtendienstlichen Mitteln geführt werden kann, andererseits aber, wenn die nachrichtendienstlichen Mittel angewendet werden, die Partei wegen Vorliegen eines Verfahrenshindernisses nicht verboten werden kann.175 Ein solcher Befund lässt außer Acht, dass bereits im NPD-Einstellungsbeschluss vom BVerfG ausdrücklich nur die Staatsfreiheit der Führungsebenen der politischen Partei im Vorfeld und während eines Parteiverbotsverfahrens gefordert wurde, ohne die nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei im Übrigen weiter einzuschränken. Im NPD-Urteil unterstreicht der Senat nochmals, dass weder die Gebote der Staats- und Quellenfreiheit noch der Grundsatz des fairen Verfahrens eine nachrichtendienstliche Beobachtung der politischen Partei im Kontext eines Parteiverbotsverfahrens grundsätzlich ausschließen. Anders als das bereits durch die StPO sowie die umfangreiche Rechtsprechung des BGH in Strafsachen streng rechtsstaatlich reglementierte Strafverfahren kannte das Parteiverbotsverfahren trotz seines tiefgreifenden Eingriffs in die Rechte der politischen Partei bis hin zu deren endgültiger Auflösung als einschneidendster Rechtsfolge bis zum Einstellungsbeschluss im ersten NPD-Verbotsverfahren im Grunde keinerlei rechtsstaatliche Verfahrensstandards, weil das BVerfGG diesbezüglich keine Regelungen enthält und sich das BVerfG in den frühen Verfahren zum SRP- und KPD-Verbot mit verfahrensrechtlichen Aspekten nicht auseinanderzusetzen hatte. Angesichts der schwerwiegenden Folgen für die vom Parteiverbotsverfahren betroffene politische Partei und die politische Willensbildung in der freiheitlichen Demokratie insgesamt gewinnen Parteiverbote, welche mitunter gerade auch selbst dem präventiven Schutz rechtsstaatlicher Strukturen dienen sollen, neben klar umgrenzten materiellen Anforderungen gerade auch durch ihr prozessual rechtsstaatliches Zustandekommen an Legitimität. Aufgrund seiner grundgesetzlichen Verankerung ist auch die Konstitutionalisierung der verfahrensrechtlichen Standards, die es während eines solchen Verfahrens zu beachten gilt, grundsätzlich überzeugend. Wenn aber, wie im Falle des Grundsatzes der Quellenfreiheit, eine Lösung auch nach den allgemeinen Regeln der Beweiswürdigung im Rahmen der materiellen Prüfung der Verbotsvoraussetzungen möglich ist, bedarf es keines Rückgriffs auf ein eigenständiges verfassungsrechtliches Verfahrensgebot, dessen Einhaltung im Rahmen der Zulässigkeit des Verfahrens geprüft wird.

175  Volkmann,

DVBl. 2003, 605 (608).

Kapitel 4

Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG In diesem Kapitel sollen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG untersucht werden. Ausgeklammert wird dabei lediglich die Tatbestands­ alternative der Gefährdung des Bestands der Bundesrepublik Deutschland, welche in den bisherigen Parteiverbotsverfahren vor dem BVerfG keine Rolle gespielt hat. Die Darstellung der einzelnen Merkmale des Verbotstatbestands knüpft zunächst an deren bis zum NPD-Urteil vom 17. Januar 2017 maßgebende Auslegung durch das BVerfG im SRP- und KPD-Urteil an, soweit erfolgt, und geht auf deren Rezeption in der Literatur ein. Sodann wird das bundesverfassungsgerichtliche Verständnis des jeweiligen Tatbestandsmerkmals im NPD-Urteil ausführlich untersucht und einer kritischen Würdigung unterzogen. Schließlich soll in diesem Kapitel noch auf die ausdrückliche Absage des BVerfG im NPD-Urteil an weitere, ungeschriebene Tatbestandsmerkmale, namentlich die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus sowie die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Parteiverbots, eingegangen werden.

A. Die Neujustierung des Begriffs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ Der bereits im Zusammenhang mit dem Konzept der streitbaren Demokratie kurz behandelte Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ ist das zentrale Tatbestandsmerkmal des Art. 21 Abs. 2 GG und, neben dem Bestand der Bundesrepublik Deutschland, eines der Schutzgüter des Parteiverbots. Das BVerfG musste sich im NPD-Urteil daher erneut mit der Bedeutung dieses Merkmals auseinandersetzen und festlegen, was zum Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehört. Die bis dahin in Rechtsprechung und Literatur kontinuierlich zitierte – und durchaus umstrittene – Definition hatte ihren Ursprung noch im Verbotsurteil gegen die SRP aus dem Jahr 1952, in dem der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das BVerfG erstmals eine Konkretisierung erfahren hat.1 1  BVerfGE

2, 1 (12 f.).

148

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

I. Die Bedeutung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz und einfachen Recht Die Bedeutung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung reicht über ihre Funktion als Schutzgut des Parteiverbots hinaus. 1. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im Grundgesetz Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung spielt nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Prüfung der Frage, ob eine Partei als verfassungswidrig einzustufen ist, sondern wird quer durch das Grundgesetz an mehreren Stellen erwähnt. Neben dem neuen Art. 21 Abs. 3 GG, der als Minus zum Parteiverbot die Voraussetzungen eines Ausschlusses von Parteien von der staatlichen Finanzierung regelt, taucht der Begriff noch in Art. 10 Abs. 2, 11 Abs. 2, 18, 73 Abs. 1 Nr. 10 b), 87a Abs. 4 und 91 Abs. 1 GG auf. Daneben soll dem Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“, soweit er im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 98 Abs. 2 GG Anwendung findet, nach allgemeiner Meinung inhaltlich die gleiche Bedeutung zukommen.2 Mit Ausnahme der Kompetenznorm des Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG handelt es sich bei den gerade erwähnten Normen sämtlich um Regelungen mit verfassungsschützendem Charakter, welche jeweils eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Anknüpfungspunkt für staatliche bzw. grundrechtseinschränkende Maßnahmen oder Rechtsfolgen machen. Trotz seines zunächst positiv anmutenden Gehalts („freiheitlich, demokratisch“) taucht der Terminus verfassungsrechtlich damit stets in einem negativen Gewand auf.3 Das hängt aber mit der untrennbaren Verbindung zwischen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und der Konzeption des Grundgesetzes als streitbare Demokratie zusammen: Da letztere gerade der Verteidigung dieser Grundordnung dienen soll, ist es auch systematisch nachvollziehbar, dass im Grundgesetz der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausschließlich im Zusammenhang mit Regelungen zum Schutze dieser Ordnung verwendet wird. Die freiheitliche demokratische Grundordnung determiniert den Bewegungsradius und legt zugleich die Grenzen des verfassungsmäßigen Verhaltens unter dem Grundgesetz fest. Tätigkeiten oder politische Positionen, welche sich im Rahmen dieser Grund2  Zuletzt BVerfGE 149, 160 (197, Rn. 107); Planker, Vereinsverbot, S. 90; Stern, StaatsR I, S. 556; Warg, NVwZ-Beilage 2017, 42; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 57 (September 2017); Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 Rn. 26 (Stand: 15.08.2020); Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 98 Rn. 13; Gusy, AöR 105 (1980), 279; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (357). 3  Warg, NVwZ-Beilage 2017, 42.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“149

ordnung bewegen, stellen eine vom Grundgesetz geschützte und in einem demokratischen Willensbildungsprozess grundsätzlich sogar erwünschte Ausübung von Freiheitsrechten dar. Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dagegen können die in den soeben genannten Normen enthaltenen verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen der wehrhaften Demokratie aktivieren und werden von der Verfassung als nicht mehr hinnehmbar eingestuft. Die freiheitliche demokratische Grundordnung bildet damit die „Wegscheide“4 zwischen Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungs­ treue. 2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im einfachen Recht Im einfachen Recht findet der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung u. a. Erwähnung in § 1 Abs. 1 Satz 1 PartG, § 86 Abs. 2 StGB sowie im Rahmen der persönlichen Zugangsvoraussetzungen zum Beamtendienst gem. § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG und den Vorschriften der Landesbeamtengesetze. Grundlegende Bedeutung kommt ihm aber im BVerfSchG und den entsprechenden Verfassungsschutzgesetzen der Länder zu. Nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG i. V. m. § 1 Abs. 1 BVerfSchG dient der (institutionelle) Verfassungsschutz mitunter dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Dagegen gerichtete Bestrebungen werden nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG zum Anknüpfungspunkt für nachrichtendienstliche Eingriffsbefugnisse gemacht.5 Nicht selten bilden die gewonnenen nachrichtendienstlichen Erkenntnisse sodann die Grundlage für ein weiteres Vorgehen anhand des grundgesetzlichen Instrumentariums der wehrhaften Demokratie.

II. Das Problem der Unbestimmtheit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff.6 Trotz der fundamentalen Bedeutung, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung innerhalb der Verfassungsordnung des Grundgesetzes und davon ausgehend auch auf der Ebene des einfachen Rechts zukommt, findet sich im Grundgesetz an keiner Stelle eine Legal­ definition. Die Materialien zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, einschließlich der Ausführungen im Darstellenden Teil des HerrenchiemseeEntwurfs, geben keine ergiebigen Hinweise darauf, was im Einzelnen Inhalt 4  Stern,

StaatsR I, S. 570. oben Kapitel 3 sub A. I. 6  Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 36; Stohlmann, Unbestimmtheit der fdGO, S. 59. 5  Hierzu

150

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

oder Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sein soll. Im Herrenchiemsee-Entwurf war in Art. 47 Abs. 4, dem Vorläufer des grundgesetzlichen Parteiverbots, sowie in Art. 20 Abs. 1 als Vorgängerregelung zum späteren Art. 18 GG und in Art. 108 als Ausgangspunkt des späteren Art. 79 Abs. 3 GG noch von der „freiheitlichen und demokratischen Grund­ ordnung“7 die Rede. Gegenstand der Diskussion im Verlauf der späteren Beratungen in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates war aber nicht das Problem der Unbestimmtheit des Begriffs oder eine Debatte darüber, was zum Inhalt dieser Ordnung gehören soll, sondern die im Vergleich dazu fast schon banale Frage, ob das „und“ durch ein „oder“ zu ersetzen ist oder ob die Konjunktion zwischen „freiheitlich“ und „demokratisch“ ganz wegzulassen ist.8 Einzig aus der Feststellung des Abgeordneten v. Mangoldt (CDU) in den „Und-Oder-Beratungen“9, wonach es „eine demokratische Ordnung [gibt], die weniger frei ist – eine ‚volksdemokratische‘ – und eine, die freiheitlich ist“10, lässt sich schließen, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung gerade nicht den politischen Ordnungs- und Wertvorstellungen des sozialistischen Einheitsparteienstaates sowjetischer Prägung entsprechen sollte, der sich zu dieser Zeit auch in der sowjetischen Besatzungszone im Aufbau befand. Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes schien es angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in der Einflusssphäre der Sowjetunion einerseits und der den gesamten Prozess der Verfassungsgebung prägenden Erfahrungen mit dem totalitären System des Nationalsozialismus andererseits wohl selbstverständlich, was den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmachen soll, so dass nähere Ausführungen dazu offenbar als nicht erforderlich erachtet wurden. Der Verfassungsgesetzgeber hat die Konkretisierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung damit der Rechtswissenschaft, vor allem aber dem Bundesverfassungsgericht als dem maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung über­lassen, das überdies in den Verfahren der Grundrechtsverwirkung und des Parteiverbots als alleinige Entscheidungsinstanz berufen ist. Ein erster Umschreibungsversuch wurde zwar schon vor dem Verbotsverfahren gegen die SRP früh auf einfachgesetzlicher Ebene unternommen und fand sich in einem ersten Regierungsentwurf zum BVerfGG, erlangte aber letztlich keine Gesetzeskraft, 7  Hervorhebung

durch Verfasser. den Antrag des Abgeordneten Eberhard (SPD), Parlamentarischer Rat, Bd. 14/1, S. 801 sowie Bd. 5/II, S. 951; v. Doemming/Füsslein/Matz, in: JöR N. F. 1 (1951), S. 1 (210). Letztlich wurde auf die Konjunktion verzichtet, um so die Untrennbarkeit beider Bestandteile der Grundordnung, nämlich die zwischen der demokratischen Willensbildung und der freiheitlichen Rechtsstellung des Einzelnen, besser zu verdeutlichen, vgl. Stern, StaatsR I, S. 557. 9  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 338. 10  Parlamentarischer Rat, Bd. 5/II, S. 951. 8  Vgl.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“151

weil der Gesetzgeber der Auffassung war, dass eine solche einfachgesetzliche Bestimmung das Grundgesetz nicht authentisch auszulegen vermöge und dies gerade Aufgabe des BVerfG sei.11 Eine Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im einfachen Recht findet sich heute in § 4 Abs. 2 BVerfSchG. Diese Bestimmung hat den folgenden Wortlaut: „Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes zählen: a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, c) das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, e) die Unabhängigkeit der Gerichte, f) der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.“

Diese Aufzählung der die freiheitliche demokratische Grundordnung konstituierenden Merkmale ist der Definitionsformel des BVerfG in seinem Urteil zum Verbot der SRP nachempfunden.12 Eine einfachgesetzliche Definition kann aber, trotzdem sie mit der ursprünglichen Begriffsbestimmung des BVerfG weitestgehend identisch ist, nicht für die originäre Auslegung des Grundgesetzes maßgeblich sein (vgl. auch den Wortlaut: „Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes zählen […]“).13 11  Stern, StaatsR III/2, S. 948. Der Regierungsentwurf ist abgedruckt bei Schiffers, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 51 ff. In § 35 des Regierungsentwurfs (Fassung I) zum BVerfGG hieß es: „Die freiheitliche demokratische Grundordnung greift an, wer sich für die Beseitigung der Grundrechte, der politischen Parteien, der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl der Volksvertretungen, der Teilung der Gewalten, der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, der Unabhängigkeit der Gerichte oder der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einsetzt.“ Diese Definition geht wiederum zurück auf § 29 des ersten Referentenentwurfs zum BVerfGG (der durch den späteren Richter am BVerfG Geiger erarbeitet wurde) aus dem Jahr 1949, ebenfalls abgedruckt bei Schiffer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S.  3 ff. 12  BVerfGE 2, 1 (12 f.), hierzu sogleich sub III. 1. a). 13  Dass Verfassungsbegriffe nicht durch einfaches Recht definiert werden können, folgt bereits aus dem Grundsatz des Vorrangs der Verfassung, Jarass, DÖV 2019, 457 (462). Hier kommt noch hinzu, dass die einfachgesetzliche Definition ja gerade an die des BVerfG angelehnt ist.

152

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Dasselbe gilt für die in § 92 Abs. 2 StGB aufgezählten „Verfassungsgrundsätze“, welche den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf strafrechtlicher Ebene inhaltlich näher beschreiben sollen.14 Neben dem BVerfSchG enthalten auch die Landesverfassungsschutzgesetze der Bundesländer eine entsprechende Begriffsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder nehmen auf die Definition in § 4 Abs. 2 BVerfSchG Bezug.15 Als zusätzliche Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat der thüringische Gesetzgeber im Rahmen der Novellierung des ThürVSG im Jahr 2014 in § 6 Abs. 2 Nr. 4 ThürVSG a. F. das „Recht auf Bildung, Maßnahmen der Wirtschafts- und Arbeitsförderung sowie der Daseinsvorsorge“ mit in die Legaldefinition aufgenommen.16 Im Juni 2018 wurden diese Elemente jedoch wieder gestrichen und die Begriffsbestimmung damit wieder an die bundesgesetzliche Regelung in § 4 Abs. 2 BVerfSchG angeglichen.17 Als Begründung wurde angeführt, dass eine Fortentwicklung und Bestimmung dessen, was Merkmale der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung sind, dem BVerfG vorbehalten bleiben müsse und Bestrebungen gegen das Recht auf Bildung, Maßnahmen der Wirtschafts- und Arbeitsförderung sowie der Daseinsvorsorge nicht dieselbe Bedeutung wie den anderen Definitionsmerkmalen zukomme, sie somit nicht geeignet seien, eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz auszulösen.18 Das NPD-Urteil des BVerfG vom 17. Januar 2017 wird in der Gesetzesbegründung zwar nicht erwähnt, dürfte aber ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der „Korrektur“ der thüringischen Definition gespielt haben. Einigkeit besteht insoweit, als dass der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, anders als der verfassungsmäßigen Ordnung, welche entsprechend dem jeweiligen Normzweck unterschiedlich interpretiert wird, in allen Vorschriften des Grundgesetzes ein einheitlicher Bedeutungsgehalt zu-

14  Ellbogen, in: BeckOK StGB, § 92 Rn. 5 (Stand: 01.02.2021); Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, § 92 Rn. 6; zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Strafrecht vgl. auch Schulz, KJ 2015, 288. 15  Vgl. nur etwa § 3 Abs. 6 VSG NRW; Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayVSG; § 3 Abs. 2 SächsVSG. 16  Thüringer Gesetz zur Änderung sicherheitsrechtlicher Vorschriften vom 08.08.2014, GVBl. S. 529. Der Gesetzesbegründung kann allerdings nicht entnommen werden, von welchen Erwägungen sich der Gesetzgeber hat dabei leiten lassen, vgl. LT-Drs. 5/7452, S. 39. Kritisch dazu Warg, LKV 2015, 1. 17  Thüringer Gesetz zur Anpassung des Allgemeinen Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Thüringer Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU – ThürDSAnpUG-EU –) vom 06.06.2018, GVBl. S. 229. 18  LT-Drs. 6/4943, S. 155 f.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“153

kommt.19 Obwohl vom BVerfG im SRP-Urteil näher konkretisiert, besteht im Schrifttum jedoch bis heute kein Konsens darüber, was genau den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmacht. Der „Duden“ erläutert den Begriff „Grundordnung“ als „einer Sache zugrunde liegende, sie bestimmende, für sie als Prinzip wirkende Ordnung“ und setzt ihn mit „Verfassung“ gleich.20 Wie die Bezeichnung als „Grundordnung“ schon nahelegt, sollten von dieser nur die grundlegenden, zentralen Prinzipien des Staatswesens, gewissermaßen also dessen Kern, umfasst sein. Dies ist bis hierhin auch noch unstreitig, hilft aber für eine nähere Begriffsbestimmung auch nicht weiter, stellt sich doch daran anschließend die Frage, welche Merkmale unserer Verfassungsordnung zu eben diesen Grundprinzipien zu rechnen sind. Können diese in einem Katalog abschließend enumerativ aufgezählt werden? Oder sind sie konstellationsabhängig erweiterbar, was sie wiederum dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen würde? Was ist also eigentlich damit gemeint, wenn von Parteien gefordert wird, sich „auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zu bewegen? Angesichts der weitreichenden Rechtsfolgen und Sanktionen, die sich als Konsequenz eines gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Verhaltens ergeben – im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei deren endgültige Auflösung – wird diese Unbestimmtheit als rechtsstaatlich überaus bedenklich angesehen.21 Nach Ansicht von Meier handelt es sich bei der freiheitlichen demokratischen Grundordnung deshalb „um einen der wissenschaftlich und politisch umstrittensten, wenn nicht den [sic] umstrittensten Begriff des Grundgesetzes überhaupt“.22 Das BVerfG konnte das NPD-Parteiverbotsverfahren deshalb zum Anlass nehmen, die bislang in Gesetzgebung und Schrifttum vorherrschende Unsicherheit darüber, welche Merkmale diesem Begriff inhaltlich zugerechnet werden können, zu beseitigen und damit die Eingriffsvoraussetzungen für die Zukunft so weit wie möglich zu konkretisieren.

III. Die freiheitliche demokratische Grundordnung in der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG Um nachvollziehen zu können, inwieweit das BVerfG im NPD-Urteil sein Inhaltsverständnis vom Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundord19  Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 48; Gusy, AöR 105 (1980), 279; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 56 (September 2017); Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S. 59. 20  www.duden.de/rechtschreibung/Grundordnung, zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 21  Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 224. 22  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 288.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

nung neu ausgerichtet und weiterentwickelt hat, ist zunächst die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung dazu vor dem NPD-Urteil darzustellen. 1. Die Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in den Verbotsurteilen gegen SRP und KPD a) SRP-Urteil Bereits kurze Zeit nach seiner Konstituierung hatte sich das BVerfG im Rahmen des SRP-Verbotsverfahrens erstmals mit dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auseinanderzusetzen und somit die Aufgabe, diesem Begriff Konturen zu verleihen. Das BVerfG nähert sich im SRP-Urteil einer Inhaltsbestimmung des Begriffs, indem es zunächst klarstellt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung nur die „oberste[n] Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates“ umfasst. Der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes liege „die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind“. Daher sieht der Senat in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine „wertgebundene Ordnung“ und das „Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt“.23 Damit unternimmt das BVerfG neben einer kurzen allgemeinen Umschreibung und Herleitung der Grundordnung zunächst eine Negativ­ abgrenzung. Erst im Anschluss füllt das BVerfG den Begriff mit positivem Inhalt aus und definiert die freiheitliche demokratische Grundordnung als „eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt“. Und noch näher: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“24 Vor allem dieser vom BVerfG im SRP-Urteil aufgestellte und aus acht Elementen bestehende „Prinzipienkatalog“ war lange Zeit bestimmend für das Inhaltsverständnis 23  BVerfGE 24  BVerfGE

2, 1 (12). 2, 1 (12 f.).



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“155

der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der Literatur und Rechtsprechung. Dabei scheint unterzugehen, dass in demselben Urteil – in der amtlichen Entscheidungssammlung nur eine Seite weiter hinter der eben zitierten Passage – das BVerfG als „einen der wesentlichen Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zudem noch „die Bildung des Staatswillens als Ergebnis des freien politischen Kräftespiels“ ansieht.25 Hinter dieser Umschreibung verbirgt sich aber letztlich das Demokratieprinzip in Gestalt der zuvor genannten Elemente der Volkssouveränität, des Mehrparteienprinzips und der Chancengleichheit der Parteien. Das BVerfG spricht bei der eben genannten katalogartigen Aufzählung der Prinzipien ausdrücklich vom Mindestgehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, d. h. die Definition erhebt offenbar keinen Anspruch auf Vollständigkeit und lässt damit zugleich Raum für die künftige Hinzunahme weiterer Rechtsinstitute in den Katalog. Das BVerfG hat sich bei den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erkennbar, mit kleineren Abweichungen und Erweiterungen, am Inhalt der „Verfassungsgrundsätze“ im damals gültigen § 88 Abs. 2 StGB (heute § 92 Abs. 2 StGB) in der Fassung des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes von 195126 orientiert, ohne allerdings im Urteil darauf einzugehen. Die verfassungsgerichtliche Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat ihre Wurzeln demnach in den Begriffsbestimmungen des damaligen Staatsgefährdungstatbestands im politischen Strafrecht.27 b) KPD-Urteil Im KPD-Urteil von 1956 bestätigt das BVerfG seine Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unter Bezugnahme auf den im SRP-Urteil entwickelten Prinzipienkatalog. Das BVerfG habe im SRP-Urteil die „wesentlichen Elemente“ des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung „aus einer Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung in die moderne Verfassungsgeschichte“ heraus entwickelt und damit die materiellen Voraussetzungen für die Bestimmung der Verfassungswidrigkeit einer Partei ausreichend herausgearbeitet.28 Damit traten die Verfassungsrichter auch der von der KPD vorgebrachten Bestimmtheitsrüge entgegen.29 Das Gericht betont nochmals, dass zur freiheitlichen demokrati25  BVerfGE 2, 1 (14). Darauf hinweisend auch Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 104. 26  Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951, BGBl. I 1951, S. 739. 27  Dazu ausführlich Schulz, KJ 2015, 288 (289 ff.). 28  BVerfGE 5, 85 (112). 29  BVerfGE 5, 85 (111 f.).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

schen Grundordnung nur die „elementaren Verfassungsgrundsätze“ gehören, „über die sich mindestens alle Parteien einig sein müssen, wenn dieser Typus der Demokratie überhaupt sinnvoll funktionieren soll“.30 Die Ablehnung einzelner Verfassungsbestimmungen oder Institutionen des Grundgesetzes berühre deshalb noch nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung insgesamt.31 Die Literatur sieht teilweise eine Erweiterung der Definitionsformel um weitere Prinzipien an anderen Stellen des KPD-Urteils.32 Auch das BVerfG selbst geht im NPD-Urteil davon aus, dass es im KPD-Urteil den Katalog der Elemente, die Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind, gegenüber dem SRP-Urteil erweitert hat.33 Tatsächlich greift die Begründung des KPD-Urteils an verschiedenen weiteren Stellen im Zusammenhang mit bestimmten Verfassungsbestimmungen bzw. -prinzipien den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nochmals auf. So wird die Meinungsfreiheit und das daraus folgende Recht auf freie politische Betätigung vom BVerfG als eines der wichtigsten Rechtsgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angesehen.34 Ebenso wird vom Gericht erstmals ausdrücklich die Würde des Menschen als oberster Wert einer freiheitlichen Demokratie herausgestellt.35 An anderer Stelle ist vom „Parlamentarismus der freiheitlichen demokratischen Ordnung“ die Rede.36 Schließlich soll auch der Sozialstaatsgedanke Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sein, wenn das BVerfG im KPD-Urteil von der „sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaats“ spricht.37 Mit Ausnahme der Meinungsfreiheit sind die gerade erwähnten Elemente allesamt nicht in den Ausführungen zum Tatbestand des Parteiverbots zu finden, sondern verstreut im (wahrscheinlich wenig gelesenen) zweiten Abschnitt des Urteils, welcher die Darstellung der Zielsetzung und politischen Betätigung der KPD zum Gegenstand hat. Sie führen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über den genauen Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sofern sie überhaupt und dann auch nur selektiv erwähnt werden, ein 30  BVerfGE

5, 85 (141). 5, 85 (140 f.), zuvor bereits BVerfGE 2, 1 (12). 32  Vgl. Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (356); Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn. 17; Uhle, NVwZ 2017, 583 (586). 33  BVerfGE 144, 20 (204, Rn. 532): Vereinigungsfreiheit, Parlamentarismus, freie Wahlen mit regelmäßiger Wiederholung in relativ kurzen Zeitabständen, Anerkennung von Grundrechten, Menschenwürde. 34  BVerfGE 5, 85 (134 f.). 35  BVerfGE 5, 85 (204). 36  BVerfGE 5, 85 (230). 37  BVerfGE 5, 85 (198), vgl. Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (356); Klausmann, Meinungsfreiheit und Rechtsextremismus, S. 178. 31  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“157

Schattendasein gegenüber dem bekannten Prinzipienkatalog aus dem SRPUrteil. Diese weiteren Verfassungsprinzipien sind mit den im SRP-Urteil aufgeführten acht Elementen teilweise eng verknüpft. So sind etwa Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit38 notwendige Voraussetzungen für das Mehrparteienprinzip. Das Mehrparteienprinzip wiederum kann nur in einer parlamentarischen Demokratie realisiert werden und ist gleichsam sein notwendiger Bestandteil. Freie Wahlen in regelmäßigen Abständen sind Ausfluss des Grundsatzes der Volkssouveränität in einer parlamentarischen Parteiendemokratie. Der Katalog aus dem SRP-Urteil ist damit bereits im KPD-Urteil weiter ausdifferenziert worden. Indem die genannten Prinzipien aber abseits der Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstreut im gesamten Urteil zu finden sind, ist unklar, inwieweit das BVerfG diese zu den definitorischen Grundordnungsbestandteilen neben den im SRP-Urteil bereits aufgezählten Elementen machen wollte. 2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung in der weiteren Rechtsprechung des BVerfG Auch wenn das BVerfG in der Folgezeit in seinen Urteilen in verschiedenen Zusammenhängen, insbesondere im Bereich der Grundrechte, regelmäßig auf den zentralen Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zurückgegriffen und dabei jeweils auch inhaltliche Aussagen dazu getroffen hat, taucht die ursprüngliche Definition mit ihren einzelnen Ausprägungen aus dem SRP-Urteil in der späteren Rechtsprechung nicht mehr auf. Die Ausführungen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung erreichten in den Entscheidungen des BVerfG nach dem KPD-Urteil nicht mehr jene Ausführlichkeit und Qualität, die der Senat diesem Begriff noch im SRP- und KPD-Urteil gewidmet hat.39 Der Grund dafür wird in erster Linie darin zu sehen sein, dass die späteren Entscheidungen nicht im Rahmen von Parteiverbots- oder Grundrechtsverwirkungsverfahren ergangen sind, bei denen die freiheitliche demokratische Grundordnung als auszulegendes Tatbestandsmerkmal in Verfassungsnormen von Bedeutung ist. Auf den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wurde auch im sogenannten „Radikalen-Beschluss“ des BVerfG40 nicht weiter eingegangen, der die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung des Schleswig-Holsteinischen 38  BVerfGE

5, 85 (199). AöR 105 (1980), 279 (290 f.). 40  BVerfGE 39, 334. 39  Gusy,

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Landesbeamtengesetzes zum Gegenstand hatte, in der das Eintreten für die Grundordnung als Voraussetzung für die Aufnahme in das Beamtenverhältnis ein einfachgesetzliches Tatbestandsmerkmal darstellte. In anderen Entscheidungen wurde der Begriff nur als Argumentationsfigur verwendet, ohne von entscheidender Relevanz für das Urteil selbst zu sein. Und so beschränken sich, wie Gusy treffend feststellt, die Ausführungen des BVerfG zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in den weiteren Entscheidungen stets nur auf „punktuelle Einzelaussagen“ im Kontext des jeweiligen Verfahrensgegenstandes, ohne die Begriffsdefinition als Ganzes inhaltlich weiter auszuloten.41 Das „Elfes-Urteil“ knüpfte an das SRP- und KPD-Urteil an, indem die freiheitliche demokratische Grundordnung als verfassungsrechtliche Wertordnung charakterisiert und die Menschenwürde zum obersten Wert des Grundgesetzes erklärt wurde.42 Auch in einer späteren Entscheidung betonte das Gericht erneut den Zusammenhang von Menschenwürde und freiheit­ licher demokratischer Grundordnung, indem letztere sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekenne.43 Im „Lüth-Urteil“ ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung vom BVerfG als „schlechthin konstituierend“ angesehen worden44; in weiteren Entscheidungen reicherte das Gericht diese Formulierung mit den Grundrechten der Presse-, Rundfunk-, Fernseh- und Filmfreiheit45 sowie der Informationsfreiheit46 zusätzlich an. Später hat das Gericht dann allgemein von der „Freiheit der Medien“ gesprochen, welche grundlegend für die freiheitliche demokratische Grundordnung sei.47 Weiterhin bedeute die freiheitliche demokratische Grundordnung einen „freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes“ durch die Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie institutionelle und verfahrensrechtliche Vorkehrungen, wie sie etwa in der Öffentlichkeit der Verhandlungen von Bundestag und Bundesrat oder der Publizität der Rechtssetzung zum Ausdruck kommen.48 Wiederholt hat das Gericht auch die Gleichheit aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts als besonderen Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes als eine der „wesentlichen Grundlagen“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet.49 In einer neueren Entscheidung, noch vor dem NPD-Urteil, ist vom BVerfG 41  Gusy,

AöR 105 (1980), 279 (291). 6, 32 (41). 43  BVerfGE 27, 195 (201). 44  BVerfGE 7, 198 (208). 45  BVerfGE 20, 56 (97). 46  BVerfGE 77, 65 (74). 47  BVerfGE 117, 244 (258); BVerfG NJW 2015, 3430. 48  BVerfGE 44, 125 (139); 107, 339 (360). 49  BVerfGE 6, 84 (91); 11, 351 (360); 41, 399 (413). 42  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“159

schließlich die Religionsfreiheit als wesentliches Grundrecht einer freiheit­ lichen Demokratie hervorgehoben worden.50 3. Ergebnis Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehört auch außerhalb seines Anwendungsbereichs als Tatbestandsmerkmal in verfassungsschützenden Normen zum Standardrepertoire der Rechtsprechung des BVerfG. Die häufige Heranziehung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, vor allem in Grundrechtsverfahren, unterstreicht deshalb die enorme Bedeutung, die diesem Begriff innerhalb der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zukommt. Soweit es in der Rechts- und Politikwissenschaft aber um eine Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ging, konnte als Grundlage in der Rechtsprechung immer nur auf die verfassungsgerichtliche Definition im SRP-Urteil aus dem Jahr 1952 zurückgegriffen werden, welche bislang für die Interpretation und Diskussion maßgebend war. Eine zwischenzeitliche Fortentwicklung durch eine erneute inhaltliche Auseinandersetzung in der weiteren Rechtsprechung des BVerfG hat die Definition bis zum Urteil im NPD-Verbotsverfahren im Jahr 2017 nicht erfahren. Das BVerfG hat zwar auch nach dem KPD-Urteil immer wieder die Bedeutung einzelner Grundrechte für die freiheitliche demokratische Grundordnung betont, es dabei aber stets vermieden, auf seine ursprüngliche Definition einzugehen und diese ausdrücklich zu erweitern.

IV. Kritik an der bisherigen Rechtsprechung und Streitstand in der Literatur Die vom BVerfG entwickelte Formel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nebst ihren zugehörigen Elementen hat in der Literatur im Ergebnis allgemeine Akzeptanz erfahren, auch wenn sie von Teilen des Schrifttums, worauf das BVerfG im NPD-Urteil selbst hinweist, wegen „Unvollständigkeit, Beliebigkeit, Unbestimmtheit, Missbrauchsanfälligkeit und fehlender Systematik“ kritisiert worden ist.51 Den Ausgangspunkt für die Kritik bildet, wie gleich gezeigt wird, der Vorwurf einer fehlenden näheren Begründung des Gerichts für die Herleitung der Definitionsformel und gerade dieser vom BVerfG im SRP-Urteil genannten Prinzipien, welche die Kompilation der einzelnen Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung willkürlich und disponibel erscheinen lasse. Auf welchem Weg der Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung alternativ 50  BVerfGE 51  BVerfGE

137, 273 (303). 144, 20 (204 f., Rn. 534 m. w. N.).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

bestimmt werden kann und was im Einzelnen Bestandteil dieser Grundordnung sein soll, ist indes innerhalb der Literatur strittig. 1. Kritik an der Formel des BVerfG Ihre gemeinsame Basis findet die Kontroverse um den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in dem Einwand der Literatur, die vom BVerfG im SRP-Urteil konzipierte Definition dieses Begriffs sei theorielos und die Enumeration der einzelnen Prinzipien, welche die Grundordnung ausmachen, mehr oder weniger willkürlich und deshalb in der Gestalt auch nicht nachzuvollziehen.52 Ein Schwachpunkt dieser Definition liege bereits im gänzlichen Fehlen eines normativen Rahmens als Ausgangspunkt für eine vom BVerfG vorzunehmende Begriffsbestimmung. Letztlich bleibe unklar, woraus genau das BVerfG seine Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und speziell diese Aufzählung einzelner dazugehöriger Elemente ableite.53 Eine Zusammenstellung der die freiheitliche demokratische Grundordnung konstituierenden Grundprinzipien der Staatsgestaltung hätte überzeugend nur aus der Systematik des Grundgesetzes heraus vorgenommen werden können. An einer solchen Bezugnahme auf den verfassungsrecht­ lichen Rahmen des Grundgesetzes, insbesondere die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG, fehle es indes.54 Es überzeuge daher nicht, wenn das Gericht später im KPD-Urteil behauptet, den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus einer Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung in die moderne Verfassungsgeschichte heraus entwickelt zu haben.55 Gusy findet diese Aussage des BVerfG gerade auch vor dem Hintergrund der Ausführungen im früher ergangenen SRP-Urteil wenig überzeugend. Darin habe der Senat zur Inhaltsbestimmung noch die Subtraktionsmethode herangezogen, wonach die freiheitliche demokratische Grundordnung geprägt sein sollte durch ihren Gegensatz zum totalitären Staat. Zudem habe der Senat mit dem Rückgriff auf die Stellung des Menschen in der Schöpfungsordnung einen „religiös-naturrechtlichen Ansatz“ zum Ausgangs52  Vgl. zur Kritik an der Formel des BVerfG nur Gusy, AöR 105 (1980), 279 (285); Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 33; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 104 f.; Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S.  291 f.; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 37 f.; Kalla/Zimmermann, BRJ 2012, 176 (178); einschränkend van Ooyen, RuP 2017, 468 (470) mit dem Hinweis, dass der Katalog gar nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Stringenz erhebe. 53  Schulz, Die fdGO, S. 199. 54  Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 37 f.; Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 293; Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 69. 55  Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 37.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“161

punkt seiner Argumentation gemacht.56 Aufgrund dieser „Loslösung von rechtlichen Kategorien“ bleibe das BVerfG einer Begründung für die elementare Bedeutung jedes der aufgezählten Elemente für die freiheitliche demokratische Grundordnung schuldig.57 Der Prinzipienkatalog der Definitionsformel des BVerfG sieht sich im Schrifttum zudem dem Vorwurf ausgesetzt, nicht das Ergebnis einer zuvor vom Gericht unternommenen Auslegung des Grundordnungsbegriffs, sondern lediglich eine wenig reflektierte Rezeption der damals in § 88 Abs. 2 StGB58 enthaltenen „Verfassungsgrundsätze“ zu sein, was das BVerfG verschwiegen habe.59 So moniert Ridder, das BVerfG habe sich in diesem Punkt seiner Interpretationsaufgabe „mit der schlichten Übernahme einer – unsystematischen – Kompilation von gewiß sehr wichtigen, aber heterogenen Verfassungsgrundsätzen entledigt“.60 Auch könne es nicht überzeugen, wenn das BVerfG davon spricht, dass diese Verfassungsprinzipien „mindestens“ zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu rechnen seien. Dies werfe berechtigterweise die Frage auf, was neben den genannten Prinzipien noch alles zu dieser Grundordnung gehören soll und trage die Gefahr sukzessiver, missbrauchsanfälliger Definitionserweiterungen in sich.61 Kritisiert wird schließlich, dass die Formel des BVerfG den Begriff der Grundordnung nicht hinreichend bestimmt habe. Die bundesverfassungsgerichtliche Herangehensweise entspreche ihrerseits nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot, nach dem die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Eingriff in die Parteienfreiheit klar umrissen sein müssen.62 2. Der Streit um die Identität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit Art. 79 Abs. 3 GG Aufgrund der soeben in der Literatur aufgezeigten Schwächen der deskriptiv-enumerativen Begriffsbestimmung des BVerfG ist der genaue verfassungs­ 56  Gusy,

AöR 105 (1980), 279 (285). AöR 105 (1980), 279 (288); anders Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien, S. 92, mit dem Hinweis, dass das Wesen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht ohne Eingehen auf das dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenbild bestimmt werden kann, auf dem die obersten Grundwerte der Verfassung beruhen. 58  Hierzu oben sub III. 1. a). 59  Ridder, Rechtsfragen des KPD-Verbots, S. 28; Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 16; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 38; Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 292. 60  Ridder, Rechtsfragen des KPD-Verbots, S. 28. 61  Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S. 61. 62  Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 148; Hettich, Zulässigkeit verschiedener Handlungsalternativen, S. 126. 57  Gusy,

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rechtliche Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Frage, auf welchem Wege dieser bestimmt werden kann, in der Wissenschaft umstritten. Einigkeit besteht zwischen den Autoren nur hinsichtlich des gemeinsamen Ziels, den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufgrund seiner ihm vom Gesetzgeber zugewiesenen Funktion als – möglichst restriktiv auszulegendes – Tatbestandsmerkmal in Verfassungsschutzbestimmungen so weit wie nur möglich vorhersehbar und berechenbar zu machen. Im Mittelpunkt der Debatte steht dabei die Frage, ob die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem Inhalt des Art. 79 Abs. 3 GG gleichzusetzen ist. Der erste prominente Vertreter dieser Ansicht, der damit wohl auch den Anstoß für die weitere Diskussion über das Verhältnis von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 GG geliefert hat, war in den 1960er Jahren Schmitt Glaeser.63 Im Folgenden gewann die These, dass die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten und einer Grundgesetzänderung entzogenen Grundsätze auch den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmachen, immer mehr Befürworter im Schrifttum.64 Als zentrales Argument für die Identität zwischen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalten wird angeführt, dass alle in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Verfassungsgrundsätze einen freiheitlichdemokratischen Charakter haben und zu den besonders schützenswerten Grundpfeilern unserer Verfassungsordnung gehören. Es wäre somit einerseits absurd, diese für den verfassungsändernden Gesetzgeber als „tabu“ zu erklären, andererseits aber gleichzeitig Parteien zu tolerieren, welche auf eine Abschaffung dieser Prinzipien ausgehen.65 Da auch das Bundesstaats- und 63  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 46 ff.; ders. (Schmitt), DÖV 1965, 433. Vgl. aber davor bereits Leibholz, DVBl. 1951, 554 und Abendroth, ZfP 1956, 305 (310) mit ersten Andeutungen einer solchen Identität zwischen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 GG. 64  Vgl. Bulla, AöR 98 (1973), 340 (350), der allerdings unrichtigerweise davon spricht, dass dies „weitgehend unstreitig“ sei, was gerade nicht der Fall ist; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 120; Sichert, DÖV 2001, 671 (675); Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 206 f.; Höver, Parteiverbot und seine rechtlichen Folgen, S. 18 Fn. 1; Kutscha, Verfassung und streitbare Demokratie, S.  101 ff.; Schäfer, Einführung fdGO, S. 98 ff.; Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 160; Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. I, Art. 21 Rn. 121; Stern, StaatsR III/2, S. 951 (noch etwas vorsichtiger dagegen ders., StaatsR I, S. 564 f.); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 81 (6. Auflage); Thiel, in: ders., Wehrhafte Demokratie, S. 129 (136), der dies aber unzutreffend als h. M. bezeichnet; Klein, VVDStRL 37 (1979), 53 (56 ff.); Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn. 21; Wiegand-Hoffmeister, in: Dalibor (Hrsg.), Perspektiven des Öffent­ lichen Rechts, S. 415 (421). 65  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 54; ders. (Schmitt), DÖV 1965, 433 (443).



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Sozialstaatsprinzip sowie das Prinzip der Republik zu den von der Ewigkeitsklausel geschützten unantastbaren Grundsätzen gehören, seien auch diese Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Gerade das föderale Prinzip trage einen antitotalitären Charakter in sich und bezwecke, durch die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern eine zu weit gehende Machtkonzentration auf einer Ebene zu verhindern und damit totalitären Strukturen entgegenzuwirken.66 Das Sozialstaatsprinzip gewährleiste ein menschenwürdiges Existenzminimum des Einzelnen und ergänze damit die in Art. 1 Abs. 1 GG festgeschriebene Pflicht des Staates zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde um eine wirtschaftliche Komponente.67 Auch das Prinzip der Republik stelle nicht nur eine Absage an die Staatsform der Monarchie dar, sondern bilde darüber hinausgehend auch noch den Gegenentwurf zum Obrigkeitsstaat, bei dem die Herrschaft und ihre Ausübung nicht mehr auf der Freiheit und Gleichheit seiner Bürger gegründet ist.68 Schließlich spreche auch die Entstehungsgeschichte des heutigen Art. 79 Abs. 3 GG69 für eine Identität der darin aufgeführten Prinzipien mit dem Inhalt der Grundordnung. Der Parlamentarische Rat habe durch die Aufzählung in Art. 79 Abs. 3 GG die vom Herrenchiemsee-Konvent in Art. 108 HChE vorgeschlagene Formulierung „Anträge auf Änderungen des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, sind unzulässig“

ersetzt und damit zum Ausdruck gebracht, dass die änderungsfesten Verfassungsprinzipien an den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angelehnt sein sollen.70 Nach der Gegenansicht soll der Inhalt der freiheitlichen demokratischer Grundordnung nicht mit sämtlichen von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Verfassungsgrundsätzen deckungsgleich sein.71 Der Grundordnungsbegriff sei vor 66  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 52 f.; ders. (Schmitt), DÖV 1965, 433 (442). 67  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 53; ders. (Schmitt), DÖV 1965, 433 (442). 68  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 51 f.; ders. (Schmitt), DÖV 1965, 433 (441). Zum erweiterten Verständnis des Republikbegriffs vgl. auch Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 140 ff. 69  Dazu näher v. Doemming/Füsslein/Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), S. 1 (579 ff.). 70  Bulla, AöR 98 (1973), 340 (345); Kutscha, Verfassung und streitbare Demokratie, S. 101; Schulz, Die fdGO, S. 149 f. 71  Lautner, Die fdGO, S. 63; Meier, Parteiverbote und demokratische Repubik, S.  316 f.; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 94 f.; Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 91 ff.; Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S.  62 f.; Seifert, Politische Parteien, S. 458 Fn. 42; Becker, in: Isensee/ Kirchhof, HStR XII (1992), § 167 Rn. 47; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

dem Hintergrund der einschneidenden Rechtsfolgen einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit und der damit gebotenen restriktiven Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale enger zu fassen als die änderungsfesten Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG.72 Folglich positioniere sich nicht jede Partei, welche eine Änderung dieser unantastbaren Verfassungsprinzipien anstrebe, zwangsläufig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Weder die Staatsform der Republik noch der Föderalismus seien Bestandteil dieser Ordnung, da eine freiheitliche Demokratie ebenso in einer konstitutionellen Monarchie (wie etwa in Großbritannien, nach Muster der skandinavischen Länder oder der Benelux-Staaten) oder einem zentralistischen Staat (wie Frankreich) realisiert werden könne.73 Auch das Sozialstaatsprinzip sei kein zwingendes Merkmal freiheitlich-demokratischer Verfassungen.74 Die freiheitliche demokratische Grundordnung stehe demnach nur für einen bestimmten Demokratietypus und sei deshalb von dessen konkreten verfassungsrechtlichen Ausformungen im Grundgesetz, welche von der Garantie der Unantastbarkeit umfasst sind, zu unterscheiden.75 Zudem weist Maurer darauf hin, dass Adressat von Art. 79 Abs. 3 GG nur der verfassungsändernde Gesetzgeber sei, dessen Kompetenzen dadurch beschränkt werden. Für politische Parteien sei Art. 79 Abs. 3 GG deshalb auch nur im Rahmen ihrer parlamentarischen Arbeit relevant, soweit es um den Erlass verfassungsändernder Gesetze geht, nicht aber für ihre politische Betätigung darüber ­hinaus. Die freiheitliche demokratische Grundordnung als Bewegungsradius für die Ausübung politischer Freiheitsrechte müsse deshalb auch nicht mit den Grenzen der Kompetenzen staatlicher Organe identisch sein.76 Auch die Gegner der Lehre von der Identität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalten sehen sich durch die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG bestätigt und weisen darauf hin, dass dieser mit Art. 107 und Art. 108 HChE zwei Vorläuferrege(357); Denninger, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch Verfassungsrecht, § 16 Rn.  35 f.; Kalla/Zimmermann, BRJ 2012, 176 (177); Volp, NJW 2016, 459 (461). 72  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 316 f.; Seifert, Politische Parteien, S.  457 f. 73  Seifert, Politische Parteien, S. 458; Lautner, Die fdGO, S. 59 f.; Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S. 62; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340 (357); Kalla/Zimmermann, BRJ 2012, 176 (177); Volp, NJW 2016, 459 (461). 74  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 317; Laufer, in: FS Bayer. Verfassungsgerichtshof, S. 73 (87); Dreier, JZ 1994, 741 (750) mit dem Hinweis in Fn. 134, dass es absurd wäre, Anhänger einer liberalistischen Wirtschaftslehre zu Verfassungsfeinden zu stigmatisieren. 75  Lautner, Die fdGO, S. 63. 76  Maurer, AöR 96 (1971), 203 (211 f.), der aber offenlässt, ob der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG identisch ist.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“165

lungen gehabt habe, die letztlich während der Beratungen im Parlamentarischen Rat zu Art. 79 Abs. 3 GG verschmolzen wurden. Von Art. 108 HChE nicht umfasst sein sollte seinerzeit das föderale Prinzip, welches in Art. 107 HChE gesondert gegen verfassungsändernde Aushöhlungen geschützt war, ohne dieses im Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung für unantastbar zu erklären. Bereits hierin zeige sich ein Auseinanderfallen der Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG mit dem Inhalt der freiheitlichen ­demokratischen Grundordnung.77 Zudem hätte der Verfassungsgeber es in Art. 79 Abs. 3 GG von der Systematik her, wie bei den anderen Staatsschutzbestimmungen, bei der redaktionell einfacheren Bezugnahme auf die freiheitliche demokratische Grundordnung belassen können, wenn diese mit den nicht revisibelen Verfassungsprinzipien identisch sein sollte.78 Die freiheit­ liche demokratische Grundordnung sei deshalb ein „Minus“ gegenüber Art. 79 Abs. 3 GG, d. h. nicht alle änderungsfesten Verfassungsgrundsätze sollen den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmachen, umgekehrt aber deren Prinzipien als Mindeststandards für den Bestand einer freiheitlichen Demokratie an der Unantastbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG teilhaben.79 Konsens zwischen beiden Lagern dürfte aber dahingehend bestehen, dass eine Partei, deren politische Zielsetzung unter Wahrung von Art. 79 Abs. 3 GG verfassungslegitim umgesetzt werden kann, jedenfalls nicht zugleich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet und damit verfassungswidrig sein kann.80 3. Alternative Ansätze zur Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Abseits der Debatte um das Verhältnis von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und dem in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen unabänderlichen Verfassungskern gab es in der Literatur vereinzelt alternative Vorschläge zur Erfassung des Inhalts der Grundordnung. So wollen Dürig/Klein den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Anlehnung an die Ausführungen des BVerfG im SRP-Urteil auf dem „Subtraktionswege“ bestim77  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 317; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 94 f. 78  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 316  f.; Denninger, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch Verfassungsrecht, § 16 Rn. 36. 79  So Lautner, Die fdGO, S. 63 Fn. 6. 80  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 318, sieht daher Art. 79 Abs. 3 GG in jedem Fall als „äußerste Grenze“ für alle denkbaren Inhaltsbestimmungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

men. Die Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung seien geprägt durch ihren Gegensatz zum totalitären Staat und ergäben sich daraus, „was wir auf Grund unserer geschichtlichen Erfahrung mit totalitären Unrechtsregimen als politische Ordnung unbedingt nicht wollen“.81 Welche Grundsätze im Einzelnen genau das Gegenteil eines totalen Staates abbilden sollen, bleibt von Dürig/Klein unerwähnt, denn es sei mit Blick auf die Vergangenheit „unmittelbar einsichtig“, was zum Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehöre.82 Der Kritik83 an der rechtlichen Konturlosigkeit dieser rein antithetischen Definition ohne positiven Inhalt wird entgegengehalten, dass der Inhalt der Präambel des Grundgesetzes, die Achtung der Menschenwürde und die Freiheits- und Justizgrundrechte eine solche eindeutige Absage an die totalitäre Herrschaft enthielten und daher elementar für die freiheitliche demokratische Grundordnung seien.84 Als weiterer Ansatz zur Bestimmung des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung setzt Stollberg methodisch mit einer Analyse der Funktion dieses Begriffs innerhalb des Grundgesetzes an.85 Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung markiere die Grenze, bei deren Überschreiten eine verfassungsrechtlich legitimierte Betätigung in eine mittels präventiver freiheitsbeschränkender Sanktionen oder durch spezielle Gesetzesvorbehalte von der Verfassung nicht mehr hinzunehmende politische Agitation umschlage. Die freiheitliche demokratische Grundordnung diene somit der Sicherung des demokratischen Verfahrensprinzips, indem eine gegen das demokratische Prinzip gerichtete und somit funktionswidrige politische Betätigung aus dem demokratischen Willensbildungsprozess herauszuhalten sei.86 In den Schutzbereich der freiheitlichen demokratischen Grundordnung seien folglich nur solche verfassungsrechtlichen Institute einzubeziehen, die notwendige Bedingungen oder Voraussetzungen für den Bestand des demokratischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozesses sind, die 81  Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 58 (September 2017); zustimmend Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S. 63 f.; Hettich, Zulässigkeit verschiedener Handlungsalternativen, S. 126. 82  Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 60 (September 2017). 83  Vgl. Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 111  f. Nach Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 64, bildet die Gegenposition zum Totalitarismus nur den psychologisch-historischen Hintergrund für die Entstehung des Grundgesetzes und die Aufnahme der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, kann aber nicht maßgebend für die Begriffsbestimmung sein. 84  Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, S. 63 f. 85  Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 38 ff.; ihm folgend Alter, Eingriffsschwelle, S. 26 f., der aber einschränkend auf die Funktion der Parteien im Demokratiemodell des Grundgesetzes abstellt. 86  Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S.  39  f.; zustimmend Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 148.



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“167

da wären: die Meinungs- und Informationsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, der Grundsatz der allgemeinen, freien und gleichen Wahlen in periodischen Abständen, das Prinzip des Mehrheitsbeschlusses, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Chancengleichheit aller demokratischer Parteien sowie das Rechtsstaatsprinzip in Gestalt der Gewährleistung eines umfassenden Rechtsschutzes, dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit sowie der Grundsätze des Vorrangs und Vorbehalts des Gesetzes und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.87 Im ­Gegensatz zum Mindestkatalog des BVerfG im SRP-Urteil sollen die von Stollberg genannten Elemente den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abschließend umreißen.88

V. Die freiheitliche demokratische Grundordnung im NPD-Urteil des BVerfG Angesichts der soeben durch die Literatur aufgezeigten Begründungsdefizite der Definitionsformel aus dem SRP-Urteil und der fortwährenden Diskussion über das Verhältnis zwischen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und den durch die Ewigkeitsklausel geschützten, unabänderbaren Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG prognostizierte bereits Meier in seiner Dissertation aus dem Jahr 1992, „daß man in Karlsruhe mit der vorliegenden Definitionsformel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung […] künftige Verbotsverfahren nicht wird bestreiten können“.89 Nachfolgend werden zunächst die Ausführungen des BVerfG zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im NPD-Urteil nachgezeichnet. Danach soll untersucht werden, ob die vorgenommene Interpretation im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung des BVerfG tatsächlich signifikante Änderungen oder Neuerungen beinhaltet und damit von einem neuen Verständnis dieses verfassungsrechtlichen Grundbegriffs gesprochen werden kann. 1. Das bundesverfassungsgerichtliche Begriffsverständnis a) Überblick Auf den ersten Blick fällt bereits auf, dass die Ausführungen des BVerfG zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im NPD-Urteil deutlich mehr Raum einnehmen als noch in den Urteilen zum SRP- und KPD-Verbot. Das Gericht musste auf die anhaltende Diskussion über den genauen Inhalt 87  Stollberg,

Grundlagen des Parteiverbots, S. 40 ff. Grundlagen des Parteiverbots, S. 43. 89  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 294. 88  Stollberg,

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der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der staatsrechtlichen Literatur reagieren und konnte es nicht einfach mit einem Verweis auf die einschlägigen Passagen aus den beiden früheren Verbotsurteilen belassen. Gleichwohl greift der Senat zu Beginn seiner Auslegung die zentralen Aussagen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus dem SRPUrteil nochmals auf, die für das bisherige Verständnis dieses Begriffs maßgebend waren und nach wie vor die Grundlage für den „neuen“ Teil seiner Interpretation bilden: die freiheitliche demokratische Grundordnung als wertgebundene Ordnung und Gegenentwurf zum totalitären Staat, die Beschränkung dieser Ordnung auf die obersten Grundwerte des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates sowie die Konkretisierung dieser Definition durch die Zuordnung acht elementarer Prinzipien zu dieser Ordnung.90 Dem schließt sich eine kurze Zusammenfassung weiterer im KPD-Urteil und der Folgerechtsprechung des BVerfG im Zusammenhang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung genannten Elemente aus dem Grundgesetz an.91 Den kurzen Rückblick auf die bisherige Rechtsprechung schließt das BVerfG mit dem lapidaren Hinweis in Richtung der kritischen Literaturstimmen ab, dass die Literatur bei ihrer Kritik an der bisherigen Definitionsformel die Unterscheidung zwischen den Kernelementen einerseits und den sich daraus ergebenden fallbezogenen Ableitungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung andererseits verkannt habe.92 Im Folgenden legt der Senat seine aktuelle Konzeption der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dar, welche das aus den 1950er Jahren stammende, noch etwas konturlose Inhaltsverständnis dieses verfassungsrechtlichen Grundbegriffs für die Zukunft präzisieren soll. Die freiheitliche demokratische Grundordnung umfasst danach nur die für den freiheitlichen Verfassungsstaat unverzichtbaren Grundprinzipien und soll insbesondere restriktiver zu fassen sein als die in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen, revisionsfesten Verfassungsgrundsätze. Ausgehend von der Garantie der Menschenwürde, die im Mittelpunkt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehe, bilden daneben die mit der Menschenwürde „verschränkt[en] und sich gegenseitig bedingen[den]“93 Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat die weiteren konstitutiven Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.94

90  BVerfGE

144, 20 (203 f., Rn. 530 f.). 144, 20 (204, Rn. 532 f.). 92  BVerfGE 144, 20 (204 f., Rn. 534). 93  BVerfGE 144, 20 (213, Rn. 556). 94  Vgl. auch die (ausführlichere) Zusammenfassung im 3. Leitsatz, BVerfGE 144, 20 f. (Ls. 3). 91  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“169

b) „Reduzierter Ansatz“ wegen Ausnahmecharakter des Parteiverbots Das BVerfG betont gleich zu Beginn seines neuen Grundordnungsverständnisses, dass der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine „Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien“ erforderlich mache, „die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“. Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang von einem „reduzierte[n] Ansatz“, der als Folge des vom BVerfG zuvor postulierten Grundsatzes restriktiver Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Verbotstatbestandes geboten erscheint und dem Ausnahmecharakter der Norm Rechnung tragen soll. Insbesondere das kritische Hinterfragen einzelner Elemente der Verfassung muss möglich sein, ohne dass dies sogleich ein Parteiverbot nach sich zieht. Der Ausschluss aus dem Prozess der politischen Willensbildung könne erst dann in Betracht gezogen werden, „wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jedes Streits stehen muss“.95 c) Keine Identität mit Art. 79 Abs. 3 GG Die Bestimmung der den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung konstituierenden Grundprinzipien kann nach Ansicht des BVerfG nicht durch Rückgriff auf den in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen änderungsfesten Kern des Grundgesetzes erreicht werden. Zur Begründung führt der Senat das bereits in der Literatur, dort aber sowohl von Befürwortern als auch Gegnern einer Identität mit Art. 79 Abs. 3 GG genannte Argument des entstehungsgeschichtlichen Wortlauts von Art. 79 Abs. 3 GG an. Im Unterschied zur Vorläuferregelung in Art. 108 HChE verzichte die geltende Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG auf eine Erwähnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.96 Daraus folge nach Ansicht des BVerfG: „Der Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG geht über den für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Mindestgehalt hinaus. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählen insbesondere nicht die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Prinzipien der Republik und des Bundesstaats, da auch konstitutionelle Monarchien und Zentralstaaten dem Leitbild einer freiheitlichen Demokratie entsprechen können […]. Daher ist der Regelungsgehalt des Schutzguts ‚freiheitliche demokratische Grundordnung‘ in Art. 21 Abs. 2 GG – ungeachtet inhaltlicher Überschneidungen – eigenständig und unabhängig vom Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG zu bestimmen.“97 95  BVerfGE

144, 20 (205, Rn. 535). 144, 20 (205 f., Rn. 536). 97  BVerfGE 144, 20 (206, Rn. 537). 96  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

d) „Drei-Elemente-Lehre“ des BVerfG Zu den drei Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählt das BVerfG die Garantie der Menschenwürde, das Demokratieund das Rechtstaatsprinzip. aa) Menschenwürde Das BVerfG hebt die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG ausdrücklich als Fundament der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hervor. Die Menschenwürde sei in der Rechtsprechung des BVerfG als oberster Wert des Grundgesetzes anerkannt und deren Achtung und Schutz die zentrale Aufgabe des Staates und seiner Rechtsordnung.98 Die Garantie der Menschenwürde umfasse insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit eines jeden Menschen, der sein Schicksal selbstbestimmt und frei gestalten könne.99 Nach der vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung verwendeten sog. „Objektformel“ liege ein Eingriff in die Menschenwürde immer dann vor, wenn der Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns degradiert werde und seine Subjektqualität sowie der daraus folgende Wert- und Achtungs­ anspruch grundsätzlich in Frage gestellt werden.100 Dies sei insbesondere bei politischen Konzepten der Fall, die auf den unbedingten Vorrang eines Kollektivs gegenüber dem einzelnen Menschen gerichtet sind und die eine Unterwerfung einer Person unter ein solches Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion fordern. Ebenso stellen – erkennbar zugeschnitten auf die spätere Subsumtion in Sachen NPD – antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte, welche für bestimmte Gruppen von Menschen einen rechtlich abgewerteten Status oder eine demütigende Ungleichbehandlung vorsehen, eine Verletzung der Menschenwürde dar und seien mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.101 bb) Demokratieprinzip Zu Beginn seiner Darstellung des Demokratieprinzips als dem zweiten konstitutiven Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schlägt der Senat die Brücke von der Menschenwürde hin zur Herrschaftsform der Demokratie. Die Demokratie als die Herrschaft der Freien und 98  BVerfGE

144, 20 (206, Rn. 538). 144, 20 (207, Rn. 539). 100  BVerfGE 144, 20 (207, Rn. 540). 101  BVerfGE 144, 20 (207 f., Rn. 541). 99  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“171

Gleichen gründe auf der Idee der freien Selbstbestimmung der Bürger, welche im Eigenwert und der Würde jedes Menschen wurzele und als menschenrechtlicher Kern des Demokratieprinzips im Recht der Bürger, durch Abhaltung freier und gleicher Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt zu bestimmen, im Grundgesetz zum Ausdruck komme.102 Das BVerfG macht deutlich, dass nicht alle grundgesetzlichen Konkretisierungen und Ausformungen des Demokratieprinzips zu den essentiellen Bestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören sollen. Grundlegend für ein demokratisches System seien zunächst die Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe aller Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk.103 Daneben erfordere der Grundsatz der Volkssouveränität, dass die Staatsgewalt keine andere Legitimationsquelle haben dürfe als den Willen des Volkes. Im Falle einer parlamentarischen bzw. repräsentativen Demokratie, wie es auch das Grundgesetz vorsieht, bedarf es daher einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk hin zu den staatlichen Organen und Amtswaltern.104 Für die Frage der Vereinbarkeit eines politischen Konzeptes mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei nur dieser indisponible Kerngehalt des Demokratieprinzips entscheidend. Wie diese Anforderungen im Einzelnen umgesetzt werden und welche nähere Ausgestaltung das demokratische System verfassungsrechtlich erfährt, ist aus Sicht des BVerfG demgegenüber nachrangig.105 Sowohl auf die konkreten Instrumente zur Sicherung der Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses – hier werden vom BVerfG das Mehrparteiensystem, die Chancengleichheit der Parteien und das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition genannt, die im SRP-Urteil noch ausdrücklich zu den Mindestbestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grund gezählt wurden – als auch auf die Instrumente zur Sicherung des hinreichenden Legitimationszusammenhangs wie der Parlamentarismus, der im SRP-Urteil genannte Grundsatz der Verantwortlichkeit der Regierung oder die Gesetzes- und Weisungsgebundenheit der Verwaltung komme es nicht an. Maßgeblich seien nur die grundsätzliche Beachtung der Freiheit und Gleichheit des politischen Willensbildungsprozesses sowie des Grundsatzes der Volkssouveränität.106 Allein in der Ablehnung des Parlamentarismus und damit zugleich auch der Parteiendemokratie sei deshalb keine Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu sehen, wenn stattdessen eine plebiszitäre Demokratie angestrebt werde.107 Nicht 102  BVerfGE 103  BVerfGE 104  BVerfGE 105  BVerfGE 106  BVerfGE 107  BVerfGE

144, 144, 144, 144, 144, 144,

20 20 20 20 20 20

(208, Rn. 542). (208 f., Rn. 543 f.). (209, Rn. 545). (208 f., Rn. 543). (209 f., Rn. 544 f.). (209, Rn. 543).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

vereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei demgegenüber eine Verächtlichmachung des Parlamentarismus ohne gleichzeitiges Aufzeigen einer Alternative, die dem Grundsatz der Volkssouveränität und der Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses Rechnung trage.108 cc) Rechtsstaatsprinzip Als drittes Wesenselement der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nennt das BVerfG den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Auch an dieser Stelle stellt der Senat, wenn auch nicht ausdrücklich, die Verbindung zur Würde des Menschen her, indem er die Notwendigkeit der Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt als Voraussetzung für die Gewährleistung individueller Freiheit des Einzelnen betont.109 Wie das Demokratieprinzip habe auch das Rechtsstaatsprinzip im Grundgesetz normativ eine Vielzahl konkreter Ausformungen erhalten, die im Einzelnen aber nicht jede für sich originäre Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung seien. Als für die freiheitliche demokratische Grundordnung maßgebend sieht das BVerfG die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, die Kontrolle dieser Bindung durch eine unabhängige Justiz sowie das Gewaltmonopol des Staates an, welches die Ausübung physischer Gewalt den zuständigen staatlichen Organen vorbehält.110 Nicht vereinbar mit der Grundordnung ist deshalb ein politisches Programm, das der Staatsgewalt willkürliche Befugnisse ohne oder außerhalb einer normativen Ermächtigungsgrundlage einräumt, in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung eingreift oder die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung seiner Forderungen propagiert. 2. Kritik Die im NPD-Urteil vorgenommene Interpretation der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das BVerfG ist in der Literatur mit überwiegend positiver Resonanz aufgenommen worden. Das Schrifttum sieht in den Ausführungen des BVerfG fast durchgehend ein neu entwickeltes Verständnis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, welches in der Reduzierung der ursprünglich entwicklungsoffenen Enumerativdefinition auf nunmehr wenige, zentrale Grundprinzipien eines freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates zum Ausdruck komme und dem Begriff damit eine nähere 108  BVerfGE

144, 20 (210, Rn. 546). 144, 20 (210, Rn. 547). 110  BVerfGE 144, 20 (210, Rn. 547). 109  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“173

Konturierung verleihe.111 Was die Bewertung der verfassungspolitischen Dimension dieser Neuorientierung angeht, reichen die Stimmen aber von einer „behutsame[n] Reduzierung der fdGO-Elemente“112 bis hin zur „radikale[n] Kehrtwende und Rückbesinnung auf den Kerngehalt des demokratischen Verfassungsstaats“.113 a) Die Bedeutung des reduzierten Ansatzes Bevor das BVerfG im Einzelnen auf die Kernelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eingeht, nimmt es für sich in Anspruch, bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals einen „reduzierte[n] Ansatz“ verfolgt zu haben.114 Das Wort „reduziert“ kann in diesem Zusammenhang entweder, bezogen auf den materiellen Gehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und ausgehend vom Katalog der Grundordnungselemente im SRP-Urteil, im Sinne von „verringert“ bzw. „verschlankt“ oder als „vereinfacht“ in Bezug auf die Methodik der Begriffsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstanden werden, möglicherweise auch als beides. Die gewählte Formulierung impliziert zudem eine bisher extensivere Auslegung durch das BVerfG. Der Senat möchte damit gleich zu Beginn seiner Ausführungen zum Grundordnungsverständnis die Botschaft aussenden, dass es künftig keine inhaltlich immer weiter ausufernde Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mehr geben und stattdessen ein minimalistischer Ansatz für die künftige Auslegung dieses verfassungsrechtlichen Grundbegriffs maßgebend sein soll. Dieser proklamierte enge Interpretationsansatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist im Grunde nicht neu, sondern wurde vom BVerfG in ähnlicher Diktion bereits in den früheren Verbotsurteilen gefordert. Im SRP-Urteil sprach das BVerfG von den „obersten Grundwerten des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates“115, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung bilden; im KPD-Urteil waren es die „elementaren Verfassungsgrundätze, die die Verfassungsordnung zu einer freiheitlichen 111  Vgl. Warg, NVwZ-Beilage 2017, 42 (43); Uhle, NVwZ 2017, 583 (586 f.); Kingreen, Jura 2017, 499 (501 f.); Kluth, ZParl 2017, 676 (685); Thrun, DÖV 2019, 65 (69); a. A. dagegen Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 145 (171 f.), die als Vertreter eines radikal-liberaldemokratischen Ansatzes den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als sekundär ansehen und der Existenz einer vom BVerfG zu interpretierenden Grundordnung als solcher bereits insgesamt kritisch gegenüberstehen (BVerfG als „Instanz von Politikkontrolle“ und „Karlsruher fdGO-TÜV“). 112  Warg, NVwZ-Beilage 2017, 42. 113  Kluth, ZParl 2017, 676 (680). 114  BVerfGE 144, 20 (205, Rn. 535). 115  BVerfGE 2, 1 (12).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

demokratischen machen“.116 Schon damals stellte das BVerfG klar, dass die Ablehnung einzelner Vorschriften oder gar Institutionen der Verfassung für ein Parteiverbot nicht ausreichend sei, sondern vielmehr Grundwerte in Frage gestellt werden müssten, über die für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie Konsens zwischen den Parteien bestehen müsse.117 Nichts anderes sagt das BVerfG, wenn es nun im NPD-Urteil davon spricht, dass ein Parteiverbot erst dann ausgelöst werden kann, „wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jeden Streits stehen muss“.118 Der Gleichlauf der soeben zitierten Aussagen aus den früheren Urteilen und dem jüngsten NPD-Urteil zeigt ­zunächst die Kontinuität des bundesverfassungsgerichtlichen Grundverständnisses bzw. Interpretationsansatzes von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in den 1950er Jahren und heute. Nur die Essentialia im Sinne eines „unverzichtbaren Mindestgehalt[s]“119 eines freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates sollen zu den Bestandteilen dieser Grundordnung zählen, nicht die verfassungsmäßige Ordnung insgesamt. Diese Essentialia bezeichnet der Senat im neuen NPD-Urteil synonym als „Kernelemente“120, „Grundprinzipien“121 oder „Wesenselemente“122 der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der reduzierte Interpretationsansatz des BVerfG bei der Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stellt bis hierher also zunächst keine wirkliche Neuerung bzw. Weiterentwicklung gegenüber dem SRP- und KPD-Urteil dar. Das BVerfG bleibt seiner bisherigen Rechtsprechungslinie treu, den Begriff der Grundordnung auf die fundamentalen Grundprinzipien eines freiheitlichen Verfassungsstaates zu begrenzen.123 Davon geht auch das BVerfG selbst aus, wenn es im NPD-Urteil heißt: „Im SRP-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt, dass eine Partei nur aus dem politischen Leben ausgeschaltet werden darf, wenn sie die obersten Grund116  BVerfGE

5, 85 (141). 5, 85 (141 f.). 118  BVerfGE 144, 20 (205, Rn. 535); diese Formulierung sehen Leggewie/Lichdi/ Meier, RuP 2017, 145 (172) in Kosequenz ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Existenz einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung als „hochproblematisch“ an, da es in einer demokratischen Gesellschaft keinen Bereich des Indiskutablen geben dürfe. 119  BVerfGE 144, 20 (206, Rn. 537). 120  BVerfGE 144, 20 (205, Rn. 534). 121  BVerfGE 144, 20 (205, Rn. 535). 122  BVerfGE 144, 20 (213, Rn. 556). 123  Vgl. Schulz, Die fdGO, S. 226; Jacob, jM 2017, 110 (112); Krüper, ZJS 2017, 365 (367). 117  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“175

sätze der freiheitlichen Demokratie ablehnt […].“124 An dieser Stelle ist freilich noch nichts darüber gesagt, was zu diesen Grundprinzipien im Detail zu rechnen ist. Auch hinsichtlich der Begründung des engen Grundordnungsverständnisses im NPD-Urteil sind Parallelen zu den bundesverfassungsgerichtlichen Ausführungen im SRP-Urteil deutlich erkennbar. Der reduzierte Ansatz wird als Konsequenz aus der vom Senat zuvor vorgenommenen Einordnung des Parteiverbots als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ im bundesrepublikanischen Verfassungsgefüge und dem damit verbundenen Gebot restriktiver Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale hergeleitet, das dem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Parteienfreiheit und dem Parteiverbot Rechnung tragen soll.125 Bereits im SRP-Urteil waren der Grundsatz der freien Gründung von Parteien sowie die besondere Bedeutung der Parteien im demokratischen Staat einerseits und die Rechtfertigungsbedürftigkeit eines Parteiverbots andererseits vom BVerfG zu leitenden Gesichtspunkten für die Bestimmung des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erklärt worden, auch wenn die dortigen Ausführungen hinter der im NPD-Urteil vorgenommenen systematischen Einordnung des Parteiverbots und den daraus abzuleitenden Konsequenzen für seine Interpretation zurückbleiben.126 b) Vergleich der zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugehörigen Elemente im SRP- und NPD-Urteil Kommt der reduzierte Ansatz noch nicht im allgemeinen Grundordnungsverständnis des BVerfG zum Ausdruck, welches sich wie gerade gezeigt nicht von jenem aus den alten Verbotsurteilen unterscheidet, so dampft der Zweite Senat doch auf den ersten Blick inhaltlich die katalogartige Aufzählung aus dem SRP-Urteil ein, indem er zu den obersten Grundwerten eines freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates konkret „nur“ noch die Menschenwürde, das Demokratieprinzip sowie den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zählt. Aus den im SRP-Urteil genannten und immer wieder gebetsmühlenartig zitierten ursprünglichen acht Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung127 sind nunmehr drei geworden, und der Inhalt dieser Grundordnung scheint damit auf den ersten Blick tatsächlich verschlankt worden zu sein. 124  BVerfGE

144, 20 (203, Rn. 530) – Hervorhebung durch Verfasser. 144, 20 (200, Rn. 524). 126  Vgl. BVerfGE 2, 1 (11 f.). 127  Die Erweiterungen im KPD-Urteil und späteren Entscheidungen des BVerfG werden an dieser Stelle außen vor gelassen. 125  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

aa) Die Unterscheidung zwischen Grundprinzip und Ableitung Mit Blick auf den nun ausdrücklich erklärten reduzierten Ansatz etwas widersprüchlich ist allerdings die bereits zuvor an die kritischen Literaturstimmen gerichtete Botschaft des Zweiten Senats, dass die Literatur bei ihrer Kritik an der früheren mit der Grundordnungsformel verbundenen Aufzählung einzelner Rechtsinstitute die Unterscheidung zwischen deren „Kernelementen […] und den sich daraus ergebenden (fallbezogenen) Ableitungen“ verkannt habe.128 Mit „(fallbezogenen) Ableitungen“ meint das BVerfG offensichtlich die einzelnen Bestandteile des Prinzipienkatalogs im SRP-Urteil sowie die im Zusammenhang mit der Grundordnung vereinzelt im KPD-Urteil und späteren Entscheidungen herausgearbeiteten weiteren Verfassungselemente. Das BVerfG stellt nunmehr klar, dass diese Prinzipien allesamt keine originären Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind, sondern nur grundgesetzliche Ausprägungen dieser Kernbestandteile darstellen, die aus dem jeweiligen Kontext der Entscheidung heraus entwickelt wurden. Daher ist nicht jedes der in der älteren Rechtsprechung genannten Elemente für sich konstituierend für die freiheitliche demokratische Grundordnung.129 Das BVerfG verteidigt sich gegen die Kritik des Schrifttums an der Beliebigkeit und Uferlosigkeit der bisherigen Grundordnungskonzeption also letztlich mit dem Argument, dass der Regelungsgehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schon immer auf die drei Prinzipien Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat beschränkt war und die Literatur die bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Ausführungen zum Inhalt der Grundordnung schlicht falsch interpretiert – oder man könnte sogar sagen: missverstanden – habe, indem sie nicht zwischen Grundprinzip und Ableitung differenziert habe. Diesen Vorwurf muss sich dann aber nicht nur die Literatur, sondern auch der einfache Gesetzgeber gefallen lassen, hat er die Kompilation der im SRP-Urteil erwähnten Verfassungselemente doch fast identisch als Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in § 4 Abs. 2 BVerfSchG übernommen. Der Senat selbst scheint an der Stelle also den Eindruck erwecken zu wollen, als wären seine Ausführungen zum Inhaltsverständnis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im jüngsten NPD-Urteil im Grunde gar keine Neuerung gegenüber seinen Verbotsurteilen aus den 1950er Jahren, sondern lediglich eine aufgrund der Irritationen in der Literatur notwendigerweise vorgenommene Klarstellung. Dies ist nicht kompatibel mit dem, was bereits in der darauffolgenden Randnummer des NPD-Urteils folgt. Dort nimmt der Zweite Senat für sich in Anspruch, bei der Interpretation der freiheitlichen demokratischen Grundord128  BVerfGE 129  Warg,

144, 20 (205, Rn. 534). NVwZ-Beilage 2017, 42 (43).



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“177

nung einen reduzierten Ansatz verfolgt zu haben. Wenn es sich doch bei den in der bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Grundordnung genannten Elementen von Anfang an lediglich um fallbezogene Ableitungen ihrer drei konstituierenden Wesenselemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat gehandelt haben soll, stellt sich die Frage, worin eigentlich noch genau der reduzierte Ansatz liegen soll, wenn nunmehr eben jene drei Wesenselemente als Gehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifiziert werden. Zudem ist unklar, warum das BVerfG nicht schon in seinen vergangenen Entscheidungen deutlicher zwischen den für einen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Kernelementen und den sich daraus ergebenden Ableitungen differenziert hat. Soweit der Zweite Senat nun kritisiert, die Literatur habe bislang diesen Unterschied verkannt, ist dem entgegenzuhalten, dass aus den früheren Verbotsurteilen, insbesondere dem SRP-Urteil, eine solche Unterscheidung ausdrücklich nicht hervorgeht. Im Urteil zum Verbot der SRP heißt es unmittelbar vor der Aufzählung der einzelnen Rechtsinstitute sogar: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: […].“130 Was das BVerfG nun im NPD-Urteil als fallbezogene Ableitungen bezeichnet, hatte es damals selbst noch als (Mindest-)Kerngehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angesehen. Die neue Lesart des Senats, nach der es sich bei den ursprünglich aufgezählten Rechtsinstituten nicht um originäre Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehandelt haben soll, kann auch deshalb nicht überzeugen, weil dies im Ergebnis bedeuten würde, dass das BVerfG bislang stets nur fallbezogene Ausprägungen der Grundordnung herausgearbeitet hat, ohne auf ihre kon­ stituierenden Grundelemente einzugehen. Die Begriffe „Grundsatz“ oder „Grundprinzip“ suggerieren nicht nur im juristischen Sprachgebrauch Oberbegriffe, die von ihren „Konkretisierungen“, „Ausgestaltungen“, „Ausprägungen“ oder „Ableitungen“ zu unterscheiden sind. Eine fallbezogene Konkretisierung oder Ausprägung eines Grundprinzips kann somit methodisch nur sinnvollerweise herausgearbeitet werden, wenn zuvor das Grundprinzip selbst benannt und definiert wurde. Insgesamt können die eben behandelten Ausführungen des BVerfG im NPD-Urteil somit nicht ganz überzeugen. Der Senat entwertet damit insbesondere schon im Vorhinein selbst den für sich in Anspruch genommenen reduzierten Ansatz im Rahmen der Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.131 130  BVerfGE

2, 1 (13) – Hervorhebung durch Verfasser. auch das Interview mit dem an der Entscheidung beteiligten Verfassungsrichter Peter Müller vom 24.02.2017 auf https://verfassungsblog.de/jeder-der-versu chen-wuerde-das-bundesverfassungsgericht-auszuhebeln-wuerde-sich-verheben/ (zuletzt abgerufen am 30.04.2021), nach dem der 60 Jahre alte Maßstab für die Verfas131  Vgl.

178

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

bb) Gegenüberstellung der Definitionen aus SRP- und NPD-Urteil Inwieweit sich das aktuelle Grundordnungsverständnis des BVerfG von der ursprünglichen Formel aus dem SRP-Urteil unterscheidet, kann nur durch einen Vergleich der damals und heute zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechneten Prinzipien untersucht werden. Nach der Definition des BVerfG im SRP-Urteil ist die freiheitliche demokratische Grundordnung eine Ordnung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt“.132 Diese Formel beinhaltet damit bereits in verkürzter Form die heute vom BVerfG als Kerngehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifizierten drei sich überschneidenden Elemente: das Rechtsstaatsprinzip (rechtsstaatliche Herrschaftsordnung unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft), das Demokratieprinzip (Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit; Freiheit und Gleichheit) und schließlich auch die darin jeweils verbürgte Menschenwürde (Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit).133 Die Menschenwürde kommt weiterhin dort zum Ausdruck, wo das BVerfG vom Wert des Einzelnen spricht, der ihm nach der Schöpfungsordnung zukomme.134 Der sich anschließende, in der Wissenschaft deutlich mehr Beachtung findende Prinzipienkatalog sollte diese noch sehr allgemein und etwas diffus gehaltene Formel näher konkretisieren. Die dort aufgeführten Elemente stellen grundgesetzliche Ausprägungen der Oberbegriffe Demokratie- und ­ Rechtsstaatsprinzip dar, wobei das BVerfG diesen Katalog ausdrücklich als nicht abschließend angesehen hat. Unter dem Dach des Demokratieprinzips können die Volkssouveränität, die Verantwortlichkeit der Regierung, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition zusammengefasst werden. Dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnen sind der Grundsatz der Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie die Unabhängigkeit der Gerichte. Auch die in der Formulierung abstrakt gehaltene „Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“ läuft auf die Verfassungs- bzw. Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt sungswidrigkeit von Parteien nur „in einem Punkt angepasst“ wurde – gemeint ist damit die Potentialität im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“. 132  BVerfGE 2, 1 (12 f.). 133  Ähnlich bereits Höver, Parteiverbot und seine rechtlichen Folgen, S. 19 und Kalla/Zimmermann, BRJ 2012, 176 (177), die in der Formel einen Verweis auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sehen. 134  Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 40; Laufer, in: FS Bayer. Verfassungsgerichtshof, S. 73 (85).



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“179

hinaus (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) und kann als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips eingeordnet werden. Dabei hebt das BVerfG explizit das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung hervor. Die Formulierung macht deutlich, dass jedenfalls nicht alle Grundrechte des Grundgesetzes darunter fallen sollen, sondern nur solche mit einem überpositiven und vorkonstitutionellen Menschenrechtscharakter.135 Dabei dürfte es weniger darauf ankommen, ob nach der grundgesetzlichen Ausgestaltung in den persönlichen Schutzbereich des jeweiligen Grundrechtes nur Deutsche fallen oder jedermann Grundrechtsberechtigter ist.136 Umfasst sind alle subjektiven Rechte des Einzelnen auf Respektierung seiner individuellen Rechtsgüter wie Leben, Freiheit, Eigentum oder körperliche Unversehrtheit.137 Auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und das damit einhergehende Verbot der diskriminierenden Ungleichbehandlung bestimmter Menschen gehört zu den überpositiven Menschenrechten.138 Voraussetzung und gleichsam Ausgangspunkt für die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit ist die Anerkennung der Menschenwürde als unantastbarer Wert eines jeden Menschen, die er weder verwirken noch verlieren kann und die ihm auch nicht von anderen Menschen oder staatlicher Seite abgesprochen werden kann.139 Die „Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“ beinhaltet daher auch und vor allem den Schutz der Menschenwürde des Einzelnen, die das BVerfG anschließend im KPD-Urteil mit Blick auf die freiheitliche demokratische Grundordnung als obersten Wert herausgestellt hat.140 Zu den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten können auch die im KPD-Urteil und den späteren Entscheidungen des BVerfG im Zusammenhang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung genannten Grundrechte, insbesondere also die politischen Kommunikationsfreiheiten, gezählt werden.141 Danach ist festzuhalten, dass Menschenwürde, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip vom BVerfG bereits im SRP-Urteil zu den Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gezählt wurden, auch wenn sie nicht explizit als deren Wesensmerkmale herausgestellt wurden. Überdies hat das BVerfG dort die Würde des Menschen als Ausgangspunkt der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung angesehen, wobei dieser Aspekt in der Gesamtschau der damaligen Ausführungen zur Grundordnung etwas unter135  Lautner,

Die fdGO, S. 35 f. bei den Staatsbürgerrechten (etwa Art. 8 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG) für Ausländer jeweils der subsidiäre Grundrechtsschutz über Art. 2 Abs. 1 GG greift. 137  Lautner. Die fdGO, S. 22 ff. 138  Vgl. BVerfGE 1, 208 (233); 23, 98 (106 f.). 139  Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 39 f. 140  BVerfGE 5, 85 (204). 141  Vgl. oben sub III. 1. b) und sub III. 2. 136  Zumal

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

geht und von der Literatur teilweise als willkürliche Herleitung kritisiert wurde.142 Vergleicht man den Prinzipienkatalog aus dem SRP-Urteil mit den nach heutigem Verständnis des BVerfG zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählenden Gewährleistungen, so werden die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten (mit Ausnahme der Menschenwürde), die Verantwortlichkeit der Regierung, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition im NPD-Urteil nicht mehr als Grundordnungsbestandteile angeführt. Dagegen zählen damals wie heute die Volkssouveränität und die Unabhängigkeit der Gerichte zu den konstituierenden Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wobei das BVerfG diese beiden Elemente im NPD-Urteil als von der Grundordnung umfassten Gewährleistungsgehalt des Demokratie- bzw. Rechtsstaatsprinzips besonders herausstellt. Die im SRP-Urteil genannte Gewaltenteilung wird im NPD-Urteil unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips zwar nicht ausdrücklich als unverzichtbarer Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung genannt, ist aber dennoch implizit miteinbegriffen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verlangt im Kern eine Verteilung der hoheitlichen Funktionen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auf verschiedene staatliche Organe und Institutionen sowie eine effektive gegenseitige Kontrolle derselben.143 Er hat die Beseitigung von staatlicher Willkür und Machtmissbrauch durch den Staat zum Zweck und dient somit dem Schutz der individuellen Freiheit und Menschenwürde des Einzelnen.144 Wenn für die Grundordnung die Kontrolle der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt durch unabhängige Gerichte bestimmend sein soll145, setzt dies den Grundsatz der Gewaltenteilung zwingend voraus.146 Auch der im SRP-Urteil zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung gerechnete Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung findet als solcher allein keine Erwähnung im NPD-Urteil, stellt aber – neben der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz – ein Element der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG dar und ist somit weiterhin konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Neu zählt das BVerfG dagegen das Gewaltmonopol des Staates als weitere Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit zum Inhalt der Grundordnung. 142  Vgl.

oben sub IV. 1. in: ders., GG, Art. 20 Rn. 81. 144  Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 197. 145  BVerfGE 144, 20 (210, Rn. 547). 146  Thrun, DÖV 2019, 65 (71). 143  Sachs,



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“181

Auch die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilnahme am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk finden sich nicht im Prinzipienkatalog des SRP-Urteils. Schließlich verdichtet der Zweite Senat auch den schwer greifbaren Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde zum Zweck der Bestimmung des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf die Wahrung personaler Individualität, Identität, Integrität und elementarer Rechtsgleichheit sowie die daraus folgende Unzulässigkeit von auf Diskriminierung wegen bestimmter individueller Merkmale des Einzelnen zielender politischer Konzepte. Die direkte Gegenüberstellung der damals und heute zur Grundordnung gerechneten Prinzipien zeigt, dass das BVerfG in seiner früheren Rechtsprechung mehr von einer „deutschen“ freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgegangen ist, welche sich aus bestimmten Rechtsinstituten des Grundgesetzes heraus konstituierte.147 Im NPD-Urteil versteht der Zweite Senat die Grundordnung dagegen abstrahiert von der konkreten Verfassungsausgestaltung der Bundesrepublik Deutschland als eine „universelle“ frei­ heitliche demokratische Grundordnung. Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden als Wesenselemente und zugleich Mindeststandard eines jeden freiheitlichen Verfassungsstaates verstanden.148 Wie eben festgestellt wurde, ging das Verfassungsgericht bei der abstrakten Formulierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zwar schon im SRPUrteil von diesen drei Werten aus, gleichzeitig waren deren Konkretisierungen bzw. der von der Grundordnung umfasste Gewährleistungsgehalt aber auf die grundgesetzliche Staatsordnung zugeschnitten.149 Die Tatsache, dass es sich bei der freiheitlichen demokratischen Grundordnung um einen von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes kreierten Begriff handelt, steht einem Verständnis der Grundordnung als über das Grundgesetz hinausgehender internationaler Mindeststandard von bestimmten, jeden freiheitlich-­ demokratischen Verfassungsstaat definierenden Werten nicht entgegen. Ent147  Auch die Literatur ging von einer speziellen Grundordnung des Grundgesetzes aus, wie auch bereits die Forderung nach einer Identität von Art. 79 Abs. 3 GG und freiheitlicher demokratischer Grundordnung zeigt. Vgl. auch Gusy, AöR 105 (1980), 279 (310), der die Grundordnung als Umschreibung für bestimmte „Elemente des Grundgesetzes“ ansieht und Seifert, Politische Parteien, S. 458 („FDGO der Bundesrepublik und nicht die eines fremden Staates“). 148  So stellt etwa Art. 2 EUV fest, dass u. a. Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Werte darstellen, die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsam sind und auf denen sich die Union selbst gründet. 149  Das wird auch bei der Formulierung „Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“ deutlich. Freilich handelt es sich auch bei einigen der im SRP-Urteil im Einzelnen aufgeführten Elemente wie der Volkssouveränität, Unabhängigkeit der Justiz oder der Gewaltenteilung um solche, die für jeden demokratischen Rechtsstaat konstituierend sind.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

scheidend für den Verfassungsgeber war der antitotalitäre Sinngehalt der Grundordnung. Dieser war zwar unmittelbar auf die Verfassung Deutschlands bezogen, ist aber charakteristisch für alle freiheitlichen Demokratien. Anders als etwa der Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“, der auf die Ordnung des Grundgesetzes abzielt, ist der Wortlaut „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zudem entwicklungsoffener und nicht unbedingt auf eine solche des Grundgesetzes beschränkt. Auch hatte das BVerfG – trotz der dort vorgenommenen „grundgesetzlichen Auslegung“ – schon im SRP-Urteil klargestellt, dass es nur eine freiheitliche demokratische Grundordnung gebe, die in einem demokratischen Staat aber verschiedene Formen annehmen könne.150 Die „Internationalisierung“ der Grundordnung trägt auch der zwischenzeitlich erfolgten Integration des Grundgesetzes in europa- bzw. völkerrechtliche Rechtssysteme (Europäische Union, EMRK) Rechnung, die ebenfalls auf entsprechenden Grundprinzipien basieren. Das modifizierte Grundordnungsverständnis zeigt sich exemplarisch darin, dass die im SRP-Urteil genannten Elemente der Verantwortlichkeit der Regierung, des Mehrparteienprinzips sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien mit dem Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition Ausprägungen des grundgesetzlichen Demokratieprinzips sind und nur in einer parlamentarischen Demokratie Geltung beanspruchen können. Im NPD-Urteil sieht das BVerfG nunmehr die vorstehend genannten Elemente nicht als zwingende Bestandteile des Demokratieprinzips an, weil neben der parlamentarischen Demokratie auch noch andere Demokratiemodelle denkbar sind, wobei in diesem Zusammenhang als Beispiel das plebiszitäre System genannt wird.151 150  BVerfGE

2, 1 (12). 144, 20 (209, Rn. 543); vgl. auch schon Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 120. In der Praxis wird die plebiszitäre Demokratie – wenn auch nur in Kombination mit einem repräsentativen System – auch die einzige denkbare Alternative zur repräsentativen Demokratie darstellen, welche auf der freien Selbstbestimmung der Bürger beruht und dem Erfordernis einer gleichberechtigten Teilnahme aller Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und dem Grundsatz der Volkssouveränität gerecht wird. Andere Demokratieformen, welche sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben oder die in der politikwissenschaftlichen Theorie diskutiert werden, wie etwa die Rätedemokratie oder die Demarchie werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Auch die Forderung nach einem Einparteienstaat im Stil der sozialistischen „Volksdemokratien“ ist mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Weiterhin für eine Einbeziehung von Mehrparteienprinzip, Chancengleichheit der Parteien und Parlamentarismus als Bestandteile des Demokratieprinzips in die freiheitliche demokratische Grundordnung Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 103. Nicht zutreffend insoweit Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 652 (Juli 2020), die unter Berufung auf das NPD-Urteil die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als „Kern des Demokratieprinzips“ ausmachen; dies entspricht aber gerade nicht dem restriktiven Ansatz des BVerfG. 151  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“183

cc) Zwischenergebnis Der Ansatz des BVerfG ist insoweit „reduziert“, als dass nach der früheren Begriffsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schon die Ablehnung eines ihrer im SRP-Urteil oder der Folgerechtsprechung genannten Elemente zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit führen konnte152, während nunmehr der vom BVerfG klar umrissene Gewährleistungsgehalt eines der drei Kernelemente betroffen sein muss. Damit hat sich das BVerfG zugleich auch dem Problem der „schleichenden Definitionserweiterung“153 des Grundordnungsbegriffs in seiner früheren Rechtsprechung angenommen. Dieses bestand darin, dass neben der ursprünglichen Auflistung der Mindestgrundordnungselemente im SRP-Urteil stellenweise im KPD-Urteil und späteren Entscheidungen des Verfassungsgerichts weitere Rechtsinstitute hinzukamen, die sich teilweise wiederum als Ausprägungen des Prinzipienkatalogs darstellten. So wurden die Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung je nach konkreter Fallgestaltung stetig in mehr und mehr Einzelteile zersetzt, wobei diese Einzelteile ihrerseits wiederum in die ursprüngliche Definition zurückwirken und den Katalog der Grundordnungsinhalte erweitert haben.154 Einem derart ausufernden Begriffsverständnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist der Zweite Senat mit seiner aktuellen Konzeption nun entgegengetreten. Die Bezeichnung dieser Grundordnungskonzeption als „reduzierter Ansatz“ ist deswegen gerechtfertigt.155 In der Praxis wird die Ablehnung eines der im SRP-Verbotsurteil oder den späteren Entscheidungen genannten Elementen durch eine Partei in den meisten Fällen auch einen Eingriff in eines der drei Kernelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bedeuten. Derartige Forderungen werden regelmäßig in ein Parteiprogramm eingebettet sein, welches gegen zumindest eines der Elemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit insgesamt gerichtet ist. Der praktische Unterschied in der Anwendung zwischen der alten Aufzählungsdefinition und dem neuen reduzierten Ansatz würde sich nur dort zeigen, wo ausschließlich fallbezogene Ableitun152  Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien, S. 96; a. A. Ruland, Der Begriff der fdGO, S. 130, nach dem die Verwerfung einzelner im SRP-Urteil genannter Prinzipien nicht ausreicht, sondern die Grundprinzipien in ihrer Gesamtheit verworfen werden müssen. Gegen die Ansicht von Ruland spricht indes die ausdrück­ liche Deklarierung des Prinzipienkatalogs durch das BVerfG als Mindestgehalt der Grundordnung. 153  So treffend van Ooyen, RuP 2017, 468 (470). 154  van Ooyen, RuP 2017, 468 (470). 155  Anders offenbar Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 103, die den Gewährleistungsgehalt von Menschenwürde, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip als wenig umgrenzt ansieht und weiterhin erheblichen Interpretationsspielraum sieht.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

gen bzw. grundgesetzliche Ausprägungen infrage gestellt werden, die nicht zwingend auch eine Negierung eines der drei Kernelemente selbst bedeuten. An dieser Stelle sei nochmals auf das Beispiel Parlamentarismus zurückzukommen: Die Herrschaftsform der Demokratie kann (zumindest in der politikwissenschaftlichen Theorie) auch ganz ohne Parlament verwirklicht werden. Eine Partei, die das politische System des Parlamentarismus bekämpft, dürfte demnach nicht schon deswegen als der freiheitlichen demokratischen Grundordnung feindlich gegenüberstehend angesehen werden. Das BVerfG sieht aber auch in der isolierten Ablehnung des Parlamentarismus eine Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, nämlich dann, wenn dieser verächtlich gemacht wird, ohne gleichzeitig eine alternative Form der Demokratie aufzuzeigen, welche die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am politischen Willensbildungsprozess ermöglicht und dem Grundsatz der Volkssouveränität Rechnung trägt.156 Die Verächtlichmachung des repräsentativen Systems alleine ist somit nicht der eigentliche Ansatzpunkt für eine gegen die Grundordnung gerichtete Zielsetzung. Entscheidend ist vielmehr die damit zusammenhängende beabsichtigte Beseitigung des Legitimationsverhältnisses zwischen dem Volk als Legitimationssubjekt und der Staatsgewalt als Legitimationsobjekt.157 Der reduzierte Ansatz ist Ausdruck einer universellen Grundordnungskonzeption. Entscheidend ist nicht mehr, welche Konkretisierungen die einzelnen Wesenselemente im Grundgesetz erfahren haben, sondern was zur Grundlage eines jeden freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates gehört. c) Die freiheitliche demokratische Grundordnung als Teilmenge des Art. 79 Abs. 3 GG Eine weitere Konturierung erfährt die freiheitliche demokratische Grundordnung im NPD-Urteil durch die Abgrenzung zum in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten, revisionsfesten Kern des Grundgesetzes. Das BVerfG erteilt damit den durchaus stark vertretenen Stimmen in der Literatur158, welche in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung die Summe der in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Rechtsgüter sehen, eine klare Absage und setzt dem in der Staatsrechtslehre seit längerem geführten Streit um die Identität von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und dem Inhalt des Art. 79 Abs. 3 GG zumindest für die bundesverfassungsgerichtliche Praxis ein Ende.159 Schon im 156  BVerfGE

144, 20 (210, Rn. 546). NVwZ-Beilage 2017, 42 (44). 158  Hierzu oben sub IV. 2. 159  Für eine solche Identität aber weiterhin (ohne auf das NPD-Urteil einzugehen) Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 160. 157  Warg,



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“185

SRP- und KPD-Urteil ging das BVerfG zwar nicht von einer solchen Identität aus, allerdings hatte es in beiden Entscheidungen Art. 79 Abs. 3 GG im Zusammenhang mit der Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erst gar nicht thematisiert. Die Richter kamen wohl auch deshalb gar nicht umhin, die Streitfrage im NPD-Urteil aufzugreifen und Position zu beziehen. aa) Schnittmengen und Unterschiede Die „Ewigkeitsklausel“ enthält eine Bestandsgarantie für bestimmte im Grundgesetz verankerte verfassungspolitische Grundsatzentscheidungen. Sinn und Zweck der Norm ist es, zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz und in ihren Grundlagen auf dem formal-­ legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht werden kann.160 Die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG verbindet mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung somit ihr antitotalitärer Charakter. Zu den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien gehören: •• die Gliederung des Bundes in Länder, •• die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, •• die in Art. 1 GG enthaltenen Grundsätze, d. h. die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), die Anerkennung der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 2 GG) sowie die unmittelbare Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), •• die in Art. 20 GG enthaltenen Grundsätze, d. h. das republikanische Prinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), das Demokratieprinzip mit dem Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1, Abs. 1 Satz 1 GG) und der Ausübung der Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), das Rechtsstaatsprinzip mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) sowie die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung von Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)161 sowie das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Die vom BVerfG festgestellte inhaltliche Überschneidung des Regelungsgehalts von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 160  BVerfGE

30, 1 (24). eigenständigen Bedeutung des Bundesstaatsprinzips neben seinen bereits in Art. 79 Abs. 3 Var. 1 und 2 GG enthaltenen Ausprägungen Herdegen, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 79 Rn. 158 ff. (Juli 2014). 161  Zur

186

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

GG betrifft die Garantie der Menschenwürde, das Demokratie- sowie das Rechtsstaatsprinzip, wobei im Hinblick auf das Demokratieprinzip die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte repräsentative Demokratie als revisionsfester Grundsatz des Grundgesetzes keinen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bildet. Letztere ist somit vollständig von der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes umfasst und bildet gleichsam eine Teilmenge des nicht revisibelen Verfassungskerns. Umgekehrt sollen die anderen für unantastbar erklärten Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG nach dem Verständnis des BVerfG nicht in die freiheitliche demokratische Grundordnung einfließen. Die Grundordnung bildet damit den „Kern vom Kern“ der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland.162 Ausdrücklich nimmt das BVerfG dabei die in Art. 20 Abs. 1 GG festgeschriebenen Prinzipien der Republik und des Bundesstaats von der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung aus.163 In dem Bekenntnis des Grundgesetzes zur republikanischen Staatsform liegt zugleich eine Absage des Verfassungsgebers an die Errichtung einer (konstitutionellen) Monarchie.164 Die Begriffe der Monarchie und Republik alleine treffen aber noch keine Aussage darüber, wer Inhaber der Staatsgewalt ist, sondern lediglich darüber, auf welchem Wege das jeweilige Staatsoberhaupt bestimmt wird. Damit ist in der Bundesrepublik Deutschland eine Berufung des Staatsoberhauptes durch Erbfolge selbst dann ausgeschlossen, wenn diese aufgrund der politischen Stellung des Staatsoberhauptes innerhalb der Verfassungsordnung, wie andere europäische Staaten mit konstitutionellen Monarchien zeigen, mit dem Demokratieprinzip bzw. dem Grundsatz der Volkssouveränität vereinbar wäre.165 Das Bundesstaatsprinzip, welches in der deutschen Verfassungsgeschichte auf eine lange Tradition zurückblicken kann166, verlangt eine Untergliederung des Gesamtstaates in einzelne Länder, wobei sowohl die Länder als auch der Gesamtstaat Staatsqualität besitzen und mit eigenen staatlichen Befugnissen und Aufgaben ausgestattet sind. Neben der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive auf einer Ebene der Staatlichkeit tritt im Bundesstaat daneben eine vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern hinzu, welche das Ergebnis einer in der VerfasWarg, NVwZ-Beilage 2017, 42. 144, 20 (206, Rn. 537). 164  Schmitt Glaeser, Verwirkung von Grundrechten, S. 51, sieht in der Entscheidung für die republikanische Staatsform darüber hinaus eine Ablehnung jeder Form der Einzelherrschaft bzw. des Obrigkeitsstaates. Gegen die Zuordnung weiterer Sinngehalte zum Republikprinzip Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 10, mit dem Hinweis, dass diese bereits durch das Demokratieprinzip erfasst sind. 165  Dietlein, in: BeckOK GG, Art. 79 Rn. 32.1 (Stand: 15.02.2021). 166  Der Norddeutsche Bund (1867–1871), das Deutsche Reich (1871–1919) und die Weimarer Republik (1919–1933) waren ebenfalls Bundesstaaten. 162  So

163  BVerfGE



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“187

sung näher geregelten Kompetenzverteilung zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten ist und eine zu weit gehende Machtkonzentration im Staate verhindern soll.167 Das Gegenstück zum föderalen Staat ist der Einheits- bzw. Zentralstaat mit einer einheitlichen Staatsorganisation. Auch parlamentarischen Monarchien und Zentralstaaten, so die bereits zuvor von den Kritikern einer Identität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit den Inhalten des Art. 79 Abs. 3 GG angeführte Begründung der Verfassungsrichter, könne der freiheitlich-demokratische Charakter nicht abgesprochen werden. Mit dem Argument der antitotalitären Stoßrichtung sowohl von freiheit­ licher demokratischer Grundordnung als auch von Art. 79 Abs. 3 GG im Rahmen der streitbaren Demokratie des Grundgesetzes setzt sich der Zweite Senat bei seiner Absage an eine Identität der von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Prinzipien mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dagegen nicht auseinander. Dies erscheint jedoch folgerichtig, wenn der Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nunmehr losgelöst von deutschen Spezifika bestimmt werden soll. Zudem überzeugt es, bereits die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG gerade als Argument gegen eine Gleichsetzung von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und den nicht revisiblen Verfassungsprinzipien anzusehen. Die Stimmen, die aufgrund der Vorläufernorm des Art. 79 Abs. 3 GG im Herrenchiemsee-Entwurf von einer entsprechenden Inhaltsidentität ausgehen, bleiben einer Begründung schuldig, warum der Verfassungsgeber aus dem Kreis der verfassungsschützenden Normen einzig bei Art. 79 Abs. 3 GG nicht den Begriff der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung verwendet hat. Die Prinzipien der Republik und des Bundesstaats sind zweifelsohne für die deutsche Verfassungsordnung konstituierend, stellen sie doch wie viele weitere Elemente des Grundgesetzes die verfassungspolitische Konsequenz aus dem Scheitern von Weimar und der Zeit des Nationalsozialismus dar. Aber genau darin liegt eben jene verfassungsgeschichtliche deutsche Besonderheit: Das Grundgesetz erachtet gerade diese Staatsstrukturprinzipien aus historischen Gründen als so schützenswert, dass sie einer Revision durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sind. Daraus folgt im Umkehrschluss aber nicht, dass eine Ordnung, welche auf der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbaut, nicht auch dann verwirklicht werden könnte, wenn die Staatsform (der Bundesrepublik Deutschland) nicht (mehr) eine solche der Republik ist oder der Staat nicht in mehrere Gliedstaaten unterteilt ist. Der Hinweis auf den freiheitlich-demokratischen Charakter anderer Einheitsstaaten oder Monarchien wäre nur dann unbeachtlich, wenn die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine spezifisch deutsche, vom Grundgesetz konzipierte Ordnung verstanden 167  Grzeszick,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V. Rn. 18 und 109 (Dezember 2013).

188

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

würde, wenn es also um die in der deutschen Verfassung konkret ausgestaltete Grundordnung gehen würde. Eine Aufnahme der von dieser Norm geschützten Prinzipien in den ursprünglichen Katalog der freiheitlichen ­ ­demokratischen Grundordnung wäre deshalb konsequent gewesen, weil die Verfassungsrichter damals bei der Inhaltsbestimmung auf Elemente des Grundgesetzes abgestellt haben. In einer „internationalen“ freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie sie das BVerfG nunmehr beschreibt, ist für die Einbeziehung des Föderalismus und des Republikprinzips dagegen richtigerweise kein Raum.168 Das Gleiche gilt auch für den in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG niedergelegten Grundsatz der repräsentativen Demokratie, wonach die Staatsgewalt durch besondere Organe in Wahlen des Volkes ausgeübt wird, weil auch andere Demokratieformen zumindest theoretisch denkbar sind.169 bb) Einbeziehung des Sozialstaatsprinzips Damit bleibt noch die Frage nach einer Einbeziehung des von Art. 79 Abs. 3 GG ebenfalls geschützten Sozialstaatsprinzips. Während der Zweite Senat sowohl das Bundesstaats- als auch das Republikprinzip ausdrücklich von der Grundordnung ausnimmt, schweigt er zum Sozialstaatsprinzip. Durch die eindeutige Absage an eine inhaltliche Identität mit Art. 79 Abs. 3 GG wollte er gleichwohl keine weiteren Diskussionen über die Zugehörigkeit des Sozialstaatsprinzips zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufkommen lassen. Trotz Zustimmung zur nun vorgenommenen Abgrenzung von freiheitlicher demokratischer Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 GG wird in der Literatur teilweise dennoch weiterhin die Zugehörigkeit des Sozialstaatsprinzips zur Grundordnung gefordert, weil dieses als ökonomische Komponente der Menschenwürde die Beteiligung sozial Schwacher am politischen Prozess ermögliche und damit erst die tatsächliche gleichberechtigte demokratische Teilhabe aller Bürger gewährleiste.170 Auch hier lautet die entscheidende Frage jedoch wieder: Stellt der Sozialstaatsgedanke ein schlechthin konstitutives Element freiheitlicher Verfassungsstaaten dar, welauch Thrun, DÖV 2019, 65 (71). Abs. 2 Satz 2 GG erwähnt neben Wahlen zwar auch noch Abstimmungen und damit plebiszitäre Elemente als Instrument der Ausübung der Staatsgewalt, das Grundgesetz sieht solche Abstimmungen jedoch nur in Ausnahmefällen (Art. 29, 118, 118a GG) vor. Die grundsätzlich zulässige Ausweitung direktdemokratischer Elemente im Grundgesetz ist aber durch die getroffene Entscheidung für die repräsentative Demokratie begrenzt; dazu Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn.  105 f. 170  So Thrun, DÖV 2019, 65 (71); Höfling/Krings, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 18 Rn. 18.6 (Januar 2019). 168  So

169  Art. 20



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“189

ches neben Demokratie und Rechtsstaat als weiteres Staatsstrukturprinzip für die Sicherung der Menschenwürde und die Möglichkeit ihrer Entfaltung durch den Einzelnen notwendig ist? Das in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes wird anders als das Republik-, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip überwiegend nicht zu den Staatsstrukturprinzipien gerechnet, sondern als eine Staatszielbestimmung angesehen.171 Als solche verpflichtet es den Gesetzgeber, fortwährend auf einen sozialen Ausgleich hinzuwirken und für ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu sorgen.172 Das Grundgesetz selbst enthält zwar einige Bestimmungen, die als punktuelle Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips angesehen werden können173, trifft aber keine Aussagen darüber, wie der Staat diesem Handlungsauftrag im Einzelnen nachzukommen hat. Dem Gesetzgeber kommt in Erfüllung seines verfassungsrechtlichen Auftrags, wie bei den sonstigen Staatszielen auch, deshalb ein weiter Gestaltungsspielraum zu.174 Als verbindlicher Rechtssatz ist das Sozialstaatsgebot auch bei der Auslegung der Verfassung, insbesondere der Grundrechte, und des einfachen Rechts durch Rechtsprechung und Verwaltung zu beachten.175 Die Sozialstaatlichkeit hängt, wie auch die Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, eng mit der Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG zusammen. Das oberste Ziel des Sozialstaates ist die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welche als entsprechende Pflicht des Staates aus der Menschenwürde i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet wird.176 Davon umfasst sind auch Mittel für die Sicherung der Teilhabe des Menschen am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.177 Das verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit stellt kein deutsches Spezifikum dar, sondern ist auch in Art. 3 Abs. 3 EUV als eines der Ziele der Europäischen Union verankert, die auf eine soziale 171  Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof, HStR II (2004), § 28 Rn. 1; Huster/Rux, in: BeckOK GG, Art. 20 Rn. 209 (Stand: 15.02.2021); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII. Rn. 18 (Dezember 2014); Robbers, in: BK GG, Art. 20 Rn. 1282 (April 2009); a. A. ([auch] für Staatsstrukturprinzip) Stern, StaatsR I, S. 877; Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 693. 172  Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 268. 173  Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII. Rn. 3 (Dezember 2014). 174  BVerfGE 103, 271 (288); 125, 175 (224 f.). 175  Vgl. BVerfGE 1, 97 (105); 33, 303 (330 f.); 115, 25 (43 f.). Angesichts der Vielzahl von Einwirkungsmöglichkeiten des Sozialstaatsprinzips auf die verschiedenen Bereiche der Rechtsordnung kann auf Einzelheiten an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 176  BVerfGE 82, 60 (85); 125, 175 (222); 132, 134 (159, Rn. 62 f.). 177  BVerfGE 125, 175 (223); 132, 134 (160, Rn. 64).

190

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt hinzuwirken sowie soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz zu fördern hat. Ob das Sozialstaatsprinzip deshalb einen schlechthin unverzichtbaren Bestandteil eines freiheitlichen Verfassungsstaates darstellt, ist indes angesichts des Schutzzwecks der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bezweifeln. Die freiheitliche demokratische Grundordnung dient dem Schutz derjenigen grundlegenden Werte und Strukturen, die unabdingbare Voraussetzungen für die Erhaltung eines freien und offenen Prozesses der politischen Willensbildung des Volkes sind. Dementsprechend können in den Begriff auch nur solche Elemente Eingang finden, bei deren Fehlen oder Wegfall ein solcher freier und offener politischer Prozess nicht (weiter) gewährleistet ist. Politische Ziele, die sich gegen die Anerkennung eines menschenwürdigen Existenzminimums richten, sind zwar dadurch auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG gerichtet. Das entsprechende Gewährleistungsrecht bedarf aber aufgrund seiner Entwicklungsoffenheit der weiteren Konkretisierung und Ausgestaltung durch den Gesetzgeber und ist von dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde des Einzelnen, der den Ausgangspunkt für die Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bildet, zu unterscheiden.178 Die Anerkennung der personellen Individualität, Identität, Integrität und Rechtsgleichheit eines jeden Menschen bildet zusammen mit den vom BVerfG im NPD-Urteil extrahierten Kernelementen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips den tragenden Pfeiler jeder freiheitlichen demokratischen Staatsordnung. Die Würde und Freiheit des einzelnen Menschen können in der Realität zwar nur bei materieller bzw. wirtschaftlicher Gerechtigkeit vollständig zur Entfaltung kommen.179 Die unabdingbare Grundvoraussetzung, die eine freiheitliche Demokratie von einem totalitären System unterscheidet – und nur eine solche kann Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sein – liegt aber bereits in der Achtung der Subjektqualität jedes Menschen durch den Staat. Wie der Staat seine Wirtschafts- und Sozialordnung mit dem Ziel gestaltet, der Würde und Freiheit des Menschen die bestmögliche Entfaltungschance zu verleihen, ist, ohne die Bedeutung des grundgesetzlichen Sozialstaatsauftrags zu schmälern, im Hinblick auf die Sicherung der freiheitlichen-demokratischen Grundfesten aber nur von nachrangiger Bedeutung. Die Aufnahme des Sozialstaatsprinzips als weiteres Wesensmerkmal der freiheitlichen demokratischen Grundordnung würde angesichts seiner Unbestimmtheit und enormen einfachgesetzlichen Ausgestaltungsbedürftigkeit dem Gebot restriktiver Auslegung der Grundordnung im Sinne einer Konzentration auf wenige, klar umgrenzte Grundprinzipien zuwiderlaufen und Bedenken im Hinblick auf den 178  Vgl.

BVerfGE 125, 175 (222). freiheitssichernden Funktion des Sozialstaats Heinig, Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 171 ff. 179  Zur



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“191

Aspekt der Rechtssicherheit begegnen. Mit Warg ist deshalb nüchtern festzuhalten, dass „sich die Verfassungsschutzbehörden auf ihre Kernaufgabe konzentrieren [müssen], mit der sie ausreichend ausgelastet sind und die mit der berechtigten Erwartungshaltung der Bürger korrespondiert: Schutz und Aufklärung vor Gruppierungen und Personen, die den Individualrechtsgütern und dem Grundgefüge unseres demokratischen Rechtsstaats wirklich gefährlich werden können.“180 cc) Einbeziehung der einzelnen Grundrechte Thrun und Höfling/Krings plädieren offenbar auch dafür, den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten abwägungsfesten Menschenwürdekern der in den Art. 2 bis 17 GG verbürgten Grundrechte in die Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufzunehmen. Die Grundordnung als Minimalkonsens einer freiheitlichen Demokratie sei zwar unabhängig von der genauen Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte, weshalb die in Art. 2 bis 17 GG enthaltenen Grundrechte jedenfalls kein unmittelbarer Bestandteil dieser Ordnung sein können. Eine Reduzierung des Grundrechtsschutzes unterhalb des von Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Niveaus stelle aber einen selbständigen Verstoß gegen die Menschenwürde und damit auch gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dar.181 Gerade dies spricht aber eher dafür, auf eine derartige Einbeziehung der Grundrechte als zusätzliches Definitionsmerkmal der Grundordnung mangels Mehrwert zu verzichten. Die zum Fundament der Grundordnung erhobene Menschenwürde selbst bildet einen ausreichenden Kontrollmaßstab für die Abschaffung oder Beschränkung individueller Freiheit und Gleichheit. Ein eigenständiger Rückgriff auf den menschenwürderechtlichen Kern des jeweiligen Grundrechts ist damit nicht erforderlich und würde auch der vom BVerfG beabsichtigten Verschlankung der Begriffsdefinition auf das für den freiheitlichen Verfassungsstaat absolut erforderliche Minimum zuwiderlaufen. Schließlich gilt es zu bedenken, dass der Menschenwürdegehalt der einzelnen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte unterschiedlich stark ausgeprägt ist und im Einzelfall bestimmt werden muss.182 Auch aus Gründen der Bestimmtheit und Handhabbarkeit der Grundordnungsdefinition sollte daher 180  Warg,

LKV 2015, 1 (6). DÖV 2019, 65 (71 f.); Höfling/Krings, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 18 Rn. 18.7 (Januar 2019). Auch Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 103 will zumindest die „grundrechtlichen Kerngehalte“ der Religionsfreiheit, Meinungs-, Rundfunk-, Presse- und Informationsfreiheit sowie der Vereinigungsfreiheit in die neue Formel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einbeziehen. 182  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 26 (Mai 2009); Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 67. 181  Thrun,

192

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

auf eine entsprechende Aufnahme der Grundrechte in Gestalt ihres Menschenwürdekerns verzichtet werden.

VI. Fazit Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat durch die Entscheidung des BVerfG vom 17. Januar 2017 eine Neukonzeption erfahren, die eine Korrektur der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bedeutet. Zum einen hat das BVerfG erstmals formal abschließend dargelegt, was zum Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehört, erhob die ursprüngliche Aufzählung der zugehörigen Elemente im SRP-Urteil und deren Bestätigung und Ergänzung im KPD-Urteil doch ausdrücklich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die nach und nach erfolgte Anreicherung des Grundordnungsinhalts mit weiteren, grundgesetzlichen Elementen in späteren Entscheidungen blähte den Begriff zwar immer weiter auf, ließ die Frage nach seinem endgültigen Inhalt aber stets unbeantwortet, zumal die zur Grundordnung hinzugefügten Rechtsinstitute sich lediglich punktuell aus dem jeweiligen Entscheidungskontext ergeben haben. Der Zweite Senat verzichtet nunmehr auf die beispielhafte Nennung einzelner Rechtsinstitute, die in der Vergangenheit gerade unter dem Aspekt der fehlenden Rechtssicherheit Kritik erfahren hat, sondern knüpft an die allgemeine Umschreibung der Grundordnung im SRP-Urteil an und präzisiert diese durch Herausschälen des zur Grundordnung gehörenden Gewährleistungsgehalts der drei Kernelemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dieses Begriffsverständnis deckt die für den freiheitlichen Verfassungsstaat essentiellen Elemente erschöpfend ab und lässt für sukzessive Erweiterungen der Definition keinen Raum mehr. Die klare Eingrenzung des Grundordnungsinhalts auf zunächst drei Elemente ist Ausdruck eines vom BVerfG verfolgten reduzierten, systematischeren Ansatzes. Zwar betonte das BVerfG wie heute auch schon in den früheren Urteilen, dass nur die obersten, für die freiheitliche Demokratie unabdingbaren Grundsätze zum Inhalt der Grundordnung zu rechnen seien. Als diese Grundsätze mit antitotalitärer Stoßrichtung wurden schon im SRP-Urteil, wenn auch nicht ausdrücklich benannt, die Menschenwürde, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit identifiziert. Erstmals differenzieren die Richter nun aber zwischen den Kernelementen und ihren jeweiligen Ausprägungen. Kennzeichnend für den reduzierten Ansatz ist die Zentralität der Menschenwürde: Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird als menschenwürdekonforme Staatsorganisation definiert, in der die beiden anderen konstitutiven Kernelemente Demokratie und Rechtsstaatsprinzip nur insoweit von der Grundordnung umfasst werden, wie es erforderlich ist, um die Menschenwürde des Einzelnen im Staat zu sichern



A. Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“193

und zur Entfaltung kommen zu lassen. Das Parteiverbot greift erst dann ein, wenn die vom BVerfG dargelegten menschenwürderechtlichen Gewährleistungen angegriffen werden, nicht aber sonstige Ausprägungen der Kernelemente Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, die je nach konkreter Ausgestaltung der Verfassungsordnung unterschiedlich ausfallen können. Damit unmittelbar zusammen hängt schließlich auch das universelle Verständnis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als weitere Neuerung gegenüber den früheren Verbotsurteilen. Die vom BVerfG gezeichnete Grundordnung geht nun über die Grenzen des deutschen Grundgesetzes hinaus und hat eine internationale Dimension erhalten. Sämtliche zu dieser Ordnung gehörenden Elemente sind kennzeichnend für die freiheitlichen Verfassungsstaaten in Europa und stellen Werte dar, auf denen die Europäische Union basiert. Mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar wäre daher auch die Forderung nach einer von der konkreten Ausgestaltung im Grundgesetz abweichenden Verfassungsordnung, solange die Menschenwürde im Mittelpunkt dieser Ordnung steht und die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen durch die Staatsstrukturprinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantiert wird. Überzeugend lehnt der Zweite Senat daher auch die in der Literatur diskutierte Identität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit Art. 79 Abs. 3 GG ab, da nicht alle durch diese Norm vor einer Revision geschützten Prinzipien zwingende Bestandteile eines freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates sein müssen. Angesichts dieser Modifikationen ist davon auszugehen, dass die ursprüngliche Formel der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus dem SRPUrteil mitsamt des Prinzipienkatalogs überholt ist und für die künftige Interpretation und Anwendung des Begriffs in der Praxis keine Rolle mehr spielen wird.183 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Auswirkung des NPDUrteils auf die einfachgesetzliche Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in § 4 Abs. 2 BVerfSchG sowie den entsprechenden Regelungen in den Landesverfassungsschutzgesetzen, die im Wesentlichen der Formel des BVerfG aus dem SRP-Urteil nachgebildet sind. Der Gesetzgeber hat auf eine Änderung der Regelung in § 4 Abs. 2 BVerfSchG bislang verzichtet. Eine Pflicht des Gesetzgebers zur Anpassung der einfachgesetz­ lichen Definition der Grundordnung wird aus § 31 Abs. 1 BVerfGG abgeleitet, wonach die Entscheidungen des BVerfG u. a. auch den Gesetzgeber binden, dem eine abweichende oder ergänzende Auslegung des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung damit untersagt sei.184 Richtig 183  Davon 184  Warg,

geht auch van Ooyen, RuP 2017, 468 (472) aus. NVwZ-Beilage 2017, 42 (45).

194

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

ist zunächst, dass die Definition der Grundordnung an der Bindungswirkung des NPD-Urteils gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG teilnimmt. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG umfasst die Bindungswirkung neben dem Tenor auch die tragenden Gründe der Entscheidung.185 Dies sind jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele.186 Bei der Bestimmung, was zum maßgeblichen Inhalt der Entscheidung gerechnet werden kann, kommt auch den Leitsätzen der Entscheidung eine besondere Bedeutung zu.187 Bei der freiheitlichen demokratischen Grundordnung handelt es sich zweifelsohne um ein zentrales Tatbestandsmerkmal im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei, dessen Neukonzeption sich auch im 3. Leitsatz des NPDUrteils wiederfindet. Die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG erstreckt sich aber nur auf die Auslegung von Verfassungsrecht, nicht dagegen auf die Auslegung einfachen Rechts. Etwas anderes gilt nur, wenn das BVerfG im Rahmen der Entscheidung über die verfassungskonforme Auslegung einfachen Gesetzesrechts ausgesprochen hat, dass eine bestimmte Interpretation einer einfachgesetzlichen Rechtsnorm nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.188 § 4 Abs. 2 BVerfSchG spricht von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes“. Die Auslegung des BVerfG bezieht sich jedoch nur auf den verfassungsrechtlichen Begriff der Grundordnung. Die Definition aus den Verfassungsschutzgesetzen wird im NPD-Urteil dagegen nicht erwähnt. Auch hat das BVerfG nicht über die Vereinbarkeit der einfachgesetzlichen Definition mit den Vorgaben des Grundgesetzes entschieden. Entgegen der Ansicht von Warg besteht damit zunächst kein kraft Gesetzes zwingender Anpassungsbedarf von § 4 Abs. 2 BVerfSchG bzw. der landesrechtlichen Parallelvorschriften. Die Verfassungsschutzgesetze des Bundes und der Länder sind wie das grundgesetzliche Parteiverbot aber Ausdruck der wehrhaften Demokratie. Der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Schutzgut der wehrhaften Demokratie sowohl auf verfassungsrechtlicher wie auch einfachrechtlicher Ebene sollte daher, nicht zuletzt, weil sie zum Anknüpfungspunkt für schwerwiegende staatliche Eingriffsbefugnisse gemacht wird, im Sinne der Einheit der Rechtsordnung der gleiche Bedeutungsgehalt zukommen. Da sich der Gesetzgeber bei der Definition in § 4 Abs. 2 BVerfSchG zudem weitgehend am Katalog der Grundordnungselemente im SRP-Urteil orientiert hat und damit einen inhaltlichen Gleichlauf mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Grundordnung herstellen 185  BVerfGE

(277).

186  Koch,

19, 377 (391 f.); 24, 289 (297); 40, 88 (93); 79, 256 (264); 112, 268

in: Barczak, BVerfGG, § 31 Rn. 22. 73, 263 (268). 188  BVerfGE 40, 88 (94). 187  BVerwGE



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“195

wollte, sollte er die nunmehr überkommene Auslegung der neuen Rechtsprechung des BVerfG anpassen. Schließlich kann noch die Frage aufgeworfen werden, ob die Neukonzeption der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch für den Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Art. 9 Abs. 2 GG gilt. Bislang wurde letzterem von der h. M. dieselbe Bedeutung beigemessen. Anders als der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, der nun eine Internationalisierung erfahren hat, zielt die verfassungsmäßige Ordnung, obwohl der Begriff im Grundgesetz nicht einheitlich ausgelegt wird, schon dem Wortlaut nach auf die Ordnung des Grundgesetzes. Das BVerfG hat in einer neueren Entscheidung den Inhalt der verfassungsmäßigen Ordnung gleichwohl wieder mit dem der freiheitlichen demokratischen Grundordnung synchronisiert.189 Auch für die Zukunft ist deshalb von einer inhaltlichen Identität beider Schutzgüter auszugehen.

B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Störungsalternativen Art. 21 Abs. 2 GG sieht mit der „Beeinträchtigung“ und „Beseitigung“ zwei Störungs- bzw. Schadensalternativen in Bezug auf das Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor. Das BVerfG hat in seinen Verbotsurteilen gegen die SRP und KPD sowohl auf eine nähere Erläuterung als auch auf eine Abgrenzung der beiden Begriffe verzichtet. Angesichts des mit dem Parteiverbot als Ausnahmenorm in einer Demokratie verbundenen schweren Eingriffs in die Parteienfreiheit gebietet eine Auslegung unter Beachtung der rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen jedoch eine nähere Auseinandersetzung mit den beiden Begriffen, mögen sie im Vergleich zu anderen Tatbestandsmerkmalen des Art. 21 Abs. 2 GG auch weniger Fragen aufwerfen. Schließlich stellt, wie Jacob zutreffend formuliert, das Streben nach einer Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung den Anknüpfungspunkt dar, über den die gegen dieses Schutzgut gerichteten Angriffe der Partei final zu Ende gedacht werden.190 In der Beeinträchtigung oder Beseitigung der Grundordnung liegt damit der von der Partei erstrebte Erfolg ihres Handelns.

189  BVerfGE 190  Jacob,

149, 160 (197, Rn. 107). jM 2017, 110 (112).

196

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

I. Das bisherige Verständnis der Begriffe „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ Eine Definition der Begriffe „Beeinträchtigen“ oder „Beseitigen“ findet sich weder im SRP- noch im KPD-Urteil. Folglich fehlt es beiden Entscheidungen auch an einer sauberen Subsumtion der festgestellten Bestrebungen der jeweiligen Partei unter eines oder beide dieser Tatbestandsmerkmale. Stattdessen hat das BVerfG die Strategie der SRP und der KPD wiederholt mit Formulierungen wie „Untergrabung“, „Schwächung“, „Zersetzung“, „Schmähung“, „planmäßiger Verleumdung“ und „Verhöhnung“ der Grundordnung umschrieben.191 Die fehlende Erläuterung der Tatbestandsalternativen durch das BVerfG hat im Schrifttum die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden nebeneinander stehenden Begriffen aufgeworfen. Nach einer verbreiteten Ansicht umfasst der Begriff des „Beeinträchtigens“ zugleich auch den des „Beseitigens“.192 Anderenorts wird festgestellt, dass derjenige, der auf eine Beseitigung der Grundordnung ausgeht, diese zugleich auch immer mit „beeinträchtigt“.193 Unabhängig vom genauen Sinngehalt der Begriffe „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG treffen beide Aussagen semantisch zu. Wird nach herkömmlichem Sprachgebrauch etwas „beseitigt“, wird es vernichtet, zerstört oder entfernt und ist damit nicht mehr existent. Das „Beeinträchtigen“ kann hinsichtlich der Schadensintensität hingegen als ein Minus zum „Beseitigen“ gesehen werden und bezeichnet das Beschädigen, Behindern oder In-Mitleidenschaft-Ziehen von etwas.194 Gleichzeitig ist „Beeinträchtigen“ im Verhältnis zu „Beseitigen“ aber vom Bedeutungsgehalt her der weitere bzw. offenere Begriff, da man von einer Beeinträchtigung regelmäßig auch dann sprechen kann, wenn etwas vernichtet und damit beseitigt wird. Die vollständige Beseitigung ist damit die schwerste Form der Beeinträchtigung. Wer die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt, beeinträchtigt sie damit immer auch gleichzeitig. Umgekehrt liegt eine Beeinträchtigung der Grundordnung zwar auch in deren vollständiger Beseitigung, muss dies aber nicht zwingend, wenn auch andere, weniger radikale Formen einer Beeinträchtigung denkbar sind.195 191  BVerfGE

2, 1 (21); 5, 85 (210 ff., 307, 384, 387, 389). in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 162; Zirn, Parteienverbote im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 99; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 109. 193  Höver, Parteiverbot und seine rechtlichen Folgen, S. 28 f.; Voscherau, Parteiverbote in der BRD und im Königreich Spanien, S. 93; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 80 (6. Auflage). 194  www.duden.de/synonyme/Beeintraechtigung, zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 195  Gegen eine Unterscheidung zwischen beiden Begriffen aber Seifert, Politische Parteien, S. 461 und Michael, in: FS Tsatsos, S. 383 (398). 192  Ipsen/Koch,



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“197

Zwischen „Beeinträchtigung“ und „Beseitigung“ wird in der Literatur daher häufig eine Art Stufenverhältnis angenommen, wobei unter „Beeinträchtigen“ die teilweise bzw. schrittweise Ablösung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch eine kontinuierliche Abschaffung ihrer konstituierenden Strukturelemente verstanden wird, während mit „Beseitigen“ deren vollständige Aufhebung durch Oktroyieren einer anderen, mit der demokratischen Grundordnung unvereinbaren Verfassungsordnung gemeint ist.196 Einigkeit besteht darüber, dass dem Begriff „Beeinträchtigen“ aufgrund seiner inhaltlichen Weite die größere Bedeutung zukommen soll und es daher einer restriktiven Auslegung bedürfe.197 Nicht jede Minderung der Funktionsfähigkeit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – als Beispiele werden die in der Verfassung selbst erwähnten Störungsszenarien in Art. 63 Abs. 4, Art. 68 Abs. 1 und Art. 81 GG genannt198 – soll ein „Beeinträchtigen“ darstellen, sondern nur Störungen von erheblicher Intensität.199 Teilweise wird der restriktive Ansatz auch damit begründet, dass ein Nebeneinander von „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ vom Verfassungsgeber gar nicht gewollt war, sondern auf einem Redaktionsversehen beruhe.200 Dies ergebe sich aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates über die verschiedenen Textvarianten der Norm bis zur ihrer endgültig beschlossenen Fassung. Während im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates auf Antrag des Abgeordneten de Chapeaurouge die Passage „zu beeinträchtigen oder“ mit der Begründung gestrichen wurde, diese Formulierung sei zu weitgehend und mit Interpretationsschwierigkeiten verbunden, tauchte sie in späteren Lesungen und der endgültigen Fassung jedoch wieder auf.201 Dies 196  Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 202; Zirn, Parteienverbote im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 99 f.; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 228; Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 163 f.; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG (14. Auflage 2016), Art. 21 Rn. 33; von Coelln, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 17 (Vorauflage, Stand: Juli 2014); Hufen, ZRP 2012, 202 (203); Stiehr, JuS 2015, 994 (997). 197  Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 109; Schön, Grundlagen der Verbote politischer Parteien, S. 90; Höver, Parteiverbot und seine rechtlichen Folgen, S. 29; Seifert, Politische Parteien, S. 461; ders., DÖV 1961, 81 (84); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 80 (6. Auflage); Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 228. 198  Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 162; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 228. 199  Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 80 (6. Auflage). 200  Erstmals Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 358 und S. 160; ders., Leviathan 29 (2001), 439 (447); ihm folgend Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S.  202 f.; Voscherau, Parteiverbote in der BRD und im Königreich Spanien, S. 93; Michael, in: FS Tsatsos, S. 383 (398); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 153 (Fn. 538). 201  Ausführlich Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 155 ff.

198

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

sei nur durch ein Versehen zu erklären, welches mutmaßlich auf die Vielzahl der sich ähnelnden Entwurfsfassungen des Parteiverbotsartikels, die im Laufe der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates Gegenstand der Beratungen waren, zurückzuführen sei.202 Auf die Frage des Redaktionsversehens wird im Folgenden noch genauer einzugehen sein, weil diese auch im NPD-Verfahren zum Prüfungsgegenstand des BVerfG gemacht wurde.203

II. Die Differenzierung des BVerfG im NPD-Urteil Im NPD-Urteil definiert der Zweite Senat erstmals die Begriffe des „Beeinträchtigens“ und „Beseitigens“ und nimmt damit eine Differenzierung zwischen beiden Schadensalternativen für die freiheitliche demokratische Grundordnung vor. 1. Beseitigung Unter „Beseitigung“ versteht das BVerfG die Abschaffung zumindest eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem.204 Weitere Ausführungen zu diesem Begriff erachtet das BVerfG offenbar als nicht notwendig, zumal es sich hierbei aus interpretatorischer Sicht um die unproblematischere der beiden Tatbestandsalternativen handelt. Die Definition des BVerfG knüpft deswegen auch an das soeben skizzierte Begriffsverständnis des „Beseitigens“ in der bisherigen Literatur an. Da jedes ihrer drei Wesenselemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für sich genommen konstituierend für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist und darüber hinaus alle drei Elemente miteinander verwoben sind, genügt die Außerkraftsetzung auch nur eines der drei Prinzipien für die gänzliche Beseitigung der Grundordnung. 2. Beeinträchtigung Die Interpretation der Tatbestandsalternative des „Beeinträchtigens“ nimmt im Vergleich zum „Beseitigen“ deutlich mehr Raum ein. Der Zweite Senat weist dem Begriff des „Beeinträchtigens“ nunmehr ausdrücklich einen eigenständigen Regelungsgehalt zu, der über denjenigen des „Beseitigens“ hinaus202  So Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 158; erstmals wurde dieser Aspekt in v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 143 erwähnt („übersehen worden“). 203  Hierzu unten sub III. 204  BVerfGE 144, 20 (211, Rn. 550).



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“199

geht. Von einem „Beeinträchtigen“ ist danach auszugehen, „wenn eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt“.205 Diese Definition des BVerfG ist insofern etwas misslich, als dass der unbestimmte Begriff des „Beeinträchtigens“ wiederum anhand weiterer, der näheren Auslegung bedürfenden Formulierungen wie „hinreichende Intensität“ und „spürbare Gefährdung“ interpretiert wird. Aus den gewählten Umschreibungen geht jedenfalls nicht klar hervor, welche genauen Anforderungen an die Störungsintensität bzw. die Schadensqualität am Rechtsgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stellen sind. Hinzu kommt, dass die „spürbare Gefährdung“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sich als eine Folge des politischen Konzepts der Partei darstellen soll. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie ein politisches Konzept alleine eine solche „spürbare Gefährdung“ der Grundordnung „bewirken“ kann. So weist Shirvani206 zu Recht darauf hin, dass eine Kleinstpartei, welche sich in ihrem Programm zum Ziel gesetzt hat, die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch Errichtung eines totalitären Regimes auszuhöhlen, keine „spürbare Gefährdung“ der Grundordnung wird bewirken können; zumindest keine, die tatsächlich spürbar ist. Dadurch verwischt die bundesverfassungsgerichtliche Definition des „Beeinträchtigens“ die Abgrenzung zwischen der (noch) imaginären Ebene der von der Partei angestrebten Zielerreichung – diese soll mit der Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einhergehen – und der tatsächlichen Ebene des Auftretens und der Aktivitäten der Partei, also dem objektiv-realen Status quo.207 Bei dem politischen Konzept einer Partei – das kann die Programmatik oder das Verhalten ihrer Anhänger sein – handelt es sich im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal, welches die Erkenntnisquelle für die Feststellung der auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichteten Bestrebungen der Partei darstellt.208 Das Bindeglied zwischen den Zielen der Partei oder den Handlungen ihrer Anhänger und dem angestrebten Erfolg der Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bildet dagegen das tätigkeitsbezogene Merkmal des „Darauf Ausgehens“, welchem die Funktion einer Eingriffsschwelle zukommt.209 An dieser Stelle geht es aber 205  BVerfGE

144, 20 (213, Rn. 556). DÖV 2017, 477 (480). 207  Vgl. auch Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 f. Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 357, schlägt sogar vor, die Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach den Zielen der Partei als Verbotsalternative gänzlich außer Betracht zu lassen. 208  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 557). 209  Hierzu unten sub D. 206  Shirvani,

200

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

allein um die Bestimmung dessen, in welchen Fällen im Unterschied zum „Beseitigen“ von einem „Beeinträchtigen“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gesprochen werden kann. Oder mit anderen Worten: Was muss mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung passieren, damit sie zwar noch nicht beseitigt ist, aber bereits als „beeinträchtigt“ gilt? Zudem hat der Senat die Tatbestandsalternative des „Beseitigens“ zuvor auch nicht mit den anderen Tatbestandsmerkmalen „Ziele und Verhalten der Anhänger“ und „darauf ausgehen“ vermengt. Das BVerfG selbst versucht immerhin seine wie eben festgestellt recht vage Formel des „Beeinträchtigens“ näher zu präzisieren. Dies gelingt jedoch nur bedingt, da die Erläuterungen des Zweiten Senats, wie nachfolgend aufgezeigt wird, insgesamt nicht ganz konsistent sind. Eine mit hinreichender Intensität bewirkte spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung soll bereits dann vorliegen, wenn eine Partei qualifiziert die Außerkraftsetzung der bestehenden Verfassungsordnung betreibe, gleich welche andere Ordnung nach den Vorstellungen der Partei an deren Stelle treten soll.210 Auch diese Umschreibung des BVerfG zum Bedeutungsgehalt des „Beeinträchtigens“ vermag dieses Tatbestandsmerkmal zunächst nicht weiter hilfreich zu präzisieren. Die Formulierungen „hinreichende Intensität“ und „spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ werden nun als „qualifiziertes Betreiben der Außerkraftsetzung der bestehenden Verfassungsordnung“ umschrieben. Unklar ist, warum der Zweite Senat hier auf den Begriff der „Verfassungsordnung“ anstelle von „freiheitlicher demokratischer Grundordnung“ rekurriert, hat er doch im Rahmen seiner Inhaltsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuvor zutreffend festgestellt, dass die Grundordnung mit der Verfassungsordnung gerade nicht identisch ist, sondern sich aus bestimmten, für eine freiheitliche Demokratie unverzichtbaren Prinzipien zusammensetzt und nur einen Ausschnitt der gesamten bestehenden Ordnung des Grundgesetzes abbildet.211 Das Außerkraftsetzen nicht jeder Bestimmung oder jedes Prinzips des Grundgesetzes stellt deshalb auch einen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Freilich wäre die Grundordnung jedenfalls dann betroffen, wenn die Partei die gesamte bestehende Verfassungsordnung der Bundesrepublik abschaffen will. Überdies ist die Bezugnahme auf die Verfassungsordnung auch nicht ganz konsistent mit der einschränkenden Feststellung des Senats, dass nicht aus jeder verfassungswidrigen Forderung für sich genommen auf das Ziel einer Beeinträchtigung der Grundordnung geschlossen werden kann, sondern nur dann, wenn sich die Partei „gezielt gegen diejenigen fundamentalen Prinzipien wendet, die für ein freiheitliches 210  BVerfGE 211  BVerfGE

144, 20 (213, Rn. 556). 144, 20 (203, Rn. 531).



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“201

und demokratisches Zusammenleben unverzichtbar sind“.212 Ohnehin stellt sich an dieser Stelle die Frage nach dem eigenständigen Bedeutungsgehalt letzter Aussage, konstituieren die für ein freiheitliches und demokratisches Zusammenleben unverzichtbaren fundamentalen Prinzipien doch gerade die freiheitliche demokratische Grundordnung als tatbestandliches Schutzgut des Art. 21 Abs. 2 GG. Auch beim „Beeinträchtigen“ sei aufgrund der Verschränkung und des sich gegenseitigen Bedingens der Grundordnungselemente ausreichend, dass sich die Partei gegen (nur) eines der drei Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richte. Deshalb liege ein zum Parteiverbot führendes „Beeinträchtigen“ auch schon dann vor, wenn die Partei nur eines der konstituierenden Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt und bekämpft, sich aber zu den anderen bekennt.213 Gerade aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen den Grundordnungselementen ist eine Konstellation ohnehin nicht denkbar, in der eine Partei beispielsweise die Würde des Menschen nicht anerkennt, gleichzeitig aber für einen demokratischen Rechtsstaat eintritt oder anders­ herum das demokratische System durch ein totalitäres ersetzen will, dabei jedoch die Freiheit und Gleichheit des einzelnen Menschen betont. Insgesamt bleibt trotz der Ausführungen des BVerfG weiterhin unklar, welche Anforderungen an eine „Beeinträchtigung“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gestellt werden und wo letztlich der Unterschied zur Tatbestandsalternative des „Beseitigens“ liegt. Dies ist auch auf die eben schon zitierten verschiedenen Formulierungen zurückzuführen, mit denen der Senat den Zustand der „Beeinträchtigung“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung näher zu erläutern versucht: Aus einer mit „hinreichender Intensität zu bewirkenden spürbaren Gefährdung“ der Grundordnung wird das „qualifizierte Betreiben der Außerkraftsetzung“ der Verfassungsordnung. Eine Außerkraftsetzung der Verfassungsordnung betreibt die Partei in qualifizierter Weise aber schon dann, wenn sie sich gegen eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung „wendet“ und – so die Diktion im darauffolgenden Satz – dieses „ablehnt und bekämpft“.214 Die vorstehenden Umschreibungen drücken aber nach herkömmlichem Sprachgebrauch jeweils eine unterschiedliche Schädigungsintensität aus: So kommt das „Außerkraftsetzen“ einer Beseitigung gleich und stellt etwas anderes dar als eine „spürbare Gefährdung“. Auch wer sich gegen etwas „wendet“ oder etwas „ablehnt“, muss dies nicht zwangsläufig gleich auch „bekämpfen“. Ausgehend von der Kritik an der uneinheitlichen und unklaren Terminologie des Zweiten Senats im Rahmen seiner Ausführungen zur Bedeutung des 212  BVerfGE

144, 20 (214, Rn. 556). 144, 20 (213 f., Rn. 556). 214  BVerfGE 144, 20 (213 f., Rn. 556). 213  BVerfGE

202

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

„Beeinträchtigens“ monieren Leggewie/Lichdi/Meier zudem, dass diese bundesverfassungsgerichtliche Interpretation entgegen dem vom BVerfG im NPD-Urteil selbst postulierten Gebot restriktiver Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale zu extensiv sei und den ihrer Ansicht nach bestehenden Widerspruch zwischen Parteiverbot und Parteien- bzw. Meinungsfreiheit verschärfe, indem für eine Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bereits bloße Forderungen einer Partei ausreichend seien.215 Diese Auffassung verkennt aber, dass aus den politischen Forderungen der Partei nur auf das Ziel einer Beeinträchtigung der Grundordnung geschlossen werden kann.216 Das BVerfG hat den Begriff des „Beeinträchtigens“ entgegen der Behauptung von Leggewie/Lichdi/Meier deshalb nicht schon auf die Ebene der parteipolitischen Forderungen vorverlagert. Nicht die Forderung als solche stellt eine Beeinträchtigung der Grundordnung dar. Eine Beeinträchtigung der Grundordnung ist vielmehr jener Zustand, der bei Realisierung der Forderungen der Partei eintreten würde, d. h. der von der Partei angestrebte Zustand. 3. Stellungnahme Angesichts der aufgezeigten Defizite bei der Definition des „Beeinträchtigens“ stellt sich die Frage, ob nicht das bisherige in der Literatur entwickelte Verständnis der beiden Tatbestandsalternativen des „Beeinträchtigens“ und „Beseitigens“ prägnanter und griffiger zum Ausdruck gebracht hat, was unter diesen beiden Begriffen zu verstehen ist und wo die Unterscheidung zwischen ihnen liegt.217 Mit Blick auf das einfacher zu handhabende „Beseitigen“ ergeben sich zwischen der neuen bundesverfassungsgerichtlichen Definition und dem bis dahin vorherrschenden Begriffsverständnis in der Literatur keine Unterschiede. Es wäre somit allenfalls mit Blick auf die Beeinträchtigungsalternative zu diskutieren, ob darunter in Abgrenzung zum „Beseitigen“ nicht besser die im Schrifttum vorgeschlagene schrittweise Ablösung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch Abschaffung ihrer Elemente nach und nach zu verstehen sei. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass dieses Verständnis des „Beeinträchtigens“ noch auf Grundlage der bisherigen Enumerativdefinition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus dem SRP- und KPD-Urteil entwickelt wurde. Auch nach dem „alten“ Grundordnungsverständnis waren aber alle vom BVerfG darunter gefassten Elemente konstituierend für die Grundordnung, d. h. in der Ablösung 215  Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (325); ähnlich schon vor dem NPDUrteil Michael, in: FS Tsatsos, S. 383 (398). 216  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 556). 217  Dafür wohl Shirvani, DÖV 2017, 477 (480).



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“203

auch nur eines Elements (z. B. des Mehrparteiensystems) lag neben einer „Beeinträchtigung“ zugleich auch immer eine „Beseitigung“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung insgesamt vor. Eine „teilweise Beseitigung“ der Grundordnung kann es streng genommen gar nicht geben, denn wenn jedes ihrer Elemente – gleich, ob nach „altem“ oder „neuem“ Verständnis – für sich genommen einen konstitutiven Bestandteil der Grundordnung bildet, wird dessen Abschaffung immer zu einer vollständigen Beseitigung der Grundordnung führen, da mit Wegfall eines konstituierenden Elements die freiheitliche demokratische Grundordnung als solche nicht mehr existiert. Auch nach der bisherigen Interpretation der beiden Begriffe „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ und unter Zugrundelegung der Grundordnungsformel aus dem SRP- und KPD-Urteil war demnach keine eindeutige Differenzierung zwischen den Tatbestandsalternativen möglich. Übertragen auf das neue Grundordnungsverständnis würde der bisherige Literaturansatz die Konturen zwischen „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ nur noch weiter verwischen. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählt das BVerfG neben der Menschenwürde noch das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, soweit diesen Prinzipien ein Menschenwürdegehalt innewohnt.218 Da somit alle drei Elemente miteinander verschränkt sind, ist eine „schrittweise“ oder „teilweise“ Ablösung der Grundordnung gar nicht denkbar. Ein Angriff auf eines der Wesensmerkmale der Grundordnung hätte immer auch gleichzeitig einen Angriff auf die anderen beiden zur Folge. Auch die punktuelle Abschaffung einzelner Unterelemente innerhalb eines der drei Grundordnungselemente (z. B. des Gewaltmonopols des Staates als von der Grundordnung umfasste Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips) ist nicht möglich, ohne dass dies mit einer angestrebten Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung insgesamt einhergeht. Weder die Interpretation des Schrifttums vor dem NPD-Verbotsverfahren noch die Definition des BVerfG im NPD-Urteil können den vom „Beseitigen“ unterschiedlichen Regelungsbereich des „Beeinträchtigens“ überzeugend herausarbeiten. Beide Begriffe liegen inhaltlich sehr dicht beieinander und sind sogar deckungsgleich, wenn man in der „Beeinträchtigung“ als stufen- bzw. teilweiser Beseitigung der Grundordnung konsequenterweise zugleich auch eine Beseitigung der Grundordnung insgesamt sieht. Eine sinnvolle Differenzierung im Zusammenhang mit dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG ist damit praktisch nicht möglich.219 Für die Entscheidungspraxis hat die Unterscheidung bislang ohnehin keine Rolle gespielt. An die beiden Tatbestandsalternativen knüpfen jeweils keine unterschiedlichen Rechtsfol218  BVerfGE

144, 20 (203, Rn. 529). auch Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 662 (Juli 2020), wonach die „Beeinträchtigung“ ein der „Beseitigung“ vergleichbares Gewicht haben muss. 219  Vgl.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

gen an. Auch im NPD-Urteil kam es trotz der erstmaligen begrifflichen Unterscheidung zwischen „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ durch das BVerfG im Ergebnis nicht darauf an, weil der Senat festgestellt hat, dass die NPD nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der bestehenden Ordnung anstrebt.220

III. „Beeinträchtigen“ als Redaktionsversehen? Neben seiner Konkretisierung des Begriffs des „Beeinträchtigens“ hat das BVerfG zu der teilweise in der Literatur im Rahmen der Auslegung dieses Merkmals vertretenen Ansicht Stellung bezogen, die Aufnahme dieser Tatbestandsalternative in die endgültige Fassung der Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. beruhe auf einem Redaktionsversehen. Das BVerfG musste sich mit dieser Frage auseinandersetzen, weil die NPD im Parteiverbotsverfahren – maßgeblich gestützt auf den Befund in der Dissertation von Meier221  – in ihrer Antragserwiderung den Einwand erhoben hatte, bei dem Tatbestandsmerkmal des „Beeinträchtigens“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung handele es sich aufgrund des Redaktionsversehens nicht um gültiges Verfassungsrecht.222 Der Zweite Senat hat diesen Einwand zurückgewiesen und sieht in der Existenz dieses Tatbestandsmerkmals kein Redaktionsversehen des Verfassungsgebers. Von einem Redaktionsversehen wird allgemein gesprochen, wenn der Gesetzeswille mit dem Gesetzeswortlaut nicht übereinstimmt, der Gesetzgeber also versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Gesetzestext belassen hat, als er beabsichtigte.223 Darunter sind jedenfalls die Fälle zu fassen, in denen der (künftige) Gesetzeswortlaut eine bereits vor oder bei der Beschlussfassung entstandene Abweichung von dem von den Gesetzesredakteuren eigentlich gewollten Wortlaut der Norm enthält, der Fehler also bereits im Text des verabschiedeten Gesetzes vorhanden ist.224 Ob auch spätere, sich im Rahmen der Verkündung des Gesetzes als Druckfehler oder Publikationsversehen eingeschlichene Fehler eine Unterkategorie des Redaktionsversehens bilden, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben.225 220  BVerfGE

144, 20 (306, Rn. 844). Parteiverbote und demokratische Republik, S. 155 ff. 222  Antragserwiderung NPD, S. 11 ff.; BVerfGE 144, 20 (120, Rn. 262). 223  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 400; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 204. 224  Jahr, in: FS Kaufmann, S. 141. 225  Dafür Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 204; zwischen Redaktionsversehen und Publikationsversehen differenzierend Riedl, AöR 119 (1994), 642 (646 f.) und Hamann, AöR 139 (2014), 446 (450). 221  Meier,



B. „Beeinträchtigen oder Beseitigen“205

Anders als Meier sieht der Senat auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Dokumente über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Parteiverbotsartikel keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Aufnahme der Tatbestandsalternative des „Beeinträchtigens“ in den Normtext des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. auf einem solchen Redaktionsversehen beruht.226 Nach Ansicht von Meier kommt es bei der Frage, ob ein Redaktionsversehen vorliege oder nicht, neben der Feststellung des Fehlers auf der objektiven Ebene des Beratungstextes entscheidend auf den Vorstellungshorizont der Beteiligten an.227 Vor allem das entscheidende Abstellen auf die subjektive Komponente des Vorstellungshorizontes der beteiligten Gesetzesredakteure bei der Aufdeckung von Redaktionsfehlern erscheint fraglich, zumal in der juristischen Methodenlehre umstritten ist, wie ein Redaktionsversehen des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers überhaupt sicher diagnostiziert werden kann. Nach einer restriktiven Ansicht darf auf die Argumentationsfigur des Redaktionsversehens nur dann zurückgegriffen werden, wenn die am Wortlaut und Normzweck ausgerichtete Gesetzesauslegung zu keinem sinnvollen Ergebnis kommt und ein Versehen bei der Fassung des Gesetzeswortlauts damit offensichtlich ist.228 Teilweise wird auch zwischen einfachen (offensichtlichen) und qualifizierten (nicht offensichtlichen) Redaktionsversehen differenziert, wobei wiederum streitig ist, in welchen Fällen ein Redaktionsversehen als offensichtlich einzustufen ist und ob sich das Redaktionsversehen bereits aus dem Gesetzestext selbst ergeben muss oder erst durch Rückgriff auf andere Erkenntnisquellen wie Gesetzgebungsmaterialien oder sogar nicht allgemein zugänglichen Texten.229 Auch der Ansatz von Meier lässt im konkreten Fall keinen sicheren Schluss auf das Vorliegen eines Redaktionsversehens hinsichtlich der Existenz der Tatbestandsalternative des „Beeinträchtigens“ zu. So beschreibt Meier zwar unter Heranziehung der Beratungsprotokolle des Parlamentarischen Rates zur Entstehung des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. ausführlich die Genese des letztlich verabschiedeten Gesetzeswortlauts des Art. 21 Abs. 2 GG a. F., kann das Vorliegen eines Redaktionsversehens indes nicht stichhaltig belegen. Wie bereits erwähnt wurde230, stützt Meier seine These vom Redaktionsversehen auf die Tatsache, dass die im Zuge einer Lesung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates gestrichene Beeinträchtigungsalternative in späteren Lesungen ohne eine diesbezügliche dokumentierte Beratung wieder in den 226  BVerfGE

144, 20 (211 f.). Parteiverbote und demokratische Republik, S. 160. 228  Jahr, in: FS Kaufmann, S. 141 (149); Heberlein, BayVBl. 1993, 743 (745). 229  Vgl. dazu Hamann, AöR 139 (2014), 446 (452 ff.) und Riedl, AöR 119 (1994), 642 (650 ff.) m. w. N. 230  Vgl. oben sub I. 227  Meier,

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Normtext aufgenommen wurde. Der Hintergrund für die Wiederaufnahme der Tatbestandsalternative des „Beeinträchtigens“, insbesondere ob dies da­ rauf zurückzuführen ist, dass zunächst der Hauptausschuss und später auch das Plenum des Parlamentarischen Rates den Wortlaut der beschlossenen Vorschrift nicht zur Kenntnis genommen haben, kann anhand der zur Verfügung stehenden Materialien zur Entstehung des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden. Damit ist auch das Vorliegen eines objektivfehlerhaften Gesetzeswortlauts nicht eindeutig festzustellen, weshalb auch Meier selbst über einen möglichen Irrtum des Verfassungsgebers „nur Vermutungen anstellen“ kann.231 Daneben sieht das BVerfG auch ungeachtet der Frage, worauf die Wiederaufnahme der Beeinträchtigungsalternative in den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. zurückzuführen ist, im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung zur Auslegung von Gesetzen hier keinen Raum für die Annahme eines Redaktionsversehens. Danach ist für die Interpretation einer Norm nicht der Rückgriff auf die in den Gesetzesmaterialien dokumentierten Vorstellungen der Gesetzesredakteure maßgebend, sondern der in der Gesetzesbestimmung zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder sind dagegen nicht entscheidend und können bei der Auslegung nur insoweit berücksichtigt werden, als sie im objektiven Gesetzestext selbst einen Niederschlag gefunden haben.232 Zwar seien für die Erfassung des ­ objektiven Willens des Gesetzgebers alle anerkannten Auslegungsmethoden heranzuziehen, die sich gegenseitig ergänzen, was auch die Dokumentation zum Prozess der Genese der Norm mit einschließt. Der Entstehungsgeschichte einer Norm komme für deren Auslegung aber regelmäßig nur insoweit Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den anderen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die ansonsten nicht ausgeräumt werden können, weil die Gesetzesmaterialien nicht mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichgesetzt werden können.233 Insofern ist nach der Rechtsprechung des BVerfG bei der Heranziehung von Gesetzesmaterialien Zurückhaltung geboten und ein etwaiger Widerspruch zwischen Normtext und den dokumentierten Vorarbeiten des Gesetzes anhand des Vorrangs des Gesetzeswortlauts aufzulösen. 231  Meier,

Parteiverbote und demokratische Republik, S. 158. 144, 20 (212 f., Rn. 555); davor bereits st. Rspr. in BVerfGE 1, 299 (312); 10, 234 (244); 11, 126 (130 f.); 33, 265 (294); 62, 1 (45); 133, 168 (205, Rn. 66). 233  BVerfGE 144, 20 (213, Rn. 555); davor bereits st. Rspr. in BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (130 f.); 59, 128 (153); 62, 1 (45); 119, 96 (179). Zur Verfassungsinter­ pretation näher unten sub D. II. 3. a) aa). 232  BVerfGE



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel207

Den Ausführungen des BVerfG zur Normauslegung fehlt im NPD-Urteil an dieser Stelle allerdings der konkrete Fallbezug, weil der Senat daraus keine Schlussfolgerung für die Tatbestandsalternative des „Beeinträchtigens“ in Art. 21 Abs. 2 GG zieht, sondern sich sogleich der Inhaltsbestimmung dieser Formulierung zuwendet. Es wäre daher in Konsequenz der Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze angezeigt gewesen, als Ergebnis festzustellen, dass ausgehend vom Wortlaut und Sinnzusammenhang des Art. 21 Abs. 2 GG keine Anhaltspunkte für eine Divergenz zwischen dem tatsäch­ lichen, im Gesetzestext aber nur unvollständig zum Ausdruck gekommenen Willen des Verfassungsgebers und dem für die Auslegung maßgeblichen, in den Wortlaut der Norm eingegangenen objektivierten Willen des Verfassungsgebers vorliegen. Die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen „Beeinträchtigen“ und „Beseitigen“ begründen jedenfalls kein Argument für ein Redaktionsversehen des Verfassungsgebers, weil diese auch mit der bundesverfassungsgerichtlichen Auslegung des Schutzguts der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung zusammenhängen. Vielmehr ist ausgehend vom Wortlaut und Präventionszweck des Art. 21 Abs. 2 GG anzunehmen, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung umfassend gegen jegliche denkbaren Störungsszenarien geschützt werden sollte. Im Ergebnis hat der Senat den Einwand der NPD, es handele sich bei dem Tatbestandsmerkmal „Beeinträchtigen“ um ein Redaktionsversehen, dennoch zutreffend zurückgewiesen.

C. Ziele der Partei oder Verhalten ihrer Anhänger als Erkenntnismittel Die „Ziele“ der Partei oder das „Verhalten ihrer Anhänger“ sind nach dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG die einzigen Erkenntnisquellen für die Feststellung, ob eine Partei die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt und somit verfassungswidrig ist.234 Ihnen kommt im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG die Funktion als äußere Zurechnungsmerkmale für die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Partei zu.235 Die Kombination aus der Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als den von der Partei anvi234  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 557); Sichert, DÖV 2001, 671 (676); Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (152). Seifert, Politische Parteien, S. 467 und DÖV 1961, 81 (83), weist jedoch zutreffend darauf hin, dass das BVerfG im SRP-Urteil seine Feststellungen zur inhaltlichen Ausrichtung der Partei in erheblichem Umfang auf die innere Ordnung der Partei, insb. ihre Satzung, sowie die Zusammensetzung und Biografien ihrer Führungsorgane gestützt hat, vgl. BVerfGE 2, 1 (14 und 23 ff.). 235  Jacob, jM 2017, 110 (112).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

sierten Störungsschäden und den Parteizielen sowie dem Anhängerverhalten als dafür zur Verfügung stehende Erkenntnisquellen lässt insgesamt vier tatbestandliche Schadensvarianten zu: Die Partei kann die freiheitliche demokratische Grundordnung nach ihren Zielen beeinträchtigen oder beseitigen wollen, oder sie strebt an, dies durch das Verhalten ihrer Anhänger zu tun.236 Ein Teil der Literatur weist darauf hin, dass die Formulierung „nach ihren Zielen“ im Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG genau genommen nicht ganz stimmig sei, weil das handlungsbezogene Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ eine Zielorientierung bereits voraussetze.237 Die Konstruktion des Tatbestandes macht die Ziele der Partei neben dem Verhalten der Anhänger als eines der Erkenntnismittel jedoch zu einem eigenständigen Tatbestandsmerkmal, während die Wendung „darauf ausgehen“ die Eingriffsschwelle für ein Parteiverbot bestimmt und zugleich das Verbindungselement zwischen den Zielen der Partei oder dem Anhängerverhalten einerseits und dem erstrebten Erfolg andererseits bildet.238

I. Ziele der Partei Das BVerfG definiert das Tatbestandsmerkmal der „Ziele“ einer Partei unter Bezugnahme auf seine Ausführungen im KPD-Urteil als „Inbegriff dessen, was eine Partei politisch anstrebt, unabhängig davon, ob es sich um Zwischen- oder Endziele, Nah- oder Fernziele, Haupt- oder Nebenziele handelt“.239 Für die Ermittlung der Ziele der Partei seien neben dem Parteiprogramm und sonstigen parteiamtlichen Erklärungen auch Schriften über die politische Ideologie der Partei, Reden der führenden Parteifunktionäre, die in der Partei verwendeten Schulungs- und Propagandamaterialien sowie die von ihr herausgegebenen oder beeinflussten Zeitungen und Zeitschriften zugrunde zu legen.240 Im KPD-Urteil lässt das BVerfG daneben noch allgemein aus dem „Verhalten der Parteiorgane und der Anhänger“ Schlüsse auf die Zielsetzung der Partei zu und rekurriert damit bereits auf die zweite Nachweismöglichkeit im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG.241 Diesen Satz 236  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 356 f.; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 153. Zu der Tatsache, dass die Alternativen „beeinträchtigen“ und „beseitigen“ im Ergebnis deckungsgleich sein dürften, siehe bereits oben sub B. II. 3. 237  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 275; Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 49; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 535 (Januar 2018). 238  Hierzu unten sub D. 239  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 558), unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (143 ff.). 240  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 558), unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (144). 241  BVerfGE 5, 85 (144).



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel209

nimmt das BVerfG im NPD-Urteil im Rahmen seines Rückgriffs auf die einschlägige Passage im KPD-Urteil nicht mehr auf. Es ist anzunehmen, dass der Senat an dieser Stelle nicht schon seine späteren Ausführungen zum Anhängerbegriff und zur Verhaltenszurechnung vorweg nehmen wollte.242 Weiterhin bestätigt das BVerfG seine Rechtsprechung aus den früheren Verbotsurteilen, wonach die „wirklichen Ziele“ der Partei entscheidend seien und nicht unbedingt die offiziell nach außen kommunizierten Verlautbarungen.243 Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass eine Partei, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung bereits dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit ausgesetzt sieht und möglicherweise unter nachrichtendienstlicher Beobachtung steht, soweit es geht versuchen wird, ihre wahren verfassungswidrigen Absichten zu verschleiern und sich durch ihr Programm und das Auftreten ihrer Funktionäre nach außen hin als moderat und auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehend zu präsentieren. Der Zweite Senat hält bei der Bestimmung der „Ziele“ der Partei damit an seiner bisherigen Praxis und den Kriterien aus dem SRP- und KPD-Urteil fest, ohne diese mit substanziell neuen Erläuterungen anzureichern. Der Senat hat an dieser Stelle wohl auch keinen Handlungsbedarf gesehen, da die Rechtsprechung des BVerfG in der Literatur doch auf fast einhellige Zustimmung gestoßen ist.244 Nur einzelne Stimmen aus dem Schrifttum sehen die fehlende Unterscheidung des BVerfG zwischen Nah- und Fernzielen der Partei sowie den reduzierten Stellenwert des Parteiprogramms bei der Suche nach den tatsächlichen Zielen kritisch.245 Danach sollen verfassungswidrige Ziele i. S. v. Art. 21 Abs. 2 GG nur solche sein, die von der Partei in ihrem aktuellen politischen Tageskampf offen propagiert werden und die nach dem Willen der Partei in absehbarer Zeit umgesetzt werden sollen. Eine Einbeziehung politischer Fernziele, bei denen der Zeitraum für deren politische Durchsetzung noch völlig offen ist, sei dagegen fiktional und deshalb abzulehnen.246 Problematisch sei zudem die Suche nach den wirklichen Parteizielen außerhalb des Parteiprogramms, weil diese dazu geeignet sei, politischen Unterstellungen Vorschub zu leisten und nicht an den Beweiswert des Parteiprogramms als primäre Quelle für die Kodifikation der Ziele einer Partei herankomme. Eine Relativierung des Parteiprogramms im Rahmen der Feststellung der Parteiziele dürfe dementsprechend nur dann vorgenommen wer242  Hierzu

sogleich unten sub II. 144, 20 (215, Rn. 559); davor bereits BVerfGE 2, 1 (20); 5, 85 (144). 244  Sichert, DÖV 2001, 671 (676); Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (152); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 76 (6. Auflage). 245  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 275 ff.; Leggewie/Lichdi/ Meier, RuP 2017, 324 (325 f.). 246  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 276 f. 243  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

den, wenn die Tagespolitik der Partei offenkundig von ihren programmatischen Standpunkten abweicht.247 Die unveränderte Rechtsprechung des BVerfG verdient weiterhin Zustimmung. Gerade den verschleierten Zielen einer Partei, die sich nicht den offiziellen, öffentlichen Dokumenten, Verlautbarungen oder Äußerungen entnehmen lassen, kommt im Rahmen des Verbotsverfahrens bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit besondere Bedeutung zu. Dabei geht es nicht darum, den Inhalt und Beweiswert des offiziellen Parteiprogramms zu relativieren, doch wird eine verfassungsfeindliche Partei ihr wahres Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, nur selten eindeutig im Parteiprogramm artikulieren, so dass diesem tatsächlich in vielen Fällen nur eine eingeschränkte Aussagekraft zukommen wird. An den Nachweis der verborgenen Ziele und den Beweiswert des gesammelten Materials werden durch das BVerfG bestimmte verfahrensrechtliche Anforderungen gestellt, welche die Gefahr von politischen Verdächtigungen oder Unterstellungen eindämmen.248 Auch ist der Auffassung entgegenzutreten, dass politische Fernziele einer Partei nicht unter die „Ziele“ i. S. v. Art. 21 Abs. 2 GG fallen sollen. Der Parteiverbotstatbestand ist eine Bestimmung des präventiven Verfassungsschutzes. Es kann für die Bewertung der von einer extremistischen Partei ausgehenden Gefahr daher keinen Unterschied machen, ob die Partei in einem ersten Schritt für den Fall eines Wahlerfolges noch moderate Ziele ausgibt und erst später die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durchsetzen will, oder ob das als erste Maßnahme ihrer politischen Agenda von vornherein der Plan ist. Das Instrument des Parteiverbots würde zudem Gefahr laufen, wirkungslos zu werden, wenn sich die Zielsetzung der Partei, die Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, bereits in der Umsetzungsphase befindet. Schließlich entscheiden nach dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG nicht alleine die Ziele über ein Parteiverbot. Das Tatbestandsmerkmal „da­ rauf ausgehen“ erfordert ein Tätigwerden der Partei mit Blick auf ihre Zielsetzung; allein die Niederschrift von Fernzielen im Parteiprogramm ohne ­jedes aktive Handeln in Richtung einer Durchsetzung dieser Ziele oder von Zwischenschritten auf dem Weg zur Zielerreichung begründet noch kein Parteiverbot.249

247  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 278 f.; zustimmend Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 117. 248  Vgl. hierzu oben Kapitel 3 sub B. 249  Hierzu unten sub D.



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel211

II. Verhalten der Anhänger Neben den Zielen einer Partei bleibt als zweite Erkenntnisquelle für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit das „Verhalten ihrer Anhänger“. Der Normgeber ist davon ausgegangen, dass sich die Absichten der Partei auch im Verhalten der Anhänger spiegeln und die Partei durch ihr Wirken bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Anhänger nimmt.250 1. Anhänger Wie schon bei der Interpretation des Tatbestandsmerkmals der „Ziele“ hält der Zweite Senat auch beim Anhängerbegriff an seiner Definition aus früheren Verbotsurteilen fest. Danach sind Anhänger „alle Personen, die sich für eine Partei einsetzen und sich zu ihr bekennen, auch wenn sie nicht Mitglied der Partei sind“.251 Die Ausführungen im SRP-Urteil beschränken sich jedoch schon auf eben genannte Definition. Das BVerfG verzichtet auch im NPD-Urteil auf eine Weiterentwicklung und nähere Präzisierung des Anhängerbegriffs. Auch im Schrifttum ist diese Definition des Parteianhängers weitgehend übernommen worden und unkommentiert geblieben.252 Eine abschließende Aufzählung von bestimmten Personengruppen, die als Parteianhänger anzusehen sind, kann aufgrund der Vielfalt möglicher Bindungen und Beziehungen zur Partei sowie von parteifördernden Einsatzmöglichkeiten ohnehin nicht sinnvoll vorgenommen werden. Das Vorliegen der Eigenschaft als „Anhänger“ der Partei muss deshalb in jedem Fall anhand der konkreten Umstände festgestellt werden. Soweit Seifert253 für eine zusätzliche restriktive Auslegung des Begriffs des Anhängers plädiert, indem er zu den Anhängern nur De-facto-Mitglieder, Förderer (Spender, Propagandisten, Fürsprecher) sowie die Nebenorganisationen der Partei mitsamt Mitgliedern zählen will, keinesfalls dagegen Wähler, beliebige Sympathisanten und Veranstaltungsbesucher in ihrer Gesamtheit, ist dem bereits entgegenzuhalten, dass die Definition des BVerfG ein solches weites Anhängerverständnis gar nicht hergibt, da sie für das Vorliegen der Eigenschaft als „Anhänger“ ein SichEinsetzen für die Partei und ein Sich-Bekennen zu der Partei verlangt, was jedenfalls mehr ist als die bloße Wahlentscheidung für eine Partei oder der gelegentliche Besuch einer Parteiveranstaltung. Mit Meier ist daher für ein 250  BVerfGE

2, 1 (22). 144, 20 (215, Rn. 560), unter Hinweis auf BVerfGE 2, 1 (22). Im KPD-Urteil hat der Begriff dagegen keine Rolle gespielt. 252  Vgl. Perng, Theorie und Praxis des Parteiverbotssystems, S. 142; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 116; Volkmann, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 21 Rn. 96 (Dezember 2001). 253  Seifert, Politische Parteien, S. 468. 251  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zwischen Partei und Anhängern eine kontinuierliche Beziehung der Person zu der betreffenden Partei zu verlangen. Als Beispiele nennt Meier neben Spendern und Gönnern etwa auch die regelmäßige Betätigung im parteieigenen Ordnungsdienst, Verfasser von Publikationen in Parteizeitschriften, Festredner auf Parteiveranstaltungen, Wahlkampfhelfer oder Demonstrationsaktivisten.254 Eine Unterscheidung zwischen Anhängern und Nicht-Anhängern kann auf dieser Grundlage pro­ blemlos getroffen werden, weshalb das BVerfG auch klargestellt hat, dass das Tatbestandsmerkmal des „Anhängers“ nicht gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstößt.255 2. Verhalten Der Verhaltensbegriff wird vom BVerfG nicht näher erläutert. Daher gibt es auch keine Eingrenzung auf bestimmte, taugliche Handlungen oder Verhaltensweisen, die der Partei zurechenbar sind. Unter den Verhaltensbegriff fällt somit jegliches Tun der Parteianhänger, aus dem Rückschlüsse auf eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Haltung gezogen werden können. Die Forderung von Meier256, unter „Verhalten“ nur eine Verletzung der Rechtsordnung durch Anhänger, und zwar regelmäßig unter Gewaltanwendung, zu fassen, ist abzulehnen. Bestrebungen der Partei zur Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung können auch (und gerade!) durch andere Handlungsweisen als die Anwendung illegaler und gewaltsamer Mittel nachgewiesen werden. Auch (anstößige) Äußerungen, die für sich genommen unter dem Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG stehen und strafrechtlich nicht relevant sind, können deshalb für ein Parteiverbotsverfahren herangezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck der organisierten Bestrebungen der Partei zum Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen. Die Reduzierung des Verhaltensbegriffs auf rechtswidriges, gewaltsames Handeln der Anhänger würde eine weder vom Wortlaut noch Sinn und Zweck des Parteiverbotstatbestandes gedeckte, ungeschriebene zusätzliche Eingriffsvoraussetzung bedeuten. Auch aus der Genese des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein Erfordernis des Kriteriums der Il­ legalität oder Gewalt bei dem Verhalten der Anhänger. Die heutige Formulierung „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger“ ist während der Beratungen des Parlamentarischen Rates ohne weitere Diskussionen 254  Meier,

Parteiverbote und demokratische Republik, S. 286 f. 144, 20 (215, Rn. 560). 256  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 282 f.; wohl auch Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (325, 327). 255  BVerfGE



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel213

in der 27. Sitzung des Hauptausschusses vom 15. Dezember 1948 eingefügt worden.257 Eine Vorläuferregelung hatte als Erkenntnismittel für die Verfassungswidrigkeit einer Partei noch das „Programm“ und die „Art ihrer Tätigkeit“ vorgesehen.258 Zu keinem Zeitpunkt wurde in den Beratungen in Erwägung gezogen, die Art der Parteitätigkeit oder das Verhalten der Parteianhänger auf die Anwendung illegaler oder gewaltsamer Mittel zu beschränken. Ein solches Erfordernis erinnert an das formal-legale Demokratieverständnis aus der Weimarer Zeit, als es für Parteiverbote nur auf die Rechtswidrigkeit der Mittel ankam und tatbestandlich nur bestimmte Verhaltensweisen erfasst wurden, die an konkrete Strafgesetze anknüpften. Der Verfassungsgeber hatte aber vor dem Hintergrund der Legalitätstaktik der Nationalsozialisten einen umfassenden Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinn, der nicht erst bei gewaltsamen Aktionen von Parteianhängern greifen soll. Hinzu kommt, dass dem BVerfG damit eine inzidente Prüfungspflicht mindestens für Fälle aufgebürdet würde, bei denen die Rechtswidrigkeit des Verhaltens nicht offenkundig ist und die bislang nicht Gegenstand eines Strafverfahrens gewesen sind. Dies zu bewerten ist aber originäre Aufgabe der ordentlichen Gerichte und nicht des BVerfG. Das Verhalten der Parteianhänger kann jedoch nicht in einem Unterlassen bestehen. Es besteht keine Rechtspflicht des Einzelnen, die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG aktiv zu verteidigen.259 Daneben ist auch keine Fallkon­ stellation denkbar, in der aus einem Unterlassen eines Parteianhängers auf das Streben der Partei nach Beeinträchtigung und Beseitigung der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung geschlossen werden kann.260 Von diesem Problemkreis zu unterscheiden ist das Unterlassen der Partei selbst im Sinne einer unterbliebenen Distanzierung von einem bestimmten Verhalten im Rahmen der Prüfung der Zurechnung des Anhängerverhaltens.261

257  Parlamentarischer

Rat, Bd. 14/1, S. 781 (800). Parlamentarischer Rat, Bd. 13/2, S. 722 (732 ff.). 259  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 283; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 96; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 152; Sichert, DÖV 2001, 671 (676). 260  So auch Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 676 (Juli 2020). Mit Blick auf den Verhaltensbegriff im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 GG wird das Unterlassen gleichzeitig immer mit einem aktiven Tun einhergehen. Begeht etwa der Parteianhänger eine (der Partei zurechenbare) Straftat durch Unterlassen i. S. v. § 13 StGB, liegt das „Verhalten“ des Parteianhängers im Begehen der Straftat. 261  Hierzu sogleich unten sub 3. b). 258  Vgl.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

3. Zurechenbarkeit a) Grundsatz Nicht aus jedem Verhalten eines Parteianhängers können im Verbotsverfahren Rückschlüsse auf die politische Haltung der Partei gezogen werden. Das Anhängerverhalten ist nur dann von Bedeutung, wenn es der Partei auch zugerechnet werden kann, also in einem parteipolitischen Kontext steht. Nach dem als Organisationsverbot ausgestalteten Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 und 4 GG muss schließlich die Partei darauf ausgehen, die freiheit­ liche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen; die Partei ist das Zurechnungsobjekt.262 Eine Verantwortlichkeit der Partei für ihre Anhänger kann aber nur im Rahmen ihrer Einflussmöglichkeiten angenommen werden. Eine pauschale Zurechnung jeglichen Anhängerverhaltens dagegen wäre abwegig und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, da es einer Partei als Massenorganisation mit unüberschaubarer Gefolgschaft gar nicht möglich ist, jedes Verhalten ihrer Anhänger zu steuern oder zu überwachen.263 Nach dem BVerfG ist deshalb Voraussetzung für eine Zurechnung, dass in dem Verhalten des jeweiligen Anhängers der politische Wille der Partei erkennbar zum Ausdruck kommen muss. Von einer solchen Kongruenz zwischen Anhängerverhalten und den politischen Prinzipien einer Partei sei regelmäßig dann auszugehen, wenn sich das Verhalten als Spiegelbild einer in der Partei vorhandenen Grundtendenz darstellt oder sich die Partei das Verhalten ausdrücklich zu eigen macht.264 Es ist somit ausgehend vom Verhalten der Partei her zu bestimmen, ob eine Zurechnung des Verhaltens der Anhänger möglich ist und nicht aus der Perspektive des jeweiligen Anhängers selbst.265 Entgleisungen einzelner Mitglieder oder sonstiger ­Anhänger sind deshalb zu vernachlässigen, wenn die Partei der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gegenüber sonst eine loyale Haltung einnimmt.266 Auch die Problematik des Einsatzes von V-Leuten in den Führungsgremien der Partei durch die Verfassungsschutzbehörden stellt grundsätzlich eine Frage der Zurechenbarkeit des im Parteiverbotsverfahren vorgelegten 262  Vgl. BVerfGE 5, 85 (143): „Es kommt darauf an, ob bewiesen werden kann, daß die politische Partei selbst von einer derartigen Grundtendenz beherrscht wird.“ 263  Seifert, Politische Parteien, S. 469; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 236. 264  BVerfGE 144, 20 (215, Rn. 561). 265  Kunig, in: Isensee/Kirchhof, HStR III (2005), § 40 Rn. 51. 266  BVerfGE 5, 85 (143); zustimmend Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 540 (Januar 2018).



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel215

Beweismaterials dar.267 Durch in die Partei infiltrierte V-Leute besteht die Gefahr, dass diese das Erscheinungsbild einer Partei verfälschen und Einfluss auf den innerparteilichen Willensbildungsprozess nehmen. Denkbar ist, dass der V-Mann durch sein eigenes Verhalten, z. B. durch Äußerungen, Publikationen oder die Anstachelung anderer Personen zur Begehung bestimmter Handlungen, die Partei schädigen will oder diese umgekehrt, etwa durch förmliche Missbilligung von in der Partei ansonsten akzeptierten Anhängerverhaltensweisen, schützen will. Eine Zurechnung von auf V-Leute zurückzuführendes Verhalten muss nach den allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen aber nicht per se ausscheiden. Handelt eine V-Person etwa gezielt als Provokateur und billigt die Partei insgesamt (in Unkenntnis der V-Person-Eigenschaft) dieses Verhalten, weil sich die V-Person dadurch auf Linie der Partei bewegt, kann das Verhalten der V-Person – vorausgesetzt, sie ist „Anhänger“ – der Partei zugerechnet werden, weil sie sich dieses zu eigen macht. Das BVerfG sieht die V-Leute-Problematik aber als eine Frage der Rechtsstaatlichkeit des Parteiverbotsverfahrens an und behandelt sie bereits vor der materiellen Prüfung der Verbotsvoraussetzungen.268 b) Abgestuftes Zurechnungskonzept nach Anhängergruppen Hinsichtlich des Anhängerverhaltens unterscheidet das BVerfG im NPDUrteil zwischen Äußerungen und Handlungen von Parteiführung und leitenden Funktionären (aa), einfacher Mitglieder (bb) und schließlich von Anhängern, welche nicht der Partei angehören (cc). Entsprechend nimmt es auch bei der Frage der Zurechnung des Verhaltens dieser Anhängergruppen eine differenzierte Betrachtung vor und entwickelt ein abgestuftes Zurechnungskonzept, welches an bereits zuvor im Schrifttum skizzierte Ansätze anknüpft.269 Danach gilt im Grundsatz, dass sich die Zurechenbarkeit nach dem Grad der Einflussmöglichkeiten der Partei und der Repräsentationswirkung des jeweiligen Anhängers für die Partei bemisst, wobei sich beide Kriterien wechselseitig bedingen. Je näher der handelnde Anhänger der Partei steht und je bedeutender seine Stellung innerhalb der Parteiorganisation ist, desto repräsentativer wird sein Verhalten für das Agieren und die Positionen der Partei insgesamt sein. Je größer dagegen die Distanz der Anhänger vom inneren Zirkel der Partei ist und je weniger Einfluss- und Steuerungsmöglich267  Redler,

V-Mann, S.  110 ff.; Morlok, Jura 2013, 317 (322). oben Kapitel 3 sub B. 269  BVerfGE 144, 20 (215 f., Rn. 562 ff.); vgl. davor bereits Seifert, Politische Parteien, S. 469; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 152 (Fn. 535); Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (152). 268  Siehe

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

keiten die Partei mit Blick auf das Verhalten ihrer Anhänger aufgrund dessen hat, desto höhere Anforderungen sind an die Zurechnung des Verhaltens zu stellen.270 aa) Leitende Funktionäre der Partei Die Tätigkeit der Organe, insbesondere der Parteiführung und leitender Funktionäre, sowie die Tätigkeit von Publikationsorganen und führenden Funktionären von Teilorganisationen können der Partei nach dem BVerfG daher ohne weiteres zugerechnet werden.271 Die führenden Köpfe innerhalb einer Partei stellen in der Außenwahrnehmung sprichwörtlich das „Gesicht der Partei“ dar und bestimmen wesentlich über den politischen Kurs der Partei. Ihre Äußerungen und sonstigen Aktivitäten mit politischem Bezug werden von der Öffentlichkeit als Ausdruck der Parteilinie angesehen. Da ihre Positionen und Ämter regelmäßig einer Legitimation durch die Basis der Partei bedürfen, kann davon ausgegangen werden, dass deren Verhalten auch von einer mehrheitlichen Akzeptanz innerhalb der Partei getragen wird. Für eine Zurechnung des Handelns der Organe und führender Protagonisten kann daneben auch der Rechtsgedanke der allgemeinen vereins- bzw. körperschaftsrechtlichen Zurechnungsnorm des § 31 BGB herangezogen werden. Eine Zurechnung wird nur dann ausscheiden können, wenn sich die restliche Führungsriege der Partei durch Einleitung entsprechender Konsequenzen deutlich und glaubhaft von dem Verhalten des betreffenden Funktionärs oder Publikationsorgans distanziert. bb) Einfache Parteimitglieder Für eine Zurechnung von Äußerungen und Handlungen einfacher Mitglieder fordert der Zweite Senat, dass diese in einem politischen Kontext stehen und die Partei sie gebilligt oder geduldet hat. Ein politischer Kontext sei anzunehmen, wenn die Äußerung oder Handlung in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Parteiveranstaltung oder sonstigen Parteiaktivitäten steht. In diesem Fall genüge für eine Zurechnung bereits eine unterbliebene Distanzierung der Partei von dem betreffenden Anhängerverhalten. Ist das Verhalten nicht in einen solchen organisatorischen Rahmen eingebettet, muss es sich um eine politische Äußerung oder Handlung des Mitglieds handeln. Im letzteren Fall sei für die Zurechnung zunächst die Kenntnisnahme der Partei von einer solchen Äußerung oder Handlung erforderlich. Auch hier sei aber eine anschließende Duldung des Verhaltens im Sinne der unterlassenen Einleitung 270  Vgl.

Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (152). 144, 20 (215 f., Rn. 562).

271  BVerfGE



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel217

möglicher und zumutbarer Gegenmaßnahmen wie Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Parteiausschluss ausreichend.272 Das BVerfG bürdet der Partei damit eine Distanzierungslast auf.273 Dies ist nicht unbillig, denn auch einfache Mitglieder repräsentieren die Partei in der Öffentlichkeit und können das Erscheinungsbild einer Partei nach außen prägen, etwa durch Reden oder Wortbeiträge im Parlament274 und auf Parteitagen, in Interviews und durch Auftritte in politischen Talkshows. Dem Handeln einfacher Parteimitglieder kommt deshalb ebenfalls ein gewisses Gewicht zu, auch wenn sie nicht über den Kurs der Partei als Ganzes bestimmen können. Will die Partei das betreffende Verhalten nicht gegen sich gelten lassen, muss sie dieses öffentlichkeitswirksam missbilligen und im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Möglichkeiten Vorkehrungen gegen eine Wiederholdung treffen. cc) Sonstige Anhänger Für die Zurechnung von Tätigkeiten einfacher Anhänger ohne Parteimitgliedschaft sieht das BVerfG als notwendige Bedingung an, dass ihr Verhalten von der Partei auf irgendeine Weise im Vorfeld beeinflusst oder nachträglich gebilligt wurde. Hierzu seien regelmäßig eigene Aktivitäten der Partei erforderlich, welche das Verhalten der Anhänger beeinflussen oder dieses rechtfertigen. Dabei müssen „konkrete Tatsachen“ vorliegen, die den Schluss zulassen, dass das Anhängerverhalten als „Ausdruck des Parteiwillens anzusehen“ ist. Eine nur nachträgliche Gutheißung von Äußerungen oder Handlungen sei für eine Verhaltenszurechnung nur dann ausreichend, wenn darin ein erkennbares Sich-Zueigenmachen des Verhaltens durch die Partei als Teil ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen innewohne.275 Richtigerweise muss der Partei auch das Verhalten von Nicht-Mitgliedern zugerechnet werden können, da es ansonsten ein Einfaches für die Partei wäre, solche Anhänger für ihre Zwecke einzusetzen und sich anschließend mit dem Hinweis auf die fehlende Parteimitgliedschaft der betreffenden Anhänger selbst unangreifbar zu machen.276 Die Anforderungen an die Zurechnung liegen aber höher als bei Handlungen von Parteifunktionären und -mitgliedern. Im Unterschied zu den beiden Konstellationen davor setzt die Zurechnung des Verhaltens von Anhängern, die keine Mitglieder der Partei sind, ein aktives Tun der Partei voraus; alleine eine unterbliebene Distanzierung der Partei 272  BVerfGE

144, 20 (216, Rn. 563). RuP 2017, 324 (329). 274  Zu parlamentarischen Äußerungen sogleich unten sub d) bb). 275  BVerfGE 144, 20 (216, Rn. 564). 276  BVerfGE 144, 20 (216, Rn. 564); Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (392). 273  Leggewie/Lichdi/Meier,

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

reicht hierfür nicht mehr aus. Die Partei muss demnach ihre Anhänger zu dem Verhalten aufrufen oder motivieren bzw. anschließend verlauten lassen oder anderweitig zum Ausdruck bringen, dass sie als Partei ein derartiges Verhalten begrüßt und dieses ihren parteipolitischen Vorstellungen und Absichten entspricht. Der Partei darf insbesondere keine „latente Verantwortung“ für das Tun außenstehender Anhänger aufgebürdet werden, mag dieses auch in einem politischen Zusammenhang mit Äußerungen oder von der Partei vertretenen Positionen stehen. c) Konformität mit Rechtsprechung des EGMR Die vom BVerfG aufgestellten Anforderungen an eine Zurechnung des Verhaltens von Anhängern stehen auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR. Das BVerfG selbst erwähnt in diesem Zusammenhang den EGMR zwar mit keinem Wort. Aufgrund der konventionsrechtlichen Dimension des Parteiverbots277 ist aber davon auszugehen, dass der Zweite Senat bei der Frage, wann Handlungen der Anhänger der Partei als Ganzes zugerechnet werden können, die bislang ergangenen Entscheidungen des EGMR mitberücksichtigt hat. Auch der EGMR geht bei antidemokratischen Parteien von einer regel­ mäßigen Verschleierung ihrer demokratiefeindlichen Zielsetzung bis zur Übernahme der Macht aus. Deshalb bezieht der EGMR bei der Ermittlung der wirklichen Motive einer Partei und der von ihr ausgehenden Bedrohung die Verhaltensweisen und Äußerungen ihrer Repräsentanten und Mitglieder mit ein.278 Äußerungen des Vorsitzenden und der stellvertretenden Vorsitzenden zu politischen Themen rechnet er einer Partei ohne weiteres zu, weil diese von der Allgemeinheit nicht lediglich als persönliche Meinung, sondern als politische Position der Partei verstanden werden. Etwas anderes gilt nur, wenn die betreffende Person ausdrücklich erklärt, es handele sich um eine persönliche Auffassung.279 Auch Handlungen anderer Parteimitglieder unterhalb der Vorstandsebene, etwa Parlamentsabgeordneter oder führender Kommunalpolitiker, sind der Partei zurechenbar, wenn sie sich nicht von ihnen distanziert.280 Zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen auch das Verhalten von Nicht-Mitgliedern der Partei zugerechnet werden kann, hat der 277  Hierzu

oben Kapitel 2 sub F. Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492 f., Rn. 101). 279  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1494, Rn. 113 f.). 280  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1494, Rn. 115). 278  EGMR,



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel219

Gerichtshof bislang noch nicht klar Stellung bezogen. Er deutet in zwei neueren Entscheidungen aber an, dass eine Zurechnung jedenfalls nur dann in Betracht kommen kann, wenn die betreffenden Personen von der Partei beeinflusst bzw. unterstützt worden sind oder die Partei das Verhalten gutheißt.281 Die Zurechnungskriterien des BVerfG bleiben hinter diesen Maßstäben nicht zurück und werden sogar näher konkretisiert, wodurch sie sich als in der Anwendung griffiger erweisen. Auch die Eingrenzung des tauglichen Personenkreises, dessen Verhalten der Partei überhaupt zugerechnet werden kann, auf die Figur des „Parteianhängers“ stellt – besonders was die Frage der Zurechenbarkeit von Handlungen betrifft, die nicht von Parteimitgliedern ausgehen – bereits ein eingrenzendes Kriterium dar und dürfte über die Maßstäbe des EGMR hinausgehen. d) Zurechnung von Straftaten und Parlamentarischen Äußerungen im Besonderen Innerhalb seines Zurechnungskonzeptes geht der Zweite Senat im Folgenden noch besonders auf die Zurechnung von Straftaten und parlamentarischen Äußerungen ein. Es handelt sich hierbei um zwei Arten von Anhängerverhaltensweisen, denen im Parteiverbotsverfahren im Rahmen der Zurechnungsproblematik als Erkenntnismittel für Schlussfolgerungen über die Frage der Verfassungskonformität einer Partei eine wichtige Rolle zukommt. aa) Straftaten Nach dem BVerfG gilt für Straftaten wie bei sonstigem Verhalten der Anhänger, dass eine pauschale Zurechnung von Straf- und Gewalttaten ohne konkreten Zurechnungszusammenhang ausscheidet. Die Begehung von Straftaten sei im Parteiverbotsverfahren daher nur von Relevanz, soweit es sich um politische Straftaten handele, die einen Bezug zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufweisen und diese als Ausdruck des Parteiwillens angesehen werden können.282 Unter politischen Straftaten sind dabei mit dem Bundesministerium des Innern nicht nur die klassischen Staatsschutzund Propagandadelikte des Strafgesetzbuches zu verstehen, sondern vielmehr alle Straftaten, die aus einer politischen Motivation der Täter heraus began281  Vgl. EGMR, Urt. v. 14.12.2010, Nr. 28003/03, HADEP u. Demir ./. Türkei, Rn. 74; EGMR, Urt. v. 12.01.2016, Nr. 3840/10 u. a., Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) u. a. ./. Türkei, Rn. 96. Vgl. auch Theuerkauf, Parteiverbote und EMRK, S. 260; Kumpf, DVBl. 2012, 1344 (1346); Wolter, EuGRZ 2016, 92 (99). 282  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 565).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

gen werden, darunter etwa die sogenannte „Hasskriminalität“.283 Ein entscheidender Aspekt hierbei ist die Absage des BVerfG an eine allgemeine Verantwortlichkeit der Partei für Straftaten, die in einem von der Partei geschaffenen oder von ihr unterstützten „politischen Klima“ begangen werden. Im Verbotsverfahren gegen die NPD wollte der Antragsteller der Partei den Anstieg rechtsextremer Straftaten insgesamt mit der Begründung zur Last legen, dass sie eine Atmosphäre von Hass und Fremdenfeindlichkeit schüre, welche in der Begehung von Straftaten ihren Niederschlag finde. Das BVerfG stellt hingegen klar, dass eine Zurechnung immer eine Feststellung im Einzelfall verlange, ob die strafbare Handlung als Teil der verfassungswidrigen Bestrebungen der Partei anzusehen sei.284 Häufig werden extremistische oder populistische Parteien von der politischen Öffentlichkeit als „geistige Brandstifter“ für Straftaten mit politisch motiviertem Hintergrund verantwortlich gemacht.285 Stil und Duktus der politischen Sprache einer Partei können ­sicherlich Wirkung bei deren Sympathisanten erzeugen und unter Umständen auch zu einem Absenken der Hemmschwelle zur Begehung strafbarer Handlungen bei bestimmten Personen beitragen. Nach den Zurechnungsmaßstäben des BVerfG kann dies alleine richtigerweise aber nicht ausreichend sein, um eine Zurechnung von Straftaten im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens zu begründen. Anders als bei Äußerungen und sonstigem Verhalten differenziert der Senat im Einzelnen nicht zwischen Straftaten von einfachen Mitgliedern und solchen von sonstigen Anhängern, sondern wendet für beide Personengruppen die gleichen Voraussetzungen für eine Zurechnung an. In beiden Fällen können Straftaten nur dann der Partei zugerechnet werden, wenn diese erkennbar von der Partei beeinflusst sind und die Partei sich trotz Kenntnisnahme auch nicht davon distanziert oder die Straftaten sogar gutheißt.286 Eine Verantwortlichkeit der Partei für Straftaten von Anhängern ohne Parteimitgliedschaft komme beispielsweise dann in Betracht, wenn sie „sachliche oder organisatorische Hilfe geleistet hat, personelle Verknüpfungen zwischen der Partei und der handelnden Gruppierung bestehen oder Parteimitglieder an der jeweiligen Tat beteiligt waren“.287 Die genannten Aspekte 283  Vgl. die Definition des Bundesministeriums des Innern (BMI) unter: www.bmi. bund.de/SharedDocs/faqs/DE/themen/sicherheit/pmk/pmk.html#f9828060, zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 284  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 566). 285  Vgl. etwa www.mdr.de/sachsen-anhalt/landespolitik/sprache-landtag-vorwurfgeistige-brandstifter-100.html, zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 286  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 565). 287  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 566). Das BVerfG formuliert an dieser Stelle etwas unglücklich und spricht von „Straftaten Dritter“. Nach dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG ist Anknüpfungspunkt für den Nachweis der verfassungswidrigen Bestre-



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel221

tendieren inhaltlich zwar in Richtung der strafrechtlichen Beteiligungsformen der Beihilfe und Mittäterschaft.288 Beeinflussung oder Solidarisierung gehen aber noch darüber hinaus, denn Zurechenbarkeit setzt keine strafrechtliche Beteiligung voraus, zumal die Partei als Organisation ohnehin nicht Täterin oder Teilnehmerin einer Straftat sein kann. Die vom BVerfG beispielhaft als letztes Kriterium genannte Beteiligung von Parteimitgliedern an Straftaten von sonstigen Anhängern kann alleine nach den zuvor dargestellten allgemeinen Grundsätzen aber kein Zurechnungskriterium für Straftaten sonstiger Anhänger sein, da zumindest für eine Zurechnung von Straftaten einfacher Mitglieder wiederum dieselben Zurechnungskriterien gelten wie für eine Zurechnung von Straftaten von sonstigen Anhängern. Richtigerweise muss es also darauf ankommen, ob die Parteimitglieder, die sich an einer Straftat sonstiger Anhänger beteiligen, selbst von der Partei dazu beeinflusst wurden oder die Partei deren Beteiligung an der Straftat gutheißt. Nur dann kann der Partei auch das Agieren der übrigen Straftäter, die nicht Parteimitglieder sind, zugerechnet werden. Unerwähnt bleibt vom Gericht dagegen, welche Voraussetzungen für die Zurechnung von Straftaten leitender Funktionäre der Partei gelten. Fest steht, dass es sich ebenfalls um die Begehung politischer Straftaten handeln muss, welche gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gerichtet sind. Indem der Senat explizit nur für die Zurechnung von Straftaten einfacher Mitglieder und sonstiger Anhänger eine Beeinflussung bzw. fehlende Distanzierung der Partei trotz Kenntnisnahme fordert, könnte daraus im Umkehrschluss abzuleiten sein, dass Straftaten führender Parteimitglieder wie deren sonstige Handlungen auch der Organisation ohne weiteres zugerechnet werden können. Eine derart pauschale Zurechnung ist im Falle von Straftaten aber abzulehnen. Es kann ohne Vorliegen von weiteren Anhaltspunkten nicht angenommen werden, dass die Partei ohne weiteres auch strafrechtliche Verhaltensweisen toleriert und als legitimes Mittel ihrer politischen Bestrebungen ansieht. Die Schwelle zur Akzeptanz von Straftaten durch die Partei, darunter insbesondere von Gewalttaten, wird regelmäßig höher liegen als bei Äußerungen oder sonstigen Verhaltensweisen von Funktionären. Wie auch bei Straftaten von einfachen Mitgliedern wird für eine Zurechnung deshalb zu fordern sein, dass sich die restliche Führungsspitze der Partei von solchen Straftaten nicht in glaubhafter Weise distanziert.

bungen der Partei aber das Verhalten der „Anhänger“ – nur dieses kann der Partei zugerechnet werden. Dem Kontext und dem Inhalt der Aussage ist zu entnehmen, dass das BVerfG unter „Dritten“ wohl die Anhänger ohne Parteimitgliedschaft versteht. 288  Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (329).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

bb) Parlamentarische Äußerungen Als zulässiges Erkenntnismittel für die Bestrebungen einer Partei kommen nach Ansicht des Senats im NPD-Urteil auch parlamentarische Äußerungen ihrer Abgeordneten in Betracht. Der in Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG bzw. in den entsprechenden Normen der Landesverfassungen enthaltene Grundsatz der Indemnität stehe deren Verwertung im Parteiverbotsverfahren nicht entgegen.289 Der Indemnitätsgrundsatz stellt die Mitglieder des Parlaments umfassend frei von jeder rechtlichen Verantwortlichkeit, d. h. von jeder zivil-, straf-, disziplinarrechtlichen oder gerichtlichen Verfolgung oder Sanktion ebenso wie von Maßnahmen der Exekutive, für ihr Abstimmungsverhalten und für Äußerungen im Parlament oder in einem seiner Ausschüsse mit Ausnahme von verleumderischen Beleidigungen. Die Abgeordneten können nur Adressaten innerparlamentarischer Disziplinierungsmaßnahmen auf Grundlage der jeweiligen Geschäftsordnungen sein. Ihre Verantwortlichkeit ist ansonsten rein politischer Natur und jede beeinträchtigende Maßnahme außerhalb des Parlaments ausgeschlossen.290 Die Regelung dient der Freiheit und Funktions­ fähigkeit der parlamentarischen Willensbildung und soll sicherstellen, dass die Abgeordneten ihre politischen Überzeugungen ohne äußeren Druck und Furcht vor Sanktionen in das Parlament einbringen können und in ihrem Votum frei sind.291 Zunächst erklärt das BVerfG den Schutzbereich des Art. 46 Abs. 1 GG bei der Verwertung parlamentarischer Äußerungen von Abgeordneten im Parteiverbotsverfahren für eröffnet, weil dem Abgeordneten bei einem auf seine Äußerungen gestützten Parteiverbot der Mandatsverlust292 drohe, auch wenn sich dieser nur als eine mittelbar eintretende Folge seines parlamentarischen Verhaltens darstelle. Für die Anwendbarkeit des Art. 46 Abs. 1 GG komme es nicht darauf an, ob die Sanktion eine unmittelbare oder nur mittelbare Folge des parlamentarischen Handelns von Abgeordneten ist, weil die Vorschrift den Mitgliedern des Parlaments einen umfassenden Schutz garantieren soll.293 Anschließend stellt der Senat die Gleichrangigkeit der Vorschriften des Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG fest und nimmt unter Berücksichtigung der Grundentscheidung der Verfassung für die „streitbare 289  BVerfGE

20, 144 (217, Rn. 567 ff.). in: Maunz/Dürig, GG, Art. 46 Rn. 31, 45 (Mai 2008); Butzer, in: BeckOK GG, Art. 46 Rn. 8 (Stand: 15.02.2021). 291  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 46 Rn. 31 (Mai 2008). 292  Zum Mandatsverlust als angeordnete Rechtsfolge der Feststellung der Verfassungswidrigkeit siehe bereits oben Kapitel 2 sub E. V. 5. 293  BVerfGE 144, 20 (218, Rn. 568). 290  Klein,



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel223

Demokratie“ einen Ausgleich zwischen dem Indemnitätsschutz des einzelnen Abgeordneten und dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz vor.294 Das Prinzip der praktischen Konkordanz295 hat die Abwägung widerstreitender Verfassungsgüter bzw. verfassungsrechtlich geschützter Interessen zum Gegenstand und verlangt, dass die betroffenen kollidierenden Verfassungsgüter zueinander in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden, damit sie jeweils noch in größtmöglichem Ausmaß zur Geltung kommen können. Die praktische Konkordanz steht in einem engen Zusammenhang mit dem Prinzip der Einheit der Verfassung. Letzteres gebietet, die grundgesetzlichen Normen stets im Gesamtzusammenhang aller Verfassungsnormen so zu interpretieren, dass Widersprüche zu anderen Verfassungsbestimmungen vermieden werden.296 Das BVerfG kommt im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung zu dem Ergebnis, dass bei der Zurechnung des Anhängerverhaltens im Verbotsverfahren auch parlamentarische Äußerungen der Abgeordneten berücksichtigt werden können, weil diese regelmäßig in besonderer Weise geeignet sind, die von der Partei verfolgten Ziele und Konzepte nachzuvollziehen. Dem Indemnitätsschutz nach Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG könne dagegen, falls sich die verfassungsfeindlichen Ziele maßgeblich aus seinen parlamentarischen Äußerungen ergeben sollten, bei der Entscheidung über den Mandatsverlust des Abgeordneten als Rechtsfolge eines auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei lautenden Urteils Rechnung getragen werden.297 Nähere Hinweise, wie der Grundsatz der Indemnität bei der Frage des Mandatsverlustes genau zu berücksichtigen sei, fehlen indes. § 46 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 4 BWahlG sowie die entsprechenden Vorschriften in den Wahlgesetzen der Länder ordnen bislang den Mandatsverlust von Abgeordneten als zwingende Rechtsfolge der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei, der sie angehören, an. Die Verfassungsmäßigkeit dieser einfachgesetzlichen Regelungen im Spannungsfeld zwischen Parteiverbot und Freiheit des Mandats gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist in der Literatur umstritten.298 Der Indem294  BVerfGE

144, 20 (218, Rn. 569). Begriff geht maßgeblich auf den Verfassungsrechtler und früheren Richter am BVerfG Konrad Hesse zurück, vgl. Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 72. Das BVerfG verwendet den Begriff der „Konkordanz“ oder „praktischen Konkordanz“ seitdem in st. Rspr. v. a. im Zusammenhang mit der Beschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte, vgl. BVerfGE 41, 29 (51); 77, 240 (255); 81, 298 (308); 83, 140 (148); BVerfG NJW 2016, 1804 (1806). 296  Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 71. Näher zur Urheberschaft und Herleitung der praktischen Konkordanz Schladebach, Der Staat 2014, 263 (267 ff.). 297  BVerfGE 144, 20 (218, Rn. 569). 298  Vgl. dazu die Nachweise oben Kapitel 2 sub E. V. 5. 295  Der

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

nitätsgrundsatz wurde in diesem Zusammenhang bislang nicht explizit genannt, doch sichert dieser gerade auch die Freiheit des Mandats.299 Der EGMR hat den automatisch aus dem Verbot folgenden Mandatsverlust aller Abgeordneten dagegen am Maßstab des Rechts auf freie Wahlen für unverhältnismäßig und konventionswidrig erklärt. Der Mandatsverlust wird vom EGMR aber als zulässig angesehen, wenn das Parteiverbot auf die Äußerungen des betreffenden Abgeordneten gestützt wurde.300 Das BVerfG sollte sich demnach im Falle eines künftigen Verbotsurteils positionieren, wie mit dem automatischen Mandatsverlust nicht nur unter Berücksichtigung der EGMRRechtsprechung, sondern vor allem im Lichte der grundgesetzlichen Regelungen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG umzugehen ist. Die eindeutige Positionierung durch das BVerfG zugunsten einer Verwertbarkeit und Zurechenbarkeit parlamentarischer Äußerungen im Parteiverbotsverfahren ist insgesamt zu begrüßen. Die Redebeiträge von Abgeordneten der Partei sind die wohl am naheliegendsten und wichtigsten Erkenntnismittel für Rückschlüsse auf das politische Konzept einer Partei. Das gilt erst Recht, wenn für ein Parteiverbot nunmehr mit der „Potentialität“ eine gewisse Erfolgschance erforderlich ist und Parteiverbotsverfahren künftig überhaupt nur dann eingeleitet werden könnten, wenn die betreffende Partei bereits in Parlamenten vertreten ist.301 Eine Unverwertbarkeit würde die unter das „Verhalten“ der Anhänger fallenden Handlungen der in Parlamenten vertretenen Parteimitglieder und damit die zulässigen Beweisquellen erheblich einschränken. Im Extremfall hätte dies zur Folge, dass ein von einer extremistischen Partei im Parlament angekündigter Umsturzversuch der bestehenden Ordnung in einem Parteiverbotsverfahren unberücksichtigt bleiben müsste. Dies würde eine deutliche Schmälerung der Effektivität des Parteiverbotsverfahrens – gerade gegenüber verfassungsfeindlichen Parteien, die bereits in den Parlamenten vertreten sind und damit über mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten verfügen – und eine Schwächung der streitbaren Demokratie bedeuten. Der mit Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG intendierte Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung muss auch und gerade aufgrund von innerparlamentarischem Verhalten verfolgt werden können, denn die Gefahr einer Zersetzung der Grundordnung aus den Parlamenten heraus ist am größten einzustufen. Kliegel weist zu Recht darauf hin, dass der Grundsatz der Indemnität keinen Schutz vor einem Parteiverbot bieten soll und nicht Beweismaterial für ein späteres Verbotsverfahren ausschließen will, sondern eine Sanktionierung des Abgeordneten aufgrund sei299  Stern, StaatsR I, S. 1060; Magiera, in: BK GG, Art. 46 Rn. 79 (November 2017); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 46 Rn. 3. 300  Vgl. oben Kapitel 2 sub E. V. 5. 301  Zur Potentialität unten sub. D. II.



C. Ziele der Partei als Erkenntnismittel225

ner im Parlament getätigten Äußerungen verhindern soll.302 Art. 46 GG schützt nur den Abgeordneten selbst. Die Indemnität des Abgeordneten schützt dagegen weder vor der Einleitung eines Verfahrens oder sonstiger Maßnahmen gegen Dritte aufgrund des indemnitätsgeschützten parlamentarischen Verhaltens, noch vor einer inzidenten rechtlichen Würdigung dieses Verhaltens in einem Verfahren gegen Dritte.303 Die Partei kann durch Äußerungen ihrer Abgeordneten somit zum Ziel eines Verbotsverfahrens werden.

III. Verhältnis von Parteizielen und Anhängerverhalten Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei kann sowohl auf die Zielsetzung der Partei als auch das Verhalten ihrer Anhänger gestützt werden. Beide Erkenntnisquellen stehen nebeneinander. Wie bereits dargestellt, können sich die „Ziele“ einer Partei nach der Rechtsprechung des BVerfG u. a. aber auch aus den Äußerungen oder Beiträgen der führenden Parteifunktionäre, der Tätigkeit der Publikationsorgane der Partei und sogar aus den Handlungen sonstiger Anhänger ergeben. Diese Beweismittel stellen zugleich aber auch ein „Verhalten“ der Anhänger im Sinne der zweiten Tatbestandsalternative der Erkenntnismittel dar. Es stellt sich somit die Frage, ob dem Anhängerverhalten nicht lediglich Bedeutung als Indiz für die Zielsetzung einer Partei zukommt, letztlich also immer nur die Ziele der Partei das Kriterium darstellen, an welchem die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Partei festgemacht werden.304 Zwischen den Zielen einer Partei und dem Verhalten der Anhänger besteht eine Wechselwirkung dergestalt, dass sich die Ziele der Partei im Anhängerverhalten widerspiegeln können, während umgekehrt das – der Partei zurechenbare – Anhängerverhalten wiederum Schlussfolgerungen hinsichtlich der Zielsetzung der Partei zulässt.305 Die Ziele charakterisieren dabei den Inhalt der Politik, während das Verhalten der Anhänger die Form der Politik oder die Mittel betrifft, derer sich die Partei zur Erreichung ihrer Ziele bedient.306 302  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (393). 303  Magiera, in: BK GG, Art. 46 Rn. 123 (November 2017). 304  Dafür Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (328), die in der „undifferenzierten Ineinssetzung von Zielen und Verhalten“ einen „folgenschweren Mangel“ des NPD-Urteils sehen. Allerdings ist anzumerken, dass die Autoren den Begriff des „Verhaltens“ auf illegales, wenn nicht sogar gewaltsames Handeln reduzieren wollen und auch die Ziele einer Partei als Tatbestandsmerkmal im Parteiverbotsverfahren generell kritisch sehen. 305  Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 78 (6. Auflage). 306  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 281 f.; Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (152); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 152.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Form und Inhalt der Politik sind jedoch untrennbar miteinander verbunden. Das Verhalten der Anhänger spielt im Verbotsverfahren insbesondere dann eine wichtige Rolle, wenn die Partei in ihren offiziellen Verlautbarungen, vor allem im Parteiprogramm, keine der freiheitich-demokratischen Grundordnung zuwiderlaufenden Ziele proklamiert. Die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Zielen und Anhängerverhalten hat zur Folge, dass eine strikte Trennung der beiden Nachweismöglichkeiten kaum möglich sein wird.307 Auch das BVerfG hat in seinen bisherigen Urteilen im Rahmen der Beweiswürdigung und Subsumtion auf eine ausdrückliche Abgrenzung verzichtet.308 Der allgemeine Begriff der „Ziele“ ist jedenfalls das inhaltlich weitere Erkenntnismittel, in welches auch die Schlussfolgerungen einfließen, die aus der Betrachtung des Verhaltens der Anhänger gewonnen werden. Das Verhalten der Anhänger hat dennoch seine Berechtigung als eigenständige Tatbestandsalternative. Sie macht auf den ersten Blick unmissverständlich deutlich, dass es eben nicht nur die Programmatik der Partei ist, die für die Bewertung der Verfassungskonformität entscheidend ist, sondern die politische Ausrichtung der Partei an den Worten und Taten der Parteianhänger gemessen wird. Über das der Partei zurechenbare Anhängerverhalten kann sogleich zur Feststellung der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Haltung der Partei gelangt werden. Das Verhalten der Anhänger ermöglicht als Indiz zwar, die wahre Zielsetzung der Partei zu erforschen. Indes kann auch isoliert nur das betreffende Anhängerverhalten als Erkenntnisquelle für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit dienen. Im NPD-Urteil beispielsweise hat das BVerfG seine Feststellung der Missachtung der Menschenwürde und des Demokratieprinzips durch die NPD neben dem Parteiprogramm auch auf Publikationen und Äußerungen führender Parteifunktionäre gestützt, welche sich die Partei zurechnen lassen musste.309 Die NPD strebte damit sowohl nach den Zielen als auch dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an.

307  Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 98; nun auch von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, §  46 Rn.  4 (Juli 2020). 308  Zuletzt im NPD-Urteil in BVerfGE 144, 20 (246  ff., Rn. 633  ff. – Abschnitt D. I.). Allerdings ließ sich das auf eine Missachtung der Menschenwürde zielende Konzept der NPD auch bereits alleine dem Parteiprogramm entnehmen. 309  BVerfGE 144, 20 (247, Rn. 636; 252 ff., Rn. 653ff.; 282 f., Rn. 758; 284 ff., Rn.  762 ff.).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle227

IV. Zusammenfassung Die geplante Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach den festgeschriebenen Zielen der Partei ist die am einfachsten nachzuweisende Schadensvariante, weil sich das Problem der Zurechnung im Hinblick auf das Verhalten der Anhänger nicht stellt. Während sich bei dem Tatbestandsmerkmal der „Ziele“ keine substantiellen Neuerungen gegenüber der Verbotsrechtsprechung aus den 1950er Jahren ergeben haben, hat der Zweite Senat bei dem praktisch bedeutsameren Erkenntnismittel des Anhängerverhaltens nunmehr präzisiert, unter welchen Voraussetzungen sich eine Partei die Handlungen ihrer Anhänger zurechnen lassen muss. Das entwickelte Zurechnungskonzept des BVerfG dürfte auch von der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des EGMR inspiriert worden sein. Die Ausführungen des BVerfG gehen im Vergleich dazu aber noch darüber hinaus, indem es sich noch der für die Praxis wichtigen Frage der Zurechnung von Straf- und Gewalttaten widmet, welche einer besonderen Prüfung bedarf, und daneben das Spannungsverhältnis zwischen Indemnitätsschutz einerseits und einer Verwertbarkeit von parlamentarischen Äußerungen im Parteiverbotsverfahren andererseits herausarbeitet und dieses richtigerweise zugunsten einer zulässigen Beweisführung im Parteiverbotsverfahren auflöst. Zwischen den nach dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG für den Nachweis der verfassungswidrigen Bestrebungen zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel der Ziele und des Anhängerverhaltens ergeben sich Überschneidungen, wobei die Ziele gewissermaßen den Oberbegriff für die politischen Positionen der Partei bilden. Da es nicht nur auf die offiziell proklamierten Ziele der Partei, sondern auf deren wirkliche, unter Umständen im Verborgenen verlautbarten Ziele ankommt, stellt das tatsächliche Verhalten der Parteianhänger in Verbindung mit dem Umgang der Partei damit ein wichtiges Indiz für die Erforschung der wahren Absichten der Partei dar.

D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle – Die Neuinterpretation des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ Ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG erfordert entsprechend seinem vom BVerfG betonten Charakter als Organisationsverbot, nicht dagegen als Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot mehr als nur eine der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kritisch oder ablehnend gegenüberstehende Zielsetzung der jeweiligen Partei. Als tatbestandliches Erfordernis kommt hinzu, dass die Partei auf eine Beeinträchtigung oder

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Beseitigung der Grundordnung „ausgehen“ muss. Dem Merkmal „darauf ausgehen“ kommt, neben der Konkretisierung des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, innerhalb des Tatbestandsaufbaus von Art. 21 Abs. 2 GG für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eine entscheidende Bedeutung zu, bestimmt die Interpretation dieser beiden Wörter doch darüber, wann sich eine Partei noch im Bereich grundgesetzlich geschützter freier politischer Betätigung bewegt und ab wann die Grenze zur verfassungswidrigen Agitation überschritten wird.310 Es hat in Art. 21 Abs. 2 GG deshalb die Funktion einer Eingriffsschwelle. Doch wie müssen sich die von einer Partei ausgehenden Bestrebungen darstellen, damit eine Partei „darauf ausgeht“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen? Eine entscheidende Neuerung in der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals gegenüber der bisherigen Rechtsprechung liegt insbesondere in dem vom BVerfG im NPD-Urteil geforderten Kriterium der „Potentialität“ als Wahrscheinlichkeitsprognose für den Erfolg der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen der Partei.311 Eine Gegenüberstellung der beiden folgenden Passagen aus dem KPD-Urteil und dem NPD-Urteil macht die Dimension der Kursänderung in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich. Im KPD-Urteil war das BVerfG noch der Ansicht gewesen, dass eine Partei „auch dann verfassungswidrig im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG sein [kann], wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, daß sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können. Ebenso wenig ist die Anwendung des Art. 21 Abs. 2 GG deshalb ausgeschlossen, weil eine Partei etwa die Realisierung ihrer verfassungswidrigen Ziele zurückstellt, da sie im Augenblick keine Aussicht auf Verwirklichung sieht; wenn die verfassungsfeindliche Absicht überhaupt nachweisbar ist, braucht nicht abgewartet zu werden, ob sich die politische Lage ändert und die Partei nun die Verwirklichung ihrer verfassungswidrigen Ziele tatsächlich in Angriff nimmt.“312

Im NPD-Urteil heißt es dagegen: „Entsprechend dem Ausnahmecharakter des Parteiverbots […] kann ein „Darauf Ausgehen“ […] nur angenommen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann (Potentialität). 310  Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 45 f.; Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 10. 311  BVerfGE 144, 20 (224 f., Rn. 585). 312  BVerfGE 5, 85 (143) – Hervorhebung durch Verfasser.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle229 Lässt das Handeln einer Partei dagegen noch nicht einmal auf die Möglichkeit eines Erreichens ihrer verfassungsfeindlichen Ziele schließen, bedarf es des präventiven Schutzes der Verfassung durch ein Parteiverbot als schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde nicht. Ein Parteiverbot kommt vielmehr nur in Betracht, wenn eine Partei über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfügt, die ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen, und wenn sie von diesen Wirkungsmöglichkeiten auch Gebrauch macht.“313

Dieser Schwenk des BVerfG ist in der Öffentlichkeit und in der juristischen Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen314 und wirft sowohl inhaltliche als auch methodische Fragen auf. Zunächst sind die bisherige Rechtsprechung des BVerfG sowie der Diskussionsstand in der Literatur bezüglich des für ein Parteiverbot zulässigen Eingriffszeitpunktes darzustellen. Im Anschluss daran ist das neue Kriterium der Potentialität einer umfassenden Untersuchung unter inhaltlichen und insbesondere methodischen Gesichtspunkten zu unterziehen.

I. Das Verständnis des „Darauf Ausgehens“ vor dem NPD-Urteil 1. Rechtsprechung des BVerfG In den früheren Verbotsurteilen des BVerfG hat das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ trotz seiner Bedeutung innerhalb der Tatbestandsstruktur des Art. 21 Abs. 2 GG verglichen mit dem NPD-Urteil nur wenig Beachtung erfahren. a) SRP-Urteil Im SRP-Urteil spielte die besagte Wendung überhaupt keine Rolle und fand in den Urteilsgründen des BVerfG keine Erwähnung, obwohl die SRP nach dem BVerfG den Tatbestand der Verfassungswidrigkeit erfüllt hatte. Erst in den zusammenfassenden Feststellungen zum Ergebnis der Beweisaufnahme heißt es: „Die SRP bekämpft die demokratischen Parteien der Bundesrepublik in einer Weise, die erkennen läßt, daß sie […] in ihren politischen Zielen darauf ausgeht, die anderen Parteien aus dem politischen Leben auszuschalten.“315 Die Urteilsgründe lassen aber ein Verbot der SRP durch das BVerfG wegen ihrer antidemokratischen Zielsetzung erkennen, ohne dass es auf die Möglichkeit zur Verwirklichung dieser Ziele ankommen sollte. 313  BVerfGE

144, 20 (224 f., Rn. 585 f.) – Hervorhebung durch Verfasser. bereits Kapitel 1 sub A. 315  BVerfGE 2, 1 (69 f.). 314  Hierzu

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Das BVerfG hat vielmehr festgestellt, dass „es der Sinn des verfassungsgerichtlichen Spruches [ist], diese [mit den demokratischen Grundprinzipien in Widerspruch stehenden] Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden“.316 b) KPD-Urteil Erstmals äußerte sich das BVerfG explizit zu dem Merkmal „darauf ausgehen“ in seinem Urteil zum Verbot der KPD, welches demnach für die Antragsteller im Parteiverbotsverfahren bis zum NPD-Urteil als einzige Erkenntnisquelle für die Auslegung herangezogen werden konnte. Die dortigen Ausführungen des BVerfG zur Eingriffsschwelle erscheinen allerdings bei genauerer Betrachtung wenig strukturiert. Schon bevor sich das BVerfG explizit der Wendung „darauf ausgehen“ annimmt, stellt es klar, dass der Tatbestand der Verfassungswidrigkeit durch eine Partei nicht schon dann erfüllt ist, wenn sie die obersten Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Zweifel zieht, ihnen ablehnend gegenüber steht oder andere entgegensetzt. Vielmehr müsse „eine aktiv-kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen“, welche ein planvoll verfolgtes Vorgehen der Partei gegen das Funktionieren dieser Ordnung beinhalte. Bereits „diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes“ schließe ein verfrühtes oder missbräuchliches Vorgehen gegen unliebsame Oppositionsparteien aus.317 Der Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG kennt aber kein Merkmal der „aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung“ oder eines gegen die Schutzgüter gerichteten planvollen Vorgehens der Partei oder dergleichen. Die eben dargestellten Feststellungen können deshalb inhaltlich sinnvollerweise nur dem Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ zugeordnet werden. Über die aktiv-kämpferische Haltung hinaus sei aufgrund des in Art. 21 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden Präventionsgedankens für ein „Darauf Ausgehen“ insbesondere nicht erforderlich, dass ein strafrechtlich relevantes Tätigwerden im Bereich der Staatsschutzdelikte nach §§ 81 ff. StGB oder eine entsprechende Versuchs- oder Vorbereitungshandlung im strafrechtlichen Sinne vorliege.318 Der politische Kurs der Partei müsse aber kontinuierlich und tendenziell auf die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angelegt sein und so weit in Handlungen zum Ausdruck kommen, dass eine entsprechende Absicht der Partei als von ihr planvoll verfolgtes politisches Vorgehen erkennbar werde.319 Das BVerfG betont in 316  BVerfGE

2, 5, 318  BVerfGE 5, 319  BVerfGE 5, 317  BVerfGE

1 (73). 85 (141). 85 (141 f.). 85 (142).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle231

diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass es sich bei Art. 21 Abs. 2 GG um kein Gesinnungsverbot handele. Nicht schon das Vertreten bestimmter Überzeugungen oder das Bekenntnis der Partei zu einer bestimmten Weltanschauung, welche mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sei – wie im Fall der KPD das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus –, führe zu einem Parteiverbot.320 Verfassungswidrig könne eine Partei erst dann sein, wenn die von ihr vertretenen Positio­ nen auch in politischen Aktivitäten ihren Niederschlag finden. Diese müssen zudem aus einer der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnenden Grundtendenz der Partei heraus erwachsen und dürfen nicht nur in „Entgleisungen“ einzelner Mitglieder bei sonst loyaler Haltung der Partei bestehen.321 Dabei sind zwei Aussagen des BVerfG entscheidend, welche die Höhe der Eingriffsschwelle für ein Parteiverbot im KPD-Urteil illustrieren. Zum einen können für das Vorliegen der geforderten aktiv-kämpferischen Haltung sowie der diese Haltung manifestierenden Handlungen der Partei bereits programmatische Reden von Parteifunktionären322 sowie eine systematische Schulungs- und Propagandaarbeit innerhalb der Partei323 ausreichend sein. Erfasst werden demnach offenbar alle planmäßig getätigten Verhaltensweisen der Partei, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten und als Ausdruck einer „aktiv-kämpferischen“ und „aggressiven“ Haltung in der Partei angesehen werden können. Außerdem soll es ausdrücklich nicht auf die Erfolgsaussichten einer Realisierung der von der Partei vertretenen verfassungsfeindlichen Ziele ankommen. Eine Partei kann auch dann für verfassungswidrig erklärt werden, „wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, daß sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können“. Für die Einleitung eines Parteiverbots braucht demnach auch nicht abgewartet zu werden, bis eine politische Lage vorzufinden ist, in welcher die Partei die Verwirklichung ihrer Ziele tatsächlich in Angriff nimmt.324 Letzterer Punkt findet sich nach der ziffernmäßigen Untergliederung der Absätze zwar auch nicht mehr in der Passage zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“, knüpft aber an die vorstehenden Ausführungen an und wird dadurch zu dessen zentralen Inhalts- und Auslegungsbestandteil.325 Das BVerfG begründet seine 320  BVerfGE

5, 85 (143). 5, 85 (143). 322  BVerfGE 5, 85 (142). 323  BVerfGE 5, 85 (210 f.). 324  BVerfGE 5, 85 (143). 325  Vgl. BVerfGE 5, 85 (143): „Eine Partei kann nach dem Gesagten auch dann verfassungswidrig sein […]“ – Hervorhebung durch Verfasser. 321  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Anforderungen an das Merkmal „darauf ausgehen“ mit der Entstehungsgeschichte sowie dem Regelungszweck des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. und lässt sogar ausdrücklich keinen Raum für eine davon abweichende Interpretation: „Nur eine solche Auslegung […] wird dem Grundgedanken und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift gerecht.“326

Die noch in Art. 47 Abs. 4 HChE enthaltene Formulierung „zum Ziel gesetzt haben“ sei im Zuge der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates durch die Wendung „darauf ausgehen“ ersetzt worden, ohne dieser damit einen von dem Vorschlag des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee abweichenden Inhalt geben zu wollen. Durch die verfassungsrechtlich verankerte Möglichkeit eines Parteiverbots solle deshalb das Aufkommen von Parteien mit antidemokratischer Zielsetzung verhindert und der Entstehung künftiger Gefahren begegnet werden.327 2. Streitstand im Schrifttum In der Literatur gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ in Art. 21 Abs. 2 GG auszulegen und wo damit die Eingriffsschwelle für ein Verbot von politischen Parteien anzusetzen ist. a) Rezeption des KPD-Urteils im Schrifttum Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet bereits eine uneinheitliche Rezeption der soeben dargestellten Passagen des BVerfG aus dem KPD-Urteil zum Merkmal „darauf ausgehen“. Ein Teil der Literatur sieht in den Konkretisierungen des BVerfG bereits die bloße Kundgabe der verfassungsfeindlichen Absicht und der Ziele durch die Partei ohne ein Tätigwerden zur Erreichung ihrer politischen Ziele als ausreichend für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit an.328 Diese Ansicht kann sich auf entsprechende Aussagen des BVerfG stützen, wonach trotz der geforderten aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung bereits „programmatische Reden verantwortlicher Persönlichkeiten“329, vorbereitende 326  BVerfGE

5, 85 (142) – Hervorhebung durch Verfasser. 5, 85 (142). 328  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 271 f.; ders., Leviathan 29 (2001), 439 (443); Voscherau, Parteiverbote in der BRD und im Königreich Spanien, S. 95; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 150; Streinz, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 232; Volkmann, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 21 Rn. 97 (Dezember 2001); Sichert, DÖV 2001, 671 (676); Stiehr, JuS 2015, 994 (997). 329  BVerfGE 5, 85 (142). 327  BVerfGE



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle233

Schulungs- und Propagandamaßnahmen330 und schließlich der Nachweis der „verfassungsfeindlichen Absicht“ der Partei ohne das tatsächliche In-AngriffNehmen der „Verwirklichung ihrer verfassungswidrigen Ziele“331 für die Annahme eines „Ausgehens“ ausreichend seien.332 Dies zeige, so Meier, dass trotz der Beteuerungen des BVerfG, mit dem Parteiverbot werde keine bestimmte politische Gesinnung verfolgt, durch das KPD-Urteil im Ergebnis bereits doch verfassungsfeindliche Ziele illegalisiert werden.333 Derartige „Vorstöße ins Fiktionale“ seien nach einem modernen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat jedoch „indiskutabel“.334 Auch Alter sieht im bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis des Merkmals „darauf ausgehen“ im KPD-Urteil die Eingriffsschwelle für Parteiverbote bereits im Bereich der geistigen Auseinandersetzung angesiedelt.335 Der andere Teil des Schrifttums entnimmt den Ausführungen des BVerfG neben dem subjektiven Erfordernis der Absicht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, als objektive Komponente noch ein aktives Handlungselement, in dem sich die Bewegung der Partei in Richtung auf das von ihr angestrebte Ziel hin manifestieren muss.336 Dafür sprechen die Forderung des BVerfG, dass die verfassungsfeindliche Absicht der Partei „so weit in Handlungen […] zum Ausdruck kommen [muss], daß sie als planvoll verfolgtes politisches Vorgehen der Partei erkennbar wird“337 sowie das Erfordernis von „politische Aktionen, die mit der Absicht unternommen werden, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen“.338 Soweit das BVerfG im KPD-Urteil den Einwand der Antragsgegnerin zurückweist, ein „Darauf Ausgehen“ erfordere über die bloße Absicht hinaus ein Tätigwerden339, beziehe sich dies aufgrund des Gesamtzusammenhangs, in dem die Aussage steht, nach An330  BVerfGE

5, 85 (210 f.). 5, 85 (143) – Hervorhebung durch Verfasser. 332  Die von Lang, Demokratieschutz durch Parteiverbot?, S. 57, als Beleg wörtlich zitierte Aussage des BVerfG, dass die Haltung „sich nicht in einem Tätigwerden in Richtung auf die Beeinträchtigung oder Gefährdung […] äußern“ müsse, findet sich dagegen weder in der von ihr zitierten Fundstelle BVerfGE 5, 85 (141) noch an anderer Stelle im KPD-Urteil. 333  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 272. 334  Meier, Leviathan 29 (2001), 439 (443). 335  Alter, AöR 140 (2015), 571 (580). 336  Klein, Ein neues NPD-Verbotsverfahren?, S. 17 f.; Seifert, Politische Parteien, S.  462 f.; Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 46; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 91 f.; Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (17 f.). 337  BVerfGE 5, 85 (142) – Hervorhebung durch Verfasser. 338  BVerfGE 5, 85 (143) – Hervorhebung durch Verfasser. 339  BVerfGE 5, 85 (141). 331  BVerfGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

sicht von Stollberg offensichtlich nur auf eine strafrechtlich relevante Tätigkeit.340 Kingreen sieht den Inhalt des „Darauf Ausgehens“ nach dem KPD-Urteil dagegen irgendwo zwischen inneren gegen die Grundordnung gerichteten Absichten und Zielen und dem darüber hinausgehenden Erfordernis einer objektiven Evidenz, dass die Partei die Erreichung dieser Ziele auch aktiv anstrebt. Die Ausführungen des BVerfG hierzu seien unklar, was exemplarisch durch die Wendung der „aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung“ verdeutlicht werde. Diese stelle ein „klassisches Paradoxon“ dar, weil eine „Haltung“ ein innerer Zustand sei, während die Eigenschaft „aktiv-kämpferisch“ auf ein nach außen sichtbares Handeln hindeute.341 Die anschließende Subsumtion im KPD-Urteil zeuge aber von einer Vorverlagerung der Eingriffsschwelle in den Bereich der geistigen Auseinandersetzung.342 Die unterschiedliche Aufnahme der bundesverfassungsgerichtlichen Interpretation des Elements „darauf ausgehen“ ist letztlich auf ein unterschied­ liches Verständnis des Handlungsbegriffs zurückzuführen. Während die zuerst dargestellte Auffassung zwischen „Kundgabe“ einerseits und „Handlungen“ andererseits differenziert und Aktionen wie Reden sowie vorbereitende Schulungs- und Propagandamaßnahmen der Partei nicht als ein Tätigwerden begreift, fasst die Gegenansicht mit dem BVerfG derartige Maßnahmen bereits als aktive Handlungen auf und lässt sie als objektive Komponente für ein „Darauf Ausgehen“ genügen.343 Ein irgendwie geartetes objektives Tätigwerden in Richtung Zielerreichung ist nach den Maßstäben des KPD-Urteils für ein „Darauf Ausgehen“ also durchaus erforderlich; das BVerfG begnügt sich für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht alleine mit der subjektiven Absicht der Parteianhänger, die bestehende Ordnung beeinträchtigen oder beseitigen zu wollen. b) Das Spektrum möglicher Eingriffsschwellen in der Literatur Einigkeit im Schrifttum besteht zunächst insoweit, als dass für ein „Darauf Ausgehen“ sowohl eine subjektive Komponente der Zielsetzung als auch eine objektive Komponente der Zielverfolgung in Gestalt eines nach außen erkennbaren Handelns der Partei gegeben sein müssen.344 Dies ist die konsequente Folge eines restriktiven Parteiverbotsverständnisses, nach dem nicht 340  Stollberg,

Grundlagen des Parteiverbots, S. 46 (Fn. 61). Jura 2017, 499 (502). 342  Kingreen, Jura 2017, 499 (503). 343  Vgl. Seifert, Politische Parteien, S. 464; Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (18). 344  Anders offenbar nur Koch, DVBl. 2002, 1388 (1389 f.), der den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG dahingehend versteht, dass die Absichten der Partei in Gestalt ihrer 341  Kingreen,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle235

alleine verfassungsfeindliche Meinungen und Ziele illegalisiert werden dürfen, sondern diese nur in Verbindung mit einem politischen Agieren der Partei in Richtung einer Umsetzung dieser Ziele verbotswürdig sein sollen. Henkel/Lembcke umschreiben dieses erforderliche Zusammentreffen des subjektiven und objektiven Elements im Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ dahingehend, „dass die verfassungsfeindliche Haltung der Partei für die Handlungen der Partei leitend sein muss – diese dürfen jene nicht als leeres Gerede entlarven, sondern müssen als Manifestationen der Verfassungsfeindlichkeit erkennbar sein“.345 Morlok stellt deshalb anhand eines fiktiven Beispiels klar: „Die Partei der Philosophen, die in ihrem Stübchen träumt, gemäß Platon eine Herrschaft der Philosophen einzurichten, braucht kein Verbot zu fürchten.“346 Gegen eine Gleichsetzung des „Darauf Ausgehens“ mit einem bloßen Beabsichtigen ohne eine irgendwie geartete objektive Manifestation dieser Absicht spreche auch der normsystematische Umstand, dass es sich ansonsten bei den Tatbestandsmerkmalen „ihren Zielen nach“ und „darauf ausgehen“ um eine tautologische Wiederholung bzw. einen Pleonasmus handeln würde.347 Im Übrigen aber gehen die Positionen darüber, mit welcher Intensität die Partei die Umsetzung ihrer Ziele betreiben und in welchem Stadium der Gefährdung sich das Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung befinden muss, in der Debatte um die Auslegung des Elements „darauf ausgehen“ auseinander. aa) Zustimmung zum Maßstab im KPD-Urteil Ein großer Teil der Literatur folgt dem Ansatz des BVerfG im KPD-Urteil, wonach ein „Darauf Ausgehen“ aktiv-kämpferisch und aggressiv sein muss.348 Bei dem Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG handele es sich um einen Programmatik alleine schon für die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit ausreichen. 345  Henkel/Lembcke, ZParl 2001, 572 (579). 346  Morlok, Jura 2013, 317 (321). Voraussetzung für das Vorliegen der Parteieigenschaft ist freilich eine gewisse Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung, die anhand objektiv sichtbarer Kriterien bestätigt werden muss, vgl. § 2 Abs. 1 PartG. 347  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 274; Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (17); dies., ZParl 2001, 572 (579); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 150; missverständlich insoweit Stiehr, JuS 2015, 994 (997), die eine „feindliche Willensrichtung“ als für ein Parteiverbot ausreichend erachtet und den Begriff „Ausgehen“ mit „Zielsetzung“ gleichsetzt, im Ergebnis aber den Maßstäben des BVerfG im KPD-Urteil zustimmt. 348  Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 198  f.; Park, Verfassungsrechtliche Pro­ bleme des Parteiverbots, S. 112 f.; Zirn, Parteienverbot im Rahmen der streitbaren Demokratie, S. 91; Seifert, Politische Parteien, S. 464; Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S. 47; Klein, Ein neues NPD-Verbotsverfahren?, S. 17 f.; von Coelln,

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Angriffstatbestand gegen die obersten Werte der Verfassung. Dementsprechend müsse eine Partei auch in planvoller Vorgehensweise „die Grenze zwischen Bekennen und Bekämpfen“ überschreiten, um verfassungswidrig zu sein.349 Ein konkretes Unternehmen i. S. d. § 83 StGB wie auch die Möglichkeit einer Umsetzung der verfassungsfeindlichen Ziele oder gar eine konkrete Gefahr für die Grundordnung seien hingegen für ein „Darauf Ausgehen“ nicht erforderlich, da Art. 21 Abs. 2 GG als Präventivnorm mögliche Bedrohungen des Staates bereits frühzeitig abwehren und vor künftigen Gefahren schützen soll.350 bb) Weitergehender Ansatz Einem anderen Teil des Schrifttums gehen die Anforderungen des BVerfG im KPD-Urteil dagegen bereits zu weit. So kritisiert Kunig die Formulierung der „aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung“ als missverständlich, wenn diese wörtlich interpretiert wird. Es komme nicht auf Aggression und die Bereitschaft zu physischer Gewalt an, sondern ausreichend seien Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit in der Art und Weise der Handlung.351 Volkmann sieht in diesem ungeschriebenen Erfordernis eine Überschreitung des Wortlauts von Art. 21 Abs. 2 GG. Die materiellen Anforderungen an den Nachweis der Verfassungswidrigkeit würden durch das KPD-Urteil bereits so hoch geschraubt, dass sie in der Praxis nicht zu erfüllen seien.352 Diese Kritik verkennt jedoch, dass nach dem bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis eine Bereitschaft zu rechtswidrigem oder gewalttätigem Handeln für ein „aggressives“ Auftreten gerade nicht erforderlich ist.353

in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, §  46 Rn.  9 (Vorauflage, Juli 2014); Kersten, NJ 2001, 1 (3); Sichert, DÖV 2001, 671 (676); Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 232; Stiehr, JuS 2015, 994 (997). 349  Seifert, Politische Parteien, S. 463 f. 350  Stollberg, Grundlagen des Parteiverbots, S.  46  f.; von Coelln, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 10 (Vorauflage, Juli 2014); Seifert, DÖV 1961, 81 (83). 351  Kunig, in: Isensee/Kirchhof, HStR III (2005), § 40 Rn. 53; zustimmend Linck, in: FS Schmitt, S. 139 (154). 352  Volkmann, JZ 2010, 209 (210 f.); ders. noch etwas verhaltener in DÖV 2007, 577 (580). 353  Richtig daher Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 533 (Januar 2018), der von „verbaler, programmatischer Aggressivität“ spricht.



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cc) Restriktivere Ansätze Unter Hinweis auf die schwerwiegende Beschneidung politischer Freiheiten durch ein Parteiverbot und um sicherzustellen, dass mit einem Parteiverbot nicht schon politische Gesinnungen alleine sanktioniert werden, plädieren einige Autoren schließlich für eine restriktivere Auslegung des „Darauf Ausgehens“ als im KPD-Urteil, wobei die zur Debatte stehenden Eingriffszeitpunkte von unterschiedlicher Intensität sind. Teilweise wird gefordert, entgegen der Ansicht des BVerfG im KPD-Urteil die realistische Möglichkeit einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die Partei zur Voraussetzung für ein „Darauf Ausgehen“ zu machen.354 Das Erfordernis einer potentiellen Gefährlichkeit sei zwar nicht ausdrücklich in Art. 21 Abs. 2 GG enthalten, doch aus dem Wesen des Parteiverbots als Präventivmaßnahme zum Schutze der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung folge gerade, dass es keines Schutzes durch ein Parteiverbot bedürfe, wo auch keine Bedrohung vorhanden sei.355 Bisweilen wird unter Rückgriff auf die strafrechtliche Versuchsdogmatik eine „qualifizierte Vorbereitungshandlung der versuchten Verfassungsstörung“ verlangt.356 Eine solche Analogie sei nach Ansicht von Meier aufgrund der sachlichen Nähe des präventiven Verfassungsschutzes zum politischen Strafrecht sowie einiger charakteristischer Ähnlichkeiten zwischen dem Parteiverbotsverfahren und dem Strafprozess gerechtfertigt. Der Begriff „darauf ausgehen“ sei deshalb dahingehend zu konkretisieren, dass der Eintritt in das Versuchsstadium eines Staatsschutzdeliktes vorliegen müsse.357 Die Staatsschutzdelikte und das Parteiverbotsverfahren verbindet ihre Zugehörigkeit zum Instrumentenarsenal der streitbaren Demokratie sowie das gemeinsame Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, welche in der verfassungsmäßigen Ordnung i. S. d. Strafrechtsnormen enthalten ist. Die §§ 81–83 StGB weisen aber eine andere Tatbestandsstruktur als Art. 21 Abs. 2 GG auf. Auch begründet Meier nicht näher, inwiefern die nur begrenzten verfahrensrechtlichen Parallelen zwischen Parteiverbotsverfahren und Strafverfahren eine analoge Anwendung der strafrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen auf das Parteiverbot rechtfertigen sollen. 354  Vgl. Henke, in: BK GG, Art. 21 Rn. 356 (Vorauflage, November 1991); Morlok, NJW 2001, 2931 (2940); Maurer, AöR 96 (1971), 203 (229 f.); wohl auch Höver, Parteiverbot und seine rechtlichen Folgen, S. 27 f.; Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. I, Art. 21 Rn. 122a („ernsthafte Gefahr“). 355  Maurer, AöR 96 (1971), 203 (229). 356  So Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 274; zustimmend Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 150; verhaltener dagegen ders., NJW 2001, 2931 (2940) und Jura 2013, 317 (321). 357  Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. S. 273 f.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Ein anderer Ansatz definiert das „Darauf Ausgehen“ über die Art der Vorgehensweise, d. h. die Wahl der Mittel und Methoden, mit denen die Partei die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu erreichen versucht. So fordert Maurer für ein Einschreiten gegen eine Partei – neben dem Erfordernis ihrer potenziellen Gefährlichkeit für die Grundordnung358 –, dass sie für ihre Ziele nicht mehr mit sachlichen Argumenten wirbt, sondern ähnlich den Nationalsozialisten „zu den Mitteln des physischen und psychischen Terrors, der Irreführung und Diffamierung, der Massensuggestion und Hetzpropaganda greift“.359 Noch restriktiver soll die tatsächliche Beeinträchtigung der Grundordnung durch illegales, gewalttätiges Handeln zur Voraussetzung für ein „Darauf Ausgehen“ gemacht werden, weil nur so eine moderne, grundrechtsschonende Auslegung unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit gewährleistet sei.360 Die Vertreter der beiden letztgenannten Ansätze sehen diese Form der Interpretation auch als durch den Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG legitimiert an, freilich ohne dies näher zu begründen.361 Fraglich ist, wie ein solches Verständnis von der Eingriffsschwelle noch mit dem präventiven Charakter des Art. 21 Abs. 2 GG zu vereinbaren ist. Die Konsequenz einer solchen Auslegung wäre eine große Schutzlücke, weil extremistische Parteien, die nicht zu strafbaren oder gewalttätigen Mitteln greifen und gleichzeitig immer mehr an Zulauf gewinnen, vom Parteiverbotstatbestand gar nicht erfasst würden.362 Einige Stimmen im Schrifttum fordern über das Kriterium der Erfolgsaussichten der Bestrebungen hinaus schließlich eine konkrete Gefahr der Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Eingriffsschwelle für ein Parteiverbot.363 Hergeleitet wird dieses 358  Vgl.

oben Fn. 355. AöR 96 (1971), 203 (216 f.). 360  So Will, Vorgänge Nr. 216 (4/2016), 69 (72  f.). Auch Meier, Leviathan 29 (2001), 439 (455) macht „Militanz“ sowie die Begehung von Gewalttaten mit politischem Hintergrund zur Voraussetzung für ein „Darauf Ausgehen“ und geht damit offenbar über den von ihm zuvor in seiner Dissertation vertretenen Ansatz der qualifizierten Vorbereitungshandlung zur Verfassungsstörung hinaus. 361  Maurer, AöR 96 (1971), 203 (217), der allerdings etwas vorsichtiger von „noch [durch den Wortlaut] gedeckt“ spricht – Hervorhebung durch Verfasser; Will, Vorgänge Nr. 216 (4/2016), 69 (72). 362  Vgl. Enders, SächsVBl. 2020, 174 (175) mit dem zutreffenden allgemeinen Hinweis, dass nicht nur Gewalt das Klima in einer freiheitlichen Ordnung vergiftet, sondern auch Kommunikation, die auf eine Verächtlichmachung des politischen Gegners gerichtet ist. 363  Alter, Eingriffsschwelle, S. 237, 252; ders., AöR 140 (2015), 571 (593); Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 717; Groh, ZRP 2000, 500 (505); Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (18) und ZParl 2001, 572 (579 f.), die von einer „objektiven Gefahrenlage“ sprechen. 359  Maurer,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle239

ungeschriebene Tatbestandsmerkmal364 aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der auch bei der Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG anzuwenden sei und im Merkmal „darauf ausgehen“ seinen Ausdruck finde365, aus der Entstehungsgeschichte der Norm, wonach der historische Verfassungsgeber geradezu selbstverständlich eine objektive Gefährdung der Grundordnung vor Augen gehabt habe366 sowie dem Regelungszweck des Art. 21 Abs. 2 GG als Präventionsnorm, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung nur dann schützen könne, wenn auch tatsächlich eine Gefahr vorliege.367 Die historische Auslegung sowie der dem Parteiverbot innewohnende Präventionsgedanke werden damit sowohl als Argument gegen eine Einbeziehung einer Gefahrenlage als auch zur Begründung eines derartigen Erfordernisses herangezogen. Die Diskussion um die Eingriffsschwelle und die Interpretation des „Darauf Ausgehens“ haben zusätzlich noch eine internationale Dimension erhalten, nachdem seit Ende der 1990er Jahre der EGMR in einer Reihe von Entscheidungen die Vereinbarkeit von in den Konventionsstaaten ergangenen Parteiverboten mit der EMRK geprüft hat. So wird das Erfordernis einer konkreten Gefahr teilweise auch mit einer konventionskonformen Auslegung des Parteiverbots unter Berücksichtigung der Anforderungen des EGMR an die Zulässigkeit von Parteiverboten begründet.368 Einen vermittelnden Ansatz zwischen einer Entkoppelung der Eingriffsschwelle von jeglichem Gefahrenbegriff und der von einigen geforderten konkreten Gefahr vertritt Michael, der für eine „nachhaltige Gefahr“ als Eingriffsschwelle bei Parteiverboten plädiert.369 Eine Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung sei nicht schon in der Gründung der Partei oder in ihren bloßen Absichten zu sehen, sondern erst in einem „nachhaltige[n] Wirken ihrer Anhänger bzw. Mitglieder mit einer Vielzahl und Vielfalt von Aktionen, die sich in aggressiv kämpferischer Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wenden“.370 Das BVerfG verlangt im KPD-Urteil für ein „Darauf Ausgehen“ allerdings auch schon eine dauernde und tendenzielle Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen 364  Sarx, in: Esser, Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 177 (189); Henkel/Lembcke, ZParl 2001, 572 (579); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/ Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 21. 365  Henkel/Lembcke, ZParl 2001, 572 (579); Alter, AöR 140 (2015), 571 (592). Zur Verhältnismäßigkeit unten sub E. II. 366  Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (18); dies., ZParl 2001, 572 (580); zustimmend Alter, Eingriffsschwelle, S. 237. 367  Groh, ZRP 2000, 500 (505); Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (18). 368  Alter, Eingriffsschwelle, S. 248; Emek/Meier, RuP 2013, 74 (77, 79); Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 239. 369  Michael, in: FS Tsatsos, S. 383 (403 ff.). 370  Michael, in: FS Tsatsos, S. 383 (406).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Grundordnung, die aus einer Grundtendenz der Partei heraus erwachsen muss. Es bleibt daher unklar, inwieweit mit der Anknüpfung an das Element einer „nachhaltigen Gefahr“ etwas anderes gemeint sein soll. 3. Fazit: Zur Ausgangslage des BVerfG im zweiten NPD-Verfahren Die Herausforderung bei der Bestimmung der Eingriffsschwelle im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ liegt darin, den Präventionsgedanken des Parteiverbots mit dem Gebot restriktiver Auslegung in Einklang zu bringen. Dies schließt zwei theoretisch denkbare Eingriffszeitpunkte bereits aus: Ein Parteiverbot darf zum einen nicht alleine an die verfassungsfeindliche Zielsetzung oder das bloße Bekenntnis der Partei zu verfassungsfeindlichen Zielen anknüpfen, ohne dass sich diese in irgendeiner Form des Tätigwerdens nach außen hin manifestieren. Das Erfordernis einer Entsprechung des politischen Willens der Partei durch objektive Umstände, insbesondere das Hervortreten in der Öffentlichkeit, in denen sich die Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung sowie des Willens zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes niederschlagen, ist bereits Voraussetzung für das Vorliegen der Parteieigenschaft.371 Zum anderen darf nicht abgewartet werden, bis die Partei über mittlerweile so viel Zustimmung in der Bevölkerung verfügt, dass ein Schaden für die freiheitliche demokratische Grundordnung bereits unausweichlich ist und sich das Verbot der entsprechenden Partei kaum mehr wird durchsetzen lassen oder, im schlimmsten Fall, ein Schaden für die freiheitliche demokratische Grundordnung bereits eingetreten ist. Die Ausführungen des BVerfG zum Inhalt des Tatbestandsmerkmals „da­ rauf ausgehen“ im KPD-Urteil sind auf den ersten Blick etwas missverständlich. Auf der einen Seite will es das Parteiverbot ausdrücklich nicht als In­ strument zur Verfolgung bestimmter politischer Gesinnungen verstehen, auf der anderen Seite aber den Nachweis der verfassungsfeindlichen Absicht als Eingriffsvoraussetzung bereits genügen lassen. Auch der Begriff der „Haltung“ deutet zunächst eher auf eine Introversion hin, während die Attribute „aktiv-kämpferisch“ gleichzeitig das Erfordernis eines nach außen sichtbaren Auftretens der Partei verdeutlichen. Aufgrund dieser zum Teil widersprüchlichen Formulierungen im KPD-Urteil haben Teile der Literatur dem BVerfG vorgeworfen, das Verbot von Parteien letztlich doch alleine an die verfassungswidrige Zielsetzung zu koppeln und gleichzeitig eine höhere Eingriffsschwelle gefordert, die an das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahrensituation anknüpft. Bei genauerer Betrachtung der einschlägigen Passagen des KPD371  Zuletzt BVerfGE 146, 319 (323, Rn. 16 ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 21 Rn. 15; Lenski, PartG, § 2 Rn. 21.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle241

Urteils stellt sich die Bewertung als rein gesinnungsbezogenes Parteiverbot jedoch als unzutreffend dar. Nach dem bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis des „Darauf Ausgehens“ war zusätzlich zur verfassungsfeindlichen Programmatik der Partei ein planvolles, kämpferisch-aggressives Auftreten mit dem Willen, diese Ziele auch politisch in die Tat umzusetzen, erforderlich. Hierfür reichte aber schon das verbale „Bekämpfen“ aus, ohne dass es auf die Anwendung von Gewalt oder die Begehung von Straftaten ankommen sollte. Eine darüberhinausgehende Erfolgskomponente war nicht erforderlich; die politische Partei musste zum Zeitpunkt des Verbots nicht die Möglichkeit haben, ihre Ziele in absehbarer Zeit tatsächlich in die Realität umsetzen zu können.

II. Das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ im NPD-Urteil Die eben dargestellte kritische Rezeption der bundesverfassungsgericht­ lichen Rechtsprechung und die in der Diskussion stehenden verschiedenen alternativen Ansätze zur Verortung der Eingriffsschwelle haben eine ausführlichere Befassung des Zweiten Senats mit dem Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ im NPD-Urteil erforderlich gemacht. Im Vorfeld des Parteiverbotsverfahrens war unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR bereits über einen strengeren Maßstab als noch in den früheren Verbotsurteilen spekuliert worden, was schließlich auch in der mündlichen Verhandlung des Verbotsverfahrens zum Ausdruck kam.372 Im Fortgang gilt es, die Neubestimmung der Eingriffsschwelle für Parteiverbote näher zu untersuchen. Dabei werden zunächst die Ausführungen im NPD-Urteil nachgezeichnet, bevor auf die inhaltlichen und methodischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem neuen Potentialitätsmerkmal einzugehen ist. 1. Kursänderung des BVerfG im NPD-Urteil Im NPD-Urteil bestätigt das BVerfG zunächst in Teilen seine bisherige Auslegung des Merkmals „darauf ausgehen“. Entsprechend dem Charakter des Parteiverbots als Organisationsverbot, nicht dagegen als Gesinnungsoder Weltanschauungsverbot, seien Ideen und Überzeugungen alleine nicht durch Art. 21 Abs. 2 GG sanktioniert. Hinzukommen müsse in jedem Fall ein aktives Nach-Außen-Tragen der verfassungsfeindlichen Zielsetzung, mit dem die Grenze vom bloßen „Bekennen“ zu diesen Zielen hin zum – in Anlehnung an den Begriff der „aktiv-kämpferische Haltung“ im KPD-Urteil – „Bekämpfen“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung überschritten 372  Vgl.

Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2016, 86 (90 f.).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

werde.373 Nur ein solches Verständnis des Merkmals „darauf ausgehen“ trage den Wertentscheidungen des Grundgesetzes für die Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses, der Meinungsfreiheit und der Parteienfreiheit Rechnung und entspreche dem daraus abzuleitenden Gebot der restriktiven Auslegung von Art. 21 Abs. 2 GG.374 In Kontinuität zum KPD-Urteil sieht der Zweite Senat diese Grenze überschritten, wenn ein planvolles Handeln der Partei vorliege, mit welchem „kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechende[n] politische[n] Konzept[s] hingearbeitet wird“.375 Dies sei nur dann gegeben, wenn die einzelnen Handlungen eine in der Partei vorhandene Grundtendenz widerspiegeln.376 Ein planvolles Vorgehen setze zudem eine qualifizierte Vorbereitungshandlung hinsichtlich der Erreichung der gegen die Grund­ ordnung gerichteten Ziele der Partei im Sinne eines „zielorientierten Zusammenhang[s]“ zwischen eigenen Handlungen der Partei und der Beeinträchtigung der Grundordnung voraus.377 Der Senat bestätigt unter Hinweis auf den Charakter des Parteiverbots als Präventivmaßnahme auch die damalige Auffassung des BVerfG im KPD-Urteil, wonach strafrechtlich relevante Handlungen generell und im Besonderen strafrechtlich relevante Vorbereitungshandlungen im Bereich der Staatsschutzdelikte keine zwingende Vo­ raussetzung für ein „Darauf Ausgehen“ darstellen und erteilt damit zugleich entsprechenden Forderungen in der Literatur378 nach einer dahingehenden einschränkenden Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG eine Absage. Das BVerfG stellt weiter klar, dass eine Partei auch dann verfassungswidrig sein könne, wenn sie die Erreichung ihrer Ziele ausschließlich mit legalen Mitteln und ohne Gewaltanwendung unter Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Freiheiten verfolge. Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes und das Parteiverbot als Teil ihres Instrumentenarsenals seien auch eine Antwort des Verfassungsgebers auf die Legalitätstaktik der Nationalsozialisten auf dem Weg zu ihrer Machterlangung. Es sei gerade kennzeichnend für die streitbare Demokratie, dass sie den Missbrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten zur Abschaffung der Freiheit verbieten will. Dementsprechend sei auch nicht entscheidend, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln die Partei beabsichtige, ihre Ziele umzusetzen, sondern lediglich, ob sich die Betätigung der 373  BVerfGE 144, 20 (220, Rn. 573); das BVerfG hat damit die Formulierung von Seifert, Politische Parteien, S. 464 übernommen. Kritisch zur aktiv-kämpferischen, aggressiven Haltung (obwohl so explizit nicht mehr im NPD-Urteil verwendet) weiterhin Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 668 (Juli 2020). 374  BVerfGE 144, 20 (219 f., Rn. 571, 573). 375  BVerfGE 144, 20 (221, Rn. 576). 376  BVerfGE 144, 20 (221, Rn. 576). 377  BVerfGE 144, 20 (221, Rn. 577). 378  Vgl. oben sub I. 2. b) cc).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle243

Partei als eine qualifizierte Vorbereitung der Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstelle.379 Die Anwendung rechtswidriger oder strafrechtlich relevanter Mittel und Methoden, insbesondere die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der politischen Ziele einer Partei, indiziere aber neben einer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Zielsetzung der Partei in Gestalt der Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols zugleich regelmäßig auch eine qualifizierte Vorbereitungshandlung zur Beeinträchtigung oder Beseitigung der Grundordnung.380 Bewegt sich der Senat bei den vorstehend dargestellten Ausführungen noch in den Sphären des alten KPD-Urteils und präzisiert im Wesentlichen die dort nur sehr knapp beschriebenen Anforderungen an das „Ausgehen“, verlangt er in ausdrücklicher Abkehr vom KPD-Urteil darüber hinaus die Überschreitung einer gewissen Erheblichkeitsschwelle. Eine konkrete Gefahr halten die Richter des Zweiten Senats entgegen der verbreiteten Auffassung im Schrifttum angesichts des Wortlauts von Art. 21 Abs. 2 GG, der im Gegensatz zu anderen Normen des Grundgesetzes (Art. 11 Abs. 2, Art. 87a Abs. 4 Satz 1 sowie Art. 91 GG) eine solche Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht verlangt, als auch der Entstehungsgeschichte und der Ratio des Parteiverbots als Präventionsnorm, die nicht erst bereits entstandene Gefahren abwehren, sondern künftig entstehende Gefahren verhindern soll, für nicht erforderlich. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung sei nicht genau bestimmbar. Diese Unsicherheit über den zulässigen Eingriffszeitpunkt könne im Ergebnis dazu führen, dass ein Parteiverbot aufgrund der zwischenzeitlich erlangten starken Stellung der Partei letztlich zu spät käme.381 Die entscheidende Wendung in der Interpretation des „Darauf Ausgehens“ liegt im neuen Erfordernis der sog. „Potentialität“. Dieses Merkmal entnehmen die Karlsruher Richter offenbar nicht, anders wie zuvor die Absage an das Vorliegen einer konkreten Gefahr, einer Auslegung von Art. 21 Abs. 2 GG nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck, sondern dem Charakter des Parteiverbots als Ausnahmenorm in einer freiheitlichen Demokratie. Die Potentialität verlange das Vorliegen von „konkreten Anhaltspunkten von Gewicht“, die zumindest auf eine Möglichkeit der Realisierung der von der Partei verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele schließen lassen.382 379  BVerfGE

144, 144, 381  BVerfGE 144, 382  BVerfGE 144, 380  BVerfGE

20 20 20 20

(221 f., Rn. 578 f.). (223, Rn. 580). (223 f., Rn. 581 ff.). (224 f., Rn. 585).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Wenn eine Partei nicht über „hinreichende Wirkungsmöglichkeiten“ verfüge, ihre gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele umzusetzen oder von diesen Wirkungsmöglichkeiten keinen Gebrauch mache und das Erreichen dieser Ziele somit völlig aussichtslos erscheine, bedürfe es in einem demokratischen Rechtsstaat auch keines Parteiverbots.383 Ob einer Partei im Einzelfall die erforderliche Potentialität bescheinigt werden kann, sei im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung festzustellen: „Dabei sind die Situation der Partei (Mitgliederbestand und -entwicklung, Organisationsstruktur, Mobilisierungsgrad, Kampagnenfähigkeit, finanzielle Lage), ihre Wirkkraft in die Gesellschaft (Wahlergebnisse, Publikationen, Bündnisse, Unterstützerstrukturen), ihre Vertretung in Ämtern und Mandaten, die von ihr eingesetzten Mittel, Strategien und Maßnahmen sowie alle sonstigen Umstände zu berücksichtigen, die Aufschluss darüber zu geben vermögen, ob eine Umsetzung der von der Partei verfolgten Ziele möglich erscheint.“384

Wie schon zuvor bei der qualifizierten Vorbereitungshandlung stelle der Einsatz von Gewalt oder die Begehung von Straftaten zur Erreichung der politischen Ziele einer Partei nach dem BVerfG ein regelmäßiges Indiz für das Vorliegen der Potentialität dar. Das Kriterium der Potentialität ist nach Auffassung des Senats aber auch dann erfüllt, wenn unterhalb der Ebene strafrechtlichen Verhaltens eine „Atmosphäre der Angst“ geschaffen werde, die geeignet sei, „die freie und gleichberechtigte Beteiligung aller am Prozess der politischen Willensbildung nachhaltig zu beeinträchtigen“. Dafür genüge bereits das Herbeiführen einer solchen Atmosphäre in „regional begrenzten Räumen“. Das „rein subjektive Bedrohungsempfinden“ sei aber in jedem Fall nicht auseichend, um von einer „Atmosphäre der Angst“ auszugehen. Vielmehr bedürfe es einer objektiven Eignung der Aktivitäten der Partei zur Beeinträchtigung der Freiheit der politischen Willensbildung.385 Schließlich lässt der Senat auch weiterhin Äußerungen aus der Partei als Handlungselement für ein „Darauf Ausgehen“ ausreichen. Aufgrund der nun geforderten Potentialität müssten allerdings „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht bestehen, die einen Erfolg der mit der Verbreitung des verfassungswidrigen Gedankenguts der Partei verbundenen Handlungsaufforderung möglich erscheinen lassen“.386

383  BVerfGE

144, 20 (225, Rn. 586). 144, 20 (225 f., Rn. 587); vgl. davor bereits die Kriterien bei Roell­ ecke, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. I, Art. 21 Rn. 122a. 385  BVerfGE 144, 20 (226, Rn. 588). 386  BVerfGE 144, 20 (226 f., Rn. 589). 384  BVerfGE



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle245

2. Inhaltliche Fragestellungen a) Das Prognoserisiko In Teilen der Literatur wird die inhaltliche Unbestimmtheit des Potentialitätsmerkmals kritisiert, welches offenlasse, ab welchem Zeitpunkt genau der Schritt von der „bloß“ verfassungsfeindlichen hin zur verfassungswidrigen Partei vollzogen wird.387 Das BVerfG zählt im NPD-Urteil zwar eine Reihe von Anhaltspunkten auf, die bei der Ermittlung der Potentialität im Rahmen einer „wertenden Gesamtbetrachtung“ Berücksichtigung finden sollen.388 Diese Kriterien, insbesondere die Mitgliederzahl der Partei, ihre Wahlergebnisse oder die Zahl der in Ämtern und Mandanten vertretenen Parteimitglieder, werden dabei jedoch nicht näher quantifiziert. Eine solche Quantifizierung stellt sich auch durchaus als schwierig dar, weil insbesondere Wahl­ ergebnisse oder die auf Basis der Wahlergebnisse sich ergebende Zahl von parlamentarischen Mandatsträgern der Partei immer im Lichte der zum jeweiligen Zeitpunkt der Wahl vorherrschenden politischen Verhältnisse sowie unter Berücksichtigung des Abschneidens anderer Parteien interpretiert werden müssen. Es wäre an der Stelle aber hilfreich gewesen, wenn das BVerfG den antragsberechtigten Organen durch klarere Vorgaben mehr Orientierung für künftige Verbotsverfahren an die Hand gegeben hätte. In der Literatur reicht die Spanne, innerhalb derer eine Partei noch für ungefährlich erachtet wird, von zwei bis drei Prozent bis hin zu 15 % der Wählerstimmen389, jeweils unter der Prämisse des Bestehens gefestigter demokratischer Strukturen und einer für die Demokratie eintretenden parlamentarischen Mehrheit. Für eine Potentialität erforderlich sehen Leggewie/Lichdi/Meier zumindest fünf Prozent der Wählerstimmen und damit den Einzug in den Bundes- oder einen Landtag.390 Auch Kliegel hält den Einzug in den Bundestag oder in mehrere Landesparlamente für ausreichend, um bei einer Partei die Potentialität der Zielerreichung zu bejahen.391 Wäre die NPD also vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden, nachdem sie im Jahr 2004 mit 9,2 % in den Sächsischen Landtag und im Jahr 2006 mit 7,3 % in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezogen ist? Alle diese Zahlen weisen eine gewisse Beliebigkeit auf. Schließlich ließe sich auch genauso gut argumentieren, dass selbst eine verfassungsfeindliche Partei mit 30 % der Stimmen 387  Vgl. Ebert/Karaosmanoğlu, DVBl. 2017, 375 (376); Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (334); Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 21 Rn. 22. 388  BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 587). 389  Vgl. Maurer, AöR 96 (1971), 203 (229). 390  Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (343). 391  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S.  375 (402 f.).

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realistischerweise nicht in die Lage kommen kann, ihre programmatischen Ziele umzusetzen, wenn sie sich einem geschlossen demokratischen Lager von immerhin noch 70 % gegenübersieht. Dennoch dürfte einer solchen Partei von der Allgemeinheit in jedem Fall besorgniserregendes Gefährdungs­ potential zugeschrieben werden. Eine starre Festlegung auf bestimmte (Prozent-)Zahlen vermag die Frage nach dem Vorliegen der Potentialität somit nicht in allen Fällen zu beantworten. Werden neben Wahlergebnissen oder der Anzahl der in Ämtern und Mandaten vertretenen Parteimitgliedern im Rahmen der vom BVerfG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung auch noch weitere Gesichtspunkte berücksichtigt, stellt sich zudem die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Kriterien zueinander. Die Potentialität erweist sich somit immer als eine mit Unsicherheiten behaftete Prognoseentscheidung über die künftige Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die jeweilige Partei. Eine Indizwirkung für die Annahme von Potentialität hat nach dem BVerfG der Einsatz von Gewalt oder die Begehung von Straftaten.392 Für die Antragsteller dürfte es dann ausreichen, wenn sie vortragen und nachweisen, dass der Partei politische Straftaten zugerechnet werden können. Wenn eine Partei sich zur Durchsetzung ihrer Ziele derartiger Mittel bedient, muss die Indizwirkung durch gewichtige Gegengründe widerlegt werden. Schwieriger dagegen ist wiederum die Feststellung der Potentialität unterhalb der Ebene strafrechtlich relevanten Verhaltens bei Herbeiführung einer „Atmosphäre der Angst“. Neben der Potentialität stellt dies die zweite begriffliche Neuschöpfung des BVerfG im Rahmen der Interpretation des „Darauf Ausgehens“ dar.393 Wohl auch, weil es sich bei „Angst“ immer um einen objektiv nur schwer greifbaren Gemütszustand des Einzelnen handelt, welcher im Prozess darüber hinaus mit Nachweisschwierigkeiten verbunden ist, verlangt das BVerfG eine objektive Eignung der Parteiaktivitäten zur Beeinträchtigung der Freiheit der politischen Willensbildung. Auch hier bleibt indes unklar, ab welchem Zeitpunkt eine solche objektive Eignung zur nachhaltigen Beeinträchtigung der freien und gleichberechtigten Beteiligung aller am Prozess der politischen Willensbildung angenommen werden kann.394 Der Subsumtion des Gerichts im NPD-Urteil können nur Sachverhalte entnommen werden, in denen eine Atmosphäre der Angst jedenfalls nicht vorliegen soll.395 Demnach fehlt es bei der bloßen Teilnahme der Partei am politischen Meinungskampf in Form von angemeldeten Demonstrationen und Kundgebungen – auch wenn diese gezielt vor Flüchtlingsunterkünften, Moscheen 392  BVerfGE

144, 20 (226, Rn. 588). DÖV 2017, 477 (481). 394  Vgl. BVerfGE 144, 20 (226, Rn. 588). 395  BVerfGE 144, 20 (357, Rn. 977 ff.). 393  Shirvani,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle247

oder dem Wohnhaus von Kommunalvertretern stattfinden – an der objektiven Eignung zur Herstellung einer bedrohlichen Atmosphäre, soweit die Grenzen des im demokratischen Diskurs Zulässigen nicht überschritten werden. Subjektive Bedrohungsempfindungen der davon betroffenen Personen genügen nicht.396 Soweit einzelne Handlungen tatsächlich ein Bedrohungspotential aufwiesen, konnten diese der NPD entweder nicht zugerechnet werden oder waren nicht ausreichend, um eine Grundtendenz der Partei zur Verfolgung ihrer Ziele durch die Schaffung einer Atmosphäre der Angst nachweisen zu können.397 Die Ausführungen des BVerfG machen die durchaus hoch angesetzten Hürden für die Feststellung einer Atmosphäre der Angst deutlich. Ein Parteiverbot auf ein Kriterium zu stützen, welches, wie Shirvani zu Recht anmerkt, „von subjektiven Empfindungen ausgeht und objektiv schwer ermittelbar ist“398, stellt sich im Hinblick auf die Bestimmtheit der Eingriffsschwelle als problematisch dar. Schließlich kann gerade im außerparlamentarischen Bereich des politischen Extremismus in bestimmten lokal begrenzten Regionen eine solche Atmosphäre der Angst oft durch das Zusammenwirken verschiedener Gruppierungen und Kräfte entstehen, die teilweise miteinander verflochten sein können, aber auch jeweils untereinander für ihre eigenen Ziele streiten. In einem solchen Fall stellt sich das Problem der Unterscheidung nach Verursachungsbeiträgen, die letztlich in Summe zu einer derartigen bedrohlichen Atmosphäre führen.399 Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass sich das BVerfG durch das Potentialitätskriterium selbst einen weiten Prognose- und Entscheidungsspielraum einräumt.400 Bei künftigen Verbotsverfahren wird deshalb die zentrale Frage sein, welche Bedeutung das BVerfG den von den Antragstellern präsentierten Anhaltspunkten für eine Potentialität im Rahmen seiner „wertenden Gesamtbetrachtung“ beimessen wird. Abgesehen von dem Fall der militanten Partei, bei der aufgrund der Begehung von Straftaten und der Schaffung einer Atmosphäre der Angst die Indizwirkung für das Vorliegen der Potentialität sprechen wird, werden künftige Verbotsverfahren stets mit einem hohen Prognoserisiko behaftet sein. Wenn das BVerfG den Zeitpunkt des Eintritts einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung als zu unbestimmt ansieht, gilt selbiges somit in vielen Fällen auch für den Zeitpunkt des Eintritts der Potentialität.

396  BVerfGE

144, 20 (359, Rn. 983 ff.). 144, 20 (365, Rn. 1002 ff.). 398  Shirvani, DÖV 2017, 477 (481). 399  Vgl. Shirvani, DÖV 2017, 477 (481). 400  Linke, DÖV 2017, 483 (493) spricht sogar von einem „bedenklichen Freiraum verfassungsrichterlicher Dezision“. 397  BVerfGE

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b) Verhältnis zur konkreten Gefahr Einige Stimmen in der Literatur sehen hinter der Begriffsschöpfung der „Potentialität“ in Wirklichkeit sogar nichts anderes als die Prüfung einer konkreten Gefahr für das Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.401 Das BVerfG hingegen betont im NPD-Urteil ausdrücklich, dass eine konkrete Gefahr für ein „Darauf Ausgehen“ nicht erforderlich sei.402 Der Begriff der konkreten Gefahr entspringt dem Polizei- und Ordnungsrecht. Nach der gängigen Definition stellt eine konkrete Gefahr eine Sachlage dar, bei der im Einzelfall bei ungehindertem Geschehensablauf die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eintreten wird.403 Der Gefahrenbegriff zeichnet sich demnach durch das Merkmal der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ aus. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt aus der ex-ante Perspektive zum Prognosezeitpunkt einerseits keine Gewissheit über den Schadenseintritt, aber andererseits auch mehr als nur die bloße Möglichkeit.404 Im Gegensatz dazu ist für die Annahme der Potentialität bereits ausreichend, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass die Bestrebungen der Partei die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung herbeiführen können. Die „Möglichkeit“ eines Erfolgseintritts verlangt weniger als dessen „hinreichende Wahrscheinlichkeit“, es handelt sich hierbei um zwei unterschiedliche Prognosemaßstäbe. Deshalb macht es sich Ipsen zu einfach, wenn er im Rahmen der Definition der konkreten Gefahr den Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ durch den der „Möglichkeit“ austauscht und daraus schlussfolgert, das BVerfG habe tatsächlich das Vorliegen einer konkreten Gefahr geprüft, dies aber mit der Bezeichnung „Potentialität“ camoufliert.405 Ebenso vermag nicht zu überzeugen, wenn Kingreen in den „konkreten Anhaltspunkten von Gewicht“ für die Realisierungsmöglichkeit der verfassungsfeindlichen Ziele eine auf die jeweilige Partei und deren spezifische Bestrebungen bezogene konkrete Gefahr sieht.406 Eine konkrete Gefahr ist bereits qua ihrer Definition stets auf den Einzelfall bezogen. Daneben gilt auch hier, dass bei der Gleichsetzung von Potentialität und konkreter Gefahr nicht weiter auf deren unterschiedliche Prognosemaßstäbe eingegangen wird. Das Erfordernis der „konkreten Anhaltspunkte“ ist zudem angelehnt an die Formulierung „tatsächliche Anhaltspunkte“ in § 4 Abs. 1 401  Ipsen,

(506).

RuP 2017, 3 (5); Emek, RuP 2017, 174 (179); Kingreen, Jura 2017, 499

402  BVerfGE

144, 20 (223 f., Rn. 581 ff.). Gefahrenabwehr, S. 410. 404  Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 223. 405  Ipsen, RuP 2017, 3 (5). 406  Kingreen, Jura 2017, 499 (506). 403  Drews/Wacke/Vogel/Martens,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle249

Satz 3 BVerfSchG und stammt aus dem präventiven Verfassungsschutzrecht, ohne dass dort die konkrete Gefahr zum Tatbestandsmerkmal erhoben wird. Der Unterschied zwischen konkreter Gefahr und Potentialität wird auch in den Ausführungen des BVerfG deutlich, in denen die Potentialität dergestalt umschrieben wird, die Partei müsse „über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfüg[en], die ein Erreichen der von ihr verfolgten Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen“ und diese Möglichkeiten auch nutzen können.407 Für die Annahme der Potentialität genügt demnach bereits eine kleine Chance der Realisierung der verfassungsfeindlichen Ziele.408 Die These von der Identität von konkreter Gefahr und Potentialität erweist sich damit als nicht haltbar.409 Die Potentialität rangiert unterhalb der Eingriffsschwelle einer konkreten Gefahr.410 Die Bedenken, die gegen die Einführung des Potentialitätsmerkmals angeführt werden, stellen somit erst recht Argumente gegen die noch höhere Eingriffsschwelle einer konkreten Gefahr dar. 3. Methodische Fragestellungen „Die Verfassung ist als ein lebendes Instrument zu begreifen, das es im Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen gilt.“411

Nach der Frage der inhaltlichen Bestimmtheit der Potentialität ist nun in den Blick zu nehmen, ob eine derartige Anforderung aus dem Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ auf methodischem Wege überzeugend abgeleitet werden kann. Dies erfolgt zunächst im Wege einer grundgesetzautonomen Betrachtung (d. h. noch ohne Berücksichtigung eines möglichen Einflusses der EMRK auf Art. 21 Abs. 2 GG), bevor im Anschluss auf die bisherige Rechtsprechung des EGMR und die Frage, wann der Gerichtshof ein Parteiverbot als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ansieht (vgl. Art. 11 Abs. 2 EMRK), eingegangen wird.

407  BVerfGE

144, 20 (225, Rn. 586). Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, 324 (334). 409  Vgl. auch die deutliche Kritik von Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (402, Fn. 130). 410  Im Ergebnis auch Siegel/Hartwig, NVwZ 2017, 590 (595); Krüper, ZJS 2017, 365 (368), nach dem die Potentialität „zwischen konkreter Gefahr und bloßem verfassungsrechtlichen Restrisiko“ angesiedelt ist; vgl. auch van Ooyen, RuP 2017, 468 (469). 411  Limbach, Das BVerfG, S. 32. 408  Vgl.

250

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

a) Grundgesetzautonome Betrachtung Zunächst ist zu überprüfen, ob das vom BVerfG entwickelte Kriterium der Potentialität dem Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ unter Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze der Gesetzes- und Verfassungsinterpretation entnommen werden kann und insbesondere mit dem bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis des Parteiverbots als Präventivmaßnahme, welche nach der Maxime „Wehret den Anfängen“ frühzeitig die Möglichkeit eines Vor­ gehens gegen verfassungsfeindliche Parteien eröffnen soll412, zu vereinbaren ist. aa) Methoden der Verfassungsinterpretation Die Methoden der Verfassungsinterpretation unterscheiden sich im Grundsatz nicht von den klassischen413 in der juristischen Methodenlehre dargestellten Kriterien für die Auslegung von Gesetzen. Die Konkretisierung einer Verfassungsnorm hat deshalb wie bei einfachen Gesetzesbestimmungen in erster Linie durch deren grammatikalische, systematische, teleologische und historisch-genetische Interpretation zu erfolgen.414 Die für die Verfassungsauslegung zusätzlich zu beachtenden Prinzipien der Einheit der Verfassung, der praktischen Konkordanz und der funktionellen Richtigkeit können letztlich als spezifische Ausprägungen der systematischen Auslegung im Verfassungsrecht angesehen werden.415 Das BVerfG vertritt seit jeher in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass es bei der Gesetzesauslegung nicht auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers ankommt, sondern auf den objektiven Willen des Gesetzes. Entscheidend sei, dass sich der Wille des Gesetzgebers im Gesetz objektiviert habe.416 Das BVerfG führt dazu aus: 412  BVerfGE

144, 20 (224, Rn. 584). BVerfG spricht von den „üblichen“ (BVerfGE 48, 40 [45]), „anerkannten“ (BVerfGE 21, 209 (215); 49, 148 (157); 71, 354 (363); 133, 168 (205, Rn. 66); 144, 20 [213, Rn. 555]), „allgemeinen“ (BVerfGE 8, 274 (307); 19, 354 [362]), „herkömmlichen“ (BVerfGE 105, 135 [157]) oder „hergebrachten“ (BVerfGE 19, 290 [301]) Methoden der Gesetzesauslegung. 414  Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn. 68; Starck, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 271 Rn. 19; Sachs, in: ders., GG, Einf. Rn. 37 f.; Schäfer, Einführung fdGO, S. 72 f.; in der Praxis anschaulich etwa BVerfGE 62, 1 (36 ff.). 415  Starck, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 271 Rn. 20. Zu den besonderen Prinzipien der Verfassungsinterpretation näher Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, Rn.  70 ff. 416  BVerfGE 1, 299 (312); st. Rspr., vgl. BVerfGE 8, 274 (307); 11, 126 (130 f.); 20, 283 (293); 33, 265 (294); 45, 272 (288); 59, 128 (153); 105, 135 (157); 133, 168 (205, Rn. 66). 413  Das



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle251 „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektive Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit der nach den angegeben Grundsäten erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg nicht ausgeräumt werden können.“417

Diese Grundsätze finden auch auf die Verfassungsinterpretation Anwendung, was der Zweite Senat auch im NPD-Urteil bestätigt hat.418 Das BVerfG sieht nach diesen Grundsätzen somit die grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung als primär heranzuziehende Auslegungsmethoden für die Ermittlung des in der jeweiligen Norm objektivierten Willens des Verfassungsgebers an. Auf die Entstehungsgeschichte der Norm darf nur dann zurückgegriffen werden, wenn diese Methode das bereits durch Anwendung der anderen Auslegungsgrundsätze gefundene Ergebnis bestätigt oder zur Ausräumung von Zweifeln dienen kann, welche nach Anwendung der anderen Auslegungsgrundsätze weiterhin offenbleiben. Die grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung stehen dagegen gleichrangig nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig.419 An dieser Stelle sei aber angemerkt, dass entgegen dieser mehrfach betonten Auslegungsmaximen das BVerfG in seiner Judikatur der Entstehungsgeschichte einer (Verfassungs-)Norm im Rahmen der Auslegung in mehreren Fällen abweichend von ihrer eher untergeordneten Rolle als bloß unterstützend he­ ranzuziehende Auslegungsmethode durchaus entscheidendes Gewicht beigemessen420 oder ihr zumindest eine gleichrangige Bedeutung neben den anderen Auslegungsmethoden421 zugebilligt hat. Insbesondere für die Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG sei nach Ansicht der nicht entscheidungstragenden Senatsmehrheit im NPD-Einstellungsbeschluss den Vorstellungen des Verfassungsgebers ein stärkeres Gewicht einzuräumen, weil die Norm ihrer Entstehungsgeschichte nach als Reaktion auf die Entwicklung des Parteiwesens in der Endphase der Weimarer Republik und unter dem NS-Regime verstanden werden müsse.422 417  BVerfGE

1, 299 (312). 144, 20 (213, Rn. 555); davor bereits BVerfGE 30, 149 (158 f.). 419  BVerfGE 11, 126 (130); 133, 168 (205, Rn. 66); 144, 20 (213, Rn. 555). 420  Vgl. BVerfGE 88, 40 (56 f.); 92, 91 (111 f.); 102, 176 (185); 107, 395 (404 f.); 121, 266 (296); 129, 356 (366). 421  Vgl. BVerfGE 116, 24 (37  ff.); 134, 242 (326, Rn. 259 f.); 138, 261 (273, Rn. 29). 422  BVerfGE 107, 339 (361 f. – abw. M.). 418  BVerfGE

252

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn stellt sowohl nach der Rechtsprechung des BVerfG als auch der juristischen Methodenlehre in jedem Fall den Ausgangspunkt der Interpretationsbemühungen dar und bestimmt zugleich auch deren Grenze. Ein Rückgriff auf die verbleibenden Auslegungsmethoden ist daher nicht mehr statthaft, wenn der Wortlaut der auszulegenden Bestimmung klar und eindeutig ist.423 Dies wird allerdings nur in den wenigsten Fällen zutreffen, weil die meisten Begriffe sowohl der Alltagssprache als auch Gesetzessprache gerade nicht so eindeutig sind, dass sie nur eine mögliche Auslegung zulassen.424 Im Falle des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ liegt, wie bereits der Streitstand in der Literatur hinsichtlich der Bestimmung der Eingriffsschwelle gezeigt hat, ein solcher klarer und eindeutiger Wortlaut jedenfalls klar und eindeutig nicht vor, so dass eine Inhaltsbestimmung nach allen anerkannten Auslegungsmethoden angezeigt ist. bb) Überprüfung des Potentialitätsmerkmals anhand der Auslegungsgrundsätze Auffällig ist, dass das BVerfG im Rahmen seiner Konkretisierung des umstrittenen Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ durch das neue Potentialitätskriterium die Methoden der Gesetzesauslegung, deren Bedeutung für die Ermittlung des objektivierten Willens des Verfassungsgebers es wiederholt betont hat, an der Stelle offensichtlich selbst nicht ausschöpft. Während der Senat im Vorgriff auf die Einführung der Potentialität das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung noch mit Verweis auf den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Zweck der Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 GG ablehnt und sich sein Ergebnis damit als Folge einer – wenn in der Begründung auch knapp gehaltenen – Auslegung darstellt, begründet der Senat die Notwendigkeit des Merkmals der Potentialität dagegen mit dem Ausnahmecharakter des Parteiverbots als präventives Organisations- und nicht Weltanschauungs- oder Gesinnungsverbot und der daraus abgeleiteten Überlegung, dass es eines präventiven Schutzes durch ein Parteiverbot nicht bedarf, wenn das Handeln der Partei noch nicht einmal auf die Möglichkeit der Realisierung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele schließen lässt.425 Nach Ansicht von Uhle folgt die neue Interpretation des Merkmals „darauf ausgehen“ im Sinne einer erforderlichen Potentialität der 423  Vgl. BVerfGE 8, 28 (34); 18, 97 (111); 21, 292 (305); 47, 46 (82); 54, 277 (299); 78, 350 (357); 122, 248 (283 – abw. M.); 133, 168 (205, Rn. 66). 424  Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 343 und Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6 Rn. 5, mit dem Hinweis, dass bereits die Feststellung, aus dem Wortsinn ergebe sich etwas „eindeutig“ das Ergebnis einer Auslegung ist. 425  BVerfGE 144, 20 (224 f., Rn. 585 f.).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle253

Zielerreichung damit prima facie in erster Linie aus einer Berücksichtigung des Normwecks von Art. 21 Abs. 2 GG und ist somit Ergebnis einer teleologischen Auslegung des Parteiverbots durch das BVerfG.426 Kingreen sieht in dem restriktiveren Verständnis der Eingriffsschwelle durch das BVerfG dagegen „den Versuch […], Art. 21 Abs. 2 GG systematisch, also im Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes, auszulegen“. Dafür spreche der Umstand, dass das BVerfG zu Beginn seiner Behandlung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ den Wertentscheidungen der Verfassung für die Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG), die politische Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 GG) eine besondere Bedeutung als Auslegungsmaxime beimisst. Dennoch sei, so Kingreen, „im Ergebnis unklar, welche Auslegungsmethode eigentlich das Urteil trägt“.427 Im Folgenden soll, beginnend mit der grammatikalischen Auslegung, untersucht werden, ob der Wendung „darauf ausgehen“ anhand der klassischen Auslegungsmethoden das Merkmal der Potentialität entnommen werden kann. (1) Wortlaut Gemäß den eben dargelegten Grundsätzen der Gesetzesauslegung ist zunächst der Wortsinn der in Art. 21 Abs. 2 GG enthaltenen Wendung „darauf ausgehen“ zu bestimmen. Mangels einer besonderen Bedeutung des Ausdrucks in der juristischen Fachsprache ist sogleich auf seine Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch abzustellen. Laut dem Wörterbuch Duden bedeutet der Begriff „ausgehen“ so viel wie „sich etwas zum Ziel setzen, es auf etwas absehen“. Als weitere Synonyme in diesem Zusammenhang genannt werden unter anderem Formulierungen wie „anstreben“, „anvisieren“, „aus sein auf“ oder „zu erreichen suchen“.428 Das zweite Standardwerk zur deutschen Sprache von Wahrig enthält mit „nach etwas heftig streben“ eine ganz ähnliche Umschreibung bereit.429 Der Wortsinn des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ gibt das Erfordernis einer objektiven Erfolgstauglichkeit der von der Partei ausgehenden Bestrebungen somit nicht her.430 Es wurde Uhle, NVwZ 2017, 583 (588). Jura 2017, 499 (504). 428  www.duden.de/rechtschreibung/ausgehen; zuletzt abgerufen am 30.04.2021. 429  Wahrig-Burfeind, Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 127. 430  Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 540a (Januar 2018); Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 159; Kloepfer, NVwZ 2017, 913; Linke, DÖV 2017, 483 (490); Uhle, NVwZ 2017, 583 (588); Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 21 Rn.  22; a. A. Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (110), nach denen die Semantik des „Darauf Ausgehens“ dem Hineinlesen einer Gefahrenschwelle nicht entgegensteht. 426  Vgl.

427  Kingreen,

254

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

aber bereits dargelegt, dass dem „Darauf Ausgehen“ zumindest ein über die bloße Zielsetzung hinausgehender Bedeutungsgehalt in Gestalt eines Unternehmens in Richtung der Zielerreichung zukommen muss, weil ansonsten eines der beiden Tatbestandsmerkmale „darauf ausgehen“ oder „Ziele“ eines eigenständigen Inhalts entbehren würde.431 (2) Entstehungsgeschichte In einem nächsten Schritt ist zu untersuchen, ob aus der Entstehungsgeschichte des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. einschließlich der Berücksichtigung von dessen Vorläufernorm in Art. 47 Abs. 4 HChE Hinweise für eine dahingehende Regelungsabsicht des historischen Verfassungsgebers gewonnen werden können, dass nur solche Parteien, bei denen eine realistische Aussicht auf Verwirklichung ihrer politischen Ziele besteht, verfassungswidrig sein sollen. Nach Art. 47 Abs. 4 Satz 1 HChE kann „das Bundesverfassungsgericht Parteien, die sich nach der Art ihrer Tätigkeit die Beseitigung der freiheit­ lichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel gesetzt haben, […] für verfassungswidrig erklären“. Über die Beratungen des HerrenchiemseeKonvents, die letztlich zu dieser Fassung eines Parteiverbotstatbestandes geführt haben, geben die Gesetzesmaterialien keinen hinreichenden Aufschluss. Der Wortlaut dieser Bestimmung deutet aber in keiner Weise auf eine Potentialität der Durchsetzung verfassungsfeindlicher Ziele als Voraussetzung für ein Parteiverbot hin. Der Verzicht auf eine irgendwie geartete Erfolgskomponente wird im kommentierenden Teil des Berichts über den Verfassungskonvent zur in Art. 98 Ziffer 6 HChE geregelten Entscheidungskompetenz des BVerfG für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit bestätigt. Dort ist ebenfalls die Rede davon, dass „[e]ine Partei, die sich die Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel setzt“, keine demokratischen Freiheiten in Anspruch nehmen darf und vom BVerfG für verfassungswidrig zu erklären ist.432 Grundlage der Beratungen des Parlamentarischen Rates war dementsprechend eine Bestimmung, bei der die Mitglieder des Verfassungskonvents übereinstimmend keinen Gefährdungsmaßstab im Hinblick auf das Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor Augen hatten. Im Parlamentarischen Rat wurde die Wendung „zum Ziel setzen“ zunächst sowohl in den Beratungen des für Art. 47 Abs. 4 HChE zuständigen Kombi431  Dollinger,

in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 15. Rat, Bd. 2, Dokument Nr. 14, S. 621 – Hervorhebung durch

432  Parlamentarischer

Verfasser.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle255

nierten Ausschusses für die Organisation des Bundes und für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege433 bis einschließlich im Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 10. November 1948434 beibehalten. Art. 47 Abs. 4 HChE hatte bis dahin die folgende Fassung erhalten: „Politische Parteien, die sich nach ihrem Programm oder der Art ihrer Tätigkeit die Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel gesetzt haben, sind verfassungswidrig. […].“

In seinem Vorschlag vom 16. November 1948435 nahm der Allgemeine Redaktionsausschuss eine systematische Neuordnung der Vorschriften vor und regelte das Parteiverbot fortan in Art. 21a Abs. 3. Dabei kam es auch zu der bis dahin bedeutendsten Novellierung des Verbotstatbestandes. Der Wortlaut des Art. 21a Abs. 3 lautete wie folgt: „Parteien, die darauf ausgehen, die freiheitliche und demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, sind verfassungswidrig. […].“

Erstmals fand sich darin die handlungsbezogene Formulierung „darauf ausgehen“, welche anstelle der zuvor aus dem „Programm oder der Art ihrer Tätigkeit“ abzuleitenden Zielsetzung der Partei getreten ist. Eine Begründung für diese Neufassung bzw. eine Dokumentation über den Inhalt der Beratungen des Allgemeinen Redaktionsausschusses im Vorfeld dieses Formulierungsvorschlags sind nicht überliefert.436 Im weiteren Verlauf der Beratungen wurden vom Allgemeinen Redaktionsausschuss zusätzlich zum Merkmal „darauf ausgehen“ als Erkenntnismittel für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit die Ziele der Partei und das Verhalten ihrer Anhänger in den Tatbestand aufgenommen.437 An diesen Tatbestandsvoraussetzungen eines Parteiverbots haben sich auf dem Weg zur Grundgesetzfassung des Art. 21 Abs. 2 a. F. sowohl im Hauptausschuss als auch im Plenum des Parlamentarischen Rates keine Änderungen mehr ergeben. Den Materialien zur Entstehungsgeschichte des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. ist somit keine Verknüpfung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ mit der Möglichkeit einer Durchsetzung der verfassungsfeindlichen Zielsetzung zu entnehmen. Gerade der Übergang von der Formulierung „zum Ziel gesetzt“ hin zum „darauf ausgehen“ spricht dafür, dass die bloße Absicht der Partei zur Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokrati433  Vgl. die Stenographischen Protokolle der 6. Sitzung vom 24. September 1948, in: Parlamentarischer Rat, Bd. 13/1, S. 170 ff., der 11. Sitzung vom 7. Oktober 1948, in: Parlamentarischer Rat, Bd. 13/1, S. 416 ff. und der 20. Sitzung vom 5. November 1948, in: Parlamentarischer Rat, Bd. 13/2, S. 732 ff. 434  Vgl. Parlamentarischer Rat, Bd. 7, S. 52. 435  Vgl. Parlamentarischer Rat, Bd. 7, S. 42. 436  Vgl. Meier, Parteiverbote und demokratische Republik, S. 155. 437  v. Doemming/Füsslein/Matz, in: JöR n. F. 1 (1951), S. 1 (209).

256

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

schen Grundordnung, ergänzt um ihre nach außen sichtbare Manifestation durch ein objektives Handlungselement, ausreichend für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit sein sollte.438 Nach Ansicht von Henkel und Lembcke führe die historische Auslegung dagegen gerade zu der Annahme einer objektiven Gefährdungslage als Voraussetzung für ein Parteiverbot, weil der Verfassungsgeber vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Endphase der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus „wie selbstverständlich von einer objektiven Gefährdung in dem Moment ausging, in dem eine verfassungsfeindliche Partei die Arena betritt“.439 Mit dieser Formulierung entkräften Henkel und Lembcke aber richtigerweise, wenn auch ungewollt, selbst das Erfordernis einer objektiven Gefährdungslage. Mit dem Parteiverbot soll demnach schon dann eingegriffen werden können, wenn – um bei der eben zitierten Formulierung zu bleiben – die Partei die politische Bühne „betritt“ und eben nicht erst, wenn sie an Bedeutung gewinnt und es realistisch erscheint, ihre angestrebten Ziele auch verwirklichen zu können. Als Ergebnis der historischen Auslegung ist deshalb festzuhalten, dass die Anreicherung des „Ausgehens“ durch das Kriterium der Potentialität die Regelungsabsicht des historischen Verfassungsgebers negiert.440 (3) Normzweck Das BVerfG sieht den Sinn und Zweck des Parteiverbots in Art. 21 Abs. 2 GG nicht in der „Abwehr bereits entstandener“, sondern vielmehr in der „Verhinderung des Entstehens künftig möglicherweise eintretender Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung“.441 Bereits seit dem KPDUrteil betont das BVerfG diesen Charakter des Parteiverbotsverfahrens als Präventionsmaßnahme.442 Den staatlichen Institutionen soll so bereits frühBVerfGE 5, 85 (142); Uhle, NVwZ 2018, 583 (588 f.). KJ 2001, 14 (18); dies., ZParl 2001, 572 (580). Vgl. auch Alter, JZ 2015, 297 (299 f.), der betont, bei der Auslegung den Willen des Parlamentarischen Rates zu respektieren, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, die Eingriffsschwelle des Art. 21 Abs. 2 GG historisch aber gleichwohl in der Abwehr tatsächlich entstandener Gefahren sieht und dies mit dem Charakter des Art. 21 Abs. 2 GG als Gegenpol zum nach Beginn der NS-Herrschaft erlassenen Gesetz gegen die Neubildung von Parteien sieht. Besagtes Gesetz knüpfte aber an keine Eingriffsschwelle an, sondern verbot ausnahmslos alle Parteien außer der NSDAP. Zwischen dem Verbot aller Parteien und einem Verbot nur bei Vorliegen einer Gefahr sind aber noch Abstufungen möglich. 440  So ohne nähere Ausführungen auch Hillgruber, JA 2017, 398 (400). 441  BVerfGE 144, 20 (224, Rn. 584). 442  BVerfGE 5, 85 (142); 9, 162 (165); 107, 339 (386 f. – abw. M.); 144, 20 (224, Rn. 584). 438  Vgl.

439  Henkel/Lembcke,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle257

zeitig die Möglichkeit eingeräumt werden, gegen verfassungsfeindliche Parteien vorzugehen, bei denen nach ihrer bisher sichtbar gewordenen Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit dem Eintritt künftiger Gefahren für die Grundordnung gerechnet werden muss.443 In diesem Telos der Norm spiegelt sich der eben behandelte entstehungsgeschichtliche Hintergrund des Parteiverbots wieder, der durch die Erfahrungen mit dem Aufstieg demokratiefeindlicher Parteien in der Weimarer Republik und die daraus abzuleitende „pragmatische Einsicht“ geprägt ist, dass extremistische Parteien umso schwieriger zu bekämpfen sind, je mehr sie an Boden gewinnen.444 Der präventive Zweck einer Vorschrift alleine schließt indes eine (konkrete) Gefährdung für das jeweilige Schutzgut als Voraussetzung für ein Einschreiten nicht aus. Das bekannteste Beispiel dafür ist die polizeiund ordnungsrechtliche Generalklausel in den Polizeigesetzen, die auch präventiver Natur ist und zugleich eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung als Voraussetzung für ein polizeiliches Tätigwerden vorsieht. Auch im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 GG sprechen sich einige Stimmen dafür aus, gerade wegen des Präventionscharakters eine tatsäch­ liche Gefährlichkeit der von der Partei ausgehenden Bestrebungen zu verlangen.445 Dies lässt allerdings den eben erwähnten Zweck des Parteiverbots außer Acht, etwaigen künftigen Gefahren zu begegnen, noch bevor diese überhaupt entstanden sind. Das Parteiverbot soll das organisierte Zentrum verfassungsfeindlicher Aktivitäten treffen, von dem aus demokratiegefährdende Bestrebungen ausgehen und wachsen können.446 Die Prävention bei Art. 21 Abs. 2 GG setzt damit im Gegensatz zu anderen gefahrenabwehrrechtlichen Schutznormen früher an. Dies verdeutlicht, welche Bedeutung die Unversehrtheit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung für den Verfassungsgeber hatte. Dieser stark ausgeprägte präventive Charakter lässt keinen Raum für eine Auslegung, nach der ein Verbot erst zu einem Zeitpunkt zulässig sein soll, in dem die Durchsetzung der von der Partei verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele möglich erscheint. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass sich bei einer Partei, die sich in der Perspektive sieht, ihre extremistischen Ziele umzusetzen oder deren Anhänger das Potential haben, durch ihr Verhalten die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, ein Verbot schwieriger gestalten, wenn nicht sogar kaum mehr durchsetzen lassen 443  BVerfGE 5, 85 (142); 144, 20 (224, Rn. 584); zustimmend Uhle, NVwZ 2017, 583 (588). 444  BVerfGE 144, 20 (224, Rn. 583); Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 171 (Zitat). 445  Vgl. hierzu oben sub I. 2. b) cc). 446  Vgl. Preuß, in: Leggewie/Meier, Verbot der NPD oder mit Rechtsradikalen leben?, S. 104 (113 f.).

258

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

wird.447 Zum einen wächst mit erhöhtem Zulauf und der damit verbundenen größeren Bedeutung der Partei innerhalb des Parteienspektrums die gesellschaftliche Akzeptanz für die Ziele der Partei. Daneben ist auch zu berücksichtigen, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei durch das BVerfG nicht „von heute auf morgen“ erfolgen wird. Selbst bei einem bereits vorbereiteten Antrag eines oder mehrerer der antragsberechtigten Organe wird zwischen dem Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung, zu dem die Potentialität bereits vorliegt, und der Entscheidung des Gerichts unter Umständen eine erhebliche Zeitspanne dazwischenliegen, in der sich die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse noch weiter zugunsten der verfassungsfeindlichen Partei entwickeln können.448 Eine Hinauszögerung des Antrags auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit bis zum Eintritt der Potentialität – die Schwierigkeiten hinsichtlich der Bestimmung des Zeitpunktes, wann diese überhaupt angenommen werden kann, sind bereits illustriert worden – schmälert damit die Effektivität des Parteiverbotsverfahrens als Instrument zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, dessen Vorbereitung und Einleitung aufgrund der damit stets verbundenen politischen Brisanz ohnehin größter Sorgfalt und Abwägung bedarf. Die Problematik, die sich bei konsequenter Anwendung des Potentialitätskriteriums mit Blick auf den Präventionszweck des Parteiverbots ergibt, stellt Uhle anhand einer 447  Vgl. Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 110 („realpolitisch kein gangbarer Weg“); Hillgruber, JA 2017, 398 (400); Kluth, ZParl 2017, 676 (686); Linke, DÖV 2017, 483 (490); Uhle, NVwZ 2017, 583 (588). Vgl. auch Lenz/Hansel, BVerfGG, § 43 Rn. 8 mit dem Hinweis, dass unter Zugrundelegung des Potentialitätskriteriums ein Verbot der NSDAP bis zu den Wahlen des Jahres 1932 nicht möglich gewesen wäre. Allerdings waren die NSDAP und ihre Mitglieder bereits davor militant aufgetreten (und die NSDAP deshalb auch mehrmals zeitweise verboten worden), was im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung sicherlich zu berücksichtigen gewesen wäre. 448  Linke, DÖV 2017, 483 (490) weist darauf hin, dass es letztlich vom Zufall abhängt, in welchem Zustand gesellschaftlicher Akzeptanz sich die Partei zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG befindet. Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (396) sieht in dem Argument der langen Verfahrensdauer dagegen ein „grundlegendes Missverständnis über die Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts wie auch über die Übertragbarkeit der Verfahrensdauer des zweiten NPD-Verbotsverfahrens auf zukünftige Verfahren“. Dazu ist anzumerken, dass Kliegel während der Zeit des NPD-Verbotsverfahrens wissenschaftlicher Mitarbeiter am BVerfG und federführender Mitarbeiter des Bericht­ erstatters Peter Müller im NPD-Verbotsverfahren war und sich sicherlich mit Recht vor die umfassende Tatsachenermittlung, die der Senat im NPD-Verbotsverfahren zu bewältigen hatte, stellt. Auch bei einer kürzeren Verfahrensdauer von z. B. zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der Potentialität wäre aber das Risiko eines weiteren Erstarkens der Partei nicht von der Hand zu weisen, so dass bereits vor dem Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG eine reale Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung gegeben sein kann.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle259

Kontrollüberlegung überzeugend heraus: Bei mehreren verfassungsfeindlichen Parteien nebeneinander kann es bei isolierter Betrachtung jeder dieser Parteien an der notwendigen Potentialität fehlen, so dass entsprechende Verbotsanträge nicht erfolgreich wären. Alle verfassungsfeindlichen Parteien zusammengenommen können aber eine ernsthafte Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung bedeuten.449 Diese Überlegung soll anhand eines fiktiven Beispiels noch anschaulicher gemacht werden: In einem Parlament (Bundestag oder ein Landtag) sind insgesamt drei Fraktionen aus dem links- und/oder rechtsextremistischen Spektrum vertreten, jede für sich mit einem Stimmenanteil von 10 %. Bei einer einzigen Partei mit 10 % der Wählerstimmen ließe sich unter Umständen noch anführen, dass von dieser keine ernsthafte Bedrohung für die Grundordnung ausgeht, wenn sie sich einem starken demokratischen Lager gegenübersieht. Die vom BVerfG geforderte Potentialität wäre demnach noch zu verneinen. Ein im Parlament vertretener Stimmenanteil von 30 %, der auf mehrere verfassungsfeindliche Parteien entfällt, dürfte dagegen bereits höchst bedenklich sein. Den antidemokratischen Kräften würde dies bei ihrem Zusammenwirken parlamentarische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, mit welchen sie die staatlichen Institutionen zu schwächen versuchen könnten (etwa durch Gesetzesinitiativen, die Arbeit in Ausschüssen, missbräuchliche Beantragung von Untersuchungsausschüssen). Nach Ansicht von Kliegel taugt dieses Beispiel von mehreren neben­ einander stehenden verfassungsfeindlichen Parteien nicht als Argument für die fehlende Vereinbarkeit der Potentialität mit dem Präventionszweck des Art. 21 Abs. 2 GG, weil die Konstellation, in der sich einer Partei erst im Schulterschluss mit anderen Parteien die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Ziele eröffnet, gerade von der Prognose der Potentialität erfasst würde.450 In einem solchen Fall müsste das BVerfG jedoch im Falle eines Verbotsantrags gegen eine dieser Parteien im Rahmen der Potentialität unter den „sonstigen Umständen“, die es für die Feststellung der Potentialität berücksichtigt451, die Wirkkraft der Partei auch im Lichte der Tatsache bewerten, dass daneben noch andere Parteien mit vergleichbarer antidemokratischer Zielsetzung bestehen und eine Kumulation der Potentiale dieser Parteien insgesamt eine Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung möglich erscheinen lassen. Das BVerfG nennt beispielhaft zwar etwa auch mögliche Bündnisse oder Unterstützerstrukturen einer Partei, die bei der Prüfung der Potentialität zu berücksichtigen sind.452 Das kann aber nicht auch die Einbeziehung anderer, eigenständig für ihre Ziele streitender 449  Uhle,

NVwZ 2017, 583 (588). in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (403, Fn. 133). 451  BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 587). 452  BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 587). 450  Kliegel,

260

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Parteien in die Gesamtbetrachtung bedeuten, mögen diese auch eine ähnliche Programmatik verfolgen. In dem genannten Beispiel liegt ein Fall von kumulativer Kausalität vor, bei dem mehrere voneinander unabhängige Parteien den Erfolg einer Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zwar nicht jeweils aus eigener Kraft erreichen können, wohl aber durch ihr Zusammenwirken eine entsprechende Aussicht darauf besteht. Gegenstand der Betrachtung kann im Verbotsverfahren aber nur die jeweilige Partei sein, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt werden soll. Dies wird auch vor dem Hintergrund der Konsequenzen deutlich, die eine Berücksichtigung der kumulativen Kausalität nach sich ziehen würde. Eine Miteinbeziehung der Wirkkraft auch anderer Parteien für die Feststellung der Potentialität hätte unter Umständen zur Folge, dass die erste Partei, gegen die ein Verbotsverfahren eingeleitet wird, noch aufgrund vorliegender Potentialität ausgeschaltet werden kann, während bei den verbleibenden Parteien im extremistischen Spektrum die Potentialität aufgrund des Wegfalls der einen Partei dann nicht mehr gegeben ist. Das Verbotsverfahren würde bei mehreren verfassungsfeindlichen Parteien mit – isoliert betrachtet – der gleichen Wirkkraft damit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Letztlich liefe es in dem Beispiel also auf eine Art „Wahlrecht“ der Antragsteller hi­ naus, gegen welche der drei Parteien oder ob gegen gleich alle ein Verbotsverfahren eingeleitet wird. Rückschlüsse auf die Potentialität dürfen daher nur aus dem Agieren der jeweils inkriminierten Partei und der ihr zurechenbaren Unterstützerstrukturen gezogen werden, was in der beispielhaft aufgezeigten Konstellation eben doch zu einer Beeinträchtigung der Effektivität des präventiven Verfassungsschutzes führt. Der Kritik an der fehlenden Vereinbarkeit des Potentialitätskriteriums mit dem Präventionszweck wird von Kliegel außerdem entgegengehalten, dass die vom BVerfG selbst angeführte schlagwortartige Maxime „Wehret den Anfängen“453, die ein frühzeitiges Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Parteien gebietet, nicht bei Parteien greifen kann, die zu einem solchen „Anfang“ überhaupt nicht im Stande sind.454 Unklar ist aber, wie Kliegel den Anfangszeitpunkt einer Entwicklung, die auf eine tatsächliche Beeinträchtigung der Grundordnung hinauslaufen könnte, markiert.455 So ist etwa das Erzielen von beachtlichen Wahlergebnissen durch bis dato unbedeutende Parteien aus dem Stand heraus denkbar. Der „Anfang“ ist deshalb bereits dort gemacht, wo eine Partei beginnt, die freiheitliche demokratische Grund-

453  BVerfGE

144, 20 (224, Rn. 584). in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (395); ähnlich bereits Henkel/Lembcke, KJ 2001, 14 (18). 455  Vgl. bereits Maurer, AöR 96 (1971), 203 (230). 454  Kliegel,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle261

ordnung aktiv und planvoll zu bekämpfen, ungeachtet dessen, ob dies zu der jeweiligen Zeit erfolgversprechend ist oder nicht. Das Potentialitätskriterium ist im Hinblick auf den Präventivcharakter des Parteiverbotsverfahrens auch deshalb problematisch, weil es jeweils eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag durch das BVerfG darstellt. Die Wirkmacht einer Partei hängt nicht nur von der Partei zuzurechnenden Faktoren wie dem Mitgliederbestand, der finanziellen Lage oder ihrem politischen Auftreten ab, sondern auch von den zur jeweiligen Zeit vorherrschenden äußeren gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, die als „Nährboden“ für eine wachsende Zustimmung zu den Zielen der Partei dienen können. Das kann im Ergebnis dazu führen, dass eine verfassungsfeindliche Partei, die planvoll auf die Verwirklichung ihrer Ziele hinarbeitet, zunächst mangels Potentialität nicht verfassungswidrig ist, aber bei den nächsten auf die Entscheidung des BVerfG folgenden Wahlen so viel Zustimmung erhält, dass sie mit einem Schlag zur verfassungswidrigen Partei würde, obwohl sich bis dahin an der Zielsetzung und der Art des Auftretens nichts geändert hat. Der Einleitung eines erneuten Verbotsverfahrens mögen zwar die §§ 41, 47 BVerfGG nicht entgegenstehen456, doch ist zu befürchten, dass ein solcher Schritt zu einer Beschädigung des Instruments des Parteiverbotsverfahrens führen würde. Linke spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Schaden an der […] Volksherrschaft“, wenn der Staat durch sein zögerliches Verhalten erst eine Wahlentscheidung über die bereits zuvor als extremistisch eingestufte Partei ermöglicht, um hinterher postwendend aufgrund der erhaltenen Zustimmung durch die Bevölkerung, die der Partei die Poten­ tialität beschert hat, ein Parteiverbotsverfahren einzuleiten.457 Auch dies spricht dafür, unter teleologischen Gesichtspunkten ein Einschreiten auch dann schon zu ermöglichen, wenn noch keine konkreten Anhaltspunkte für eine Möglichkeit der Umsetzung der von der Partei verfolgten Ziele bestehen. In keinem Fall darf das neue Erfordernis der Potentialität damit gerechtfertigt werden, dass es zur Disziplinierung der Antragsteller durch Vermeidung „symbolischer“ oder „aktionistischer“ Verbotsanträge gegen unbedeutende Parteien dient.458 Das politische Ermessen der Antragsteller bei der Frage der Einleitung eines Verbotsverfahrens hat bislang – bis auf FAP und NL, denen es allerdings schon an der Parteiqualität gefehlt hat459 – Anträge gegen völlig be-

456  Hierzu oben Kapitel 2 sub E. VII.; auf die Möglichkeit der Stellung eines erneuten Verbotsantrags nach Erreichen der Potentialität weist auch Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (404) hin. 457  Linke, DÖV 2017, 483 (490). 458  So aber Krüper, ZJS 2017, 365 (369). 459  Hierzu oben Kapitel 2 sub G. III.

262

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

deutungslose Parteien verhindert.460 Es sollte der Einschätzungsprärogative der antragstellenden Bundesorgane überlassen bleiben, welche Partei sie als Bedrohung für die demokratischen Strukturen ansehen und gegen die sie ein Einschreiten als notwendig erachten. Die Frage der Gefährlichkeit einer Partei ist deshalb nicht nur eine ausschließlich juristische, sondern auch eine solche der politischen Bewertung. (4) Systematik Im Rahmen der systematischen Auslegung ist zunächst die Binnensystematik des Art. 21 Abs. 2 GG in den Blick zu nehmen und anschließend ein Vergleich mit anderen verfassungsschützenden Normen innerhalb des Grundgesetzes anzustellen. Schließlich ist auch zu untersuchen, ob sich aus dem als Reaktion des verfassungsändernden Gesetzgebers auf das NPD-Urteil des BVerfG neu eingefügten Tatbestand des Art. 21 Abs. 3 GG interpretatorische Rückschlüsse für die Bestimmung der Eingriffsschwelle bei Parteiverboten ziehen lassen. Auch die völkerrechtsfreundliche bzw. konventionskonforme Auslegung stellt einen Fall der systematischen Auslegung dar, wird aber regelmäßig als besondere Auslegungsmethode angeführt und soll auch hier separat behandelt werden.461 Hinsichtlich des Schutzguts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung setzt Art. 21 Abs. 2 GG ein „Darauf Ausgehen“ der Partei voraus, diese zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Die zweite Tatbestandsvariante des „Gefährdens“ bezieht sich dagegen ausschließlich auf das Schutzgut des Bestands der Bundesrepublik Deutschland. Eine Gefahrenprognose ist deshalb nur für letztgenanntes Schutzgut, nicht aber für die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erforderlich.462 Auch das BVerfG greift dieses Argument im NPD-Urteil im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des Erfordernisses einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung auf.463 Diese Feststellung kann aber 460  Die NPD mag zwar in beiden Verbotsverfahren gemessen an ihren Wahlergebnissen nahezu bedeutungslos gewesen sein (wobei sie zur Zeit der Stellung des zweiten Verbotsantrags in zwei Landtagen vertreten war), nicht aber in der öffentlichen Wahrnehmung, wie der „Dauerbrenner“ der NPD-Verbotsdiskussion zeigt. 461  Vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 4 Rn. 101. Zur konventionsrecht­ lichen Untersuchung unten sub b). 462  Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 24; Uhle, NVwZ 2017, 583 (589). Vgl. auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 532 (Januar 2018) und Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 21 Rn. 22, die sogar davon ausgehen, dass es bei der Alternative der Gefährdung nicht darauf ankommt, ob die Partei ihr angestrebtes Ziel jemals erreichen kann. 463  BVerfGE 144, 20 (223, Rn. 582).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle263

genauso als systematisches Gegenargument für die Annahme eines aus dem Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ abgeleiteten Kriteriums der Potentialität herangezogen werden. Das Vorliegen einer Gefährdung ist stets mit einer Prognose über die Erfolgsaussichten der verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Partei verbunden. Da eine Gefährdung der Schutzgutalternative der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Gegensatz zum Bestand der Bundesrepublik Deutschland aber tatbestandlich gerade nicht vorausgesetzt wird, spricht dies dafür, es dementsprechend auch nicht auf eine Prognose der Wirkungsmacht des Handelns der Partei ankommen zu lassen. Dieses Ergebnis wird auch durch eine Gesamtschau aller verfassungsschützenden Normen des Grundgesetzes bestätigt, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung als Schutzgut ausweisen. Neben Art. 21 Abs. 2 GG (und nun auch Art. 21 Abs. 3 GG) sind dies noch die Art. 11 Abs. 2 GG, Art. 18, Art. 87a Abs. 4 Satz 1 und Art. 91 GG. Im Unterschied zu Art. 21 Abs. 2 GG setzen die Art. 11 Abs. 2, 87a Abs. 4 Satz 1 und 91 GG für freiheitseinschränkende Maßnahmen ausdrücklich eine „drohende Gefahr“ für die freiheitliche demokratische Grundordnung voraus. Wie schon zuvor aus der Binnensystematik von Art. 21 Abs. 2 GG zieht das BVerfG auch hieraus richtigerweise den Schluss, dass es beim Parteiverbot gerade nicht auf die Gefährlichkeit der von der Partei ausgehenden Bestrebungen ankommt und lehnt das Erfordernis einer konkreten Gefahr ab.464 Diese systematische Betrachtung spricht auch gegen die unterhalb der Schwelle der konkreten Gefahr rangierenden Potentialität als Eingriffsvoraussetzung. Anders als in anderen Bestimmungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat der Verfassungsgeber in Art. 21 Abs. 2 GG auf jegliches Prog­ noseelement verzichtet. Neben den eben genannten Bestimmungen des Grundgesetzes zeigt auch der Vergleich mit der in Art. 18 GG vorgesehenen Grundrechtsverwirkung, dass eine Miteinbeziehung der Erfolgsaussichten für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei nicht angezeigt ist. Auch für den Ausspruch der Grundrechtsverwirkung gem. Art. 18 GG hat das BVerfG vor dem Hintergrund der im Vergleich zu Organisationen typischerweise reduzierten Möglichkeiten und zur Verfügung stehenden Mitteln des Einzelnen im Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eine Gefährlichkeit des Antragsgegners für die Grundordnung gefordert.465 Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG und auch Art. 9 Abs. 2 GG schützen als Normen innerhalb des Abwehrverbundes der streitbaren Demokratie die Verfassung dagegen vor der Verfolgung von verfassungsfeindlichen Zielen in verbandsmäßiger Form, sei es durch politische Parteien oder sons-

464  BVerfGE 465  BVerfGE

144, 20 (223 f., Rn. 582). 25, 44 (60); 38, 23 (24 f.).

264

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

tige Vereinigungen.466 Allein schon kraft ihrer Struktur und Breitenwirkung geht von Organisationen eine latente, abstrakte Gefahr aus, ohne dass es auf Tatbestandsebene einer Anreicherung durch weitere Kriterien wie einer konkreten Gefahr oder die Berücksichtigung der aktuellen Wirkmächtigkeit der Partei bedarf.467 Mit Art. 21 Abs. 3 GG hat der verfassungsändernde Gesetzgeber direkt auf das vom BVerfG neu eingeführte Potentialitätskriterium reagiert und einen neuen Finanzierungsausschlusstatbestand unterhalb der Ebene des Parteiverbots geschaffen. Die materiellen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Partei von staatlicher Finanzierung entsprechen dabei denen des Partei­ verbots, mit einer entscheidenden Änderung: Die in Art. 21 Abs. 2 GG enthaltene Wendung „darauf ausgehen“ wurde durch „darauf ausgerichtet“ ersetzt. Als nachfolgender Absatz mit unmittelbarem systematischen Bezug zu Art. 21 Abs. 2 GG wäre Art. 21 Abs. 3 GG im Rahmen einer methodisch korrekten systematischen Auslegung vor den anderen Vorschriften des Grundgesetzes zu berücksichtigen gewesen, allerdings gab es diesen Tatbestand zum Zeitpunkt der Verkündung des NPD-Urteils noch nicht, so dass der Senat keine sich daraus eventuell ergebenden interpretatorischen Rückschlüsse auf die Eingriffsschwelle bei Parteiverboten ziehen konnte. Das Merkmal „ausgerichtet sein“ in Art. 21 Abs. 3 GG ist nach einhelliger Auffassung wie das „Ausgehen“ in Art. 21 Abs. 2 GG ohne das Erfordernis der Potentialität zu verstehen.468 Dafür sprechen eindeutig die Systematik und die Entstehungsgeschichte des Art. 21 Abs. 3 GG. Systematisch stellt der Ausschluss von der staatlichen Finanzierung im Vergleich zum Parteiverbot eine Maßnahme von geringerer Intensität dar. Während die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nach § 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG die Auflösung der Partei und das Verbot der Schaffung von Ersatzorganisationen zur Rechtsfolge hat, sind die Partei und etwaige Ersatzparteien als Folge eines erfolgreichen Antrags nach Art. 21 Abs. 3 GG gem. § 46a Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfGG für einen Zeitraum von zunächst sechs Jahren von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen, wobei dieser Zeitraum nach § 46a Abs. 2 BVerfGG auf Antrag verlängert werden kann. Die abgemilderten Rechtsfolgen für die Partei müssen sich konsequenterweise auch in weniger strengen 466  BVerfGE

25, 44 (56); 149, 160 (194, Rn. 104). Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 25. 468  Grzeszick/Rauber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art.  21 Rn. 168; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 21 Rn. 59; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 252b; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, § 46a Rn. 13; Shirvani, DÖV 2018, 921 (924 f.); Müller, DVBl. 2018, 1035 (1038); Drossel, GSZ 2018, 97 (98); Ipsen, JZ 2017, 933 (934); Kluth, ZParl 2017, 676 (689); Walter/ Herrmann, ZG 2017, 306 (309). 467  Vgl.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle265

Maßstäben auf Tatbestandsebene widerspiegeln.469 Da die Tatbestände von Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 21 Abs. 3 GG in ihren Voraussetzungen bis auf die Formulierungen des „Ausgehens“ und der „Ausrichtung“ identisch sind, kann der entscheidende Unterschied nur darin liegen, dass an ein „Ausrichten“ als Eingriffsschwelle geringere Anforderungen als an ein „Ausgehen“ – wohlgemerkt im Lichte der Interpretation des BVerfG im NPD-Urteil – gestellt werden. Dies belegt auch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm, die ausschließlich vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG vom 17. Januar 2017 zu sehen ist.470 Ausweislich der Gesetzesbegründung soll es für das Finanzierungsausschlussverfahren anders als im Parteiverbotsverfahren nicht darauf ankommen, dass konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die einen Erfolg des gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Handelns möglich erscheinen lassen. Danach ist eine Partei „darauf ausgerichtet“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, wenn dies ihrer politischen Zielsetzung entspricht, sie durch aktives Handeln und planvolles Vorgehen im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung darauf hinwirkt und dadurch die Schwelle zur Bekämpfung dieser Grundordnung überschreitet.471 Die Konsequenz aus dem Stufenverhältnis beider Verfahrensarten ist, dass die Tatbestandsmerkmale des „Ausgehens“ und der „Ausrichtung“ nunmehr in einer Wechselwirkung zueinander stehen und nur im Lichte des NPD-Urteils und dem darin entwickelten Kriterium der Potentialität interpretiert werden können. Im allgemeinen Sprachgebrauch dürfte indes nur schwerlich ein inhaltlicher Unterschied auszumachen sein, ob eine Partei nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger „darauf ausgeht“ oder „darauf ausgerichtet“ ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen.472 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich jedoch mit der Einfügung des Art. 21 Abs. 3 GG und dem darin enthaltenen Tatbestandsmerkmal der „Ausrichtung“ die Interpretation des „Darauf Ausgehens“ im NPD-Urteil durch das BVerfG zu eigen gemacht und für die Zukunft normativ zementiert.473 Alternativ wäre es dem verfassungsändernden Gesetzgeber auch möglich gewesen, das „Ausgehen“ in Art. 21 Abs. 2 GG durch die „Ausrichtung“ zu ersetzen oder den Begriff des „Ausgehens“ näher zu definieren, um einer Erhöhung der Eingriffsschwelle entgegenzu469  Vgl.

Finanzierungsausschlussantrag Bundesrat, S. 61. BT-Drs. 18/12357, S. 1. 471  BT-Drs. 18/12357, S. 6. 472  Ipsen, JZ 2017, 933 (934); Lechner/Zuck, BVerfGG, § 46a Rn. 7. 473  Vgl. Müller, DVBl. 2018, 1035 (1037). Lenz/Hansel, BVerfGG, § 43 Rn. 11 bedauern, dass dadurch dem BVerfG die Möglichkeit einer „Korrektur“ der nicht überzeugenden Potentialitäts-Rechtsprechung genommen wird. 470  Vgl.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

steuern. Trotz einer Überdehnung des Wortsinns, der entgegenstehenden Regelungsabsicht des historischen Verfassungsgebers und teleologischen Aspekten, die gegen das bundesverfassungsgerichtliche Verständnis des „Ausgehens“ sprechen, wird künftig am Primat der systematischen Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG im Verhältnis zu Art. 21 Abs. 3 GG und der sich daraus ergebenden Bestätigung der Potentialität als erhöhte Eingriffsschwelle des Parteiverbots im Vergleich zum Finanzierungsausschluss für die Praxis kein Weg vorbeiführen. cc) Verfassungswandel Höhner/Jürgensen deuten in ihrem Beitrag zum NPD-Urteil an, dass die Anhebung der Gefahrenschwelle durch das BVerfG auch kraft eines Verfassungswandels gerechtfertigt werden könnte.474 Die Existenz einer Figur des Verfassungswandels sowie die genaue Abgrenzung dessen, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, sind im Schrifttum im Einzelnen umstritten.475 Weitgehende Einigkeit besteht insoweit, dass unter Verfassungswandel allgemein die auf neuer oder andersartiger Interpretation beruhende Änderung des ursprünglichen Sinns einer Verfassungsnorm ohne gleichzeitige Änderung ihres Verfassungstextes verstanden wird.476 Der Verfassungswandel stellt damit sowohl eine besondere Ausprägung der Verfassungsinterpretation als auch ein Problem des Spannungsverhältnisses zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit dar, indem er das Ergebnis sich vollziehender normexogener sozialer oder politischer Veränderungen darstellt.477 Ob der Verfassungswandel seine Grenzen im eindeutigen Wortlaut einer Verfassungsnorm und dem Willen des Verfassungsgebers findet, ist ebenfalls streitig478, braucht an dieser Stelle aber nicht weiter thematisiert zu werden. Im Falle des Merkmals der Potentialität ist nämlich nicht erkennbar, wie dieses kraft eines Verfassungswandels in den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG hineingelesen werden kann. Der Sinn und Zweck des Parteiverbots, wie das BVerfG erneut selbst betont, liegt nach wie vor in der 474  Höhner/Jürgensen,

MIP 2017, 103 (111). Stern, StaatsR I, S. 160 und Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 79 Rn. 38, jeweils mit umfangreichen Nachweisen. 476  Stern, StaatsR I, S. 160 f.; Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 79 Rn. 38; Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 (451 f.); ders., JuS 2019, 417 (418); ähnlich Badura, in: Isensee/Kichhof, HStR XII (2014), § 270 Rn. 15. Hierzu ausführlich Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S.  79 ff. 477  Stern, StaatsR I, S. 161; Volkmann, JZ 2018, 265 (268 f.); Voßkuhle, JuS 2019, 417 (418 ff.) mit Beispielen aus der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG. 478  Kritisch Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 79 Rn. 39; Voßkuhle, JuS 2019, 417 (422 f.), jeweils m. w. N. 475  Vgl.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle267

Verhinderung des Entstehens künftig möglicherweise entstehender Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Das BVerfG bewegt sich bei seiner Bestimmung des Telos der Norm damit zu Recht weiterhin auf Linie des KPD-Urteils. Auch wenn sich die derzeitigen sozio-politischen Rahmenbedingungen trotz der in den letzten Jahren zunehmenden Akzeptanz populistischer Strömungen immer noch von denen zum Zeitpunkt des SRPund KPD-Verbots unterscheiden, leuchtet nicht ein, warum das Verbot einer verfassungsfeindlichen Partei im Gegensatz zur bisherigen Auslegung heute erst dann ermöglicht werden soll, wenn diese bereits eine derartige Wirkkraft erreicht hat, dass eine Verwirklichung ihrer Ziele als realistisch eingeschätzt werden muss. Einem Verweis auf die mittlerweile erlangte Stärke der Demokratie im Umgang mit extremistischen Tendenzen kann gleichermaßen entgegengehalten werden, dass die im Parteiverbotsverfahren antragsberechtigten Organe inzwischen ebenso Sinnbild dieser stabilen Demokratie geworden sind und die Gefahr übereilter oder aktionistischer Verbotsanträge als gering eingeschätzt werden dürfte. Die Lehre vom Verfassungswandel, sofern man eine anerkennen will, ist deshalb ebenfalls nicht geeignet, die Schöpfung der Potentialität durch das BVerfG zu begründen.479 dd) Zwischenergebnis Eine Interpretation des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ im Sinne einer über das planvolle Vorgehen der Partei hinausgehenden Potentialität der Zielerreichung ist mit dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Telos sowie – zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG – der Systematik des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. nicht zu begründen gewesen. Während die konkrete Gefahr als Eingriffsvoraussetzung vom BVerfG noch unter Rückgriff auf die juristischen Auslegungsmethoden im Ergebnis überzeugenderweise zurückgewiesen wurde, fehlt ein solcher methodischer Ansatz bei der Schöpfung des Potentialitätskriteriums gänzlich. Auch kann die Anhebung der Eingriffsschwelle nicht kraft Verfassungswandels angenommen werden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat durch die Einführung des Finanzierungsausschlussverfahrens in Art. 21 Abs. 3 GG und der dort enthaltenen Tatbestandsvoraussetzung „darauf ausgerichtet“ allerdings ausweislich der Gesetzesbegründung die neue Interpretation des „Ausgehens“ durch das 479  Auch Voßkuhle, JuS 2019, 417 (422), der zur Zeit des NPD-Urteils der Vorsitzende des Zweiten Senats war, thematisiert das NPD-Urteil zwar in seinem späteren Aufsatz zum Verfassungswandel, bezieht sich dabei aber nur auf die zum Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung fehlende Möglichkeit des BVerfG, den Ausschluss der NPD von der staatlichen Finanzierung anzuordnen. Die Lehre vom Verfassungswandel war bei der Einführung der Potentialitätshürde unter den Richtern des BVerfG damit offensichtlich kein Thema.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

BVerfG zum Anlass für die Schaffung einer abgestuften Eingriffsschwelle genommen, welche inhaltlich dem bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ vor dem NPD-Urteil entspricht. Durch das sich daraus ergebende neue systematische Verhältnis zwischen Parteiverbot und Finanzierungsausschluss hat der verfassungsändernde Gesetzgeber das Potentialitätskriterium trotz seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und fehlenden methodischen Herleitung somit als Voraussetzung für künftige Parteiverbote in Art. 21 Abs. 2 GG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal normativ verankert. b) Konventionskonforme Auslegung Nachdem festgestellt wurde, dass die Einfügung des Potentialitätskrite­ riums im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ durch das BVerfG zumindest im Rahmen einer grundgesetzautonomen Betrachtung keine Stütze findet, ist im Folgenden zu untersuchen, ob sich ein solches Erfordernis möglicherweise aus der Rechtsprechung des EGMR zur Vereinbarkeit nationaler Parteiverbote mit der EMRK ergibt und vom BVerfG im Wege der konventionskonformen Auslegung in den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG zu integrieren war. aa) Anforderungen des EGMR an die Eingriffsschwelle In der Literatur ist umstritten, ob die vorherige aus der bundesverfassungsgerichtlichen Interpretation des Merkmals „darauf ausgehen“ im KPD-Urteil folgende Eingriffsschwelle für Parteiverbote mit der für die konventionsrechtliche Rechtfertigung entscheidenden Anforderung der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ in Einklang zu bringen war. Die unterschiedliche Bewertung dieser Frage ist die konsequente Folge einer uneinheitlichen Rezeption der vom EGMR in seiner Parteiverbotsjudikatur konkretisierten Eingriffsvoraussetzungen für ein Parteiverbot. Der EGMR nimmt nach seiner bisherigen Rechtsprechung das Vorliegen eines dringenden sozialen Bedürfnisses für ein Parteiverbot480 in zwei Fällen an: Wenn die von der Partei verfolgten Ziele nicht mit grundlegenden demokratischen Prinzipien vereinbar sind oder wenn die von der Partei eingesetzten Mittel nicht rechtmäßig und demokratisch sind, insbesondere der Aufruf der Partei zur Gewaltanwendung oder die Billigung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.481 Im Fall des Verbots der türkischen 480  Hierzu

oben Kapitel 2 sub F. IV. 1. Urt. v. 09.04.2002, Nr. 22723/93 u. a., Yazar u. a. ./. Türkei, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. 481  EGMR,



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle269

Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) hat der EGMR dessen Konventionskonformität sowohl mit der undemokratischen Zielsetzung der Partei als auch mit der Billigung von Gewalt als politischem Mittel durch die Parteiführung begründet.482 In Teilen des Schrifttums wurde daraus abgeleitet, dass ein Parteiverbot nur bei kumuliertem Vorliegen von undemokratischen Zielen und undemokratischen Mitteln vor dem EGMR Bestand haben kann.483 Diese Ansicht kann jedoch bereits deshalb nicht überzeugen, weil der EGMR selbst – auch in besagtem Urteil zum Verbot der türkischen Wohlfahrtspartei – ausdrücklich betont hat, dass der Einsatz undemokratischer Mittel und die Verfolgung undemokratischer Ziele durch die Partei schon jeweils für sich genommen nicht vom Schutz der Konvention erfasst sind.484 Es reicht demnach aus, wenn bereits eines dieser beiden Kriterien einschlägig ist, so dass insbesondere auch ein Einschreiten aufgrund der von der Partei verfolgten politischen Ziele zulässig sein kann.485 Für die Frage der Konvergenz der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 21 Abs. 2 GG mit den vom EGMR gesetzten konventionsrechtlichen Maßstäben ist entscheidend, ob es nach der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs neben dem Abstellen auf undemokratische Mittel oder undemokratische Ziele zusätzlich noch einer konkreten Gefahr für die demokratische Ordnung oder zumindest einer realen Chance zur Erreichung der von der Partei verfolgten Ziele bedarf. Im Schrifttum finden sich dazu zwei fast schon diametrale Ansichten. Ausgangspunkt der Diskussion ist wiederum die Entscheidung des EGMR zum Verbot der türkischen Wohlfahrtspartei, in der es heißt: „Man kann von einem Staat nicht verlangen, erst dann gegen eine politische Partei vorzugehen, wenn sie an die Macht gekommen ist und konkrete Maßnahmen ergreift, um eine mit der Konvention und der Demokratie unvereinbare Politik in die

Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 98); EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 79. 482  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1494, Rn. 116 ff.). 483  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 317 f.; Emek/Meier, RuP 2013, 74 (76); anders nun aber Emek, RuP 2017, 174 (176). 484  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 98); EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Nr. 22723/93 u. a., Yazar u. a. ./. Türkei, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/ 04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 79. 485  BVerfGE 144, 20 (235, Rn. 612); Alter, Eingriffsschwelle, S. 166; Bröhmer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Bd. I, Kap. 19 Rn. 105; Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 11 Rn. 48 f.; Dollinger, in: Burkiczak/ Dolliger/Schorkopf, § 46 Rn. 35; Eiffler, KJ 2003, 218 (221); Koch, DVBl. 2002, 1388 (1393).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Praxis umzusetzen, obwohl die Gefahr dieser Politik für die Demokratie hinreichend nachgewiesen und unmittelbar ist.“486

Ein Teil des Schrifttums leitet aus dem Kriterium der hinreichend nachgewiesenen und unmittelbaren Gefahr (sufficiently established and imminent danger for democracy) die Notwendigkeit einer – nach deutscher Termino­ logie – konkreten Gefahr für die demokratische Ordnung als Voraussetzung einer Konventionskonformität nationaler Parteiverbote ab.487 Dafür spreche, dass der EGMR im Refah-Urteil auf die Größe und Bedeutung der Partei und die sich daraus ergebende realistische Gefahr der tatsächlichen Umsetzung ihrer politischen Ziele abstelle.488 Die Maßstäbe des BVerfG aus dem SRPund KPD-Urteil, wonach es nicht auf die Erfolgsaussichten der verfassungsfeindlichen Bestrebungen ankommen soll, bleiben somit hinter dem Erfordernis der unmittelbaren Gefahr zurück.489 Nach Auffassung von Emek ist auch die vom BVerfG im NPD-Urteil nunmehr geforderte Potentialität weiterhin Ausdruck eines zu stark betonten Präventionscharakters von Art. 21 Abs. 2 GG und könne den Prüfungsmaßstab des BVerfG nicht mit den Vorgaben des Gerichtshofs in Einklang bringen.490 Das BVerfG und der andere Teil des Schrifttums entnehmen dem Verweis des EGMR auf das Erfordernis einer hinreichend nachgewiesenen und unmittelbaren Gefahr dagegen nicht, dass damit bereits in jedem Fall eine konkrete Gefahr für die demokratische Ordnung eingetreten sein muss.491 486  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 102); bestätigt durch EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 81. 487  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 227; dies., RuP 2017, 174 (179); dies./ Meier, RuP 2013, 74 (77); Morlok, Jura 2013, 317 (323); Schwander, ZJS 2017, 285 (286); Känner, KritV 2019, 57 (66); wohl auch Alter, Eingriffsschwelle, S. 168 und van Ooyen, RuP 2017, 468 (469). Vgl. auch Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (108), die darin zwar keine konkrete Gefahr sehen, im Ergebnis die Anforderungen an die Gefahrenschwelle aber „annähernd so hoch“ sehen. 488  Alter, Eingriffsschwelle, S.  168; Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 226; dies./Meier, RuP 2013, 74 (77). 489  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 240. 490  So Emek, RuP 2017, 174 (175, 178 f.). Unklar ist jedoch, wie Emek letztlich zu dieser Einschätzung gelangt, da sie selbst im Potentialitätsmerkmal des BVerfG die (versteckte) Prüfung einer konkreten Gefahr sieht und die vom BVerfG zur Ermittlung der Potentialität herangezogenen Kriterien wie die Größe und Wirkkraft der Partei doch gerade den von ihr betonten Parametern entsprechen, auf die der EGMR bei der Prognose der reellen Gefahr einer Umsetzung der demokratiefeindlichen Ziele durch die Partei abstellt. 491  BVerfGE 144, 20 (238, Rn. 619  f.); Theuerkauf, Parteiverbote und EMRK, S. 259; Uhle, NVwZ 2017, 583 (589); Shirvani, DÖV 2017, 477 (482); Kumpf, DVBl. 2012, 1344 (1345); Koch, DVBl. 2002, 1388 (1393); Voscherau, Parteiverbote in der BRD und im Königreich Spanien, S. 185 f.; Sarx, in: Esser, Bedeutung der



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle271

Dagegen spreche der vom EGMR an derselben Stelle der Refah-Entscheidung betonte Präventionscharakter492 des Parteiverbots sowie die Tatsache, dass der Gerichtshof den Konventionsstaaten bei der Frage der Bestimmung des Zeitpunktes für ein Verbot im Vorfeld von konkreten Handlungen durch die Partei, die auf eine Umsetzung ihrer Ziele in die politische Praxis gerichtet sind, einen – wenn auch wohl angesichts der strikten Kontrolle durch den EGMR geringen – Beurteilungsspielraum einräumt.493 Weiterhin wird angeführt, die durch den Gerichtshof verwendete Formulierung der unmittelbaren Gefahr sei missverständlich. Die Regelung des Art. 17 EMRK, wonach die Auslegung der Konvention nicht dazu führen darf, als begründe sie das Recht, die in ihr enthaltenen Rechte und Freiheiten abzuschaffen, zeige gerade, dass gegen Parteien schon wegen ihrer inhaltlichen Ausrichtung ohne eine darüber hinausgehende konkrete Gefahr für die demokratische Ordnung eingeschritten werden dürfe.494 Das BVerfG führt als Beleg gegen die Annahme einer konkreten Gefahr als unabdingbare Eingriffsvoraussetzung auch weitere Entscheidungen des EGMR zu nationalen Parteiverboten an. So habe im Fall der baskischen Batasuna-Partei der EGMR die Billigung terroristischer Akte als ausreichend für ein Parteiverbot angesehen, ohne dabei auf die Größe oder Bedeutung der Partei oder auf die von ihr ausgehende Gefahr für die demokratische Ordnung abzustellen. Bei der Feststellung der Konven­ tionswidrigkeit anderer Parteiverbote habe der Gerichtshof ergänzend darauf hingewiesen, dass die jeweils betroffene Partei keine reale Chance zur Herbeiführung politischer Änderungen gehabt habe.495 Der EGMR hat das Kriterium der hinreichend nachgewiesenen und unmittelbaren Gefahr bislang in keiner seiner Entscheidungen näher präzisiert. Insbesondere dem Refah-Urteil kann nicht verallgemeinerungsfähig entnomEMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 177 (188 f.); Pabel, ZaöRV 2003, 921 (932). 492  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 102 f.); vgl. auch EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 81 f. 493  Vgl. BVerfGE 144, 20 (239, Rn. 620); Pabel, ZaöRV 2003, 921 (932); Kumpf, DVBl. 2012, 1344 (1345); Wolter, EuGRZ 2016, 92 (99). 494  Koch, DVBl. 2002, 1388 (1393); Sarx, in: Esser, Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 177 (189); wohl auch Lenz/Hansel, BVerfGG, § 43 Rn. 10. Teilweise wird in der Literatur – ohne überhaupt auf das Kriterium der unmittelbaren Gefahr einzugehen – auch ohne weiteres festgestellt, dass zwischen den Maßstäben des EGMR und der Eingriffsschwelle des BVerfG aus dem KPD-Urteil, wonach die Erfolgsaussichten ausdrücklich keine Rolle spielen sollten, kein Widerspruch zu befürchten sei, vgl. Kontopodi, Rechtsprechung des EGMR zum Verbot politischer Parteien, S. 112 f.; Schaefer, AöR 141 (2016), 594 (611 und 621 f.); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 38. 495  BVerfGE 144, 20 (238 f., Rn. 620).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

men werden, von welchem Zeitpunkt an nach Ansicht des Gerichtshofs eine solche unmittelbare Gefahr für die Demokratie droht.496 Im Fall des Verbots der türkischen Refah-Partei lag die unmittelbare Gefahr auf der Hand: Programmatisch wandte sich die Partei gegen das türkische Verfassungsprinzip des Laizismus und strebte eine Pluralität von rechtlichen Systemen nach Religionszugehörigkeit und die Einführung der Scharia an. Zudem hatten Führungspersönlichkeiten der Partei nicht ausgeschlossen, zur Durchsetzung dieser Ziele auch Gewalt anzuwenden. Zum Zeitpunkt ihres Verbots hatte die Refah-Partei bereits erheblichen Einfluss in der türkischen Politik. Sie war mit 22 % der Stimmen im türkischen Parlament vertreten und sogar an der Koalitionsregierung beteiligt. Bei den darauffolgenden Kommunalwahlen erreichte sie einen Stimmenanteil von 35 %. Nach Meinungsumfragen wurde ihr zur Zeit ihrer Auflösung auch eine echte Chance eingeräumt, ­alleine die nächste Regierung zu stellen und damit ihr Programm verwirk­ lichen zu können. Aufgrund dieses der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts sah sich der EGMR offenbar zu keinen weiteren Ausführungen hinsichtlich der Eingriffsschwelle gezwungen. In keinem Fall darf daraus der Schluss gezogen werden, dass eine unmittelbare Gefahr aus Sicht des EGMR erst dann vorliegt, wenn die Partei bereits an der Regierung beteiligt ist und die Durchsetzung der von ihr propagierten Ziele in greifbarer Nähe scheint. Ein Verbot zu einem derartigen Zeitpunkt dürfte in vielen Fällen – sofern es überhaupt noch in die Wege geleitet werden kann – bereits zu spät kommen und würde den Präventionscharakter des Parteiverbots in Verbindung mit der von der Partei ausgehenden strukturellen Organisationsgefahr außer Acht lassen.497 Dem Urteil könnte aber zumindest das Erfordernis der Möglichkeit einer Umsetzung der antidemokratischen Ziele der Partei als Voraussetzung für die Feststellung des Vorliegens eines dringenden sozialen Bedürfnisses durch den Gerichtshof entnommen werden.498 So fragt der EGMR im Rahmen der zusammenfassenden Darstellung seines nachfolgenden Prüfungsprogramms, „ob es Hinweise dafür gibt, dass die Gefahr eines Angriffs auf die Demokratie, falls nachgewiesen, auch tatsächlich unmittelbar bevorstand“499

und beginnt seine Prüfung mit dem Satz: 496  Theuerkauf,

Parteiverbote und EMRK, S. 258; Eiffler, KJ 2003, 218 (223 f.). Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (109). 498  So wohl von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 39 f. (Juli 2020), nach dem das Potentialitätskriterium erforderlich war, um nicht hinter den Maßstäben des EGMR zu bleiben. 499  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 104). 497  Vgl.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle273 „Der Gerichtshof prüft zunächst, ob die Refah zur Zeit ihrer Auflösung eine Gefahr für die demokratische Ordnung sein konnte.“500

Anschließend gelangt er zu folgender Feststellung: „Die Refah hatte […] zur Zeit ihrer Auflösung eine echte Chance, die politische Macht zu ergreifen […].“501

Zur Frage des Eingriffszeitpunktes durch ein Parteiverbot führt der EGMR aus: „[Man] kann den türkischen Gerichten nicht vorwerfen, dass sie nicht früher tätig geworden sind, mit dem Risiko, vorzeitig einzugreifen, bevor die Gefahr, um die es geht, sich konkretisiert hat und real geworden ist. Man kann ihnen auch nicht vorwerfen, nicht abgewartet zu haben, bis die Refah die Macht übernimmt und zu handeln beginnt […] mit dem Risiko, die politische Ordnung und den Frieden in der Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen.“502

Aus letzterer Passage in Verbindung mit den zuvor zitierten Ausführungen kann bei isolierter Betrachtung der Schluss gezogen werden, dass der EGMR den Konventionsstaaten einen Beurteilungsspielraum erst ab einem Zeitpunkt zugesteht, von dem an überhaupt eine realistische Aussicht auf eine praktische Umsetzung der Ziele der Partei besteht. Die Tatsache der unterschiedlichen Rezeption des Refah-Urteils ist auch auf darin vom EGMR ausgesendete widersprüchliche Signale mit Blick auf die für ein Parteiverbot erforderliche Bedrohungslage zurückzuführen. Neben den eben dargestellten Ausführungen finden sich im Urteil auch Aussagen des Gerichtshofs, die auf eine Entbehrlichkeit einer Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit eines nationalen Parteiverbots hindeuten. So will der EGMR einer politischen Partei, deren Führung zu Gewalt aufruft oder deren politische Ziele auf die Abschaffung sowie Missachtung demokratischer Rechte und Freiheiten gerichtet ist, die Berufung auf Art. 11 EMRK und damit den Schutz der Konvention versagen.503 Weiterhin stellt der Gerichtshof fest: „Sieht man in der Politik der Refah eine Gefahr für die von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten, so machten die tatsächlichen Aussichten dieser Par-

500  EGMR, Urt. tisi) u. a. ./. Türkei, 501  EGMR, Urt. tisi) u. a. ./. Türkei, 502  EGMR, Urt. tisi) u. a. ./. Türkei, 503  EGMR, Urt. tisi) u. a. ./. Türkei,

v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 107). v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 108). v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 110). v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 98 f.).

(Refah Par(Refah Par(Refah Par(Refah Par-

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

tei, ihr Programm bei Übernahme der Regierung umzusetzen, diese Gefahr noch greifbarer und unmittelbarer.“504

Die komparative Formulierung „noch greifbarer und unmittelbarer“ (more tangible and more immediate) lässt die Interpretation zu, dass der EGMR die greifbare und unmittelbare Bedrohung bereits in der von der Partei angestrebten Politik auch ohne Berücksichtigung ihrer Umsetzungschancen angelegt sieht. Die Formulierungen des Gerichtshofs sind deshalb entgegen der Ansicht von Emek, die daraus das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die demokratische Ordnung ableitet, gerade nicht „so eindeutig, dass es befremdet, wenn sie als ‚missverständlich‘ oder ‚nicht abschließend zu beurteilen‘ […] gewertet werden“.505 Für die nähere Bestimmung der konventionsrechtlichen Eingriffsschwelle sollte deshalb nicht ausschließlich auf die Refah-Entscheidung abgestellt, sondern eine Gesamtschau mit anderen Entscheidungen des EGMR vorgenommen werden. Soweit das BVerfG den Verbotsurteilen zu den baskischen Regionalparteien entnimmt, dass die Größe oder Bedeutung der Parteien und die von ihnen ausgehende Gefahr für die demokratische Ordnung kein Prüfungsmaßstab gewesen sei, kann dies als Argument gegen ein Gefahrenerfordernis jedoch nicht überzeugen.506 Die Batasuna-Partei hatte zwar selbst nie die realistische Möglichkeit, ihre politischen Ziele umzusetzen. Der Gerichtshof sah allerdings das Vorbringen der spanischen Instanzen als erwiesen an, wonach es sich bei der Batasuna um den politischen Arm der baskischen Terrororganisation ETA gehandelt hat, die über einen langen Zeitraum mittels Begehung terroristischer Gewaltakte die Sezession des Baskenlandes von Spanien anstrebte.507 Die ideologischen und personellen Verflechtungen der Parteien mit der ETA sowie die Gutheißung der von der ETA verübten Terrorakte wertete der EGMR als „ernsthafte Gefahr für die spanische Demokratie“.508 Der EGMR leitete die bestehende Gefahr für die Demokratie anders als bei dem Verbot der Refah-Partei demnach nicht aus der politi504  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 110) – Hervorhebung durch Verfasser. 505  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 229. 506  Vgl. Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (109). 507  EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn.  85 ff. 508  EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 89, 93; ähnlich EGMR, Urt. v. 15.01.2013, Nr. 40959/09, Eusko Abertzale Ekintza – Acción Nacionalista Vasca (EAE-ANV) ./. Spanien, Rn. 81.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle275

schen Stärke der betroffenen Parteien ab, sondern aus deren Zustimmung zu systematisch verübten, schwerwiegenden Gewalttaten als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Auch ist nicht klar, welche Bedeutung dem Hinweis des BVerfG im Rahmen seiner Argumentation gegen das Erfordernis einer konkreten Gefahr zukommen soll, der EGMR habe u. a. in den Fällen Yazar u. a. ./. Türkei509 sowie Vereinigte Makedonische Organisation Ilinden-Pirin u. a. ./. Bulgarien510 ergänzend zur Feststellung der Konventionswidrigkeit der Parteiverbote darauf hingewiesen, dass die jeweils betroffene Partei keine reale Chance zur Herbeiführung politischer Veränderungen gehabt habe. Diese Formulierung des EGMR beschreibt zwar richtigerweise keine konkrete Gefahr, sondern (lediglich) eine Potentialität der Zielerreichung.511 Fraglich ist aber, welche These das BVerfG mit dem Verweis auf besagte EGMR-Ausführungen eigentlich stützen will. Zum einen ließe sich daraus ablesen, der Gerichtshof habe den Aspekt der Potentialität nur ergänzend in seine Argumentation aufgenommen, aber noch nicht derart erhärtet, um zu einer notwendigen Bedingung für die Konventionskonformität eines Parteiverbots zu werden.512 Dies wirft jedoch die anschließende Frage auf, warum das BVerfG das Kriterium der Potentialität kurz darauf ohne genauere Begründung offenbar als erforderlich ansieht, um der Annahme eines dringenden sozialen Bedürfnisses für ein Parteiverbot nach der Rechtsprechung des EGMR Rechnung zu tragen.513 Andererseits liegt auch unter Einbeziehung des Kontextes, in den die entsprechenden Passagen des EGMR eingebettet sind, der Schluss nahe, der Gerichtshof habe die fehlende Chance zur Realisierung der politischen Ziele gerade als einen zusätzlichen Grund für die Konventionswidrigkeit des Parteiverbots heranziehen wollen.514 Dann wäre es aber konsequent gewesen, wenn das BVerfG bereits an dieser Stelle deutlich gemacht hätte, daraus das Potentialitätsmerkmal für den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG abzuleiten. Nach alldem kann der Judikatur des EGMR jedenfalls das Erfordernis einer konkreten Gefahr nicht entnommen werden. Ebenso kann daraus aber nicht zweifelsfrei abgeleitet werden, dass die Potentialität der Zielerreichung eine zwingende Voraussetzung für die Feststellung des dringenden sozialen 509  EGMR,

Urt. v. 09.04.2002, Nr. 22723/93 u. a., Yazar u. a. ./. Türkei, Rn. 58. Urt. v. 20.10.2005, Nr. 59489/00, Vereinigte Makedonische Organisation Ilinden-Pirin u. a. ./. Bulgarien, Rn. 61. 511  Vgl. Uhle, NVwZ 2017, 583 (589); für daraus abzuleitende konkrete Gefahr aber Emek, RuP 2017, 174 (180). 512  So Uhle, NVwZ 2017, 583 (589). 513  BVerfGE 144, 20 (240, Rn. 621 a. E.). 514  Vgl. Emek, RuP 2017, 174 (180). 510  EGMR,

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Bedürfnisses eines Parteiverbots nach den Maßstäben der Konvention darstellt. Die Einführung des Potentialitätskriteriums stellt deshalb eine Art „Vorsorge“ des BVerfG für künftige Überprüfungen seiner Verbotsentscheidungen nach diesem Maßstab durch den EGMR dar. bb) Berücksichtigung nationaler Besonderheiten durch den EGMR Schließlich ist noch darauf einzugehen, inwieweit nationale Besonderheiten der Konventionsstaaten eine Erweiterung des ihnen vom Gerichtshof eingeräumten Beurteilungsspielraums bei der Frage des Eingriffszeitpunktes für ein Parteiverbot zulassen. Der EGMR stellt das Vorliegen eines dringenden sozialen Bedürfnisses anhand einer Gesamtwürdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls fest und berücksichtigt dabei auch den historisch-politischen Kontext des betreffenden Konventionsstaates.515 Nach Ansicht des BVerfG wäre bei der Prüfung der Konventionskonformität eines deutschen Parteiverbots deshalb vor allem die historische Erfahrung des Aufstiegs der NSDAP in der Zeit der Weimarer Republik und die daraus folgende Herrschaft der Nationalsozialisten in Rechnung zu stellen, die den Verfassungsgeber dazu bewogen haben, eine Regelung für ein möglichst frühzeitiges Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Parteien in das Grundgesetz aufzunehmen.516 Wenn das BVerfG diesen historischen Besonderheiten im Zuge einer Überprüfung des deutschen Parteiverbots durch den EGMR eine derartige Bedeutung beimisst, bleibt jedoch unklar, warum es dann eine Erhöhung der bislang geltenden Eingriffsschwelle für notwendig erachtet hat. Im Rahmen der grundgesetzautonomen Untersuchung wurde bereits dargelegt, dass ausgehend von einer derartigen Argumentation die Befürwortung eines Poten­ tialitätskriteriums durch das BVerfG als Eingriffsvoraussetzung gerade nicht überzeugen kann. Konsequenter erscheint deshalb die Schlussfolgerung von Uhle, im Falle einer Einbeziehung des spezifischen historischen Hintergrunds in Deutschland durch den EGMR die Hinzufügung des Kriteriums der Potentialität gerade nicht als erforderlich anzusehen, um der grundgesetzlichen Parteiverbotsregelung die Konventionskonformität zu bescheinigen.517 Soweit der Aspekt der Berücksichtigung nationaler Besonderheiten in der Lite515  Vgl. EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u.  a. ./. Türkei, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1493, Rn. 105; 1495, Rn. 124); EGMR, Urt. v. 03.02.2005, Nr. 46626/99, Kommunistische Partei und Ungureanu ./. Rumänien, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 12.04.2011, Nr. 12976/07, Republikanische Partei Russlands ./. Russland, Rn. 127. 516  Vgl. BVerfGE 144, 20 (240, Rn. 621). 517  Uhle, NVwZ 2017, 583 (589).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle277

ratur überhaupt Erwähnung findet518, wird von Teilen des Schrifttums jedoch in Zweifel gezogen, ob der Verweis des Gerichtshofs auf die historischen Erfahrungen und politischen Entwicklungen des Konventionsstaates den Beurteilungsspielraum der jeweiligen nationalen Stellen maßgeblich beeinflussen kann.519 So komme nach Ansicht von Emek dem historisch-politischen Kontext in der Rechtsprechung des EGMR lediglich eine unterstützende Rolle zu, welche den Nachweis der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen – wozu aus ihrer Sicht auch die konkrete Gefahr gehöre – nicht ersetzen könne.520 Nach Ansicht von Klein bleibe gar bei der Prüfung der Notwendigkeit des Parteiverbots für „etwaige nationale Befindlichkeiten religiöser, historischer, territorialer oder politischer Natur“ kein Raum, weil ansonsten das Ziel eines einheitlichen europäischen Menschenrechtsstandards nicht erreicht werden könne.521 Krüper äußert wiederum die Besorgnis, der EGMR würde durch ein etwaiges Absenken seiner bisherigen Maßstäbe für Parteiverbote aufgrund einer Berücksichtigung der spezifischen deutschen Vergangenheit ein „falsches Signal“ setzen, weil in nicht allen Konventionsstaaten die demokratischen Verhältnisse so gefestigt seien wie mittlerweile in Deutschland.522 Der EGMR betont in seiner Judikatur, den Vertragsstaaten komme nur ein begrenzter Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über die Notwendigkeit eines Parteiverbots in einer demokratischen Gesellschaft zu, der außerdem einer strikten Kontrolle durch den Gerichtshof unterliege.523 Daraus folgt aber gerade kein einheitlicher Standard für die Prüfung der Notwendigkeit eines Parteiverbots in den Konventionsstaaten. Ziel der EMRK ist nicht eine Harmonisierung der unterschiedlichen Rechtsordnungen, sondern die Wahrung eines einheitlichen Mindestschutzes der Menschenrechte im Geltungsbereich der Konvention.524 Ob für ein Parteiverbot in einem Konven­ tionsstaat tatsächlich ein dringendes soziales Bedürfnis bestanden hat, lässt 518  So gehen etwa Theuerkauf, Parteiverbote und EMRK, S. 216 ff., 257 ff. und Kontopodi, Rechtsprechung des EGMR zum Verbot politischer Parteien, S. 47 ff. gar nicht auf die Bedeutung der Einbeziehung des jeweiligen nationalen Kontextes im Rahmen der Gesamtwürdigung des EGMR ein. 519  Vgl. Emek/Meier, RuP 2013, 74 (77 f.); Emek, RuP 2017, 174 (181 f.); Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (110); Klein, ZRP 2001, 397 (400). 520  Emek, RuP 2017, 174 (181). 521  Klein, ZRP 2001, 397 (400). 522  Krüper, ZJS 2017, 365 (369). 523  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1492, Rn. 100); EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 77; EGMR, Urt. v. 12.04.2011, Nr. 12976/07, Republikanische Partei Russlands ./. Russland, Rn. 76. 524  Kontopodi, Rechtsprechung des EGMR zum Verbot politischer Parteien, S. 49 f.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

sich deshalb nur unter Mitberücksichtigung der politischen und historischen Hintergründe in dem jeweiligen Staat feststellen, wobei diesen mehr als eine nur untergeordnete Rolle zukommt. Konkret betont hat der EGMR im RefahUrteil die besondere Bedeutung des Laizismus in der Türkei (gegen den sich die Refah-Partei ihren Zielen nach gerichtet hat) vor dem Hintergrund der Geschichte eines theokratisch-islamischen Regimes und dem Umstand, dass religiös-fundamentalistische politische Bewegungen in der Vergangenheit die Macht an sich reißen konnten.525 Im Fall der baskischen Batasuna-Partei hat der EGMR im Rahmen seiner Gesamtwürdigung die von der ETA ausgehende und über Jahrzehnte andauernde Terrorgefahr in Spanien angeführt, die eine politische Unterstützung terroristischer Handlungen im politisch sensiblen Baskenland zu einer Gefahr für die Demokratie machen.526 Dagegen sah der EGMR im Fall der untersagten politischen Betätigung einer kommunistischen Partei in Rumänien den Verweis auf die negativen Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur bis 1989 alleine als nicht ausreichend für eine Rechtfertigung des Eingriffs an, zumal in vielen anderen Konventionsstaaten ebenfalls kommunistische Parteien existierten.527 Auch der Zerfall der Sowjetunion und der sich anschließende demokratische Transformationsprozess in Russland, der bestimmte Maßnahmen zur Stabilisierung der Demokratie und der Stärkung demokratischer Institutionen erforderlich machte, konnte mehr als zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion aus Sicht des EGMR nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für die Auflösung einer Partei wegen Nichterfüllung erhöhter formaler Voraussetzungen an die Mindestmitgliederzahl und die Zahl regionaler Zweigstellen herangezogen werden.528 Der Gerichtshof dürfte somit immer einen konkreten Bezug der historisch-politischen Besonderheiten des jeweiligen Konventionsstaates für die Frage der Notwendigkeit des Parteiverbots im Einzelfall fordern.529 Diese Entscheidungen lassen offen, ob der EGMR im Fall seiner Befassung mit einem bundesverfassungsgerichtlichen Parteiverbot dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund des Art. 21 Abs. 2 GG eine derartige Bedeutung beimessen würde, dass er den Beurteilungsspielraum für den notwendigen Eingriffszeitpunkt auch bei frühzeitigen Eingriffen ab dem Zeitpunkt einer planvollen Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung 525  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1495, Rn. 124 f.). 526  EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 89. 527  EGMR, Urt. v. 03.02.2005, Nr. 46626/99, Kommunistische Partei und Ungureanu ./. Rumänien, Rn. 58. 528  EGMR, Urt. v. 12.04.2011, Nr. 12976/07, Republikanische Partei Russlands ./. Russland, Rn.  127 f. 529  Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (110).



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle279

ohne reale Aussicht auf Erfolg als nicht überschritten ansieht.530 Wenn der Gerichtshof die besondere, leidvolle deutsche Erfahrung im Umgang mit extremistischen Parteien in seine Prüfung miteinbezieht, wird er gleichzeitig wohl auch die seit langem anhaltende demokratische Stabilität in der Bundesrepublik würdigen müssen. Eine Berücksichtigung der spezifisch deutschen Besonderheiten des grundgesetzlichen Parteiverbots durch den EGMR dürfte dennoch das bereits zuvor gefundene Ergebnis, eine Potentialität der Zielerreichung als nicht erforderlich für die Herstellung der Konventionskonformität eines Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG zu erachten, weiter verstärken. cc) Fazit Der Judikatur des EGMR kann bislang nicht eindeutig entnommen werden, wo genau die Eingriffsschwelle für eine Konventionskonformität nationaler Parteiverbote anzusiedeln ist. Der erstmals im Refah-Urteil verwendete Begriff der „hinreichend nachgewiesenen und unmittelbaren Gefahr“ ist aber unter Berücksichtigung des vom EGMR betonten Präventionscharakters von Parteiverboten sowie im Kontext anderer Formulierungen im Refah-Urteil selbst und in anderen EGMR-Urteilen nicht im Sinne einer konkreten Gefahr nach deutschem Rechtsverständnis, d. h. der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines in absehbarer Zeit eintretenden Schadens für die demokratische Ordnung, zu verstehen. Ob die Möglichkeit zur Durchsetzung der demokratiefeindlichen Ziele eine notwendige Voraussetzung für ein Parteiverbot darstellt oder der EGMR die Gefahr für die Demokratie bereits in der von der Partei verfolgten Zielsetzung als solcher sieht, ist offen. Der EGMR könnte ein umso höheres Ausmaß der von der Partei ausgehenden Gefahr für die Demokratie fordern, je mehr das Verbot auf Grundlage von konventionswidrigen Zielen erfolgt, während in der Verwendung rechtswidriger Mittel, wozu auch der Aufruf zur Gewalt oder die Solidarisierung mit Gewalttaten zählen, eine solche Gefahr bereits ohne weiteres vorliegt.531 Die grundgesetzliche Parteiverbotskonzeption in Gestalt der früheren bundesverfassungsgericht­ lichen Eingriffsschwelle, die neben der verfassungsfeindlichen Zielsetzung noch eine planvolle, aktiv-kämpferische Verfolgung dieser Ziele erfordert hat, dürfte dann irgendwo dazwischen liegen. Schließlich ist anzunehmen, dass der EGMR bei der Frage des Eingriffszeitpunktes für Parteiverbote auch 530  Dafür Uhle, NvwZ 2017, 583 (589). Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (408 f.) ist der Ansicht, dass der EGMR zumindest im Fall der mit dem Nationalsozialismus wesensverwandten NPD der deutschen Geschichte erhebliche Bedeutung zugemessen und ein Verbot nicht als konventionswidrig gerügt hätte; kritisch dagegen Känner, KritV 2019, 57 (68). 531  Kumpf, DVBl. 2012, 1344 (1345 f.); Wolter, EuGRZ 2016, 92 (99).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

deshalb sensibler formuliert, weil es sich bei den meisten der ihm zur Entscheidung vorgelegten Individualbeschwerden über nationale Parteiverbote um solche aus tendenziell autoritär regierten „Hybridregimen“, insbesondere der Türkei, gehandelt hat. Die NPD hätte im Falle eines Verbots mit Sicherheit den Gang nach Straßburg angetreten und sich als Opfer einer Menschenrechtsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland dargestellt. Das Verbot einer offen neonazistischen Partei, die eine an der ethnischen Volksgemeinschaft ausgerichtete Diktatur anstrebt, wäre angesichts der historischen Erfahrungen Deutschlands mit dem Nationalsozialismus wohl kaum vom EGMR kassiert worden.532 In diesem Fall hätte das BVerfG die Konfrontation mit dem EGMR deshalb nicht scheuen müssen. Es kann aber nur gemutmaßt werden, ob auch andere Parteiverbote, etwa von linksradikalen oder religiös-fundamentalistischen Parteien, auf Grundlage einer Interpretation des Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG ohne Potentialitätskriterium vor dem EGMR Stand halten würden. Das BVerfG wollte erkennbar vorsorglich einen Konflikt mit dem EGMR vermeiden und durch Einführung des Potentialitätskriteriums die Chancen für eine Konventionskonformität des grundgesetzlichen Parteiverbots erhöhen.533 Der Gerichtshof wird nun keine Möglichkeit mehr zur Positionierung erhalten. Eine konventionskonforme Interpretation des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ hat aber nach der hier vorgenommenen Analyse der EGMR-Judikatur nicht zwingend das Merkmal der Potentialität erfordert.

III. Ergebnis Die Untersuchung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ sowohl anhand der klassischen Auslegungsmethoden im Rahmen einer grundgesetzautonomen Auslegung als auch unter Berücksichtigung der Anforderungen des EGMR an die Eingriffsschwelle für konventionskonforme Parteiverbote hat gezeigt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG für eine Aufladung dieses Tatbestandsmerkmals mit dem Potentialitätskriterium weder Raum bestand noch mit dem Bedürfnis zur Synchronisierung der grundgesetzlichen und konventionsrechtlichen Maßstäbe überzeugend begründet werden konnte. Bereits die Semantik spricht gegen das Anknüpfen an die auch Lenz/Hansel, BVerfGG, § 43 Rn. 9. Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (408), nach dem das BVerfG aus seiner eigenen Interpretation heraus die Maßstäbe für das Parteiverbot in das 21. Jahrhundert überführt hat und diese da­ rüber hinaus auch noch mit den Anforderungen des EGMR übereinstimmen. Dies würde aber bedeuten, dass der Zweite Senat die Konvention bei der Auslegung entgegen der von ihm selbst betonten Pflicht zur konventionskonformen Auslegung des Grundgesetzes gar nicht berücksichtigt hat; hierzu bereits oben Kapitel 2 sub F. III. 532  Vgl.

533  A. A.



D. „Potentialität“ als neue Eingriffsschwelle281

Möglichkeit des Erreichens der verfassungsfeindlichen Ziele. Auch aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrem Sinn und Zweck sowie der Syste­ matik des Parteiverbots innerhalb der verfassungsschützenden Normen des Grundgesetzes (zunächst ohne Berücksichtigung des nach dem NPD-Urteil eingefügten Art. 21 Abs. 3 GG) lässt sich ein derartiges Erfordernis nicht ableiten. Der Rechtsprechung des EGMR lässt sich ebenfalls nicht zweifelsfrei entnehmen, dass dieser für die Konventionsmäßigkeit nationaler Parteiverbote eine konkrete Gefahr für die Demokratie oder auch nur eine Rea­ lisierungschance für die antidemokratischen Ziele der Partei fordert. Eine solche Interpretation stand damit im Konflikt mit den Prinzipien der Methodenlehre. Die zu Recht vorzunehmende restriktive Auslegung der Verbots­ voraussetzungen, insbesondere bei der Bestimmung der Eingriffsschwelle, kann nur innerhalb der Grenzen der juristischen Methodik erfolgen. Als problematisch erweist sich auch die mangelnde Bestimmtheit des Zeitpunktes, von dem an eine verfassungsfeindliche Partei zu einer verfassungswidrigen wird und bei dem sich das BVerfG einen erheblichen Beurteilungsspielraum eingeräumt hat. Die Grenzen zwischen „verfassungsfeindlich, aber erlaubt, weil ungefährlich“ und „verfassungswidrig und verboten, weil potentiell gefährlich“ verschwimmen dadurch. Eine Partei, die zum Zeitpunkt der Entscheidung aus Sicht des BVerfG die Potentialität noch nicht erreicht hat, kann nicht verboten werden. Erreicht sie die Anforderungen aber entgegen aller Prognosen wenig später doch, muss unter Umständen ein erneutes Verbotsverfahren angestrengt werden. Das Merkmal der Potentialität kann auch nicht mit den zwischenzeitlich gefestigten demokratischen Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland begründet werden. Zwar mag der gesellschaftspolitische Hintergrund heute ein anderer sein als noch zum Zeitpunkt des SRP- und KPD-Verbots. Die von einer Partei ausgehende latent-abstrakte Organisationsgefahr besteht aber weiterhin. Das Grundgesetz hat sich bewusst dafür entschieden, extremistische Parteien bereits an der Wurzel packen zu können, um ihr (plötzliches) Erstarken zu verhindern. Die Demokratie bleibt – gerade in Zeiten fehlender wirtschaftlicher Prosperität – denselben Gefahren ausgesetzt wie noch in ihrer Anfangszeit der 1950er Jahre, so dass auch keine Neubestimmung der Eingriffsschwelle kraft Verfassungswandels geboten war. Das Anknüpfen an ein planvolles, auf die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes Vorgehen der Partei ist ausreichend, um dem Gebot restriktiver Auslegung Rechnung zu tragen. Dabei ist auch nicht erkennbar, inwieweit diese frühere Auslegung nicht mehr „zeitgemäß“ sein soll. Den Parteien steht innerhalb der minimalistischen Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ein weiter Bewegungsspielraum zur Verfügung. Das Verbot einer Partei, welche diese grundlegenden Prinzipien erkennbar kontinuierlich bekämpft, und sei es auch „nur“ durch hetzerische Parteitagsreden, Wahlkampfveranstaltungen oder in

282

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Flyern, stellt deshalb keine ungerechtfertigte Verkürzung der Parteienfreiheit dar. Davon zu trennen ist stets die Frage, ob der Aufwand eines Verbotsverfahrens gegen eine politisch unbedeutende Partei tatsächlich lohnt oder damit in Wirklichkeit nicht sogar das Gegenteil erreicht wird, indem einer solchen Partei eine Plattform zur Selbstdarstellung geboten wird. Dies ist aber keine Frage der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen der Verfassungswidrigkeit, sondern eine solche des politischen Ermessens, über die nicht das BVerfG zu entscheiden hat. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit der Einführung des Finanzierungsausschlussverfahrens in Art. 21 Abs. 3 GG und dem darin enthaltenen Merkmal „darauf ausgerichtet“ für die Zukunft allerdings die neue bundesverfassungsgerichtliche Eingriffsschwelle für Parteiverbote im Grundgesetz verankert. Damit ist die zunächst methodisch nicht zu begründende Auslegung des BVerfG nachträglich legitimiert worden, indem sich aus dem systematischen Verhältnis von Art. 21 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 3 GG nun höhere Anforderungen an ein Parteiverbot als an einen weniger schwerwiegenden, temporären Finanzierungsausschluss ergeben. Damit müssen auch künftige Parteiverbote die Hürde der Potentialität als ungeschriebene Voraussetzung nehmen. Die Bedeutung dieser interpretatorischen Neuausrichtung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ zeigt sich schließlich auch daran, dass wohl weder die SRP noch die KPD gemessen an den neuen Anforderungen des BVerfG damals hätten verboten werden können.534 Auf der anderen Seite wäre die NPD am 17. Januar 2017 durch das BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden, wenn der Zweite Senat an seinen bisherigen Maßstäben festgehalten hätte, denn ein Verbot der NPD ist ausschließlich an der mangelnden Potentialität der Durchsetzung ihrer Ziele gescheitert.

E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale Nachdem das BVerfG den Prüfungsmaßstab des Art. 21 Abs. 2 GG durch Abhandlung sämtlicher Tatbestandsmerkmale – ausgenommen das im NPDVerfahren nicht einschlägige und sonst auch wenig praxisrelevante Schutzgut des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland – festgelegt hat, erteilt es Forderungen nach darüber hinausgehenden, ungeschriebenen Tatbestandsmerkmalen für ein Parteiverbot eine Absage. Konkret bezieht sich der Zweite Senat dabei auf den Aspekt der „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalso534  A. A. Will, Ephorale Verfassung, S. 361 f., der im Fall der SRP darauf hinweist, dass diese zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG immerhin noch einen Bundestagsabgeordneten stellen konnte und in zwei Landtagen vertreten war, eine Potentialität somit nicht zwingend ausgeschlossen gewesen wäre.



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale283

zialismus“ sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Während der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus im Rahmen der Entwicklung des Prüfungsmaßstabs von Art. 21 Abs. 2 GG vom Bundesrat in seiner Antragsschrift eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung beigemessen wurde und diese aus Sicht des Antragstellers offenbar für sich genommen bereits eine hinreichende Bedingung für ein Parteiverbot darstellen soll535, wird die Integration einer Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei von Teilen des Schrifttums auf unterschiedliche Weise bereits seit längerem gefordert. Auch die teilweise in der Literatur geforderte konkrete Gefahr als Eingriffsschwelle für ein Parteiverbot sowie das vom BVerfG entwickelte Potentialitätskriterium stellen mangels ausreichender Stütze im Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG letztlich ungeschriebene Tatbestandsmerkmale dar, doch wurden beide Aspekte eben zuvor im Rahmen des Abschnitts zur Interpretation des „Ausgehens“ behandelt. Im Folgenden soll untersucht werden, ob vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in Deutschland dessen ideologische Kontinuität in einer Partei bereits für sich genommen einen ungeschriebenen Verbotsgrund darstellen kann und ob das Gebot der restriktiven Auslegung des Parteiverbotstatbestands Raum für eine zusätzliche Verhältnismäßigkeitsprüfung lässt.

I. Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus Das BVerfG attestiert der NPD als Ergebnis seiner Beweiswürdigung eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus.536 Gleichzeitig vermag jedoch nach Ansicht des Senats eine solche Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus alleine ohne Prüfung des Vorliegens der weiteren Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht zu rechtfertigen.537

535  Vgl. Verbotsantrag Bundesrat, abgedruckt bei Kliegel/Roßbach, NPD-Verbotsverfahren, S. 39 (126 ff.). Der Bundesrat hat eigens zur Frage der Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus ein Gutachten beim Institut für Zeitgeschichte eingeholt, welches dem Verbotsantrag als Anlage beigefügt war. Bereits im Antrag des Bundestages zum ersten NPD-Verbotsverfahren im Jahr 2001 war die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus Kern der Begründung, vgl. Lovens, ZParl 2001, 550 (566 f.). 536  BVerfGE 144, 20 (295 ff., Rn. 805 ff.); zur Bestimmung, wann eine Organisation eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus aufweist vgl. BVerfGE 144, 20 (227, Rn. 592 m. w. N.). 537  BVerfGE 144, 20 (227 f., Rn. 593).

284

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

1. Position des BVerfG Das BVerfG begründet seine Ablehnung der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus als ungeschriebenes, den Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 2 GG erweiterndes Tatbestandsmerkmal mit dem bereits an anderen Stellen im NPD-Urteil herangezogenen Argument des Ausnahme­ charakters des Parteiverbots und dem daraus folgenden Gebot restriktiver Auslegung.538 Im Anschluss an diese knapp gehaltene Begründung stellt der Senat weiter fest, dass sich weder aus der Rechtsprechung des BVerwG zu Vereinsverboten noch aus der gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung des Nationalsozialismus für das Grundgesetz etwaige andere Rückschlüsse ziehen lassen. So ergebe sich aus der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Vereinsverboten nicht, dass die Wesensverwandtschaft einer Vereinigung mit dem Nationalsozialismus für sich alleine schon ausreiche, um die Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG zu verbieten. Das BVerwG habe im Anschluss stets gesondert geprüft, ob eine kämpferisch-aggressive Haltung der Vereinigung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung vorliege.539 Einer Analogie zur Vereinsverbotsrechtsprechung stünden zudem die tatbestandlichen Unterschiede zwischen Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 9 Abs. 2 GG sowie die Eigenschaft von Art. 21 Abs. 2 GG als lex specialis gegenüber Art. 9 Abs. 2 GG entgegen.540 Auch die Bedeutung, die dem Nationalsozialismus für die Ausgestaltung der antitotalitären Verfassungsordnung in der Bundesrepublik Deutschland zukomme, spreche nicht für die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus als eigenständigem Verbotsgrund. Dem Grundgesetz könne jedenfalls „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“ entnommen werden, welches über den Wortlaut der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes hinaus eine verfassungsunmittelbare Schranke für Grundrechte oder sonstige verfassungsrechtliche Gewährleistungen darstelle.541 Der Verfassungsgeber habe darauf verzichtet, den Tatbestand des Parteiverbots speziell antinationalsozialistisch auszugestalten und wollte für totalitäre Bestrebungen aller Art die gleichen Verbotsvoraussetzungen schaffen.542 Schließlich misst das BVerfG einer solchen Wesensverwandtschaft aber eine „erhebliche indizielle Bedeutung“ hinsichtlich der Verfolgung von gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Zielen durch die Partei zu.543 Damit findet dieses Merkmal auch 538  BVerfGE 539  BVerfGE 540  BVerfGE 541  BVerfGE 542  BVerfGE 543  BVerfGE

144, 144, 144, 144, 144, 144,

20 20 20 20 20 20

(227 f., Rn. 593). (228, Rn. 594). (228 f., Rn. 595). (229, Rn. 596). (229 f., Rn. 597). (227, Rn. 591 (Zitat); 230, Rn. 598).



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale285

innerhalb der bestehenden Tatbestandsstruktur des Art. 21 Abs. 2 GG durch das BVerfG Berücksichtigung. 2. Bedeutung der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus in der Rechtsprechung zu Partei- und Vereinsverboten a) SRP-Urteil des BVerfG Die Frage der „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ spielte bereits im ersten Parteiverbotsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland gegen die SRP eine entscheidende Rolle, worauf der Zweite Senat im NPD-Urteil aber nicht eingeht. Das BVerfG kam im SRP-Verbotsurteil zu dem Ergebnis, dass die SRP mit der früheren NSDAP in Programm, Vorstellungswelt, Gesamtstil als auch innerer Ordnung wesensverwandt sei.544 Seine Feststellungen verortete das BVerfG in der Urteilsbegründung bemerkenswerterweise in dem Abschnitt, der eigentlich die Erfüllung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG zum Gegenstand ­haben sollte.545 Auf einen weiteren Begründungsaufwand in Gestalt einer Subsumtion des Sachverhaltes unter den Tatbestand der Verfassungswidrigkeit hat das BVerfG jedoch verzichtet und stattdessen alleine über die Wesensverwandtschaft der SRP mit der früheren NSDAP sogleich den Schluss auf die Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG gezogen. Die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus stellt damit den zentralen Argumentationstopos im SRP-Urteil dar, welches aber eine methodisch saubere juristische Argumentation anhand der einzelnen Tatbestandsmerkmale vermissen lässt.546 Dem Aspekt der Wesensverwandtschaft kommt im SRP-Urteil damit faktisch eine tatbestandsersetzende Wirkung zu. Aufgrund der juristisch-methodischen Defizite in der Begründung der Tatbestandsmäßigkeit einer solchen Wesensverwandtschaft ist dieses Urteil alleine jedoch nicht geeignet, um daraus einen spezifisch antinationalsozialistischen Sondertatbestand für ein Parteiverbot entnehmen zu können, der eine Prüfung der in Art. 21 Abs. 2 GG niedergelegten Tatbestandsmerkmale überflüssig macht. Die damalige Vorgehensweise des BVerfG ist vielmehr vor dem historisch-politischen Kontext der Konstituierungsphase der noch jungen Bundesrepublik und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu bewerten.547 Die fehlende Rezeption durch das BVerfG im NPD544  BVerfGE

2, 1 (70). BVerfGE 2, 1 (70 f.). 546  Vgl. Will, Ephorale Verfassung, S. 356 f. 547  Vgl. oben Kapitel 2 sub G. I. 545  Vgl.

286

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Urteil wird deshalb auch als stillschweigende Distanzierung von seiner Argumentationslinie im SRP-Urteil zu werten sein. b) Rechtsprechung des BVerwG zu Vereinsverboten Das BVerwG hat eine Vielzahl von Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit von Vereinsverboten nach Art. 9 Abs. 2 GG i. V. m. § 3 Abs. 1 VereinsG auf die Wesensverwandtschaft der jeweiligen Vereinigung mit dem Nationalsozialismus gestützt. Dabei hat es dazu stets wie folgt ausgeführt: „Eine zum Verbot führende Zielrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung ist ohne Weiteres dann zu bejahen, wenn eine Vereinigung in Programm, Vorstellungswelt und Gesamtstil eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus aufweist. Dieser vom BVerfG […] anlässlich des Verbotes der Sozialistischen Reichspartei zu Art. 21 II GG entwickelte Grundsatz gilt in gleicher Weise auch für ein Vereinsverbot, weil jedenfalls eine die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erstrebende Zielrichtung i.  S. des Art. 21 II GG auch gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist. Wenn eine Vereinigung sich zur NSDAP und zu deren maßgeblichen Funktionsträgern bekennt und die demokratische Staatsform verächtlich macht, eine mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 III GG unvereinbare Rassenlehre propagiert und eine entsprechende Überwindung der verfassungsmäßigen Ordnung anstrebt, richtet sie sich gegen die elementaren Verfassungsgrundsätze und erfüllt damit den Verbots­ tatbestand […].“548

Das BVerwG lehnt seine Rechtsprechung somit ausdrücklich an das SRPUrteil des BVerfG an und entnimmt diesem einen dahingehenden „Grundsatz“, dass die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus eine die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtete Zielrichtung aufweise, die ein Parteiverbot offenbar ohne weiteres rechtfertige. Diesen Grundsatz überträgt das BVerwG anschließend auf das Schutzgut der verfassungsmäßigen Ordnung und das Verbot von Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 2 GG. Auch die Literatur sieht – durchaus kritisch – in dieser Rechtsprechung des BVerwG einen automatischen Rückschluss von der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus auf ein „Sich-Richten“ gegen die verfassungsmäßige Ordnung und damit auf das Vorliegen einer hinreichenden Voraussetzung für ein Vereinsverbot.549 548  BVerwGE 134, 275 (292  f., Rn. 44); vgl. auch BVerwG NJW 1993, 3213 (3215); NJW 1995, 2505; NVwZ 1997, 66 (67); NVwZ-RR 2011, 14 (15, Rn. 13); NVwZ 2013, 870 (871, Rn. 13 f.). 549  Vgl. Alter, Eingriffsschwelle, S.  270 f.; Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot, S. 278 f., der kritisiert, dass den Verbotsentscheidungen „mittlerweile eine Matrize zu Grunde [liegt], die auf einen Abgleich zwischen NSDAP bzw. anderen nationalsozialistischen Organisationen und der zu verbietenden Vereinigung hinausläuft, durch stereotype Wiederholungen gekennzeichnet ist und kaum Bezüge



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale287

Wie bereits erwähnt, eignet sich das SRP-Urteil aufgrund der ihm zugrunde liegenden besonderen Sachverhaltskonstellation sowie der verkürzten juristischen Argumentation jedoch nur bedingt zur Heranziehung als „Grundsatzurteil“ in dieser Frage.550 Eine Übernahme der Feststellungen aus dem SRP-Urteil durch das BVerwG ohne eingehende Auseinandersetzung mit dem Tatbestand des Art. 9 Abs. 2 GG im konkreten Einzelfall würde daher eine Fortsetzung des Argumentationsdefizits auf Ebene der bundesverwaltungsgerichtlichen Vereinsverbotsrechtsprechung bedeuten. Wie das BVerfG zutreffend anmerkt, nimmt das BVerwG in neueren Entscheidungen zudem eine gesonderte Prüfung der im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „sich richten gegen“ nach ständiger Rechtsprechung erforderlichen „kämpferischaggressiven Haltung“ der Vereinigung an. So stellt das BVerwG nunmehr klar: „Eine Vereinigung richtet sich im Sinne des Art. 9 Abs. 2 GG […] nicht schon dann gegen die […] verfassungsmäßige Ordnung, wenn sie diese lediglich ablehnt oder ihr andere Grundsätze entgegenstellt. Sie muss ihre verfassungsfeindlichen Ziele vielmehr kämpferisch-aggressiv verwirklichen wollen. Hierfür genügt es, wenn sie die verfassungsmäßige Ordnung fortlaufend untergraben will. Dies ist für eine mit dem Nationalsozialismus wesensverwandte Vereinigung kennzeichnend, bedarf gleichwohl auch hier der ausdrücklichen Feststellung.“551

Das BVerwG selbst sieht demnach zumindest nach neuerer Rechtsprechung in der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus offenbar keinen rechtlichen Automatismus für ein Vereinsverbot. Einer solchen Wesensverwandtschaft kommt damit auch im Rahmen des Vereinsverbots nach Art. 9 Abs. 2 GG „nur“ eine, wenn auch starke, Indizwirkung zu. Die vom BVerfG daneben noch angeführten tatbestandlichen Unterschiede sowie das systematische Verhältnis zwischen Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 GG sind dagegen für die Frage der Bedeutung einer jeweils festgestellten Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus nicht entscheidend. Ungeachtet der nunmehr vom BVerfG in das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ hineingelesenen Potentialität stellen sowohl ein „Sich richten gegen“ in Art. 9 Abs. 2 GG als auch ein „Darauf Ausgehen“ in Art. 21 Abs. 2 GG jeweils handlungsbezogene Merkmale dar.552 Eine ideologische Nähe zum

zum Inhalt des Art. 9 Abs. 2 GG erkennen lässt“ und die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus zum „Dogma“ erhoben wurde; Groh, VereinsG, § 3 Rn. 17. 550  Vgl. Alter, Eingriffsschwelle, S. 273 f. 551  BVerwG, Beschl. v. 21.05.2014 – 6 B 24.14 –, juris, Rn. 20; vgl. auch ­BVerwGE 134, 275 (304 ff., Rn. 81 ff.); BVerwG NVwZ 2013, 870 (874, Rn. 45 ff.). 552  Vgl. Gerlach, Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, S. 85 f.; Baudewin, NVwZ 2013, 1049 (1050); Groh, VereinsG, § 3 Rn. 15.

288

Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

Nationalsozialismus kann deshalb die Feststellung des Vorliegens dieser Voraussetzungen in beiden Fällen nicht obsolet machen.553 3. Antinationalsozialistisches Sonderrecht Von größerer Bedeutung ist die Absage des BVerfG an eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus als eigenständiges Prüfungsmerkmal in Art. 21 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund seiner sog. Wunsiedel-Entscheidung aus dem Jahr 2009.554 Darin hat das BVerfG den Volksverhetzungstatbestand in § 130 Abs. 4 StGB555 für verfassungsgemäß erklärt und dies im Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG mit einer ungeschriebenen Ausnahme zum Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes nach Art. 5 Abs. 2 GG begründet, die angesichts der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und der hierzu als Gegenentwurf verstandenen Verfassungsordnung der Bundesrepublik gerechtfertigt sei: „Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“556

Als Konsequenz aus dieser historischen Sonderkonstellation entwickelt das BVerfG somit eine besondere Grundrechtsschranke für die Meinungsfreiheit. Diese „Ausnahmelösung“ des BVerfG ist im Schrifttum vielfach – bei gleichzeitiger Anerkennung der guten Absichten der Verfassungsrichter – insbesondere aus verfassungsdogmatischer Sicht als wenig überzeugend kritisiert worden.557 Um den singulären Charakter dieses der Meinungsfreiheit „immanent[en]“558 antinazistischen Verfassungsvorbehalts zu bekräftigen, hat 553  Dies betont das BVerfG erst am Ende seiner Ausführungen, vgl. BVerfGE 144, 20 (230, Rn. 598 a. E.); Meier, Leviathan 29 (2001), 439 (449 f.); von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 33 (Juli 2020). 554  BVerfGE 124, 300. 555  Die Vorschrift des § 130 Abs. 4 StGB wurde durch das Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuchs vom 24.03.2005 in das StGB eingefügt und trat am 01.04.2005 in Kraft (BGBl. I 2005, S. 969 [970]). Der Wortlaut der Norm lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“ 556  BVerfGE 124, 300 (328). 557  Vgl. Fohrbeck, Wunsiedel, S.  133 ff.; Meier, in: ders., Staatstheater, S. 268; Lepsius, Jura 2010, 527; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088; Schaefer, DÖV 2010, 379; zustimmend Degenhart, JZ 2010, 306; Masing, JZ 2012, 585 (589 f.). 558  BVerfGE 128, 300 (328).



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale289

das BVerfG in der Wunsiedel-Entscheidung auch betont, dass dem Grund­ gesetz „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“ zugrunde liege.559 Damit hat der Senat entsprechenden, zuvor vereinzelt in der Rechtsprechung560 und im Schrifttum561 geäußerten Tendenzen eine ausdrückliche Absage erteilt. Die Ablehnung der Existenz eines solchen Grundprinzips durch das BVerfG im Kontext der Wunsiedel-Entscheidung ist in der Literatur jedoch auf Kritik gestoßen: Es überzeuge nicht, wenn das BVerfG zunächst eine auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft begrenzte Ausnahme vom Schrankenvorbehalt des allgemeinen Gesetzes für Art. 5 Abs. 1 und 2 GG zulasse und dies mit der gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung des Nationalsozialismus für das Grundgesetz begründe, um sodann eine argumentative Kehrtwende zu vollziehen und ein dem Grundgesetz innewohnendes antinationalsozialistisches Grundprinzip abzulehnen. Es hätte näher gelegen, die Ausführungen des BVerfG im Wunsiedel-Beschluss zur Sonderbehandlung nazistischer Bestrebungen ihrem Inhalt nach gerade als Anerkennung eines solchen Grundprinzips zu interpretieren.562 Die Frage der Existenz eines im Grundgesetz verankerten antinationalsozialistischen Grundprinzips kann und soll an der Stelle nicht im Detail behandelt werden. Für den Standpunkt des BVerfG spricht jedenfalls, dass das Grundgesetz den Nationalsozialismus an keiner Stelle – insbesondere weder in der Präambel noch in den Bestimmungen, die als Ausdruck der wehrhaften Demokratie angesehen werden – explizit erwähnt. Das Grundgesetz stellt ohne Zweifel eine gegen den Nationalsozialismus gerichtete Verfassungsordnung dar, doch genauso enthält es eben auch eine Absage an sämtliche anderen totalitären Strömungen.563 Die fehlende Existenz eines antinationalsozialistischen Grundprinzips führt das BVerfG im NPD-Urteil auch gegen die Annahme einer ungeschriebenen Tatbestandsmäßigkeit der Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 GG an.564 Damit hält es an seiner Kernaussage aus dem Wunsiedel-Beschluss fest. Es wurde bereits mehrfach dargelegt, dass gerade die Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 GG auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs der NSDAP in der Endphase der Weima559  BVerfGE

128, 300 (330). OVG Münster, NJW 2001, 2111. 561  Vgl. Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121 (124). 562  Vgl. Fohrbeck, Wunsiedel, S. 130; Klausmann, Meinungsfreiheit und Rechtsextremismus, S. 215; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088 (1095); Leitmeier, NJW 2016, 2553 (2555); Volkmann, NJW 2010, 417 (419). 563  Meier, in: ders., Staatstheater, S.  129 (184  f.); Schaefer, DÖV 2010, 379 (386 f.); gegen die Annahme eines antinationalsozialistischen Grundprinzips auch Enders, SächsVBl. 2020, 174 (176). 564  BVerfGE 144, 20 (229, Rn. 596). 560  Vgl.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

rer Demokratie in das Grundgesetz eingefügt wurde. Der Verfassungsgeber hat indes darauf verzichtet, darin einen Sondertatbestand für neonazistische Parteien aufzunehmen und die Verfassungswidrigkeit vielmehr allgemein an die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geknüpft, ungeachtet von welcher Partei entsprechende Bestrebungen ausgehen. Krüper vermisst in diesem Zusammenhang allerdings eine weitergehende Begründung des BVerfG, warum die ungeschriebene Ausnahme vom Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes aus Art. 5 Abs. 2 GG angesichts der engen Verbindung zwischen politischen Kommunikationsfreiheiten und Parteienfreiheit nicht auch im Rahmen des Parteiverbots gelten soll.565 Tatsächlich greifen die Ausführungen des BVerfG dazu, bei isolierter Betrachtung des NPD-­ Urteils, etwas zu kurz. Der Feststellung des BVerfG, dass eine Nähe zum Nationalsozialismus nicht ausreiche, um ungeachtet des Wortlauts der Verfassungsbestimmungen Grundrechte oder sonstige verfassungsrechtliche Gewährleistungen einzuschränken566, kann gerade dessen entsprechende Vorgehensweise im Fall des Art. 5 GG entgegengehalten werden. Auch soweit der Zweite Senat auf die fehlende antinationalsozialistische Ausgestaltung des Art. 21 Abs. 2 GG verweist, gilt dies ebenso für die Schranken der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 2 GG. Überzeugender wäre es daher gewesen, wenn der Senat ungeachtet aller verfassungsdogmatischen Fragen an dieser Stelle nochmals die Einmaligkeit und damit verbundene fehlende Übertragbarkeit des von ihm entwickelten Schrankenvorbehalts im Anwendungsbereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit hervorgehoben hätte, um so die Kontinuität zur Wunsiedel-Rechtsprechung zu verdeutlichen. 4. Fazit Die bundesverfassungsgerichtliche Ablehnung der Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus als hinreichende, ungeschriebene Voraussetzung für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist überzeugend. Für eine eigenständige verfassungsrechtliche Bedeutung der Wesensverwandtschaft als Verbotskriterium besteht im Rahmen des abstrakt formulierten Art. 21 Abs. 2 GG weder Raum noch ein praktisches Bedürfnis.567 Weist eine Partei eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus auf, die fast zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Ziel der Beseitigung der 565  Krüper,

ZJS 2017, 365 (368). 144, 20 (229, Rn. 596). 567  Vgl. auch Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (405 f.), der die erfolgte Feststellung der Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus durch den Zweiten Senat im Grunde für re­ dundant ansieht. 566  BVerfGE



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale291

freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist, und arbeitet die Partei auf die – potentiell mögliche – Verwirklichung ihrer Ziele planvoll hin, ist der Tatbestand der Verfassungswidrigkeit gem. Art. 21 Abs. 2 GG ohnehin erfüllt. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit knüpft nicht an eine bestimmte politische Ausrichtung oder Weltanschauung an, sondern soll die freiheitliche demokratische Grundordnung vor gegen sie gerichteten organisierten Bestrebungen schützen. Von welchen Parteien welcher Couleur diese Bestrebungen ausgehen, ist dagegen nicht tatbestandserheblich. Das NPDUrteil kann in diesem Punkt auch als eine Abkehr vom SRP-Verbotsurteil gesehen werden, welches in der Argumentation maßgeblich vom Aspekt der Wesensverwandtschaft getragen wurde und in dem die eigentliche juristische Begründung anhand der auszulegenden Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG – zumindest aus heutiger Sicht – zu kurz geraten ist. Auch wenn die Schöpfer des Grundgesetzes den Aufstieg der NSDAP vor Augen gehabt haben, enthält das Parteiverbot keine „Sonderbehandlung“ rechtsextremistischer Parteien. Gleichzeitig bestätigt das BVerfG damit auch seinen Wunsiedel-Beschluss dahingehend, dass die dort als verfassungsgemäß eingestufte Ausnahme vom Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes für nazistische Meinungen ein Einzelfall geblieben ist, der nicht auf Art. 21 Abs. 2 GG übertragen werden kann.

II. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Frage der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Parteiverboten wird im Schrifttum bereits seit langem diskutiert und ist dogmatisch höchst umstritten. Dabei geht es sowohl um das „Ob“ als auch um das „Wie“ einer möglichen Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeitserwägungen. In ihrem Sondervotum zum Einstellungsbeschluss im ersten Verbotsverfahren gegen die NPD hat die nicht entscheidungstragende Mehrheit der Richter des BVerfG die auch mit Blick auf die EGMR-Rechtsprechung zu Parteiverboten aufkommende Frage einer möglicherweise erforderlichen Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer künftigen Sachentscheidung vorbehalten.568 Im NPD-Urteil bezieht der Senat nun zu dieser Problematik Stellung und spricht sich gegen eine Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Parteiverbotsverfahren aus.569

568  BVerfGE 569  BVerfGE

107, 339 (378 – abw. M.). 144, 20 (230 ff., Rn. 599 ff.).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

1. Diskussionsstand bis zum NPD-Urteil Sowohl im SRP- als auch im KPD-Urteil spielte die Frage der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG keine Rolle. Dies kann jedoch bereits darauf zurückgeführt werden, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als verfassungsrechtliches Prinzip zum Zeitpunkt der Verkündung beider Verbotsurteile noch keinen Eingang in die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung gefunden hatte und damit nicht zum „Standardrepertoire“ des BVerfG gehörte.570 So finden sich erste Überlegungen zur Einbeziehung von Verhältnismäßigkeitserwägungen in die Entscheidung über Parteiverbote erst im Jahr 1971 bei Maurer. Dieser plädiert für eine Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bereits bei der Frage nach der Einleitung eines Verbotsverfahrens und leitet daraus die Pflicht der antragsberechtigten Verfassungsorgane ab, verfassungsfeindliche Parteien zunächst im Wege der politischen Auseinandersetzung zu bekämpfen.571 Daneben begründet Maurer auf Tatbestandsebene seine Forderung nach einer von der Partei ausgehenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, spricht sich also für eine gleich doppelte Berücksichtigung im Parteiverbotsverfahren aus.572 Auch in der späteren Literatur werden Überlegungen zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Parteiverboten mit der Forderung nach einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung als tatbestandliche Eingriffsschwelle verknüpft, indem das Verbot von Parteien, von denen keine derartige Gefahr ausgeht, als unverhältnismäßig angesehen wird.573 Das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“ wird dabei als Einfallstor für Verhältnismäßigkeitserwägungen auf Tatbestandsebene angesehen.574 Auch aus der Rechtsprechung des EGMR seit Ende der 1990er Jahre, der die Verhältnismäßigkeit nationaler Parteiverbote am Maßstab der EMRK misst, ergebe sich für das grundgesetzliche Parteiverbot das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, soll eine Divergenz der Prüfungsmaßstäbe von EGMR und BVerfG verhindert werden.575 Dabei spre570  Stern, StaatsR III/2, S. 770 (Zitat), der das Verhältnismäßigkeitsprinzip erst ab dem Apotheken-Urteil (BVerfGE 7, 377) zum festen Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zählt; Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (153); Shirvani, DÖV 2014, 1074 (1080). 571  Maurer, AöR 96 (1971), 203 (225 f.); ebenso Schliesky, in: Isensee/Kirchhof, HStR XII (2014), § 277 Rn. 38; wohl auch Scherb, RuP 2002, 173 (178). 572  Maurer, AöR 96 (1971), 203 (229). 573  Vgl. Alter, Eingriffsschwelle, S. 226; Park, Verfassungsrechtliche Probleme des Parteiverbots, S. 113 f.; Groh, ZRP 2000, 500 (505). 574  Pforr, ThürVBl. 2002, 149 (153); Alter, AöR 140 (2015), 571 (592). 575  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 251 f.; Emek/Meier, RuP 2013, 74 (79); Shirvani, DÖV 2014, 1074 (1079 f.).



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale293

chen sich Emek und Shirvani für eine eigenständige Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zusätzlich zur Prüfung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG aus.576 Shirvani verweist zudem darauf, dass auch ein Vereinigungsverbot gem. Art. 9 Abs. 2 GG nach herrschender Lehre nur dann in Betracht komme, wenn es den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genüge. Der Vergleich mit Art. 9 Abs. 2 GG zeige, dass die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch bei Parteiverboten methodisch vertretbar sei.577 Schließlich wird von Sichert eine Geltung des Übermaßverbotes im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 GG aufgrund des darin liegenden Spannungsverhältnisses von Freiheitsrechten und Verfassungsschutz gefordert, ohne allerdings darzulegen, wie dem genau Rechnung getragen werden soll.578 Die herrschende Auffassung lehnt eine Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Parteiverboten indes ab. Der Bundesrat begründet dies in seiner Antragsschrift im NPD-Verbotsverfahren bereits mit der fehlenden Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht.579 Vor allem wird aber auf den Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG verwiesen, wonach Parteien, welche die dort genannten Tatbestandsmerkmale erfüllen, verfassungswidrig sind, dem BVerfG also kein Entscheidungsspielraum zukomme.580 Der Verfassungsgeber selbst habe mit der Vorschrift die Entscheidung getroffen, dass ein Parteiverbot bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen verhältnismäßig sei.581 Auch sei im Zuge der Genese des Art. 21 Abs. 2 GG a. F. die Überlegung verworfen worden, dem BVerfG bei der Entscheidung ein Ermessen einzuräumen, welches Raum für Verhältnismäßigkeitserwägungen gelassen hätte.582 Gegen eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spreche nach Ansicht von Schmidt zudem die 576  Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 251 f.; Shirvani, DÖV 2014, 1074 (1080), der von einer Einbindung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Rechtsfolgenseite spricht, nachdem die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG bejaht wurden. 577  Shirvani, DÖV 2014, 1074 (1081) m. w. N. 578  Vgl. Sichert, DÖV 2001, 671 (679). 579  Verbotsantrag Bundesrat, abgedruckt bei Kliegel/Roßbach, NPD-Verbotsverfahren, S. 39 (136 ff.). 580  Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 172; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  21 Rn.  558 (Januar 2018); Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 30; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 72; Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 209; Schmidt, Freiheit verfassungswidriger Parteien, S. 171; Koch, DVBl. 2002, 1388 (1390). 581  Ipsen, in: FS Maurer, S. 163 (172); ders., in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 172; zustimmend Gelberg, Parteiverbotsverfahren, S. 210; Georg, Politik durch Recht, S. 258. 582  Georg, Politik durch Recht, S. 258 f.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

fehlende Vergleichbarkeit der Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit polizeilich relevanten Störungen als dem klassischen Anwendungsfall des Übermaßverbots.583 Der hinter dem Parteiverbot stehende Zweck des präventiven Verfassungsschutzes erlaube keine weitergehenden Einschränkungen, welche die Handhabung des Parteiverbots weiter erschweren.584 2. Argumentation des BVerfG im NPD-Urteil Das BVerfG schließt sich der herrschenden Lehre an und sieht für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgrund der abschließenden Regelung in Art. 21 Abs. 2 GG keinen Raum. Das Gebot der restriktiven Auslegung stehe einem zusätzlich zu prüfenden Tatbestandsmerkmal der Verhältnismäßigkeit zwar nicht entgegen, weil dadurch die Voraussetzungen für ein Parteiverbot gerade verengt würden. Auch könne die grundsätzliche Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 GG nicht schon mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass dieser im Bereich des Staatsorganisationsrechts keine Anwendung finde. Parteien seien gerade nicht dem Bereich organisierter Staatlichkeit zuzuordnen.585 Der Verfassungsgeber habe aber die Entscheidung getroffen, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in Art. 21 Abs. 2 GG zwingend die Feststellung der Verfassungswidrigkeit anzuordnen sei.586 Das ergebe sich sowohl aus dem Wortlaut als auch der Entstehungsgeschichte der Norm, da bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates Überlegungen in Richtung einer Ermessensentscheidung durch das BVerfG letztlich verworfen wurden.587 Die Freiheitsgarantien und Wertentscheidungen des Grundgesetzes seien durch eine restriktive Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG zu berücksichtigen, ohne dass es einer eigenständigen Verhältnismäßigkeitsprüfung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal bedürfe.588 Den in der Literatur vertretenen Ansätzen für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erteilt der Zweite Senat deshalb eine Absage.589

583  Schmidt,

Freiheit verfassungswidriger Parteien, S. 171 f. Freiheit verfassungswidriger Parteien, S. 173 f. 585  BVerfGE 144, 20 (230 f., Rn. 599). 586  BVerfGE 144, 20 (231, Rn. 600). 587  BVerfGE 144, 20 (232, Rn. 601). 588  BVerfGE 144, 20 (232, Rn. 602). 589  BVerfGE 144, 20 (232 f., Rn. 603 ff.). 584  Schmidt,



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale295

3. Aspekte der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelnen Im Folgenden werden die für und gegen eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgetragenen Argumente näher untersucht und die Positionierung des BVerfG dazu im Lichte seiner Gesamtinterpretation des Art. 21 Abs. 2 GG im NPD-Urteil einer Bewertung unterzogen. a) Parteiverbote als Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Die im NPD-Verbotsantrag des Bundesrates aufgeworfene Frage nach e­iner grundsätzlichen Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Parteiverbotsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Geltung dieses Grundsatzes im Staatsorganisationsrecht wurde bis zum NPD-Urteil, soweit ersichtlich, im Schrifttum nicht problematisiert. Lediglich Dollinger hat dieses Problem kurz aufgegriffen, diesem aber letztlich wie das BVerfG im NPD-Urteil keine Relevanz beigemessen, weil die Parteien kein Teil der in­ stitutionalisierten Staatlichkeit seien, sondern frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit sei daher nicht von vornherein einer Verhältnismäßigkeitsprüfung entzogen.590 Letztlich ist Ausgangspunkt dieser Problematik – sofern man überhaupt eine erkennen will – die umstrittene Frage nach dem Rechtscharakter der Parteienfreiheit gem. Art. 21 Abs. 1 GG.591 Selbst wenn man von Art. 21 Abs. 2 GG als einer Bestimmung mit staatsorganisationsrechtlichem Charakter ausgeht, steht dies alleine nicht einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entgegen. Nach einer stark vertretenen Auffassung in der Literatur kann dieser aufgrund seiner Veran­ kerung im Rechtsstaatsprinzip außerhalb der klassischen Konstellation von staatlichen Eingriffen in die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre von Grundrechtsträgern auch im Staatsorganisationsrecht Geltung beanspruchen, sofern auf eine geschützte Rechtsposition eines Staatsorgans bzw. Trägers öffentlicher Gewalt nachteilig eingewirkt wird.592 In der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass der Verhältnis590  Dollinger,

in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 46 Rn. 29. oben Kapitel 2 sub D. II. 592  Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII. Rn. 108  f. (November 2006); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 20 Rn. 188; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 115; Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 147; allgemein befürwortend Heusch, Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 71 f. und 86 ff.; dagegen Voßkuhle, JuS 2007, 429 (430); offengelassen von Huster/Rux, in: BeckOK GG, Art. 20 Rn. 191.1 (Stand: 15.02.2021). 591  Vgl.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

mäßigkeitsgrundsatz im Bereich des Staatsorganisationsrechts bei gesetzgeberischen Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie gem. Art. 28 Abs. 2 GG zu beachten ist.593 Keine Anwendung finden soll der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dagegen im Bereich der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern.594 Eine damit vergleichbare Konstellation liegt bei Art. 21 Abs. 2 GG ohnehin nicht vor. Bei dem Parteiverbot als „demokratieverkürzende Ausnahmenorm“ handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die nach Art. 21 Abs. 1 GG grundsätzlich gewährleistete Parteienfreiheit.595 Unabhängig von der genauen dogmatischen Verortung der Parteienfreiheit steht den Parteien jedenfalls ein subjektives Abwehrrecht gegenüber hoheitlichen Eingriffen in ihre Freiheitssphäre zu. Aufgrund dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Parteienfreiheit und Parteiverbot liegen die strukturellen Voraussetzungen für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG vor.596 b) Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG als gebundene Entscheidung Mit der überwiegenden Literaturansicht sowie dem BVerfG ist festzuhalten, dass der Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG alleine keinen Spielraum für interpretatorische Überlegungen dahingehend eröffnet, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Voraussetzung für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zu machen. Parteien, welche die in Art. 21 Abs. 2 GG normierten Tat­ bestandsmerkmale erfüllen, sind ausweislich des Wortlauts verfassungswidrig. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit erfolgt nach Art. 21 Abs. 4 Alt. 1 GG durch das BVerfG. Sie stellt bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen somit eine gebundene Entscheidung dar. In der jüngeren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung finden sich jedoch Beispiele, bei denen trotz gebundener Entscheidungen und damit entgegen dem Wortlaut der jeweils streitbefangenen Norm, welche kein Entschließungsermessen auf Rechtsfolgenseite einräumt, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt 593  BVerfGE 26, 228 (241); 56, 298 (313); 76, 107 (119); 125, 141 (167); 138, 1 (19 f., Rn.  55); Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 28 Rn. 118; Kloepfer, NVwZ 2017, 913 f. 594  BVerfGE 81, 310 (338). 595  BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524). 596  Vgl. Will, Ephorale Verfassung, S. 361; Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (914), welche sich in diesem Punkt an sich auf Linie des BVerfG bewegen, die letztliche Absage des BVerfG an eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen des Parteiverbots dennoch kritisieren, ohne auf die vom Senat dafür vorgetragenen Gründe einzugehen.



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale297

wurde.597 Begründet wurde dies im Fall einer gebundenen Kostenerstattungsregelung mit aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgenden Billigkeitserwägungen im Einzelfall598, bei prüfungsrechtlichen Entscheidungen mit dem Grundrecht des Art. 12 GG, in das im Einzelfall durch die gesetzlich vorgeschriebene Rechtsfolge unverhältnismäßig eingegriffen würde599 oder bei ausländerrechtlichen Entscheidungen mit der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR.600 Das Hinwegsetzen über die vom Gesetzgeber für den Fall des Vorliegens der Tatbestandsvoraus­ setzungen verbindlich vorgesehene Rechtsfolge durch die Rechtsprechung in den zitierten Entscheidungen ist in der Literatur auf erhebliche Bedenken gestoßen.601 Überwiegend wird von einer Nichtanwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei gebundenen Entscheidungen ausgegangen, weil der Gesetzgeber mit der entsprechenden Bestimmung selbst zum Ausdruck bringt, dass er den Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge als verfassungskonform und verhältnismäßig erachtet.602 Auch das BVerfG sieht ausdrücklich nur dort Raum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, wo dem entscheidungsbefugten Organ ein Entschließungs- und ggf. Auswahlermessen eingeräumt werde.603 Auf die Gewährung eines solchen Ermessens zugunsten des BVerfG bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei, wie noch in Art. 47 HChE vorgesehen, hat der originäre Verfassungsgeber aber als Ergebnis der Diskussion darüber im Parlamentarischen Rat bewusst verzichtet, um verfassungswidrige Bestrebungen aller Parteien gleichmäßig 597  Vgl. BVerwG NJW 2009, 2905 (2906); NVwZ 2012, 1188 (1191 f.); HambOVG, Urt. v. 24.03.2009 – 3 Bf 166/04 –, juris; OVG Münster, Beschl. v. 18.06.2008 – 19 B 870/08 –, juris; VG Schleswig, Urt. v. 22.05.2008 – 12 A 17/08 –, juris. 598  BVerwG NJW 2009, 2905 (2906). 599  BVerwG NVwZ 2012, 1188 (1191 f.); OVG Münster, Beschl. v. 18.06.2008 – 19 B 870/08 –, juris. 600  HambOVG, Urt. v. 24.03.2009 – 3 Bf 166/04 –, juris; VG Schleswig, Urt. v. 22.05.2008 – 12 A 17/08 –, juris. 601  Dazu ausführlich Naumann, DÖV 2011, 96 und Mehde, DÖV 2014, 541. Lediglich im Bereich von abstrakt-generellen Regelungen, welche eine verbindliche Auferlegung von Kosten vorsehen, wird die Heranziehung von Verhältnismäßigkeitserwägungen zur Berücksichtigung von beim Kostenpflichtigen vorliegenden Besonderheiten als vertretbar angesehen, vgl. Naumann, DÖV 2011, 96 (102); Mehde, DÖV 2014, 541 (543). 602  Vgl. Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 148; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 127; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 189; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII. Rn. 123 (November 2006). 603  BVerfGE 144, 20 (231, Rn. 600); zustimmend Uhle, NVwZ 2017, 583 (590); Kluth, ZParl 2017, 676 (683). Auch von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 34 (Juli 2020) stimmt dem BVerfG i. E. zu, kritisiert aber, dass es im NPD-Urteil die Frage der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Tatbestandsmerkmale verortet, obwohl sie ein Aspekt der Rechtsfolge sei.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

zu ahnden.604 Darüber hinaus ist die Konstellation bei Parteiverboten eine andere als bei behördlichen Entscheidungen. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit sind nicht einfachgesetzlich, sondern unmittelbar im Grundgesetz verankert. Grundrechte als zu berücksichtigendes höherrangiges Recht vermögen deshalb im Rahmen der Entscheidung über ein Parteiverbot keine vom Regelfall abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Fraglich bleibt, ob vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR eine konventionskonforme Auslegung der Parteiverbotsnorm eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich macht. Darauf wird noch gesondert eingegangen.605 Sowohl die Genese als auch die Normstruktur von Art. 21 Abs. 2 GG lassen im Rahmen einer grundgesetzautonomen Betrachtung jedenfalls keinen Raum für einen zusätzlichen Prüfungspunkt der Verhältnismäßigkeit. c) Vergleichende Betrachtung mit Art. 9 Abs. 2 GG Ungeachtet der entgegenstehenden entstehungsgeschichtlichen und normstrukturellen Einwände gegen eine Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird kritisiert, dessen Ablehnung durch das BVerfG führe zu dem zweifelhaften Ergebnis, dass ein Vereinigungsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt werde, ein Verbot der aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Stellung deutlich privilegierteren Parteien dagegen nicht.606 Wie Art. 21 Abs. 2 GG sieht auch das Verbot von Vereinigungen nach Art. 9 Abs. 2 GG i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG seinem Wortlaut nach keinen Ermessensspielraum vor („sind verboten“). In der Literatur befürworten gleichwohl einige Stimmen eine Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Vereinsverboten. Neben der allgemeinen Forderung, Vereinigungsverbote am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu messen607, wird insbesondere angeführt, dass mildere Mittel, die ein Vereinigungsverbot abwenden können, gegenüber einem Verbot trotz des strikten Wortlauts in Art. 9 Abs. 2 GG vorrangig seien.608 Andererseits wird vertreten, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz könne nur auf Tatbestandsebene bei der 604  Parlamentarischer Rat, Bd. 13/1, S. 172  ff.; v. Doemming/Füsslein/Matz, in: JöR N. F. 1 (1951), S. 1 (208). 605  Hierzu unten sub d). 606  Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (914); Kingreen, Jura 2017, 499 (505 f.), der aber letztlich in der Auslegung der Tatbestandsmerkmale eine faktische Verhältnismäßigkeitsprüfung sieht. 607  Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 49; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 9 Rn. 21; Siegel/Hartwig, NVwZ 2017, 590 (592 f.). 608  So Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 117 (September 2017); vgl. auch Planker, Vereinsverbot, S.  119 ff.



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale299

Frage nach dem Vorliegen der Verbotsgründe Anwendung finden, während die Rechtsfolgenseite dafür keinen Raum lasse.609 Auch das BVerwG hat zunächst die Unverhältnismäßigkeit eines Vereinsverbots angenommen, wenn mildere Mittel die Durchführung von verfassungsfeindlichen Aktionen hinreichend wirksam verhindern können.610 Von dieser Ansicht ist das BVerwG in einer späteren Entscheidung abgerückt, indem es angenommen hat, dass sich im Fall des Vorliegens einer der Verbotsgründe nach Art. 9 Abs. 2 GG die Verhältnismäßigkeit der Verbotsverfügung unmittelbar aus der Norm selbst ergebe.611 In der Folgezeit hat das BVerwG dann in ständiger Rechtsprechung betont, dass einer Verbotsverfügung nicht die Funktion zukomme, der Behörde auf Rechtsfolgenseite die Ausübung von Ermessen unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu ermöglichen, sondern der Feststellung des Vorliegens einer oder mehrerer Verbotsgründe diene. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei deshalb bereits auf Tatbestandsseite bei der Prüfung der Verbotsvoraussetzungen Rechnung zu tragen.612 Dabei hat es allerdings offengelassen, ob im Ausnahmefall auf Rechtsfolgenseite nicht doch Verhältnismäßigkeitserwägungen anzustellen sind.613 Das BVerfG bündelt schließlich in einer neueren, nach dem NPD-Urteil ergangenen Grundsatzentscheidung zu Vereinsverboten die bisher ergangene bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung.614 Zunächst stellt es dabei klar, dass die Entscheidung über ein Vereinsverbot nicht in ein Ermessen gestellt ist, sondern – wie im Falle des Art. 21 Abs. 2 GG – bei Verwirklichung einer der Verbotstatbestände die Vereinigung zwingend zu verbieten ist.615 Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei aber zu prüfen, ob den durch Art. 9 Abs. 2 GG zu schützenden Gemeinwohlbelangen durch mildere Mittel als ein Verbot der Vereinigung Rechnung getragen werden kann, wie z. B. durch Veranstaltungs- oder Versammlungsverbote oder Maßnahmen gegen einzelne Mitglieder. Art. 9 Abs. 2 GG stehe solchen weniger schwerwiegenden Eingriffen nicht entgegen.616 Zudem seien die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eng auszulegen.617 Die Forderung des BVerfG, aus Verhält609  Cornils,

in: BeckOK GG, Art. 9 Rn. 24 (Stand: 15.08.2020). 37, 344 (361 f.). 611  BVerwG NJW 1981, 1796 (1798). 612  BVerwGE 134, 275 (307, Rn. 87); BVerwG NVwZ-RR 2012, 648 (656); NVwZ 2013, 870 (875, Rn. 56); NVwZ 2013, 521 (525, Rn. 34); BVerwGE 154, 22 (42, Rn. 45). 613  BVerwGE 134, 275 (307 f., Rn. 87). 614  BVerfGE 149, 160. 615  BVerfGE 149, 160 (194, Rn. 101). 616  BVerfGE 149, 160 (194 f., Rn. 102 f.). 617  BVerfGE 149, 160 (196, Rn. 104). 610  BVerwGE

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

nismäßigkeitsgesichtspunkten zunächst mildere Mittel zu ergreifen, um die Ziele der Verbotstatbestände des Art. 9 Abs. 2 GG zu erreichen, ist sowohl für die Frage der Auslegung des Art. 9 Abs. 2 GG als auch Art. 21 Abs. 2 GG indes ohne Bedeutung. Wenn das BVerfG gleichzeitig feststellt, dass bei Vorliegen der Verbotsvoraussetzungen mangels Ermessenseinräumung ein Verbot der Organisation zwingend ist, können mildere Mittel wie Versammlungsverbote oder Sanktionen gegen einzelne Mitglieder anstelle eines Verbots auch nur dann sinnvoll greifen, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Verbot (noch) nicht erfüllt sind. Sowohl Art. 21 Abs. 2 GG als auch Art. 9 Abs. 2 GG verlangen eine verfassungsfeindliche Grundtendenz in der jeweiligen Organisation im Sinne einer fortdauernden, gegen die verfassungsmäßige Ordnung bzw. freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Betätigung. Wenn die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Organisation als Ganzes zurechenbar sind, kann zum Zwecke eines effektiven, präventiven Verfassungsschutzes aber nur deren Verbot in Frage kommen. Davon zu unterscheiden sind einzelne verfassungsfeindliche Aktionen oder „Entgleisungen“ einzelner Mitglieder, denen stets mit hoheitlichen Maßnahmen aus dem Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts oder Strafrechts begegnet werden kann. Derartige Maßnahmen stellen aber kein milderes Mittel im Sinne einer schonenderen Alternative zum Verbot der Organisation dar, sondern deren Anwendungsbereich ist unabhängig von den Verbotstatbeständen, die in solchen Fällen mangels der Organisation zurechenbarer Grundtendenz regelmäßig noch gar nicht einschlägig sind.618 So ist denkbar, dass gegen einzelne Mitglieder oder Betätigungen der Organisation auch während einer laufenden Verbotsprüfung vorgegangen wird. Für die Bekämpfung einer gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Vereinigung oder einer auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheit­ lichen demokratischen Grundordnung ausgehenden politischen Partei steht damit kein milderes, gleich wirksames Mittel zur Verfügung.619 Soweit Kloepfer im neuen Finanzierungsausschlussverfahren gem. Art. 21 Abs. 3 GG das mildere Mittel zum Parteiverbot sieht, welches jedenfalls dann zur Unverhältnismäßigkeit eines Parteiverbots führen soll, wenn die Partei auch durch den Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung hinreichend bekämpft werden kann620, vermag dies nicht zu überzeugen. Es handelt sich beim Finanzierungsausschlussverfahren und Parteiverbotsverfahren 618  Vgl.

BVerfGE 5, 85 (143); 149, 160 (195, Rn. 103). auch Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot, S. 187, mit dem zutreffenden Hinweis, dass ein Organisationsverbot nicht als ultima ratio gegenüber anderen Handlungsmöglichkeiten angesehen werden kann, sondern vom Verfassungsgeber schon durch die tatbestandlichen Voraussetzungen selbst zur ultima ratioLösung erklärt worden ist. 620  Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (919). 619  Vgl.



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale301

trotz ihrer weitgehenden strukturellen Ähnlichkeit um zwei eigenständige Verfahrensarten mit unterschiedlichen tatbestandlichen Eingriffsschwellen, die bei erfolgreichem Ausgang verschiedene, jeweils zwingende Rechtsfolgen auslösen. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Parteiverbot vor, ist durch das BVerfG nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG die Verfassungswidrigkeit der Partei festzustellen, nicht lediglich der Finanzierungsausschluss, mag dieser im Einzelfall zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch ebenso geeignet sein.621 Fehlt es an der Potentialität der Zielverwirklichung, erfolgt dagegen nach Art. 21 Abs. 3 und Abs. 4 Alt. 2 GG der Ausschluss von der staatlichen Finanzierung, sofern ein entsprechender Antrag hilfsweise zum Parteiverbot gestellt wurde. Die Frage, ob und welches der Verfahren oder ggf. beide als Haupt- und Hilfsantrag eingeleitet werden sollen, ist keine der rechtlichen Verhältnismäßigkeit, sondern allein der politischen Opportunität. Auch die Beobachtung verfassungsfeindlicher Parteien durch den Verfassungsschutz in Verbindung mit deren gleichzeitiger politischer Bekämpfung stellt gegenüber dem Parteiverbot kein milderes Mittel dar.622 Die nachrichtendienstliche Beobachtung kann als eine Art „Vorstufe“ zum Parteiverbotsverfahren gesehen werden, weil in der Praxis erst die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Grundlage einer Entscheidung über die Durchführung eines Verbotsverfahrens gemacht werden. Auch die politische Bekämpfung wird in aller Regel bereits stattgefunden haben bzw. auch während eines laufenden Verbotsverfahrens stattfinden. Dabei gilt auch hier, dass diese angesichts der verbindlich angeordneten Rechtsfolge in Art. 21 Abs. 2 GG ohnehin keine Frage der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen eines bereits gestellten Verbotsantrages darstellt, sondern eine solche der politischen Opportunität.623 Der Verweis auf Art. 9 Abs. 2 GG ist mangels einer dort vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung im Ergebnis daher nicht geeignet, eine eigenständige Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Entscheidung über Parteiverbote zu begründen.

621  Kliegel, in: Modrzejewski/Naumann, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, S. 375 (405). 622  Dafür aber Shirvani, JZ 2014, 1074 (1082). 623  Vgl. BVerfGE 144, 20 (233, Rn. 606).

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

d) Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch den EGMR Die Absage des BVerfG an eine Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR und des Gebotes konventionskonformer Auslegung kritisiert.624 Die Überprüfung nationaler Parteiverbote durch den EGMR auf ihre Konventionsmäßigkeit erfolgt am Maßstab einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, die bereits in Art. 11 Abs. 2 EMRK angelegt ist.625 Als legitime Zwecke für ein Parteiverbot kommen danach die nationale oder öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung oder Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral oder der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer in Frage. Weiterhin muss der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Die Prüfung der Notwendigkeit erfolgt durch den Gerichtshof dabei zweistufig: Neben dem Vorliegen eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses muss das Verbot schließlich auch „verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen“ sein.626 Trotz der auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Prüfungsstruktur von EGMR und BVerfG bei Parteiverboten schlägt sich die konventionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung sehr wohl im Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG nieder. Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Zweck des grundgesetzlichen Parteiverbots lässt sich ohne weiteres unter den in Art. 11 Abs. 2 EMRK als legitimes Ziel genannten Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der Rechte und Freiheiten anderer fassen.627 Das Vorliegen eines dringenden sozialen Bedürfnisses für ein Verbot ist bei Parteien gegeben, die auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgehen, auch ohne dass es der Erhöhung der Eingriffsschwelle durch das Potentialitätsmerkmal – und damit erst Recht durch die von Teilen der Literatur geforderte konkrete Gefahr – bedurft hätte. Damit stellt sich noch die Frage nach der Bedeutung der vom EGMR jeweils zum Schluss vorgenommenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Verbots im Hinblick auf die damit verfolgten Ziele für die Auslegung des grundgesetzlichen Parteiverbots. Der Gerichtshof prüft an dieser Stelle lediglich die Angemessenheit des Verbots, d. h. die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, auf Rechtsfolgenseite. Dabei erfolgt Kingreen, Jura 2017, 499 (505). DVBl. 2002, 1388 (1391 f.); hierzu oben Kapitel 2 sub F. IV. 1. 626  Vgl. exemplarisch EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1496, Rn. 133 f.). 627  Klein, ZRP 2001, 397 (400); Koch, DVBl. 2002, 1388 (1391); Pabel, ZaöRV 2003, 921 (940). Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung bislang ein Parteiverbot noch nie an einem illegitimen Zweck scheitern lassen. 624  Vgl.

625  Koch,



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale303

eine Gegenüberstellung der sich aus dem Recht des Konventionsstaates für die betroffene Partei ergebenden Nachteile aus dem Parteiverbot mit der Schwere der bereits zuvor im Rahmen des dringenden sozialen Bedürfnisses festgestellten Bedrohung für die Demokratie.628 Dieser Prüfungsschritt fällt allerdings recht knapp aus und enthält insbesondere keine umfassende Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern. Der EGMR stellt daher bei Vorliegen eines dringenden sozialen Bedürfnisses auch regelmäßig die Angemessenheit des Parteiverbots fest bzw. führt im umgekehrten Fall des Fehlens eines solchen Bedürfnisses zusätzlich auch noch die fehlende Angemessenheit des Verbots an.629 In bislang lediglich zwei Fällen, in denen es um die vereinzelte Billigung von Gewalt durch Parteimitglieder ging, lief die Prüfung des dringenden sozialen Bedürfnisses und der Angemessenheit des Parteiverbots auseinander.630 Der Angemessenheitsprüfung kommt damit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der überwiegenden Zahl der Fälle keine besondere Bedeutung mehr zu. Der konventionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung wird damit bereits durch den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG hinreichend Rechnung getragen.631 Aus der Berücksichtigung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR folgt deshalb nicht das Erfordernis einer zusätzlichen Abwägung durch das BVerfG. e) Lösung des BVerfG: Verhältnismäßigkeitsorientierte Auslegung insbesondere des „Darauf Ausgehens“ Die überwiegende Literatur zum NPD-Urteil ist der Ansicht, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entgegen seiner ausdrücklichen Ableh628  BVerfGE 144, 20 (237, Rn. 615); Emek, Parteiverbote und EMRK, S. 244 ff.; Theuerkauf, Parteiverbote und EMRK, S. 267; Wolter, EuGRZ 2016, 92 (101 f.). 629  Vgl. EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Nr. 19392/92, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP) u. a. ./. Türkei, Rn. 61; EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Nr. 41340/98 u. a., Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) u. a. ./. Türkei, NVwZ 2003, 1489 (1496, Rn. 133 f.); EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 u. a., Herri Batasuna u. Batasuna ./. Spanien, Rn. 92 f. 630  Dazu näher Wolter, EuGRZ 2016, 92 (102). Das BVerfG weist darauf hin, dass der diesen Fällen jeweils zugrunde liegende Sachverhalt den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG ohnehin nicht verwirklicht hätte, da es bereits an einer der Partei zurechenbaren verfassungsfeindlichen Grundtendenz gefehlt hat, vgl. BVerfGE 144, 20 (241, Rn. 623). 631  Im Ergebnis wohl auch Pabel, ZaöRV 2003, 921 (933); Kugelmann, EuGRZ 2003, 533 (540); Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 211; Klafki, in: von Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 100; Arndt/Schubert, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 11 Rn. 45.

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Kap. 4: Die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG

nung durch das BVerfG faktisch bereits auf Tatbestandsebene im Wege des Gebots restriktiver Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, insbesondere aber durch Einfügung des neuen Potentialitätskriteriums, Berücksichtigung gefunden hat und dadurch doch zum Bestandteil der Prüfung nach Art. 21 Abs. 2 GG geworden ist.632 Krüper umschreibt den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG in eigenen Worten daher so: „Nur das Verbot solcher Parteien ist verhältnismäßig, die potentiell eine Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirken können.“633 Anders als in seiner neueren Grundsatzentscheidung zu den Voraussetzungen eines Vereinsverbots, in der sich das BVerfG ausdrücklich für eine Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeitserwägungen auf Tatbestandsebene ausgesprochen hat634, heißt es im NPD-Urteil, „dass der Senat bei der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale der Norm die Freiheitsgarantien und Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen und mit dem Schutzzweck der Norm ‚ins Verhältnis zu setzen‘ hat, um Widersprüche zu vermeiden und die größtmögliche Konkordanz der betroffenen Rechtsgüter herbeizuführen. Dies ist aber Teil der Normauslegung und von einer eigenständigen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu unterscheiden.“635

In Anbetracht der zwingenden Rechtsfolge, die keinen Spielraum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässt, ist aus Sicht des BVerfG somit eine verhältnismäßigkeitsorientierte Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale vorzunehmen, um ein Parteiverbot angesichts des schwerwiegenden Eingriffs in die Parteienfreiheit und den politischen Willensbildungsprozess letztlich zu rechtfertigen. Neben der vielfach zu Recht kritisierten Neuinterpretation des die Eingriffsschwelle markierenden Tatbestandsmerkmals „da­ rauf ausgehen“ können auch die menschenwürdezentrierte, reduzierte Definition des Schutzguts der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ sowie das abgestufte Zurechnungskonzept hinsichtlich des Anhängerverhaltens als Ausdruck eines Einsickerns von Verhältnismäßigkeitserwägungen in die tatbestandlichen Voraussetzungen des Parteiverbots angesehen werden. Darin ist aber entgegen einzelner Literaturstimmen weder ein „offenbarer Widerspruch“ zu der ausdrücklichen Zurückweisung des BVerfG an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung als Tatbestandsmerkmal noch eine versteckte Verhält-

632  Vgl. Will, Ephorale Verfassung, S. 360; Ipsen/Koch, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 172; Ipsen, RuP 2017, 3 (5 f.); Höhner/Jürgensen, MIP 2017, 103 (110); Shirvani, DÖV 2017, 477 (482); van Ooyen, RuP 2017, 468 (469); Krüper, ZJS 2017, 365 (369); Kluth, ZParl 2017, 676 (683); Ebert/Karaosmanoğlu, DVBl. 2017, 375 (377). 633  Krüper, ZJS 2017, 365 (369). 634  BVerfGE 149, 160 (196, Rn. 104). 635  BVerfGE 144, 20 (232, Rn. 602).



E. Absage an ungeschriebene Tatbestandsmerkmale305

nismäßigkeitsprüfung zu sehen.636 Der Senat betont gerade selbst, dass er über die restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale hinaus lediglich keinen Raum für eine eigenständige Verhältnismäßigkeitsprüfung als zusätzliches Tatbestandsmerkmal sieht. Dies ist gerade konsistent mit der noch vor Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale zum Gebot erklärten Berücksichtigung des „Regel-Ausnahme-Verhältnisses“ zwischen Parteienfreiheit und Parteiverbot, die der Eingriffswirkung des Parteiverbots in den demokratischen Prozess bereits im Rahmen der in Art. 21 Abs. 2 GG normierten Anforderungen Rechnung tragen soll.637 4. Fazit Die Absage des BVerfG an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Entscheidung über ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG dürfte für die Praxis den Schlusspunkt unter die seit langem in der Wissenschaft darüber geführte Diskussion setzen. Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Parteiverbotstatbestandes stehen einer eigenständigen Anwendung dieses Grundsatzes klar entgegen. Auch aus einem Vergleich mit Art. 9 Abs. 2 GG sowie der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Parteiverboten lässt sich die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Parteiverboten nicht überzeugend ableiten. Eine solche Prüfung nach dem klassischen Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit bringt keinen erkennbaren Mehrwert mit sich, weil der Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG bereits selbst Ausdruck der Abwägungsentscheidung des Verfassungsgebers ist und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines Parteiverbots beantwortet. Durch eine im Rahmen des methodisch vertretbaren und insbesondere in den Grenzen des jeweiligen Wortsinns vorzunehmende, möglichst restriktive Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale kann dem hinter dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehenden Gedanken, staatliche Eingriffe in die Freiheitssphäre der Partei und in die Freiheit des politischen Willensbildungsprozesses des Volkes so gering wie möglich zu halten, hinreichend Rechnung getragen werden.

636  So aber Ipsen, RuP 2017, 3 (6) (Zitat); van Ooyen, RuP 2017, 468 (469); van Ooyen/Möllers, in: dies., Parteiverbotsverfahren (2017), S. 11 (16). 637  BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524).

Kapitel 5

Gesamtfazit und Ausblick Das Urteil des BVerfG vom 17. Januar 2017 reiht sich wie das SRP- und KPD-Urteil zuvor ein in die Liste epochaler Entscheidungen zum Staatsorganisationsrecht. Seine Wirkungen reichen dabei über die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG hinaus. Unmittelbar hat die Entscheidung zunächst die materiellen Anforderungen für ein Parteiverbot im Vergleich zu den bisherigen Maßstäben erhöht. Dies ist zurückzuführen auf eine Einengung des Schutzguts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die anstelle einer katalogartigen Aufzählung wichtiger Elemente des Staatsaufbaus und -verständnisses der Bundesrepu­ blik Deutschland fortan nur noch das enthält, was als absolutes Minimum eines jeden nicht-totalitären Staates angesehen werden muss. Vor allem aber muss die von den Antragstellern als verfassungsfeindlich eingestufte Partei – mag sie ihre Verachtung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch planvolles Handeln und gezielte Provokationen nach außen hin noch so eindeutig kundtun – die neue Hürde der Potentialität nehmen, um verboten werden zu können. Das Hineinlesen dieser Potentialität in das Tatbestandsmerkmal des „Darauf Ausgehens“ vermag im Gesamtkontext der Entscheidung nicht zu überzeugen und hätte einer ausführlicheren Begründung bedurft. Ungeachtet der methodischen Bedenken eines solchen Tatbestandsverständnisses von Art. 21 Abs. 2 GG stellt sich mit Blick auf die Zukunft des Parteiverbotsverfahrens die Frage, ob das BVerfG durch letzteres Kriterium das Parteiverbot tatsächlich „der Verfassungsgeschichte überantwortet“ hat, um die bereits eingangs zu dieser Arbeit zitierte Prognose (oder Befürchtung?) von Ipsen aufzunehmen. Da Parteiverbote in der Demokratie des Grundgesetzes ohnehin die seltene Ausnahme darstellen sollen, der Rückgriff auf dieses Instrument vorher gut überlegt sein will und die Notwendigkeit eines Parteiverbots schließlich auch von der politischen Entwicklung im Land abhängt, sind derartige Vorhersagen stets spekulativ.1 Bereits nach dem gescheiterten ersten Verbotsverfahren gegen die NPD wurde an­ gesichts der vom BVerfG im Einstellungsbeschluss an die Adresse der An1  Vgl. auch von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 46 Rn. 3 (Juli 2020), nach dem das BVerfG trotz der hohen Hürden nicht das Ende des Parteiverbotsverfahrens eingeläutet haben muss.



Kap. 5: Gesamtfazit und Ausblick307

tragsteller geforderten Staatsfreiheit der politischen Partei vor und im Verbotsverfahren dessen künftige Undurchführbarkeit prophezeit. Das zweite NPD-Verbotsverfahren hat diese Bedenken widerlegt. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Durchführung des Verbotsverfahrens sind für die Antragsteller letztlich mit organisatorischen Herausforderungen in der Vorbereitung auf einen Verbotsantrag verbunden. Aufgrund der nun weitgehend klaren Vorgaben des BVerfG haben es die Antragsteller hier aber selbst in der Hand, das Verfahren durch eine entsprechend frühzeitige Abschaltung von V-Personen in den Führungsebenen der Partei und die Erstellung einer Nachweisdokumentation sorgfältig vorzubereiten. Mit Blick auf das Potentialitätsmerkmal liegen die praktischen Schwierigkeiten künftiger Verbotsanträge in der Vagheit dieser Eingriffsschwelle, deren Vorliegen das BVerfG im Rahmen einer „wertenden Gesamtbetrachtung“ feststellen will. Die Zustimmung zu einer Partei und deren Kampagnenfähigkeit sind von vielen Faktoren abhängig und stets Momentaufnahmen, die sich im Vorfeld eines Parteiverbotsverfahrens und schließlich auch während des (erfahrungsgemäß über einen längeren Zeitraum laufenden) Verfahrens ändern können und somit zu einer erheblichen Prognoseunsicherheit auf Seiten der Antragsteller führen. Der entscheidendere Grund für die noch weiter abnehmende praktische Relevanz des grundgesetzlichen Parteiverbots liegt aber in der Einführung des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens nach Art. 21 Abs. 3 GG. Die Feststellung des Ausschlusses einer Partei von der staatlichen Teilfinanzierung erfordert im Unterschied zum Parteiverbot keine Potentialität der Zielerreichung und wird damit zumindest im Hinblick auf die tatbestand­ lichen Voraussetzungen leichter durchzusetzen sein. Ob ein solcher, zunächst auf sechs Jahre zeitlich befristeter Finanzierungsausschluss ein effektives Instrument zur Bekämpfung verfassungsfeindlicher Parteien darstellt, wird sich zeigen müssen. Zumindest die prozessuale Vorbereitung eines Antrags im Finanzierungsausschlussverfahren wird aber nicht weniger Aufwand erfordern als die Einleitung eines Verbotsverfahrens, weil mit einer Übertragung der verfahrensrechtlichen Grundsätze aus dem Parteiverbotsverfahren auf das neue Verfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG durch das BVerfG zu rechnen ist. Dennoch ist davon auszugehen, dass dem Finanzierungsausschlussverfahren gegenüber dem Parteiverbot künftig die größere praktische Bedeutung zukommen wird.2 Diese Entwicklung wollte das BVerfG mit seinem Hinweis auf entsprechende Handlungsmöglichkeiten des verfassungsändernden Gesetzgebers erkennbar selbst beeinflussen und damit einen Beitrag zur Fortschreibung des positiven Verfassungsrechts leisten. Durch die verfassungsprozessual ausdrücklich zulässige Kombination des Parteiverbots- und 2  Ebenso Kluth, ZParl 2017, 676 (690); Känner, KritV 2019, 57 (75); Shirvani, Jura 2020, 448 (455 f.).

308

Kap. 5: Gesamtfazit und Ausblick

Parteifinanzierungsausschlussantrags als Haupt- und Hilfsantrag könnte das Parteiverbotsverfahren in Zukunft aber doch noch zum Einsatz kommen – steht nämlich fest, dass die Partei die freiheitliche demokratische Grundordnung in planvoller Weise bekämpft, wird zumindest der hilfsweise gestellte Antrag auf Ausschluss von der staatlichen Teilfinanzierung erfolgreich sein und sich der Schaden für die antragstellenden Organe (nach zuvor zwei gescheiterten Verbotsverfahren) in Grenzen halten.3 Als eine der Konsequenzen aus dem NPD-Urteil wird im Schrifttum teilweise eine neue Kategorie der verfassungsfeindlichen, aber nicht verbotenen Partei gesehen, die eine Fortentwicklung des bisher strikten Entweder-Oder zwischen nicht verbotenen und verbotenen Parteien darstelle und deren Behandlung verfassungsrechtliche Folgefragen aufwerfe.4 Die Frage der möglichen Streichung staatlicher Mittel für verfassungsfeindliche Parteien hat der verfassungsändernde Gesetzgeber inzwischen selbst mit Art. 21 Abs. 3 GG beantwortet – das BVerfG wird im Rahmen des aktuell laufenden NPD-Finanzierungsausschlussverfahrens ausführlich Gelegenheit dazu bekommen, sich zu den Voraussetzungen und Rechstfolgen des neuen Verfahrens zu äußern. Im Übrigen gilt indes weiterhin, dass verfassungsfeindliche, aber nicht verfassungswidrige Parteien unter dem Schutz des Parteienprivilegs stehen und an ihre politische Ausrichtung keine negativen Rechtsfolgen geknüpft werden dürfen.5 Insgesamt zeugt das Urteil des BVerfG von dem Vertrauen der Richter in die zivilgesellschaftliche und politisch-argumentative Wehrhaftigkeit einer mittlerweile gefestigten deutschen Demokratie und kann als Plädoyer für ei3  Vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, § 46a Rn. 7, wonach ein originäres Finanzierungsausschlussverfahren auch deshalb wenig zweckmäßig wäre, weil in einem solchen Verfahren wie zu einem Parteiverbotsverfahren vorgetragen werden muss, allerdings mit dem Zusatz, ein Parteiverbot komme nicht in Betracht. 4  Vgl. Gusy, NJW 2017, 601 (604) und van Ooyen/Möllers, in: dies., Parteiverbotsverfahren (2017), S. 11 (16), die aber nicht ganz zutreffend von „verfassungswidrig, aber nicht verboten“ sprechen; Klafki, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 21 Rn. 118; Hillgruber, JA 2017, 398 (400); Känner, KritV 2019, 57 (72). Zu den Auswirkungen des NPD-Urteils auf die Materien des Besonderen Verwaltungsrechts Siegel/Hartwig, NVwZ 2017, 590. 5  Towfigh/Keesen, in: BK GG, Art. 21 Rn. 631 (Juli 2020); Kingreen, JA 2017, 499 (507); Ipsen, RuP 2017, 3 (7). Dies wurde nach dem NPD-Urteil auch durch die Verwaltungsgerichte bestätigt, die in einigen Fällen den der NPD unter Berufung auf das Argument der „offiziell“ verfassungsfeindlichen, aber nicht verbotenen Partei verwehrten Zugang zu kommunalen Einrichtungen oder die Kürzung kommunaler Fraktionszuwendungen für rechtswidrig erklärt haben, vgl. VG Gießen, Beschl. v. 20.12.2017 – 8 L 9187/17.GI –, juris (bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 24.03.2018 – 1 BvQ 18/18 –, juris); OVG Saarlouis NVwZ 2018, 183; BVerwG NVwZ 2018, 1656.



Kap. 5: Gesamtfazit und Ausblick309

nen aus verfassungsrechtlicher Perspektive gelasseneren Umgang mit extremistischen Parteien gewertet werden. Gleichzeitig weist es sich selbst durch den Prognosespielraum im Rahmen der Potentialität eine noch stärkere Rolle bei der Entscheidung über Parteiverbote und die Notwendigkeit einer Ak­ tivierung verfassungsrechtlicher Instrumente zum Schutz der Demokratie zu.6

6  Vgl. auch Gläß, DÖV 2020, 263 (267), die in der restriktiven Handhabung der Verbotsvoraussetzungen eine Stärkung der Rolle des BVerfG als „Hüter der Verfassung“ sieht.

Kapitel 6

Zusammenfassung 1. Das Parteiverbot als eines der Instrumente streitbarer Demokratie des Grundgesetzes steht nicht im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien, sondern ist Ausdruck einer dem Demokratieprinzip eigenen Selbstbeschränkung. Die Menschenwürde gebietet zu jeder Zeit die freie Entfaltung und Rechtsgleichheit eines jeden Menschen und setzt damit die Beschränkung staatlichen Machtmissbrauchs voraus. Die Verwendung demokratischer Freiheiten zur Abschaffung der Demokratie und deren Ersetzung durch ein totalitäres System stellt sich als unumkehrbare Entscheidung dar und findet im Demokratieprinzip daher keine Legitimation. 2.  Die Veränderung der sozio-politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland seit den Verbotsurteilen gegen SRP und KPD in den 1950er Jahren hat nicht zu einem Geltungsverlust des Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 Alt. 1 GG geführt. Der Regelungsbereich des Parteiverbots als verfassungsunmittelbare Schranke der grundgesetzlich geschützten Parteienfreiheit ist dadurch nicht weggefallen. Die Demokratie des Grundgesetzes ist auch im 21. Jahrhundert weiterhin Gefahren ausgesetzt; die Sicherung der Demokratie bleibt eine Daueraufgabe. 3. Trotz der verfassungstheoretischen Legitimität des Parteiverbots und seinem fortwährenden Geltungsanspruch in der gefestigten Demokratie des Grundgesetzes gilt es sich stets bewusst zu machen, dass dieses einen schwerwiegenden Eingriff in die Parteienfreiheit und die Freiheit des politischen Willensbildungsprozesses darstellt und darüber hinaus in einem Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG steht. Eine auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei lautende Entscheidung führt weiterhin zum Mandatsverlust des Abgeordneten und greift damit in die Freiheit des Mandats nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und, sofern das Verbot von parlamentarischen Äußerungen der Abgeordneten getragen wird, auch in den Indemnitätsschutz nach Art. 46 Abs. 1 GG ein. Bereits die Konstruktion der Parteiverbotsregelung selbst trifft Vorkehrungen gegen seine missbräuchliche Anwendung zur Ausschaltung unliebsamer politischer Gegner und stellt darüber hinaus einen Fortschritt gegenüber der Rechtslage in der Weimarer Republik dar: So ist das Parteiverbot als Verfassungsbestimmung korrespondierend zur verfassungsrechtlichen Einrichtungsgarantie der



Kap. 6: Zusammenfassung311

Parteien direkt im Grundgesetz verankert und nicht nur einfachgesetzlich geregelt. Im Unterschied zu sonstigen Vereinigungen liegt die Entscheidungskompetenz nicht bei der Exekutive, sondern beim BVerfG, welches am Ende eines förmlichen Verfahrens über das Verdikt der Verfassungswidrigkeit entscheidet. Seinem Ausnahmecharakter ist zudem durch bestimmte rechtsstaatliche Verfahrensanforderungen sowie eine restriktive Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen. 4. Seit dem Ende der 1990er Jahre spielen nationale Parteiverbote der Konventionsstaaten auch in der Rechtsprechung des EGMR eine Rolle, der diese am Maßstab der durch Art. 11 Abs. 2 EMRK garantierten Vereinigungsfreiheit misst. Der Grundsatz der konventionskonformen Auslegung gilt auch für Art. 21 Abs. 2 GG. Dem Aufbau der Urteilsbegründung im NPD-Urteil nach dient die Rechtsprechung des EGMR jedoch nicht der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, sondern lediglich der Bestätigung des bereits vorher durch das BVerfG gefundenen Ergebnisses. Indes dürfte die Rechtsprechung des EGMR tatsächlich das ausschlaggebende Motiv für die Erhöhung der Eingriffsschwelle im Rahmen des „Darauf Ausgehens“ gewesen sein. 5. Das zweite NPD-Verbotsverfahren 2013–2017 stellt das insgesamt sechste Parteiverbotsverfahren und darunter erst die dritte Sachentscheidung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dar, von denen nur die ersten beiden Verfahren gegen SRP und KPD erfolgreich waren. Die Argumentationsleistung des NPD-Urteils geht über diejenige des SRP- und KPDUrteils hinaus. Eine nähere Präzisierung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ist angesichts der Eingriffsqualität des Parteiverbots auch angezeigt gewesen, da sich das SRP-Urteil im Wesentlichen auf die Feststellung der Wesensverwandtschaft der SRP mit der NSDAP abseits der Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG beschränkt hat und auch die interpretatorischen Ausführungen des BVerfG im KPD-Urteil nur knapp ausgefallen sind. 6. Die Regelungen des BVerfGG zum Parteiverbotsverfahren enthalten keine Bestimmungen zu möglichen Verfahrenssicherungen zugunsten der durch das Verbotsverfahren inkriminierten Partei. Im NPD-Einstellungsbeschluss aus dem Jahr 2003 hat das BVerfG als Konsequenz aus dem Bekanntwerden der Tätigkeit von V-Leuten in den Vorständen der NPD erstmals das Gebot der Staatsfreiheit im Parteiverbotsverfahren postuliert. Im NPDUrteil bestätigt der Zweite Senat diese Linie im Wesentlichen und differenziert sie zu drei Verfahrensmaximen aus: dem Gebot strikter Staatsfreiheit, dem Gebot der Quellenfreiheit und dem Grundsatz des fairen Verfahrens. a)  Entgegen der vom BVerfG gewählten Formulierung besteht sowohl im Vorfeld eines Parteiverbotsverfahrens als auch im Verfahren kein Erfordernis

312

Kap. 6: Zusammenfassung

„strikter Staatsfreiheit“. Die nachrichtendienstliche Observation unterhalb der Führungsebene der Partei ist weiterhin zulässig, sodass die Behörden ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen als Ausprägung des Prinzips streitbaren Demokratie weiterhin nachkommen können. Hinsichtlich der Tätigkeit von V-Leuten in den Vorständen der Partei stellt das BVerfG eine unwiderlegbare Vermutung auf, dass diese ungeachtet der Frage ihrer tatsächlichen Einflussnahme in dem relevanten Zeitraum zu einer Verfälschung der parteiinternen Willensbildung und damit auch zum äußeren Erscheinungsbild der Partei führen. Dies überzeugt, weil das Interesse an der Verlässlichkeit und Transparenz des Verbotsverfahrens das einer regelmäßig nur schwer durchzuführenden Aufklärung im Einzelfall, ob es mittels einer V-Person tatsächlich zu staatlicher Einflussnahme auf die Partei gekommen ist, überwiegt. b)  Das Gebot der Quellenfreiheit ist kein eigenständiger Verfahrensgrundsatz, sondern ein Unterfall des Staatsfreiheitsgebotes. Das BVerfG misst diesem aber eine besondere Bedeutung für das Parteiverbotsverfahren zu, indem es bestimmte Grundsätze für die Zurechenbarkeit bzw. Verwertbarkeit des auf V-Leute zurückzuführenden Beweismaterials etabliert. Dafür hätte es aber keines Rückgriffs auf ein aus der Verfassung abgeleitetes Gebot der Quellenfreiheit bedurft. Kann nämlich das vom Antragsteller vorgelegte Beweismaterial der Partei nicht zugerechnet werden – dies wird regelmäßig bei den Tatbestandsmerkmalen der „Ziele“ und des „Verhaltens der Anhänger“ von Relevanz sein – ist der Verbotsantrag als in der Sache unbegründet zurückzuweisen. c) Das Recht auf ein faires Verfahren ist ein allgemeines Prozessgrundrecht und findet auch im Parteiverbotsverfahren Anwendung. Ergänzend zum Gebot der Staatsfreiheit garantiert der Fair-trial-Grundsatz, dass die Partei die Hoheit über ihre Verfahrensstrategie und Verhandlungskonzeption behält und im Zuge der Beobachtung durch staatliche Behörden erlangte Informa­ tionen nicht zu ihren Ungunsten verwerten werden. d)  Der Verstoß gegen einen der drei genannten Grundsätze stellt zunächst einen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht dar. Ob daraus ein unbehebbares Verfahrenshindernis mit der Folge der Einstellung des Parteiverbotsverfahrens resultiert, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe im Rahmen einer Abwägung zwischen der Schwere des Verfassungsverstoßes und den von der Partei ausgehenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu ermitteln. Das Parteiverbotsverfahren kann sich dadurch trotz einer strengen rechtsstaatlichen Einhegung weiterhin als effektives Instrument streitbarer Demokratie erweisen. Im Rahmen eines Verstoßes gegen das Gebot der Quellenfreiheit bleibt indes kein Raum für eine zusätzliche Abwägung, weil das BVerfG einen nicht ausgleichbaren Verfahrensmangel ohnehin



Kap. 6: Zusammenfassung313

erst dann annimmt, wenn das Parteiverbotsverfahren auf Grundlage des verbliebenen, nicht infizierten Materials nicht mehr durchgeführt werden kann. e)  Die rechtsstaatlichen Verfahrensmaximen gelten ebenso für die Durchführung des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens. Das BVerfG wird im Rahmen seiner Entscheidung im laufenden NPD-Finanzierungsausschlussverfahrens erstmals die Gelegenheit erhalten, zu der Frage der Übertragung seiner für das Parteiverbotsverfahren entwickelten Maßstäbe auf das neue Verfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG Stellung zu beziehen. 7.  Das BVerfG hält im NPD-Urteil nicht weiter an seiner bisherigen, aus dem SRP-Urteil entstammenden katalogartigen Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fest. a)  Während die bisherige Definition aus einer Kompilation wichtiger Elemente der grundgesetzlichen Ordnung bestand und ihren Ursprung erkennbar in einer einfachgesetzlichen Regelung des politischen Strafrechts hatte, ist die im NPD-Urteil erfolgte Reduzierung des Begriffsinhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf die drei Elemente Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat Ausdruck eines universellen Grundordnungsverständnisses: Nur das, was als Mindestinhalt eines jeden freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates angesehen werden muss, gehört zum Inhalt dieser Ordnung. b)  Der Vergleich zwischen der früheren Definition und der im NPD-Urteil zeigt, dass die Elemente der Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaates zwar auch schon in den bisherigen Grundordnungsbestandteilen enthalten waren, doch nur in Gestalt einzelner grundgesetzlicher Ableitungen. Kennzeichnend für den nun reduzierten Ansatz ist die Zentralität der Menschenwürde. Das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip werden nur insoweit von der Grundordnung umfasst, als dies zur Sicherung der Menschenwürde des Einzelnen im Staat erforderlich ist. c)  Vor dem Hintergrund der engeren Auslegung sowie der Internationalisierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist es folgerichtig, den Inhalt dieser Grundordnung nicht mit den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Prinzipien gleichzusetzen, weil diese nur den nicht-revisibelen Kern des Grundgesetzes darstellen und über das hinausgehen, was allgemein konstituierend für eine freiheitliche Demokratie sein muss. d) Da die bisherige Legaldefinition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in § 4 Abs. 2 BVerfSchG weitgehend dem bundesverfassungsgerichtlichen Verständnis aus dem SRP-Urteil nachgebildet ist, sollte der Gesetzgeber diese an die neue Rechtsprechung des BVerfG anpassen. 8.  Im NPD-Urteil unterscheidet das BVerfG erstmals zwischen den beiden Störungsalternativen des „Beeinträchtigens“ und „Beseitigens“. Die neue

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Kap. 6: Zusammenfassung

Defi­nition des Begriffs „Beeinträchtigen“ kann aber nicht überzeugen, da sie mit den Formulierungen „hinreichende Intensität“, „spürbare Gefährdung“ und „qualifiziertes Betreiben der Außerkraftsetzung der bestehenden Verfassungsordnung“ weitere unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und nicht zur Klärung des Begriffsinhalts sowie zur Abgrenzung zur Tatbestandsalternative des „Beseitigens“ beitragen kann. Da die drei konstitutiven Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung untrennbar miteinander verschränkt sind, liegt in dem Angriff auf eines der Elemente in jedem Fall ein Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung insgesamt. Auf eine Unterscheidung der beiden Begriffe in der Praxis kann daher verzichtet werden. Ein Redaktionsversehen des Verfassungsgebers stellt die Störungs­ alternative des „Beeinträchtigens“ gleichwohl nicht dar. 9. Das BVerfG hält im NPD-Urteil an seinen früheren Definitionen der „Ziele“ und der „Anhänger“ fest. Hinsichtlich des Anhängerverhaltens hat das BVerfG ein überzeugendes Zurechnungskonzept entwickelt, welches näher präzisiert, unter welchen Voraussetzungen sich die Partei die Handlungen bestimmter Gruppen von Anhängern zurechnen lassen muss. Die Zurechenbarkeit von Äußerungen oder sonstiger Handlungen der Parteianhänger hat sich nach dem Grad der Einflussmöglichkeiten der Partei und der Repräsentationswirkung des jeweiligen Anhängers für die Partei zu bemessen. Insbesondere bei Gewalttaten bedarf es stets einer Prüfung im Einzelfall, ob diese auch als Ausdruck der Parteilinie angesehen werden können. Der Indemnitätsschutz steht einer Zurechnung parlamentarischer Äußerungen von Abgeordneten der vom Verbotsverfahren betroffenen Partei nicht entgegen. Diese stellen eines der wichtigsten Erkenntnismittel für die Ermittlung des politischen Konzepts einer Partei dar. Das bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Indemnitätsschutz und dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung muss deshalb zugunsten einer zulässigen Verwertung parlamentarischer Äußerungen im Parteiverbotsverfahren aufgelöst werden. 10.  Beide Erkenntnisquellen der Ziele einer Partei und des Anhängerverhaltens stehen nebeneinander. Zwischen beiden besteht aber eine Wechselwirkung dergestalt, dass sich die Ziele einer Partei im Verhalten ihrer Anhänger widerspiegeln können, während umgekehrt das der Partei zurechenbare Anhängerverhalten wiederum Rückschlüsse auf die (tatsächliche) Zielsetzung der Partei zulässt. 11. Dem Tatbestandsmerkmal des „Darauf Ausgehens“ kommt im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG die Funktion einer Eingriffsschwelle zu. Das BVerfG wertet die Formulierung im NPD-Urteil zur entscheidenden Voraussetzung für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei auf, indem es dieser das Merkmal der „Potentialität“ entnimmt. Danach müssen konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es möglich erscheinen lassen, dass



Kap. 6: Zusammenfassung315

das gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann. Das Hineinlesen der Potentialität in den Parteiverbotstatbestand begegnet aber sowohl inhaltlichen wie auch methodischen Bedenken. a) Aufgrund des sich durch das BVerfG selbst eingeräumten Prognosespielraums werden eventuelle künftige Verbotsverfahren mit einer hohen Prognoseunsicherheit belastet sein, zumal die Stärke der betroffenen Partei während des Verbotsverfahrens Schwankungen unterliegen kann. b)  Das Potentialitätskriterium kann ferner nicht einer Auslegung des „Darauf Ausgehens“ nach Wortsinn, Entstehungsgeschichte und Telos entnommen werden. Zum Zeitpunkt des NPD-Urteils konnte sich die Potentialität auch nicht als Ergebnis einer systematischen Auslegung darstellen. Ebenso ist das Merkmal der Potentialität nicht mit einem Verfassungswandel zu begründen. c) Mit der Einfügung des Art. 21 Abs. 3 GG nach dem NPD-Urteil und des sich daraus ergebenden neuen systematischen Verhältnisses zu Art. 21 Abs. 2 GG hat der verfassungsändernde Gesetzgeber jedoch die bundesverfassungsgerichtliche Auslegung des „Darauf Ausgehens“ im Grundgesetz verankert. d)  Es bedurfte keiner Aufladung des Tatbestandsmerkmals „darauf ausgehen“ mit dem Kriterium der Potentialität, um die bis zum NPD-Urteil geltende Eingriffsschwelle mit den Vorgaben der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zur Konventionskonformität nationaler Parteiverbote zu synchronisieren. Der bisherigen Rechtsprechung des EGMR kann nicht eindeutig entnommen werden, dass ein durch einen Konventionsstaat verhängtes Parteiverbot nur dann vor dem Gerichtshof standhalten kann, wenn eine Erfolgsaussicht hinsichtlich der von der Partei verfolgten demokratiefeindlichen Ziele besteht. Letztlich stellt das Potentialitätserfordernis damit ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal innerhalb des Art. 21 Abs. 2 GG dar. 12.  Im unmittelbaren Anschluss an diese Schöpfung der Potentialität lehnt das BVerfG die Annahme ungeschriebener Tatbestandsmerkmale in Art. 21 Abs. 2 GG ab. Dies betrifft ausdrücklich die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. a) Die Ablehnung eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus als hinreichende Voraussetzung für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit überzeugt. Das Parteiverbot erfordert, wie das Vereinsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG auch, neben einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung darüber hinausgehende entsprechende Verhaltensweisen. Das Bekenntnis zur Ideologie des Nationalsozialis-

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Kap. 6: Zusammenfassung

mus alleine trägt noch kein Parteiverbot. Das NPD-Urteil kann deshalb auch als eine Abkehr vom SRP-Urteil des BVerfG gesehen werden: Dort kam der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus praktisch eine tatbestandsersetzende Wirkung zu und überlagerte die Subsumtion der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG. Aufgrund dieser juristisch-methodischen Defizite eignet sich das SRP-Urteil nicht, um einen spezifisch antinationalsozialistischen Sondertatbestand für Parteiverbote zu begründen. Der Senat bestätigt im NPD-Urteil vielmehr seine Linie aus dem „Wunsiedel“Beschluss, wonach das Grundgesetz kein antinationalsozialistisches Grundprinzip kenne. b) Ebenso überzeugend ist die Absage an eine Prüfung der Verhältnis­ mäßigkeit als Tatbestandsmerkmal im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 GG. Der Parteiverbotstatbestand als gebundene Entscheidung lässt ebenso wie die Parallelvorschrift zum Vereinsverbot in Art. 9 Abs. 2 GG keinen Raum für eine eigenständige Verhältnismäßigkeitsprüfung. Auch aus der Rechtsprechung des EGMR folgt nicht die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung für Art. 21 Abs. 2 GG. Diese ist nämlich bereits im Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG selbst angelegt und kann darüber hinaus, wie geschehen, über eine restriktive Auslegung der einzelnen Voraussetzungen für ein Parteiverbot realisiert werden. 13.  Aufgrund der höheren materiellen Hürden für ein Parteiverbotsverfahren und der Einführung des neuen Finanzierungsausschlussverfahrens unterhalb der Schwelle des Parteiverbots in Art. 21 Abs. 3 GG ist davon auszugehen, dass Letzteres in Zukunft eine größere Rolle im Kampf gegen extremistische Parteien spielen wird. Da ein Antrag im Finanzierungsausschlussverfahren aber hilfsweise zu einem Parteiverbotsantrag gestellt werden kann, ist denkbar, dass künftige Antragsteller zunächst auch beide Verfahren beschreiten werden und das BVerfG entgegen der Prognose einiger Literaturstimmen doch noch in einem Parteiverbotsverfahren entscheiden wird.

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Sachwortverzeichnis Anhängerverhalten  211 ff. Antinationalsozialistisches Grundprinzip  288 ff. Auslegungsmethoden  206 f., 250 ff.

Parteienprivileg  58, 106 f. Parteiziele  208 ff. Potentialität  227 ff. Praktische Konkordanz  223

Beeinträchtigen  196 ff. Beseitigen  196 ff. Bundesstaatsprinzip  162 ff., 186 f.

Quellenfreiheit  125 ff.

Darauf Ausgehen  227 ff. Demokratieprinzip  47 ff., 170 ff., 178 ff. EGMR, EMRK  73 ff., 218 f., 268 ff., 302 f. Ewigkeitsklausel  162 ff., 169, 184 ff. Fair-Trial-Grundsatz  133 ff. Finanzierungsausschluss  21 f., 142 ff., 264 ff., 307 f. Freiheitliche demokratische Grundordnung  45, 98 ff., 147 ff. Herrenchiemsee-Konvent  36 f. Indemnität  222 ff. Konkrete Gefahr  238 f., 243, 248 f., 269 ff. Konventionskonforme Auslegung  74 ff., 268 ff. KPD-Verbot  85 ff. Mandatsverlust  70 f., 223 f. Meinungsfreiheit  57 Menschenwürde  170, 179, 191 f. Nachrichtendienstliche Beobachtung  99 ff. NPD-Verbotsverfahren  89 ff. Parlamentarischer Rat  38 f., 150, 197 f., 205, 254 f.

Rechtsstaatsprinzip  172, 178 f. Redaktionsversehen  197 f., 204 ff. Republikprinzip  162 ff., 186 f. Sozialstaatsprinzip  162 ff., 188 ff. SRP-Verbot  82 ff. Staatsfreiheit  114 ff. Streitbare Demokratie  38 ff. Urteilswirkungen  66 ff. Verbotsantrag  61 ff. Vereinsverbot  58 f., 286 f., 298 ff. Verfahrenseinstellung  64 f., 90 ff., 110 ff., 137 ff. Verfahrenshindernis  110 ff. Verfassungsfeindlichkeit  58 f. Verfassungsinterpretation  206 f., 250 ff. Verfassungsmäßige Ordnung  148, 174, 195 Verfassungsprinzip  49 ff. Verfassungsschutz  98 ff. Verfassungswandel  266 f.  Verhältnismäßigkeit  75, 108 f., 291 ff. V-Leute  90 f., 101 ff. Vorverfahren  64 f. Weimarer Republik  28 ff., 39 ff. Wertgebundenheit  46 f. Wertrelativismus  39 f. Wesensverwandtschaft mit National­ sozialismus  283 ff. Wunsiedel-Entscheidung  288 f.